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German Pages 428 Year 2018
Stephanie Herold »nicht, weil wir es für schön halten«
Edition Kulturwissenschaft | Band 138
Stephanie Herold, geb. 1979, ist Kunsthistorikerin und Denkmalpflegerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Neben der Auseinandersetzung mit denkmaltheoretischen Fragestellungen forscht sie zu Themen der Städtebau- und Architekturgeschichte vom 19. Jahrhundert bis zur Postmoderne.
Stephanie Herold
»nicht, weil wir es für schön halten« Zur Rolle des Schönen in der Denkmalpflege
Die vorliegende Arbeit wurde 2016 als Dissertation an der TU Berlin eingereicht.
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Inhalt 1 Einleitung | 7 2 Ästhetische Wahrnehmung und das wahrnehmende Subjekt | 17
2.1 Historisierung der Ästhetik | 18 2.2 Die ‚Ästhetisierung‘ der Geschichte oder von der ästhetischen Aneignung des Historischen | 35 2.3 Innere und äußere Harmonie | 57 3 Die ästhetischen Kategorien des Erhabenen und des Malerischen | 69
3.1 Das Erhabene und seine Beziehung zum Schönen | 70 3.2 Das Malerische als ästhetische Kategorie | 79 3.3 Das Malerische als ästhetische Kategorie im denkmaltheoretischen Diskurs | 83 3.4 Die malerische Landschaft | 88 3.5 Die malerische Stadt | 108 3.6 Das Bild vom Denkmal – das Denkmal als Bild? | 150 3.7 Kritik am Malerischen: Das Oberflächliche und der Vorwurf des Eskapismus | 160 4 Vom Schönen, Wahren und Guten | 169 4.1 Wahre Schönheit und schöne Wahrheit | 169 4.2 Das ‚Original‘ in der Denkmalpflege | 192 4.3 Denkmalverständnis und Denkmalästhetik | 204 4.4 Wahre Wünsche und falsche Schönheit | 281 5 Erziehung zur Schönheit – Erziehung durch Schönheit | 297
5.1 „Ästhetische Erziehung des Menschen“ | 299 5.2 Idylle und Utopie | 307 5.3 Denkmalpflege und kulturelle Bildung | 376
6 Schönheit als Wert oder der Wert des Schönen – ein Fazit | 391 Dank | 397 Literatur | 399
1 Einleitung „Wir konservieren ein Denkmal nicht, weil wir es für schön halten, sondern weil es ein Stück unseres nationalen Daseins ist. Denkmäler schützen heißt nicht Genuß suchen, sondern Pietät üben. Ästhetische und selbst kunsthistorische Urteile schwanken, hier ist ein unveränderliches Wertkennzeichen gefunden.“1
Dieses Zitat Georg Dehios aus seiner 1905 gehaltenen ‚Kaiserrede‘ über Denkmalschutz und Denkmalpflege im 19. Jahrhundert ist bis heute das wohl bekannteste zur Rolle des Schönen in der Denkmalpflege – und spricht nicht nur dem Schönen, sondern auch dem ästhetischen Urteil im Allgemeinen jegliche Relevanz für das Fach ab. Dies wird verstärkt durch die Gegenüberstellung mit vermeintlich objektiven und unveränderlichen Werten, was an anderer Stelle noch deutlicher wird, wo Dehio explizit eine Trennung „zwischen objektiv-historischem Interesse und subjektiv-ästhetischem Wohlgefallen“ einfordert.2 Diese Polarisierung zwischen historischem und ästhetischem Wert lässt sich bis in die heutige Zeit nachvollziehen. 3 Dass der von Dehio gewünschte Idealfall einer objektiven („unveränderlichen“) Denkmalbewertung so niemals eintrat, ist jedoch bekannt. Und spätestens seit dem Verlust des Glaubens an die Möglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung in der Postmoderne erübrigt sich im Grunde auch das gegen die ästhetische Bewertung ins Feld geführte Argument der schwankenden Urteile. Schließlich ist demnach jede Form des Urteils und der Wertzuschreibung schwankend, abhängig vom jeweiligen historischen, sozialen und auch persönlichen Kontext, in dem die Wertzuschreibung stattfand. Insbesondere Wilfried Lipp geht in seinen Schriften im Rah1
Dehio 1905, S. 11.
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Dehio 1903/04, S. 35.
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So kritisierte Wilfried Lipp 1993 die „Alleinherrschaft der historischen ‚Materialität‘“ (Lipp 1993, S. 18 f.) und die Verdammung ästhetischer Belange und Sehnsüchte aus der Denkmalpflege, da diese so in Randbereiche verdrängt würden, statt sie als „Verständigungsversuche innerhalb einer Sprachfamilie“ zu betrachten (Lipp 1994, S. 9). Auch Ingrid Scheurmann und Hans-Rudolf Meier weisen 2006 auf diese beliebte Polarisierung hin (vgl. Scheurmann und Meier 2006, S. 15). Im gleichen Jahr führt Matthias Donath die „Geringschätzung des ‚Schönen‘“ zumindest teilweise auf „die vorherrschende Doktrin des geschichtlichen Zeugniswerts der Denkmalsubstanz“ zurück. (Donath 2006, S. 1.)
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men und im Anschluss an die von ihm mit initiierte Tagung Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus 1993 mehrfach auf die Auswirkungen postmoderner Ansichten und Methoden auf die Denkmalpflege ein. Als wichtigste Aspekte der Postmoderne in Bezug auf die Denkmalpflege macht er dabei neben dem „Ende der Meta-Erzählung“ auch den Verlust des Allmachtanspruchs der Wissenschaften, eine damit verbundene gesteigerte Pluralität und nicht zuletzt einen „Ästhetisierungsschub“ aus, der sich in Bezug auf die Denkmalpflege vor allem durch die Aufwertung des Schauwerts äußere.4 Das Schöne ist also trotz Dehiosʼ vehementer Absage weder aus der praktischen Denkmalpflege noch aus dem denkmaltheoretischen Diskurs verschwunden, auch wenn der Begriff ‚schön‘ meist gemieden wird. Neben der impliziten Auseinandersetzung mit dem Thema, wie sie über weite Strecken vorherrschend ist, gibt es in jüngerer Zeit auch explizite Forderungen, sich verstärkt und produktiv mit ästhetischen Aspekten des Denkmals auseinanderzusetzen. Davon zeugen verschiedene Tagungen, die ästhetische Aspekte der Denkmalpflege thematisierten. Hervorzuheben ist insbesondere die 2006 im Rahmen der Reihe Nachdenken über Denkmalpflege stattgefundene Tagung Denkmalpflege und Ästhetik.5 Hier wurde das Thema durch eine Ausweitung auf ‚Ästhetik‘ im Allgemeinen bewusst breit behandelt und nicht auf den Teilbereich des Schönen beschränkt. 6 Entsprechendes gilt für andere Tagungen, die sich mit dem Aspekt der Bildlichkeit des Denkmals auseinandersetzten7 und so ästhetische Aspekte thematisierten, jedoch ebenfalls unter Vermeidung einer direkten Bezugnahme auf das Schöne. Lediglich die 2006 erschienene Publikation Zeitschichten der Denkmalpflege führt in ihrem Untertitel geradezu provo-
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Vgl. Lipp 1993, S. 19 f. und 2008, S. 41 ff. Dass diese Erkenntnisse auch zu einer Reflexion über Wertezuschreibungen führte, die inzwischen als Allgemeingut der Denkmaltheorie gelten kann, zeigt beispielsweise Matthias Donaths Feststellung, dass sich jeder Denkmalwert erst in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart formiert und entsprechend variabel ausfallen kann. Vgl. Donath 2002, S. 2.
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In seinem Tagungsbericht berichtet Matthias Donath von der zunächst ablehnenden Haltung vieler Kollegen, die das Thema Ästhetik als nicht relevant betrachteten und stellt als Ergebnis gleichzeitig den möglichen Gewinn heraus, den die Denkmalpflege aus der Auseinandersetzung mit dem Thema ziehen könnte. Vgl. Donath 2006, S. 1 ff.
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Holger Brülls regt in seinem Beitrag auf der Tagung entsprechend an, Ästhetik in Bezug auf die Denkmalpflege im ursprünglichen Wortsinn auf die sinnliche Wahrnehmung im Allgemeinen zu beziehen. Vgl. Brülls 2006, S. 3 f.
