Niklas Luhmann am OVG Lüneburg: Zur Entstehung der Systemtheorie [1 ed.] 9783428559329, 9783428159321

Seine Karriere begann Niklas Luhmann Mitte der fünfziger Jahre am Oberverwaltungsgericht Lüneburg; grundlegende Einsicht

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Niklas Luhmann am OVG Lüneburg: Zur Entstehung der Systemtheorie [1 ed.]
 9783428559329, 9783428159321

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Soziologische Schriften Band 86

Niklas Luhmann am OVG Lüneburg Zur Entstehung der Systemtheorie

Herausgegeben von

Timon Beyes, Wolfgang Hagen Claus Pias und Martin Warnke

Duncker & Humblot · Berlin

TIMON BEYES, WOLFGANG HAGEN CLAUS PIAS UND MARTIN WARNKE (Hrsg.)

Niklas Luhmann am OVG Lüneburg

Soziologische Schriften

Band 86

Niklas Luhmann am OVG Lüneburg Zur Entstehung der Systemtheorie

Herausgegeben von

Timon Beyes, Wolfgang Hagen Claus Pias und Martin Warnke

Duncker & Humblot · Berlin

This publication is funded by MECS Institute for Advanced Study on Media Cultures of Computer Simulation, Leuphana University Lüneburg (German Research Foundation Project KFOR 1927). Diese Publikation wurde unterstützt aus Mitteln der DFG-KollegForschergruppe MECS Medienkulturen der Computersimulation, Leuphana Universität Lüneburg (KFOR 1927)

This publication is funded by MECS Institute for Advanced Study on Media Cultures of Computer Simulation, Leuphana University Lüneburg (German Research Foundation Project KFOR 1927). Diese Publikation wurde unterstützt aus Mitteln der DFG-Kolleg-

Forschergruppe Medienkulturen der Computersimulation, Bibliografische Information der MECS Deutschen Nationalbibliothek Leuphana Universität Lüneburg (KFOR 1927).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bibliographical Information of the German National Library The German National Library lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie (German National Bibliography); detailed bibliographic information is available online at http://dnb.d-nb.de Published by meson press, Lüneburg. www.meson.press

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ISSN 0584-6064 ISBN (PDF): 978-3-95796-106-8 ISBN 978-3-428-15932-1 (Print) ISBN (EPUB): 978-3-95796-107-5 ISBNDOI: 978-3-428-55932-9 (E-Book) 10.14619/022 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISOof9706 The digital editions this publication can be downloaded freely at: www.meson.press Internet: http://www.duncker-humblot.de This Publication is licensed under the CC-BY-SA 4.0 (Creative Commons Attribution ShareAlike 4.0 Unported). To view a copy of this license, visit: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hanna Engelmeier und Fabian Steinhauer Zu den Pers. Akten „Luhmann“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ino Augsberg Am Anfang war das Recht? Luhmanns „juristisches“ Frühwerk . . . . . . . . . . . . .

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Maren Lehmann Das Fehlerproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sven Opitz Zum Lob der Routine: Ausnahme und Entscheidung bei Niklas Luhmann . . . .

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Günther Ortmann Abschottungen à la Luhmann. Organisationen als Einrichtungen der Interdependenzunterbrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elena Esposito Was Luhmann von der Digitalisierung und von Algorithmen schon wusste . . . . 127 Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Einleitung Wolfgang Hagen: Lasst uns damit beginnen, die Situation unserer Tagung noch einmal zu rekapitulieren, zu der wir am 6. Dezember 2017 in den Räumen des heutigen Oberverwaltungsgerichts Lüneburg eingeladen hatten – ein Ort, der auch in heutigen CoronaZeiten weiterhin bedeutend für seine Rechtsprechung ist.

Kontingenzen Martin Warnke: Das Ganze ist sehr ,luhmannianisch‘ zustande gekommen, nämlich in einer Mischung aus Fehlern und Kontingenzen. Ein Fehler war es nämlich anzunehmen, dass der Geburtstag Niklas Luhmanns auf den 6. Dezember fiele. Ich hätte da nachgucken können, habe ich aber nicht. Ich dachte, die Eltern eines Niklas (Nikolaus) sind genauso anspielungsreich gewesen wie er selbst. Nur, Luhmanns Geburtstag ist der 8. Dezember, und da fand just eine Tagung in Bielefeld statt. Deswegen waren manche, die schon lange für Bielefeld gebucht waren, glücklicherweise dann auch bei uns. Was die Kontingenz betrifft, so lag sie in einer ganz zufälligen Bekanntschaft mit einem juristischen Ehepaar, Heike und Wolfgang Bremer mit Namen, beide am OVG tätig. Über diese beiden kam der Kontakt zum neuen Chef zustande, Thomas Smollich, der sich, aus welchen Gründen auch immer, begeistern ließ. Er hat zugelassen, in einem von bewaffneten Polizisten überwachten Gebäude so etwas Wildes wie eine akademische Tagung abzuhalten, und er hat uns die Kopie der Personalakte Luhmanns geschenkt, wofür wir ihm herzlich danken. Eine zunächst also private Koinzidenz, oder Kontingenz. WH: In Lüneburg ist Niklas Luhmann geboren und aufgewachsen, und im Dezember 1947 wird er zwanzig Jahre alt. Zwei Jahre vorher waren die Amerikaner gekommen und hatten ihn nach Baden Württemberg in ein Kriegsgefangenenlager gesteckt, obwohl er noch siebzehn war. Am Kriegsende war er Flakhelfer; ob auch in der NSDAP, ist nicht ganz klar. Luhmann hat immer bekundet, er habe als Jugendlicher nie eine Mitgliedsnummer bekommen. Spielt auch keine Rolle, finde ich. Andererseits kommt auch hier wieder Kontingenz ins Spiel. Denn von den Amerikanern wird er behandelt wie ein Erwachsener, entgegen den Vorschriften der Genfer Konvention.

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Einleitung

Er kriegt eine Ohrfeige und man nimmt ihm die Uhr ab.1 Das ist doppeltes Unrecht, das offenbar nachhaltig gewirkt hat. Auch in dem Interview, das ich mit ihm geführt habe, ein Jahr vor seinem Tod, waren die Emotionen noch zu spüren, was ja bei Luhmann eher selten ist. Auch kaum „Ähms“ an dieser Stelle, während Luhmann sonst in mündlicher Rede ein ziemlich stockender Gesprächspartner war. Es liegt nahe anzunehmen, dass er auch deshalb Jura studiert, um dieser Gerechtigkeitsfrage nachzugehen. Denn auch die Nazis waren für ihn ein Unrechtsregime. Mit seinem Vater war die SA in Lüneburg offenbar sehr rüde umgegangen, Schachclub aufgelöst und sowas, das fand die Familie – Vater Brauerei-Besitzer, Mutter aus einer Hoteliersfamilie in der Schweiz – ganz furchtbar. Doppelte Ungerechtigkeit. Nationalsozialistische sowieso und dann aber auch von Seiten der Befreier. Luhmann studiert Jura in Freiburg auf eine Weise, die bislang nicht gut erforscht ist. Er hat das Studium sehr schnell abgeschlossen. Und möglicherweise sogar noch den Text für eine Dissertation verfasst. Sein Doktorvater war Wilhelm Grewe, ein Forsthoff-Schüler und NSDAP-Mitglied von 1933 an, später, in Adenauers Außenministerium, der Erfinder der „Hallstein-Doktrin“. Bei Grewe beginnt Luhmann ein Promotionsprojekt zum Thema „Die Organisation beratender Staatsorgane“.2 Parallel besteht er die juristischen Staatsexamina und könnte eigentlich als Rechtsanwalt arbeiten, hat auch kurzzeitig in einer Kanzlei vertreten. Aber das war nicht sein Ding, wie er später mehrfach bekundet hat, weil Rechtsanwälte zu viele Chefs hätten. Ein Rechtsanwalt muss ja immer das tun, was der Mandant sagt, und das wollte Luhmann nicht. Also geht er dahin, wo vergleichsweise weniger Geld verdient wird, wo jedoch im Zweifel Recht über die Rechtsanwälte gesprochen wird, beziehungsweise über die Gerichte, vor denen sie auftreten, wenn es um behördliche Verfahrenssachen geht. 1954 tritt Niklas Luhmann für zwei Jahre in die Dienste des OVG Lüneburg ein. Hier existiert eine Personalakte, die wir im Faksimile in diesem Buch im Auszug und verstreut zwischen den einzelnen Beiträgen wieder abdrucken. Großartige Besonderheiten sind darin nicht zu finden. Die Promotion wird erwähnt, aber offenbar hatte sich die Sache für Luhmann zerschlagen, als sein Lehrer Grewe 1953 von Konrad Adenauer ins Außenministerium beordert worden war. Damit versiegt offenbar zunächst einmal der Kontakt zur universitären Welt. Timon Beyes: Was du erzählst, korrespondiert zum Teil mit Sachen, die Ino Augsberg und Maren Lehmann schreiben. Augsberg weist z. B. anhand einer dienstlichen Beurteilung in der Akte darauf hin, dass eine Beurteilung wie die ,ausgeprägte Neigung für 1 Mündliche Mitteilung im Rahmen der Interviews: Wolfgang Hagen: Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann, Berlin 2005. 2 Niklas Luhmann: Die Organisation beratender Staatsorgane, Niklas Luhmann-Archiv, MS, 405 Seiten. Johannes Schmidt (Niklas Luhmann-Archiv, Universität Bielefeld) sei herzlich für die Recherche und die Gelegenheit zur Einsichtnahme in das Typoskript gedankt.

Einleitung

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Fragen der allgemeinen Rechtstheorie und der allgemeinen Staatslehre‘ ungewöhnlich sei. Solche Kompetenzen würde man am Oberverwaltungsgericht üblicherweise nicht erwarten. WH: Im Text von Ino Augsberg findet sich auch, dass Luhmann am Gericht Senatspräsident Carl Hermann Ule kennenlernt. Über ihn, den Chef in Lüneburg und zugleich Privatdozent in Hamburg, erhält Luhmann die Chance auf seine erste Veröffentlichung, die 1958 – da arbeitet Luhmann schon im Kultusministerium in Hannover – in einer der renommiertesten Juristen-Zeitschriften erscheint3. Ule war einer dieser akademisch hochgebildeten Richter in Lüneburg. Promoviert und habilitiert mit Arbeiten über nationalsozialistische Führungsfragen; Parteimitglied seit 1938. Marinerichter in Frankreich. Alle am Oberverwaltungsgericht in Lüneburg der frühen 1950er Jahre sind Nazirichter, was sollten sie sonst sein? Eine Selbstreinigung der Justiz hat es ja bekanntlich in der Bundesrepublik nicht gegeben. Ule geht 1955 von Lüneburg an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, was eine weitere Entwicklungsachse für Luhmann öffnet. Nach 1955 wird er zunächst Referent, dann Oberregierungsrat in Hannover und wird von dort aus nach einigen Jahren seinerseits ,abgeordnet‘ nach Speyer, um dort zu forschen. Ule lehrt dort bis 1975. In Speyer lernt Luhmann den konservativen Soziologen Helmut Schelsky kennen und Schelsky ihn, – und damit beginnt 1969 die Gründungsoffensive der Universität Bielefeld, wo Luhmann, seit 1966 promoviert und habilitiert in einem Zuge, der Professor Luhmann wird, den wir alle kennen.

Enttäuschung Claus Pias: Vielleicht kann man nochmal einen Schritt zurückgehen zu der Existenz dieser Tagung überhaupt und damit auch zu der Enttäuschung, dass in der Akte nicht allzu viel drin steht. Ich bin ja kein Soziologe, aber als Medienhistoriker denke ich, dass wir wie selbstverständlich auf diesen Quellenfund angesprungen sind. Kontingenzen wie runde Jahreszahlen (2017 wäre Luhmann 90 Jahre alt geworden) provozieren sowas nun mal – dass man nochmal hinschaut. Natürlich sind solche Anlässe vollkommen zufällig. Die nächste Kontingenz ist dann Lüneburg selbst, einfach weil Luhmann hier war und wir nun hier sind und Lüneburg aus diesem Umstand, dass Luhmann hier war, bislang wenig gemacht hat, obwohl es ja zumindest ein Gesprächsanlass hätte sein können. Was mich beim Wiederlesen der Beiträge dann doch (und noch einmal) erstaunt hat, ist die Vehemenz einer Zurückweisung von Historisierung, die sofort als Biogra3 Niklas Luhmann: Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft, Verwaltungsarchiv 49 1958, 97 – 105.

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phisierung verstanden wird. Es haben ja sogar Leute allein schon deswegen abgesagt. Maren Lehmann schreibt in ihrem Text sehr deutlich, diese Akten hier seien eine absurd niedrigschwellige Angelegenheit; das habe die Klebrigkeit von Geniekult, sei eine geradezu entwürdigende Praxis und so weiter. Da ist man als Historiker doch etwas erschrocken, weil das Anschauen von Quellen und von Institutionen, an denen Leute tätig waren, und von zeithistorischen Kontexten, in denen sie gearbeitet haben, ja noch nichts mit Geniekult zu tun hat. Das mag vielleicht an dieser anti-biographistischen Tendenz von Luhmann liegen, die in der Nachfolge übernommen und bestärkt wird. Auch wenn Luhmann selbst damit wesentlich ironischer umgegangen ist. Irgendwo schreibt er, Biographie sei eine Vereinfachung für Beobachter, weil man dadurch mehrere Sachen unter dem Namen „Luhmann“ abheften kann. Biographie als ein bürokratischer Akt. Und bei der Tagung hatte ich das Gefühl, wir geraten nun als eher zufällige Historisierer der Systemtheorie, die wir selbst keine strengen Systemtheoretiker sind, plötzlich in eine Rechtfertigungslage. WH: Du möchtest also sagen: Dem Systemtheoretiker ist die Historie wurscht? CP: Ja. Zumindest wurde sie auf eine interessante Weise recht entschlossen zurückgewiesen, angelehnt an die Argumente, mit denen Luhmann sie selber zurückweist. Nämlich als Zufälligkeiten, die zwar in solche Zeit- und Erzählschemata namens „Biographie“ hinein gebastelt werden können, die aber für die theoretische Behandlung von Problemen völlig bedeutungslos sind. Rembert Hüser hat das mal sehr schön die „Folklore des Sozialsystems“4 genannt. Allerdings gibt’s da schon bei Luhmann selbst kleine Schlupflöcher, etwa das, was er die „Personalzurechnung“ der „Erfahrung der Tragfähigkeit theoretischer Begriffe“ nennt.5 Tatsächlich heißt Historisierung ja überhaupt nicht ,Biographisierung‘ und heißt auch nicht automatisch „Geniekult“ oder sich am Bildungsroman orientieren. Sondern zum Beispiel auch, warum ein theoretisch zu behandelndes Problem erst in einem bestimmten zeithistorischen Kontext als Problem da ist und welche theoretischen Behandlungsmöglichkeiten dieser Kontext gewährt oder verwehrt. Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass es einen gewissen Historisierungs-Widerstand in der Systemtheorie gibt, der aber möglicherweise nur ein Effekt ihres Theoriedesigns selbst ist. Im Sinne einer „Intellectual History“, wie etwa Axel Schildt sie betrieben hat und die sich auch vor der Anekdote nicht scheut,6 ließe sich Luhmann ziemlich gewinnbringend historisieren und kontextualisieren, auch ohne daß es gleich klebrig wird. 4

Rembert Hüser: Etiketten aufkleben, in: Christian Huck und Carsten Zorn, Das Populäre der Gesellschaft – Systemtheorie und Populärkultur, Wiesbaden 2008, S. 239 – 260. 23 f. 5 Niklas Luhmann, Dirk Baecker und Georg Stanitzek: Archimedes und wir – Interviews, Berlin 1987, S. 23 f. 6 Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, Göttingen 2020.

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MW: Wir haben ,das Biografische‘ ja in gewisser Weise provoziert. Nämlich mit dem Ort des OVG, das einen Gebäudetrakt hat wie zu Luhmanns Zeiten, während wir zugleich festgestellt haben, dass von Luhmann als Person überhaupt nichts mehr übrig ist. Dieses ,am Originalort sein‘ hat eine interessante Spannung erbracht, die zum Beispiel von Maren Lehmann aufgegriffen worden ist und als Ironie über dem Ganzen lag, weil wir noch nicht mal rekonstruieren konnten, wo Luhmanns Büro lag; ob überhaupt in diesem Gebäude oder auf der anderen Straßenseite, wo das Gebäude zwischenzeitlich abgerissen wurde. Es gibt keine materiellen Spuren mehr. Der Inhalt des Zettelkasten in der Bibliothek, den er hier bestückt hat, wurde inzwischen vorschriftsmäßig vernichtet. Das war aus meiner Sicht eine durchaus interessante Spannung, die hier die ganze Zeit im Raum lag: Eine gleichsam systematisch enttäuschte Erwartung – ich glaube, Luhmann hätte das gefallen.

Ordnung und Soziologie TB: Luhmann hat nichts publiziert, als er am OVG war. Ob er seine Diss währenddessen geschrieben hat, ist auch eher unsicher. Hanna Engelmeier und Fabian Steinhauer merken in ihrem Kommentar zu der Akte an: Was er beruflich geschrieben hat sind vor allem Karteikarten, Zettel, Schlagwörter und Register. Sie nennen das sehr schön vorläufige Texte, oder Texte, die für Texte sorgen. Da stecken auch wieder verschiedene Fragen drin. Eine ist natürlich, dass er besonders berühmt wurde für die systematische Verzettelung seiner Lektüre bis hin zu dem Zeitpunkt, wo er gesagt hat, der Zettelkasten schreibt meine Bücher, ich schreibe die gar nicht selber, das macht die Apparatur. Darin scheint eine schöne, materielle Praxis aufzuscheinen, die sich am OVG mit vorläufigen Texten beschäftigt; die Texte ablegt, die dann später für Texte sorgen. WH: Ich würde sogar noch weitergehen. Der Luhmann, den wir kennen, ist ja in der Tat eine Art ,Verfahrensschreiber‘. Er beschreibt Verfahren, mit denen er untertönig vorgibt selbst nichts zu tun zu haben. MW: Ich glaube, das könnte auch zusammenhängen mit dieser Reinheitsunterstellung oder der Beobachtung, dass Luhmann jemand war, der sich vor allen Dingen für saubere Sachverhalte, für saubere Beschreibungen und gegen das „Geschmuggele“ wandte, wie Augsberg und Ortmann das in ihren Texten nennen. Zugleich aber war das OVG für ihn auch ein lebendig quirrlendes Biotop. Man kann solche Beobachtungen in „Formen und Funktionen“ nachlesen, wie er dort über juristisches Per-

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sonal schreibt. Eben auch in der Kantine. Im OVG, und in den Verwaltungen generell, findet er ein Beobachtungsfeld vor, dass sehr gesittet ist, sehr diszipliniert. Das mag ihm auch sehr gefallen haben, dass es dort eine strikte Abwesenheit von Gewalt gab. Stichwort; die berühmte Ohrfeige des US-GI. Im OVG dagegen war man gesittet, vor Gericht kommuniziert man nur, das war alles völlig klar und sauber. Das meiste wurde aufgeschrieben, aber: Es gibt dann immer dann doch noch ein wucherndes Leben unter diesen hochzivilisierten, wohlerzogenen Menschen. Das, so könnte ich mir vorstellen, ihm dann auch persönlich gefallen hat, was dann aber wieder eine klebrige Aussage im Sinne von Lehmann ist. TB: Das findet sich ja auch in Sven Opitz’ Text zur Frage des Ausnahmezustands. Man könnte sagen, Luhmanns Entscheidungsbegriff ist so niedrigschwellig, dass dezisionistische Strömungen eigentlich kaum vorkommen, oder wenn, dann nur am Rande, und dass sie nur sehr wenig in die Reproduktion von Entscheidungsprozeduren einbrechen, was ja dann für ihn auch Organisation oder Verwaltung ausmacht. Ähnliches findet sich bei Augsberg und auch Ortmann. Das mag man auf diese Weise personalisiert klebrig finden, aber es wird hier gewissermaßen zur Soziologie. Soziologie ist eine Ordnungswissenschaft: Wie entsteht gesellschaftliche Ordnung und wie wird sie bewahrt? Unordnung erscheint hier immer nur als ein Problem, dessen Lösung man beobachten kann. Vielleicht ist das jetzt sehr zugespitzt; aber die Konsequenz wäre, dass die Luhmannsche Systemsoziologie insofern eine klassische soziologische Theorieströmung wurde, weil sie sich sehr gut dazu eignet, Ordnung zu erklären. Das fügt sich ein in den Tenor dieser aufstrebenden, in den 1970er Jahren dann ganz wichtig werdenden Disziplin namens Soziologie, die natürlich kritische Positionen generiert, aber in sich zunächste einmal ein fundamentales Interesse an Ordnung hat.

Bombenschäden WH: Sollte man nicht hinzufügen, dass in den 1950er Jahren Soziologie in Deutschland noch nicht lange in dieser Dimension existiert? Wir sind 1954 gerade mal neun Jahre entfernt vom allergrößten Schrecken, der allen noch in den Knochen von sitzt. Wie war das, wenn man aus diesen damaligen OVG auf die Straße ging? MW: In Lüneburg hatte es nicht viele Bomben. Eine ging auf’s Museum und einige auf die Gleiskörper der Bahn. Dort findet man immer noch Bombenreste, aber wir haben in Lüneburg deswegen die historische Substanz, weil so wenig runtergegangen ist.

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WH: Also auch die väterliche Brauerei und das Rathaus sind unzerstört. MW: Historische Gebäude. TB: Allerdings, Martin, war Lüneburg eine wichtige Garnisonsstadt. Lüneburg wurde vielleicht nicht zerbombt, aber das Militärische wird sich atmosphärisch schon niedergeschlagen haben. WH: Nicht umsonst findet Himmler dort seine letzte Zuflucht und bringt sich in Lüneburg um. MW: In derselben Straße, in der das OVG liegt. WH: Also wir sind von 1954 in einer belasteten Situation. In einer Situation, in der man besser die Stadt verlässt, oder wie Luhmann, zum Oberverwaltungsgericht geht, weil dort entschieden wird, wie es in der Gesellschaft weitergehen wird. Ich habe das Gefühl, dass der Luhmann von Anfang an einen Weg sucht. Der ist nicht einfach nur irgendwie da und macht irgendwas Kontingentes oder nimmt, was ihm gerade über den Weg läuft, auch wenn hier in Lüneburg das OVG nur ein paar Steinwürfe von seinem Elternhaus weg ist. Luhmann ist einer der Klügsten, was das Wege-Suchen betrifft, weil er seiner eigenen Suche misstraut und eben dabei auf Kontingenz setzt. Im Suchen etwas finden, das in die Suche führt. Irgendwie so. Irgendeine Art von Selbstreferenzialität ist zum Beispiel als Figur schon ganz früh in seinen Texten da – dass nichts so ist, wie es ist, wenn man es prozedural auflöst. TB: Was ja genauso bei Maren Lehmann auftaucht, in ihrem schönen Dreiklang von Unterschreiben, Unterleben und Unterwachen. Diese intelligente Beobachtung von Macht. Opportunismus im Wortsinn, wenn man so will, um durchzukommen und sich selber dabei in kontingenten Situationen intelligent zu verhalten.

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Ausstiege CP: Ich habe das eher rückwärts gelesen. Ausgehend von der Frage: Welche Form von Ausstieg wird da in Lüneburg eigentlich geprobt? WH: Was meinst du mit Ausstieg? CP: Ausstieg aus einem sich abzeichnenden Karrierepfad. Eben nicht Jurist zu werden und nicht in Hannover zu enden. Wir haben ja anscheinend jemand vor uns, der sich aus allem (wahrscheinlich auch karriereförderlichen) „Mitmachen“ nach Dienstschluss höflich aber entschlossen raushält. Wenn im Anschluss noch was stattfinden sollte, ging Luhmann nie mit und sagte ja angeblich, daß er noch Hölderlin zu lesen habe. Oder schrieb vielleicht still und leise eben doch an seiner Dissertation weiter. Eine offensichtliche Distanzierungstechnik. Und ich habe mich gefragt, welche anderen Distanzierungstechniken es wohl noch gab und ob man sie – über die bloße Anekdote hinaus – irgendwie historisieren und greifbar machen kann. Dabei kam ich auf mindestens drei Punkte. Der eine betrifft das, was Timon eben gesagt hat: einen Umgang mit bestimmten Praktiken und Arbeitstechniken. Das sitzt jemand, der signiert, ablegt, einheftet, gegenzeichnet, beschriftet, verschlagwortet – also diese Techniken erlernt und praktiziert, und das mit einer gewissen Ironie. Die besteht darin, dass er, wie irgendwo steht, in den Akten lese – was man natürlich nicht machen soll. So wie Bibliothekare, schon laut Goethes Dienstanweisung, die Bücher ja nicht lesen dürfen, die sie zu signieren haben. Es sind also Berufe, in denen man nicht die Inhalte anguckt. Und Luhmann macht das nun trotzdem, jenseits der Dienstaufgabe, und schafft dadurch eine Distanz, durch die etwas beobachtbar wird. Das wäre also ein medientheoretischer Punkt. Darüber hinaus gibt’s als weitere Distanzierungstechnik die frühe Beschäftigung mit dem noch sehr jungen Computer, die dann erst später publiziert wird.7 Die Sache mit dem Computer und der maschinellen Verarbeitung scheint mir auch so ein Verfremdungseffekt der eigenen Arbeit. Also im Sinne einer Reflexion der Routine- und Programmhaftigkeit, die in dieser Arbeit selbst immer schon enthalten ist, bald aber vielleicht von einer Maschine gemacht werden kann, an der man Entscheidungsprogramme, Intransparenzen, Interpretation, Deterministik usw. beobachten kann – und damit in gewisser Weise sich selbst. Das wäre also ein technikgeschichtlicher Punkt, und vielleicht kommen wir darauf ja nochmal zurück. 7 Vgl. Ricky Wichum: Auf der Schwelle. Die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns, die Kybernetik und der Computer um 1970, in: Jahrbuch Technikphilosophie 2019, S. 85 – 102.

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Und zuletzt wurde auch der Schreibstil von Luhmann schon angesprochen. Ich glaube, man könnte auch seine Art zu schreiben als Distanzierungstechnik in einem poetologischen Sinn verstehen. MW: Und auch dabei geht es immer wieder um die Abweichungen, das Fehlerhafte, um das nicht mehr Kontrollierbare.

Schreibstil CP: Ja, genau das wäre dieser dritte Punkt. Problemstellen zu paradoxieren, also zum Beispiel, dass der Fehler immer Teil des Systems und nicht dessen Ausnahme ist. Illegalität ist da und brauchbar. Für Scherze gibt es Anwendungsmöglichkeiten. Fiktionen müssen als Realitäten dargestellt werden, und so weiter. Die alltäglich erfahrenen, informellen Aspekte von Organisation spielen eine erhebliche Rolle. Er greift sich paradoxe Momente heraus und verwandelt sie stilistisch in eine ganz eigene Art von Theorie-Maschine, die daraus poetische Gewinne zwischen hoch und niedrig zieht. Man hat diese theoretische Flughöhe über der geschlossenen Wolkendecke, von der es irgendwo heißt, dass ab und zu Durchblicke auf die Wirklichkeit möglich sind – und unten finden sich dann ganz winzige Sachen, Mikroskopisches, das Gerede an der Kaffeemaschine, der Blick aus dem Fenster, das Kritzeln von Männchen auf Papier, der Kegelabend, der Büroschmuck und so weiter. Es ist so ein ungeheurer Schatz an Beispielen aus dem Alltag, der nicht nur das Füllmaterial bildet, das die Theoriekonstruktion zusammenhält, sondern der auch einen massiven zeithistorischen Index hat. Irgendwo heißt es zum Beispiel, mit Frauen könne man sich nicht einfach mal entspannt hinsetzen und eine Pfeife im Büro rauchen. Darin liegt ja eine ganze Lebenswelt dieser 50er, 60er Jahre, die sich plötzlich ausfaltet und total greifbar wird, gerade weil sie uns – anders als viele theoretische Passagen – schon so fremd geworden ist. WH: Es gibt ja diesen schönen Satz in Engelmeiers Aufsatz: „Was nicht in den Akten ist, gibt es nicht in der Welt“. Das ist für Luhmann eindeutig und gleichzeitig praktiziert er die Abweichung davon. Beides. Es muss sozusagen auf der einen Seite die Akten geben und die Menschen, die mit Akten arbeiten, damit man zeigen kann, was in der Welt ist, weil letztlich alles aktenkundig werden muss. Und die Abweichung davon ist, dass das nicht stimmt, sondern wenn man genau hinguckt, sich viel mehr Abweichungen finden, weil die Akten niemals alles beschreiben können. Nur in der Einheit der Differenz des Mediums Akte, dass von Cornelia Vismann so luzide ana-

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lysiert worden ist,8 wird das deutlich. Das ist bei Luhmann auch schon ganz früh erkannt. TB: Einmal kurz für das Protokoll. Die altehrwürdige Deutsche Gesellschaft für Soziologie gibt es natürlich in seiner Lüneburger OVG-Zeit schon. Die hat sich bereits 1946 wieder konstituiert. Mit Tagungen zu allerlei Themen, also bereits vor Mitte 50er. Offensichtlich ziemlich rege. WH: Das zeigt aber nur umso deutlicher, dass Luhmann in gewisser Weise ,nicht aus der Soziologie kommt‘, sondern sein Weg über die Verwaltungswissenschaft geht, ausgehend von dieser Erfahrung im OVG Lüneburg in konkreter Praxis. Verwaltungswissenschaft ist, was wir im 19. Jahrhundert als Polizeiwissenschaft kennen, also der Anfang jedweder irgendwie wissenschaftlich begründeten Ordnungssystematik sozialer Art. Luhmann ist am Anfang Verwaltungswissenschaftler und schreibt in verwaltungswissenschaftlichen Magazinen, Zeitschriften und Reihen seine ersten Veröffentlichungen. Gab es in am Lüneburger Gericht 1954 schon Computer? Dieser großartige Aufsatz von Elena Esposito bezieht sich auf einen Text, der 1966 erschienen ist und da ist Luhmann schon, wenn ich das richtig sehe, mit einem Stipendium in Amerika gewesen. Es scheint mir klar zu sein, dass er durch den amerikanischen Aufenthalt Kybernetik in sein methodisches Gebäude mit einbezieht, in seine bis dahin schon auf Selbstreferenzialität und auf „para-kybernetischen“ Parametern basierende Reflexion der Verwaltungswissenschaft.

Urszene Verwaltung TB: „Niklas Luhmann am OVG Lüneburg“ – aus meiner Sicht finde ich es schon frappierend, in welcher Weise hier eine Rekursivität von Verwaltungsprozessen im Verwaltungsalltag erkannt und durchdacht wurde. Es muss ja keine Urszene sein, aber dass man versucht ist, ein nachher sehr großes, ausschweifendes, sich selbst schreibendes Theoriegebäude auf diese verwaltungswissenschaftlichen und dann kybernetischen Prozesse zurückzuführen, das war schon unsere Intention. Wie viel von dieser Art von Verwaltungstheoretisierung, wie sie in „Funktionen und Formen formaler Organisation“9 so großartig drinsteckt und auch im von Elena Esposito behandelten

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Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000. Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964.

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Buch10, wie sehr prägt es das weitere und steckt nachher noch im großen Theoriegebäude drin? Das fand ich die interessante Frage, auch für unsere Tagung. Die hat glaube ich nicht allen gefallen. Vielleicht weil sie eine Reduktion von einem großen Theoriegebäude auf eine Organisationstheorie impliziert. Das wäre aber eine Hypothese für die Lektüre des späteren Werks. WH: Ich finde, dass die Stilistik Luhmanns, auf die du vorhin angespielt hast, Claus, sich auch besser erklärt, wenn man den verwaltungsjuristischen Hintergrund kennt; denn die kommt eigentlich aus einem verwaltungswissenschaftlichen Diskurs. Ironisiert und gleichzeitig mit der Fähigkeit der Narration, die dem Diskurs eigentlich völlig fehlt, denn der erzählt keine Geschichten. Aber das kann Luhmann auch, er kann beides. Und er vermischt das auf eine bestimmte Weise. Das ist ganz sicher ein ganz anderer Stil als der Adornos, obwohl Luhmann tatsächlich ein Jahr lang Adorno vertreten hat. Das muss man sich vorstellen. Just nachdem Adorno gerade verstorben war, in den Schweizer Berghöhen, wo er, fast schon selbstmörderisch, wegen seiner Herzkrankheit (wie er genau wusste) nie hätte hinfahren dürfen – er kommt nicht zurück; und ausgerechnet Luhmann übernimmt seinen Lehrstuhl vertretungsweise, mit einer völlig anderen Diktion. Eine Diktion, die uns alle in den 70er Jahren komplett überrascht, weil sie überhaupt nicht hyperbolisch ist. Da gibts keine eingeschachtelten Relativsätze, die es bei Adorno in der Theorie sozusagen als halbes Argument gab. Ohne jedes Raunen einer verbegrifflichten Inversion von Invertiertem. Das gibt es bei Luhmann nicht. Alles ist geradeaus, ,sachverhaltlich‘ genau beschrieben und erstens, zweitens, drittens. Immer eine juristische Gliederung im Kopf. Diese Diktion der neutralen Aktensprache ist eine, die, verfeinert und ausdifferenziert, bis in die „Gesellschaft der Gesellschaft“ durchscheint. Etwas, das bei Luhmann so eine Art skelettale Orientierung bietet. Auf diese inneren Gliederungsstrukturen kommt er immer wieder zurück und als Luhmann-Leser ist man heilfroh, dass man irgendwann verstanden hat, wie das bei Luhmann läuft, weil man dann auch richtig weiterlesen kann. Da muss man nicht, wie bei Adorno, irgendwelchen Sätzen endlos nachgrübeln, bis man auf Sätze trifft, die wirklich außerordentlich zum Nachdenken anregen. Bei Luhmann läuft das oft schlicht gegensinnig. Ich finde den sowieso einen außerordentlich intelligent mit Gegensinnigkeit operierenden Diskursmeister. TB: Gegensinnig finde ich schön. Und zumindest in „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ wirkt diese Stilistik auf eine gewisse Art entlastend. Das ist wenig anklagend. Sloterdijk hat mal einen interessanten Aufsatz über Luhmann geschrieben,

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Niklas Luhmann: Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1966.

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als Anwalt des Teufels.11 Der Assessor, der eigentlich die Angeklagten, im Fall von „Funktionen und Folgen formaler Organisation“: die angeklagte Verwaltung, immer auch entlastet in seiner Argumentation. Das mag jetzt zu weit führen, aber ich habe vorhin den Anfang von „Funktionen und Folgen“ nochmal gelesen. Und vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über Staatsversagen, die in Deutschland natürlich ein Verwaltungsversagen ist, ist es frappierend, wie dieses Buch beginnt. Mit diesem entlastenden Zugriff auf Verwaltung, die halt so ist, wie sie ist, und ich, Luhmann, versuche sie mal in ihren rekursiven Prozessen und ihren kleinen Zusammenbrüchen und Fehlern und in ihrer großen Ordnungsleistung zu beschreiben. Dieser Entlastungswille ist in der Sprache angelegt, finde ich. MW: Es findet sich ja in den Schriften dieses Bandes wieder. An der Stelle, wo es um den Fehler geht, der eben gerade nicht als etwas bezeichnet wird, was mit Schuld zu tun hat, sondern ein ganz normaler Teil jedes Verwaltungshandelns ist. Das findet man bei Augsberg und bei Esposito, dass das depersonalisiert werden muss und in Form einer Versicherung aufzufangen ist, wie man es jetzt auch bei den autonomen Fahrzeugen diskutiert, bei denen man nicht mehr sagen kann, warum und auf Grund wessen Fehlverhaltens oder wessen Schuld da etwas Schlimmes passiert ist. Das muss dann versichert werden. Es geht darum, den Fehler als Teil des Systems ganz kybernetisch zu denken, und ich habe den Eindruck, dass das eine der Klammern ist, die diese Texte zusammenhält, weil es eine frühe Beobachtung ist, die bei Luhmann entsteht. TB: Darf ich da noch ganz kurz was hinzufügen? Seite 8 von „Funktionen und Folgen formaler Organisation“: Da wird für die Verwaltung „ein erheblich vermindertes Vermögen zur Zwiesprache mit der Öffentlichkeit“ diagnostiziert. Es fehlt diesen „Apparaten“ „gewöhnlich an institutioneller Beweglichkeit, um Angriffen mit der nötigen Schlagfertigkeit entgegenzutreten“. Und drei Zeilen weiter: „Dunkelheit ist ein Mittel der Selbstverteidigung“. Und noch ein Absatz weiter: „Als Mindestmaß muß sie dem Eindruck entgegenwirken, daß sie ihrer Kundschaft gleichgültig gegenüberstehe“.

Autologie WH: Jetzt hätte ich zum Abschluss noch eine Frage: Wir wissen ja alle, dass Luhmann später dann eine 30-jährige Forschung beginnt, ab 1969, 14 Jahre nach seiner OVG11 Peter Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels [Freiburger Reden, 7. 11. 1999], in: Wolfram Burckhardt (Hrsg.), Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 91 – 158.

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Zeit. Das Ergebnis liegt vor: die „Gesellschaft der Gesellschaft“.12 Und zwar nicht von oben herab dekliniert, sondern wirklich als Versuch, Soziologie mit einer Makrotheorie von innen heraus zu begründen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der 1997, dem Todesjahr von Luhmann, vorgelegten, großen Theorie und dem Ende der Soziologie selbst? Ist sie nicht seither in eine ziemliche Krise geraten? Klar, es gibt natürlich Soziologie-Studiengänge ohne Ende, aber die Soziologie als ein dringendes Selbstverständnis der Beschreibung von Gesellschaft hat irgendwie ihre Attraktivität verloren, ihre Aktualität, ihre Spannkraft, die sie Ende des 20. Jahrhunderts hatte. Und sie ist vielleicht (das wäre eine These von mir) abgelöst worden durch die zahllosen Edelfedern, die im Journalismus oder auf neueren Blog-Portal-Umgebungen ,die Gesellschaft‘ viel besser und interessanter beschreiben, als das irgendwelche Theorien à la Luhmann können. Wir machen eine Tagung über den Beginn Luhmanns, aber was ist mit dem Ende? Man hat das Gefühl, seitdem er das alles vorgelegt hat, ist die Debatte um Luhmann ziemlich verstummt. Niemand interessiert sich mehr für die Frage einer großen Makrotheorie von Gesellschaft, weil Luhmann eins nicht reflektieren kann und will: nämlich den Adressaten seiner Theorien. Für wen schreibt er das eigentlich alles? Frage an euch. MW: Es gibt die These: für sich selbst. Denn, wenn er von „der Soziologie“ schreibt, dann ist das immer auch auf die eigene Bemühung gemünzt. Er meint nicht die, die das anders machen, die sich zum Beispiel in Empirie verlieren und keine Theorie mehr haben. Er meint dann immer sich selbst, wenn er von „der Soziologie“ redet. WH: Verwaltungswissenschaft wird doch auch ohne Adressaten betrieben. Oder? Wer ist der Adressat einer Verwaltungswissenschaft – ausser sie selbst? MW: Das ist ja autologisch geschlossen, wie sich das gehört. Streng funktional. TB: Verschiedene Dinge gehen mir durch den Kopf. Das eine ist, dass „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ diese faszinierende Spekulation beinhaltet über das, was wir in Lüneburg als Digitale Kulturen bezeichnet haben. Also die Zeit der Selbstverständlichkeit digitaler Medientechnik in allen Dingen und für alle Dinge, die wir so tun. Da steht ja bei Luhmann, dass sich „mit dem Computer“ unabsehbar viel ändern werde. Auch hinsichtlich der Theorie, für die ein computerisiertes, „ein prinzipiell operatives und dann prozedurales Verständnis der Realität“13 der Ausgangspunkt 12 13

Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 Bde., Frankfurt am Main 1997. A. a. O., S. 310.

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werde. Dann müssten auch die Begriffe und Unterscheidungen der Systemtheorie auf den Prüfstand gestellt werden. Dirk Baecker hat das in seinem Buch „Die nächste Gesellschaft“ aufgegriffen.14 Eine mögliche These ist, dass da kaum einer mitmacht, was Maren Lehmann als Bielefelder Weg bezeichnet. Eine kleine Anekdote: Ich erinnere mich an zwei systemsoziologische Gutachter im Rahmen einer Begehung, die zu unserem Vorhaben zu Organisation in digitalen Kulturen sagten: das was ihr macht, ist keine Organisation. Wieso nicht? Weil bei uns zu wenig Mitgliedschaft, Entscheidungsprämissen und Systemzweck vorkomme, also die Definitionskriterien dessen, was Organisation „ist“ oder zu sein hat. Die Forschungsfrage eines Projektes zu digitalen Kulturen, inwiefern solch ein Organisationsverständnis noch hält, war nicht akzeptabel. Das ist ein verwalterischer Umgang mit Luhmanns Erbe, der genau diesen Fragen nicht mehr hinterher geht und es damit versiegelt.