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2001 fand die Jahrestagung der Landesdenkmalpfleger in Halle unter dem Titel Das Denkmal als Bild statt (vgl. Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt 2002) und 2007 beschäftigte sich eine Tagung in Dresden mit Stadtbild und Denkmalpflege. Vgl. Brandt und Meier 2008.
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kant den Begriff ‚schön‘ und regt dazu an, sich mit dessen schillernder Vielschichtigkeit auseinanderzusetzen.8 In der denkmalpflegerischen Praxis findet die Konfrontation mit dem Thema meist in der direkten Auseinandersetzung mit den Urteilen von ‚Laien‘ statt, die die Scheu vor dem Begriff des Schönen in Bezug auf Denkmale nicht teilen.9 Dies spiegelt das Ergebnis einer allgemein gesellschaftlichen Entwicklung wider, während derer das Schöne als Wert in Bezug auf Kunst (und die damit verbundenen Wissenschaften, zu denen hier auch die kunstgeschichtlich geprägte Denkmalpflege gezählt wird) verdrängt wurde, während er im alltäglichen Bereich seine zentrale Wertigkeit behielt.10 Wilfried Lipp weist auf die dadurch entstehenden Alltagskonflikte hin, die sich für den Denkmalpfleger beispielsweise in der Frage artikulieren: „Erklären Sie uns doch bitte, was daran schön sein soll!“.11 Ausgehend von der Diskrepanz zwischen einer postulierten Ausklammerung des Schönen aus denkmalpflegerischen Überlegungen und der scheinbaren (gesellschaftlichen) Sehnsucht danach soll die Rolle des Schönen in der Denkmalpflege genauer untersucht werden. Die zugrundeliegende Frage ist nicht nur die nach möglichen historischen Gründen für das ganz offensichtlich höchst ambivalente Verhältnis der Denkmalpflege zum Schönen, sondern auch die Frage, ob ein anderer Umgang mit dem Thema möglich wäre und ob damit Potenziale für die Denkmalpflege erschlossen werden könnten, die bislang ungenutzt bleiben. Das Schöne wird dabei nicht als Objekteigenschaft verstanden, sondern als durch das Subjekt wahrgenommener und festgelegter Wert. Von diesem Verständnis ging auch Dehio in dem anfänglichen Zitat aus, indem er bewusst nicht von der Schönheit des Denkmals, sondern von dessen Einschätzung als ‚schön‘ spricht (also nicht „weil es schön ist“ sondern „weil wir es für schön halten“). Das Schöne ist für Dehio also ein durch das jeweilige Subjekt zugeschriebener Wert, der nicht im Objekt selbst begründet ist, sondern durch das Subjekt im Vorgang der Wahrnehmung festgestellt wird. Diese im Subjekt begründete Vorstellung von Schönheit hatte sich 8
Vgl. Scheurmann und Meier 2006. Das Schöne tritt hier nicht nur im Untertitel (Echt, alt, schön, wahr) auf, sondern auch in den Titeln zweier Beiträge, die jedoch beide bezeichnenderweise nicht von Denkmalpflegern verfasst wurden sondern von dem Philosophen Werner Beierwaltes und dem Architekturtheoretiker Werner Sewing.
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Dabei konnte die französische Soziologin Nathalie Heinich nachweisen, dass auch Denkmalpfleger in ihrer praktischen Arbeit von ästhetischen Urteilen beeinflusst sind. Die von ihr interviewten Forscher versuchten jedoch, dem vermeintlich subjektiven ästhetischen Urteil auszuweichen und es durch objektiv-wissenschaftliche Kriterien zu ersetzen. Heinich spricht in diesem Zusammenhang von einer Selbstzensur seitens der Wissenschaftler. Vgl. Heinich 2006.
10 Vgl. Liessmann 2009, S. 81. 11 Lipp 2008, S. 352.
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im Zuge der modernen philosophischen Ästhetik seit der Aesthetica Alexander Gottlieb Baumgartens (1750-1758) etabliert und wurde Grundlage für alle weiteren philosophisch geprägten Auseinandersetzungen mit dem Thema. 12 Auch in dieser Arbeit wird das Schöne nicht als objektive Eigenschaft verstanden, sondern als durch das Subjekt wahrgenommen oder konstruiert. Entsprechend soll hier nicht nach konstituierenden Merkmalen einer objektverhafteten Schönheit gesucht (wie sie beispielsweise im Rahmen formalästhetischer Theorien diskutiert werden), sondern die Mechanismen und Vorgänge untersucht werden, wie das Schöne im Kontext der Denkmalpflege verhandelt wird. Das Schöne wird dabei als subjektiv wahrgenommen und entsprechend variabel verstanden. Da sich das Subjekt jedoch in einem sozialen Raum bewegt, sind diese Vorstellungen und Konzepte vom Schönen trotz ihrer Subjektivität nicht willkürlich, sondern bewegen sich in einem gesellschaftlich konstituierten Rahmen. Das Schöne stellt entsprechend zwar kein auf feststehenden Normen basierendes Phänomen dar, ist aber als Ergebnis kultureller Zuschreibungen an bestimmte soziale (und damit auch zeitliche) Kontexte gebunden. Die einzelnen Individuen positionieren sich dabei innerhalb eines bestimmten Kontextes, wobei sie gewisse Strukturen und Normen vorgegeben finden, diese allerdings im Prozess ihrer eigenen Positionierung selbst weiter modifizieren.13 Dabei ergeben sich bei der Auseinandersetzung mit dem Schönen verschiedene spezifische Probleme. Das erste liegt in der Begriffsverwendung und -abgrenzung.14 In unterschiedlichen Kontexten wird der Begriff unterschiedlich verwendet – oder auch nicht verwendet, sondern durch synonym verstandene Platzhalterbegriffe ersetzt.15 Bildet das Schöne im engeren Sinn eine spezifische ästhetische Kategorie neben anderen (wie beispielsweise dem Malerischen oder dem Erhabenen), umschreibt der Begriff des Schönen alltagssprachlich (und wie sich zeigen wird auch in vielen akademisch geprägten Zusammenhängen) das als ästhetisch positiv Wahrgenommene im Allgemeinen.16 Der Philosoph und Medientheoretiker Gerhard 12 Schweppenhäuser bemerkt in diesem Zusammenhang eine Tendenz, „den Schönheitsbegriff radikal zu subjektivieren“. Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 12 f. 13 Damit orientiert sich der Untersuchungsschwerpunkt der Arbeit an wissenssoziologischen Konzepten, wie sie Mitte der 1960er Jahre von Peter Berger und Thomas Luckmann eingeführt wurden. Vgl. Berger und Luckmann 2007. 14 Ingrid Scheurmann und Hans-Rudolf Meier stellen diese Unklarheit der Begrifflichkeiten und die damit verbundenen Probleme auch in Bezug auf ihren Gebrauch im denkmaltheoretischen Diskurs fest. Vgl. Scheurman und Meier 2006, S. 15. 15 So sieht Liessmann in Begriffen wie ‚Eleganz‘, ‚Attraktivität‘ und auch ‚Fitness‘ Spuren eines Verständnisses von Schönheit, dass sich in seinen Grundlagen teilweise bis in die klassische Antike zurückverfolgen lässt. Vgl. Liessmann 2009, S. 82. 16 Vgl. Kösser 2006, S. 64 f.
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Schweppenhäuser differenziert daher zwischen einem alltäglichen Verständnis von Ästhetik, in dem das Wort ‚Ästhetik‘ für die äußere Erscheinung eines Objektes steht, und einer wissenschaftlichen Ästhetik, die mit dem Begriff entweder die Auseinandersetzung mit Kunst bzw. dem Kunstschönen oder mit der sinnlichen Wahrnehmung oder beidem in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen bezeichnet. 17 Gleichzeitig wird der Begriff ‚ästhetisch‘ im deutschen Sprachgebrauch jedoch auch im Sinne von optisch gefällig (also ‚schön‘ im engeren Sinne) verwendet, wobei Schweppenhäuser dem Begriff ‚ästhetisch‘ einen „gelehrten Beiklang“ bescheinigt18, was dazu führt, dass in gewissen Kontexten die Grenzen zwischen dem Ästhetischen und dem Schönen verschwimmen. Diese sprachliche Unschärfe, die sich in der Vermischung und Gleichsetzung verschiedener Begrifflichkeiten äußert, hat auch Auswirkungen auf die Methodik der Arbeit. So wird im Folgenden nicht nur die Verwendung des Begriffs ‚schön‘ untersucht, sondern breiter auch Konzepte und Diskussionen die das ästhetisch positiv Wahrgenommene thematisieren. Dadurch erklärt sich die Ausweitung auf das Malerische oder auf die ästhetische Wahrnehmung des Zeitlichen, die beide in den sie begleitenden Diskussionen eng mit Vorstellungen und Konzepten vom Schönen verbunden sind. Das Schöne bezeichnet in diesem Sinne eine ästhetische Idealvorstellung, die variabel ist und eng mit der Wahrnehmung des jeweiligen Subjektes zusammenhängt. Daher soll in dieser Arbeit auch von dem Schönen im Sinne einer Idee die Rede sein, wohingegen die Schönheit als eine dem Objekt anhaftende Eigenschaft verstanden wird. Das Schöne als Idee geht in seiner Vielschichtigkeit weit über die Beschreibung von Objekteigenschaften hinaus und steht selten für sich allein. Meist beinhaltet es verschiedene Konzepte, Attribute oder Topoi. Die wichtigste Rolle spielt dabei wohl die bereits seit der Antike angenommene Trias vom Schönen, Wahren und Guten, die die Auseinandersetzung mit dem Schönen um eine moralische Komponente erweitert. Parallel dazu existiert jedoch spätestens seit dem 18. Jahrhundert und der Einführung der dem Schönen an die Seite gestellten Kategorie des Malerischen auch die Vorstellung vom ‚Schönen Schein‘, der eben nicht gleichbedeutend mit Wahrheit ist, sondern diese vielmehr verschleiert. Diese Aspekte werden heute unter dem Stichwort der Ästhetisierung kritisiert. Die Ausweitung auf das Feld der Ästhetisierung verdeutlicht, dass es sich hier nicht mehr um Diskussionen über die Schönheit von Objekten handelt, sondern um gesellschaftliche und politische Aspekte, die im Kontext des Schönen thematisiert werden. Diskussionen über das Schöne beinhalten damit auch moralische Komponenten, die implizit mit verhandelt
17 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 14. 18 Vgl. ebd., S. 10.
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werden.19 Gerade diese implizite Verhandlung verschiedener gesellschaftlicher, politischer und moralischer Vorstellungen führt zu einer starken emotionalen Aufladung der Diskussionen um das Schöne, denn es geht im Grunde um weit mehr als die Schönheit des Objekts. Die moralische Komponente des Schönen ist auch die Grundlage für einen weiteren Aspekt, der die Auseinandersetzung mit dem Thema spätestens seit der Zeit des deutschen Idealismus prägt, nämlich sein vermeintliches erzieherisches und weltverbesserndes Potenzial. Am ausführlichsten und differenziertesten erörterte dies Friedrich Schiller ab 1793 in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Schiller geht davon aus, dass allein das Erleben des Schönen zwischen der sinnlichen und der vernunftbetonten Seite des Menschen vermitteln und ihn (und die Gesellschaft) so zu einer neuen Harmonie führen kann. 20 In der Folge wurde dieser Gedanke meist auf die angenommenen positiven Auswirkungen einer schönen Umgebung auf den Menschen verkürzt. In dieser Form erweist er sich jedoch als besonders haltbar. Zu seinen Vertretern zählten sowohl John Ruskin und die Vertreter der Arts-and-Crafts-Bewegung als auch Alexander Mitscherlich mit seiner Kritk an der ‚Unwirtlichkeit‘ der Städte. Auch in dieser verkürzten Lesart wird dem Schönen jedoch ein ideeller und gesellschaftlicher Wert zugeschrieben. Gleichzeitig birgt das Konzept durch die ihm inhärente Hierarchisierung der Menschen in solche, die wissen, was schön ist und andere, die es noch nicht wissen und durch ‚Erziehung‘ bzw. Bildung dorthin gebracht werden müssen, jedoch auch ein Potenzial zur gesellschaftlichen Segregation, was sich in Diskursen über den ‚Geschmack‘ von Diderot bis Bourdieu wiederfindet. So stellt sich hier nicht nur die Frage nach dem Wert des Schönen, sondern auch die nach der Legitimation der bewertenden Instanz. Für die Denkmalpflege als (be)wertender Wissenschaft eröffnet sich damit ein Themenfeld, das – wenn auch im denkmaltheoretischen Diskurs zum Schönen kaum thematisiert – zum Ende der Arbeit kritisch beleuchtet werden soll. Abgesehen von diesen abschließenden Überlegungen beschränkt sich die Arbeit methodisch auf eine Analyse verschiedener Aspekte des Schönen im denkmaltheoretischen Diskurs.21 Der Begriff Diskurs wird dabei weit gefasst und als „ein zu 19 Frank Illing führt diese Vermischung moralischer und ästhetischer Komponenten zurück bis in die Theorien zum Geschmack im 17. Jahrhundert und verfolgt sie weiter bis in die heutige Zeit. Vgl. Illing 2006. 20 Vgl. Schiller 1795, insbesondere S. 17 ff. 21 Der Begriff des denkmaltheoretischen Diskurses ist der 2009 erschienen Publikation zu der bereits 2005 stattgefundenen Tagung Fremd, vertraut oder anders? entlehnt, die den Begriff des denkmaltheoretischen Diskurses im Untertitel trägt und damit einen Teilbereich denkmaltheoretischer Überlegungen bezeichnet. (Vgl. Wohlleben 2009) Seitdem wurde die Formulierung immer wieder aufgegriffen, unter anderem in der 2010 erschienenen Festschrift für Georg Mörsch DENKmalWERTE, wo der Begriff des denkmaltheo-
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Forschungszwecken hypothetisch unterstellter Strukturierungszusammenhang“ 22 verstanden, der sowohl den Sprachgebrauch als auch bestimmte Praktiken umfassen kann und sich auch über längere Zeiträume und räumliche Distanzen erstreckt. Als verbindendes Element fungiert einzig das gemeinsame Thema, die Auseinandersetzung mit dem Schönen. Die Strukturierung der Arbeit ergibt sich aus der oben erwähnten Vielschichtigkeit des Themas, die eine rein chronologische Auseinandersetzung unmöglich macht. Die Arbeit gliedert sich daher in vier Themenblöcke, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Schönen im denkmaltheoretischen Diskurs behandeln. Die einzelnen Blöcke bilden eigenständige Teile, die in sich chronologisch aufgebaut sind, die Arbeit als ganze folgt jedoch keiner Chronologie, sondern ihr Aufbau folgt theoretischen Überlegungen. Die einzelnen Kapitel gleichen sich in ihrer chronologischen Gliederung, wobei den Untersuchungen zum denkmaltheoretischen Diskurs jeweils eine kurze historische Herleitung vorangestellt ist, die das Thema in einen allgemeineren Kontext stellt. Dies ist notwendig, da der denkmaltheoretische Diskurs auf bereits vorhandenen Überlegungen (beispielsweise aus dem Bereich der Philosophie oder der Architekturtheorie) aufbaut. Die Fülle an Materialien, die sich hier finden ließe, wurde eingegrenzt durch eine Fokussierung auf die spätere Relevanz im denkmaltheoretischen Diskurs. Für die Zeit seit der Institutionalisierung der Denkmalpflege wurde versucht, das Quellenmaterial möglichst breit auszuwerten. Da jedoch davon ausgegangen wird, dass nur gedruckte Quellen in einem größeren Umfang rezipiert werden und somit diskursrelevant sind, wurde auf die Verwendung von Archivalien verzichtet. Ebenso verhält es sich mit der Behandlung einzelner Fallbeispiele, die nur dann zur Sprache kommen, wenn sie in der Literatur immer wieder diskutiert werden (wie beispielsweise die Dresdner Frauenkirche) und die auch nicht über ihre Behandlung in der Literatur hinaus analysiert werden. Das Quellenmaterial beschränkt sich also auf Literatur zur Theorie (und teilweise auch zur Geschichte) der Denkmalpflege. Neben monographischen Werken umfasst dies vor allem Zeit-
retischen Diskurses verallgemeinert wird und nun stellvertretend für Denkmaltheorie im Allgemeinen zu stehen scheint. Vgl. Meier und Scheurmann 2010. 22 Keller 2005, S. 63. Reiner Keller regt dieses breite Verständnis im Rahmen einer „wissenssoziologischen Diskursanalyse“ an, deren Ziel es ist, Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungsmustern zu untersuchen und zu rekonstruieren und dabei die Rolle der verschiedenen Akteursgruppen zu berücksichtigen. Gleichzeitig betont er, dass es sich bei der wissenssoziologischen Diskursanalyse nicht um eine Methode, sondern um ein Forschungsprogramm handelt, zu dessen Bearbeitung unterschiedliche Methoden herangezogen und entwickelt werden. Vgl. ebd., S. 71 f.