Balzac der BRD CP: Ich versuche mal, da mit zwei Fußnoten anzusetzen. Fußnoten deshalb, weil ich kein Soziologe bin und es um sehr große Fragen oder Beschreibungen geht – nämlich ob hier etwas zu Ende gegangen ist oder worin eine Fortschreibung liegen könnte, und was bestimmte Aspekte der „Versiegelung“ und des Abgeschlossenen vielleicht – nochmal – an Historisierungsmöglichkeiten bieten. Es gibt, und das wäre die erste, einen schönen Aufsatz von Friedrich Balke in dem Band „Widerstände der Systemtheorie“, in dem er schreibt, Gesellschaft sei für einen soziologischen Beobachter sowas wie ein Transzendentalsignifikat.15 Man wird niemals ankommen, denn sie ist völlig unabschließbar, diese Theorie der Gesellschaft. Weil ihre Beschreibungen immer zugleich Teil des von ihr Beschriebenen sind und deshalb ohne Ende. Balke datiert das dann zurück und erkennt in der Systemtheorie eine Form romantischer Universalpoesie, die da in ihrer Unabschließbarkeit und notwendigen Fragmenthaftigkeit weiterlebt. Auch poetisch in der Spannung zwischen Detail und Ganzem, von der wir sprachen. Die zweite bezieht sich auf das (wenn ich mich recht erinnere von Dietrich Schwanitz erstmals) aufgebrachte Aperçu, Luhmann sei so etwas wie der Balzac der BRD.16 Der untergegangenen, alten BRD, müßte man wohl hinzufügen, die in Luhmanns 14

Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt am Main 2008. Friedrich Balke: Dichter, Denker und Niklas Luhmann. Über den Sinnzwang der Systemtheorie, in: Albrecht Koschorke und Cornelia Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 2000, S. 135 – 157. 16 Vgl.: Dietrich Schwanitz: Tanz auf dem Seil – Erinnerung an Luhmann, Die Welt, 12. 12. 1998. 15

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Werk aufgehoben ist. So wie der eine sich vornimmt, eine Sichtung der post-revolutionären französischen Gesellschaft in 130 Bänden vorzulegen, entschließt sich der andere für eine Theorie der Gesellschaft, flankiert von dem berühmten „Laufzeit: 30 Jahre. Kosten: keine“. Für beide gilt, daß sie sozusagen mit einer selbst erarbeiteten und zunehmend perfektionierten Mustererkennung immer weitere, zusätzliche Bereiche von Gesellschaft im jeweils nächsten Buch erschließen. Und damit irgendwie eine Welt erschaffen, unter der Fiktion sie zu beschreiben. Aus dieser Distanz wäre Luhmann zugleich auch eine Art „Erzählmaschine“17 – jemand den man als literarischen Autor lesen, dessen Stil man erforschen und historisieren könnte, wie Engelmeier und Steinhauer ja hier vorschlagen. WH: Ich finde das einen sehr schönen Schluss, weil uns das wieder ins Offene treibt. Das würde Luhmann einreihen in die Poetologie und nicht in die Soziologie. Und das ist vielleicht nicht grundfalsch. CP: Das ist ja das, was Du eben erwähnt hast: diese ungeheure Klarheit, mit der Luhmann Umgangssprache als Theoriesprache benutzt, also gerade die Normalität der Wörter als Stilmittel einsetzt; ganz anders als in Frankfurt. WH: Mein kleiner Einwand gegen Schwanitz’ Balzac-Vergleich würde auf Dante zielen, nämlich sagen, dass Balzac näher bei Dante ist als bei Luhmann. Balzac hat wirklich die abgründigen, die teuflischen Geschichten. „Verlorene Illusionen“ ist eine sehr direkte Narration, um etwas sozusagen unmittelbar, wie klagend bitter auch immer, in die Welt zu setzen. Da bin ich nicht ganz so sicher, ob bei Luhmann nicht immer erstmal der Zettelkasten dazwischen steht. Alles muss schon irgendwo in den Akten aufgeführt sein. Es muss irgendwo geschrieben sein. Luhmann ist ein Fußnotenkönig. CP: Ja – aber das muss sich ja nicht ausschließen. André Kieserling berichtete, wenn ich das recht erinnere, dass Luhmann immer erst das Argument aufschrieb. Er hat wohl zunächst eine Rohfassung der Erzählung aufgeschrieben, und nachdem die stand, war erst der Zettelkasten dran. Unter Bielefelder Nachlassforschern gibt’s dafür wohl den Ausdruck, dass Komplexität erhöht wird, indem etwas „durch den Kasten“ geschickt wird. Wie durch eine Maschine, aus der es dann doppelt so umfangreich zurückkommt. 17 Ulrike Sprenger: Die Erzählmaschine Balzac. 3000 Geschichten von Chaos und gesellschaftlichem Erfolg, NEWS & STORIES 2006.

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TB: Das wiederum spricht für ein Plädoyer für die Lektüre dieses frühen Luhmann. Weil da Dinge und Denkweisen drinstecken, glaube ich, die möglicherweise im späten Luhmann dann doch, vielleicht poetologisch ähnlich, aber überdeckt werden von einer zum Beispiel biologischen Metaphorik. WH: Oder von solchen Logiken wie die von Spencer Brown? TB: Ja, vielleicht. Und Texte wie die von Elena Esposito oder Günther Ortmann zeigen, dass in den frühen Stücken Ansätze sind, mit denen es sich heute wieder zu denken lohnt. Oder: Am Ende von „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ finden wir interessante Dinge über Atmosphäre und Affekt.18 Als kohäsive Mechanismen jenseits vom Organisationszweck, mit durchaus aggressivem Charakter. Wenn man da mal wieder reingucken würde und diese Dinge herausliest, dann könnte man damit schon wieder aktuelle Fragen bearbeiten.

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Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 361 ff.

Zu den Pers. Akten „Luhmann“ Von Hanna Engelmeier und Fabian Steinhauer Die Akte liegt digital vor. Farbig eingescannte, teils angegilbte Seiten, die Schatten, die das Papier dabei erzeugt hat, kehren am Bildschirm als Pixelwellen wieder. Zuerst rauscht es. Dann, auf Seite 34 erscheint das Gesuchte, Luhmann, und dann auch gleich im Rahmen eines Zeugnisses. „Herr Luhmann ist ein befähigter Jurist, ein schneller Denker und ein fleissiger Arbeiter. […] Dabei ist hervorzuheben, dass Herr Luhmann auch beim Vortrag umfangreicher Sachverhalte und in der Würdigung schwieriger Rechtsverhältnisse nicht am Konzept ,klebt‘. Der Diskussion in den Vorberatungen des Senats folgte Luhmann mit sichtlichem Interesse und Verständnis. Seine eigenen Diskussionsbeiträge bestätigen ihn als aufgeschlossenen Menschen, der seine Meinung bestimmt und geschickt zu vertreten vermag, ohne eigensinnig auf ihr zu beharren. Im persönlichen Umgang wirkt Regierungsassessor Luhmann zunächst etwas scheu und befangen, gewinnt aber durch seine Bescheidenheit. Ich möchte meinen, daß er mit zunehmendem Alter im praktischen Verwaltungsdienst die wünschenswerte Unbefangenheit und Gewandtheit im Auftreten erlangen wird.“

Als Verfasser dieser Einschätzung vom 30. Januar 1956 tritt Senatspräsident Gross auf, Vorsitzender des IV. Senats am Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Niklas Luhmann, der zu dieser Zeit den Titel eines Regierungsassessors trug, war Gross vom 1. November 1955 bis zum 31. Dezember 1955 als Hilfsarbeiter zugewiesen, am Gericht war er bereits seit Dezember 1954 tätig.1 Da steht auch: „Seine Arbeitsweise ist sorgfältig, Fleiß und Fortbildungswille sind zu loben. Seine sprachlichen Fähigkeiten besonders in der schriftlichen Darstellung sind frei von anfängerhafter Verkrampfung. Hervorzuheben ist die Prägnanz und Kürze seiner Entwürfe.“

1 Die Akte, aus der diese Informationen zu entnehmen sind, wurde vor kurzem von Thomas Smollich, dem jetzigen Präsidenten des Oberverwaltungsgerichtes, an Martin Warnke, Professor für Kulturinformatik an der Leuphana Universität Lüneburg, weitergereicht. Anlässlich des 90. Geburtstag Niklas Luhmanns richtete er gemeinsam mit einigen Kollegen eine Tagung am ehemaligen Arbeitsort des fast weltberühmtesten Lüneburgers aus – berühmter ist momentan wahrscheinlich nur Hermann Toelcke, der in der in Lüneburg angesiedelten Telenovela Rote Rosen als „Gunter Flickenschild“ im Zentrum des seriellen Geschehens steht. Jedenfalls kam via Martin Warnke und Claus Pias die Luhmann-Akte zu uns, wofür wir uns bedanken.

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Zu den Pers. Akten „Luhmann“

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Oder: „Die Entwürfe seiner Entscheidungen ließen in ihrem Aufbau und in ihrer Begründung ein systematisches logisches Denken erkennen.“ Die Unterlagen, aus denen diese Zitate stammen, dokumentieren die Zeit, in der Luhmann noch in seiner Heimatstadt lebte (ohne eigenen Hausstand, wie aus der Akte hervorgeht) und auf dem Weg war, eine juristische Karriere einzuschlagen, die er ab 1956 im Niedersächsischen Kultusministerium fortsetzte. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits als Beamter auf Lebenszeit berufen worden. Von Hannover aus ging er schließlich 1960 für ein Jahr nach Harvard, studierte bei Talcott Parsons und stellte sich selbst zur Aufgabe herauszufinden „ob es befriedigend sein würde, nur zu lesen und Notizen zu machen.“2 Das war im ausreichenden Maß der Fall. Die darauffolgenden institutionellen Stationen, an die Luhmann durch seinen Beruf geführt wurde, sind wenn nicht bekannt, so doch leicht nachzulesen. Es ist all das, was Wikipedia weiß, und das, was Luhmann selbst in einigen Gesprächen, in denen er zu seinem Lebenslauf Auskunft gab, mitgeteilt hat. Das ist von Interesse, weil Luhmann ausreichend berühmt ist, ausreichend in dem Sinne, dass die Berühmtheit für die Benennung einer Straße am Rand von Lüneburg genügt, die durch ein Neubaugebiet führt. Die Satellitenaufnahmen dieser Satellitenadresse deuten an, dass man hier samstags um 16 h Rasenmäher und nachts gar nichts hört; überhaupt scheint es das Schicksal von Gelehrten und Frauen (Gelehrten, Politikerinnen, Künstlerinnen – Berufe und andere Merkmale werden dem Geschlecht dabei untergeordnet) aus dem 20. Jahrhunderts zu sein, dass ihre Namen Peripherien schmücken, denn die breiten Straßen sind meist schon durch Generäle oder andere, die viel Platz zu brauchen scheinen, besetzt. Nach dem Kunsthistoriker Max Imdahl ist beispielsweise der Parkplatzzubringer an der Ruhr-Universität Bochum benannt. Der Grund für Luhmanns ausreichende Berühmtheit könnte einerseits sein, dass die von ihm entwickelte Theorie in besonderer Weise zur Weltbeschreibung und -erklärung geeignet scheint. Ob das wirklich der Fall ist, muss aber hier gar nicht überprüft werden um festzustellen, dass sie in einer Sprache formuliert ist, deren überzeugender Sound ihrem Urheber zumindest so unheimlich zu sein schien, dass er sich seinen sprachlichen Eigenheiten ironisierend zuwandte: „Es wäre auch furchtbar, wenn alle ,Luhmannisch‘ reden würden. […] Man muß sich vorstellen, was wäre, wenn ein Theoriejargon Sprache werden würde. […] Die Theorie sollte also ein Faktor sein, der Irritation erzeugen kann, um andere Leute dazu zu bewegen, selbst zu denken. Und das ist ein ausgewählter Leserkreis. Das ist anders gar nicht möglich und gar nicht anders sinnvoll.“3

Das erlaubt dem ausgewählten Leserkreis, sich sinnvollerweise als exklusiv zu verstehen, wenn er sich dem Luhmannischen zuwendet, nicht immer geschieht 2

Detlef Horster, Niklas Luhmann, München 1997, S. 32. Wolfgang Hagen, Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann, Berlin 2009, S. 22/23. 3

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das mit der Ironie, die der unfreiwillige Meister des Luhmannischen werksseitig in seine Theorie eingebaut hat.4 Die Arbeit mit unveröffentlichten Papieren von oder zu einer berühmten Person erzeugt Suspense und geht mit der peinlich-angenehmen historischen Überlegenheit einher, die darin besteht, schon das Ende zu kennen, in diesem Fall: den Erfolg der Theorie und die relative Obskurität der Person Niklas Luhmann. Zusammengenommen ergibt sich daraus die Frage „Warum gibt es keine Biographie Niklas Luhmanns?“. Um die geht es hier in diesem Text, anlässlich der nun vorliegenden Akte. Sie ist nicht spektakulär, sie ist kein enormer Fund. Aber sie ist ein Baustein für eine Antwort auf die Frage nach der Biographie. Ein anderer Baustein mit tragender Funktion ist wiederum ein Interview, das Wolfgang Hagen mit Luhmann geführt hat und den Titel „Es gibt keine Biographie“ trägt.5 Als Ironiker betätigt sich Luhmann hier wiederum dadurch, dass er in diesem Gespräch mit Hagen, der einer der Mitveranstalter der Lüneburger Konferenz zu Luhmanns Geburtstag im Dezember 2017 war, allerhand über sein Leben erzählt. Allerdings: Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um eine Biographie im Sinne der Konstruktion einer biographischen Legende. Hagen fragt, Luhmann macht Angaben zur Person und erzeugt einen Denkzusammenhang, nicht: einen Lebenszusammenhang. Zu diesem Denkzusammenhang gehört auch die Figur des Assessors. Assessoren wie Luhmann damals sind eher Zugänger als Passanten. Solche Assessoren gehen nicht vorbei, sie gehen zu, in dem Fall zu Gericht und noch mehr. Sie machen das nämlich nicht als Kläger oder Angeklagte, sondern um Zugänge zum Gericht zu organisieren, so tragen sie den Zugang schon in ihrem Titel. Sicher kann man diesen Titel nicht nur auf den Zugang, sondern auch auf den Beisitz beziehen. Assessoren gehören in beiden Fällen aber nicht zu der Klasse von Akteuren, die als das Zentrum der Aktion, als Subjekt auftauchen. Sie sind im engeren Sinne nicht Personen des Gerichtes, also keine Richter, sie gehören zur abgeschwächten Form, zum Personal, also in die Klasse der Hilfsmittel und Helferlein, der Zuträger und Sekretäre, der Corridore, Boten und Medien. Sie unterzeichnen nicht die Texte, die das Gericht schreibt, das machen die Richterpersonen. Luhmann darf zwar signieren, aber an einer Stelle und in einer Zeit, in der Signatur und Unterschrift genau und dogmatisch unterschieden werden. Wenn Luhmann signiert, dann klebt er Signaturen auf die Buchrücken in der Bibliothek. Luhmann klebe nicht am Text, schreibt gleichzeitig sein Bezeuger (in diesem Fall: Senatspräsident Gross), und er beschreibt damit treffend den Status oder Halbstatus, in dem Luhmann sich damals befand, oder besser: zu den Akten genommen wurde. Luhmann klebte 4 „Mein Stil ist ja auch ironisch, um genau das zu markieren (die Fundierung der Systemtheorie in Paradoxien). Ich will damit sagen: nehmt mich bitte nicht zu ernst oder versteht mich bitte nicht zu schnell.“ Luhmann zu Detlef Horster, in: Horster, 1997, S. 46. 5 Das Interview kann man auf YouTube betrachten, https://www.youtube.com/watch?v= nFhQ6SrIKVo, letzter Aufruf am 9. Januar 2020, weiterhin verweisen wir auf Hagens Gespräche mit Luhmann in gedruckter Form, in: Wolfgang Hagen, Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann, Berlin 2004, S. 13 – 47.

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nicht am Text, weil er ihn nicht unterschrieb – und einer klebt nur dann am Text, sobald einer ihn unterschrieben hat, auch wenn ein anderer, sei es Luhmann, diesen Text schrieb. Personalakten, das macht der Begriff mit seiner Absetzung gegenüber der Person deutlich, umklammern Akteure, deren Position selbst noch einer Präposition gleicht. Davor, daneben, dazwischen, darunter, sie sind jenseits der Schwelle angesiedelt, innerhalb derer das Subjekt sich mit einem souveränen Bewußtsein ausgestattet sieht. In der Zeit musste Luhmann noch bezeugt werden, es sind unsichere Positionen. Es sind Zeiten, in denen Luhmann Akten brauchte, die schließlich dafür sorgen, dass das, was zu ihnen genommen wurde, auch in der Welt ist. Quod non est in actis non est in mundo. Solche Zeiten allerdings nennen wir Alltag. Assessoren wie Luhmann sorgen für vorläufige Texte, für Entwürfe oder – für jene Texte, die nur dafür sorgen, dass man andere Texte findet – also für Karteikarten und Zettel, Schlagworte und Register. Für Texte sorgen, die für Texte sorgen: Luhmann war am Gericht nicht in dasjenige eingespannt, was Wolfgang Böckenförde später einmal Legitimationsketten nennen sollte und auf so finalisierte wie finale Texte bezog. Luhmann war statt dessen eingespannt in Infrastrukturen. Assessoren gehören im deutschen Ausbildungssystem zwar schon zu den sogenannten Volljuristen. Anders als jene Volljuristen, die sich dann auch Richter nennen dürfen, markieren sie aber jene Vorläufigkeit, die dafür sorgt, dass Akteure vor dem Gesetz bleiben und nicht in es selbst eindringen. Assessoren sind Akteure der Vorläufigkeit, aber darin liegt auch die Möglichkeit, Verlauf und Vorgang zu besorgen. Assessoren sind nicht nur Zugänger, sie sind auch Zugangshüter. Man kann auf die Idee kommen, die Systemtheorie sei in der Betonung des ReEntry und darin, dass sie in aller Vervielfältigung den Wiedereintritt gegenüber der Ekstase und dem Exzess vorziehe, zugangsfixiert. In Luhmanns Assessorenzeit so etwas wie ein Element der späteren Lehre zu sehen, also etwa nach Entsprechungen zwischen Luhmanns ,Assessorigkeit‘ und jenem Formenkalkül zu suchen, das dann in der Systemtheorie die Unterscheidung zwischen Innen und Außen prozessieren soll, geht aber völlig vorbei an dem, was die Personalakte auch dann noch bezeugt, wenn sie stimmlos oder stumm wird: Assessoren wie Luhmann mögen nicht formlos sein, sie haben aber ebensowenig eine Form. So verrauscht die Akte ist, dazu noch vergilbt und verpixelt, so sekundär das Rauschen die Akte erscheinen lässt und vorgibt, man sei zu Luhmann immer noch nicht vorgedrungen, so deutlich markiert die Akte auch, dass ein Sekundant zu sein, wie Luhmann es damals war, von allem dem, was zur Form adelt, abgerückt ist, wenn auch vorläufig. Personalakten, zumal diejenigen von Assessoren, sind amphibolische Medien. Zwielichtig lassen sie dämmern, mit wem man es zu tun hat. Kein Wunder, dass der Umstand, in Akten geführt zu werden, Menschen schnell verdächtig erscheinen lässt. Man könnte Personalakten aufgrund ihres amphibolischen Charakters auch für durchweg ironisch halten, das sind sie zumindest in Stil und Erscheinung nicht. In dieser Personalakte wird es nicht ironisch, es ist ernst, geht so zu und bleibt auch so.

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Sie informiert über einen Abschnitt aus dem Leben Niklas Luhmanns sehr lückenhaft und repetitiv, Standardverwaltungsvorgänge (Abordnung, Begutachtung, Kenntnisnahme) werden immer wieder von verschiedenen Personen bestätigt, festgehalten wird das Ordnungsgemäße. Geklärt werden soll, welche „Verwendungsmöglichkeiten“ für eine Person bestehen, die die Kenntnisse aufweist, die in der Akte dokumentiert werden, es geht darum, einen funktionalen Anschluss in der kommenden Tätigkeit zu ermöglichen: Kann Assessor Luhmann im Kultusministerium die Aufgaben erfüllen, die ihm dort zugeteilt werden? Worin diese Aufgaben bestehen werden, ist nicht abzulesen, worin seine Aufgaben zuvor bestanden, hingegen schon: „Aufgaben des wissenschaftlichen Hilfsarbeiters im Rahmen der Büchereiverwaltung: 1. Umsignieren des gesamten Bestandes für den neuen Katalog. 2. Fortführung des Nachschlagewerks. 3. Aufbau der von Herren Regierungsassessor Titzek begonnenen Schlagwortkartei, die auch Aufsätze und Rechtsprechung umfaßt (grüne Karten). 4. Ordnung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts. 5. Gelegentliche Ermittlung von Schrifttum und Rechtsprechung im Auftrage einzelner Richter.“ Luhmann sortiert zu dieser Zeit also eine Gerichtsbibliothek und sucht Texte raus; die Zufriedenheit über die kleinen Anfänge des großen Soziologen ist dabei ganz auf Seiten der Leserinnen und Leser. Psychoanalytisch ertragreich ist ohnehin nur zu sehen, was bei der Lektüre einer relativ ereignisarmen Akte im Jetzt geschieht, ein genüssliches „Wartet mal, was dann auf den nächsten 6000 Seiten Systemtheorie abgeht“ ist dabei weniger die Markierung eines privilegierten Wissens, als die umständliche Bezeichnung eines historischen Index, der auf den Moment verweist, in dem Luhmann 90 Jahre alt geworden wäre, Konjunktiv, eben weil er seit 1998 tot ist. Die Systemtheorie macht weiter. Auch all diejenigen Persönlichkeitsmerkmale wie Zurückhaltung oder gar Schüchternheit, ein etwas unsicheres Auftreten, die auch später noch in kaum einem Bericht über die Person Luhmanns fehlen, sind keine Beschreibungen, die darauf abzielen, Charakterstudien zu ermöglichen. Hier wird keine Anthropologie getrieben, sondern die Befähigung zum Berufsbeamtentum überprüft. Dass diese vorgelegen zu haben scheint und Luhmann im Alter von 28 Jahren erfolgreich zu einem auf Lebenszeit berufenen Beamten wird, ist ein biographisches Faktum, das mit leichter Hand auf frühe Arbeiten aus seinem eigenen theoretischen Werk umgelegt werden kann, in denen das Berufsbeamtentum gelegentlich behandelt wird. Bei Interesse kann die Thematik auch bei seinen Schülern weiterverfolgt6 und so der Zusammenhang einer Schule konturiert werden. 6 In einer Festschrift zum 65. Geburtstags Luhmanns referiert Rudolf Stichweh in einem Aufsatz über „Berufsbeamtentum und öffentliche(n) Dienst als Leitprofession“ zentrale Erkenntnisse Luhmanns zum Thema, die noch aus Arbeiten aus den frühen 1970er Jahren stammen: „Die Anziehungskraft, die der öffentliche Dienst für potentielle Interessenten besitzt, steigt in dem Maße, in dem diese potentiellen Interessenten unterstellen, daß die traditionellen Dienstideale heute nicht mehr als Auswahlkriterien angewendet werden und daß an die Stelle von Dienstidealen moderne aktivistische Leistungsgesichtspunkte getreten sind (Luhmann/Mayntz 1973a: 101 f.). Ungeachtet dieses heutigen Veraltens klassischer Dienstideale gilt, daß die Kombination von gelehrten Wissensidealen mit Dienstidealen, die dem

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Abb. 2

Dieses Vorgehen ist möglich, setzt aber voraus, dass man sich Luhmann als einen Schriftsteller wissenschaftlicher Literatur vorstellt, den man behandeln kann wie einen Schriftsteller von Dichtungen anderer Art. Das ist kein ungewöhnliches Vorgehen, es gibt schließlich jede Menge Gelehrtenbiographien, die genau so vorgehen. Versucht wird dabei, das Werk sozusagen noch einmal durch die Hintertür zu betreten und es in eine Kausalitätsbeziehung zu einer bestimmten Figur zu setzen, die eben „Autor“ heißt. Dabei ist eine gewisse Plastizität in der Figurenzeichen erwünscht, wie der russische Formalist Boris Tomasˇevskij bereits 1923 beschrieben hat: „Der Leser rief: ,Der Autor, der Autor!‘ – aber er forderte, dass auf diesen Ruf hin ein schlanker Jüngling im Umhang mit einer Lyra und einem rätselhaften Gesichtsausdruck erscheinen sollte. Dieses Bedürfnis nach einem Autor – egal, ob real oder nicht, aber jedenfalls potentiell existierend – brachte eine besondere Form der anonymen Literatur her-

Beamtentum verdankte sind, – und der sich aus dieser Kombination herleitende gesellschaftliche Status – erkläre, warum im 19. Jahrhundert immer wieder, selbst in so unwahrscheinlichen Fällen wie dem Beruf des Arztes, die Förderung nach Verbeamtung als einem ,Alte der Gerechtigkeit und der Billigkeit‘ auftauchen konnte.“ (in: Klaus Dammann/Dieter Grunow/ Klaus P. Japp (Hrsg.), Die Verwaltung des politischen Systems. Neuere systemtheoretische Zugriffe auf ein altes Thema. Mit einem Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen Niklas Luhmanns 1958 – 1992, Opladen 1992, hier S. 212 f.).

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Hanna Engelmeier und Fabian Steinhauer vor, eine Literatur mit einem erfundenen Autor, dessen Biographie gleich mit hinzugefügt wurde.“7

Als Beispiel für diesen Prozess führt Tomasˇevskij unter Pseudonym veröffentlichte Märchen Voltaires an; andere Beispiele sind möglich. Entscheidend ist für Tomasˇevskij die Feststellung, dass die Formulierung eines irgendwie schlüssigen Narrativs über das Leben eines Autors vor allem ein wissenschaftliches Interesse nach Historisierung befriedigt. Dem dient die Literaturwissenschaft, indem sie „biographische Legenden“ schafft, „eine Konzeption, die […] als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Werks“ fungiert und dem Autor selbst zugeschrieben werden kann.8 Das kann man auch dann tun, wenn wie im Fall Luhmanns innerhalb der Theorie derjenigen Person, deren Biographie geschrieben werden soll, so ein Vorgehen nicht sinnvoll erschiene – beispielsweise deshalb, weil gar kein besonderes Interesse an einem einzelnen Subjekt besteht, beispielsweise auch deshalb, weil das Forcieren eines geschlossenen Narrativs Kontingenzen ausschaltet, mit denen sich die Systemtheorie beschäftigen würde. In dem Fall, dass eine Biographie Luhmanns geschrieben würde, gewännen dann Formulierungen wie die in dem eingangs zitierte Satz („Seine sprachlichen Fähigkeiten besonders in der schriftlichen Darstellung sind frei von anfängerhafter Verkrampfung.“) an Interesse, der drögen Formulierung, dem schnöden Formalisieren wird dann ein Rechercheauftrag abgerungen, der darin bestünde, hier durch Zeitzeugenbefragung oder ähnliches voranzukommen. In dem Bändchen Backsteingiebel und Systemtheorie. Niklas Luhmann – Wissenschaftler aus Lüneburg hat die Autorin Lilli Nitsche genau das getan. Familienfotos der Luhmanns sind beigegeben. Der Wunsch, Luhmann weniger gespenstisch und stärker fleischlich kennenzulernen, ist insbesondere in den Texten nachzulesen, die sich für seine Todesumstände interessieren,9 erledigt hat sie Rembert Hüser: „Die laufende Ersetzung von Problemen durch Biographie macht die Biographie selbst zum Problem. Sie wird exemplarisch.“10 Biographien sind eine schöne Sache, die besten von ihnen lesen sich geschmeidig wie das, was man einen gut gemachten Roman nennt: Infotainment erster Güte. Noch mal Tomasˇevskij: „Doch diese für den Literaturhistoriker notwendige Biographie ist keine Personal- oder Untersuchungsakte, sondern die vom Autor selbst geschaffene Legende seines Lebens, die allein ein literarisches Faktum darstellt.“10 Die komplexe 7 Boris Tomasˇevskij, Literatur und Biographie, in: Fotis Jannidis et al. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2003, S. 49 – 61 (55 f.). 8 Boris Tomasˇevskij, Literatur und Biographie (Fn. 7), S. 56. 9 Siehe: Thomas Lindemann, Was von Niklas Luhmann bleibt. Spurensuche, zuerst erschienen am 6. November 2008 in: Die Welt, 2013. Fassung des Autors in: http://www.waahr. de/texte/was-von-niklas-luhmann-bleibt, letzter Aufruf am 9. Januar 2020. 10 Das Zitat bezieht sich auf den Umgang mit der Personalie Niklas Luhmanns, die Hans Ulrich Gumbrecht auf die Spitze getrieben hat (Rembert Hüser, Etiketten aufkleben, in: Christian Huck/Carsten Zorn (Hrsg.), Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Wiesbaden 2007, S. 238 – 260 (248).

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Einsicht darin, dass Biographien literarische Texte sind, zu denen beispielsweise auch Personalakten wie diejenige gehören, die Niklas Luhmanns Zeit am Oberverwaltungsgericht Lüneburg dokumentiert, lässt unterschiedliche Folgerungen zu. Eine davon wäre, Luhmann in Zukunft als literarischen Autor zu lesen, dessen Stil zu erforschen eine ebenso gute Idee sein könnte, wie zu versuchen, diesen Stil zu historisieren. Dazu könnte (zweite Folgerung) gehören, biographische Daten einzubeziehen, die zu der Entwicklung dieses Stils gehören – die Lüneburger Personalakte wäre ein Mosaikstein, der helfen könnte, ein größeres Bild zusammenzufügen. Und schließlich kann man natürlich auch eine Biographie Luhmanns schreiben, vermutlich wäre sie kurz, vor allem wäre sie aber eben biographische Legende, ein Theorieroman, vielleicht. Für den Moment gilt, was Luhmann selbst sagt. Es gibt keine Biographie. Gut, sehr gut.

Am Anfang war das Recht? Luhmanns „juristisches“ Frühwerk Von Ino Augsberg

I. Hans Zacher, der später der wichtigste „Begründer des Sozialrechts nach dem Zweiten Weltkrieg“1 werden sollte und in den 1990er Jahren als erster Geisteswissenschaftler überhaupt als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft fungierte, war als Jahrgang 1928 nicht nur fast genauso alt wie Niklas Luhmann. Er war ab 1955, also zur selben Zeit wie Luhmann, auch in einer weitgehend entsprechenden Position beschäftigt, als Assistent des Präsidenten eines obersten Landesverwaltungsgerichts, in diesem Fall des Verwaltungsgerichtshofs in München. In den Jahren davor, also in der ersten Hälfte der 1950er Jahre, hatte Zacher, wiederum in Parallele zu Luhmann, seine Referendarausbildung absolviert. Über diese Zeit berichtet er folgendes: „Ich war der Erste, der der Bezirksregierung von Oberbayern als Referendar zugeteilt wurde, und eine Geschäftsstelle dort hat mich der Bauabteilung zugeteilt. Da kam ein Regierungsbaumeister, das ist ein Techniker, auf mich zu und übergab mir einen Aktenstoß, auf dem obenauf ein Blatt lag – ein Einspruchsbescheid. Damals hat der Widerspruch noch Einspruch geheißen. Auf diesem Einspruchsbescheid-Vordruck stand auch schon der Tenor drauf: ,Der Einspruch wird zurückgewiesen.‘ Es war einfach Gewohnheit. Ich habe ganz entsetzt gesagt: ,Was mach’ ich denn, wenn ich zum Ergebnis komme, dass der Einspruch begründet ist?‘ Schaut mich der Regierungsbaumeister groß an und sagt: ,Das hamma noch nie g’habt!‘“2

Nimmt man diese Anekdote ernst und versteht sie zugleich als weniger regional denn zeitgeschichtlich charakteristische Beschreibung, dann sagt sie einiges über die Situation der Verwaltung und sukzessive der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den 1950er Jahren. Vor diesem Hintergrund wird dann auch verständlich, wie die im Verlauf dieser Jahre zugleich immer stärker geführte Diskussion um die Rücknahme feh1

Ulrich Becker, Nachruf: Zum Tod von Hans F. Zacher, JuristenZeitung 2015, S. 460. Hans F. Zacher, Zur „Konstitutionalisierung“ des Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Carsten Kremer (Hrsg.), Die Verwaltungsrechtswissenschaft in der frühen Bundesrepublik (1949 – 1977), Tübingen 2017, S. 387 – 398 (392). Vgl. zu Zachers Leben und Werk näher Steffen Augsberg, Hans F. Zacher und die „Entdeckung“ des Sozialrechts, a. a. O., S. 331 – 344. 2

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lerhafter, das heißt rechtswidriger Verwaltungsakte für eine gewohnheitsmäßig verfestigte Sicht des „Das hamma noch nie g’habt!“ erscheinen musste – und wie es vor allem wirken musste, wenn derartige Fehler nicht als bedauernswerte Zwischenfälle präsentiert werden, die als höchst seltene Ausnahme durch die Rücknahme gerade wieder zu berichtigen, das heißt in die Normalform des rechtmäßigen Behördenhandelns zurückzuführen sind, sondern selbst einen Teil des ganz normalen Verwaltungsverfahrens ausmachen sollen. Eben dies jedoch ist die Perspektive, in der Luhmann sich dem Problem nähert. In seinem ersten Buch, dem 1963 in Co-Autorschaft mit Franz Becker (damals Wissenschaftlicher Assistent am Europäischen Forschungsinstitut der Universität des Saarlands, später Landtagsabgeordneter und schließlich Justizminister im Saarland) publizierten Werk über „Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz“, heißt es gleich eingangs programmatisch: „In dem Maße, als die Verfeinerung und Differenzierung der Entscheidungsprogramme fortschreitet, in dem Maße, als zentrale Steuerung und regulative Festlegung der Entscheidungsprogramme zunehmen und trotzdem eine adaequate und gerechte Einzelfallbehandlung erreicht werden soll, wird es notwendig, eine gewisse Fehlerquote als normal hinzunehmen“3.

Die Unvermeidbarkeit von Fehlern, die zu deren Anerkennung als Normalität zwingen soll, beruht danach – gewissermaßen avant la lettre – auf dem doublebind-Effekt einer Entscheidungspraxis, die wie in jeder Großorganisation nicht auf generalisierende, routinisierte Programme verzichten kann, zugleich jedoch jedem Einzelfall gerecht werden soll und gerade in dem aus dieser Situation resultierenden Versuch einer Re-Differenzierung der abstrakten Programme stets neue Fehlerquellen für die Vorgabe einer nicht nur einzelfallgerechten, sondern zugleich gleichförmigen Entscheidungspraxis erzeugt. Luhmann zufolge muss das Recht auf diese dilemmatische Situation reagieren, und zwar dadurch, dass es sich von seinem traditionellen Selbstbild als einer in sich vollständig konsistenten Entscheidungspraxis verabschiedet. Um die in Rechtsform erfolgenden Problembearbeitungen auch unter den gegebenen Bedingungen einer durch Großorganisationen geprägten modernen Gesellschaft zu gewährleisten, muss das Recht gewisse Inkonsistenzen nicht nur hinnehmen, sondern selbst hervorrufen. Es muss sich selbst widersprechen und noch diesem Widerspruch eine juristische Form verleihen. Es muss also nicht länger, der logischen Tradition entsprechend, den Selbst-Widerspruch als den Gottseibeiuns markieren, den es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Im Gegenteil: Deutlich hinausgehend über die Idee einer bloßen „Toleranz für Fehler“4, die immer noch an der eigenen überlegenen Einsicht in die Unrichtigkeit des Geschehens festhält, aber

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Franz Becker/Niklas Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz. Möglichkeiten gesetzlicher Regelung der Rücknehmbarkeit von Verwaltungsakten, Berlin 1963, S. 11. 4 So allerdings auch, missverständlich, Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 12.

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darüber gelegentlich gnädig hinwegsieht,5 muss das Recht Luhmann zufolge jenen Widerspruch unter bestimmten Bedingungen ex officio als zulässig bestimmen, das heißt zum integralen Bestandteil der eigenen Ordnung erklären. Es muss, horribile dictu, normative mit kognitiven Erwartungshaltungen kurzschließen, nämlich die Feststellung von Fehlern erstens zulassen, also nicht systematisch unterlaufen, und zweitens dann nicht als Anlass zu sofortiger Gegensteuerung und Umkehr begreifen, sondern das normative Programm an einmal eingeschlagene und nun weiter fortzusetzende Wege anpassen. „Die Unvermeidlichkeit von Fehlern macht es notwendig, auf eine strikte Durchführung des Rechts zu verzichten und in gewissem Umfange Widersprüche und Ungleichheiten in der Rechtsordnung nicht nur zu tolerieren, sondern zu legalisieren.“6

Von diesem Befund möchte ich im Folgenden ausgehen, um nach etwaigen juristischen Wurzeln in Luhmanns Frühwerk zu fragen. Mir geht es also weniger um den sachlichen Gehalt des „Fehlerproblems“ selbst7 (also etwa um die Frage, von wo her und anhand welcher Maßstäbe ein Fehler überhaupt als solcher entdeckt und bezeichnet werden kann, um dann in einem zweiten Schritt seine Fehlerhaftigkeit aktiv zu leugnen, oder um die Frage nach dem funktionalen Mehrwert von Fehlern), als um die Frage nach seiner speziellen Behandlungsart. Im Fokus steht die Analyse von Luhmanns Methode: In was für einer Perspektive wird das so bestimmte Fehlerproblem überhaupt erst als solches sichtbar? Die Fragestellung ist dabei vorwiegend retro-, nicht prospektiv orientiert. Statt darauf zu achten, was in den frühen Texten bereits als Vordeutung auf später ausdrücklicher herausgearbeitete Theoriefiguren verstanden werden kann,8 überwiegt die umgekehrte Sichtweise, die nach Spuren eines Vorgehens sucht, das man als – noch – klassisch juristisch bezeichnen könnte. Einer geläufigen, insbesondere aufgrund der biographischen Stationen offenbar naheliegenden These zufolge ist genau das zu vermuten: Danach war Luhmanns Beschäftigung mit dem Recht in den Anfangsjahren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit noch stärker einer internen juristischen Blickbahn verhaftet; erst sukzessive soll er dann die Position eines 5 Vgl. zu einem derartigen Vorgehen etwa den entsprechenden „Anspruch auf Fehlertoleranz“, den das Bundesverfassungsgericht in seiner Honeywell-Entscheidung dem Europäischen Gerichtshof scheinbar großzügig konzediert, BVerfGE 126, 286 (307). 6 Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 10. Vgl. auch a. a. O., S. 12: „Die Frage kann nur sein, mit welchem Grad an Bewußtheit dieser Fehlersatz einkalkuliert und legaler Behandlung zugeführt wird.“ 7 Vgl. zu dieser Bezeichnung Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 111. Zur sachlichen Dimension des Problems näher Maren Lehmann, Das Fehlerproblem, i. d. Bd., S. 59 – 78. Zum funktionalen Mehrwert von Fehlern für Organisationen ferner Dirk Baecker, Durch diesen schönen Fehler mit sich selbst bekannt gemacht, in: ders., Organisation und Management. Aufsätze, Frankfurt a. M. 2003, S. 18 – 40. 8 Vgl. zu dieser Perspektive Maren Lehmann, Das Fehlerproblem, i. d. Bd., S. 59 –78 (71): „Mich interessiert die Systematisierung [des von Becker dargebotenen Materials durch Luhmann, I. A.], weil sie zahlreiche Theoriekonstruktionen verwendet, die sich durch Luhmanns Theorie ziehen, die in ihr Geschichte machen werden.“

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„Fremdbeobachters des Rechts, der auf die Eigenrationalität des Rechts keine Rücksicht mehr nimmt“, besetzt haben.9 Diese These eines sich im Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere vollziehenden Wechsels von der (teilnehmenden) Innen- zu einer (bloß beobachtenden) Außenperspektive auf das Recht möchte ich im Folgenden im Licht einer Relektüre zumindest einiger Teile von Luhmanns Frühwerk auf die Probe stellen.

II. Für die so skizzierte Untersuchungsperspektive ist zunächst zu klären, was mit dem genannten „Frühwerk“ überhaupt gemeint sein kann und weshalb es sich anbietet, in dieser Hinsicht vorwiegend die Untersuchung zu den „Verwaltungsfehlern“ zu analysieren. Gibt es eine spezifische Charakteristik, die bereits die ersten Publikationen von Luhmann auszeichnet? Lässt sich diese Eigenart dann auch und gerade in der ersten Monographie wiederfinden, oder bildet diese eher eine Ausnahme von der im Übrigen zu konstatierenden Regel? Wer von dem „Frühwerk“ Niklas Luhmanns sprechen will und dabei als Kontrast seine später so immense Textproduktion vor Augen hat, muss vor allem anderen betonen, dass biographisch gesehen auch dieses Frühwerk erst relativ spät entsteht. Aus seiner Zeit am OVG Lüneburg liegen noch keine Arbeiten Luhmanns vor. Der in den Personalakten am OVG enthaltene Lebenslauf erwähnt zwar eine in Arbeit befindliche juristische Dissertation, die „rechtsvergleichend die Funktionen und die Organisationstechniken beratender Gremien, die dem Parlament bzw. der Exekutive beigeordnet sind“, untersuchen und sogar „nahezu fertiggestellt“ sein sollte.10 Die Arbeit ist jedoch zumindest in dieser Form nie erschienen. Immerhin deutet die für eine juristische Sicht bemerkenswerte Frage nach Funktion und Technik derartiger Insti-

9 Vgl. zu dieser These ausdrücklich etwa Johannes F. K. Schmidt, Editorische Notiz: Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtssoziologie bei Niklas Luhmann, in: Johannes F. K. Schmidt (Hrsg.), Niklas Luhmann, Kontingenz und Recht. Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang, Frankfurt a. M. 2013, S. 330 – 344 (331): „Er näherte sich dem Gegenstand zunächst primär rechtswissenschaftlich bzw. rechtstheoretisch, d. h. in Form einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Recht, die der Eigenrationalität des Rechts verpflichtet ist und deshalb auch von sich beansprucht, mit ihren Erkenntnissen im Recht selbst anschlußfähig zu sein. Erst in einer späteren Phase befaßt er sich dann dezidiert (rechts)soziologisch mit diesem Gegenstand, das heißt als Fremdbeobachter des Rechts, der auf die Eigenrationalität des Rechts keine Rücksicht mehr nimmt, sondern diese gerade hinsichtlich ihrer Funktionalität und Struktur durchleuchtet, entsprechend aber auch keinen Anspruch mehr erhebt, daß diese Fremdbeschreibung im Recht selbst anschlußfähig ist.“ 10 Vgl. Niklas Luhmann, Lebenslauf, in: Der Präsident des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein, Personalakten über Luhmann, Niklas, Bl. 1. Zu diesen Akten auch Hanna Engelmeier/Fabian Steinhauer, Zu den Pers. Akten „Luhmann“, i. d. Bd., S. 29 – 37. Zur allgemeinen Problematik des biographischen Ansatzes Maren Lehmann, Das Fehlerproblem, i. d. Bd., S. 59 –78.