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schriftenartikel und Tagungsbände.23 Zur Kontextualisierung und zum Auffinden weiterer Quellen wurde darüber hinaus auch auf bereits existierende Literatur zur Geschichte der Denkmalpflege zurückgegriffen.24 Des Weiteren wurden relevante schriftliche Werke wichtiger Protagonisten der Denkmalpflege untersucht. Da sich der Untersuchungszeitraum von den Anfängen der institutionalisierten Denkmalpflege bis heute erstreckt, zählen dazu neben Dehio, Riegl, Gurlitt und Clemen auch Zeitgenossen wie Petzet, Mörsch, Lipp, Meier und Scheurmann, um nur einige wenige zu nennen.25 Obwohl die einzelnen Kapitel der Arbeit sich auf einander beziehen, handelt es sich bei dieser Aufteilung der Auseinandersetzung mit dem Schönen im denkmaltheoretischen Diskurs in unterschiedliche Themenblöcke doch um eine wissenschaftliche Hilfskonstruktion zu Analysezwecken. Es ist gerade ein charakteristisches Merkmal des Schönen, als Begriff vielschichtig, schillernd und nicht fassbar zu sein. Dadurch lassen sich einzelne Wiederholungen nicht ganz vermeiden. Es wurde jedoch meist versucht, dies durch Rück- und Querverweise zu lösen. Darüber hinaus wurden teilweise Aussagen einzelner Protagonisten einem bestimmten Themenfeld zugeordnet, obwohl sich einzelne Aspekte dieser Aussagen auch auf andere Themen beziehen ließen. Dies wird anhand von Querverweisen kenntlich gemacht. Die Entscheidung der Zuordnung fiel aufgrund der Gewichtung oder der Relevanz für die spätere Diskussion des Themas. Inhaltlich stehen die einzelnen Kapitel in engem Bezug zu einander und bauen theoretisch auf einander auf. Das erste Kapitel thematisiert den Zusammenhang zwischen ästhetischer Wahrnehmung, dem wahrnehmendem Subjekt und deren Rolle für die (insbesondere frühe) Denkmaltheorie. Das zweite Kapitel setzt sich darauf aufbauend mit wahrnehmungsästhetischen Kategorien (dem Erhabenen und dem Malerischen) und deren Rolle für die Denkmalpflege auseinander. Das Schöne als weitere eigenständige ästhetische Kategorie definiert sich dagegen weniger über die jeweilige Wahrnehmung, sondern in der Verbindung zum Wahren und Guten und hat damit einen stark normativen Charakter. Ästhetische Urteile und moralische 23 Hier ist in erster Linie die Zeitschrift Die Denkmalpflege zu nennen (bzw. 1923-1929 Denkmalpflege und Heimatschutz, 1934-1944 und 1952-1993 Deutsche Kunst und Denkmalpflege) und die Veröffentlichungen der Jahrestagungen der Landesdenkmalpfleger. 24 Besonders hilfreich waren hier die Arbeiten von Rita Mohr de Pèrez und Sybille Dürr zur frühen Denkmalpflege in Preußen bzw. Bayern, die Arbeiten von Marion Wohlleben und Christoph Hellbrügge zur Denkmalpflege des frühen 20. Jahrhunderts und die von Sigrid Brandt zur Denkmalpflege der SBZ/DDR, um nur eine Auswahl wiederzugeben. 25 Da die denkmaltheoretische Literatur durch den disziplinär begründeten Fokus auf die Praxis insgesamt überschaubar ist, schien eine weitere Einschränkung nicht notwendig, wobei damit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden soll.
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Urteile stehen somit in engem Zusammenhang. Gleichzeitig verdeutlicht dies, dass ästhetische Urteile eine gesellschaftliche Komponente beinhalten, die über das Schöne hinaus geht, jedoch in Diskussionen um das Schöne unterschwellig mit diskutiert wird. Dieser gesellschaftliche Aspekt des Schönen wird schließlich im letzten Kapitel der Arbeit ausführlich behandelt, in dem es um die erzieherische Funktion des Schönen und dessen Rolle im denkmaltheoretischen Diskurs geht. Daraus ergibt sich, wie oben schon dargelegt, auch die Frage nach der wertenden Instanz, die zum Ende der Arbeit beleuchtet werden soll. Die Überlegungen zum Schönen in der Denkmalpflege bieten so auch Ansatzpunkte für andere aktuelle denkmaltheoretische Überlegungen, wie die der gesellschaftlichen Verankerung der Denkmalpflege oder Fragen der Pluralisierung und Partizipation.
2 Ästhetische Wahrnehmung und das wahrnehmende Subjekt Ist das Schöne eine feststehende Eigenschaft des Objekts oder wird es erst durch die Wahrnehmung durch das Subjekt konstituiert? Diese Frage ist in jeder Auseinandersetzung mit dem Thema grundlegend. Ging man insbesondere in Bereichen der Architektur und schönen Künste lange Zeit von einer konstruierbaren, formalästhetischen Objektschönheit aus, so wurde diese Annahme mit der Aufwertung des Subjektes und der subjektiven Wahrnehmung, die zeitgleich mit der Etablierung einer modernen philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert stattfand, zunehmend hinterfragt. Diese Aufwertung des Subjekts und des Subjektiven fand etwa zeitgleich mit den ersten denkmalpflegerischen Bestrebungen statt und hatte sowohl Auswirkungen auf die Betrachtung von Kunst und Architektur als auch auf das Geschichtsverständnis bzw. den Umgang mit historischen Hinterlassenschaften. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer Historisierung der Ästhetik und von einer ‚Ästhetisierung‘ der Geschichte sprechen, die gleichzeitig Voraussetzung für die moderne Denkmalpflege waren.1 Zusammenfassend lassen sich verschiedene Phänomene betrachten, die prägend für die weitere Entwicklung der Denkmalpflege waren. Zum einen eine Veränderung des Geschichtsverständnisses und damit verbunden die Wertschätzung von Architektur als historisches Zeugnis. Zum anderen die historische Selbstvergewisserung in dieser Geschichte. Und als Drittes die damit einhergehende Auflösung universeller ästhetischer Grundregeln, da auch diese als historisch gewachsen betrachtet wurden. Das Kunstwerk – und die Architektur – rückte damit als Zeugnis einer kulturgeschichtlichen Entwicklung ins Interesse. Als Beispiel kann hier das Zusammenspiel zwischen Historisierung und Subjektivierung in der Architekturtheorie genannt werden, das unter anderem im Rahmen der Querelle des Anciens et des Modernes des französischen 18. Jahrhunderts diskutiert wurde. Das Subjekt wird hier als historisch verankert und wahrnehmend verstanden, also als ästhetisch denkend. Dadurch entwickelte sich eine Aufhebung des Glaubens an universelle ästhetischer Regeln, da auch diese als relativ in Bezug auf zeitliche Ab1
Ästhetisierung wird hier nicht im häufig negativ besetzten Sinne einer oberflächlichen Verschönerung verstanden, sondern im Sinne einer Baumgartʼschen sinnlichen Erfahrung (s.u.).
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läufe angesehen wurden.2 Denn erst durch die Historisierung formalästhetischer Schönheitsideale wurde die – auch ästhetische – Wertschätzung von Kunstwerken vergangener Zeiten möglich. Gleichzeitig nahm die Bedeutung des subjektiven Nachempfindens von Geschichte und Geschichtlichkeit zu, was sich in einer Ausdehnung der als schützenswert empfundenen Gebäudekategorien äußerte. In beiden Fällen spielte der wahrnehmend-ästhetische Zugang zum Objekt eine tragende Rolle. Da dieser ästhetische Zugang auch die Grundlage für die Zuordnung eines Objekts zur ästhetischen Kategorie des Schönen darstellt, soll die Aufwertung des wahrnehmendes Subjektes im Kontext von Architektur und Geschichte im folgenden Kapitel genauer untersucht und zu den Entwicklungen der Denkmalpflege in Bezug gesetzt werden.
2.1 H ISTORISIERUNG DER ÄSTHETIK Die Kontroverse, ob das Schöne bzw. die Schönheit ein gegenstandspezifisches bzw. konstitutives Merkmal oder ein subjektives Attribut ist, fand in der deutschen Philosophie ihren Höhepunkt im Idealismus und in den Theorien Kants, Herders und Schillers3 und beeinflusste maßgeblich sowohl das allgemeine gesellschaftliche Verständnis vom Individuum, als auch in zweiter Instanz das Geschichts- und Kunstverständnis. Als Denkmodell setzte sich die hier entwickelte Vorstellung des ästhetisch wahrnehmenden Subjektes durch. In der Folge prägten und prägen die idealistischen und nach-idealistischen Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts bis heute mit ihren Begrifflichkeiten und Argumentationsmustern unser Verständnis von und unseren Umgang mit Kunst.4 2.1.1 Subjektivierung und Ästhetik in der Philosophie Zunächst beschäftigte sich die moderne Ästhetik als wissenschaftliche und philosophische Disziplin nicht oder nur sekundär mit Fragen der künstlerischen Schönheit. Vielmehr reiht sich die frühe moderne Ästhetik in einen wissenschaftlichen Kontext ein, nämlich als der Versuch einer Erweiterung des mathematisch-logischen Erkenntnismodells der Rationalisten, wie es im 17. Jahrhundert maßgeblich durch Decartes geprägt worden war.5 Die ästhetischen Theorien stellten dieser Erkenntnis 2
Ihring vermutet hierin eine direkte Auswirkung der Querelle des Anciens et des Modernes, in deren Verlauf erstmalig der Gedanke des „Beau relatif“ formuliert wurde. Vgl. Ihring 2002, S. 35.
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Vgl. Jung 1987, S. 18.
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Vgl. ebd., S. 26.
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Vgl. Knatz 2005, S. 12.
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Ä STHETISCHE W AHRNEHMUNG
UND DAS W AHRNEHMENDE
S UBJEKT
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die Erkenntnis durch sinnliche Wahrnehmung ergänzend zur Seite, was gleichzeitig zu einer Aufwertung des wahrnehmenden Subjektes führte. Auch wenn es bereits in der Aufklärungsphilosophie von Leibniz oder Wolff erste Auseinandersetzungen mit dem Thema gab, so wird der Beginn der modernen Ästhetik doch in erster Linie mit Alexander Gottlieb Baumgarten in Verbindung gebracht, der, anknüpfend an Leibniz und Wolff, den Begriff der Ästhetik erstmals in seiner Dissertation aus dem Jahr 1735 verwendete und 1750-1758 die Aesthetica als philosophisches Grundlagenwerk zu dem Thema veröffentlichte.6 Auch wenn das Werk, dem damaligen wissenschaftlichen Usus folgend noch in Latein verfasst, keine ähnlich weite Verbreitung fand wie später die Schriften Kants oder Herders, so ist die Bekanntheit und die Wirkung Baumgartens Schrift nicht von der Hand zu weisen, insbesondere da beide Autoren sich in ihren Werken explizit auf Baumgarten beriefen und ihn so als den Begründer der modernen Ästhetik etablierten, als der er bis heute gilt.7 Baumgartens Ästhetik war ursprünglich als zweibändiges Werk geplant, blieb jedoch, wie die meisten ästhetischen Theorien, Fragment. 8 Seinem Werk vorangestellt bezeichnet er genauer, was er mit dem Begriff der Ästhetik umschreiben möchte. So bezeichnet Ästhetik für ihn die „Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung“ („Aesthetica […], est scientia cognitionis sensitivae“). 9 Die Aufgabe der Ästhetik als Wissenschaft besteht demnach in der Untersuchung der Gesetze, die die sinnliche Wahrnehmung betreffen.10 Dabei geht Baumgarten von der These aus, dass dem Menschen von der Natur mehr Fähigkeiten gegeben wurden, die Welt anzueignen, als dies auf der Basis der logisch-begrifflichen Erkenntnis möglich ist. Stattdessen besitzt der Mensch die Möglichkeit, sich die Welt empfindend anzueignen, da er „weit mehrere Vermögen der Seelen [besitze], die zur Erkenntnis dienen, als die man bloß zum Verstande oder der Vernunfft [sic]“ zurechnen könnte. 11 Das Ziel der Ästhetik nach diesem Verständnis ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis. Diese Erkenntnis ist es, die Baumgarten als Schönheit bezeichnet.12 Insofern stellt für ihn Ästhetik auch „die Kunst des schönen Denkens“ („ars pulcre cognitandi“) dar. Dennoch gilt dabei, wie für alle Erkenntnis (und hier beruft sich Baumgarten auf Cicero und Demokrit), dass die höchste Stufe nur ein „quam simil6
Vgl. Solms 1990, S. 11.
7
Vgl. Knatz 2005, S. 11.
8
Friedhelm Solms weist darauf hin, dass kaum abgeschlossene theoretische Werke zum Thema Ästhetik existieren. Diese Tradition sieht er in Baumgartens Aesthetica begründet und führt sie auf die „Unabschließbarkeit“ des Themas zurück. Solms 1990, S. 12.
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Baumgarten 1750, S. 1.
10 Vgl. Mukarovsky 1979, S. 24. 11 Zitiert nach Solms 1990, S. 22. 12 Vgl. ebd., S. 51.
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limum veri“, also eine größtmögliche Annäherung an die Wahrheit sein könne, da die Wahrheit selbst verborgen bleibe. Es kann also keine vollkommene Erkenntnis geben, sondern nur eine „ihr Gegenteil ausschließende“. Da dies jedoch auf alle Formen der Erkenntnis zutrifft, kann man die ästhetische Erkenntnis gleichberechtigt zur logischen Erkenntnis betrachten, da auch sie die Fähigkeit hat, ein gewisses, zumindest ausschließendes Maß an Gewissheit zu vermitteln.13 Auf diese Weise versucht Baumgarten das Problem zu lösen, dass sich die sinnliche Erkenntnis („cognitio sensitiva“) ihrer Struktur nach schlussendlich einer logischen Determination versperrt. Trotz Baumgartens argumentativer Gleichstellung mit der logischen Erkenntnis bleibt diese der Ästhetik immanente Unschärfe doch ein Problem, das auch spätere Theorien immer wieder diskutieren und die Ästhetik als Erkenntnismodell angreifbar bleiben lässt. Dennoch sind verschiedene Punkte Baumgartens grundlegend für die weitere Entwicklung des Verständnisses von Ästhetik. Als wichtigster Punkt ist wohl die Aufwertung der Wahrnehmung und in diesem Zusammenhang des Subjekts zu sehen. Insbesondere in Bezug auf die Betrachtung von Kunst spielte dies zunehmend eine Rolle. Die Vorstellung und Wahrnehmung gewinnt in Baumgartens Aesthetica gegenüber dem Objekt und seinen Eigenschaften an Gewicht, indem er beispielsweise den Fokus von den vermeintlichen Qualitäten der Objekte auf die Qualität der durch sie ausgelösten Gedanken lenkt.“14 Insbesondere in Bezug auf die Kunst ergibt sich hier die Möglichkeit, als normativ angesehene, dem Objekt zugeordnete Wertmaßstäbe zu hinterfragen und stattdessen den Schwerpunkt in Richtung Wahrnehmung zu verschieben. Obwohl für Baumgarten selbst das Kunstwerk als solches bei seiner ästhetischen Theorie keine Rolle spielte,15 sondern er sich mit dem Erkenntnisgewinn durch sinnliche Wahrnehmung beschäftigte, hatte diese Wahrnehmungslehre im weitesten Sinne doch großen Einfluss auf die Kunst und auch auf die Kulturgeschichte. Denn durch die Schwerpunktlegung auf die ästhetische Erfahrung ergab sich die Möglichkeit, auch Objekte, die bisher nicht als künstlerisch eingestuft wurden, auf dieselbe Weise wahrzunehmen. Dadurch wurde ein Grundstein zu einem erweiterten Kunstverständnis gelegt.16 In der Folge kam es so auch in der Zeit bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer besonders engen Verbindung zwischen Philosophie und Kunst. Kunst wur-
13 Vgl. ebd., S. 74 f. 14 Vgl. Baumgarten in der Übersetzung von Dagmar Mirbach 2009, Abschnitt XVII, Über die relative Größe des Stoffes, z. B. S. 178 f. 15 Vgl. Knatz 2005, S. 23. 16 Vgl. Küpper 2003, o. O.