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tutionen an, inwiefern entsprechende Vorarbeiten später anders genutzt worden sein könnten. Die ersten Veröffentlichungen entstehen erst nach der Lüneburger Zeit, gegen Ende der 1950er Jahre. Sie erscheinen vorwiegend im „Verwaltungsarchiv“, einer von Carl Hermann Ule mitherausgegebenen Zeitschrift. Ule war in gewissem Sinne Luhmanns alter wie später sein „neuer Chef“: Er war von 1949 an Richter, dann Senatsvorsitzender und schließlich Vizepräsident am OVG Lüneburg. In dieser Eigenschaft unterstützte er Luhmanns Einstellung als „juristischer Hilfsarbeiter“ am Gericht.11 1955 folgte Ule dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer; dort vermittelte er dann Anfang der 1960er Jahre dem zwischenzeitlich in das niedersächsische Kultusministerium gewechselten Luhmann eine Stelle als Forschungsreferent.12 Schon die Titel jener frühen Aufsätze im „Verwaltungsarchiv“ deuten an, dass Luhmann dieses im Untertitel als „Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik“ firmierende Organ vorwiegend mit Bezug auf die erstgenannte Perspektive für sich in Anspruch nahm. Der erste, 1958 erschienene Aufsatz ist mit „Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft“ überschrieben.13 Zwei Jahre später fragt der zweite Text: „Kann die Verwaltung wirtschaftlich handeln?“14 Erneut zwei Jahre später erscheinen drei Aufsätze: „Der neue Chef“, ein merkwürdiger Titel, in dem Kafkas „Der neue Advokat“ leise nachhallt, wiederum im „Verwaltungsarchiv“, „Funktion und Kausalität“, in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“, und „Wahrheit und Ideologie“, im ersten Jahrgang der neugegründeten Zeitschrift „Der Staat“.15 Alle genannten Texte haben zumindest eine schon auf den ersten Blick erkennbare Gemeinsamkeit, die von einer genaueren Lektüre bestätigt wird: Um verwaltungsrechtliche Probleme im engeren Sinne geht es ihnen nicht. Anders sieht es offenbar mit der erwähnten Arbeit über „Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz“ aus. Schon der Untertitel macht nicht nur inhaltlich deutlich, dass hier eine der umstrittensten verwaltungsrechtlichen Debatten der Zeit verhandelt wird. Auch formal passt er sich dem Thema an: Als sowohl auf Verben wie auf Ar11 Vgl. die Vfg. des Präsidenten des OVG Lüneburg v. 13. November 1954, in: Personalakten über Luhmann (Fn. 10), Bl. 3. 12 Vgl. zu Ule näher Jakob Nolte, Carl Hermann Ule. Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, in: Kremer (Hrsg.), Die Verwaltungsrechtswissenschaft in der frühen Bundesrepublik (Fn. 2), S. 203 – 230. 13 Niklas Luhmann, Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft, Verwaltungsarchiv 49 (1958), S. 97 – 105. 14 Niklas Luhmann, Kann die Verwaltung wirtschaftlich handeln?, Verwaltungsarchiv 51 (1960), S. 97 – 115. 15 Vgl. Niklas Luhmann, Der neue Chef, Verwaltungsarchiv 53 (1962), S. 11 – 24; Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14 (1962), S. 617 – 644; Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, Der Staat 1 (1962), S. 431 – 448.

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tikel und Adjektive nahezu vollständig verzichtende, dafür in Gestalt einer dreigliedrigen Genitivkaskade zusammengefügte Nominalgruppe präsentiert sich dieser Untertitel fast wie eine Persiflage auf bekannte juristische Stileigenarten. Es geht in dem Buch um „Möglichkeiten gesetzlicher Regelung der Rücknehmbarkeit von Verwaltungsakten“. Ausdrücklich knüpft das Buch damit an die laufende Debatte um eine Kodifikation des Verwaltungsverfahrensgesetzes im Allgemeinen und der Rücknahmemöglichkeiten für rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte im Besonderen an. Beide miteinander zusammenhängenden Themenkreise waren kurze Zeit zuvor Gegenstand eines Beschlusses des deutschen Juristentages und wurden zum Zeitpunkt der Buchpublikation in den Abschlussberatungen einer Bund-Länder-Kommission der Innenministerien zum Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes noch weiter debattiert.16 Stellt man zudem in Rechnung, dass es bei dem Thema der Rücknahme vor allem um die beiden Aspekte der Gesetzesbindung der Verwaltung einer- und des Vertrauensschutzes bzw. der Rechtssicherheit andererseits ging, die sich jeweils als zentrale Merkmale des allgemeinen Rechtsstaatsgedankens verstehen lassen, also verfassungsrechtlich grundiert sind, wird klar, dass hier ein juristisches Thema par excellence in Frage stand. Um Luhmanns juristische Prägung zu ermitteln, ist das Buch demnach ideal. Dem steht auch nicht im Wege, dass, wie die Co-Autorschaft zunächst vermuten lassen könnte, der eigene Anteil Luhmanns am Gesamtwerk nicht genau zu ermitteln ist. Das Gegenteil ist der Fall. Wie das „Vorwort des Herausgebers“ – wiederum handelt es sich um Carl Hermann Ule – mitteilt, waren zwar alle Kapitel des Buchs „Gegenstand eingehender gemeinsamer Überlegungen“17. Die Ausarbeitung der einzelnen Kapitel jedoch erfolgte separat: Becker übernahm lediglich das zweite Kapitel (das allerdings vom Umfang her den anderen Kapiteln insgesamt in etwa entspricht), während Luhmann als Autor für das erste, dritte, vierte und fünfte Kapitel verantwortlich zeichnete.18

III. Näher betrachtet macht gerade diese Form der Co-Autorschaft die Lektüre des Bandes aufschlussreich. Trotz aller Betonung der „gemeinsamen Überlegungen“ und ungeachtet der gerade in Luhmanns Kapiteln stets verwendeten ersten Person Plural macht sie deutlich, wie unterschiedlich die Herangehensweisen der beiden Autoren sind. 16 Vgl. als zeitgenössischen Überblick zu den Auseinandersetzungen etwa Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, Berlin/New York 1965, mit einer speziellen Berücksichtigung der Diskussion seit dem Frühjahr 1962, a. a. O., S. 134 ff. 17 Carl Hermann Ule, Vorwort des Herausgebers, in: Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 5 f. (6). 18 Vgl. Ule, Vorwort des Herausgebers (Fn. 17), S. 6.

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Bereits die eingangs zitierten Stellen haben gezeigt, dass Luhmann im ersten, „Einführung“ überschriebenen Kapitel das zugrundeliegende Problem aus einer abstrakten, auf allgemeine Funktionsprobleme von Großorganisationen bezogenen Perspektive skizziert. Dezidiert normative Erwägungen und Begrifflichkeiten finden sich an dieser Stelle kaum. Charakteristischerweise ist nur von einem auf Seiten der Bürger entstandenen tatsächlichen Vertrauen, nicht dagegen, wie es einer üblicheren juristischen Perspektive entsprechen dürfte, von einem spezifisch schutzwürdigen (und nur deswegen normativ beachtenswerten) Vertrauen die Rede. Überlegungen zu etwaigen konkreten rechtlichen Grundlagen, die für oder gegen die Rücknahme von fehlerhaften Verwaltungsakten sprechen könnten, tauchen in der „Einführung“ praktisch nicht auf. Diese gewisse Leerstelle der Argumentation wird umso deutlicher, wenn man das zweite Kapitel von Becker dagegenhält. Seine Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten setzt ein mit dem Befund, die früher angenommene freie Aufhebbarkeit begünstigender Verwaltungsakte sei in der letzten Zeit „durch die Anerkennung des Gedankens des Vertrauensschutzes und das verstärkte Eindringen sozialstaatlicher Prinzipien in das Verwaltungsrecht erheblich erschwert“19 worden. Damit wird die normative Grundierung des Konflikts deutlich, die diesen auch zu einer Frage der Verfassungsinterpretation macht. Explizit genannt wird das Sozialstaatsprinzip; mindestens ebenso stark aber, wenngleich implizit, ist der Rechtsstaatsgedanke in Anspruch genommen.20 Die offenbar erforderliche „Anerkennung“ seines „Schutzes“ macht deutlich, dass mit dem thematisierten Vertrauen nunmehr nicht nur ein tatsächliches soziales Phänomen, sondern eine normative (Re-)Konstruktion angesprochen ist. Becker trägt diesem Perspektivwechsel auch dadurch Rechnung, dass er in seine Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung und der einschlägigen wissenschaftlichen Debatte in Deutschland die allgemeine Kritik an der verfassungsrechtlichen Begründung des Sozialstaatsgedankens mit einbezieht, die prominent insbesondere durch Ernst Forsthoff vertreten wurde.21 In dieser Perspektive ist die im Titel des Buchs angedeutete Gegenüberstellung nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Bürger und Staat. Die Spannungslage von „Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz“ ist vielmehr als ein Konflikt zu rekonstruieren, der sich aus den verschiedenen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen selbst ergibt. Was insofern für die spezielle Frage der Rücknahmemöglichkeit fehlerhafter Verwaltungsakte gilt, wurde von anderen Autoren noch weiter auf die gesamte Aufgabe 19

Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 18. In dem von Luhmann verfassten vierten Kapitel ist später allerdings dann sogar ausdrücklich davon die Rede, dass „Rechtsstaat und Sozialstaat verschmelzen“ (Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz [Fn. 3], S. 117). 21 Vgl. zur Debatte die Beiträge in Ernst Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Aufsätze und Essays, Darmstadt 1968. Zur Diskussion näher John Philipp Thurn, Welcher Sozialstaat? Ideologie und Wissenschaftsverständnis in den Debatten der bundesdeutschen Staatsrechtslehre 1949 – 1990, Tübingen 2013. 20

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der Kodifikation des Verwaltungsverfahrens bezogen. Ein (allerdings erst zwei Jahre nach „Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz“ erschienener) Aufsatz von Ule bringt dieses Verständnis der Problemzusammenhänge schon im Titel prägnant auf den Begriff: Es ging danach in der Debatte um eine „Verwaltungsreform als Verfassungsvollzug“22. In dieser Perspektive bildet auch die spezielle Auseinandersetzung in der Rücknahmefrage lediglich eine Frage der angemessenen Verfassungsinterpretation – also einen Unterfall der Rechtsanwendung. Ein konkretes bestehendes Problem wird (nur) als Rechtsproblem rekonstruiert. Fritz Werner, wie Ule seit 1949 Richter am OVG in Lüneburg, ebendort ab 1952 Senatsvorsitzender – in dieser Eigenschaft war Werner dann auch für eine dienstliche Beurteilung Luhmanns zuständig, da dieser ihm während seiner Zeit am OVG für einige Monate zugearbeitet hatte – und ab 1955 Vizepräsident dieses Gerichts, schließlich ab 1958 Präsident des Bundesverwaltungsgerichts,23 hatte diese später mit dem Stichwort der „Konstitutionalisierung“ der gesamten Rechtsordnung bezeichnete Vorstellung schon einige Jahre früher auf eine noch allgemeiner gefasste griffige Formel gebracht: „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“.24 Anders Luhmann. In Gestalt einer – offensichtlich rhetorischen – Frage formuliert er bereits in seinem Anfang 1962 erschienenen Aufsatz „Der neue Chef“ das programmatische Gegenmodell zur rein juridischen Problembetrachtung. Zumindest implizit legt er damit zugleich Einspruch gegen die Sicht seines eigenen neuen Chefs ein: „Man wird […] die Frage aufwerfen müssen, ob […] es für das Handeln der Verwaltung genügt, für alle etwaigen Rechtsstreitigkeiten eine richtige Entscheidung zu wissen. An sol-

22 Carl Hermann Ule, Verwaltungsreform als Verfassungsvollzug, in: ders. u. a. (Hrsg.), Recht im Wandel. Festschrift 150 Jahre Carl Heymanns Verlag KG, Köln u. a. 1965, S. 53 – 89. Vgl. auch die von Ule zusammen mit Luhmanns Co-Autor Becker verfasste kleine Studie „Verwaltungsverfahren im Rechtsstaat. Bemerkungen zum Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes“, Köln/Berlin 1964. Allg. zum Problem ferner Ferdinand Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht. Eine Untersuchung über die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Verwaltungsverfahrens in der Bundesrepublik und die Bedeutung der Grundentscheidungen der Verfassung für die Feststellung, Auslegung und Anwendung des geltenden Verwaltungsverfahrensrechts, München 1971. 23 Vgl. dazu näher Hans Joachim Becker, Fritz Werner – Präsident des Bundesverwaltungsgerichts von 1958 bis 1969: Erinnerungen an eine große Richterpersönlichkeit, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1987, S. 105 – 120. 24 Vgl. Fritz Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, Deutsches Verwaltungsblatt 1959, S. 527 – 533. Näher dazu etwa Christoph Schönberger, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“. Die Entstehung eines grundgesetzabhängigen Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz. Altes Recht und neue Verfassung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland (1949 – 1969), Berlin 2006, S. 53 – 84. Allg. zum modernen Begriff der Konstitutionalisierung etwa Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Überlegungen zum Verhältnis von verfassungsrechtlicher Ausstrahlungswirkung und Eigenständigkeit des „einfachen“ Rechts, Baden-Baden 2000.

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chen Fragen kann eine Verwaltungswissenschaft, die mit dem konkreten Verhalten in der Verwaltungswirklichkeit Fühlung halten will, nicht vorbeigehen.“25

Das gilt entsprechend auch für seine Sicht des Rücknahmeproblems. Luhmann rekonstruiert die schon im Buchtitel genannte Spannung zwischen „Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz“ vorwiegend als einen sozialen Interessenkonflikt, in dem das private Bestandsinteresse an einer erfolgten Begünstigung auf ein bestimmtes öffentliches Interesse an der Aufhebung eben dieser begünstigenden Maßnahme trifft. Spezifisch rechtliche Konturen zeigt der Untersuchungsgegenstand in dieser Perspektive (noch) nicht. Typisch erscheint vielmehr eine Formulierung am Beginn des vierten Kapitels, wo es heißt, dass durch die Beschäftigung mit dem Fehlerproblem „tiefgreifende Interessenkonflikte in die Rechtsordnung hineingetragen werden“26. Die in Frage stehenden Probleme werden danach als etwas für die juristischen Prozesse zunächst Äußerliches und Fremdes vorgestellt. Eben deswegen müssen sie ausdrücklich in das Recht integriert werden und setzen dabei dessen „Ordnungsaufgabe […] erheblichen Belastungen“27 aus. Die juristisch naheliegende Gegenposition, der zufolge die konfligierenden Positionen von vorneherein verfassungsrechtlich fundiert erscheinen, kommt dagegen nur am Rande zur Sprache. Erst bei der Erläuterung des von den beiden Autoren formulierten konkreten Gesetzgebungsvorschlags, am Ende des vierten Kapitels, geht Luhmann etwas näher auf die Frage der Gesetzesbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ein.28 Charakteristischerweise bleibt aber auch dabei das Hauptargument ein negatives: Die Parallele zur richterlichen Entscheidung und ihrer Fähigkeit zur (formellen wie, vor allem, materiellen) Rechtskraft soll zeigen, dass Gesetzesbindung nicht automatisch volle Revozierbarkeit fehlerhafter Entscheidungen bedingt. Aber wie derselbe Vergleich deutlich macht, bedarf es für eine solche Rechtskraft einer gesetzlichen Grundlage, die für das Verwaltungshandeln (noch) fehlt. Art. 20 Abs. 3 GG wird damit kein positives Kriterium entnommen, wie der Konflikt aufzulösen sein könnte. Luhmann verweist lediglich darauf, dass die Norm einer bestimmten legislativen Neukonzeption nicht zuwiderläuft. „Freilich hat das Rechtskraftprinzip eine gesetzliche Grundlage, die im Verwaltungsrecht weithin fehlt. Wir können also zunächst nur folgern, daß trotz Art. 20 Abs. 3 GG gesetzliche Regelungen möglich sind, die Fehler der Verwaltung legalisieren, nicht aber daraus ableiten, welcher Rechtszustand ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung besteht.“29

Ausdrücklich methodisch begründet wird diese normativ magere Perspektive zunächst nicht. Erst auf den letzten Seiten des Werks, im abschließenden fünften Kapitel, spricht Luhmann die eigene Sicht an und verdeutlicht zugleich ihre spezielle 25

Luhmann, Der neue Chef (Fn. 15), S. 12. Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 111. 27 Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 111. 28 Vgl. Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 121 ff. 29 Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 123. 26

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Funktion im gegebenen Kontext. Zur Bewältigung des in Frage stehenden allgemeinen Kodifikationsproblems müsste, so heißt es zurückhaltend, „die Bedeutung des öffentlichen Rechts für die Verwaltung unter nichtjuristischen, verwaltungswissenschaftlichen Gesichtspunkten geprüft werden.“30 Was hier scheinbar noch in der klassischen Rolle der juristischen „Hilfswissenschaft“ auftritt,31 implizit aber schon das spezielle Gepräge jener schon in Luhmanns allererstem Aufsatz thematisierten „funktionalen Analyse“ trägt, mitsamt der mit ihr notwendig verknüpften Relativierungen,32 macht zwei Seiten später, auf der vorletzten Seite des Buches, den eigenen Anspruch unüberhörbar deutlich. Zugleich markiert es den klaren Bruch mit der tradierten „juristischen Methode“ und ihrem Selbstverständnis als Rechtsanwendungstechnik: „Rechtsprechung und Rechtswissenschaft sind für die Verwirklichung ihrer Vorstellungen auf sehr begrenzte Legitimierungsmittel angewiesen. Sie müssen sich einer auslegend-deduzierenden Methode bedienen, die gewiß elastisch gehandhabt werden kann, aber doch sehr spürbare Grenzen hat. In dem Maße, als eine Verwaltungswissenschaft sich zu formen beginnt, die mit anderen Methoden arbeitet, wird man nach anderen Wegen zur Umsetzung von Erkenntnissen in geltende Normen suchen müssen.“33

Die Verwaltungswissenschaft sucht demnach den unmittelbaren Kontakt zur Gesetzgebung, um ihren Erkenntnissen normative Verbindlichkeit zukommen zu lassen. Sie überspringt dabei die traditionellen Generalisierungs- und Respezifikationstechniken, die unter den Namen juristische Methode und Dogmatik bekannt sind.34 Deren Fähigkeit, einen Allgemeinen Teil des Verwaltungsrechts zu bilden, wird kaum verhohlen diskreditiert. Aus dem Zusammenwirken von Verwaltungswissen30

Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 144. Vgl. dazu etwa, die traditionelle Verhältnisbestimmung zugleich aufnehmend und erweiternd, Hermann Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, in: Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hermann Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, Karlsruhe 1962, S. 117 – 144 (126): „Da diese Erforschung [der Zwecke des Gesetzes und der Bedürfnisse des Lebens, I. A.], wie gezeigt, auf soziologischem Wege geschehen muß, so ergibt sich, daß die Soziologie nicht nur gelegentlich herangezogen werden darf, wie dies stets geschah, sondern als die vornehmste Hilfswissenschaft der dogmatischen Jurisprudenz, deren Arbeit Punkt für Punkt vorbereiten und ergänzen muß. Diese Arbeit muß und wird geleistet werden und es leuchtet ein, daß die Jurisprudenz dadurch ein völlig anderes Gesicht erhalten wird, sowohl den Methoden als auch den Ergebnissen nach.“ 32 Vgl. Luhmann, Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft (Fn. 13); Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Tübingen 1968, S. 236 ff. 33 Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 146. 34 Vgl. zu Luhmanns Sicht auf das allgemeine Verhältnis von juristischer Dogmatik und soziologischer Analyse einerseits Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin, 2. Aufl. 1974, S. 81, wo die Aufgabe benannt wird „soziologische Analysen in eine wirklichkeitsbezogene juristische Dogmatik (die selbst natürlich nie soziologisch arbeiten kann!) umzudenken.“ Andererseits Niklas Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt a. M. 1986, S. 44: „Ein Nutzen für die Rechtspraxis ist von Soziologie kaum zu erwarten.“ 31

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schaft und Legislative soll eine neue Gestalt dieses Allgemeinen Teils möglich werden: „Er wäre dann nicht mehr das verdünnte Destillat inhaltlicher Abstraktion verwaltungsrechtlicher Normen, das nur noch eine banale Ordnungswirkung besitzt. Er wäre vielmehr das System der Normen, die für jede Verwaltungseinheit im Verhältnis zu ihrem Publikum verbindlich sind, die also die Anpassung eines beliebigen Verwaltungssystems an seine Umwelt, das heißt: die Abnahmefähigkeit der Verwaltungsentscheidungen regeln. Er müßte auf die allgemeinen Probleme großbetrieblicher Entscheidungsfertigung in einer hochdifferenzierten Arbeits- und Konsumwelt zugeschnitten werden.“35

Damit schließt sich der Kreis zum Anfang der Untersuchung, der ebenfalls bei den „allgemeinen Problemen großbetrieblicher Entscheidungsfertigung“ angesetzt hatte. Was dort noch latent blieb, tritt nun manifest hervor: Hier spricht kein Dogmatiker des Verwaltungsrechts, sondern ein Wissenschaftler, der gegenüber der geläufigen Selbstbeschreibung des Rechts eine bewusst distanzierte Perspektive einnimmt. Es spricht ein Beobachter von, nicht ein Teilnehmer an den juristischen Prozessen. In Übertragung einer eigentlich auf die Zeit am Littauer Centre – School of Public Administration in Harvard gemünzten Beschreibung könnte man sagen: Luhmann interessiert das Recht „als Phänomen, aber nicht als Arbeitszusammenhang“36. Das hinderte ihn offenkundig aber nicht, mit diesem Phänomen selbst wiederum einen neuen Arbeitszusammenhang spezieller Art einzugehen. Denn Luhmanns CoAutor Becker ließ in seinem Kapitel eben jene hier diskreditierte klassische juristische Methode weitgehend ungebrochen zum traditionellen, aber im Sinne des gemeinsamen Grundvorhabens des Gesamtbuchs offenbar dennoch zugleich erfolgreichen Einsatz kommen. Luhmann stellt seine eigenen Überlegungen Beckers juristischen Ausarbeitungen buchstäblich an die Seite: im doppelten Sinn einer bewusst eingegangenen Allianz, die bestehende Grenzen durch neue Bindungen jedenfalls teilweise zu überwinden versucht, aber auch einer Unterscheidung, die wie stets einen bestimmten Innenbereich als solchen neu markiert und damit von dem ihm gegenüber Äußeren absetzt.

IV. Bemerkenswerterweise ist diese Beobachter-Perspektive nicht die einzige Form, in der sich Luhmann von dem positiven Recht und seiner klassischen Auslegung und dogmatischen Systematisierung distanziert. So erwartbar die Inanspruchnahme der (hier noch als „verwaltungswissenschaftlich“ spezifizierten) Beobachterposition nicht erst in der Rückschau, sondern schon vor dem Hintergrund der frühen Aufsätze erscheinen mag, so erstaunlich ist diese zweite Form der Distanznahme. Luhmann 35

Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 146. Vgl. Niklas Luhmann, in: Pierre Guibentif, Niklas Luhmann und die Rechtssoziologie: Gespräch mit Niklas Luhmann, Bielefeld, den 7. Januar 1991, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), S. 217 – 245 (224). 36

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Ino Augsberg

ergänzt die rein dogmatische Arbeit wiederholt um ein Problem, das jedenfalls aus einer bestimmten, durchaus üblichen Lesart der späteren Rechtskonzeption nicht auf der Hand liegt: die Frage nach der Gerechtigkeit der juristischen Entscheidung. Statt diese lediglich in Form einer Konsistenz- oder Kontingenzformel als ausschließlich rechtsinterne Kategorie zu rekonstruieren, die Gleichheit und Gerechtigkeit kurzschließt,37 nimmt Luhmann sie bewusst auch als ein rechtsexternes Moment in Anspruch. Was zunächst noch unspezifisch als Kriterium des „recht und billig“ bzw. „unbillig“ thematisiert wird,38 aber schon dabei die Aufgabe hat, dem Einzelfall als Einzelfall gerecht zu werden, also ihn aus einer schematisch-formalisierenden Betrachtungsweise zu lösen, wird schließlich mit Bezug auf eine positivistische Fundierung des nicht-positivistischen Charakters der deutschen Rechtsordnung ausdrücklich benannt: Art. 20 Abs. 3 GG verpflichte bewusst nicht nur auf das Gesetz, sondern auf „Gesetz und Recht“. Die Norm deute damit „eine gegenüber dem positiven Recht kritische Einstellung der Verfassung an.“39 Damit ist der extralegale und, da der bloßen Differenz Recht/Unrecht nicht nur eingeschriebene, sondern auch als Korrektiv gegenübergestellte, mithin auch extrajuridische Charakter der Billigkeitserwägungen gewissermaßen von Verfassungs wegen bestätigt.40 Dieser Textbefund deckt sich nicht nur mit Luhmanns in Interviews geäußerten Skizzen zur eigenen Biographie, denen zufolge die – in dieser Hinsicht erstaunlich romantisch anmutende – Entscheidung für das Jurastudium einem starken Gerechtigkeitsempfinden entsprang. „Ungerechtigkeiten haben mich immer enerviert“, erklärt Luhmann zunächst, um dann hinzuzufügen, dass diese Enervierung zwar nur „einer der Gründe“ für das Jurastudium war, ein Grund aber, der zugleich als „eine ganz substantielle Frage“ hervorgehoben wird.41 Der Textbefund stützt zudem die Interpretationen von Ralf Dreier und Gunther Teubner, denen zufolge an Luhmanns Werk nicht nur der positivistische Ansatz, also sein Charakter als eine Art systemtheoretischer Wiedergänger von Kelsens „Reiner Rechtslehre“ hervorzuheben sei. Nach Dreier und Teubner muss man vielmehr Luhmanns Rechtstheorie auch als eine den rein positivistischen Ansatz transzendierende Gerechtigkeitstheorie lesen.42 In dieser Perspektive ist bereits die frühe Insistenz auf „Billig37 Vgl. in diesem Sinn Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 115. Zur Konsistenz- und Kontingenzformel ferner Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts (Fn. 34), S. 43 f.; Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 214 ff. 38 Vgl. Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 100 u. 105. 39 Becker/Luhmann, Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz (Fn. 3), S. 123 f. 40 Vgl. für eine diese Interpretation des Art. 20 Abs. 3 GG unterstützende Judikatur die berühmte Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 34, 269 (286 f.). 41 Vgl. Luhmann, in: Guibentif, Niklas Luhmann und die Rechtssoziologie (Fn. 36), S. 218. 42 Vgl. Ralf Dreier, Niklas Luhmanns Rechtsbegriff, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2002, S. 305 – 322 (v. a. 315 ff.); Gunther Teubner, Dreiers Luhmann, in: Robert Alexy (Hrsg.), Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, Tübingen 2005, S. 199 – 211; Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel

Am Anfang war das Recht?

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keit“ nicht allein als Wiederaufnahme eines klassisch aristotelischen epieikeia-Motivs zu verstehen. Insbesondere der Verweis auf die spezifische Formulierung „Gesetz und Recht“ erlaubt darüber hinaus, die hervorgehobene Bedeutung der Einzelfallgerechtigkeit als charakteristische Gestalt des Wiedereintritts eines aus den Rechtsprozessen zunächst ausgeschlossenen Elements zu lesen: als Eintritt nicht nur in die, sondern zugleich in der Form des Rechts. Noch etwas Anderes mag erstaunen. Luhmanns Auseinandersetzung enthält nicht nur, wie gezeigt, keine rein dogmatischen Ausführungen zu dem in Frage stehenden Thema. Sie bietet auch keine rechtstheoretische Perspektive auf das Fehlerproblem, die dieses in einen größeren Rahmen einfügt und in seiner allgemeinen Relevanz diskutiert. Die allgemeine Frage, was es für ein Rechtsverständnis bedeutet, sich selbst als zwangsläufig fehleranfällig zu begreifen und die daraus resultierende Illegalität des Rechts selbst oder genauer, einzelner Teile von ihm, nicht nur als Anlass zu aktiverer Selbstkontrolle und daraus dann resultierenden Korrekturnotwendigkeiten zu begreifen, sondern die Illegalität als solche zu erkennen, aber gerade nicht einfach zu beseitigen, sondern als paradoxes legales Unrecht dennoch als rechtskonform zu behaupten, wird nicht erörtert, geschweige denn, dass Luhmann einzelne einschlägige, auf eine zumindest ähnliche Problematik bezogene rechtstheoretische Lösungsansätze aus der Vergangenheit vorstellt, analysiert und diskutiert. Das ist umso bemerkenswerter, weil die rechtswissenschaftlichen Debatten sich vielfach mit dem Problem des „unrichtigen Rechtsakts“ nicht nur in allgemein rechtsphilosophischer, sondern auch in eher technischer Hinsicht beschäftigt haben und damit für eine entsprechende Auseinandersetzung durchaus berühmte Anknüpfungspunkte bieten könnten. Das gilt etwa für Carl Schmitts Beobachtung der konstitutiven Bedeutung des unrichtigen Rechtsakts,43 vor allem aber für das der Sache nach mit Luhmanns Fragestellung eigentlich eng verwandte Konzept des „Fehlerkalküls“ von Adolf Merkl,44 das erstaunlicherweise unerwähnt bleibt.

des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), S. 9 – 36. Zu Letzterem näher Ino Augsberg, Gerechtigkeit als Transzendenzformel, in: Lars Viellechner (Hrsg.), Verfassung ohne Staat. Gunther Teubners Verständnis von Recht und Gesellschaft, Baden-Baden 2019, S. 81 – 102. 43 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin, 7. Aufl. 1996, S. 37: „Die unrichtige Entscheidung enthält ein konstitutives Moment, gerade wegen ihrer Unrichtigkeit.“ 44 Vgl. Adolf Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff. Eine rechtstheoretische Untersuchung, Leipzig/Wien 1923, S. 293: „Fehlerkalkül ist jene positivrechtliche Bestimmung, die es juristisch ermöglicht, dem Staat solche Akte zuzurechnen, die nicht die Summe der anderweitig positivrechtlich aufgestellten Voraussetzungen ihrer Entstehung und damit ihrer Geltung erfüllen, die es erlaubt, solche Akte trotz jenes Mangels als Recht zu erkennen.“ Dazu ferner Adolf Merkl, Justizirrtum und Rechtswahrheit, in: Hans Klecatsky/René Marcic/Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Bd. 1, Wien u. a. 1968, S. 195 – 214.

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Ino Augsberg

Noch im „Recht der Gesellschaft“ wird das „Erkennen und Vermeiden von Fehlern“ zwar als „die primäre Sorge von Juristen“ bezeichnet,45 die Operationalisierung des Umgangs mit der eigenen notwendigen Fehlerhaftigkeit aber nicht als spezifische Eigenleistung der juristischen Verfahren ab einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung weiter verfolgt. Auch der an anderer Stelle gegebene Hinweis auf die vorwiegend negative Funktion des Versuchs, juristische Entscheidungen mit Hilfe der Logik zu rekonstruieren, ändert daran nichts, sondern verbleibt in derselben Perspektive. Denn wenn Luhmann jene Funktion als die Erhöhung der Fehlerempfindlichkeit bestimmt, das heißt als Erleichterung des Nachweises von Fehlern in der rechtlichen Entscheidungspraxis,46 dann liegt der Fokus erneut auf einem Umgang mit Fehlern, der diese gerade verhindern oder zumindest im Nachhinein als solche erkennen und korrigieren soll. Dass und weshalb Fehler zugelassen werden müssen und deswegen die logische Form der Widerspruchsfreiheit gerade zu unterlaufen ist, wird hier nicht mehr thematisch.

V. Wer in Luhmanns Frühwerk nach dem – im doppelten Sinne – „reinen“ Juristen Niklas Luhmann sucht, wird demnach in erstaunlich geringem Maße fündig. Es überwiegt der Negativbefund: Die gezielte, aus der doppelten Perspektive der Verwaltungswissenschaft und der Betonung des Gedankens der Einzelfallgerechtigkeit betriebene Distanzierung gegenüber dem juristischen Normalbetrieb setzt bemerkenswert früh ein. Ein Blick in Luhmanns Personalakte aus der Lüneburger Zeit mag einen Fingerzeig darauf geben, dass diese Distanz sogar noch früher zu verorten ist und dann als solche von dem in dieser Hinsicht sehr sensiblen Recht und seinen Repräsentanten sofort erkannt und gespiegelt wurde. Luhmann sei, so heißt es in der von Fritz Werner formulierten dienstlichen Beurteilung zu seiner Zeit am OVG, „ein begabter Jurist. Er besitzt überdurchschnittliche Kenntnisse auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und ein selten anzutreffendes juristisches Allgemeinwissen. Eine ausgeprägte Neigung für Fragen der allgemeinen Rechtstheorie, der allgemeinen Staatslehre und der vergleichenden Rechtswissenschaft zeichnen ihn aus.“47

Positiv gesehen liegt in dieser Bewertung eine auf den juristischen Bereich enggeführte Bezugnahme auf die allgemeine beamtenrechtliche Qualifikations-Trias von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Dennoch muss man kein Verwaltungsrechtler sein, um auch eine gewisse Doppelbödigkeit herauszuhören, die in der auf diese Weise charakterisierten juristischen Begabung mitschwingt. Denn die vor45

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 37), S. 356. Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 37), S. 400 f. 47 Dienstliche Beurteilung durch den Vorsitzenden des V. Senats des OVG Lüneburg, Dr. Fritz Werner, in: Personalakten über Luhmann (Fn. 10), Bl. 23. 46

Am Anfang war das Recht?

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genommene Auszeichnung des „begabten Juristen“ Luhmann erfolgt innerhalb der Bewertung eines gerichtlichen Mitarbeiters, dessen zu beurteilende Haupttätigkeit in der Erstellung entscheidungsvorbereitender Voten in beamten- und kommunalrechtlichen Fallkonstellationen lag, Fragestellungen also, für deren Lösung vermutlich, vorsichtig formuliert, weder allgemein staatstheoretische noch rechtsvergleichende Kenntnisse unbedingt erforderlich gewesen sein dürften. Vor diesem Hintergrund wird die gestufte Einschätzung der Begabung – (nur) überdurchschnittliche Kenntnisse auf dem (den eigentlichen Kern der dienstlichen Tätigkeit ausmachenden) Gebiet des öffentlichen Rechts, selten anzutreffendes juristisches Allgemeinwissen, besonders ausgezeichnetes Interesse an theoretischen und rechtsvergleichenden Fragestellungen (beides dürfte für die übliche dienstliche Praxis kaum von gesteigerter Relevanz gewesen sein) – in ihrer latenten Ambivalenz lesbar. Was als Lob ausgestaltet wird, funktioniert in dieser Perspektive zugleich als Erkennungsmal, das die Distanzierung noch einmal unterstreicht, indem sie sie nun auch aus der umgekehrten Position markiert. Das lässt eine letzte mögliche Schlussfolgerung zu: Vielleicht liegt Luhmanns (im Wortsinn) entscheidende juristische Prägung darin, dass er diese Selbstisolation des Rechts akzeptiert und an ihr mitarbeitet, statt sie systematisch zu dekonstruieren.48 Vielleicht steckt, eigentümlicherweise, gerade in der für die später ausgearbeitete Theorie so charakteristischen Sehnsucht nach einer aufrechtzuerhaltenden „Grenzhygiene“,49 die nicht zuletzt auch die Grenzen von soziologischer und rechtsdogmatischer Arbeit betrifft,50 nicht nur ein Husserl’sches, sondern ebenso ein verkapptes juristisches Erbe, auf dem die theoretische Perspektive von Anfang an fußt und das sie damit zugleich ermöglicht und unterläuft.

48 Vgl. zum Problem dieser juristischen Selbstwahrnehmung bereits Ino Augsberg, Über die Grenzen des Rechts, JuristenZeitung 2017, S. 109 – 115. 49 Vgl. dazu näher Albrecht Koschorke, Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie, in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 49 – 60. 50 Vgl. dazu die Nachweise oben, Fn. 34.

Das Fehlerproblem Von Maren Lehmann

I. Luhmanns bekanntester Satz über Fehler ist wahrscheinlich der Schlusssatz der „Wissenschaft der Gesellschaft“: „Es bleibt nur noch, wie üblich, zu sagen, dass verbleibende Fehler zu meinen Lasten gehen – mit Ausnahme von Fehlern in diesem Satz, versteht sich!“1 Luhmann spottet und, wie er durch die Einschübe ,wie üblich‘ und ,versteht sich‘ andeutet, verbirgt das auch nicht. Er spottet über die akademische Marotte der koketten Verantwortungsübernahme, und er spottet über seine eigene Marotte der Hingabe an autologische Paradoxien. Der Spott ist allerdings, wie vielleicht immer, die Maske des Nachdenkens. Das Problem der Ausnahme steht nämlich, wie mir scheint, mit dem „Fehlerproblem“ in direktem Zusammenhang.2 Denn Fehler kann nur der machen, für den keine Ausnahme gemacht wird und der für sich auch keine Ausnahme fordert, sondern sich einem „Verbot der Selbstexemtion“ unterwirft.3 Diese Unterwerfung kann als so etwas wie eine Seriositätsbedingung normativen Erwartens verstanden werden; jede Norm oder jede Regel, die ein Beobachter aufstellt, gilt auch für diesen Beobachter selbst. Normen sind Formen des Beobachtetwerdens; Luhmann nennt dies eine „offenkundig selbstimplikative Problemstellung“4. Ein Fehler mag eine wie auch immer näher zu bestimmende Abweichung von einer Normalitätserwartung sein, aber jede dieser möglichen Bestimmungen müsste davon ausgehen, dass die Abweichung im Kontext der erwarteten Normalität auftritt und nichts Äußerliches ist. Die Abweichung wäre sonst kein Fehler, sondern etwas Anderes. Durch die Bezeichnung als Fehler wird die Exklusion der Abweichung vermieden; der Fehler wird eine mögliche, keine unmögliche Form, das heißt: der Fehler ist eine Formvariante der Regel, nicht der Ausnahme. Oder anders gesagt: geht es um Fehler, geht es nicht um Selbstexemption, sondern um Selbstimplikation, und zwar nicht einfach desjenigen, der den Fehler macht, sondern auch und in gleicher Strenge desjenigen, der den Fehler identifiziert. 1

Luhmann (1990b), S. 10. Luhmann (1965), S. 40, vgl. bereits Becker/Luhmann (1963), passim. 3 Luhmann (2000a), S. 47. 4 Luhmann (1990a), S. 34. 2

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Maren Lehmann

Man erinnert sich sogleich an eine (ich denke:) symptomatische Wendung. Luhmann zitiert in zahlreichen Fußnoten auch der soeben erwähnten Texte den BeatlesVers Your inside is out, and your outside is in. Er zitiert nach einem Aufsatz von Glanville und Varela, in dem es um das „Treffen von Unterscheidungen“ geht, „die auf Grenzen bestehen“.5 Solches Unterscheiden kann kein Ende finden, weil es die Grenze, auf der es besteht, ohne die es also nicht sein kann, laufend kontrollieren muss. Obwohl es solchem Unterscheiden darum geht, Innen und Außen getrennt zu halten, kann es nur Beinhaltungen produzieren, „perfekte Kontinenz“6 – weil es das Innen vom Außen sauber halten will und darum ins Innen gehen muss: es findet sich selbst immer innen, es ist selbst eine diesseitige Formvariante des Außen. Man kann dann sagen, dass das distinkte Merkmal des auf solche Weise unterscheidenden Beobachters das Wissen ist, von außen zu kommen, das Außen im Innen zu sein. Weil man nie sicher sein kann, der einzige so Beobachtende zu sein, gehört zum Beobachten die Sorge, entlarvt zu werden – man ist das Außen im Innen und wird, wenn das auffällt, nach außen versetzt. Das Wissen um die ,perfekte Kontinenz‘ von Innen und Außen, das Wissen um die Grenze, kurz: das Wissen, ein Beobachter zu sein, muss daher eifersüchtig gehütet werden. Jeder, der beobachtet, findet sich, weil er dazu Unterscheidungen treffen muss, an einem Platz wieder, der nicht sicher ist. Es bleibt die Möglichkeit, auf scharfes, aufräumendes, sortierendes Unterscheiden zu verzichten, sagen Glanville und Varela, bringen die Möglichkeit des Illusionären ins Spiel und sagen, damit könne man sich zufrieden geben. „Also sprach der Poet: ,Ev’rybody’s got something to hide except me and my monkey‘“.7 Anders gewendet: jedem, der Unterscheidungen trifft, um auf ihnen zu bestehen, hat etwas zu verbergen, nämlich: sich. Wer nicht, der nicht.8 „Im Rückblick erstaunt nicht der Vorwurf, sondern die Ausnahme“, notiert Luhmann dazu.9 Der Rückblick gilt 1968 und den Universitäten als Orten, an denen sich „ein Gefühl der Unschuld“ kultivieren und „Appelle an andere absenden“ ließen, „so 5

Glanville/Varela (1988), S. 173. Ebd. 7 Ebd. 8 An anderer, posthum veröffentlichter Stelle hat Luhmann (2000a, S. 47) dasselbe biblisch illustriert. Er zitiert Joh 8,6 – 8 – „Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde“ –, um zu folgern: Würde Jesus sich selbst ein- und nicht ausschließen, könnte er nicht mehr „wer unter euch“ sagen, sondern „wer unter uns“ – und müsste (seine Sünd-, Schuld-, Fehlerlosigkeit vorausgesetzt) den „ersten Stein“ selbst werfen. Ulrich Wilckens erinnert daran, dass „dem Leser, der mit der Schrift vertraut ist, Jer 17,13 vor Augen [steht], wo es heißt, dass Gott die, die sich von ihm abwenden, ,in den Staub schreiben‘ werde“ (Wilckens, S. 139). Glanville und Varela (1988, S. 173) sprechen die damit sich ergebende „Flüchtigkeit“ der Identifikation ebenfalls an. Man kann, hieße das, kein Sünder sein, weil man keiner bleiben kann; man wird vergessen. Vielleicht verbirgt man seine Sünden also, um mit dem Erkannt- auch das Vergessenwerden zu vermeiden. 9 Luhmann (1992a), S. 147. 6

Das Fehlerproblem

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als ob man von außen käme“.10 Selbstredend könne man sich in diesem Inside-out/ Outside-in-Paradox einrichten, aber – und diese Formulierung ist die angesprochene, aus meiner Sicht für Luhmann symptomatische Wendung – man müsse dann auf die Appelle verzichten, denn sonst richte man sich ein in der „Anmaßung, Schuld als Unschuld praktizieren zu können“.11 Worin bestünde diese Praxis? Luhmann erwähnt zuerst die eine Metapher – „es mochte zum Gefühl der Unschuld beitragen, dass man den monkey auf dem Rücken trug (das heißt Drogen konsumierte)“ – und dann die andere – „im Bereich der Werkzeuge heißt monkey dann auch noch: Rammbock, Fallhammer“, um sogleich danach zu fragen, „was das für eine Position (ist), von der aus man die Gesellschaft beobachten, kritisieren, eventuell angreifen kann, ohne selbst dazuzugehören?“12 Man mag daran erinnern, dass ein ,monkey‘ auch ein Scherz sein kann, der die Verhältnisse lockert; weswegen ein Universalschraubenschlüssel als ,monkeywrench‘ und eine aus der Maschinenstürmerei stammende Sabotagepraxis als ,monkeywrenching‘ bezeichnet werden (man wirft also nicht mehr Holzschuhe in Webstühle, sondern schraubt die Industriemaschinen oder -bauten von außen her auf, um – gewissermaßen sachgerecht – in sie einzugreifen). Luhmann verspottet (oder verachtet) zwar den appellativen Aktionismus, der sich innen (Adorno13 hätte wohl gesagt: „behaglich“) einrichtet und dabei so tut, als gehöre er nicht dazu, als ginge ihn das eigene Tun nichts an, als sei er unbefangen und frei. Aber er hat eine Affinität zu den Positionierungen im Unentscheidbaren, die sich in der Zurechnung auf ,me and my monkey‘ andeuten, und zu den Interdependenzunterbrechungen, die möglich werden, wenn Unentscheidbarkeiten gegen den alltäglichen Betrieb und seine Routinen eingewandt werden (Bateson spricht von „monkeying“ als einer zwar unterbrechenden, aber wenig subtilen Praxis, zu der es intelligentere Alternativen gebe14). Es ist seine Art, mit Unausweichlichem umzugehen. Denn dass er den Verhältnissen nicht entkommen, genauer: von den Verhältnissen nicht verschont bleiben würde, muss Luhmann klar gewesen sein, als er nach Lüneburg zurückkam. Es erfordert eine spezifische Intelligenz, seine Rolle dort zu spielen, wo man dem Selbstverständnis nach nicht hingehört, wo man fehl am Platze ist. Vermutlich hat Goffmans Empfeh-

10

Ebd. Ebd. 12 Ebd. 13 Vgl. Adorno (1993), S. 40 (Nr. 18: Asyl für Obdachlose, S. 40 – 42). 14 Bateson (2000), S. 438 (in einem 1968 anlässlich einer Konferenz „On the Dialectics of Liberation“ gehaltenen Vortrag, der folgendermaßen schließt (S. 446): „It is characteristic of the 1960s that a large number of people are looking to the psychedelic drugs for some sort of wisdom or some sort of enlargement of consciousness, and I think this symptom of our epoch probably arises as an attempt to compensate for our excessive purposiveness. But I am not sure that wisdom can be got that way. What is required is not simply a relaxation of consciousness to let the unconscious material gush out. To do this is merely to exchange one partial view of the self for the other partial view. I suspect that what is needed is the synthesis of the two views and this is more difficult.“). 11

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Maren Lehmann

lung des „taking the role of the other“15 genau hier ihren Sinn: nicht bloß im Übernehmen der Rolle eines komplementären Anderen, um sich auf diesen Anderen einstellen zu können, also nicht bloß in der Reflexion auf die Rahmenordnung (,das System‘) des Rollenverhaltens als eines Problems, das dieser Andere hat. Sondern in der Reflexion auf die Möglichkeit, selbst dieser Andere nicht nur sein zu müssen, sondern auch sein zu können, in der Übernahme nicht nur der erwünschten Rollen, mit denen man sich hätte identifizieren können, sondern auch der unerwünschten Rollen, von denen man sich distanzieren muss, als eigene andere Rollen. Es geht um eine Intelligenz, die von Identität auf Differenz umstellt, um dem Selbstexemtionsverbot genügen zu können, ohne sich zu korrumpieren. Es geht, könnte man mit einem der wichtigsten Begriffe Luhmanns in dieser Lebensphase sagen, um Verantwortlichkeit, um ein sich auf die Gegebenheiten einlassendes Handeln ohne Entfremdungskoketterie und damit ohne Selbstexkulpation. Diese Verantwortlichkeit ist keine formalistische Maskerade – kein Dienst nach Vorschrift mit einem „Schnitt um 17 Uhr“, wie Luhmann später zugleich angedeutet und zurückgewiesen hat16 –, sondern ein Reflexionsauftrag, sich mit der Paradoxie zu befassen, die die eigene Lage beschreibt: your outside is in, and your inside is out.