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de nun „als philosophisch belangvolles Medium der Selbsterfahrung“, also als Vermittler von Wahrheit betrachtet.17 Neben diesen ideengeschichtlichen Weichenstellungen lässt sich bei Baumgartens Ästhetik außerdem eine Beobachtung in Bezug auf die Begriffsverwendung machen, die ebenfalls prägend sein sollte. So bezeichnet Baumgarten mit Ästhetik zwar allgemein die Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung, konstituiert dabei aber gleichzeitig den Begriff der Schönheit als Kernbegriff. So, wie Schönheit für ihn die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis bezeichnet, verweigert er eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Hässlichkeit, da diese für ihn keine Fähigkeit zur Erkenntnisvermittlung besitzt.18 Auch wenn Baumgarten mit schön und hässlich die Qualitäten der jeweiligen Erkenntnisse bezeichnet, so lässt sich doch feststellen, dass die Entwicklung der Ästhetik von einer Wahrnehmungslehre zur Beschäftigung mit Schönheit – insbesondere im alltäglichen Sprachgebrauch – schon in ihren Anfängen begründet liegt. Stärker rezipiert als Baumgartens Aesthetica wurden Kants Gedanken zur Ästhetik, die er in seiner Kritik der Urtheilskraft festhält. Viel zitiert sind vor allem seine Worte der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ und die Vorstellung des ‚notwendigen Wohlgefallens‘, durch das sich das Schöne bei ihm auszeichnet.19 Damit handelt es sich auch bei Kants Ästhetik um eine Auseinandersetzung mit der sinnlichen Wahrnehmung und nicht mit spezifischen Objekten und ihren Eigenschaften. Im Gegensatz zu Baumgarten, der unter Schönheit die vollkommene Erkenntnis verstand – gleichbedeutend mit der Wahrheit – , ist die Schönheit bei Kant die Reaktion eines Subjekts auf die Wirkung eines Objekts.20 Dadurch wird die Ästhetik bei Kant weiter subjektiviert, da sie nicht mehr in einem angenommenen umfassenden Wahrheitsgedanken verankert ist. Die objektive Basis der Idee des Schönen wird im Sinne einer Rezeptionsästhetik ersetzt durch die Beurteilung der in Harmonie versetzenden Erkenntniskräfte.21 Abgeschwächt wird diese rein auf das einzelne Subjekt bezogene Theorie durch die Einführung des „sensus communis“, des Gemeinschaftssinns. Dieser verbindet zum einen die verschiedenen Sinne wie sehen, tasten, usw., beinhaltet aber gleichzeitig auch eine soziale Komponente. Für Kant bildet sich eine kulturelle Gemeinschaft durch die gemeinsame ästhetische Erfahrung und den „sensus communis“.22 Der Gemeinschaftssinn führt schließlich dazu, dass es
17 Paetzold 1983, S. 3.; vgl. auch Kapitel 4.1.1. 18 Vgl. Jung 1987, S. 27. 19 Kant KU, AA V, vgl. insbes. S. 226 und S. 236 ff. 20 Vgl. Solms 1990, S. 9. 21 Vgl. Bubner 2003, S. 44. 22 Vgl. ebd.
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einen Geschmack gibt, der bei allen Zeitgenossen gleich ist, wodurch die Subjektivität des Einzelnen in seinen Urteilen nicht völlig losgelöst erscheint.23 Ausgehend von der Tatsache, dass Schönheit nicht mehr mit der Wahrheit der Erkenntnis gleichgesetzt wird, sondern die Reaktion des Subjekts auf die Außenwelt umschreibt, schlägt Herder später zwei Wege vor, sich mit der Untersuchung dieser Schönheit zu beschäftigen. Diese bestehen für ihn zum einen in der Untersuchung der Wirkung auf die Sinne, also dem Vorgang der Perzeption und zum anderen in der Analyse der diese Wirkung auslösenden Gegenstände. 24 Auf diese Weise konnte die Theorie des ästhetisch wahrnehmenden Subjekts auf Objekte der Kunst angewendet werden. Dabei ging es Herder nicht darum, gattungsüberschreitende Gesetze für die Kunst zu schaffen, sondern er sah den Hauptzweck der Kunst in der poetischen Täuschung, das Schöne also nach wie vor im Vorgang der Wahrnehmung begreifend. Herder sah in diesem Vorgang aber nicht mehr die Empfindung, die nach Leibniz immer auch von einer kognitiven Gedächtnisleistung begleitet wird25, sondern das Gefühl als das ausschlaggebende Moment bei der Erfahrung von Schönheit und knüpft damit an zeitgenössische Sensualisten wie Burke und Shaftsbury an.26 Der polnische Philosoph Tatarkiewicz stellt im Zusammenhang mit dieser Entwicklung der ästhetischen Philosophie fest, dass das „Schöne, das mit der Vernunft erfasst wird, […] zum Schönen, das mit dem Instinkt erfasst wird“ weiterentwickelt wurde.27 Gegen die Vorstellung einer rein sinnlich wahrnehmbaren Schönheit spricht sich Schiller aus, der die Schönheit weder rein sinnlich noch rein verstandesmäßig erklärbar sieht. Da er den Menschen als eine Einheit aus Vernunftund Sinneswesen begreift, liegt für ihn gerade in der Erfahrung von Schönheit die Möglichkeit, diese beiden Pole des Menschen harmonisch in Einklang zu bringen, wie er in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung der Menschen ausführt.28 Die Ästhetiker der Zeit stellten also das wahrnehmende Subjekt in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Brückenschläge zur Kunst fanden zwar statt, ebenso wie die Rezeption dieser Theorien innerhalb der Architektur- und Kunsttheorie. In viel größerem Maße ausschlaggebend ist jedoch der indirekte Einfluss der ästhetischen Debatten zu verstehen, der sich in einem neuen Selbstbild ausdrückte. So betont Iwan-Michelangelo D’Aprile in seiner Untersuchung zur ästhetischen Moderne in Berlin die Bedeutung der in den Theorien formulierten „Autonomieästhetik“ für die frühe Moderne und stellt die These auf, dass sich insbesondere im deutschen 23 Vgl. Jung 1987, S. 18. 24 Vgl. Fridrich 2003, S. 179. 25 Vgl. Knatz 2005, S. 14. 26 Auch Mendelssohns Ästhetik schließt hier an, der darunter eine Theorie der Sinnlichkeit und Theorie der Kunst versteht. Vgl. D’Aprile 2006, S. 15 27 Zitiert nach Liessmann 2009, S. 29. 28 Vgl. Schrader 2005, S. 131; s. dazu ausführlich Kapitel 5.1.