II. Ich leite meinen Beitrag, der ansonsten nichts als einen Lektürevorschlag eines für theoretische Interessen alles in allem eher langweiligen Buches anbieten möchte, so ein, um eine Distanzierung zu markieren. Vielleicht ist es unvermeidlich, einen Gelehrten zum Jubilar zu machen, um sich in seinem Namen versammeln zu können. Dann können Anekdoten erzählt werden, um sich in eine Serapionsbruderschaft hineinzuversetzen, und man kann im glücklichsten Falle auf allzupersönliche Anekdoten verzichten und Theorieanekdoten erzählen. Das ist, wenn ich richtig sehe, auch der Sinn unserer Tagung, die ja ankündigt, „Begriffsursprünge in ihrem lokalen Kontext“ erkunden und „also die Genese der Systemtheorie aus dem konkreten Verwaltungshandeln eines Gerichts“ nachzeichnen zu wollen.17 Warum „also“? Müssen wir nicht doch zugeben, dass wir auf diese Weise individuelle Herkunft und lokalen Kontext identifizieren, um Theoriegenese und Karriereverlauf ebenfalls identifizieren zu können? Sind das nicht sämtlich fatale Verwechslungen, missliche Fehler? Es bleiben der Systemtheorie dann nur noch zwei Zugänge, Musealisierung vom Ende her einerseits, das ist der Bielefelder Weg, und Personalisierung vom Anfang her andererseits, das ist der Lüneburger Weg. Es kann sein, dass beide als Zugangsvarianten geradezu absurd niedrigschwellig sind; die Theorie wird zu einem Ort oder einem

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Vgl., bezogen auf Mead, Goffman (1959). Zit. nach Hagen (2004), S. 31; vgl. Lehmann (2006). 17 Vgl. Exposé zur Tagung, Lüneburg 2017.

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Das Fehlerproblem

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Raum, in den man sehr leicht hineinkommt18 und in dem alles zusammenpasst, aus dem man aber sehr schwer wieder herauskommt und wegen des Ordnungsgefälles zwischen innen und außen auch kaum wieder herauswill. Solche sehr aufgeräumten, sehr zugänglichen Orte sind kommode Gefängnisse. Sie zwängen ein und wecken ein Fluchtbedürfnis, aber sie absorbieren auch Unruhe. Man mag mir eine gewisse Nervosität bezüglich des Versuchs zugestehen, biografische Kontinuitäten und Pfadabhängigkeiten zu unterstellen, dabei aber gleichwohl verborgene exzentrische Motive mitzuunterstellen und deshalb in Personalakten zu suchen. Diese Praxis residiert irgendwo zwischen Voyeurismus und Folklore. Bielefeld macht einen Schubladenschrank (anspielend auf Adornos Rede von der unbehaglichen Behaglichkeit müsste man vielleicht von einer Kommode sprechen), Lüneburg macht eine Story aus der Theorie, die irgendwo zwischen Pennäler- und Philisterjahren entstanden sein muss. Wir merken, dass wir auf die geschickten Erzähltricks hereingefallen sein könnten, mit denen Luhmann selbst in den immer zahlreicher und zudringlicher werdenden biografischen Interviews das Storytelling seiner Gegenüber manipuliert hat (sanfter formuliert: mit Bewunderungsbereitschaft und Verführbarkeit seines Gegenübers gespielt hat) und konsultieren die vermeintlich mit höherem Wahrheitsindex versehenen Akten des Lüneburger Landgerichts. Wir lesen ein Empfehlungsschreiben für einen mutmaßlich auf Intervention des Vaters in seine Heimatstadt zurückgegangenen jungen Juristen, der Rechtsgelehrter sein und südlich der Alpen leben wollte und sich als Hilfsassessor in einer sehr kleinen Bibliothek in einer sehr reizlosen Gegend wiederfand, der wieder in seinem Kinderzimmer schlafen und sich das auch noch durch Aushilfen im Familienbetrieb verdienen musste. Wir treffen uns in den Räumen dieses Landgerichts und damit an einem Ort, an dem dieser offenbar bewundernswert demütige junge Mann nicht sein und sicher nicht bleiben wollte und aus dem er sich mit nicht minder bewundernswerter Beharrlichkeit herausgeschrieben hat, um irgendwann endlich „in der Sonne (zu) arbeiten“19, das heißt: nicht hier. Niklas Luhmann hat seinen Lebenslauf nicht vorab geplant, sondern mitlaufend reflektiert – nicht als Biografie, sondern als Optionengeflecht, als Labyrinth exzentrischer Chancen, als Karriere.20 Der Anfang einer Karriere kann jeder Gegenstand sein, dem sich eine Biografie zuordnet; sie entsteht aus den Beobachtungen, die an solche Gegenstände anknüpfen und dabei sowohl vor- als auch zurückrechnen. Das heißt: sie kann als Verzeitlichung der Sachdimension einer Biografie verstanden werden. Weder muss die Sachdimension dabei als fachliche Festlegung verstanden werden, noch muss die Zeitdimension einfach linear-prozesshaft verstanden werden. Und, dieser Punkt mag eine persönliche Stilfrage sein oder auf eine Idiosynkrasie 18

„Man kann auf die Idee kommen, die Systemtheorie sei in der Betonung des Re-Entry und darin, dass sie in aller Vervielfältigung den Wiedereintritt gegenüber der Ekstase und dem Exzess vorziehe, zugangsfixiert“, notieren Engelmeier/Steinhauer (2017). 19 Luhmann (1987), S. 139. 20 Vgl. Stanitzek (1998).

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verweisen, eine Karriere muss nicht als Statusverbesserung im Sinne eines Aufstiegs verstanden werden. Die Sozialdimension ist, heißt das, nicht die Primärdimension der Karriere, sondern stellt sich – und vielleicht vor allem dann, wenn es eine Erfolgskarriere ist, die zu der erwähnten Bewunderung verführt – in der Trias von Sach-, Zeit- und Sozialdimension sogar als nachrangig heraus. Entscheidend ist die Sachdimension, weil hier Entscheidungen möglich sind und bleiben. Was Luhmann betrifft, so hat er diesen Punkt in nahezu allen seinen Interviews unmissverständlich angesprochen: In der Zeitdimension wird eine Karriere den Schatten des Alterns im Sinne einer existentiell unverfügbaren, stetig wachsenden Knappheit nicht los, und in der Sozialdimension nicht die basale Ungewissheit des Ausgeliefertseins an Wechselstimmungen, also: an Ideologien. Über die Sachdimension lassen sich in dieses immer dichter sich zusammenziehende Netz aus Launen und Terminen immer wieder Beweglichkeiten einziehen; sachliche Entscheidungen schaffen und erweitern Spielräume. Durch die Privilegierung der Sach- gegenüber der Sozial- und der Zeitdimension, wir kommen zu unserem Thema, sind Fehler möglich (und nicht, weil zeitlich irreversibel und sozial diskreditierend, unmöglich). In Luhmanns Frühwerk lässt sich eine enorme Prominenz dieses ,Fehlerproblems‘ – das heißt: der Frage nicht nur nach allgemein-diffuser Verantwortung, sondern nach präzis-diskret zurechenbarer Verantwortlichkeit – erkennen. Der Hintergrund dieser Prominenz ist der Nationalsozialismus, den Luhmann nicht nur vor und während des Krieges, sondern auch nach dessen Ende als allgegenwärtig erfahren haben muss und von dem er wusste, dass er durch Überschreiten irgendeiner Systemgrenze sei es nach innen, sei es nach außen nicht loszuwerden war. Kein ,System‘ also konnte der Grund für diese Omnipräsenz sein, und zu beobachten waren nicht die Innen- oder Außensituierungen der Beobachter, sondern die Beobachtungsstile der Beobachter. Und sie waren als Sachfragen zu beobachten, als kontingente Probleme, als mögliche, d. h. zu verantwortende, und nicht als unmögliche, d. h. zu leugnende Fehler.21 Die Habitu¯s derer, denen Luhmann in diesen Jahren begegnet ist (unsere Tagung hat viele von ihnen namhaft gemacht), reflektieren und kommentieren dieses Problem; auch sein eigener. Man muss dieses Beobachten praktizieren, wenn man beweglich bleiben will, an welchem Ort auch immer. Warum also nicht am Lüneburger Landgericht? Aber der Sinn dieser Praxis ist es, den diffusen Opportunismus des Behörden21 „Alles wird kontingent, wenn das, was beobachtet wird, davon abhängt, wer beobachtet wird“ (Luhmann 1992b, S. 100) – die Sachdimension eignet sich nicht nur dafür, Soziales und Zeitliches zu unterscheiden, sondern entsteht geradezu als dritte, ihrer Kontingenz wegen entscheidend attraktive Möglichkeit, wenn diese beiden Sinndimension „Beobachtungen auseinanderziehen“ (ebd.; Luhmann ergänzt daher in der Fußnote eine Hervorhebung: „wer beobachtet wird“). Das weist, obwohl es sich so interpretieren ließe, nicht auf die Möglichkeit hin, mit Gespür für’s Timing auf bereits laufende Denunziationen draufzusatteln (denn das würde die Prominenz der Sozialdimension stärken, wie dies in social media geschieht). Sondern es konstatiert, dass sachliche Fragen kritische, mithin nicht denunziatorische Fragen sind. Die unzugängliche Verschrobenheit, die Luhmann bis heute zugeschrieben wird, lässt sich als hartnäckiger (Luhmann: ,bockiger‘) Versuch verstehen, die Simplifikation der Kontingenz zum Bescheidwissen und die Simplifikation der Kritik zur Denunziation zurückzuweisen.

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alltags nicht als Überzeugungsdefizit anzuklagen (genau dies wäre nationalsozialistische Manier), sondern als Substrat zurechenbaren, zu verantwortenden Handelns ernst zu nehmen. Darum Organisationstheorie, und darum nicht als Vervielfältigungsapparat normativer Drohungen und Beruhigungen, sondern als unterscheidende, d. h. kritische Beobachtung administrativer Praxis. Hier liegt der Anfang von Luhmanns Karriere: in einem Gegenstand, in einer Sachfrage; und er liegt hier, weil dieser Anfang sich eben nicht domestizieren lässt und der Person, der dies zugemutet wird, Beweglichkeit verschafft.

III. Das Problem des Fehlers ist eine zurechenbare und darum zu verantwortende Koinzidenz interpretativer und attributiver Ungewissheit, und so verhält es sich auch bei den Opportunitäten, die zu Karriereereignissen werden. Nur im Nachhinein stellt sich das Geflecht von „Wechselfällen“22 als lineare Geradlinigkeit dar. Je offener die Zukunft, je zufälliger die Optionen, je verworrener dieses Geflecht, desto größeres Gewicht wird auf die Anfänge gelegt werden – und zwar nur dann, wenn ein unwahrscheinliches Ende im Nachhinein erklärt werden soll. Man versucht Unabänderliches, Unverlierbares in diesen Zeitverlauf hineinzuzwingen und stellt auf diese Weise individuelle Träume und soziale Zufälle als strategisches Zweckprogramm dar, dem sich der Zeitverlauf zugeordnet habe wie Metallstaub einem Magneten. (Man sieht ohne Weiteres das aufdringlich Klebrige einer solchen Konzeption.) Hat man es mit ,großen Geistern‘ zu tun, mit ,Genies‘, wird man deren Unbegreiflichkeit als Äquivalent der offenen Zukunft begreifen und wiederum auf eine Determination durch die vergangenen Anfänge setzen – mit der Finesse vielleicht, deren Strategie unbedingt zu personalisieren, zu individualisieren, zu idiosynkrasieren und dem Leben ,großer Geister‘ eine anomische, dem Heldenhaften verwandte Tendenz zu unterstellen. (Ich hatte bereits angemerkt, dass diese Finesse denunziatorisch ist wie vielleicht jede Personalisierung des Unverständlichen: sie zwingt, gerade indem sie das Besondere herausstellt, das Individuelle ins Allgemeine zurück, zum Zwecke der Normalisierung, das heißt: in disziplinierender Absicht.) Kurz, man könnte das Fehlerproblem nicht nur in einer Koinzidenz interpretativer und attributiver Ungewissheiten sehen, sondern auch in einer Koinzidenz interpretativer und attributiver Unverschämtheiten; Karriere- und Biografieforschung sind „entwürdigende Praxen“, „degradation ceremonies“.23 Nach allem, was man weiß, sind nun aber Luhmanns Anfänge völlig unspektakulär, alles andere als genial oder anomisch, und wenn sich Idiosynkrasien zeigen, dann werden sie durch die Zudringlichkeiten des Unterkomplexen verursacht. Das kann 22 23

Vgl. Goffmann (1961), S. 125 u. ö. („changes“). Garfinkel (1956).

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oder konnte, meine ich, auch gar nicht anders sein, wenn man sämtliche Schuljahre unter der Ägide der Nationalsozialisten durchlaufen hatte. Die widerständige Vorliebe für Sprachen (also alles, was nicht bloß Deutsch ist) und für Geschichte (also alles, was Kontingenzbewusstsein trainiert) findet sich nicht nur in seiner Biografie; auch die Neigung zu ökonomischen Beobachtungsstilen (also zur Bevorzugung von individuellen Entscheidungen gegenüber Kollektivbindungen) ist alles andere als untypisch. Luhmanns Schullaufbahn muss von institutioneller Seite her unter der Erwartung einer reziproken ,Dankbarkeit‘ gegenüber dem Staat gestanden haben, deren Fehlen – um ein Beispiel zu nennen – Roland Freisler den als ,Weiße Rose‘ bekannt gewordenen Münchner Studenten im Februar 1943 praktisch als Hauptvorwurf vorgehalten hat. Da war Luhmann ein 15jähriger Gymnasiast, und es ist anzunehmen, dass der Prozess Schulgespräch und Lehrexempel war. Schulische Erziehung konnte für ihn nichts gewesen sein als eine genau bestimmte Frist, innerhalb derer die allzu genau definierten Erwartungen des Einzelnen in die allzu vage definierten Erwartungen des Staates einzusozialisieren waren. In Diktaturen braucht man die Schulzeit, um sich auf einen Staat einstellen zu lernen, der zwar immer genau festlegt, was man selbst (nicht) darf, der aber nie genau festlegt, was er selbst (nicht) darf. Mit Neville Moray lassen sich gut (well) und schlecht (ill) definierte Ordnungen oder Erwartungen unterscheiden.24 Erstere sind präzise bestimmt, letztere unklar. Gegen wohldefinierte Erwartungen verstößt der Einzelne leicht, aber die Verstöße sind wie die Erwartungen berechenbar. Gegen schlechtdefinierte Erwartungen verstößt der Einzelne ebenso leicht, aber die Verstöße sind wie die Erwartungen unberechenbar. In gutdefinierten Ordnungen kann der Einzelne sich gut orientieren, in schlechtdefinierten nicht. In gutdefinierten Ordnungen erfährt er seine Lage als eng, ggf. aber auch als sicher, in schlechtdefinierten als unsicher, ggf. aber auch als frei. Man kann eine solche schlechtdefinierte, unberechenbare Verfasstheit attraktiv finden wie einen Stimmungsaufheller: als alltäglich bodenständig und einfachmenschlich einerseits und als überalltäglich beweglich und anpassungsfähig andererseits. Auf diese Weise mag man die gutdefinierten Ordnungen der Bürokratie, die schlechtdefinierten dagegen dem Charisma zuordnen und letztere sogar dann noch präferieren, wenn dieses Charisma sich als diabolisch herausstellt. Bedient sich aber eine solche schlechtdefinierte Ordnung der gutdefinierten Ordnung so, dass das Verhalten der Beherrschten stets bürokratisch übergenau und kleinteilig bestimmt ist, das Verhalten der Herrschenden zugleich aber stets charismatisch unbestimmt bleibt, entsteht eine Willkürherrschaft, terreur im Wortsinne: Willkür nicht einer aristokratischen Person, sondern einer administrativen Organisation: eine das Verhalten der Staatsbürger überwachende und bestrafende Kontrollbürokratie, ein Polizeistaat, der immer genau sagen kann, was er von den Leuten erwartet, aber stets offen lässt, was die Leute von ihm zu erwarten haben.25 24

Vgl. Moray (1981). Luhmann (1995), S. 151 f.: „Es gibt eine strategische Unbestimmtheit, die sich in einer rasch veränderlichen Umwelt, bei unvorhersehbaren und vielleicht nur kurzfristigen Beanspruchungen, sehr empfehlen kann. Man kann diesen Ausweg als Entformalisierung oder 25

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Unter den Bedingungen einer solchen terreur fangen die Leute zu improvisieren an; der Ausdruck „Mitläufer“ beschreibt das, trifft es aber kaum. Sie sind auf interpretative Spekulationen verwiesen, sie beobachten das staatliche Beobachten und suchen nach individuellen Spielräumen. Von daher könnte aus meiner Sicht zum Beispiel einleuchten, dass Luhmann – wie der SPIEGEL erst 2007 berichtet, Luhmann selbst aber schon 1997 angedeutet hat – NSDAP-Mitglied gewesen sein und den entsprechenden Mitgliedschaftsantrag auch wirklich selbst unterschrieben haben kann. Denn „das Problem war ja, und das war mindestens ab 43 absehbar, ich hatte eigentlich schon früher mitgekriegt, dass der Krieg verloren geht. Und dann ist die Frage, bleiben die Nazis oder bleiben sie nicht? Muss man sich in allem, was Biografie angeht, auf die Fortdauer des Naziregimes einstellen oder nicht? Schon weil man zum Beispiel in die Partei eintreten musste, um studieren zu können.“26 Man unterschreibt also den Mitgliedschaftsantrag, weil die Unterschrift eine Anzahlung auf einen zu verlängernden Kredit ist. Die Schulzeit als Frist, innerhalb derer die reziproken Forderungen des Staates vage verschoben bleiben, in der es wenn auch unverlässliche Dispens gibt, könnte durch das Studium verlängert werden. Man weiß aber, dass auch der Staat weiß, dass diese Verlängerung mit der Befreiung von elterlicher Aufsicht und kleinstädtischer Sozialkontrolle einhergehen wird – und man weiß also, dass der Staat eine Kompensation dieser Kontrolle anbieten wird – die Parteimitgliedschaft. Man nennt solche Angebote wohl Drohungen. Wird die Unterschrift verweigert, ist die Frist sofort, wegen der expliziten Verweigerung noch vor Abschluss der Schule, zuende. Wird sie geleistet, verschafft sie noch einmal Ruhe im Sinne einer Hoffnung auf Fortdauer der Frist („studieren“). Aber ein derart mit Zugeständnissen dealender, drohender Staat hält von Verbindlichkeiten nichts. Er kassiert die Unterschrift und damit die moralische Korrumpierung des Jugendlichen, um diesen dann dennoch (oder vielleicht auch gerade deswegen) in den Flakhelfer- und bald darauf in den Wehrdienst einzuberufen. Folglich hofft der dergestalt betrogene Mensch auf nichts als Überleben im physischen Sinne und, weil er sehr jung ist, auch auf Überstehen im moralischen Sinne. Und weil das nur geht, wenn man die jetzt in Gestalt so herrischer wie erratischer (nämlich militärisch wie politisch unprofessioneller) Vorgesetzter auftretende, schlechtdefinierte Macht intelligent beobachEntbürokratisierung bezeichnen. Die Mitglieder sind dann nicht sicher, wie weit ihre Pflichten gehen, und das macht sie aufnahmebereit für neuartiges Verhalten. Die Grenzen der ablehnbaren Zumutungen werden ausgedehnt und verschwimmen. Die Sicherheit, die darin lag, dass man die Minimalbedingungen der Mitgliedschaft genau kannte, verflüchtigt sich. Das geht auf Kosten der Person: Emotionale Anspannungen, kompensationsbedürftige Überbeanspruchungen, angstbedingte Reaktionsbereitschaften können die Folge sein. Eine solche Ordnung muß deshalb zusätzliche Motivations- und Sicherheitsquellen erschließen können. Sie wird auf eine innere Verpflichtung der Mit-glieder auf den gemeinsamen Zweck oder auf besonders intensive Gruppensolidarität bauen müssen. Sie kann also die Rationalstruktur des Handelns und die Kommunikationsordnung nicht so weitgehend von Motivationsaufgaben freistellen, wie die formale Organisation es an sich ermöglichte. Daraus können neue und nunmehr gefühlsmäßig bedingte, kämpferisch eingestellte Verhärtungen gegenüber der Umwelt erwachsen.“ 26 Zit. nach Hagen (2004), S. 15.

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tet, ergänzt sich dieses „Unterleben“ durch ein „Unterwachen“, das es erlaubt, „aus seiner Angst die richtigen Schlüsse zu ziehen“.27 Wenn die Systemtheorie im Sinne Luhmanns einen situativen Anfang hat, dann hier. Weder Kriegsdienst noch Kriegsgefangenschaft, weder Studium noch Berufs- oder Beamtentätigkeit in Kanzleien, Gerichten, Ministerien oder später dann Universitäten haben daran etwas ändern können. Unterschreiben, unterleben, unterwachen – Luhmann vermeidet Zweckprogramme und hält sich an ein Konditionalprogramm der Karriere, das man mit guten Gründen (und im besten Sinne des Wortes) als opportunistisch bestimmen kann und das dann unter dem Namen der Beobachtung des Beobachtens (der Beobachtung zweiter Ordnung) auch zum ebenfalls konditionalen Theorieprogramm geworden ist: zu „Soziologie“.28

IV. Die ersten Texte des inzwischen 35jährigen Juristen entwerfen „das Fehlerproblem“, wie gesagt, als Koinzidenz interpretativer und attributiver Ungewissheit.29 Empirisch weist Luhmann dies für die frühen 1950er Jahre nach als Konsequenz des Verschmelzens von Rechts- und Sozialstaat. Für jeden, der sich – wie Luhmann – in der französischen soziologischen Theorietradition genauso souverän bewegen konnte wie in der amerikanischen und der englischen, musste diese Verschmelzung enorme Nervosität auslösen, die vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus sicher nicht zu beruhigen war. Luhmann empfiehlt jedoch kein monkeywrenching. Er beschreibt das Problem praktisch. Er empfiehlt eine von Zweck- auf Konditionalprogrammierung bzw. von normativem auf kognitives Erwarten umstellende, gewissermaßen also praktikable Praxis und macht einen Gesetzesvorschlag. Diese Praxis kognitiven Beobachtens normativer Beobachtungen akzeptiert die Verknüpfung von Rechts- und Sozialstaat, aber sie akzeptiert sie als Unterscheidung, als Differenz, die einen Unterschied macht. Sie erinnert daran, dass das Verhalten des Einzelnen schlechter definiert ist als das Verhalten der Administration – und dass eine Rechtspraxis, die dies umkehrt, unpraktisch ist (er verzichtet hier, anders als in späteren organisationssoziologischen Schriften, also noch darauf, auf die mitlaufende Brutalität solcher Unpraktikabilitäten hinzuweisen, die, eben weil sie sich selbst nicht korrigieren, sondern nur ,neue Saiten aufziehen‘ kann, alle Fehler externalisieren, mithin der unbotmäßigen Person als deren Fehlverhalten zurechnen muss). Praktikable Rechtspraxis gibt dem Verhalten des Einzelnen mehr Kredit als sich selbst. Sie ist berechenbarer als die polizeistaatliche Bürokratendiktatur. Sie ist eine wohldefinierte Rechtspraxis, die sich von ihrer schlechtdefinierten Umgebung kontrollieren läßt, anstatt diese zu unterwerfen. 27

Goffman (1961); Luhmann (2016), S. 92. Vgl. sein Resümmé in Luhmann (1993). 29 Becker/Luhmann (1963), passim; Luhmann (1965), S. 40. 28

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Es ergibt sich eine zwar fehlbare, von der Komplexität ihrer Umgebung nämlich immer überforderte, in dieser Fehlbarkeit aber allererst funktionale Verwaltung: eine formale Organisation. Nur einer solchen Rechtspraxis könne man mit „Systemvertrauen“ begegnen.30 Unter den genannten Umständen ist es völlig klar, dass der Mensch als Umweltvariable jeglichen organisierten Zusammenhangs verstanden werden will, sich aber dennoch um seines Überlebens willen nicht aus diesem Zusammenhang ausnehmen darf. Aus dieser Paradoxie ergibt sich ein spezifischer Stress, aber auch ein spezifisches Geschick des Verhaltens, wofür eine normative Theorie der Organisation blind sein muss, während sich eine funktionale Theorie der Organisation gerade dafür zu interessieren hat. Für diese Organisationstheorie erfüllt die Konditionalprogrammierung die Funktion der Empirie des „faktischen Verhalten(s)“31. Anders gesagt: eine funktionale Theorie arbeitet mit „eine(r) Erkenntnistechnik (…), die das naive, direkte, unreflektierte Erleben der Alltagsorientierung in der Welt durch ihm fremde Perspektiven erläutert“, ohne jedoch das Erleben zu diskreditieren und auch ohne die unvertraute Perspektive zu privilegieren – sie arbeitet mit ,inkongruenten Perspektiven‘ („perspectives by incongruity“), das heißt mit „der Erschließung von gemeintem, erlebtem Sinn durch etwas, das nicht mitgemeint war und den Erlebniszusammenhang verletzt“.32 Es geht um ein Verfahren, das Kritik und Interpretation wie Normsetzung und Lernbereitschaft verbindet und für das die soziologische Theorie ebenso einzustehen habe wie die formale Organisation des Rechts. Von Organisation zu reden heißt davon auszugehen, dass Normen nicht als Verhaltensvorschriften verstanden werden, sondern als Verhaltensmöglichkeiten, die sich nicht etwa deshalb durchsetzen, weil sie ,sonnenklar‘, rational verständlich und unumgänglich einsichtig wären, sondern weil sie interpretationsbedürftig und mehrdeutig sind und Subversion (,Opportunismus‘) nahelegen; weil sie also ein relativ hohes Variabilitätsmaß aufweisen. Sie bestimmen zwar richtiges Handeln, doch nicht durch Präskription des einzig Möglichen, sondern als Präferenz des weder Unmöglichen noch Notwendigen (Chester I. Barnard hatte von einer „zone of indifference“ gesprochen33). Die kommunikative Stabilisierung dieser Präferenz für Kontingenz läßt sich als Formalisierung bezeichnen; ihre kommunikative Form ist die Entscheidung, die jede Engführung auf’s Wohldefinierte für das Schlechtdefinierte öffnet (das heißt immer: die auch die oben erwähnten diktatorischen Perversionen tragen kann, ohne sie jedoch stabilisieren zu können) bzw. jede normative Schließung funktional aufschlüsselt. Luhmanns Theorie ist so etwas wie eine funktionale Sabotage normativer Zusam30 Luhmann (1995), S. 72 f., hier auch S. 190; deutlicher noch in ders. (2018), S. 53 und S. 55. 31 Luhmann (1995), S. 18. 32 A. a. O., S. 19, Kenneth Burke zitierend. 33 Barnard (1938), S. 167 ff.; Simon (1947), S. 10 (Fn. 8) nennt dieselbe Indifferenzzone übrigens „zone of acceptance“ und weist damit m. E. präzise auf die Kehrseite verhaltenspraktischer Indifferenz hin. Luhmann hätte daran erinnert (bzw. darauf gewettet), dass in Organisationen das eine regelmäßig mit dem anderen verwechselt wird.

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menhänge; er „tritt“ – ohne den Kontext zu verlassen – „aus der alten Auslegungsund Gehorsamsperspektive heraus“34 und kommt zurück mit ,etwas, das nicht mitgemeint war und (deshalb) verletzt‘: your inside is out, and your outside is in. Das ist jenes ,faktische Verhalten‘, von dem Luhmann so nachdrücklich spricht. Es „würdigt die Normsetzung kritisch, d. h. im Hinblick auf andere Möglichkeiten“35, es ist ein Äquivalent der Theorie. Und in diesem Äquivalent zeigt sich der Theoretiker, zeigt sich Luhmann. Die Theorie ist für ihn und seit ihm ein produktiver, nicht destruktiver Grenzverletzer im präzisen Sinne. Denn an der Grenze, die jetzt eine Mehrdeutigkeit ist, eine offene Frage, eine Subversions- oder eine Abweichungschance, entsteht jener Strukturgewinn, der den Soziologen interessiert. Organisationen beschäftigen Luhmann als kommunikative Formen der Stabilisierung von Strukturproblemen, als Arrangement von (oder: mit) Momenten der Ungewissheit, in denen sich Elementarität (keine Reserve, denn nichts ist eingeschlossen) und Universalität (kein Entkommen, kein Variieren, alles ist eingeschlossen) verbinden bzw. in denen die Unterscheidung von System (,Innen‘) und Umwelt (,Außen‘) nicht orientiert. Luhmann folgt Herbert A. Simon mit der Annahme, dass diese Absenz von Orientierung im Moment der Präsenz einer Systemgrenze zu kompensatorischen Sinnvorschlägen führt (zu „uncertainty absorption“)36, die als Entscheidung gerade deswegen treffend bezeichnet ist, weil sie das zugleich ohnmächtige und überforderte Subjekt als handlungsfähigen, und zwar: im Modus der Ohnmacht und Überforderung handlungsfähigen Beobachter wieder in Stellung bringt. Nicht die Ohnmacht und nicht die Überforderung des Subjekts werden organisatorisch kompensiert, sondern das Ungewissheitsmoment akuter Sinnlosigkeit, das sich mit dem Auf- und Eintreten dieses Subjekts ereignet. Simpel gesagt: wo man eine Organisation bemerkt, ist man einer sozialen Fehlstelle auf der Spur, einer Unordnung, einer Unschärfe, einem Nichtwissen, mit der die Gesellschaft wie auch das Individuum sich in Form der Organisation arrangieren können (ein Arrangement, das sich normativ beschreibt, um den Erfolg der Anstrengungen zu demonstrieren und die Fehlstelle zu domestizieren). Die Theorie, wie Luhmann sie entwirft, will dieses Arrangement nicht in Misskredit bringen und schon gar nicht zerstören; sie nimmt nur dessen normative Selbstbeschreibungen als Ariadnefaden auf, der zur Fehlstelle führt, und interessiert sich dann für die Strukturvarianten, die aus dieser Stelle erwachsen, mithin: für die Produktivität des Fehlers. Fehler informieren über Komplexität, auch wenn sie den Umgang mit Komplexität nicht orientieren. Denn „wenn es aber darum geht, Entscheidungsvorgänge großen Stils zu organisieren“ (es bleibt 34

Luhmann (1995), S. 19. Ebd. 36 Vgl. Simon (1947) und March/Simon (1958); deutlich auch Weick (1995), S. 91 ff. sowie zuletzt Luhmann (2000b), S. 184 ff. – Die organisationstheoretisch hochinteressante Frage, ob und wie Weicks Konzept des ,loose coupling‘ mit Barnards Begriff der Indifferenz in Zusammenhang steht, kann hier nicht erörtert werden, auch wenn sie für das ,Fehlerproblem‘ von Relevanz sein dürfte. – Vgl. zur Umrechnung aller „Wesensmerkmale von Organisationen“ in „Variable[n]“ der Organisation Luhmann (2000b), S. 66. 35

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offen, ob ,Vorgänge großen Stils‘ hier ein Lapsus ist, der an die Sprache vergangener Größenträume erinnert, oder – was in Luhmanns Stil näher liegen könnte – ein Spott über diese Träume, die ja noch immer mit Fehlerlosigkeitsideologien verbunden waren), dann „wird es unvernünftig, das Fehlerrisiko um jeden Preis zu vermeiden. Dann verdienen Organisationsformen und Entscheidungsprogramme den Vorzug, die mit einer gewissen Fehlerquote rechnen und sie in Kauf nehmen“ und Formen der „Toleranz für Fehler“ entwickeln.37

V. Das „Fehlerproblem“ strukturiert Luhmanns früheste Arbeiten; sowohl die mit Franz Becker erstellte Studie über administrative Korrekturchancen bei fehlerhaften Verwaltungsakten (1963) als auch seine Skizze des Entschädigungsrechts (1965) und der Automatisierbarkeit administrativer Verfahren (1966) nehmen ausführlich dazu Stellung, und auch in seiner großen Neukonzeption des Organisationsbegriffs (1964) spielt es eine wichtige Rolle. Ich gebe einen kurzen Abriss des ersten dieser Texte, und ich folge damit der Überlegung, dass Luhmann – der den Harvard-Studienaufenthalt bei Parsons bereits hinter sich und das Manuskript von „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ bereits angefertigt hat – seine Theorie der Formalisierung kommunikativer Systemgrenzen an einem Fallbeispiel testet (zwei weitere, eben die Studien über das Entschädigungsrecht und über die Automatisierung der Verwaltung, werden folgen). Der Mitautor Franz Becker zieht sich auf eine vergleichende Materialsammlung zur europäischen Verwaltungspraxis zurück, die etwa die Hälfte des Textumfangs einnimmt, zur Begriffsbildung aber nichts beiträgt; man kann annehmen, dass Luhmann seinem Kollegen die Fleißarbeit überlassen hat. Für unseren Diskussionszusammenhang ist diese Studie interessant, weil sie nicht (oder kaum) auf Anekdoten setzt. Sie ist in ihrem ersten Teil eine trockene Materialsammlung, in ihrem zweiten Teil eine Systematisierung dieser Sammlung und in ihrem knappen dritten Teil ein Gesetzesvorschlag. Mich interessiert die Systematisierung, weil sie zahlreiche Theoriekonstruktionen verwendet, die sich durch Luhmanns Theorie ziehen und in ihr Geschichte machen werden. Mich interessiert diese Systematisierung aber auch, weil der ,lokale Grund‘ (ich zitiere nochmals die Tagungseinladung) dieser Theoriekonstruktion eben nicht das konkrete Verwaltungshandeln als „faktisches Verhalten“38 unter Anwesenden ist, die aufgrund einer formalisierten Kompetenz miteinander auskommen müssen und trotzdem ihre Aufgaben bewältigen, die Nerven nicht verlieren und moralisch „Mensch bleiben“39 wollen. Sondern der lokale Grund dieser Theoriekonstruktion sind Akten, genauer formalisierte Verschriftungen konkreter Fälle. Luhmann hat, wenn ich recht sehe, die 37

Becker/Luhmann (1963), S. 13 und 12. Luhmann (1995), passim (mit einem eigenen Kapitel: S. 268 ff.). 39 A. a. O., S. 382.

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Bestände der Gerichtsbibliothek keineswegs bloß zum Zwecke der Auffindbarkeit signiert und registriert. Er hat sie gelesen. Die Studie über „Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz. Möglichkeiten gesetzlicher Regelung der Rücknehmbarkeit von Verwaltungsakten“ diskutiert die Möglichkeit, die Fehlbarkeit der Verwaltung als Merkmal der Verwaltung zu verstehen. Vordergründig ist das langweilig, weil die Sachlage allzu leicht einzusehen ist (und dass diese Fehlbarkeit auch einer im Kliententrotz gängigen Unterstellung entspricht, mag man auf den ersten Blick ebenfalls für banal halten). Die Einleitung liest sich daher wenig vielversprechend. Der Anwendungsfall nämlich sind fehlerhafte Begünstigungen bzw. Belastungen durch Verwaltungsakte unter der Bedingung eines Vertrauens in die Beständigkeit und Verlässlichkeit der Verwaltung, also: Fehlerhaftigkeit unter der Voraussetzung der Fehlerlosigkeit, und diese Prämisse wäre konventionell. Schon weniger konventionell wäre die Überlegung, der Verwaltung könne Fehlerhaftigkeit zugestanden werden, weil sie dem Recht nicht zugestanden werden könne; das Fehlerproblem läge in dieser vordergründig einseitigen Konzession (hintergründig gilt die Konzession auch und vielleicht gerade der Seite des Rechts, das auf diese Weise, wie oben bereits debattiert, auf praktikable, d. h. einlösbare, verlässliche, vertrauenswürdige Weise praktisch wird).40 Fehlerhafte Belastungen sind insofern verhältnismäßig leicht zu regeln, als der Betroffene sie selbst zur Anzeige bringt, kein Interesse an ihrem Bestand hat und die Korrektur des Fehlers keine Enttäuschungen produziert (vielmehr wird jede noch so geringfügige Korrektur als Triumph erfahren und daher die Wogen glätten); außerdem will auch die Verwaltung Häufungen und Wiederholungen solcher Anzeigen vermeiden. Fehlerhafte Begünstigungen dagegen sind kaum zurücknehmbar, erschiene dies doch als negative Sanktion in Form des Entzugs eines bereits gewährten Vorteils, „so dass die Korrektur des Fehlers als Härte erlebt“ werde.41 Fehlerhaft begünstigte Betroffene sind unerbittliche Gegner; sie verteidigen ihr Recht, und weil sie dies mittels eines Appells an die Verlässlichkeitsgarantien der Verwaltung tun (an den Vertrauensschutz), verteidigen sie ihr individuelles Recht als Verteidigung des Rechts schlechthin. Es gibt also Verwaltungsfehler, die als Rechtsgut verteidigt werden, auf die sich die Betroffenen gern verlassen, die sie nicht korrigiert sehen wollen und die sie nicht zur Anzeige bringen werden. (Man kann leicht sehen, dass Luhmann hier Fälle von Patronage oder Korruption andeutet, jedenfalls Fälle der Vorteilsnahme, die etwa nach Regimewechseln auffallen und von Verwaltungsmitarbeitern gegen das Interesse der Betroffenen und gegen das Interesse der Verwaltung korrigiert werden müssen.) In diesem Fall fehlerhafter Begünstigungen müßte die Verwaltung sich selbst gegen das Interesse der Betroffenen widersprechen, und solange diese Selbstkorrektur auch den eigenen Interessen der Verwaltung widerspricht und entsprechend verborgen wird, wird der Fehler Geschichte machen – er wird „ein-

40 41

Vgl. den Beitrag von Ino Augsberg in diesem Band. Becker/Luhmann (1963), S. 15.

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frieren“.42 Luhmann macht deutlich, dass eine Korrektur solcher Fehler überhaupt nur aussichtsreich ist, wenn nicht auch auf Verwaltungsseite Betroffene erzeugt werden, wenn also auf Schuldzuweisung verzichtet wird. (Wiederum kann man leicht sehen, dass er nach einer Möglichkeit sucht, begünstigende Entscheidungen zu korrigieren, ohne die Entscheider herauszufordern; er versucht es zu vermeiden, hausintern manövrierunfähig zu werden.) Die Verwaltung kann kein „rationales Verhältnis zu ihren eigenen Fehlern“ gewinnen43 bzw. Fehler nur willkürlich, fallweise, situativ korrigieren oder ansonsten vertuschen, solange Fehler nicht legalisierbar sind. Deshalb entwirft Luhmann eine Struktur, die (man erkennt den ,monkey‘ leicht) um so besser definiert ist, je fehlerfreundlicher sie ist, je aufgeschlossener sie dem Fehlerrisiko gegenübersteht. Fehler bezeugen dann Weltzugewandtheit, nicht Weltabgewandtheit, sie sind öffentliche, nicht klandestine Probleme. Eine solche Struktur funktionalisiert Entscheidungen, nicht Personen. Wir erkennen hier die eingangs erwähnte Reserve Luhmanns gegenüber schlechtdefinierten, sich selbst allenfalls vage bestimmenden und entsprechend nie korrigierenden, völlig lernunfähigen Beobachtern wieder. Diese Selbstkorrektur aber sei in komplexen Umgebungen erforderlich, weil die Komplexität mit einer Vielzahl detaillierter Programme verarbeitet werde, deren jedes „auf eine Vielzahl von Entscheidungen angewandt“ wird.44 Mit der Zahl der Verwaltungsakte wachsen außerdem auch die Zahl der „Zweifelsfragen“ und der Zeitdruck an.45 Hinzu kommt „die Mechanisierung der Entscheidungstätigkeiten“ in „Systemen gemischt menschlich-maschineller Entscheidungsfertigung“.46 In einer solchen Lage ist es „nicht mehr rationell, das Fehlerproblem vom Einzelfall aus zu sehen“, weder bezogen auf den Betroffenen noch bezogen auf den Entscheider.47 Das würde nur in einen Kontrollund Konfliktirrsinn führen. Angesichts der Komplexität des Entscheidens ist es (wie bereits erwähnt) „unvernünftig, das Fehlerrisiko um jeden Preis zu vermeiden“.48 Vielmehr muss die Organisation selbst in Rechnung gestellt werden: Nicht das Individuum (das wäre eine dysfunktionale Scheinlösung), sondern die Administration steht „vor der Notwendigkeit, ein Fehlerrisiko zu übernehmen, das im System selbst angelegt ist und keinem Schuldigen angekreidet werden kann“.49 Zur Debatte steht also eine Substitution traditioneller personaler Zurechnungsformen durch moderne organisationale Zurechnungsformen; zur Debatte steht die Möglichkeit der „Entwicklung von Rechtsformen der Fehlerbehandlung“.50 Neu einzuführen wäre 42

A. a. O., S. 99. A. a. O., S. 10. 44 Becker/Luhmann (1963), S. 11. 45 A. a. O., S. 10. 46 A. a. O., S. 11. 47 Ebd. 48 A. a. O., S. 13. 49 A. a. O., S. 10. 50 A. a. O., S. 12. 43

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ein ,Fehlerkalkül‘, das im Kontext legaler Entscheidungsprogramme sowohl richtige als auch falsche Entscheidungen zu berücksichtigen vermag.51 Gesucht ist, anders gesagt, eine Möglichkeit, die Entscheidung auf die Differenz von Selbst- und Fremdreferenz hin zu beobachten, auf ihre Einbettung in ein Netzwerk von fallbezogenen Informationen (Fremdreferenz) und programmbezogenen Selektionen (Selbstreferenz); das Fehlerproblem ist ein Folgeproblem dieser Differenz. Im letzten Drittel systematisiert Luhmann das vergleichende Material, das Franz Becker zusammengestellt hat, und hier zeigt sich der Theoretiker, genauer: hier zeigt sich Theorie. Weder durch „Rechtsvergleich“ noch durch ein „Problemschema“ nämlich lässt sich, so Luhmann52, diese gesuchte Rechtsform finden. Sie muss konstruiert werden, und sie soll konstruiert werden unter der Prämisse, das „starre System der Rücknehmbarkeit jeder fehlerhaften Entscheidung“ (ein System, in dem die Verwaltung den Selbstwiderspruch ausschließt, indem der Fehler personalisiert wird) zu ersetzen durch „Abwicklungsformen, die das Bestandsvertrauen des Staatsbürgers stärker berücksichtigen“ (Formen, die den Fehler der Verwaltung selbst zurechnen und ihren Selbstwiderspruch einschließen).53 Was er empfiehlt, ist letztlich einfach: die lästige, intellektuell unbefriedigende und praktisch wirkungslose Selbstberuhigung durch die Interpretation des Fehlers als bloßen Einzelfall abzustreifen und nicht nur den Gelingens-, sondern auch den Misslingensfall zu formalisieren. Das ist die Pointe (und ich betone das hier auch deshalb so, weil auch die Personalisierung der Theorie als extraordinäre Genieleistung eine solche lästige Selbstberuhigung produzieren würde). Eine fehlerhafte Entscheidung kann dann – wie eine fehlerlose Entscheidung auch – als möglicherweise beständig beobachtet werden, und in diese Beobachtung gehen die Interessen der Betroffenen ein, die „nicht mehr länger ignoriert und als schlechthin rechtsunerheblich behandelt werden, sondern innerhalb der Rechtsordnung Ausdruck finden können“.54 Eine Entscheidung, die einen Betroffenen begünstigt, wäre in jedem Fall eine Bruchstelle, die sich die Verwaltung selbst zufügt. Denn sollte diese Entscheidung fehlerhaft sein, wird der Betroffene an der „Kontinuität (des Fehlers)“ interessiert sein55, die Verwaltung aber seine Korrektur fordern. Eine komplexe Abwägungsaufgabe von Informationen und Interpretationen sowie Programmalternativen und Selektionsoptionen wäre die Folge, so dass schließlich auch die Verwaltung selbst in Ansehung dieses erwartbaren Dickichts die Korrektur vermeiden will und zu ,Einzelfallentscheidungen‘ neigt (also wiederum auf Unberechenbarkeit setzt – auf Willkür, die in diesem begünstigenden Fall ausnahmsweise begrüßt würde – und den Betroffenen, diesmal: in seinem Interesse und mit seiner wenn auch nervösen Billigung, zum Schweigen verpflichtet). Aber auch eine belas51

Vgl. dazu, mit allerdings anderen Pointen, Baecker (2003). Becker/Luhmann (1963), S. 110. 53 Ebd. 54 Becker/Luhmann (1963), S. 111. 55 Ebd. 52

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tende Fehlentscheidung hätte insofern vergleichbare Folgen, als der Betroffene im Falle einer nichtkorrigierten Entscheidung vor Gericht gehen könnte, wo ebenfalls Einzelfallentscheidungen fallen (der Rechtsstaat „begünstigt … den agilen, autoritätskritischen und prozessfreudigen Bürger und gewährt im Ergebnis Vertrauensschutz gerade dem, der seinem Naturell nach vielleicht am wenigsten bereit ist, Vertrauen zu schenken. Ius vigilantibus scriptum/das Recht ist für den Wachsamen geschrieben“56). Diese Praxis überfordert mit zunehmender Komplexität divergierender „Interessen und Situationen“57 das System zumal dann, wenn „Rechtsstaat und Sozialstaat verschmelzen“58, Ansprüche als Nachteilsausgleiche verstanden werden und vor Gericht praktisch jeder Verwaltungsakt als zu korrigierende fehlerhafte Benachteiligung verhandelt wird. Zur Regelung des Interessenausgleichs in einem solchen eher gerichts- als verwaltungsaffinen Wohlfahrtsstaat schlägt Luhmann einen generalisierenden „Mechanismus“ vor: „die Geldrechnung“.59 Dieser Mechanismus soll einen „in versteckter Form“ wirksamen generalisierenden Mechanismus „ergänzen“ und „entlasten“, „nämlich die politische Ordnung, die der Rechtskraft richterlicher Entscheidung Autorität verleiht“.60 Geldrechnungen sind viel weitergehend formalisierbar, sie abstrahieren sehr viel weitergehend vom Einzelfall. Auf diese Weise wird personalisiertes Verschulden als Fehlerhintergrund neutralisiert und das Problem der Fehlerbewältigung auf einen auf Berechenbarkeit fußenden Vertrauensschutz übertragen. „Das braucht nicht bedauert zu werden“, stellt Luhmann fest61, jedenfalls dann nicht, wenn es gelingt, die Vertrauensfrage in einen erwarteten Vertrauensschaden zu übersetzen und das Fehlerproblem auf diese berechnende Weise der Verwaltung als Entscheidungsproblem rückzuübertragen. Das Verschuldensprinzip dagegen benachteiligt den Bürger durch eine Beweislast, der er kaum nachkommen kann, da er den Entscheider ja weder kennt noch die Kommunikationswege durchschaut, so dass es ein bloßer „Glücksfall“ wäre62, wenn ihm der Nachweis eines Verschuldens gelänge. Die vertrauenermöglichende Geldrechnung wird also gegen die vertrauenverunmöglichende „Zufallslösung“ des Schuldnachweises63, die formalisierte Entscheidung gegen den Einzelfall ins Spiel gebracht. Wir haben es mit einer inkongruenten Perspektive zu tun, mit dem Einwand von Geld gegen Recht und von Kalkül gegen Autorität – und zwar (darauf kommt es an) aus praktischen Gründen. Formalisierungen sind praktischer als Einzelfall- und Ermessensentscheidungen, und wenn Geld sich besser formalisieren lässt als Recht, 56

A. a. O., S. 115. A. a. O., S. 116. 58 A. a. O., S. 117. 59 A. a. O., S. 116. 60 Ebd. 61 A. a. O., S. 117. 62 Ebd. 63 Becker/Luhmann (1963), S. 118. 57

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dann wird es sich jedem Einzelfall besser anpassen lassen als Recht. Luhmann wird diese Überlegung sehr viel später in der sprichwörtlich gewordenen Notiz wieder aufgreifen, Geld sei „das Dividuum par excellence, das sich jeder In-Dividualität anpassen“ könne.64 Man bemerkt außerdem, dass Luhmann Parsons’ Konzept der ,interchange media‘ bereits in das Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien übertragen hat (ohne dass davon im vorliegenden Text die Rede wäre). Kein Fehlerproblem, das sich durch Geldrechnung nicht beschreiben, bestimmen und bewältigen ließe. Geld macht Selektionsofferten akzeptierbar, ohne auf die Interaktion vor Gericht angewiesen zu sein (bei der, um dies zu wiederholen, der betroffene Bürger nur verlieren kann und bei der sich die betroffene Verwaltung, um sich vom Fehlervorwurf freizuzeichnen, in Personalisierungen verstrickt, also ebenfalls nur verlieren kann). Formale Organisation ist, anders und als Hinweis auf eine sehr viel später erst folgenreich wirkende Theoriefigur Luhmanns gesagt, die kommunikative Komplementärstruktur zu symbolisch generalisierten Medien. Luhmann fasst zusammen: „Wenn die Divergenz von Interessen und Situationen eine gewisse Schwelle überschreitet, ist es nicht mehr möglich, ein soziales System durch Mustersituationen und Analogien befriedigend zu ordnen. Es wird dann notwendig, generalisierende Mechanismen des Interessenausgleichs zu erfinden, die allgemein eingerichtet werden und präzise funktionieren können, ohne dass der Situationsverlauf im einzelnen vorgezeichnet, die Bedürfnisse im voraus speziell fixiert zu werden brauchen.“65

Genau so, mit fast identischen Worten, schließt die direkt danach erscheinende Studie „Funktionen und Folgen formaler Organisation“. Man könne dagegen einwenden, ergänzt Luhmann, dass ein solcher Vorschlag das Recht bzw. die Rechtstradition „revolutionieren“ würde66, weil das Recht dann nicht mehr die normative Setzung von richtig/falsch und die Regelung von Konflikten durch die Sanktion des Falschen zum ausschließlichen Gegenstand hätte. Aber „wir können einer so weitgehenden Auffassung nicht zustimmen“, weil sie „in dem Maße unangemessen (wird), als dem Recht sozialtechnische Lenkungsfunktionen in der Verteilung der Lebensgüter zugedacht werden, in dem Maße, da Rechtsstaat und Sozialstaat verschmelzen“ und die Komplexität der zu beschreibenden und zu lösenden Probleme steige; die „Einführung einer finanziellen Schadensregelung bei Fehlern der Verwaltung“ sei „keine Revolution, aber ein wichtiges Stück Verwaltungsreform“67. So auch die Theorie: keine Revolution, aber ein wichtiges Stück Reform.

64

Luhmann (1984), S. 625. Becker/Luhmann (1963), S. 116. 66 Ebd., Forsthoff zitierend. 67 A. a. O., S. 117. 65

Das Fehlerproblem

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Zum Lob der Routine: Ausnahme und Entscheidung bei Niklas Luhmann Von Sven Opitz

I. Einleitung – System ohne Ausnahme? In den Auseinandersetzungen um das Politische hat das Thema der Ausnahme in den letzten Jahren erneut eine Schlüsselstellung eingenommen. Dabei liegt die Anziehungskraft der Ausnahmefigur in der Verklammerung von empirischem Gegenwartsbefund und theoretischer Problematik: Zum einen scheint sie in empirischer Hinsicht maßgeschneidert, um jenes heterogene Bündel an Sicherheitsmaßnahmen zu erfassen, das insbesondere im weltweiten Kampf gegen den internationalen Terrorismus mobilisiert wurde (vgl. u. a. Neal). Hier diente die Ausnahme als Diagnosetool um Phänomene zu analysieren wie die die Einrichtung extra-territorialer Lager, die Rechtfertigung von Folter sowie die Suspension subjektiver Rechte in der Ergreifung von Maßnahmen gegen Handlungen, die erst noch in der Zukunft vermutet werden. Zum anderen erlaubt es der Ausnahmebegriff, diese Phänomene auf sozialtheoretische Grundlagenprobleme zu beziehen: auf den Status des Nicht-Subsumierbaren, des ereignishaften Bruchs mit fest verankerten Normen und der kontingenten Fundierung politisch-rechtlicher Vorgänge. In der Diagnose von Ausnahmezuständen werden somit Praktiken der ungebundenen Macht- und Gewaltausübung im Kontext einer grundlegenden Ordnungsproblematik behandelt. Wendet man sich angesichts dieser Lage an die Systemtheorie Niklas Luhmanns, erscheint die Ausnahme auf den ersten Blick als Leerstelle. Die Ausnahme ist kein Grundbegriff, ein Eintrag in den Schlagwortverzeichnissen fehlt. Stattdessen stechen einige apodiktische Aussagen ins Auge. So heißt es in Das Recht der Gesellschaft lapidar: „das Recht kann keinen Ausnahmestatus akzeptieren. […] Denn wenn es auch nur eine Instanz geben könnte, die unabhängig vom Recht über Leben, Leib und Eigentum verfügen könnte, gibt es kein Recht; denn alle Rechtssicherheit könnte von da her aus den Angeln gehoben werden. […H]ier geht es um nichts anderes als um die operative Geschlossenheit des Funktionssystems.“ (Luhmann 1993, S. 414)

Diese Passage ist durch einen seltsamen Übergang vom Gegenstand zur Theorie gekennzeichnet. Eigentlich richtet sich die Soziologie ja gerade nicht danach, was ihr Gegenstand akzeptieren oder nicht akzeptieren kann. Der soziologische Zug bestünde darin, die Brüche und Suspensionen des Rechts gegen dessen Selbstbeschreibung

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als bruchlosen Geltungszusammenhang herauszustellen. Doch Luhmann geht diesen Weg nicht. Stattdessen unterschreibt er das Verdikt des Rechts gegen die Ausnahme mit theorietechnischen Mitteln. Die operative Geschlossenheit des Rechts schließt jenen Unterbrechungs- und Inversionspunkt der Ausnahme aus, von dem das Recht aus den Angeln gehoben werden könnte. Eine analoge Einschätzung findet sich auch im Kontext von Luhmanns Behandlung des Zusammenhangs von Widerstand und politischer Gewalt.1 Dabei werden Implikationen für den Entscheidungsbegriff angedeutet: „Wenn politische Macht in der modernen Gesellschaft rechtlich codierte Macht sein muss, kann eine solche Ordnung nicht punktuell […] aus den Angeln gehoben werden. Andere Entscheidungen bedeuten nicht eine andere Ordnung, sie sind nichts weiter als andere Entscheidungen: Eine Straße wird gebaut oder nicht.“ (Luhmann 2005, S. 176 f.)

Luhmann geht es hier nicht um eine Geringschätzung des Entscheidens. Dazu ist der Entscheidungsbegriff in seinen Schriften zu Politik, Verwaltung und Recht auch viel zu prominent platziert.2 Er wendet sich vielmehr gegen eine Übersteigerung der Entscheidung in eine exzeptionelle Dezision, die einen Bruch mit einer bestehenden Ordnung herbeiführt. Das positive Recht auf den ausgezeichneten Willkürpunkt der Dezision zurückzuführen scheint ihm als kurzschlüssige Vereinfachung, weil „schließlich jedermann weiß, dass im Recht nie und nimmer beliebig entschieden werden kann.“ (Luhmann 1993, S. 39) Und er fügt trocken an: „irgendetwas ist bei diesem Räsonnement schiefgelaufen.“ (ebd.) Im Folgenden möchte ich in einem ersten Schritt eruieren, was dagegenspricht, die Konzeption der Ausnahme am Entscheiden aufzuhängen. Diese Möglichkeit wurde zwar von einigen Interpreten auch an die Systemtheorie herangetragen (Rasch 1997, 2004; Wirtz 1999). Doch insbesondere Luhmanns Frühwerk sperrt sich gegen eine entsprechende Lesart. Statt einer Akzentuierung des Außerordentlichen findet sich dort vielmehr ein Lob der Routinen des Entscheidungshandelns. Mit Luhmann lässt sich zeigen, dass es soziologisch produktiver ist, der Entscheidung nicht per se einen Unterbrechungswert zuzusprechen, sondern ihre Einbindung in Anschlussroutinen zu untersuchen (vgl. Fischer-Lescano/Christensen). Deshalb muss man an einem anderen Punkt ansetzen, um von der politischen Theologie zu einer Sozialtheorie der Ausnahme zu gelangen: Nicht an der dezisionistisch übersteigerten Entscheidung, sondern an der Systemkonstitution – das heißt an der Ausgrenzung des Systems gegenüber seiner Umwelt (vgl. bereits Opitz 2012). Ausnahmen, so will ich in einem zweiten Schritt argumentieren, entstehen dort, wo der für das System konstitutive Ausschluss wieder in das System eintritt und dessen perfect continence zerstört. Um diese abstrakte Figur mit Plausibilität zu versehen, will ich zwei Mechanismen derartiger Grenzinversionen identifizieren: die immanente Öffnung 1

Zur Symmetrie von Ausnahme- und Widerstandsrecht vgl. ebenfalls Agamben (2004, S. 17 f). 2 Die Moderne wird insgesamt als Steigerung des Entscheidungsaufkommens sowie auch einer „Steigerung des Entscheidungstempos“ gekennzeichnet (Luhmann 2010, S. 62).

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des Rechts durch unbestimmte Regelungen und die Zurückweisung des Rechtscodes durch dritte Werte (vgl. Opitz 2010, 2013).

II. Im Entscheidungsbetrieb „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ – Für Carl Schmitt ist die Entscheidung über die Ausnahme die kontingente Entscheidung schlechthin, weil sie unbegründet und ungebunden erfolgt. Sie ist zum einen nicht unter die gegebene Rechtsordnung subsumierbar, weil sie diese suspendiert. Als Akt der Aussetzung des Bestehenden kann sie nur überschüssig sein. Nichts anderes meint Schmitt, wenn er sagt, dass die Entscheidung „normativ betrachtet aus dem Nichts geboren“ ist (Schmitt, S. 42). In der Entscheidung über die Ausnahme manifestiert sich zum anderen die Kontingenz einer möglichen Neugründung. Das bringt Schmitt zum Ausdruck, wenn er sagt, dass die Regel von der Ausnahme „lebt“ (Schmitt, S. 21). Schmitts Entscheidungskonzeption verweist folglich auf die Stelle, an der Recht und Nichtrecht ununterscheidbar werden. Sie markiert den paradoxen Punkt, an dem die Rechtsordnung gleichzeitig aus den Angeln gehoben und eingehängt wird. Die Ausnahmeentscheidung vollzieht die Aus- und Einsetzung, die Destitution und die Re-Konstitution der Ordnung. Mit einer solchen Traglast wird der Entscheidungsbegriff jedoch soziologisch überansprucht. Luhmann durchtrennt dann auch die Verbindung zwischen Entscheidung und Ausnahme. Entscheidungen sind für den Systemtheoretiker prinzipiell keine souverän herausragenden Akte, die die systemische Schließung aufsprengen und komplett neu ausrichten. Das bedeutet allerdings nicht, dass es sich um gänzlich unproblematische Ereignisse handelt (vgl. Ortmann). Vielmehr bilden Entscheidungen paradoxe Operationen. Sie werden aufgrund von Unentschiedenheiten zwingend. Die Unentschiedenheit eines Streitfalls oder eines administrativen Vorgangs (z. B. eine Planfeststellung, ein Asylgesuch oder die Genehmigung einer Kundgebung) wird zum „Betriebsmotiv“ (Luhmann 2013, S. 189) für Recht und Verwaltung; grundsätzlich ist jede Entscheidung „immer eine nichtselbstverständliche Problemlösung“ (Luhmann 2010, S. 127). Einerseits stellen Entscheidungen also ihre Kontingenz im Blick auf andere Entscheidungsmöglichkeiten aus. Andererseits behaupten sie die Notwendigkeit ihres So-und-nicht-anders-Seins (Luhmann 2000a, S. 132 ff.). Deshalb bergen sie durchaus ein „Unterbrechungsrisiko“ (Luhmann 1993, S. 325), wie Luhmann in Bezug auf das Recht feststellt. Aber die Soziologie heroisiert dieses Risiko nicht, sie siedelt es nicht in einer Quasi-Transzendenz an, sondern interessiert sich für die sozialen Mechanismen, welche sich um dieses Risiko herum bilden.

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Von besonderer Bedeutung für die Zähmung des Unterbrechungsrisikos in Verwaltung und Recht ist die Einbindung von Entscheidungen in Konditionalprograme.3 Konditionalprogramme konterkarieren den Ausnahmecharakter von Entscheidungen, indem sie Bedingungen spezifizieren, „bei deren Erfüllung die Entscheidung als ,richtig‘ gilt.“ (Luhmann 1971c, S. 165) Wenn Sachverhalt X vorliegt, dann ist die Entscheidungsfolge Y korrekt. Luhmann zufolge haben wir es hier mit der „Einrichtung einer nichtkontingenten Verknüpfung kontingenter Ereignisreihen“ (Luhmann 2013, S. 187) zu tun. Wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, erfolgt eine Entscheidung mit Notwendigkeit. Zugleich verdankt sich diese Verknüpfung selbst wiederum vorgelagerten Entscheidungsakten. Die Einsetzung eines Konditionalprogramms ist ja nichts anderes als eine Entscheidung über Entscheidungen – oder genauer: ein Entscheiden über Entscheidungsprämissen (vgl. Luhmann 1971a, S. 67). Die Kontingenz der Entscheidung wird somit keinesfalls getilgt. Aber sie wird gerade nicht auf einen exzeptionellen Angelpunkt zurückgerechnet. Vielmehr gerät die wechselseitige Einhegung von Entscheidungsspielräumen in den Blick. Politik, Gerichte und Verwaltung entscheiden nicht alleine für sich, sondern darüber, unter welchen Bedingungen sie andere entscheiden lassen. Sie schieben einander Entscheidungsprämissen zu und spinnen auf diese Weise ein Netz, in dem nicht mehr alles möglich ist. Auf der Basis verstreuter Kontingenz entsteht im Entscheidungsbetrieb Nicht-Beliebigkeit.4 Es ist in diesem Zusammenhang, in dem Luhmann ein „Lob der Routine“ anstimmt und damit die schärfst-mögliche Gegenposition zu einem dezisionistischen Entscheidungsverständnis bezieht. Die Konditionalprogramme geben Routinen statt, auch und gerade in bewegten Kontexten. Wörtlich heißt es: „Die Programmierung von Entscheidungen dient dazu, gleichmäßige Zustände oder Wirkungen des Systems zu sichern, die nicht von jeder Schwankung in der Umwelt durcheinander geworfen werden.“ (Luhmann 1971b, S. 117) Man kann angesichts derartiger Formulierungen fragen, ob Luhmann seinen Entscheidungsbegriff soweit den Routinen der Programmausführung unterordnet, dass das Entscheidungsmoment letztlich zu verschwinden droht. Die Trennung von Ausnahme und Entscheidung hätte den Ef3

Recht und Verwaltung sind durch den vorrangigen Einsatz von Konditionalprogrammen gekennzeichnet. In seinem Frühwerk überlagert Luhmann beide Bereiche: Zum Recht gehören die „in Parlamenten, rechtsanwendenden Verwaltungsbehörden und Gerichten ablaufenden Entscheidungsprozesse“ (Luhmann 2013, S. 181) – und Verwaltung bezeichnet „alle bürokratisch organisierten Entscheidungsprozesse in Legislative, Exekutive und Justiz“ (Luhmann 2010, S. 151, vgl. auch S. 254). Zum wechselseitig supplementären Verhältnis von Verwaltung und Recht vgl. auch Nellen (2016). Zugleich sind Konditionalprogramme nicht der einzige Mechanismus der Strukturierung von Entscheidungsprozessen. Zusätzlich zu nennen wäre etwa die Organisation von Stellen mit spezifischen Kompetenzprofilen und ferner natürlich die Einrichtung von geregelten Verfahren. 4 Mit dieser Beschreibung qualifiziert die Soziologie die Mechanik der Ordnungsbildung: Ordnung entsteht nicht durch die singuläre Kontingenz einer gründenden Entscheidung, sondern durch wechselseitige Stabilisierung von an sich „unnotwendigen“ Akten (zum Begriff der Unnotwendigkeit vgl. Luhmann 2013, S. 32).

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fekt, dass am Punkt der Entscheidung nur mehr ein bloßer Automatismus der Ableitung übrigbliebe. So stellt er fest: „Jeder, der über die entscheidungsauslösenden Informationen verfügen kann, vermag nämlich dann“ – d. h. bei eingerichteten Konditionalprogrammen – „die Entscheidungen zuverlässig herbeizuführen.“ (Luhmann 1971a, S. 70) Die Stelleninhaber ähneln in dieser Darstellung der berühmten Figur des „Subsumtionsautomaten“.

III. Innere Öffnungen – Sozialtheorie der Ausnahme Angesichts dieser zweifellos gegebenen Tendenz möchte ich zwei Theoriestellen freilegen, an denen sich bei Luhmann eine Öffnung des routinisierten Entscheidungsbetriebs andeutet. Es lässt sich zeigen, dass Luhmann diese Öffnungen zwar markiert, sie jedoch umgehend der operativen Schließung unterordnet. Diese Schließungsbewegung verdankt sich theoretischen Prämissen, die einer begrifflichen Artikulation des von Luhmann konzedierten Unterbrechungsrisikos entgegenwirken. Im Folgenden wird dagegen angedeutet, dass eine konsequent differenztheoretische Lesart der Systemtheorie das bei Luhmann brachliegende Potenzial freizusetzen vermag (vgl. Menke; Opitz 2012; Philipopoulos-Mihalopoulos; Stäheli). Auf diese Weise ist es möglich, eine Sozialtheorie der Ausnahme zu formulieren, welche weder von einem politischen Primat der exzeptionellen Entscheidung ausgeht noch die soziale Domestizierung des Außerordentlichen behauptet. Dazu gilt es, die Ausnahme als Einschluss des konstitutiv Ausgeschlossenen zu begreifen (vgl. Staten) – das heißt: als topologische Figur der Einnahme des Rechts durch sein Außen (Agamben 2002, S. 48 f.; Agamben 2004, S. 33, S. 45). (1) Von der Auslegung zur Unbestimmtheit – Die konditionale Programmierung von Routinen besteht aus drei Elementen: dem auslösenden Zeichen, der Entscheidungsfolge und der beide verkoppelnden Verknüpfungsregel. Luhmann zufolge können sich durch jedes dieser drei Elemente „sekundäre Elastizitäten“ (Luhmann 1971b, S. 122) für das Entscheiden ergeben. So ist die Polizei zu Eingriffen ermächtigt, wenn die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ bedroht sind. Doch wann ist das der Fall? Das sagt die polizeirechtliche Klausel nicht mit Bestimmtheit. Sie sagt nur, dass dann „notwendige Maßnahmen“ zum Schutz dieser Ordnung zu ergreifen sind. Damit bleiben aber auch die Maßnahmen unbestimmt – alles, was im Rahmen der prinzipiell zulässigen Maßnahmen als notwendig erachtet wird, kommt in Frage. In anderen Fällen, in denen die Maßnahmen präzise umschrieben sind, kann wiederum die Verknüpfungsregel für Flexibilität sorgen. Manchmal „müssen“ Maßnahmen erfolgen, manchmal „sollen“ oder „können“ sie bloß ergriffen werden, unter Umständen sogar nur „im Rahmen der verfügbaren Mittel“. All das eröffnet gewisse Spielräume. Luhmann sieht durchaus, dass die Auslegung von Programmen ein „Grenzproblem des Rechts“ darstellt, das im „Raume logischer Unordnung liegt“ (Luhmann 2000b, S. 36). Dennoch scheinen die programminternen Elastizitäten die Routinen

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aus seiner Sicht nicht zu suspendieren. Sie führen nicht zu einer Aussetzung des Anschlussgeschehens, sondern machen es im Zweifel sogar geschmeidiger. Sie sorgen nämlich dafür, dass die Programme nicht zu rigide sind für die unterschiedlichen Ausprägungen eines Tatbestands. Diese soziologische Sichtweise korreliert auf frappierende Weise mit der Wertsetzung des liberalen Rechts. Einerseits erhebt das liberale Recht das Gebot der Normenbestimmtheit in den Verfassungsrang. Es schließt damit unbestimmte Regelungen aus, welche keine Bindungen erzeugen und keine Rechtssicherheit gewährleisten, weil gleiche Fälle ungleich bzw. ungleiche Fälle gleich entschieden werden können. Andererseits gebietet das Verbot des Einzelfallgesetzes, dass jede Bestimmung für unbestimmt viele Fälle anwendbar sein soll. Das entspricht exakt einer Soziologie, welche programminterne Elastizitäten für notwendig erachtet, diese Elastizitäten jedoch gegenüber den programmierten Routinen für sekundär erklärt. Zu sagen, dass die programminternen Elastizitäten die Routinen nur stützen, aber nie antasten, kommt einer Festlegung der Soziologie auf den Normalfall gleich. Es reicht dagegen, Unbestimmtheit als empirische Variable anzuerkennen, um in ihr einen möglichen Ausnahmemechanismus zu identifizieren. Bei einem hohen Grad an rechtlicher Unbestimmtheit wird die Grenze des Rechts porös und durchlässig. Das lässt sich an einem Bestimmungsversuch des Schutzguts der bereits erwähnten „öffentlichen Ordnung“ durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 69, S. 315) illustrieren (vgl. Opitz 2013). Bei der „öffentlichen Ordnung“ handle es sich um die „Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit“, deren Beachtung „nach den jeweils herrschenden Anschauungen … Voraussetzung eines geordneten Zusammenlebens“ sind. Diese vorgebliche Präzisierung verweist auf einen nicht-kodfizierten Regelbereich, der im Lichte hegemonialer Wertvorstellungen zu erschließen ist. Ein derart unterbestimmtes Programm öffnet Recht und Verwaltung für außerrechtliche Entscheidungskriterien. Die unbestimmte Rechtslage könnte durch den Rückgriff auf politische, wirtschaftliche, erzieherische oder moralische Kriterien bestimmt werden. Die rechtliche Unbestimmtheit kommt somit einer Hineinnahme des Außen in die Rechtsordnung gleich. Deshalb verhindert die Aufnahme extrem unbestimmter Formulierungen ins Recht keineswegs, dass „im Ausnahmefall … bedingungslos“ entschieden werde, wie der Jurist Hinnerk Wißmann (2008, S. 77) meint. Vielmehr wird die Ausnahme in Form unbestimmter Rechtsbegriffe in das Recht eingeschrieben. Ausnahmezustände eröffnen sich in Fällen, in denen das Recht von der Unbestimmtheit überwältigt wird, die es ausschließt – und mit der es doch permanent arbeitet. (2) Von der Ausnahme zur Zurückweisung des Codes – Es gibt eine einzige Werkstelle bei Luhmann, an der er doch so etwas wie eine positive Soziologie der rechtlichen Ausnahme skizziert. Im 16. Kapitel der posthum veröffentlichen Schrift Kontingenz und Recht hat es zunächst den Anschein, dass er einen Mechanismus der Rechtssuspension beschreibt. Jede rechtlich codierte Praxis, so liest man dort, kenne klandestine Taktiken, um „Normen … auszuweichen oder sie auf akzeptierbare, schonungsvolle Weise zu brechen.“ (Luhmann 2013, S. 275) Das Schema

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von Regel und Ausnahme bietet sich an, um derart unartikuliert ablaufende „parajuristische“ Taktiken zu formalisieren: „Man hält sich in der Regel an die Regel, bewahrt sich aber die Freiheit, in kritischen Fällen eine Ausnahme zu konzedieren, ohne dadurch der Regel selbst Abbruch zu tun.“ (Luhmann 2013, S. 278) Liest man das Kapitel genauer, dann zeigt sich jedoch, dass Luhmanns Ausnahme gerade kein Einfallstor des exzeptionellen Bruchs mit der gegebenen Ordnung ist. Die Formulierung von Ausnahmen wird als ein Moment der Ausarbeitung der Jurisdiktion vorgestellt, nicht als ihre Aussetzung. Sie ist ein begründeter Anlass, um Rechtsfolgenprogramme noch weiter aufzufächern, die sich in der Praxis als zu pauschal erwiesen haben: „Haftung grundsätzlich nur bei Verschulden, aber ausnahmsweise auch ohne Verschulden, wenn …“. (Luhmann 2013, S. 279) Die Ausnahme wird auf diese Weise Teil von Regelungsschemata. Sie erscheint als funktional für den Fortgang des Rechts, weil nun Rechtsprinzipien nicht ins Absolute übersteigert werden müssen. Damit aber bleibt die Ausnahme auf der Ebene der Programme. Sie wendet sich nie gegen den Code, sie gefährdet nie die Systemazität des Systems. Zu einer konsequenteren Konzeption könnten dagegen einige Fährten führen, die Luhmann in seinen späteren Schriften in Bezug auf das Verhältnis zwischen Code und Programm auslegt (vgl. Opitz 2010). Bekanntlich basiert für Luhmann jeder Code auf dem Ausschluss dritter Werte. Das Recht entscheidet normalerweise nur zwischen Recht und Unrecht, nicht zwischen Recht, Unrecht und Gemeinwohl oder zwischen Recht, Unrecht und Sicherheit. Derartige dritte Werte werden auf die Ebene der Programme verlegt, die Luhmann im Anschluss an Jacques Derrida als „Supplement“ bzw. im Anschluss an Michel Serres als „Parasit“ charakterisiert. So heißt es etwa: „Die materialen Werte parasitieren, genau im Sinne von Michel Serres, als eingeschlossene ausgeschlossene Dritte an der Entscheidungsfähigkeit des Systems.“ (Luhmann 1986, S. 198) Nimmt man diese theoretische Fährte ernst, dann muss man jedoch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass programmatische Werte in Ausnahmefällen durchaus die Codewerte attackieren können. Denn das Supplement ist nicht einfach ein konstitutives Anhängsel. „Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen“, wie Derrida schreibt (Derrida 1984, S. 250). Und auch der Parasit ordnet sich dem Code nicht unter, sondern unterläuft die Distinktionsfähigkeit des Codes. Er führt, in Serres Worten, einen „Lärm “ in das System ein, der es „zeitweilig unterdrückt“ und „unbestimmt oszillieren“ lässt (Serres, S. 29).5 Als Parasit oder Supplement ist die Ausnahme also nicht einfach ein normales Programmelement. Sie wird vielmehr eröffnet, wenn dritte Werte sich als Programmelemente gegen den Code wenden und ihn suspendieren. Man kann diesen schwierigen theoretischen Gedanken am Beispiel der Begnadigung verdeutlichen (vgl. Derrida 2019). Die Begnadigung ist in vielen nationalen Rechtsordnungen enthalten, in Deutschland verfügt der Bundespräsident für die Be5 Auch Serres umschreibt dabei die oben dargelegte Dynamik aus Destitution und Konstitution: „Auf den ersten Blick führt der Parasit eine Unterbrechung herbei, doch auf den zweiten bringt er eine Konsolidierung.“ (Serres, S. 29).

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fugnis, Strafen auszusetzen. Die Begnadigung eröffnet damit die Möglichkeit, im Fortgang des Rechts die Unterscheidung von Recht und Unrecht „auszuschalten“ (Luhmann 1986, S. 185). Sie überführt den zweiwertigen Code in die dritte Alternative, ein Unrecht nicht als solches zu behandeln. Das Recht wird also rechtmäßig neutralisiert; die Rechtswissenschaftler Austin Sarat und Nassar Hussain sprechen daher im Hinblick auf die Begnadigung auch von einer „lawful lawlessness“ (Sarat/Husain 2004, S. 1307). Natürlich: In der Gnadenbefugnis wird die Zurückweisung des Codes in eine verfahrenstechnisch eng umgrenzte Episode eingefasst. Das Beispiel soll lediglich den Mechanismus als solchen illustrieren: Mit dem Code wird jener Unterschied suspendiert, der das System gegenüber seiner Umwelt ausgrenzt. Die Ausnahme eröffnet sich, wenn die Auseinandersetzung um die Programmierung der Codewerte umschlägt in die Auseinandersetzung um die Anwendbarkeit des Codes als Ganzem. Sie tritt ein, wenn ein konstitutiv ausgeschlossener Wert die Führung übernimmt. In diesen Fällen ist das Recht aus den Fugen.

IV. Schluss – Ausnahme und Entscheidung re-visited Das Ziel der nun vorgelegten Ausführungen bestand darin, die Möglichkeiten für eine Sozialtheorie der Ausnahme mit systemtheoretischen Mitteln auszuloten. Luhmanns Lob der Routine ist in diesem Zusammenhang ein wirksames Antidot gegen all jene politischen Theologen, welche die Ausnahme am Punkt einer souveränen Entscheidung lokalisieren. Aus soziologischer Sicht führt dies zu einer Übersteigerung des Entscheidungsakts, mit der Folge, dass zum einen Phänomene des Exzeptionellen reduktionistisch auf das Moment der Dezision verkürzt werden; zum anderen gerät der normale Entscheidungsbetrieb aus dem Blick. Um hier theoretische Abhilfe zu verschaffen, habe ich vorgeschlagen, das Konzept der Ausnahme von der Entscheidung abzulösen und stattdessen im Bereich der Systemkonstitution anzusiedeln. Ausnahmen eröffnen sich, wenn das, was das System konstitutiv ausschließt, das System einnimmt und die systemische Schließung unterminiert. Die beiden Ausnahmemechanismen, die ich herausgearbeitet habe, sollen die Tragfähigkeit und Ergiebigkeit dieser theoretischen Re-Artikulation andeuten. Sie verweisen zugleich auf ein breiteres Arbeitsprogramm. Sie animieren dazu, weitere Grenzbildungsmechanismen auf ihre inversiven Dynamiken abzutasten, auf jene Dynamiken also, im Zuge derer sich das Außen ins Innen wendet (vgl. Opitz 2012). Auf diese Weise erhält man ein reichhaltiges Begriffsinstrumentarium, um die Eröffnung von Ausnahmen zu analysieren, das nicht auf die Entscheidung begrenzt ist. Zugleich gewinnt man an empirischer Tiefenschärfe. Man muss nicht länger kategorisch behaupten, dass Entscheidungen dezisionistisch erfolgen oder dass das Recht per se unbestimmt ist. Man kann vielmehr soziale Prozesse genau beschreiben, in denen Entscheidungsvorgänge mehr oder weniger dezisionistisch laufen, in denen Unbestimmtheit besteht oder unterbunden wird, in denen programmatische Werte sich dem Code unterordnen oder ihn zurückweisen. Letztlich empfiehlt sich die Ausnah-

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me vor dem Hintergrund der vorliegenden Ausführungen sogar als Grundbegriff der allgemeinen Theorie. Denn das Gesagte legt es nahe, auch nach ökonomischen, wissenschaftlichen oder religiösen Ausnahmen zu fragen. Ob das im Einzelfall Sinn macht, muss an dieser Stelle offenbleiben – die Möglichkeit, es zu prüfen, ist aber hiermit eröffnet.