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Sprachraum das moderne Subjekt in der Folge im Wesentlichen als „homo aestheticus“ also als wahrnehmender Mensch konstituiert.29 Dem schließt sich Lothar Knatz an, der ebenfalls in dem in den ästhetischen Theorien begründeten neuen Subjekt-Verständnis den Beginn der Moderne sieht: „Die erkenntnistheoretische ‚Rehabilitierung des Sinnlichen‘ führt zur Herausbildung der Ästhetik als philosophischer Disziplin und komplementär dazu entwickelt sich kulturgeschichtlich eine neu erwachsende Aufmerksamkeit sinnlichen und ästhetischen Phänomenen gegenüber. Die Neubewertung sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis und die damit einher gehende Gewichtung des Sinnlichen und Ästhetischen führt zu einer Intensivierung des Subjektbegriffs.“30
Gleichzeitig öffnete das Verständnis von Schönheit als einem Prozess der Wahrnehmung und nicht als eine dem Objekt anhaftende Eigenschaft auch neue Denkmöglichkeiten in Bezug auf die Kunst, was zu einem Aufweichen künstlerischer Normen führte und dazu beitrug, das Verständnis dessen, was unter Kunst verstanden wurde, über den existierenden Kanon auszuweiten. 2.1.2 Architekturbetrachtung und das wahrnehmende Subjekt Die Etablierung des wahrnehmenden Subjekts hatte Auswirkungen auf die Kunstbetrachtung und somit auch auf die Betrachtung und Bewertung von Architektur als einem Teil der Kunst. Die Frage, ob Schönheit dem Objekt eigen sei, oder erst beim Betrachten durch das Subjekt entstehe, führte zu der Frage, was dies für die einzelnen Kunstwerke und die schaffenden Künstler in Konsequenz bedeute. In der Architektur führten diese Fragen zu einer Auflösung des starren Normenkanons, der sich bis dahin an der Antike orientiert hatte und die dort formulierten Proportionslehren als Vorgaben zur Gestaltung eines schönen Bauwerks betrachtete. Mit der Etablierung der modernen Ästhetik wurde diese Normativität in Frage gestellt. Dennoch kreist die Diskussion weiterhin um Fragen der Formgebung. Das Problem der Architekturtheorie bleibt, wenig überraschend, in letzter Instanz die Architektur selbst. Die Konzentration auf die durch das Objekt ausgelösten Gefühle erweitert zwar die Möglichkeiten und auch die Probleme der Formgebung, lässt aber das Ringen um die Form – und sei es als wahrgenommene Form – nicht abbrechen.
29 D’Aprile 2006, S. 1. Mit dem Begriff des ‚Homo aestheticus‘ bezieht sich DʼAprile auf das 1990 erschienene gleichnamige Werk des französischen Philosophen Luc Ferry. 30 Knatz 2005, S. 22.
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2.1.2.1 Die schöne Form Maßgeblich für architekturtheoretische Diskussionen blieben über lange Zeit (mit Einschränkungen bis ins 19. Jahrhundert) die ästhetischen Grundbegriffe Vitruvs, die er in seinen Zehn Büchern über die Architektur (De architectura libri decem) festgehalten hatte.31 Im ersten dieser Bücher, über die Ausbildung des Architekten und architektonische Grundbegriffe, legt er die viel zitierte Trias der firmitas, utilitas und venustas (Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut) als Hauptanforderungen an die Architektur fest. So formuliert er in Bezug auf den Bau öffentlicher Gebäude: „Diese Anlagen müssen aber so gebaut werden, daß auf Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut Rücksicht genommen wird. […] auf Anmut aber, wenn das Bauwerk ein angenehmes und gefälliges Aussehen hat und die Symmetrie der Glieder die richtigen Berechnungen der Symmetrien hat.“32
Venustas, die Anmut setzt sich für ihn also aus mehreren Komponenten zusammen, die sowohl ein nicht weiter definiertes „gefälliges Aussehen“ beinhalten (also ein Aussehen, das bei dem Betrachter Gefallen weckt, womit die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Gebäudes gelenkt wird), als auch die Form des Gebäudes selbst, die ihren Ausdruck in den richtig angewandten Symmetrien findet. Unter Symmetrien versteht Vitruv im Gegensatz zum heutigen Wortverständnis den Einklang der Elemente eines Gebäudes untereinander. Die Wirkung der Proportionierung auf den Betrachter bezeichnet er als eurythmia.33 Die venustas basiert mit ihren einzelnen Elementen auf der gelungenen Proportionierung des Gebäudes, die Vitruv in seiner Proportionslehre festhielt, auf der die Säulenordnungen basieren. Nachdem die Schrift in der Renaissance und insbesondere durch Albertis Architekturtheorie wieder an Bedeutung gewonnen hatte,34 wurde ihre Rezeption mit der Zeit, insbesondere ab dem 16. Jahrhundert, mehr und mehr dogmatisch, die von ihm beschriebene Proportionslehre mit ihren Säulenordnungen zum verbindlichen Kanon in der Architektur.35 Durch die genauen Anleitungen zur Berechnung von Proportionen bei Architekturtheoretikern wie Serlio und Vignola wurde die Architektur zunehmend reglementiert, was nach Kruft zwar nicht zwingend die Motivation der
31 Vgl. Kruft 2004, S. 24. 32 Vitruv 2008, 1. Buch, 3. Kapitel, S. 45. 33 Neben symmetria und eurythmia werden der venustas durch Vitruv noch die Begriffe ordinatio (Ordnung), dispositio (Disposition), decor und distribution zugeordnet, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll. 34 Vgl. Bisky 2000, S. 3. 35 Vgl. Kruft 2004, S. 72.
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Autoren war, jedoch starke Auswirkungen auf die zeitgenössische Architektur und Architekturtheorie hatte.36 Dies zog sich fort bis ins 17. Jahrhundert, als der französische Architekturtheoretiker Fréart de Chambray die griechische Ordnung zum Inbegriff der höchsten Vollkommenheit erhob.37 Das hatte zwangsläufig zur Folge, dass lange Zeit nur Gebäude, die dem antiken Ideal möglichst nahe kamen, als (ästhetisch) wertvoll angesehen wurden. Dadurch wurde auch ein großer Teil der mitteleuropäischen Bauten als defizitär und unästhetisch klassifiziert. Um dies zu ändern, war nicht nur ein gesteigertes historisches Bewusstsein und ein Interesse für die Vergangenheit notwendig, es mussten auch neue Kategorien der ästhetischen Beurteilung geschaffen werden, um die nicht-antiken Bauwerke Mitteleuropas auch als künstlerische Objekte wahrnehmen zu können. Dazu mussten die Dogmen der klassischen Architekturtheorie mit ihren Proportionsregeln und Säulenordnungen zunächst in ihrer Funktion als alleinige Erschaffer von Schönheit hinterfragt werden. 2.1.2.2 Die Querelle des Anciens et des Modernes und das wahrgenommene Schöne Dies geschah in Frankreich im 17. Jahrhundert im Zuge der Querelle des Anciens et des Modernes38, durch die erstmals eine Einführung und Aufwertung des betrachtenden und bewertenden Subjektes in die Architekturtheorie stattfand.39 Die Schönheit ergibt sich hier nicht mehr quasi rein rechnerisch aus dem Objekt, sondern ent36 Vgl. ebd., S. 90 f. 37 Vgl. ebd., S. 141. 38 Im weiteren Sinne wird mit der Querelle des Anciens et des Modernes eine geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts bezeichnet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung, die größtenteils von Charles Perrault ausging und an der Académie Francaise ausgetragen wurde. Kernpunkt der Auseinandersetzung war das Infragestellen der normativen Geltung der Antiken Literatur und ihres Regelkanons. Vgl. Jacobs 2001, S. 39. 39 Nach Brönner war Perrault der erste, der die Wahrnehmungslehre der empirischen Psychologie auf die Architekturtheorie übertrug und somit einer Aufwertung des betrachtenden Subjektes die Bahn ebnete (vgl. Brönner, 1972, S. 45). Allerdings forderte der italienische Architekt Teofilo Gallaccini bereits 1625, dass nicht nur die reine Proportionslehre ein Kriterium für die Schönheit von Gebäuden sein sollte, sondern auch die jeweiligen Sichtbedingungen des Betrachters mit berücksichtigt werden sollten. Es käme auf die gesehene Proportion an, an die sich die gebaute anpassen sollte, ein Gedanke, der sich auch bei Blondel wiederfindet. Insgesamt schreibt Kruft der Zeit gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine Verlagerung des Interesses vom eigentlichen Gebäude auf dessen Wirkung zu. Die Wirkung, die erzielt werden sollte war die der stimmigen Proportion, bezogen auf den vitruvschen Kanon (vgl. Kruft, S. 115 und S. 218).