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Abschottungen à la Luhmann Organisationen als Einrichtungen der Interdependenzunterbrechung Von Günther Ortmann „… wie wird … das Entstehen eines chaotischen Durcheinanders verhindert?“ Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung (2000, S. 237) „Organisationen sind die wesentlichen Träger von Interdependenzunterbrechungen.“ (Ebd., S. 395)

In Organisationen geht es, im Stile altehrwürdiger Lehrbücher gesprochen, um Arbeitsteilung und Koordination/Integration1, also um Trennung und Verbindung, und am Ende doch immer, bei aller internen Konkurrenz, um Kooperation, also um Interdependenz, nämlich die wechselseitige Abhängigkeit und Abstimmung der Kooperierenden (Differenziertes zu Formen der Interdependenz bei Thompson 1967, 2. Aufl. 2004). Dies Letztere ist eine – und die ausschlaggebende – der Funktionen und Folgen formaler Organisation (Luhmann 1964/1995). Angesichts dessen mag es überraschen, dass gerade der Organisationstheoretiker Luhmann immer wieder (funktionalen) Interdependenzunterbrechungen das Wort geredet hat – sehr zu Recht, wie im Folgenden argumentiert wird, aber mit einer Neigung, die Funktionalität von Einrichtungen der Interdependenzunterbrechung – der Abschottung – doch sehr ins Licht zu rücken, eine Einseitigkeit, die von seiner Umsicht und der Raffinesse seiner Theoriebewegungen gemildert wird – und in seinem Theorielabyrinth leicht außer Sicht gerät. Sein ausgeprägter Sinn für die funktionale Notwendigkeit von Interdependenzunterbrechungen verlässt Luhmann allerdings an einer organisationstheoretisch wichtigen Stelle, an der er besonders am Platze wäre: dort, wo es um „strange loops“ und „entangled hierarchies“ (Douglas Hofstadter) im Inneren von Organisationen geht – um Machtverhältnisse im Rahmen organisationaler Hierarchien.

1 „Integration“ bedeutet für Luhmann (1997, S. 314 f.) indes „die Einschränkung von Freiheitsgraden der Systeme“ und wird zuerst am Beispiel räumlicher Integration auf eine Weise erläutert, die „Raumzusammenhänge und -abgrenzungen“ betont, „zugleich als Abgrenzung von Experimentierfeldern für strukturelle Innovation und damit der Minderung ihrer Risiken bei Ermöglichung ihrer Diffusion.“ (Hervorh. G. O.) Da geht es mit Abschottungen schon los. Für die Integration der gesellschaftlichen Teilsysteme s. ebd., S. 601 ff.; für die innerorganisationale Integration Luhmann (2000, S. 99 ff.).

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I. Theorieszenen Wenn Luhmann (1984, S. 45 ff.) auf die Komplexität jedweder sozialen Systeme zu sprechen kommt, fällt alsbald das Stichwort „organisierte Komplexität“: „Komplexität mit selektiven Beziehungen zwischen den Elementen“ (ebd., S. 46; meine Hervorh.). Der Witz ist, dass „auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann.“ (Ebd.) Das erinnert an Formulierungen, mit denen Luhmann die Notwendigkeit von Interdependenzunterbrechungen in und zwischen sozialen Systemen zu begründen pflegt, besonders die Notwendigkeit der Vorsorge dagegen, „daß in den Funktionssystemen (und, wie zu ergänzen ist, in Organisationen, G. O.) alles mit allem zusammenhängt“ (Luhmann (1994), S. 194). Ohne Interdependenzunterbrechungen „käme es zu unkontrollierbaren, nicht lokalisierbaren Irritationen …“ (ebd., S. 195). Zwar gibt es „sachliche, gleichsam natürliche Schranken“ (ebd., S. 194), aber zumal in einer Welt generalisierbarer Kommunikationsmedien drohe viel zu viel Interdependenz. Es braucht Schranken, Schwellen2, Dämme, Schotten, und ,Organisation‘ heißt insofern: Dammbau, Schottenbildung. Das lässt sich zusammengenommen, gerade in dem eiligen Übergang von sozialen Systemen schlechthin und deren Komplexität zu organisierter Komplexität, als eine paradigmatische Kondensation eines, wenn nicht des beherrschenden Theoriemotivs Luhmanns lesen: Kontingenz ist „das Midas-Gold der Moderne“ (Luhmann (1992), S. 94), und eine nachgerade Kierkegaardscher Möglichkeitsflut3 droht uns zu überfluten, es gilt, nach außen Dämme, nach innen Schotten gegen die Flut zu bauen, und was da wie gerufen kommt, ist: Organisation, mitsamt ihren Verheißungen der Interdependenzunterbrechung. Was ich nun zeigen möchte, ist, dass diese Sorge bis in das gesellschafts- und besonders das organisationstheoretische Denken Luhmanns am Werk geblieben ist4, und dass trotzdem seine wache Aufmerksamkeit für den 2 „Schwellen, die eine Effektübertragung beschränken“ (Luhmann (1970), S. 123). „So können störende Umwelteinwirkungen in Teilsystemen abgekapselt und neutralisiert werden“. (Ebd.) Schon in Grundrechte als Institution dreht es sich immer wieder um intensivierte Interdependenzen, die erhebliche Kommunikationslasten mit sich bringen (1965, S. 19), darum, dass „die Fülle der verhaltensrelevanten Informationen und Informationsmöglichkeiten ins Ungeheure wächst und daher allein schon ihre Quantität die Komplementarität des Verhaltens gefährdet“ (ebd., S. 92), und um Systemgrenzen, die daher gezogen, stabilisiert und „als Leistungsgrenzen konstant gehalten werden“ (ebd., S. 19). Zu Grenzerhaltung als Problem formaler Organisation s. Luhmann (1964/1995, S. 59 ff., S. 126 ff., S. 220 ff.). 3 So Narr/Runze (1974, S. 52 ff.), die von einem horror potenialitatis sprechen, und „vom ewig heckenden Möglichkeitsbauch ,Welt‘“ (ebd., S. 57). „Der sprudelnde, ewig kreißende Möglichkeitsberg, unterteilt und vorübergehend gebändigt in den jeweiligen Systemen und ihren Umwelten, erscheint als so etwas wie objektivierte Angst.“ Folgt die Parallele zu Kierkegaard. 4 Rudolf Stichweh (S. 243), dem ich für etliche Hinweise dazu danke, berichtet (vielleicht aus Erinnerung an persönliche Gespräche), dass Luhmann „von der Reduktion von Komplexität später fast nur noch ironisch“ gesprochen habe. Zumindest ist der explizite Bezug auf

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guten Sinn von Interdependenzunterbrechungen an bezeichnender Stelle erlischt: bei Interdependenzen innerhalb organisationaler Hierarchien, die ich unten – im 4. Abschnitt – unter dem Titel „Verschleifungen“ behandeln werde. Ich beeile mich, dem Theoriemotiv ,Reduktion von Komplexität‘ Respekt zu zollen, einen etwas widerwilligen Respekt allerdings, der von unguten Erinnerungen an Gehlen, an dessen durchaus bedenkenswerte These von der Entlastungsfunktion der Institutionen5 und dann aber an den üblen Gebrauch überschattet wird, den er davon gemacht hat. Jedenfalls: „Komplexität ist derjenige Gesichtspunkt, der vielleicht am stärksten die Problemerfahrungen der neueren Systemforschung zum Ausdruck bringt“ (Luhmann (1984), S. 45). So ist es unanstößig formuliert, „Angst vor dem Chaos“6 ist abdiese Formel zurückgegangen. In Die Gesellschaft der Gesellschaft aber (1997, s. S. 134 ff., bes. S. 144 und S. 506 f.) bleiben Komplexität und ihre Reduktion Thema, wenn auch mit befremdlich distanzierter Einleitung: „Organisierte (strukturelle) Komplexität steht seit langem und nach wie vor im Treffpunkt theoretischer und methodologischer Überlegungen. Dies sei die zentrale Problemstellung der Systemtheorie, meint Helmut Willke“ (ebd., S. 135; Hervorh. G. O.) – fast, als hätte Luhmann damit nichts zu tun (der aber diesem Problem sogleich den ganzen Abschnitt IX von Kapitel 1 und, wie er ausdrücklich hinzufügt, später weitere Kapitel – 2 und 4 – widmet). Ähnlich distanziert die Rede vom „Ausdruck ,Reduktion von Komplexität‘“ in Organisation und Entscheidung (2000, S. 33), der aus einer älteren Kognitionspsychologie stamme – als hätte nicht er selbst auf dieser Denkfigur seine Systemtheorie fundiert, und als ließe er sie nicht in Organisation und Entscheidung und auch davor unter anderen Namen und vielleicht auch mit gewissen Umbauten wiederaufleben, etwa als „Unsicherheitsabsorption“ (ebd., S. 183 ff.; S. 222 f., S. 306 f.), im Vorwort bestimmt als eine zentrale Funktion von Organisationen: „Die Prämisse von Organisationen ist das Unbekanntsein der Zukunft und der Erfolg von Organisationen liegt in der Behandlung dieser Ungewissheit …“ (ebd., S. 10). Die angedeuteten Umbauten, so vermutet Stichweh (schriftl. Mitteilung), gehen vielleicht in Richtung auf eine „Verschiebung von adaptiver Reduktion von Komplexität zu emergentem Aufbau des Systems“ via Aufbau interner Komplexität. Als adaptiv-aktivischer Zwischenschritt könnte da gelten, dass Luhmann (1988b) die Justierung des Verhältnisses von System (Organisation) und Umwelt in einem wichtigen organisationstheoretischen Beitrag als Sache des Lavierens zwischen Redundanz und Varietät bestimmt hat – beides, die Erhöhung der Redundanz des Systems wie auch die Erhöhung seiner Varietät seien Wege, auf denen „ein System auf Turbulenzen … in seiner Umwelt reagiert …“ (ebd., S. 174). 5 Und Organisationen, die Gehlen in „Urmensch und Spätkultur“ (S. 37 ff.) – mitsamt ihrer Verselbständigungsstendenz einschließlich einer Tendenz zu selbstreferentieller Zweck-Mittel-Verkehrung („selbstzweckhafte Eigengesetzlichkeit“, ebd., S. 38) – recht genau im Blick hatte. Zur Nähe zu Gehlen s. z. B. Luhmann (1964/1995, S. 55, Fn. 2; 1965, S. 65 f., Fn. 37; 1970, S. 132, Anm. 18; 1973, S. 183 f., Fn. 27), jeweils eher beiläufig. 6 Siehe, ohne Bezug zu Luhmann, Schumacher (1972). Wenn Emil Angehrn (S. 19) in dem Beitrag „Angst als Grundproblem der Philosophie“ schreibt: „Symptomatisch ist zum Teil der heroische Ton der Beschwörung des Aushaltenkönnens von Kontingenz und Bodenlosigkeit“, dann erinnert das durchaus an Luhmanns Rede vom Flug über den Wolken am Anfang von „Soziale Systeme“ (1984, S. 13) – „Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen“ – und vom Nachtflug der Eule der Minerva am Ende (ebd., S. 661) – „Wir haben die Geräte, um ihn zu überwachen …“. Vgl. auch diese Formulierung aus „Legitimation durch Verfahren“ (1983, S. 252): „Hält man eine solche Transformation (Umstellung von einem Grundbestand fester, allgemein verbreiteter Rechtsüberzeugungen“ auf „Heterogenität und Fluktuieren“,

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gekühlt, heruntergekühlt zu „Problemerfahrungen“, das Chaos zu Komplexität, und wer wollte bestreiten, dass es damit Probleme gibt und dass sie uns zu überfordern und zu überborden drohen? Mehr noch: Wer würde nicht teilen, was Luhmann, zum Beispiel, zur Interdependenz von Staat und Wirtschaft gesagt hat (1965, S. 114): Sie könne „nicht tauschförmig organisiert werden“; Interdependenzunterbrechungen (sollten) verhindern, dass Staatsentscheidungen davon abhängen, „wer was dafür bietet“. Erforderlich seien da „blockierende Institutionen, die dieser Gefahr entgegenwirken“ (ebd., S. 24; s. a. Luhmann (1987), 25 ff.; zu Interdependenzen zwischen Recht und Politik und deren notwendigen Unterbrechungen s. Luhmann (1987), S. 151 ff.). Die Szene, in der das Drama der Überfülle der Möglichkeiten, der Kontingenz, der dräuenden Komplexität und der Notwendigkeit der Reduktion, der Eindämmung der lauernden Beliebigkeit bei Luhmann zur Aufführung kommt, ist wohlbekannt. Sie hat es in sich, aber das sieht man ihr nicht gleich an: „Zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle auch immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe, selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen: Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung … füreinander undurchsichtig.“ (Luhmann (1984), S. 156) Es dräut „Unberechenbarkeit“, reduziert durch „bloßes Unterstellen“ von Determinierbarkeit (ebd.). Das ist eine Theorieszene im Sinne von Iris Därmann (2013), wenn auch eine, die im Vergleich zu den ganz berühmten – Platons Polis-Genese, Hobbes’ Krieg aller gegen alle, Darwins „Kampf ums Dasein“ und Freuds Vatermord – weniger spektakulär, vor allem weniger gewaltsam daherkommt, mit einem Anschein von Harmlosigkeit. Därmann (S. 48), die jene bellizistischen Szenen vor Augen hat, spricht „von Theorieszenen deshalb, weil diese, ausgehend von der mythischen Inszenierung eines vitalen Konflikts oder einer traumatischen Gewalt, nicht wiederum eine mythische, sondern eine programmatische Lösung und bezwingende Lösung zugleich anbieten, die zur exklusiven Angelegenheit der jeweiligen Theoriebildung selbst erhoben wird … Die Theorieszene ist der mythische Augenblick der Disjunktion zwischen einer stets konfliktuösen Realität, einer auf der Lauer liegenden, schwebenden oder gar ausgebrochenen Gewalt und ihrer theoretischen Lösung.“ Bei Luhmann ist der Andere nicht mehr gleich ein Krieger, nicht der schwarze Mann, nurmehr eine schwarze Schachtel, „ein universalisierter homo homini lupus“, wie Narr und Runze (S. 55) dazu gesagt haben. Därmann (S. 58) hat übrigens darauf aufmerksam gemacht, dass Letzteres in den Asinaria des Plinius so hieß: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wenn er nicht weiß, welcher Art (sein Gegenüber) ist“ (Asinaria II, S. 495) – eine black box eben. Hobbes’ Krieg aller gegen alle ist zur Undurchsich-

G. O.) für ausgeschlossen, weil auf Flugsand nicht sicher gebaut werden könne, verstellt man sich die Möglichkeit, das Thema Legitimation durch Verhalten angemessen zu behandeln.“

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tigkeit aller gegen alle dematerialisiert7, und Luhmanns Angebot „bezwingender Erklärung“ wird mit den Interdependenzen „mutualistischer Konstitution“ (Luhmann (1984), S. 157, S. 64 f.) und sehr bald vor allem mit der Funktionalität von Abschottungen operieren: nach außen autopoietische Geschlossenheit psychischer und sodann sozialer Systeme, nach innen interne Interdependenzunterbrechung, Abschottungen, die, versteht sich, durch Interpenetration (Luhmann (1984), S. 286 ff.) oder, später, strukturelle Kopplung Permeabilität oder wenigstens Ausschlussfähigkeit zurückgewinnen. „Organisation ist“, wird es sodann bei Luhmann (1997, S. 829) heißen, „eine bestimmte Form des Umgangs mit doppelter Kontingenz“, und wenn auch der Weg von der scheinbar harmlosen Theorieszene der black boxes weit ist, sieht man daran deren weitreichende Implikationen für Luhmanns ganze Theoriearchitektur.

II. Interdependenzunterbrechungen8 : vier Fälle Interdependenz ist ein Allerweltsbegriff, und daran leidet auch Luhmanns Begriff der Interdependenzunterbrechung. Interdependenz gibt es, wohin das Auge sieht. Das aber macht einen guten Teil der „Problemerfahrungen der neueren Systemforschung“ aus, die zitierte Sorge, „daß alles mit allem zusammenhängt“ und allfällige Interdependenzen allseitige Effektübertragungen, Dominoeffekte in alle möglichen Richtungen, zur Folge haben könnten – gäbe es da nicht segensreiche Interdependenzunterbrechungen. Selbstverständlich gehören Interdependenzen – „social entanglements and commitments“ und „strict conditions of interdependence“ (Courpasson/Dany, S. 1242) – zu den selbstreferentiellen Hervorbringungen sozialer Systeme: wechselseitige Kommunikation, wechselseitiges Handeln, wie es in „Folgen und Funktionen forma7 Physische Gewalt kommt in Macht (Luhmann (1975)) an drei Stellen, in Soziale Systeme nurmehr an einer Stelle überhaupt vor, dort unter dem Gesichtspunkt ihrer Beschränkung (sc. via Gewaltmonopol) und ihrer Erübrigung durch Hierarchie (Luhmann (1984), S. 539). In Macht (1975, S. 61) wird physischer Zwang eher possierlich als „Anstoßen der Körper“ erläutert und physischer Gewalt nicht mehr als der Gesichtspunkt abgewonnen, „daß sie die Beziehung der symbolischen Ebene zur organischen Ebene vermittelt, ohne dabei andere, unpolitische Funktionskreise wie Wirtschaft oder Familie zu engagieren. Sie ermöglicht dadurch die Ausdifferenzierung spezifisch politischer Macht – immer gebunden an die Bedingung, daß Macht selbst nicht in physische Gewalt ,ausartet‘.“ (Hervorh. i. Orig.) Das ist dürftig, ziemlich unklar und kaum akzeptabel. Krieg oder, anderes Beispiel, die Gewalt an Sklaven lässt sich damit nicht erfassen. In Organisation und Entscheidung (Luhmann (2000), S. 201) heisst es, dass „die Drohung mit physischer Gewalt oder mit Entlassung …“ vermutlich „in Organisationen eine geringe Rolle spielt“. Dass sie aber auch in Organisationen im Hintergrund, als latente, aber jederzeit wirksame Drohung eine große, lediglich invisibilisierte Rolle spielt, geht darin unter. Max Weber (1973, S. 325 – 327) erinnert da an „Leute mit Pickelhauben“, die zur Not kommen und das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen. 8 S. vor allem Luhmann (1984, S. 65, S. 631 ff., S. 644; 1997, S. 845 ff.; 2000, S. 394 ff.); für eine umsichtige Darstellung, der ich viel verdanke, Drepper (2003, S. 116 f.; S. 232 ff.).

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ler Organisation“ (1964/1995, S. 190) noch heißt. Das impliziert, dass Interdependenzunterbrechungen durchaus dysfunktional sein können, so, wenn in Organisationen eine Hand nicht weiß, was die andere tut; wenn die Produktentwicklung ohne Rücksicht auf Produktionserfordernisse oder die Produktion ohne Rücksicht auf die Belange des Vertriebs erfolgt; wenn Call-Center die Verbindung zu den Kunden kappen statt sie zu stärken. Ebenso selbstverständlich aber gehört zur Selbstkonstitution sozialer Systeme die Unterbrechung von Interdependenzen – zur Umwelt und im Inneren des respektiven sozialen Systems. Ich unterbreche nun meinerseits diese Alles-mit-Allem-Zusammenhänge, indem ich mich auf die vier Fälle von Interdependenzunterbrechungen konzentriere, die im Lichte der Luhmannschen Theorie als wünschenswert, wenn nicht notwendig, jedenfalls funktional erscheinen: Interdependenzunterbrechungen (1.) zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen (Wirtschaft, Recht, Politik etc.), (2.) innerhalb dieser Teilsysteme, (3.) zwischen Organisationen und ihrer Umwelt und (4.) innerhalb von Organisationen. Man wird sehen, dass nicht nur in den Fällen (3.) und (4.), sondern auch in den Fällen (1.) und (2.) Organisationen eine tragende Rolle zukommt – gerade für Luhmann. Er ist also, ganz im Sinne seiner beherrschenden Theoriebewegung, stark auf diese funktionalen Interdependenzunterbrechungen fokussiert, auch wenn er selbstverständlich dysfunktionale nicht ignoriert. Ich komme immer wieder einmal darauf zurück. (1) Interdependenzunterbrechungen zwischen Teilsystemen. Paradigmatisch: „Politische Macht soll nicht käuflich sein“ (Luhmann (1970), S. 124), und das Recht, die Wissenschaft, die Kunst etc. auch nicht. Die Politik soll sich aus Rechtsprechung heraushalten – diese Interdependenzunterbrechung nennt man Gewaltenteilung –, und auch aus der Wirtschaft, und so fort. Aber Abgeordnete erhalten Diäten, Richter und manche Wissenschaftler Beamtengehälter, Universitäten Drittmittel. Politiker sind als Parteimitglieder und als Gesetzgeber tätig. Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland werden zwischen den Parteien ausgekungelt, Mitglieder des Supreme Court in den USA vom Präsidenten ernannt. Und selbstverständlich mischen sich „die Wirtschaft“ in „die Politik“ und „die Politik“ und „das Recht“ andauernd in „die Wirtschaft“ ein, via Regulation, Eigentums-, Vertrags-, Arbeits-, Kartellrecht etc., auch, nota bene, via Deregulation. Das alles weiß, versteht sich, auch Luhmann und operiert da mit dem Konzept struktureller Kopplung (und Teubner, 1998, für Fälle unerwünschter Interdependenzen mit dem Konzept einer strukturellen Korruption der Standards der Teilsysteme), und es dementiert nicht den guten Sinn von Interdependenzunterbrechungen – etwa von Gesetzen gegen Korruption oder Bestimmungen zur richterlichen Unabhängigkeit. Aber es macht erstens darauf aufmerksam, dass es Interdependenzen und Interdependenzunterbrechungen nur in-Hinsicht-auf bestimmte Sinnaspekte gibt, nur im Sinne von „Sofern-Abstraktionen“ (siehe unten, Abschnitt 3; denk’ ich an Verkehrsminister vom Schlage Dobrindt oder Scheuer in der Nacht, wünschte ich mir zum Beispiel in einer Hinsicht – Dieselskandal –

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mehr Interdependenzunterbrechung, in anderer Hinsicht – Regulation – mehr Interdependenz des Verkehrsministeriums mit der Automobilindustrie). Zweitens deutet sich schon an, dass dabei zwei Probleme zu schaffen machen, das der Mehrdeutigkeit und das der Vagheit, die es beide an sich haben, Interdependenz zu begünstigen und Interdependenzunterbrechung zu erschweren. Mit Blick auf gesellschaftliche Teilsysteme heißt das m. E., dass es in praxi nicht um Ausschließlichkeit des einen oder anderen systemspezifischen Codes geht, sondern um Dominanz, was in puncto Interdependenzunterbrechung beträchtliche Probleme bereitet.9 Drittens hapert es, fast überflüssig zu sagen, in so manchen Hinsichten an der Funktionalität von Interdependenzunterbrechungen. Es ist nicht nur empirisch falsch, um es nur an diesem Beispiel zu erläutern, dass sich Politik und Recht (ganz) aus der Wirtschaft heraushalten, es ist auch normativ – selbst im begrenzten Sinne praktischer Funktionalität – nicht ernstlich begründbar, nicht einmal durch noch so marktliberale Konzepte. (Ein Rechtspositivismus à la Kelsen, der schon die Rechtsprechung ins Reich der Politik verweist, ist für mich ein weiteres Beispiel: So, mit einer derartigen Unterbrechung der Interdependenz von Recht und Politik, funktioniert Recht nicht, so kann es nicht funktionieren.10 Auch die wechselseitigen Abhängigkeiten von Wissenschaft und Politik können via Verbot von Werturteilen nur unter schweren Beeinträchtigungen unterbrochen werden – früher nannte man das „Halbierung der Vernunft“; Habermas (1969).) Nun ist es unübersehbar, dass Organisationen Einrichtungen sind, mittels derer die Interdependenzunterbrechungen zwischen Teilsystemen zu Strukturen gerinnen – jedenfalls auf den ersten Blick, und auf ziemlich grobkörnige Weise. In Regierungen, Gerichten, Universitäten, Parteien, Unternehmen dominieren, in meiner Terminologie, je andere Codes, und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten werden nicht zuletzt im Wege organisationaler Schottenbildung unterbrochen. Sogar für Interdependenzherstellung kristallisieren sich dann wiederum eigene Organisationen – Luhmann (2000, S. 398) nennt sie „extravagante Organisationen“ – und Organisati9

Ähnlich Martens (1997); zu ,Vagheit‘ und ,Mehrdeutigkeit‘ generell s. Ortmann (2013; 2015). Ich weiß nur von wenigen Stellen, an der Luhmann in ähnlicher Weise von der Denkfigur der Dominanz Gebrauch macht. Eine betrifft „das Ausbilden dominanter bürokratischer Strukturen“ (Luhmann (1987), S. 110) als Resultat und Faktor politischer Evolution. Mit Dominanz ist da ausdrücklich nicht das Dominieren von Akteuren gemeint, nicht „Domination durch einen Ordnungswillen …, sondern … Dominieren bestimmter ökologischer Relationen zwischen Systemen und Umwelten“, „die Ausdifferenzierung einer dominanten Struktur, an die sich parasitäre Erscheinungen anschließen“, zum Beispiel parasitäre Nutznießer jener bürokratischen Strukturen. Das zeugt von Luhmanns scharfem Sinn für Selbstorganisation, aber man fragt sich, warum er diese „ökologische Dominanz“ partout nicht auch systemspezifischen Codes zubilligen will, wie es von hier aus doch so nahe läge. Danach aber klingt es, wenn Luhmann in Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988a, S. 322) fragt, „ob … nicht eine latente (sic) Dominanz der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft sich durchsetzt.“ 10 Kelsen (2008, S. 100 ff.) verweist die – auch aus seiner Sicht notwendige – richterliche Rechtschöpfung ins Reich der Rechtspolitik, von der die Reinheit des Rechts selbst nicht berührt werde.

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onsformen wie etwa Hutters (1989) Konversationskreise, „private governance regimes“ à la Teubner et al. (Teubner 1998; Teubner/Zumbansen 2000; Fischer-Lescano/Teubner 2006) und teilsystemübergreifende interorganisationale Netzwerke heraus, die sich im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung sozusagen auf die Unterbrechung von Interdependenzunterbrechungen – auf strukturelle Kopplungen – spezialisiert haben, mehr als ein Indiz dafür, dass Interdependenzunterbrechungen selbst zwischen Organisationen, die je verschiedenen Teilsystemen angehören oder nahe sind11, und in denen je verschiedene Codes dominieren, selbstverständlich keineswegs nichts als funktional sind (mehr dazu bei Drepper (2003), S. 237 ff.). Zweifel an der Logik funktionaler Differenzierung und der Wirksamkeit dafür notwendiger Interdependenzunterbrechungen hat Luhmann übrigens auch artikuliert und u. a. mit den „eigendynamischen Fluktuationen des Weltwirtschaftssystems (1995, S. 250) begründet, ferner mit „heute eher störende(n) oder allenfalls transitorisch nutzbringende(n) ,survivals‘ älterer Gesellschaftsformationen“ (ebd., S. 251), nämlich „Reziprozitätsketten, Nutzfreundschaften als Netzfreundschaften, Patron/ Klient-verhältnisse(n)“, also beide Male mit einem Mangel an Interdependenzunterbrechungen. (2) Interdependenzunterbrechungen innerhalb der Teilsysteme. Auch innerhalb der Teilsysteme braucht es Interdependenzunterbrechungen via Ausdifferenzierung von Organisationen mit spezialisierten Funktionen – in der Politik etwa die zwischen Regierungen, Bürokratien und Parteien (dazu Luhmann (1987), S. 39), im Recht zwischen Organen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung, in der Wissenschaft zwischen Fachdisziplinen oder auch zwischen Universitäten und Organisationen der Forschungsförderung, in der Wirtschaft zwischen konkurrierenden, aber auch zwischen kooperierenden Unternehmen oder etwa zwischen Unternehmen und ihren Verbänden, um nur ganz grobe Differenzierungen anzuführen. Luhmann (2000, S. 396) hat ausdrücklich betont: „die funktionale Differenzierung kann die notwendigen Interdependenzunterbrechungen nicht selber leisten, sie ist dazu aus leicht erkennbaren Gründen strukturell nicht in der Lage. Gerade die operative Geschlossenheit und Autonomie der Funktionssysteme steigert … Eigendynamik und wechselseitige Betroffenheit, Unabhängigkeit und Abhängigkeit. Und eben deshalb muss die Gesellschaft über funktionale Differenzierung hinausgehen und ein anderes Prinzip der Systembildung verwenden, um sich mit Ultrastabilität und mit hinreichender lokaler Fähigkeit der Absorption von Irritationen zu versorgen, nämlich Organisation.“ (Hervorh. i. Orig.) 11

Ob Organisationen jeweils spezifischen Funktionssystemen zuzurechnen sind, bleibt bei Luhmann erstaunlich unklar; s. dazu Drepper (2003, S. 307), der dafürhält, dass sie außerhalb der Funktionssysteme, also in deren Umwelt operieren. Dass aber, zum Beispiel, Unternehmen außerhalb des Wirtschaftssystems, in seiner Umwelt operieren, wird nicht jedem einleuchten. In Wirtschaft der Gesellschaft (1988, S. 308) heißt es denn auch: „Alles Handeln in Organisationen ist zugleich Handeln im Wirtschaftssystem …“. Derlei Unstimmigkeiten lassen sich leicht vermeiden, wenn man statt Ausschließlichkeit die Dominanz teilsystemspezifischer Codes annimmt.

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Auch hier gibt es die unter (1) geltend gemachten Probleme der Hinsichtspezifität von Interdependenzen und Interdependenzunterbrechungen, der Unschärfe der Ränder und der Mehrdeutigkeit von Handlungen respektive Kommunikationen. Man könnte geradezu sagen, dass die Form der Organisation nicht zuletzt der Absorption solcher Irritationen dient, die dadurch evoziert werden. Und wieder zeugen, luhmannianisch gesprochen, auf strukturelle Kopplung spezialisierte Organisationsformen, etwa Netzwerke, Projekte, Verbände, davon, dass Abschottungen auch zwischen solchen Organisationen, die einem Teilsystem angehören oder nahestehen, nicht nur funktional sind. (3) Interdependenzunterbrechungen zwischen Organisationen und ihrer Umwelt. In der Organisations- und Managementforschung etabliert ist der Resource-Dependence-Ansatz: Organisationen sind von Ressourcen abhängig, die sie aus der Umwelt (und dort, versteht sich, nicht zuletzt von anderen Organisationen) beziehen müssen, und sie müssen dafür Sorge tragen, dass „die Umwelt“ sie ihnen zur Verfügung stellt: Interdependenz (so auch Luhmann, z. B. 1984, S. 252; 2000, S. 37, S. 70). Mit Blick darauf sprechen Pfeffer/Salancik (1978), auf die dieser Ansatz zurückgeht, übrigens ausdrücklich von „Kosten der Interdependenz“ (dazu s. Küpper/Felsch, S. 105 f.). „The physical segregation of firms“, merken Courpasson/Dany (S. 1250) an, „is counterbalanced by a pervasive mobility, transversal cooperation, exchange, forums and projects“, besonders auch in Form interorganisationaler Netzwerke. Und wieder scheint es mir bezeichnend, mit welcher Reserve, um nicht zu sagen: kaum verhohlener Skepsis Luhmann diesen Unterbrechungen der Interdependenzunterbrechung in Soziologische Aufklärung 6 und in Organisation und Entscheidung begegnet. Seine Verdikte lauten: „funktionale Differenzierung … ständig kurzgeschlossen“ (1995, S. 254), „Ressource der Illegalität“ leicht zur Hand (ebd., S. 256), „Arrangiersysteme“ (ebd.), „Modethema“ (2000, S. 385) und „Parasiten“ (ebd., S. 386), und der gesamte ihnen gewidmete Abschnitt auf den Seiten 407 – 413 von Organisation und Entscheidung ist einem unermüdlichen „zwar-aber“ gewidmet – zwar gibt es diese Netzwerke, aber sie stammen doch daher, „dass die Turbulenzen aus der Umwelt der Organisationen weitgehend durch andere Organisationen erzeugt werden“ (ebd. S. 407); zwar sieht das nach „embeddedness“ aus, aber „das sind analytisch unscharfe Vorstellungen geblieben“ (ebd., S. 408); zwar gewinnen sie „zunehmende Aufmerksamkeit“, indes sieht man da nur, „was aber immer schon der Fall war“ (ebd., S. 410) und, quod erat demonstrandum, „dass die Bildung von Systemgrenzen übergreifenden Netzwerken voraussetzt, dass Systeme als distinkte Einheiten, die sich selbst reproduzieren, überhaupt existieren.“ (Ebd., S. 411) Das alles spräche also „nicht gegen die These, Organisationen seien autopoietische Systeme.“ (Ebd. S. 411 f.) Der Logik – Interdependenz setzt Independentes voraus – kann man ja folgen, aber umso mehr fragt sich, warum uns Luhmann diese Selbstverständlichkeit sechs Seiten lang einzuschärfen für nötig hält, unter erkennbarem Widerwillen gegen die vermeintliche Herabsetzung der Distinktheit der Organisationen. Als ob sein Reinheitsbegehren (s. u.) hier (allzu früh) Unrat wittert. Allzufrüh, damit ist gemeint: Luhmann hätte diese seine Skepsis, zum Beispiel, der Interdependenzeinrich-

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tung ,Kartell‘, vielleicht auch spezifischen Formen oder Aspekten interorganisationaler Netzwerkbildung (etwa unter den Stichworten ,Filz’ oder, siehe unten, ,Verschleifung‘) widmen sollen und nicht schon Organisationsnetzwerken schlechthin. Dass Interdependenzunterbrechungen oft stören, Interdependenzen zwischen Organisationen und ihrer Umwelt vonnöten sind, versteht sich von selbst. Andererseits bedarf es im Verhältnis zur Umwelt praktisch wirksamer Interdependenzunterbrechungen. Arbeitsverträge, Eigentumsrechte, Mitgliedschaftsregeln, Dienstausweise, Zugangskontrollen, Regeln zu Betriebsgeheimnissen und so manches Andere können in diesem Licht gesehen werden. Um hier Hinsichtspezifitäten, Vagheiten, Mehrdeutigkeiten und Dysfunktionalitäten in den Blick zu rücken, nenne ich die vielleicht wichtigste, wohlbekannte Spielart der Interdependenzunterbrechung zur Umwelt, die auf ökonomisch-rechtlicher Ebene liegt: die (von Luhmann nur mit spitzen Fingern berührte) Externalisierung von Kosten – im weitesteten Sinne – des organisationalen Handelns (s. nur Luhmann (1986), S. 118 ff.), intern sehr funktional, extern in vieler Hinsicht sehr dysfunktional. Darin schlägt sich die Interdependenzunterbrechung namens ,Eigentum‘ (dazu Luhmann (1965), S. 108 ff., bes. S. 120 ff.; (1988a), S. 188 ff.) und näherhin das Spezifikum der Moderne nieder, dass auf der Ebene von Organisationen eine gesellschaftliche Arbeitsteilung etabliert ist, die nicht nur den einen Organisationen die Produktion, anderen Forschung und Lehre, wieder anderen die Politik als Funktion zuweist etc., sondern allen Organisationen eine Beschränkung auf je spezifische Organisationszwecke zubilligt. Das impliziert eine Unterbrechung gegenüber zugehörigen, aber abschott- oder abschattbaren Wertaspekten und gar moralischen Gesichtspunkten, nach dem berühmt-berüchtigten Luhmannschen (1973, S. 46) Dictum: „Der Zweck soll die Mittel heiligen. … Das ist seine Funktion.“12 Organisationen sind die herausragenden, nahezu flächendeckenden Einrichtungen der gesellschaftlich legitimierten Interdependenzunterbrechung zwischen Zwecken, nämlich Organisationszwecken, und allen anderen Wertaspekten, die in ihrer Umwelt Geltung haben (können). Daraus resultieren sodann neue Interdependenzen derart, dass besonders Unternehmen – Stichwort rent-seeking – auf jene anderen (rechtlichen, politischen, sozialen, ökologischen etc.) Wertaspekte und zugehörigen Praktiken und deren Regulationen (i. w. S.) gezielt und mit großem Erfolg Einfluss nehmen, strukturelle Kopplungen der ganz heiklen Art. (Das wird von Luhmann gern heruntergespielt, um nicht zu sagen: dramatisch unterschätzt; s. nur diese Formulierung aus Organisation und Entscheidung (2000), S. 402: „Auch an Einflussnahmen durch Organisationen des Wirtschaftssystems wäre zu denken, die sicher punktuell … erfolgreich sein mögen, aber kaum in der Lage sein dürften, das politische System … zu beeinflussen.“) 12 So schon Luhmann (1965, S. 87, S. 117). Luhmann (1973, S. 47, Fn. 47) weist in diesem Zusammenhang auf Deweys Reflexion des Verhältnisses von „means and ends“ hin, die wohlgemerkt keine ethische Rechtfertigung der Heiligung der Mittel durch die Zwecke enthält; s. Dewey (1922, S. 24 – 42; 1939, S. 40 – 50).

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(4) Interdependenzunterbrechungen innerhalb von Organisationen. Dass Interdependenzunterbrechungen im eigenen Inneren zur raison d’être von Organisationen gehören, versteht sich fast von selbst. Arbeitsteilung, Arbeitsverträge mit ihren Stellenbeschreibungen, die so generierten Stellen und Stellenbesetzungen, Abteilungsgrenzen, hierarchische Trennung von Disposition und Ausführung – memento F. W. Taylor und Erich Gutenberg –, Dienstwege und chains of command, die förmliche Regelung von Zuständigkeiten, Vertretungs- und Zeichnungsrechten, Verantwortlichkeiten, Ressourcenzuweisungen, Budgets, Kontrollrechten, Karrieren und Entgeltdifferentialen, um nur dies zu nennen, all das zehrt von respektiven Abschottungen. Erstaunlich ist es da, dass Luhmann in seinem späten organisationstheoretischen magnum opus, Organisation und Entscheidung, Interdependenzunterbrechungen fast ausschließlich im Verhältnis von Organisation und Umwelt (s. oben, (1) – (3)) thematisiert. Am ehesten tauchen interne Interdependenzunterbrechungen in diesem Buch unter dem Titel „lose Kopplungen“ auf – dort im Kontrast zu Technik als Inbegriff fester Kopplungen (Luhmann (2000), S. 370 ff.). Auch darin scheint eine gewisse Vorliebe Luhmanns für Abschottungen auf (obwohl er selbstverständlich sieht, dass Organisationen feste und lose Kopplungen neben- und miteinander realisieren müssen). Er zeigt sich nämlich, einmal mehr, beunruhigt von einem Problem, das „eine fast unbegrenzte Technisierung der Arbeitsvorgänge“ (ebd., S. 366) durch die Computertechnik mit sich bringe, die Gefahr nämlich, „dass Ausfälle sich kaskadenförmig auswirken“. Das erinnert an Charles Perrows (1987) Analyse, der zufolge normale Katastrophen in High-Tech-Systemen sich erstens der Komplexitäten, zweitens aber der allzu festen Kopplung der organisationalen Interaktionen geschuldet sind. Folgerichtig lauten Luhmanns Fragen in diesem Zusammenhang: „Wie viel ,lose Kopplung‘, wie viel ,Zufallsabhängigkeit‘ kann gerettet werden? Und wie kann verhindert werden, dass Ausfälle sich kaskadenförmig ausbreiten?“ (Luhmann (2000), S. 366) Gewiss, die Entgegensetzung loser und fester Kopplungen steht orthogonal zu der von Interdependenz und Interdependenzunterbrechung, und das ist Luhmann selbstverständlich klar. Gerade deshalb ist es interessant, wie er an dieser Stelle seine Beunruhigungen und Sympathien verteilt. Erstere gelten, wie immer, drohenden Kaskaden des Chaos, und dies so sehr, dass er lose Kopplungen durchgängig (s. a. ebd., S. 348, S. 374 f., S. 394 ff. und den vorletzten Satz des ganzen Buches, S. 474) mit funktionaler Interdependenzunterbrechung assoziiert, mit (Ultra-)Stabilität trotz Irritabilität: als „Abfangvorrichtung für Risiken“ (ebd., S. 394; dort auch Konkurse und Ehescheidungen, die sich nicht „kaskadenhaft“ ausbreiten sollten). Der letzte Satz des gesamten Buches, der in dem resümierenden Kapitel „Theorie und Praxis“ steht und also sein letztes Wort zur praktischen Bewandtnis seiner Organisationstheorie ist, lautet, „dass ,loose coupling‘ eine grundlegende Bedingung für Systemstabilität ist“ (ebd., S. 474). Karl Weick (1976), von dem die organisationtheoretische Ausarbeitung des Konzepts stammt, hatte eine solche Einseitigkeit wohlweislich vermieden. Er hatte den Vorzügen loser Kopplung – etwa, ganz im Sinne Luhmanns, dass der Zusammenbruch eines Systemteils nicht gleich auf andere

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oder auf das ganze System durchschlägt – deren sehr erhebliche Nachteile gegenübergestellt: (1.) Trägheit, (2.) schrullige Interpretationen der und Antworten auf die Umwelt, (3.) Probleme mit der Einheitlichkeit und Standardisierung, (4.) Schwierigkeiten bei der Diffusion von Neuerungen innerhalb der Organisation, (5.) Probleme bei der Entdeckung und Behebung von Komponentenfehlern, (6.) Schwierigkeiten der Akteure, ihre Autonomie über die Grenzen ihrer Einheit hinaus zur Geltung zu bringen und (7.) irrationale und schwer veränderliche Kapitalallokation. In der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie eines Nils Brunsson figurieren lose Kopplungen zwischen talk, decision und action – anders entscheiden und handeln als reden – geradezu als organisationsnotorische Scheinheiligkeit („organization of hypocrisy“, Brunsson 1989). Auch das alles hat der Weick- und Brunsson-Kenner Luhmann selbstverständlich gewusst. Umso bemerkenswerter sein doch kaum verhohlenes und reichlich pauschales Loblied auf lose Kopplungen in Organisation und Entscheidung. Das ist umso bedenklicher, als lose Kopplungen zwischen Regeln und Anwendung, zwischen Arbeitsverträgen und ihrer Erfüllung ferner jene dysfunktionalen Weisen ihrer Verschleifung durch eigennützige Prinzipale ermöglichen, von denen ich im 4. Abschnitt handeln werde. Diese Einseitigkeit, noch einmal, ist nicht der ganze Luhmann, der dafür viel zu umsichtig, raffiniert und paradoxiebewusst ist. Eher ist es nach meinem Eindruck so, dass sich ein Prae für jene Sorgen und Vorlieben (die ja ohnehin ihre Berechtigung haben) in den Nischen und Rissen einer Theoriearchitektur, fast: hinter dem Rücken des Architekten, immer wieder einmal einschleicht, einnistet und etwas einseitige Geltung verschafft. Dieses Prae hatte sich viel deutlicher in Folgen und Funktionen formaler Organisation darin ausgedrückt, dass dort die Funktionalität der eingangs dieses Unterabschnitts (4) angeführten Abschottungen – via Arbeitsteilung, Stellenstruktur, Hierarchie etc. – der ganz beherrschende Fluchtpunkt der Theoriebewegung war. Das aber steht in einem eigentümlichen Kontrast zu einem Eindruck, der sich heutzutage, gestützt von empirischer, teils anekdotischer Evidenz aufdrängt: dass es nämlich gerade solche Abschottungen und (siehe unten, Abschnitt 4) resultierende Verschleifungen sind, die als hinderlich, störend, hemmend, motivations- und kreativitätszerstörend wahrgenommen werden, besonders in großen Unternehmen, mit der Folge, dass längst eine Gegenbewegung im Gange ist, teils innerhalb von Organisationen, teils außerhalb, nämlich in Form von Start-ups, oft gegründet und getragen von Akteuren, die diese Abschottungen gründlich leid sind. „Silos“, „Kästchendenken“, „Schrebergärten“, „Kleinteiligkeit“, „jeder für sich“ – das sind nur einige pejorative Charakterisierungen eines Mangels der Orientierung an Kooperation, an Integration, am Gefüge des Ganzen von Projekten oder ganzen Organisationen. Unter (1) bis (3) hatte ich schon an die Selbstverständlichkeit erinnert, dass auch Interdependenzunterbrechungen ihre dysfunktionalen Seiten haben. Im Inneren zumal großer Organisationen sind das die zur Zeit ganz hervorstechenden Seiten. Das gilt auch für diejenige Interdependenzunterbrechung, die Luhmann geradezu für die evolutionäre Errungenschaft hält, der die moderne Organisation ihre Mobilität, Anpassungsfähigkeit und Absicherung gegen die Unwägbarkeiten individueller

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Motivationen verdankt: die Abkopplung der Systemzwecke von der Mitgliedermotivation. Ich erinnere an die einschlägigen Formulierungen aus Zweckbegriff und Systemrationalität13, ausgehend von der „Problematik seiner Zweckmotivation“: „Sie immobilisiert den Systemzweck durch Bindung an die persönlichen Motivationsstrukturen der Systemmitglieder.“ (1973, S. 139) „Beruht die Mitgliedschaft dagegen auf Geld …, so kann der Systemzweck auf dieser Grundlage flüssig variiert werden, ohne dass das System in Gefahr kommt, bei allzu scharfen Wendungen Mitglieder abzuschleudern …“ (ebd., S. 140 f.). „Die alte, diffuse Kopplung“ (ebd., S. 141) von Systemzweck und Mitgliedermotivation schadet der Systemstabilität, ihre Trennung „reduziert Komplexität und bildet dadurch eine höhere Ordnung, an der sich das Erleben und Handeln besser orientieren kann“ (ebd., S. 176). Die „Funktion der Zwecksetzung“ liegt in der „Absorption von Komplexität und Veränderungen in der Systemwelt“ (ebd., S. 189). Rebellionen wider die Trennung, etwa à la Human-Relations-Bewegung, widmet Luhmann abschätzige Verdikte („utopische Harmonie von Organisationszweck und Individualmotiv“, ebd., S. 132) und gibt der Umstellung der Organisationen auf Indifferenz ihrer Mitglieder den Vorzug (ebd., S. 133). Das ist ersichtlich von Barnards und Simons „zone of indifference“ bzw. „area of acceptance“ inspiriert, einschließlich der Ausblendung gerade an dieser Stelle höchst virulenter Machtdifferentiale (s. nur Luhmann (1965), S. 91, und (1997), S. 837, mit den entscheidenden Stichworten „Freiwilligkeit“ der Eintrittsentscheidung und „Akzeptanzbereitschaft“), zu schweigen von dem, was einmal „Entfremdung“ hieß, und unter Ausblendung der „fuzzyness“ jener Indifferenzzonen (dazu Courpasson/Dany 2003), die indes eine folgenreiche Komplikation für Luhmanns Insistenz auf Trennschärfe darstellt. Mit diesen letzteren Ausnahmen wird man all dem eine hohe Realitätstüchtigkeit nicht absprechen – und doch wieder eine gewisse Einseitigkeit vermerken, mit der hier das Lob der Interdependenzunterbrechung gesungen wird – im Namen der Systemfunktionalität. Heute aber beherrschen Folgeprobleme das Bild, das zumal große Unternehmen bieten, Probleme, resultierend aus jener „selfishness with guile“, die von der neuen Institutionenökonomik, besonders der principal-agent-Theorie, mühsam einzudämmen versucht werden: Die nurmehr an Entgelt interessierten, ansonsten aber indifferenten Organisationsmitglieder verursachen ihrerseits Probleme, etwa organisierte Unverantwortlichkeit, Entscheidungsvermeidung, Fehlentscheidungen auf Grund fehlsteuernder Anreize, organisationale Trägheit, „resistance to change“, Schwarzer-PeterSpiele, Sündenbockproduktion. Auf eines dieser Folgeprobleme werde ich, wie ge13 Der Sache nach ist Luhmann diesem Theoriemotiv von Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964/1995, S. 89 ff.) bis Organisation und Entscheidung (2000, S. 80 ff.) immer treu geblieben. S. bes. diese Formulierung aus Organisation und Entscheidung (2000, S. 464): „Die Erfindung des Systemtypus Organisation, also, grob gesagt, zugleich spezifizierbarer und änderbarer Motivation gegen ein Geldgehalt, ist bereits ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass … strukturelle Komplexitätsgewinne möglich sind.“ Der Gedanke stammt übrigens, wie Luhmann (1964/1995, S. 100, Fn. 20) eher nebenbei und sparsam zur Kenntnis gibt, ohne den schon dort explizierten Organisationsbezug zu erwähnen, von Arnold Gehlen, aus Urmensch und Spätkultur (s. 6. Aufl., 2004, S. 69 und S. 33 ff.).

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sagt, im übernächsten, 4. und letzten Abschnitt zu sprechen kommen: die Verschleifung von organisationaler „Gesetzgebung“ und „Rechtsprechung“ durch eigennützige Manager, deren Motivation vom Systemzweck abgekoppelt ist. Zuvor werfe ich einen kurzen Blick auf eine weitere kleine Luhmannianische Theorieszene. Sie spielt in einem Schlachterladen, und sie erlaubt, die Beunruhigung etwas genauer nachzuvollziehen, die Luhmann ergreift, wenn „alles mit allem zusammenhängt“ und daher unabsehbare Kaskaden drohen – die Beunruhigung und die Folgeprobleme, die sein großer theoretischer Versuch der Eindämmung dieser Beunruhigung via Reduktion von Komplexität, Systemdifferenzierung, Absorption von Irritation und Abschottungen nach sich zieht.

III. Im Schlachterladen14 Da beschränke ich mich auf einen Gesichtspunkt, von dem aus wiederum das Thema ,Organisation‘ in den Blick rückt, nämlich die Frage, wie sein Begriff von Organisationen – „Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, durch Entscheidungen, aus denen sie bestehen selbst anfertigen“ (Luhmann (1988b), S. 166) – mit der Idee funktional ausdifferenzierter gesellschaftlicher Teilsysteme zusammenstimmt. Damit meine ich noch gar nicht die Frage, ob und wie das Phänomen ,Organisation‘ jene Ausdifferenzierung oder umgekehrt diese Ausdifferenzierung die zunehmende „Organisation der Welt“ (Türk 1995) befördert – oder auch: gehemmt – hat. Sondern mich interessiert, ob und wie sich rasiermesserscharfe, lupenreine Trennungen gesellschaftlicher Teilsysteme durchhalten lassen, die entlang distinkter Systemelemente, Codes und Steuerungsmedien verlaufen. Organisationen sind ein weites Feld, um da Zweifel zu säen. Bekannt ist, dass Luhmann in der Frage geschwankt hat, ob Unternehmungen, also: Wirtschaftsorganisationen, der „Wirtschaft der Gesellschaft“ zuzurechnen seien oder nicht, oder nicht ganz.15 Bekannt ist auch, dass er den Transaktionsbegriff der Neuen Institutionenökonomie mit Interesse zur Kenntnis genommen hat – man geht wohl kaum zu weit, wenn man sagt: mit dem Interesse, ihn bei Eignung an die Stelle zu platzieren, die bis dahin der Zahlungsbegriff innehatte, nämlich an die des Elementbegriffs des Wirtschaftssystems. In einem großen Vortrag auf dem Frankfurter Soziologentag 1990 hat er ersichtlich mit diesem Gedanken gespielt (Luhmann (1991)) und in Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997, S. 755 f., bes. Fn. 307) immer noch Sympathie dafür erkennen lassen. Die verständliche Attraktion des Transaktionsbegriffs macht es aus, dass er sich auf „die Zahlungen und Sachleistungen verknüpfenden Operationen des Wirtschaftssystems“ (Luhmann (1991), S. 95) bezieht. Dieser Attraktion erwehrt sich 14 Dieser Abschnitt ist, bis auf die Fußnoten 16 und 17 und die beiden letzten Absätze, weitgehend übernommen aus Ortmann (1999, S. 163 – 166). 15 Vgl. etwa Luhmann (1988, S. 94, S. 308); dazu Martens (1995, S. 318 f.).

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Luhmann (1997, S. 756) nur noch, indem er „Sachleistungen, Dienstleistungen, Bedürfnisbefriedigung“ auf die Seite der Fremdreferenz des Wirtschaftssystems schlägt. Auch darin verbirgt sich, wenn ich recht sehe, ein Schwanken, das durch die Einheit jener Operation ausgelöst wird. Damit jedoch nicht genug. Natürlich hat Luhmann immer gesehen: „Jede faktische Handlung, (…) eines Systems ist (…) multifunktional“ (1964/1999, S. 76) oder, in der Sprache des späteren Luhmann: „Codes sind Sofern-Abstraktionen. Sie gelten nur, sofern die Kommunikation ihren Anwendungsbereich wählt (was sie nicht muss). Es kommt nicht in jeder Situation, nicht immer und überall, auf Wahrheit oder auf Recht oder auf Eigentum an.“ (Luhmann (1986), S. 79) Aber in vielen Situationen kommt es auf alle drei an, wenn auch mehr oder weniger, je nachdem, aus welcher Perspektive – und aus der Perspektive welchen sozialen Systems oder Akteurs – die Dinge behandelt oder beobachtet werden. „Wenn zum Beispiel eine Frau im Schlachterladen Wurst kauft, gehören Sinnelemente ihres Handelns in das soziale System der Familie, die sie versorgt, und in das soziale System des Ladens im weiteren Rahmen des Wirtschaftssystems der Gesellschaft …“. (Luhmann 1997, 250, Hervorh. G. O.)

Sinnelemente des Handelns, nicht das Handeln, auch nicht: das wirtschaftliche Handeln! Zum Wirtschaftssystem aber gehören für Luhmann später doch wieder kompakte Handlungen, respektive inzwischen: Kommunikationen, nämlich die Zahlungen. Nicht das Schlachten. Wohl aber die ökonomische Regulierung dieses Vorganges: „Immer wenn, direkt oder indirekt, Geld involviert ist, in Wirtschaft involviert, gleichgültig durch wen die Zahlung erfolgt und gleichgültig, um wessen Bedürfnisse es geht – also auch beim Einzug von Steuern oder bei Aufwendungen für öffentliche Güter, nicht jedoch bei dem Pumpvorgang, der Öl aus dem Boden holt, sondern nur bei der ökonomischen Regulierung dieses Vorganges mit Rücksicht auf einen in Geld ausdrückbaren Ertrag.“ (Luhmann (1986), S. 101)

Nun werden aber nicht für jede dieser Funktionen distinkte Operationen, nämlich: Kommunikationen ausgeführt, zum einen das Für-die-Familie-Einkaufen und zum anderen die Zahlung respektive Transaktion; zum einen das Schlachten und zum anderen das ökonomisch-regulierte/auf-Ertrag-abstellende Schlachten, zum einen das Ölfördern und zum anderen das Ölfördern „mit Rücksicht auf einen in Geld ausdrückbaren Ertrag“. Schlimmer noch: Da „jede Kommunikation“ zum Rechtssystem gehört, „die sich an der Differenz von Recht und Unrecht im juristischen Sinne orientiert“ (Luhmann (1986), S. 126), und da dies in unserem Schlachterladen auch geschieht, mal eher implizit, mal sehr explizit – BSE-verseuchtes Fleisch zu verkaufen, ist Unrecht –, müssen wir in den kleinen Laden auch noch das Rechtssystem hineinbekommen, und so fort. Bald herrscht Gedränge. Gern denke ich auch an den 10.000 DM-Scheck, den das Mitglied von Brauchitsch (einer Organisation namens Flick-Gruppe) dem Mitglied Leisler Kiep (einer Organisation namens CDU) hat zukommen lassen, eine Operation, eine Zahlung, eine Transaktion, die aber dem Wirt-

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schafts- und dem Rechts- und den politischen System zuzurechnen ist, sofern sie als Investition, als Korruption und schließlich als Einflussnahme auf staatliche Amtsund Machtträger aufgefasst wird. „Codes sind Sofern-Abstraktionen.“ Handlungen, Operationen, Zahlungen, Transaktionen, Entscheidungen, Kommunikationen haben es an sich, mehrdeutig zu sein.16 Damit möchte ich keineswegs den Sinn der Unterscheidung von Teilsystemen und zugeordneten Codes bestreiten. Ich frage mich aber: Was sind die Elemente dieser Systeme? Und meine Antwort lautet: Nicht die Handlungen, Operationen, Zahlungen, Transaktionen, Entscheidungen, Kommunikationen schlechthin, sondern nur, insofern sie diesen Sinn, jene Funktion erfüllen; insofern sie der Versorgung der Familie, dem Erzielen von Gelderträgen, dem Beharren auf rechtlicher Korrektheit, der politischen Einflussnahme dienen. Ich wäre versucht zu sagen: Elemente sozialer Systeme sind Sinnsetzungen, Sinnproduktionen oder -konstruktionen17, wenn darin nicht zu leicht unterginge, dass wir Sinn meistens auf sehr praktische Weise „setzen“, zum Beispiel, wenn und indem wir Vieh schlachten oder Öl pumpen (also nicht nur, wenn und indem wir denken oder übers Schlachten kommunizieren). Sinn aber hat stets eine Verweisungsstruktur, wir haben es mit multiplen Sinnprovinzen zu tun, alles Handeln und Kommunizieren lässt sich, wie jeder Text, verschiedenen Lesarten und damit verschiedenen Anschlussmöglichkeiten öffnen – und das scheint mir zu bedeuten, dass es keine distinkten Wirtschafts-, Rechts- und politischen Handlungen oder Kommunikationen 16 Das räumt Luhmann in Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997, S. 608) seltsamerweise nur für Handlungen, nicht für Kommunikationen ein: „Wer Handlungen beobachtet, wird typisch mehrfache Systemzugehörigkeiten feststellen können … Nur wenn man von Handlungen auf Kommunikationen umstellt, wird es notwendig, die Elementareinheiten der Systembildung rekursiv durch Bezug auf andere Operationen desselben Systems zu definieren.“ Nein, eben das ließe sich auch für Handlungen (die es ja ohne kommunikative und praktische Zuschreibungen als Handlunge nicht geben kann) durchführen, und inwiefern es an der Mehrdeutigkeit kompakter Kommunikationen und daher auch deren möglicher multipler Systemzugehörigkeit etwas ändern soll, ist nicht ersichtlich. Im selben Opus (1997, S. 753 f.) heißt es dann allerdings: „Die operative Geschlossenheit der Funktionssysteme schließt … keineswegs aus, daß bestimmte Ereignisse in mehreren Systemen zugleich als Operationen identifiziert werden. … So dienen Geldzahlungen normalerweise der Erfüllung einer Rechtspflicht … Ereignisse, die in mehreren Systemen zugleich vollzogen werden (sic), bleiben aber an die rekursiven Netzwerke der verschiedenen Systeme gebunden, werden durch sie identifiziert und haben deshalb eine ganz verschiedene Vorgeschichte und eine ganz verschiedene Zukunft, je nachdem, welches System die Operation als Einheit vollzieht.“ Dem kann man zustimmen – und umso eher fragen, warum als die fraglichen Operationen nicht Handlungen in Betracht kommen sollen, um deren Sinn und Hinsicht es jeweils geht. In Grundrechte als Institution (1965, S. 20 f.) hatte es noch geheißen: „Handlungssysteme sind Systeme nicht durcch die physischen Handlungszusammenhänge …, sondern durch den kommunikativen Sinn des Handelns, mag er wie beim Sprechen oder Schreiben, Hauptinhalt des Handelns sein oder nicht, mag er intentional oder unbewußt-expressiv zustandekommen.“ Zur Kritik an Luhmanns Theorieentscheidung pro Kommunikation, gegen Handlungen s. Ortmann (2011, S. 357 f.); zur Unbestimmtheit und „fuzzyness“ des Operationsbegriffs Drepper (2017, S. 17 und passim). 17 S. dazu jetzt Drepper (2017), dem es um eine Organisationstheorie auf Basis einer operativen Sinntheorie geht.

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gibt und geben kann, es sei denn in dem Sinne, dass der wirtschaftliche, rechtliche oder politische Aspekt in diesem oder jenen Kontext dominiert, und vielleicht so deutlich und für so viele dominiert, dass wir nicht zögern, von wirtschaftlichem, rechtlichem oder politischem Handeln zu sprechen. Das alles ist so weit von Luhmann gewiss nicht entfernt und deutet doch Fragen über Fragen an.18 Es lässt, anders als bei ihm, die dringend erforderliche Möglichkeit, die Zugehörigkeit einer Organisation, zum Beispiel eines Krankenhauses, und einer Handlung respektive Kommunikation, zum Beispiel eines Arztes, zum Gesundheits- oder aber Wirtschaftssystem im Sinne gradueller Übergänge zu thematisieren. Man gerät, wenn man Luhmann auf diese Weise nachdenkt, in eine hierzulande nicht sehr populäre Nähe zu Husserl (dazu Martens 1995) und, unter den zeitgenössischen Autoren, zu Derrida. Johannes Bergers Einrede wider Luhmanns „phänomenologische Wende“ (Berger 1987) erscheint dann in einem anderen Licht, ohne dass wir deshalb Bergers Anliegen, Aufmerksamkeit für so handfeste strukturelle Phänomene wie Einkommensverteilungen, Input-Output-Relationen, Investitions- und Konsumgüterproduktion oder Sparquote einer Volkswirtschaft, seine Berechtigung absprechen müssten: Dass sie resultieren, und dass sie so wichtig sind, ist Ergebnis von Handeln, das Sinnselektionen realisiert. Kapitalismus ist die Realisation, die Praktizierung eines spezifischen Sets von Sinnselektionen, und für die Analyse des dafür „funktionsnotwendigen Absehens von“ ist Husserls Phänomenologie hilfreich, gerade weil es die von Berger angeführten praktischen strukturellen Folgen hat. Luhmanns Insistenz auf autopoietischer Geschlossenheit sozialer Systeme, auf Grenzhygiene, wie Albrecht Koschorke (1999, S. 49 ff.) es genannt hat, und auf dem guten Sinn von Interdependenzunterbrechungen, entspringt seiner Beunruhigung angesichts von Komplexität und drohenden Effektkaskaden. Das hat seinen Blick für daraus resultierende Probleme enorm geschärft. Diese „Problemerfahrung“, vulgo: diese Angst, flackert in seinem gesamten Werk so oft auf, dass man von einem Theoriemotiv, einer Art „Reinheitsbegehren“ (Koschorke), sprechen muss, das sich gewissermaßen wider besseres Wissen – gegen Luhmanns scharfe Einsicht in die Paradoxalität der Funktionserfordernisse in Sachen Interdependenz und Interdependenzunterbrechung, fester und loser Kopplungen etc. – immer wieder Dominanz verschafft. Vor diesem Hintergrund lässt sich als sei es Kontrastprogramm, sei es notwendige Ergänzung, als theoriearchitektonisches supplément (Derrida) lesen, was Autoren wie Thomas Vesting, Ino Augsberg und andere zu bedenken geben: dass die Funktion von Grenzen nicht leugnet, wer „auf die sich ständig und vielfältig über diese Grenzen hinweg vollziehenden Schmuggelbewegungen“ (Augs18 Fragen, wie sie auch Knorr-Cetina (1992) aufgeworfen hat. Dazu Luhmanns nicht sehr stark ausgefallene Erwiderung (1993a, S. 142 ff.), ferner Ortmann (1995, S. 369 f., Fn. 14). Luhmann selbst scheint mit seiner Erwiderung nicht sehr zufrieden gewesen zu sein, wie aus einem Brief an den Verfasser aus dem Jahre 1995 hervorgeht, in dem er mit Bezug auf die eben erwähnte Fußnote aus meinem 1995er Text immerhin einräumt, auch von anderen auf Schwächen seiner Antwort hingewiesen worden zu sein.

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berg (2016), S. 14) verweist. „Zur notwendigen Komplizierung der Luhmannschen Unterscheidung“ zitiert Augsberg (ebd., Fn. 29) Thomas Vesting (2015, S. 60) mit diesem Vorschlag einer Ergänzung/Ersetzung: „An die Stelle der systemtheoretischen Vorstellung einer operativ unüberschreitbaren Grenze tritt die Vorstellung der prinzipiellen Unvollständigkeit jeder operativen Schließung …“. Dem füge ich die Klarstellung hinzu: Notwendig ist dieser Theorieschritt, weil ohne solche Schmuggelbewegungen, Verknüpfungen, Verflechtungen, Verschmutzungen, Kontaminationen, Infektionen, Verschiebungen, Verrückungen, Übergänge, Übertragungen, Interferenzen, Übersetzungen, Unschärfen, von denen Augsbergs schönes Buch „Kassiber“ handelt, ohne das Andere von Abschottungen, soziale Systeme nicht funktionieren und nicht funktionieren können. Ein handfestes Beispiel aus dem Inneren von Organisationen ist die schon gestreifte „zone of indifference“ (Barnard S. 161 ff.) resp. „area of acceptance“ (Simon (1951), S. 130 ff.), innerhalb derer Beschäftigte sich den Anweisungen der Vorgesetzten und den Auferlegungen von Stellenbeschreibungen fügen. Das tun sie via Einwilligung in Arbeitsverträge, von denen gerade Simon und später erst recht die neue Institutionenökonomik – Stichwort „incomplete contracts“ (Hart 1995) – dargetan haben, dass sie notwendig unvollständig und die darin ex- oder implizit vorgesehenen Zonen der Indifferenz notwendig „fuzzy“ sind (Courpasson/Dany 2003). Organisationen müssen da Mehrdeutigkeiten und Unschärfen zulassen, müssen deren Schließung einem „day-to-day bargaining“ überlassen. Dieses Beispiel wähle ich nicht von ungefähr. Erstens sind der Arbeitsvertrag und die damit akzeptierte Mitgliedschaftsregel19 gerade für Luhmann, aber eben auch für die institutionenökonomische Organisationstheorie, ein theoriearchitektonischer Dreh- und Angelpunkt. Zweitens aber ist die darin unvermeidliche „incompleteness“ die Bedingung der Möglichkeit für ihrerseits notwendige Verwicklungen zwischen, in der Terminologie Gutenbergs gesprochen, Disposition und Ausführung, Verwicklungen, die im Recht denjenigen zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, zwischen Gesetz und Anwendung ähneln und die dort manchmal unter dem Titel „Verschleifung“ geführt werden. Zusammenfassend: Bisher habe ich Luhmanns recht und schlecht verhohlene ZuNeigung zu Abschottungen via (1.) Ausdifferenzierung distinkter, autopoietisch geschlossener Systeme, (2.) Eigentum und resultierende Externalisierungen, (3.) Trennung von Systemzwecken und Mitgliedermotivation, mit Indifferenz20 als Interdependenzunterbrechung (4.) Mitgliedschaftsregeln und Arbeitsverträge und (5.) lose Kopplungen angeführt, ferner, (6.), seine komplementären Abneigungen 19

Dass die Mitgliedschaftsregel, wie Luhmann immer wieder (z. B. 1988, S. 171) behauptet hat, eine trennscharfe Unterscheidung zwischen System und Umwelt garantiert, erscheint im Lichte der Unvollständigkeit, Unschärfe und Mehrdeutigkeit von Arbeitsverträgen als unhaltbar, weil die durch sie auferlegten Pflichten und die Ränder der Indifferenzzonen eben unscharf bestimmt und nicht eindeutig sind. 20 Auch in Das Recht der Gesellschaft (1993b, S. 225) stellt Luhmann diese Figur in den Dienst der Reduktion von Komplexität: Das Rechtssystem „muß, wie jedes System im Verhältnis zur Umwelt, Komplexität reduzieren und den eigenen Komplexitätsaufbau durch hohe Mauern der Indifferenz schützen.“ (Hervorh. G. O.)

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gegen Netzwerke und andere „extravagante“ Organisationen der Interdependenzrestitution und an heiklen Stellen auch gegen Mehrdeutigkeiten und „fuzzyness“, also gegen irgendwie schmuddelige Grenzen, Scheidungen, Distinktionen (dazu s. auch Steinhauer). Dazu gehört (7.), dies nur nebenbei, Luhmanns Neigung zu einer immunologischen Metaphorik – Systeme schätzt er sehr in ihrer Eigenschaft als Immunsysteme (s. nur 1984, S. 371 f., S. 504 ff.; kritisch Lemke 2000), als Einrichtungen gegen Ansteckungsgefahr. Verschleifungen sind da ein weiterer Fall, der dem Hofstadter-Kenner und dem Juristen Luhmann wohlvertraut ist, den der Organisationstheoretiker Luhmann aber weitgehend ignoriert. Dazu komme ich jetzt.

IV. Verschleifungen21 „Verschleifung“ ist kein Wort der Alltagssprache. Fast nur deutsche Juristen kennen den Begriff, der damit bezeichnet wird. Von Anfang an war er kritisch gemeint. Zunächst ging es um die eher horizontale „Verschleifung“ von Tatbestandmerkmalen, die – daher „horizontal“ – neben-, nicht über- oder untereinander stehen. Sie wird von den Strafrechtlern dann und deswegen sehr kritisch gesehen, wenn und weil sie eine täterbelastende Ausweitung der Strafbarkeit durch Richter darstellt, die in der Anwendung einer Rechtsnorm zwei darin enthaltene Tatbestandsmerkmale T1 und T2 derart „verschleifen“, dass vom Vorliegen des T1 unmittelbar und „automatisch“ auf das Vorliegen von T2 geschlossen wird. Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht eingewandt: „Der Gesetzgeber und nicht der Richter ist zur Entscheidung über die Strafbarkeit berufen … ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht … Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen also … nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mit verwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen)“.22 Beispiel: Untreue, strafbar nach § 266 StGB, aber nur, wenn zwei Tatbestandsmerkmale vorliegen: T1 (Pflichtwidrigkeit des Treunehmers, der z. B. bei Kredituntreue das ihm anvertraute Geld nach Art eines Spielers riskant anlegt) und T2 (Nachteil für den Treugeber, im Beispiel der Kreditgeber, dessen Nachteil selbständig ermittelt und auch in der Höhe beziffert werden muss). T1 allein reicht nicht für eine Strafbarkeit (obwohl man dazu neigen könnte, weil in der Pflichtwidrigkeit/Riskanz der Geldanlage bereits eine Art „Gefährdungsschaden“, also ein Nachteil für den Kredit-/Treugeber gesehen werden könnte). Im Verschleifungsverbot kommt eine ausgeprägte (m. E. bewunderungswürdige) Reserve der 21 Dieser Abschnitt ist, bis auf einen ergänzenden Absatz in Fn. 26 und die beiden letzten Absätze, entnommen aus Ortmann (2018). 22 BVerfGE 126, 1780, 197 f.; zit. n. Krell (S. 404), der zum Verschleifungsverbot erhebliche Differenzierungen beibringt, die hier vernachlässigt werden können; s. ferner Kuhlen (2017). Andere Verfassungsgerichtsurteile machen aber klar, dass den Gerichten doch erhebliche Auslegungs- und Rechtsfortbildungsmöglichkeiten zuzugestehen sind; vgl. dazu Canaris (2004, bes. S. 148 ff.), Kuhlen (2006).

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Strafrechtler (a) gegen richterliche Ausweitungen von Strafbarkeit zum Ausdruck, ferner eine sehr verständliche Aversion (b) überhaupt gegen solche Richter und Gerichte, die sich anmaßen, das Geschäft des Gesetzgebers zu besorgen. Nur dies Letztere, die hierarchisch „vertikale“ Verschleifung von Gesetz und Anwendung ist hier mein Thema, obwohl es auch lohnen würde, für die „horizontale“ Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen vergleichbare Fälle auf dem Felde organisationaler Regeln und Regelanwendungen zu finden und zu bedenken. (Wie viele Mitarbeiter etwa werden in Bürokratien für Pflichtwidrigkeiten sanktioniert, die im Wege einer solchen Art von „Verschleifung“ mit einem Nachteil für die Organisation gleichgesetzt werden?) Auch mit dem Verbot „horizontaler“ Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen ist aber, wie gesehen, das Problem „vertikaler“ Verschleifung verbunden: die Missbilligung einer Rechtsprechung, mit der sich Gerichte eine Verschärfung von Strafbarkeiten via tatbestandsausweitender Anwendung von Gesetzen anmaßen. Um gleich zu der pejorativen Besetzung „vertikaler“ Verschleifung zu kommen, einer kritischen Haltung, wie sie die Juristen pflegen, können wir das bereits an- und mitgeführte Beispiel der Gewaltenteilung nehmen: in Demokratien unverzichtbar und eine Selbstverständlichkeit für Juristen, eine eher fremde, weit hergeholte Idee für Manager in Unternehmen. Eine Instanz „macht“ die Gesetze, eine andere, besonders das Gerichtswesen, wendet sie an. Man bedenke, dass diese Gewaltenteilung eine Selbstbindung des Staates darstellt, der auf diese Weise sein Gewaltmonopol verfassungsrechtlichen Beschränkungen unterwirft. Wie Friedrich von Hayek es einmal (S. 180) plastisch formuliert hat: „A constitution is a tie imposed by Peter when sober on Peter when drunk.“ Stephen Holmes (S. 196) hat dieselbe Idee ausgedrückt, sich aber nicht auf den Staat, sondern auf die Staatsbürger bezogen: „Citizens need a constitution, just as Ulysses needed to be bound to his mast.“ Übertragen auf Entscheidungen in Unternehmen (und anderen Organisationen) würde das heißen: Eine Instanz, das Management, „macht“ – setzt – die Regeln, eine andere wendet sie an. Das lässt sich, mutatis mutandis, für Unternehmen in vielen Fällen ja durchaus so sagen23, allerdings mit dem gravierenden Unterschied: dass in Unternehmen, anders als im Recht, keine die Regeln (die Gesetze) schützende Barriere gegen deren unerwünschte Veränderung/Verschiebung/Suspendierung/Ergänzung/Ersetzung/Pervertierung im Zuge der Anwendung durch die „Gesetzgeber“ – das regelsetzende Management – eingebaut ist, auch keine Barriere gegen dessen immer möglichen Eigennutz. Es ist genau diese Barriere, die durch Verschleifung – geschleift wird, und eben das ist für Juristen eine verpönte Missachtung/Verletzung/ Einebnung. Richter sollen keine Gesetze „geben“, Gesetzgeber keinen eigennützigen oder sonstwie partikularen Interessen dienen und sich nicht in deren Anwendung, in die Rechtsprechung einmischen. Das Gerichtsverfahren soll nicht, wie in Kafkas 23 Wenn man, wie in Ortmann (2010) erläutert, Strategien als Regeln mit kurzer Lebensdauer, aber langfristigem Bezug bestimmt, kann man das insbesondere auch für Strategieentscheidungen gelten lassen.

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Proceß, „allmählich ins Urteil übergehen“ (dazu Agamben, S. 37 – 65). In Unternehmen aber sind Manager Gesetzgeber, Ankläger und Richter zugleich: Sie „machen“ die Regeln, sie klagen an und sie entscheiden über die „angemessene“ Anwendung. Mehr noch: Sie sind, via Anreiz-, Entgelt- und Karrieresysteme, Nutznießer bei dem Einen wie dem Anderen. Im Unternehmen ist diese Verschleifung nicht nur nicht verpönt, sondern geradezu Programm. Um dies alles in einen weiteren Rahmen zu stellen, braucht man die Sache der Gewaltenteilung nur als Sonderfall der allgemeinen Problematik des rule following aufzufassen, wie sie von Juristen, zumal der juristischen Hermeneutik (etwa K. Engisch, D. Suhr, A. Kaufmann, W. Hassemer; dazu Ortmann (2003), S. 221 ff.), früh gesehen und später radikaler ausgearbeitet24 und sodann von Gesellschaftstheoretikern und Philosophen wie Luhmann (1993b) und Derrida (1991; 1992) zugespitzt worden ist: die (Interpretation und) Anwendung von Regeln erst vollendet die Konstitution ihrer Bedeutung und Geltung. Auch da geht es um eine Hierarchie insofern, als den Regeln der höhere Rang gebührt, während die „bloße“ Anwendung als untergeordnet angesehen zu werden pflegt. Im Lichte der Figur rekursiver Konstitution erweist sich Verschleifung indes nicht gleich als gefährlich, sondern zunächst einmal als unvermeidlich, und genau in diesem Sinne verwendet der Jurist Karl-Heinz Ladeur denn auch den Begriff. Das impliziert nicht die Leugnung jener Gefahren, die aber, noch einmal, nur einen Sonderfall der nun ans Licht gekommenen allgemeinen Form der Rekursivität ausmachen. Wegen der erwähnten Gefahren gibt es gute Gründe für die Juristen, vertikale Verschleifungen zu verbieten oder jedenfalls zu beschränken, zum Beispiel um richterliche Willkür und Eigenwilligkeiten bei der Anwendung von Gesetzen zu unterbinden. Andererseits kommt keine Gerichtsentscheidung ohne eine Verknüpfung – Verschleifung? – des Gesetzes mit den besonderen Umständen der einzigartigen Fälle aus, mit denen sie es zu tun haben und in deren Licht und mit Bezug auf die sie das Gesetz interpretieren und angemessen anwenden – also wenden – müssen. Für diese Einsicht werden heutzutage gern und mit etwas „spitzen Fingern“ Autoren wie Luhmann, Ladeur oder auch Derrida in Anspruch genommen. Diese Denker haben aber nur radikaler zugespitzt, was in der Jurisprudenz etwa schon einem Hans Kelsen (1934, S. 90 ff./2008, S. 100 ff.) ganz klar war: dass die Gerichtsentscheidung aus der Norm nicht durch bloße Ableitung gewonnen werden kann.25 Fazit insoweit: Auch für Juristen ist klar, dass es ohne eine Verbindung/Verknüpfung von allgemeinem Gesetz und einzelfallbedachtem Urteil nicht abgeht – nicht ohne einen Hauch von Verschleifung, nicht ohne einen Hauch von „Richterrecht“. Aber in ihrer Zunft herrscht doch ein klares Bewusstsein von einschlägigen Problemen und Gefahren der Einebnung der Differenz zwischen Regel – Gesetz – und Anwen24 S. u. a. Luhmann (1993b, S. 299 – 310; bes. S. 302 – 306); Ladeur (z. B. 1995, S. 164; 2000, S. 67, S. 70 f.; 2012, S. 294, S. 296, S. 312 f.); Becker (2014). 25 „Die Aufgabe: aus dem Gesetz das richtige Urteil … zu gewinnen, ist im Wesentlichen dieselbe wie die: im Rahmen der Verfassung die richtigen Gesetze zu schaffen.“ Auch der Richter „ist ein Rechtsschöpfer …“ (Kelsen (1934), S. 98/(2008), S. 108).

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dung. Günther Hirsch (S. 161), damals noch Präsident des Bundesgerichtshofs, hat das Verhältnis von Gesetzgeber und Richter einmal mit dem von Komponisten und Pianisten verglichen. Jener mache die Vorgaben, dieser müsse sie „mehr oder weniger virtuous“ interpretieren und habe dabei Spielräume, freilich ohne das Stück verfälschen zu dürfen. Vielen Juristen ging das schon zu weit. Dieses Bewusstsein und ein entsprechendes Sensorium fehlen im Management und in der Managementliteratur weitgehend. Dort sieht man kein ernstes Problem darin, dass Manager „Gesetzgeber“ und „Richter“ in einer Person sind, dass sie sich in die Anwendung organisatorischer Regeln einmischen – wie sollten sie auch nicht? – und dies alles auch noch mit ihrem Eigennutz verschleifen können, ja, sollen, genauer: kein ernstes Problem außer resultierende Beeinträchtigungen einzel- oder gesamtwirtschaftlicher Effizienz. Es gilt als so selbstverständlich, dass die zugrundeliegende Rekursivität bei alledem gar nicht in Sicht kommt. Die Anspielung auf diese Rekursivität macht die Doppeldeutigkeit des Terminus „Verschleifung“ aus, der nicht nur auf ein Schleifen wie in „eine Festung/eine Mauer schleifen“ verweist, sondern zugleich – und das geht nur im Deutschen26 – auf rekursive Schleifen, hier: zwischen Regel und Anwendung. Man könnte es so sagen: Die Mauern zwischen Regeln und Anwendung werden geschleift im Wege des Durchlaufens rekursiver Schleifen. Bei Richterrecht und anderen Formen juristischer Verschleifung geht es um Eigennutz nur am Rande, im Kern aber um die viel allgemeinere Problematik, dass Re26 Im Englischen heißen die Schleifen „loops“, und das (Ab-) Schleifen/Einebnen etwa „rubbing out“, „razing“ und „levelling“. Vorschläge zur Übersetzung für „Verschleifung“ müssen auf die doppelte Bedeutung verzichten. Sie lauten etwa „entanglement“ in Anlehnung an Hofstadters „entangled hierachies“ (Karl-Heinz Ladeur, schriftl. Mitteilung) oder „intertwinement“ (Ino Augsberg, schriftl. Mitteilung), Letzteres, weil es „twine“, „Zwirn“, enthält. „Twine“ ist laut Webster „a strong string composed of two or more plies or strands twisted together“. „Two“, „twice“ und „twin“ gehören zu dieser Etymologie. Bei dieser textilen Metaphorik kann man auch an deutsche Exemplare denken, Verwicklung, Verknüpfung, Verstrickung, Verbindung, Verkettung und Verfilzung etwa. Allen ist aber gemeinsam, dass darin das (unter Umständen bedenkliche) Einebnen/Schleifen einer Mauer oder Grenze nicht zum Ausdruck kommt. Im Deutschen kennen wir auch noch die verschliffene Aussprache des Betrunkenen, ferner den Ausdruck „etwas schleifen lassen“ – mit Blick auf Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Genauigkeit und Korrektheit, und da könnte es auch um Sorgfalt bei der Unterscheidung von Regel und Anwendung gehen. Von hier aus ist es nicht weit zu einer Metapher, die Achterbergh/Risewijk (1999) für den Prozess des Einschleifens von Gewohnheiten („habituation“) in Organisationen und anderswo vorgeschlagen haben: „polished by use“. Der Duden, darauf macht Krell (S. 906) aufmerksam, bietet für „Verschleifung“ die Erläuterung an: „durch Schleifen glätten“. Vgl. ferner diese Darstellung der Platonischen Polis-Genese bei Därmann (S. 49): „Im Dialog Politikos findet Platon dasjenige ,handgreifliche Bild‘, das die genuin politische Herrschaft über Menschen erhellen soll, im Bereich der Weberkunst, die die Verflechtung des Einschlags mit der Kette beherrscht … Analog zur Weberkunst soll die Aufgabe des Regenten darin bestehen, ein engmaschiges Geflecht aus den nach Herkunft und Tätigkeiten verschiedenen Bürgern herzustellen. Zielpunkt der politischen Ordnung stellt für Platon die unzerreißbare Textur von Einheit und Eintracht dar, die er der Vielheit und Zwietracht … zu entreißen versucht.“

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geln nicht unter dem Druck situativer und kontextueller Umstände, politischer/partikularer Interessen etc. ihre Stabilität und Verlässlichkeit oder gar Identität einbüßen sollen – dass sie nicht, wie Habermas es mit Blick auf Derrida gelegentlich formuliert hat, „in den Strudel eines ungerichteten Sprachstromes“ (1989, S. 247) oder gar „der Geschichte“ (1994, S. 269) gezogen werden sollen. In Eigennutz befangene Richter sind dafür gewiss nicht der wichtigste Fall. (Das liegt im Falle von Managern in Unternehmen etwas anders.) Richter Adam aus Kleists Der zerbrochene Krug ist da nicht die Hauptsorge der Juristen (eher schon, zum Beispiel, „Richter Gnadenlos“, wie einst der Hamburger Richter Ronald Schill genannt wurde, der in der Rechtsprechung seine Straflust auszuleben pflegte und so das Strafrecht via Anwendung zu verschärfen versuchte). Mit Blick nun nicht mehr auf das Recht, sondern auf das Innere von Organisationen kapriziere ich mich, um das Problematische an Verschleifungen deutlich zu machen, auf den Fall, dass die Regeln organisationaler Spiele von denen, die die Macht dazu haben, während des Spiels geändert werden können. Das erinnert ein wenig an die erste der zehn kleinen Geschichten, mit denen Karl Weick (S. 1) „The Social Psychology of Organizing“ eröffnet hat. Ein paar Golfspieler ziehen Strohhalme für die Partnerwahl. Sagt einer von ihnen – Alex Bavelas: „Let’s do it after the game.“ Oft etwa werden Projekte dadurch zu Erfolgen erklärt, dass man die Erfolgskriterien stillschweigend ändert: „after the game“. Andererseits kommt es nicht selten vor, dass Untergebene für Irrtümer, Fehler und Desaster auf diese Weise verantwortlich gemacht werden – durch Änderung der Regeln und Standards für Verantwortlichkeit oder, Stichwort „Verschleifung“, durch nachträgliche Änderung ihrer Interpretation und Anwendung. So kreiert man Sündenböcke. Man denke an Charles Perrows (1987) „normal accidents“, an die Korruptions- und die Dieselskandale bei Siemens, VW, Renault, Daimler Benz, Audi, Fiat Chrysler und anderswo. „Verschleifung“ hieß in all diesen Fällen, einschlägige Standards im Lichte und unter dem Druck spezifischer Fälle zu reinterpretieren, zu modifizieren oder zu pervertieren. Die „Gesetzgeber“ mischten sich in die Auslegung und Anwendung der Gesetze ein, gewiss auch, um das Unternehmen zu schützen, ersichtlich aber auch im eigenen Interesse, „strange loops“ und „entangled hierarchies“ sensu Douglas Hofstadter (S. 684 – 719; Luhmann (1995), S. 270; Ortmann (2018)). Diese Manöver mögen nach Ausnahmefällen aussehen. Man muss aber sehen, dass auch im „day-to-day bargaining“ (Cyert/ March) über alltägliche Arbeitsroutinen nicht nur die aktuelle Leistung, sondern auch die Regeln, die Kriterien der Leistungsbewertung im Spiel sind und auf dem Spiel stehen. Verträge, besonders Arbeitsverträge sind notwendigerweise unvollkommen, wie nicht erst die neoinstitutionalistische Ökonomik herausgefunden hat (Hart (1995); siehe aber schon Simon (1957)). Vom Gesichtspunkt der Selbstreferentialität her gesehen, heißt das: Organisationale Hierarchien erlauben und ermöglichen den schon beschriebenen Ausweg aus der Problematik des infiniten Regresses, nämlich den Weg zur nächsthöheren Instanz, die den Gordischen Knoten durchschlägt, wann immer es zu Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen über die Arbeit, die Arbeitsverträge und die darin festgelegten Regeln kommt, Prak-

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tiken der Verschleifung immer mit im Spiel. Das lässt sich auf jedwede Art von Verträgen erweitern, die der principal-agent-Theorie vorschweben, etwa auch auf Franchise- und Zulieferverträge und deren Interpretation. Hierarchische Selbstreferentialität und Verschleifungen sind ein unvermeidliches, alles durchdringendes Problem von Organisationen – nicht ein Randproblem. Was für die Entscheidungen gilt, die solche Verträge betreffen, gilt potentiell für alle Arten organisationaler Entscheidungen, auch für solche zum Beispiel, die Budgets, Investments, business restructuring, mergers & acquisitions, die Bildung von Allianzen oder von Netzwerken betreffen, auch die mehr oder minder hierarchischen Verhältnisse innerhalb von interorganisationalen Netzwerken, etwa Zuliefer- oder auch Franchise-Netzwerken, schließlich auch Entscheidungen im Rahmen vertikaler Integration. Man denke nur an Filmstudios, die auch Kinos betreiben, oder, allgemeiner, Content-Produzenten, die zugleich die Vertriebsnetze kontrollieren; an Betreiber von Flughäfen, auf denen nur sie die Bodenverkehrsdienstleistungen anbieten; oder an Beratungsunternehmen, die zugleich als Wirtschaftsprüfer ihrer Klientel fungieren: Stets winken Chancen bzw. drohen Gefahren der Verschleifung, auch eigennütziger und gar monopolähnlicher Verschleifung. Sie drohen, wohlgemerkt, weil es nur lose Kopplungen zwischen Regeln und Anwendung, zwischen Arbeits- und anderen Verträgen und ihrer Erfüllung gibt – also wegen einer Art von Interdependenzunterbrechung, die dazu einlädt, dysfunktionale oder sonstwie unerwünschte, Interdependenzen herzustellen und auszubeuten. Überall da wären andere Interdependenzunterbrechungen dringend gefragt, solche, die die Interdependenz zwischen dem bornierten Eigennutz der „Prinzipale“ und den Weisen der Vertragserfüllung und Regelanwendung (nicht zerstören, aber) in mancher Hinsicht unterbrechen oder suspendieren, zum Beispiel demokratischer Kritik aussetzen (zu „democracy and bureaucracy“ instruktiv: Courpasson/Dany (2003)). Sie fehlen aber in praxi, und ihr Fehlen fehlt in Luhmanns Organisationstheorie. Sind nun solche Verschleifungen vermeidbar, und sind sie per se des Teufels? Weder noch. Dafür lässt sich ausgerechnet der bisher als so reinheits- und abschottungsbedacht porträtierte Luhmann als Zeuge anführen. Augsberg (2016, S. 14, Fn. 29) hat ja unter Bezug auf Koschorke (1999) das etwas zweideutige, wenn nicht gar vergiftete Kompliment gemacht, dass sich „Schmuggelbewegungen … innerhalb von Luhmanns Systemdenken selbst vollziehen“. Die Zweideutigkeit liegt darin, dass Luhmann Kassiber sensu Augsberg sehr, sehr oft heimlich in sein Theoriegebäude einschmuggelt – Schmuggelware in dem Sinne, dass sie da, streng genommen, nicht hingehört.27 Es gibt aber auch den Fall, und zwar ebenfalls oft, 27

So auch Koschorke (1999). Beispiele: In Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997, S. 607) heißt es unvermutet, und innerhalb der Luhmannschen Theoriearchitektur für mich unerklärlich: „Es gibt … durchaus Kommunikationen, die systeminterne Systemgrenzen überschreiten.“ S. auch Luhmann (1997, S. 834), wo es heißt: Es „haben Organisationen zusätzlich die Möglichkeit, mit Systemen in ihrer Umwelt zu kommunizieren.“ Das „widerspricht nicht der operativen Geschlossenheit des Systems.“ Wie Letzteres denkbar sein soll, sehe ich nicht. Organisationstheoretische Beispiele für „Schmuggelware“ sind: die Rede von der Kommunikation von Entscheidungen überall in Organisation und Entscheidung (2000, z. B.

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dass er explizit davon handelt, und zwar als funktionale Notwendigkeit sozialer Systeme. Der mit Abstand prominenteste dieser Fälle ist seine subtile Behandlung des Verhältnisses von Gesetzgebung und Rechtsprechung, von Gesetz und Anwendung in dem Kapitel „Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem“ aus Das Recht der Gesellschaft (1993b, S. 297 – 337). Dort löst Luhmann den Unterschied – den Gegensatz? – zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung in einem kybernetischen Zirkel (ebd., S. 302), man darf sagen: in einem rekursiven Konstitutionsverhältnis auf, in der „Einsicht, daß die Beziehung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht asymmetrisch-linear, sondern zirkulär als wechselseitige Einschränkung der Entscheidungsspielräume aufgefasst werden muß“. (Ebd., S. 305) Einschlägige – begriffslogische, dogmatische und organisatorische – Hierarchien haben die Funktion, diesen durchaus bedrohlichen Zirkel zu invisibilisieren. Richterrecht genießt eine gewisse Rehabilitation. Besonders Karl-Heinz Ladeur (z. B. (1995), S. 164; (2000), S. 87, S. 70 f.) hat, wie erwähnt, dies zu der Form der Verschleifung ausgearbeitet (und ihre Anwendung auf andere Gegenstände ausgedehnt). Verschleifung, so könnte man es sehen, ist das gerade Gegenteil von Abschottung, aber die Analysen der Luhmann, Ladeur, Vesting und Augsberg zeigen, dass beide einander bedingen – zwar auch bedrohen, stören und womöglich zerstören können, aber auch funktional sein können, ja funktional notwendig sind. Augsberg (S. 12, Fn. 26) zitiert Jean-Luc Nancy (2004, S. 25; s. auch 2003, S. 105): „Alles Seiende berührt alles Seiende, doch das Gesetz des Berührens ist die Trennung …“. Das Erstere mag dem Distanz- und Differenztheoretiker Unbehagen bereiten, das Letztere Erleichterung verschaffen. Aber der Luhmann des zitierten Rechts-Kapitels könnte ergänzen: … und das Gesetz des Trennens ist die Berührung (ob diese nun Interpenetration, strukturelle Kopplung oder Verschmutzung und Verschleifung heißt). Bei Giorgio Agamben (S. 63) heißt es über den K. aus Kafkas Schloß: „Den Landvermesser interessiert die zugleich trennende und verbindende Grenze, die er tilgen oder besser außer Kraft setzen will. Denn anscheinend kennt niemand den genauen Verlauf der Grenze, womöglich existiert sie in Wirklichkeit gar nicht, sondern verläuft, wie eine unsichtbare Tür, durch S. 66 ff. im Gegensatz zu S. 141) und auch in Gesellschaft der Gesellschaft (1997, z. B. S. 831), die doch insinuiert, dass Entscheidungen etwas anderes als Kommunikationen sind, oder etwa auch die Übernahme der Brunssonschen Unterscheidung einer Entscheidungs- von einer Handlungsrationalität („to get things done“) (z. B. Luhmann (1988a), S. 288; (2000), S. 438), die man schwerlich mit der Ablehnung des Handlungsbegriffs in Einklang bringen kann, weil sie ja auf einer eigens betonten Unterscheidung von talk, decision und action beruht (Brunsson 1982; 1985), die Brunsson zum Konzept organisationaler Scheinheiligkeit zugespitzt hat. Für eine gewisse organisatorische Abschottung, wie sie Luhmann im Sinn hat – eine Prävalenz organisatorischer Normen und Werte – ließe sich anführen, dass Organisationen so manche gesellschaftliche Erwartung nur scheinheilig erfüllen (so übrigens der Sache nach schon Luhmann (1964/1995), S. 110 f., S. 305 f., S. 247, lange vor Brunsson), aber dazu müsste man schon „action“ als eigentliches, durch „talk“ bemänteltes und geschütztes Geschäft von Organisationen auffassen, was Luhmann (1964/1995, S. 110) auch tut (wo er Goffmans „dilemma of expression versus action“ zitiert). Dann könnte man Scheinheiligkeit als Mittel der Interdependenzunterbrechung zwischen gesellschaftsweit und organisationsintern etablierten Normen und Werten auffassen.

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jeden einzelnen Menschen.“ Der Landvermesser Luhmann ist da von anderem Schrot und Korn. Mir scheint, es ist gerade Luhmanns Theoriepräferenz für Distinktion, Differenz, Geschlossenheit, Reinheit und Abschottungen, die ihn mit einem Sensorium für Verunreinigungen ausgestattet hat – solange sie sich unter den Gesichtspunkt ihrer (Dys-)Funktionalität bringen lassen. Das hat er auch auf dem Felder der Organisationstheorie immer wieder einmal bewiesen, etwa mit Analysen zu brauchbarer Illegalität (Luhmann (1964/1995), S. 304 ff.), zur Funktion der informalen Organisation (ebd., S. 283 ff. und passim) und nicht zuletzt der Organisationskultur (ebd. S. 240 ff.), die er aber mit spitzen Fingern anfasst: ersichtlich, weil er sie als unentscheidbare Entscheidungsprämissen auffasst, bei denen man „nicht markieren (kann), wie sie entstanden sind“ und denen „deshalb die ,Positivität‘ (fehlt) und damit die Regel, dass alles, was durch Entscheidung eingeführt wurde, auch durch Entscheidung geändert werden kann.“ (Ebd., S. 242) Im Klartext: weil sie sich seiner lupenreinen Bestimmung der Elemente des Systems ,Organisation‘ – das sind ja für ihn: Entscheidungen – nicht fügen. Auch Organisationskultur wird daher sogleich als „Modethema“ (ebd., S. 240) abgetan – sie ist „wie ein Fetisch“ zur Hand (ebd.), wenn es gilt, den Glauben an eine von Kontrollverlusten bedrohte Ordnung zu retten. Schöne Beispiele, die von Luhmanns Sinn für Verunreinigungen zeugen sind auch: Klatsch in Organisationen (Luhmann (1964/1995), S. 324 ff.; (2000), S. 243, S. 288) und „die Möglichkeit parasitärer Nutzung der Möglichkeiten des Systems“ und „parasitärer Entscheidungen“ (Luhmann (1988b), S. 179), die er unter Verweis auf Michel Serres – und wiederum nicht ohne einen Unterton von Indignation – konstatiert.28 An der wohl wichtigsten Stelle aber, an der das Problem der Verschleifung von Regel und Anwendung im Inneren von Organisationen auftritt, im hierarchischen Verhältnis zwischen, institutionenökonomisch gesprochen, Prinzipal und Agent (Auftraggeber und Auftragnehmer), lässt ihn dieses Sensorium auf bezeichnende Weise im Stich, und das, obwohl er die Rekursivität von Gesetzgebung und Rechtsprechung, solange es ums Recht geht, so scharf gesehen und die da übliche Hierarchievorstellung so energisch dekonstruiert hat, und obwohl er jene Prinzipale doch gut und gerne als Parasiten bürokratischer Strukturen (s. oben, Fn. 9) charak28 Die bei aller Raffinesse am Ende doch stets pejorative Konnotation und die vielfältige Verwendung der Figur des Parasiten – dieses eingeschlossenen Ausgeschlossenen – bei Luhmann verdienten eine eigene Untersuchung. Den Gipfel bilden da aus meiner Sicht „die arbeitenden Parasiten“ seiner „Geschichte der Arbeit als … Geschichte des Parasiten“ in Wirtschaft und Gesellschaft (1988, S. 213; s. a. S. 166). Warum Parasit? Weil die Arbeit sich nicht ohne Weiteres der Zweitcodierung der Knappheit fügt. „Jeder kann arbeiten, … Die Parasiten übernehmen das System“. (Ebd., S. 215) „Wie kann der ausgeschlossene und wieder eingeschlossene Dritte sich im codierten System arrangieren? Er kann es nur, indem er sich selbst knapp macht; und dafür reicht es offensichtlich nicht aus, daß man keine rechte Lust hat zu arbeiten.“ (Ebd., S. 214) „Immer schon war der Kaufmann, der von Differenzen im Wirtschaftssystem profitiert, als Parasit gesehen worden. Jetzt wird es jedermann, sofern er nur arbeitet, weil er eben dadurch gezwungen ist, sich von der Arbeit anderer zu ernähren.“ (Ebd., S. 220) So nähren wir alle uns also gleichermaßen an den universellen Wirtstieren namens „Systeme“?

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terisieren könnte. Das Pendant zu juristischen in Gestalt organisatorischer Verschleifungen – Verschleifungen von Entscheidungskriterien, Regeln und Standards mit und im Zuge ihrer Anwendung durch „Hierarchen“, Verschleifungen, die auf dem Nährboden der notwendigen Unvollständigkeit von Arbeitsverträgen blühen und gedeihen können – kommt in Luhmanns Organisationstheorie nicht vor, und das, obwohl er in einem weniger beachteten kleinen Beitrag über „Gesellschaftliche Grundlagen der Macht“ Organisation als „die eigentliche Machtquelle in der modernen Gesellschaft“ identifiziert hat (Luhmann (1987), S. 124). Ich bin versucht zu sagen: Dort, wo es ans Eingemachte organisationaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse geht, wo die Unruhe, die droht, von denen ausgeht oder ausgehen könnte oder, horrible dictu, ausgehen sollte, die da in Organisationen am kürzeren Hebel sitzen, ausgerechnet da zieht sich Luhmann auf ein Lob hierarchischer Abschottungen zurück.29 Und versteigt sich, ganz im Gegenteil, gelegentlich lieber zu spitzen Bemerkungen zur Ohnmacht der Vorgesetzen (Luhmann (1975), S. 10, S. 107 ff.) und zu deren „Unterwachung“ durch ihre Untergebenen (Luhmann (2016), S. 90 ff.). Das ist ganz witzig, hat selbstverständlich auch ein Körnchen Wahrheit für sich – die eben in der Rekursivität der Verhältnisse angelegt ist –, überzieht aber hoffnungslos und verfehlt die realen Konstruktionen der Macht- und Herrschaftsrealitäten in den relevanten Organisationen unserer Zeit nicht nur knapp. Man muss wohl sagen: Der Fokus auf dem Funktionieren verstellt den Blick darauf. Man kann auch vermuten, dass „die Problemerfahrung der neueren Systemforschung“ sich jedenfalls dann zu Berührungsangst ihres prominentesten Autors verdichtet, wenn die Irritationen und drohenden Effektkaskaden von gesellschaftlichen Kräften ausgehen (könnten), die ernstlich an den Schotten rütteln. Das darf man wohl (ohne gleich an Flüchtlinge zu denken, denen heute so gerne mit Abschottungen begegnet wird, und zwar merkwürdigerweise ausgerechnet von denen, die Abschottungen – Masken und Abstandhalten – in Zeiten von Corona für des Teufels halten) alteuropäisches Denken nennen. „Corpus des Tastens: streicheln, streifen, pressen, hineinschlagen, drücken, glattstreichen, kratzen, reiben, liebkosen, betasten, anfassen, kneten, massieren, umschlingen, umklammern, schlagen, kneifen, beißen, lutschen, nassmachen, halten, loslassen …“ Jean-Luc Nancy: Corpus

29 Man „darf … nicht davon ablenken, dass Hierarchie im Sinne von mehr oder weniger langen und, was untergeordnete Ebenen betrifft, breit ausgreifenden Weisungsketten zu den kaum zu ersetzenden Notwendigkeiten des Aufbaus komplexer Organisationen gehört. Vertikale Integration ist nach wie vor die wichtigste Form der Bearbeitung von Ungewissheit, das heißt: von Zukunft.“ (Luhmann (2000), S. 20 f.; s. a. ebd., S. 207 f., S. 302 f., S. 312 ff.) Daran stört nicht der kühle Realismus, wohl aber die implizite Parteinahme fürs Funktionieren unter Verharmlosung hierarchischen Machtgebrauchs. Akzeptabler und interessanter ist da schon die Rede von „eine(r) Art informale(r) Macht der formalen Spitze“ bei Luhmann (1987, S. 129).

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Was Luhmann von der Digitalisierung und von Algorithmen schon wusste Von Elena Esposito Was wusste Luhmann in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von der Digitalisierung und von Algorithmen? Das mag wie eine rhetorische Frage klingen, so meine ich es aber nicht. Davon wusste Luhmann schon erstaunlich viel, und ich möchte es hier aufgrund eines Texts aus dem Jahr 1966 zeigen, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Ich werde dafür viele direkte Zitate aus Luhmanns Text verwenden, was für mich ziemlich ungewöhnlich ist, hoffe aber, dass die Qualität der Passagen zeigt, warum ich es tue. Big Data und self-learning Algorithmen waren offensichtlich noch nicht da, obwohl Luhmann sie bereits erwartete, wie verschiedene Passagen zeigen. Er sah zum Beispiel vor, dass die Idee, dass Maschinen Systemprobleme mit nicht rein logischen Mitteln nicht lösen können, „vermutlich eines Tages aus den Angeln gehoben werden (wird) mit dem Gegenargument, daß man auch einer Maschine logische Sprünge beibringen könne und daß sie die Zulässigkeit solcher Sprünge besser abklären könne als der Mensch. Im Carnegie Institute of Technology, Pittsburgh, wird bereits an Computer-Programmen für unklar definierte Probleme gearbeitet, die das menschliche Vorgehen imitieren und vielleicht übertreffen sollen. (…) Und jedesmal, wenn die Befürworter des Menscheneinsatzes ihre Gründe präzise formulieren, schaffen sie damit zugleich die Grundlage für die Formulierung neuer äquivalenter Maschinenprogramme“ (Luhmann, Fußnote 24, S. 59 – 60).

Besser könnte man die heutige Kompetition/Kooperation zwischen Menschen und Maschinen in der Entwicklung von Spielalgorithmen (und smart Algorithmen überhaupt) kaum beschreiben, zum Beispiel im hochdiskutierten Fall von DeepMinds AlphaGo-Programm für das alte chinesische Spiel Go (Silver/Hassabis, 2016). Luhmann war auch über die Versuche informiert, ein allgemeines computerfähiges Problemlösungsprogramm mit Lernmöglichkeiten“ (Luhmann, Fußnote 31, S. 44) zu bauen: was heute self-learning Algorithmen sind. Die Schärfe von Luhmanns Text liegt aber nicht nur in diesen Antizipationen, sondern vor allem in seinem Ansatz: Obwohl und gerade weil Luhmann sich auf einen präzisen Bereich bezieht, die Verwaltung und das Recht, bietet sein Text Ideen, um einige der rätselhaftesten Fragen in der aktuellen Debatte über die Verbreitung intelligenter Algorithmen und ihre Folgen zu stellen. Es ist dazu nicht nötig, die neuesten Entwicklungen der Technologie zu kennen, es kann ja irreführend sein. Luhmann war sich dessen bewusst, dass sich für einen Soziologen die Probleme zuerst auf

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einem anderen Niveau stellen. Bereits 1966 konnte man sehen, dass es sich „nicht um die bloße Wahl eines neuen Mittels (handelt) (…), sondern um eine Strukturentscheidung, deren Rationalität sich im Grunde durch Kostenvergleiche nicht adäquat ermitteln läßt“ (Luhmann, S. 130). „Die revolutionierende Wirkung der Verwaltungsautomation wird von ihren Denkvoraussetzungen und -implikationen ausgehen“ (Luhmann, S. 141) – und das gilt auch außerhalb der Verwaltung. Das Problem, 1966 und noch mehr heute, ist, dass „es (…) keinen umfassenden theoretischen Vergleichsrahmen, keine Begriffssprache (gibt)“ (Luhmann, S. 11) um diese Probleme zu behandeln. Luhmanns Überlegungen „stehen unter dem Leitgedanken, daß Fragen dieser Art sich im herkömmlichen Bezugsrahmen des juristischen Denkens, aber auch von den wirtschaftswissenschaftlichen, wahrscheinlichkeitstheoretischen, statistischen Modellen der Handlungsrationalisierung und schließlich auch von den Computerlogik aus nicht stellen und nicht beantworten lassen“ (Luhmann, S. 13). Dazu wäre ein „umfassender theoretischer Bezugsrahmen“ (ivi) nötig. Die Herausforderung der Automatisierung (heute würden wir sagen: der Digitalisierung) liegt darin, dass sie einen „erfrischenden Denkzwang“ produziert, das uns dazu führt, viele Kategorien zu überdenken, die ansonsten selbstverständlich wären – und das gerade dank dem „glücklichen Umstand (…), dass die Maschinen so teuer sind“ (Luhmann, S. 11). Auf dieser Ebene bietet Luhmann außerordentlich einleuchtende Beiträge. Das ganze Buch ist eine Fundgrube von Ideen. Hier stelle ich aber nur einige Themen vor, welche die offensten und problematischsten Punkte in der aktuellen Debatte adressieren – was beweist, dass wir noch eine angemessene Reflektion auf der Ebene der Gesellschaftstheorie brauchen. Im Text vom 1966 kann man bereits wenn nicht die Antworten, doch die Ausgangspunkte finden, um die Debatte fruchtbarer zu gestalten und viele der Sackgassen zu vermeiden, in denen wir noch stecken. Ich möchte von der Frage der sogenannten „Singularität“ (z. B. Kurzweil 2005) ausgehen: die befürchtete Lage, in der die Maschinen, die mehr und mehr fähig sind, Aufgaben auszuführen, die bisher dem Menschen vorbehalten waren (kommunizieren, autonom Informationen produzieren, entscheiden und vorhersagen), die Kontrolle übernehmen könnten. Im 1966 erschienenen Text bezog sich Luhmanns auf Karl Zeidler (1959), der fragte „ob, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Rechtsfolgen es zulässig ist, Verwaltungsakte von Menschen auf Maschinen zu übertragen“ (Zeidler, S. 30). Die Befürchtung war, damals wie heute, dass, wenn „die Datenverarbeitungsmaschinen durch den Menschen (nicht) ausreichend beherrscht und kontrolliert werden können (…), sie heimlich Unsinn produzieren“ (ivi). Luhmanns Einwand ist dass, wenn der Zweck der Automatisierung ist, „die menschliche Bewusstseinstätigkeit zu entlasten“, der Ausstoß der Maschinen natürlich nicht „im einzelnen kontrolliert und ins menschliche Bewusstsein aufgenommen, ja in seinen Einzelheiten nicht einmal vorausgewusst werden“ (Luhmann, S. 31) kann. Maschinen werden gerade verwendet, um kontrolliert auf totale Kontrolle zu verzichten. „Der Umfang, in dem die Maschinentätigkeit durch bewusste Prozesse überwacht wird, ist prinzipiell beliebig variabel“ (ebd., S. 31) und kann nicht das Kriterium sein.

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Am Ursprung der Ängste von Zeidler und anderen liegt ein logischer Fehler: „Daß Rechtsnormen nur an Menschen adressiert werden können, heißt keineswegs, daß nur menschliches Handeln rechtlich relevant sein könne“ (Zeidler, S. 31–32). Davon gibt es viele Beispiele auch außerhalb der Technologie: „man denke an den herabfallenden Dachziegel“ (Luhmann, ivi). Der Punkt war, bereits bei Zeidler, dass es schwierig ist, die Idee aufzugeben, dass die Akten „durch Bewusstsein und Willen von Menschen getragen sein müssen“ (Zeidler, S. 30), obwohl der Willensbegriff ganz unbestimmt ist und dazu neigt, akritisch mit einem psychologischen Begriff identifiziert zu werden (S. 32). Laut Luhmann jedoch „Aufs letzte gesehen, gibt es keine rationalen Gründe, die Menschenleistung der Maschinenleistung vorzuziehen“ (Luhmann, Fußnote 24, S. 60). Maschinen arbeiten anders als Menschen, und gerade deshalb sind sie nützlich. Sie folgen einer anderen ,Logik‘, die nicht auf Denken beruht: die Maschine „regelt ein Operieren mit Symbolen, das vollzogen werden kann, ohne dass beim Vollzug der Sinn des Vollzugs, oder gar der Sinnhintergrund der Entscheidungsregeln berücksichtigt werden muss (so wie man schematisch richtig rechnen kann, ohne dabei den mathematischen Sinn der Rechenregeln oder den praktischen Sinn der Rechenaufgabe zu bedenken)“ (Luhmann, S. 451) – genau wie heute automatische Übersetzungsprogramme ohne Verständnis der übersetzten Texte und Sprachen arbeiten. Der Algorithmus, der vom Chinesischen ins Englische übersetzt, kennt weder Chinesisch noch Englisch noch ihre Grammatik, und nicht einmal die Programmierer, die ihn entworfen haben, kennen sie – deshalb funktioniert er so gut. Dass Maschinen nicht denken, ist nicht das Problem, es ist der Vorteil. Die Schwierigkeiten, die angegangen werden müssen, sind andere, und sind Folge ihrer Arbeitsweise. „Die Maschine arbeitet Schritt für Schritt nach Maßgabe der Einzelinstruktionen des Programmes“ (Luhmann, S. 49). Sie ist also ein Algorithmus. Die Maschine hat deshalb sehr geringe Flexibilität und erfordert eine „Entscheidungsanalyse in mikroskopischer Verfeinerung“ (ivi), weit außerhalb dessen, was sonst in der Kommunikation nötig ist. Diese Detaillierung ist mit einem „Übergang von sachlicher zu zeitlicher Ordnung“ (ivi) verbunden: die sachliche Komplexität der Zusammenhänge muss in eine zeitliche Folge einfacher Signale aufgelöst werden – darin liegt die Hauptschwierigkeit. In vielen Fällen weißt man nicht, wie die Komplexität von Informationen auf ein Format reduziert werden kann, das mit maschinell durchführbaren Verfahren kompatibel ist. Man muss auf Vieldeutigkeit verzichten, die jedoch oft notwendig für die auszuführende Funktion ist. Luhmann befasst sich mit Rechtskommunikation, deren Leistung für die Gesellschaft als „Absorption von Unsicherheit“ bezeichnet wird (Luhmann, S. 56 – 57). In diesem Fall liefert die Vieldeutigkeit der Begriffe und der Rechtslagen den notwendigen Raum für die juristische Begründung, die nicht deshalb überzeugt, weil alle Schritte kontrolliert werden: „Die Rationalität der juristischen Problembehandlung liegt (…) nicht in der logischen Korrektheit ihrer Schlüsse“ (Luhmann, S. 59). „Es 1

Vgl. auch Luhmann, S. 58.

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muss genügen, dass sie jedermann davon überzeugt, dass sie ihren Verfasser überzeugt hat“ (Luhmann, S. 55). Mit den unflexiblen Algorithmen geht es nicht mehr so. Hier treffen wir – vor 50 Jahren – eines der Themen, das in der aktuellen Debatte über die Verbreitung von Algorithmen am heftigsten diskutiert wird: die sehr kontroverse Frage der „algorithmic accountability“. Heute, da Algorithmen anscheinend soziale Akteure sind, Informationen produzieren und Entscheidungen treffen, wer soll für ihre Handlungen verantwortlich sein? Darum geht z. B. die Diskussion über das „right to be forgotten“ bei Google (Jones, 2016; Esposito, 2017): An wen sollte die Anforderung adressiert werden, die privaten Daten der Personen, die danach fragen und die Voraussetzungen erfüllen, im Web unzugänglich zu machen, wenn die Informationen autonom von einem Algorithmus generiert werden, und weder Google noch seine Programmierer darüber Bescheid wissen oder sie kontrollieren? Oder dramatischer: Wer trägt die Verantwortung bei Unfällen mit selbstfahrenden Autos, die autonom entscheiden, wie sie mit kontextuellen Gegebenheiten umgehen sollen – ob und wann sie bremsen, wenden, überholen usw.? Was sagt Luhmann dazu? Dass der Akteur ein Mensch oder eine Maschine ist, ist für das Recht relativ gleichgültig. „Die Art der ,Anlage‘, auf der Programme ausgeführt werden, die Maschine bzw. das menschliche Gehirn, ist für die ,Logik‘ und die Richtigkeit des Schlusses unerheblich“ (Luhmann, S. 46). „Die Übertragung der Entscheidung auf Maschinen verändert die Rechtslage selbst nicht“ (Luhmann, S. 47). Wie es heute beobachtet wird, sind sogar Algorithmen aus der Sicht der Angst vor Unfällen oft als Fahrer viel sicherer als Menschen, weil die Maschinen, sagt Luhmann, „eine sehr viel fehlersichere Datenverarbeitung ermöglichen“ (S. 80). Die Frage ist eine andere, und taucht auf, wenn die autonom entscheidende Maschine Fehler macht – z. B. wenn das selbstfahrende Auto einen Unfall verursacht. Wie kann das Recht seine gesellschaftliche Leistung der Unsicherheitsabsorption liefern? Das Problem liegt in diesen Fällen in einer „Inkongruenz von Verantwortung und Verantwortlichkeit“ (Luhmann, S. 105). Die Zuschreibung der Verantwortung findet in allen Fällen der Unsicherheitsabsorption statt und betrifft nicht nur die „menschliche Datenverarbeitung“ – obwohl natürlich die zu absorbierende Unsicherheit Menschen und nicht Autos betrifft (Luhmann, Fußnote 7, S. 105). Wie bei der Beziehung zwischen Arzt und Patient, wird die Verantwortung zwischen Menschen und Maschinen geteilt: „wie man nicht sagen kann, dass der Patient allein die Verantwortung für seine Gesundheit trägt, weil er aus wohlerwogenen Gründen dem Arzt vertraut, so kann man nicht sagen, dass der Mensch, der einer Datenverarbeitungsanlage aus wohlerwogenen Gründen ihre Ergebnisse abnimmt, allein die Verantwortung trägt. Wenn man Verantwortung in unserem Sinne als Funktion kommunikativer Prozesse definiert, hat es keinen Sinn mehr, sie individuell zuzurechnen“ (Luhmann, Fußnote 7, S. 105). Gerade deshalb wird die Diskrepanz von Verantwortung und zurechenbarer Verantwortlichkeit produziert, welche die Frage der algorithmic accountability kompliziert macht.

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Algorithmen tragen sicher die Verantwortung. Hat es aber Sinn zu sagen, dass sie verantwortlich sind? Und vor allem: Wird damit die nötige Unsicherheitsabsorption geleistet? Im Fall von Fehlern muss man wissen, wer accountable ist, und kann sich nicht dieser Erwartung mit einem dauernden „ich weiß es nicht“ entziehen (Luhmann, S. 106). Bei Algorithmen ist es jedoch viel schwieriger, Verantwortlichkeit festzustellen. Wenn es um Menschen geht, reicht es aus „die Darstellung, nicht aber die Herstellung der Entscheidung“ zu regulieren (ivi), und die Geheimnisse der Unsicherheitsabsorption werden respektiert. Die Zuschreibung ist mit einem gewissen Grad an Intransparenz in Bezug auf die Prozesse und Gedanken der Entscheider kompatibel. In Anbetracht der Art und Weise, wie Algorithmen funktionieren, die getreulich den Programmanweisungen folgen (und dies tun müssen), würde jedoch die Zuschreibung erfordern, sich detailliert mit allen Schritten des Verfahrens der Herstellung von Entscheidungen zu befassen. Dies ist angesichts der undurchdringlichen Dunkelheit der fortschrittlichsten Algorithmen (Burrell, 2016) nicht nur praktisch unmöglich, sondern würde nicht einmal dazu dienen, die Unsicherheit zu absorbieren. Wenn einmal die Verantwortlichkeit festgestellt worden ist, wie macht man dann weiter? Der Sinn der Automatisierung liegt, wie wir gesehen haben, im bewussten Verzicht auf die Kontrolle aller Aspekte des Verfahrens. Die Folge ist eine Art von „Entindividualisierung der Fehler“ (Luhmann, S. 110). Wie kann der Verantwortliche verhindern, dass sich der Fehler wiederholt, wenn der Vorteil des Verfahrens darin liegt, dass er es nicht kontrollieren muss? Die einzige Form der Prävention wäre eine Privatversicherung, die aber die Unsicherheit anderer Beobachter nicht absorbiert. Das Problem ist, dass in diesen Fällen „die Haftdrohung als Motivierungsmittel praktisch versagt“ (Luhmann, S. 111) – nicht nur, weil es nicht viel gibt, was getan werden kann, sondern auch, weil die Fehler in den meisten Fällen nicht von einer Motivation oder einem Mangel an Motivation abhängen, zum Beispiel ein Interesse an Bequemlichkeit, an Verringerung der Arbeitslast o. ä. (Luhmann, S. 112). Die Motivation der Verantwortlichen hat wenig mit der Schadensabwicklung zu tun, so dass ihre eventuelle Sanktionierung die Unsicherheit des Publikums nur wenig absorbieren würde. Die Bestrafung von Tesla wegen des Unfalls eines selbstfahrenden Autos steigert das Vertrauen daran nicht, dass es in Zukunft keine weitere Unfälle geben wird. Die Digitalisierung hebt eine Schwierigkeit hervor, die für soziologische Reflexion im Allgemeinen offen bleibt: dass der Bezug des Sinns der Kommunikation auf Gedanken und Motive eines Menschen eine Fiktion ist (Luhmann, S. 115). Deshalb brauchen wir eine allgemeine Theorie, die den Bezug auf den sozialen Sinn der Prozesse verschiebt: in diesem Fall auf die kommunikativen Konsequenzen der Digitalisierung. Luhmann schlug 1966 eine „neuartige Theorie der Verwaltung“ (Luhmann, S. 142) vor – in den folgenden 30 Jahren lieferte er eine neuartige Theorie der Gesellschaft.

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Literatur Burrell, Jenna: How the machine ,thinks‘: Understanding opacity in machine learning algorithms, Big Data & Society 1 2016. DOI: 10.1177/2053951715622512. Esposito, Elena: Algorithmic memory and the right to be forgotten on the web, Big Data & Society 1 2017. DOI: 10.1177/2053951717703996. Kurzweil, Ray: The Singularity is Near, New York: Viking Books 2005. Jones, Meg Leta: Ctrl + Z. The Right to Be Forgotten, New York: NYU Press 2016. Luhmann, Niklas: Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Berlin: Duncker & Humblot 1966. Silver D., D. Hassabis: AlphaGo: Mastering the ancient game of Go with Machine Learning, 2016, https://research.googleblog.com/2016/01/alphago-mastering-ancient-game-of-go.html, 27. 1. 2016. Zeidler, Karl: Ueber die Technisierung der Verwaltung, Eine Einführung in die juristische Beurteilung der modernen Verwaltung, Karlsruhe: Mueller 1959.

Autoren- und Herausgeberverzeichnis Ino Augsberg, geb. 1976, Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht und Co-Direktor des Hermann Kantorowicz-Instituts für juristische Grundlagenforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Timon Beyes ist Professor für Soziologie der Organisation und der Kultur an der Leuphana Universität Lüneburg. Er ist Direktor des Centre for Digital Cultures sowie des Instituts für Soziologie und Kulturorganisation. Er hat eine Fractional Professorship am Department of Management, Politics and Philosophy der Copenhagen Business School inne. Timon Beyes promovierte an der Universität St. Gallen und habilitierte sich ebendort an der School of Humanities and Social Sciences und der School of Management. Seine Forschung ist einer kulturtheoretisch verstandenen Organisationssoziologie gewidmet. Forschungsschwerpunkte sind dabei Medientechniken, Ästhetiken, Räume und Politiken der Organisation. Hanna Engelmeier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und Kolumnistin beim Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Zuletzt erschien „Trost. Vier Übungen“ bei Matthes und Seitz Berlin. Elena Esposito ist Professorin für Soziologie an der Universität Bielefeld und an der Universität Bologna. Sie ist eine führende Persönlichkeit auf dem Gebiet der soziologischen Systemtheorie und hat zahlreiche Publikationen zur Gesellschaftstheorie, Medientheorie, Gedächtnistheorie und zur Soziologie der Finanzmärkte veröffentlicht. Ihre aktuelle Forschung über algorithmische Vorhersagen wird durch einen fünfjährigen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats unterstützt. Ihr neuestes Buch Artificial Communication: How Algorithms Produce Social Intelligence wird 2021 bei MIT Press erscheinen. Wolfgang Hagen studierte Germanistik und Philosophie in Wien und Berlin. Promotion 1977, von 1970 bis 1972 im Gründungs-Kollektiv des Merve-Verlag Berlin, danach bis 1975 Geschäftsführer einer Buchhandlung, 1978 Kulturredakteur bei Radio Bremen, 1979 bis 1984 Redakteur und Moderator der Sendung „SFBeat“ des SFB. Von 1984 Gründungs- und Programmchef von „Radio Bremen Vier“. Von 2002 bis 2012 war er Leiter der Kulturabteilung im Deutschlandradio. 2001 Habilitation an der Uni Basel, ab 2013 Professor für Medienwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg, seit 2015 Senior Researcher der DFG-Kolleg-Forschergruppe MECS und seit 2018 Projektleiter des DFG-Projekts „Medien der Assistenz“. Maren Lehmann, Dr. phil., Studium des Designs, der Erziehungs- und der Sozialwissenschaften an der Hochschule für Kunst und Design, Burg Giebichenstein, und an den Universitäten Halle/Wittenberg und Bielefeld, seit 2012 Inhaberin des Lehrstuhls für soziologische Theorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Arbeitsschwerpunkte: Problemgeschichte der Individualität, Gesellschaftstheorie der Organisation. Weiteres unter www.zu.de/lehmann. Sven Opitz, Prof. Dr., leitet seit 2015 das Arbeitsgebiet Politische Soziologie an der PhilippsUniversität Marburg. Er forscht zu zeitlichen, räumlichen und materiellen Aspekten von Si-

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cherheitsdispositiven. Der thematische Fokus liegt auf Biopolitiken der Infektionskontrolle. Hier interessieren ihn zum einen die administrativen Medien zur Vorbereitung und Bearbeitung von Gesundheitsnotständen, zum anderen Ökologien des Atmens und Politiken der Symbiose. Unter dem Einfluss von analytischen Strategien aus dem Bereich der Science and Technology Studies fasziniert ihn das Wechselspiel zwischen der Theorie der Empirie und der Empirie der Theorie. Günter Ortmann, Prof. Dr. Dr. hc., Studium und Promotion (1975) an der FU Berlin, Professuren für Organisation, Planung und Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Bergischen Universität Wuppertal und der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Zur Zeit Forschungsprofessur an der Universität Witten/Herdecke. Lehraufträge und Gastprofessuren in Wien, Luzern, Innsbruck und St. Gallen. 2021 Ehrenpromotion durch die Universität Siegen. Claus Pias ist seit 2010 Professor für Medientheorie und Mediengeschichte an der Leuphana Universität Lüne-burg. Er studierte Elektrotechnik in Aachen, Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie in Bonn und Bochum. Von 2006 bis 2010 war er Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Digitalen Medien an der Universität Wien. Claus Pias ist Direktor der Kollegforschergruppe „Medienkulturen der Computersimulation“, des Centre for Digital Cultures und des Digital Cultures Research Lab (DCRL) an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Forschungsinteressen sind Medientheorie, Wissenschaftsgeschichte des Mediendenkens sowie Geschichte und Epistemologie der Simulation und der Kybernetik. Fabian Steinhauer, geb. 1970 in Wuppertal. Martin Warnke studierte Mathematik und Physik an der FU Berlin und der Universität Hamburg, promovierte in Theoretischer Tieftemperatur-Physik, war Leiter des Rechen- und Medienzentrums der Leuphana Universität Lüneburg, habilitierte 2008 und lehrt dort seit 2010 an der Fakultät Kulturwissenschaften im Fach Digitale Medien. Er leitet den Studiengang „Digitale Medien/Kulturinformatik“ und ist Direktor der Kollegforschergruppe „Medienkulturen der Computersimulation“. Er forscht zu digitalen Wissenskulturen, digitalen Bildmedien, Computersimulationen als Theorieform der Quantenmechanik sowie Scoring-Verfahren in der VR China und im Westen. Er ist Vorsitzender des Kunstvereins Springhornhof.