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steht durch die aktive Betrachtung und Rezeption eines denkenden und wertenden Subjekts. Damit wird der Fokus von der Regelhaftigkeit auf die Anschauung verschoben, womit – wenn auch in dieser Form zu der Zeit noch nicht beabsichtigt – sich neue Möglichkeiten der Wertschätzung von Architektur auch außerhalb des Regelkanons auftun. Walter Kambartel sieht in diesem „antinormativen Skeptizismus“ der französischen Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts die ideengeschichtliche Voraussetzung dafür, dass die Verabsolutierung des antiken Schönheitsideals zunehmend in Frage gestellt wurde.40 Auf architekturtheoretischem Gebiet wurde die Auseinandersetzung in erster Linie zwischen Charles Perraults, dem Direktor der Académie Royale dʼarchitecture, und dem Architekten François Blondel geführt. Ausgangspunkt für beide waren Überlegungen zum Zusammenhang zwischen den Proportionen (bzw. der Symmetrie) und der Schönheit eines Gebäudes. Gemeinsam ist beiden Theorien, dass sie erstmals das betrachtende Subjekt über das gestaltete Objekt stellen, wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise. Auslöser der Diskussion war das Nachdenken über positive und arbiträre Schönheiten, also über den Unterschied zwischen universellen und relativen (abhängig beispielsweise von historischem und sozialem Kontext) Schönheitsmerkmalen. Schon 1672 wurde das Thema in der Académie erörtert. In einem Bericht über die Versammlung der Académie vom 21. Januar wird festgehalten: „Mais sur ce que l’on a mis en question: en quoy consistoit cette proportion s’il y en avoit une règle positive ou si elle estoit arbitraire et qu’elle ne se fust introduite que par l’usage et une accoutumance que les hommes ont à la reconnoistre dans les ouvrages anciens, les avis se sont trouvez différens et l’on a résolu d’examnier cette matière à la premiere assemblée.“ 41
Die Frage ließ sich aber auch in der darauffolgenden Sitzung der Académie nicht endgültig klären, so dass die endgültige Lösung des Problems schließlich vertagt wurde.42 Eine weitere Behandlung des Themas ließ jedoch auf sich warten. Stattdessen wird sie von Perrault in seiner Vitruv-Übersetzung behandelt. Dort nimmt er
40 Vgl. Kambartel 1972, S. 18. 41 Zitiert nach Kambartel 1972, S. 79. 42 Vgl. ebd. Kambartel zitiert hier das Protokoll der Sitzung vom 18. August 1681: „... la question proposée dans la derniere assemblée ayant esté de nouveau examinée, la plus grande partie des voix a esté quʼil y a une beauté positive dans lʼarchitecture; cependant, comme lʼavis contraire a esté soustenu et que cette question est très importante à déterminer, il a esté arrestée que les differentes raisons que chacun en a aportées seroient examinées, pour en faire un arresté lors-qu‘il plaira à Monseigneur Colbert dʼhonorer la compagnie de sa présence.“
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Stellung zu dem von Vitruv angenommenen natürlichen Ursprung der Proportionen. Perrault sieht die Proportion von Gebäuden nicht als natürliche und universell gültige Grundlage für deren Schönheit an. Vielmehr geht er davon aus, dass diese Schönheit einen anderen Grund haben müsse und die Proportionen nur als schön erscheinen, weil sie gleichzeitig mit dieser universellen Schönheit auftreten. Durch Gewohnheit und Nachahmung etablieren sich diese Proportionen dann und scheinen so schließlich selbst ein Teil der universellen Schönheit zu werden, wobei sie jedoch im Grunde arbiträr, das heißt von Menschen gemacht und abhängig von deren Geschmack und damit veränderlich sind.43 Dies ist der Punkt an dem Blondels Kritik in dessen Cours dʼArchitecture ansetzt.44 Blondel richtet sich vehement gegen die Aussage Perraults von der Veränderbarkeit der Schönheit: „Je sçay bien quʼil y a beaucoup de choses qui deviennent supportables par Lʼaccoutumance comme en amour, aux goûts, aux modes dans les habits, dans les manieres, dans les danses, dans les gestes & en mille autre choses, dont autrement nous ne serions jamais touchez: Mais je sçay bien aussi que le bon vin, par exemple, nʼa pas besoin dʼaccoutumance pour se faire aimer.“45
Was als Widerspruch gegenüber Perraults Aussage gemeint ist, widerlegt diese im Grunde jedoch nicht, da Perrault ja nicht davon ausgeht, dass es keine unveränderlichen Schönheiten gibt, er spricht diese Qualitäten lediglich den Proportionen ab. Gerade in den Proportionen sieht Blondel jedoch die Grundlage der Schönheit eines Gebäudes.46 Wichtig sei dabei jedoch nicht die eigentliche Proportion des Gebäudes, sondern die durch den Betrachter gesehene. Um die Richtigkeit dieser These zu belegen, beruft sich Blondel auf Erkenntnisse der Optik. So unterscheidet er konkret zwischen dem physischen Vorgang des Sehens und dem der Wahrnehmung. 47 43 Vgl. Perrault in Vitruv 1837 [1674], S. 106 ff. 44 Da Blondels Cours d‘Architecture auf die Jahre 1875-1683 datieren, Perraults Ordennance aber ebenfalls erst im Jahr 1683 erschien, ist es unwahrscheinlich, dass Blondel den Inhalt dieses Werkes schon beim Verfassen seiner Cours d‘Architecture bekannt war. Dafür spricht auch, dass er dort sich zwar ausdrücklich auf Stellen aus Perraults VitruvÜbersetzung bezieht und diese sogar zitiert, nicht aber auf die Ordennance eingeht. 45 Blondel, 1698b, S. 772. 46 Vgl. ebd., S. 781. 47 „La seconde est lʼestime ou le jugement que nostre raison, ou si lʼon veut nostre sens commun, fait ordinairement sur cette apparance ou sur cette image.“ und weiter: „Quand à la premiere, on peut dire en quelque façon, que le sens de la veüe ne trempe jamais, & quʼil represente fidelement lʼespece de lʼobjet en la maniere quʼil la reçoit, ou pour mieux dire en la maniere que lʼimage sʼen trouve formée ou figurée dans son organe: Mais on ne
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Dieser Gedanke führt bei ihm schlussendlich zu der Forderung nach einer Anpassung der Proportionen an den menschlichen Sehorganismus. Dieses von ihm geforderte „changement de proportion“ soll die Proportionen eines Gebäudes so verändern, dass nicht das Gebäude selbst, sondern das auf der Netzhaut entstandene Bild des Gebäudes die idealen Proportionen aufweist.48 Perrault wertet in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema, wie er sie in den 1683 erschienen Ordennance des cinq especes de colonnes selon la methode des anciens darlegt, die subjektive Wahrnehmung weiter auf. Dort führt er die Wertschätzung bestimmter Proportionen in erster Linie auf die Gewohnheit zurück,49 wodurch sie im Grunde nur sekundär festgelegt würden, im Gegensatz zu der von ihm als positiv, also als universell gültig eingeordneten Schönheit. In dem Vorwort zu seiner Ordennance legt Perrault dar, was für ihn ausschlaggebende Charakteristika der positiven Schönheit sind, und welche Werte er darauf aufbauend als positive Schönheiten ansieht. Positive, also unveränderliche Schönheiten sind für ihn zunächst daran erkennbar, dass sie (wie die Harmonien der Musik) von jedermann als schön wahrgenommen werden. Daher können die Proportionen, wie verschiedene Säulenordnungen sie lehren, für ihn nicht auf einer positiven Schönheit beruhen, weil sie im Grunde nicht direkt wahrnehmbar, sondern nur im Detail messbar sind. Die Symmetrie zählt er hingegen zu den positiven Schönheiten, da sie bei der Betrachtung sofort ins Auge falle und Abweichungen auch ohne Nachmessung und von jedermann als Störung wahrgenommen würden. Neben der Symmetrie zählen für Perrault noch weitere Eigenschaften zu den positiven Schönheiten, die sich alle dadurch auszeichnen, dass sie „aller Welt gefallen“, da ihr Wert und ihre Würde leicht zu erkennen seien. Eine wichtige Eigenschaft der positiven Schönheiten ist also die Wirkung auf Jedermann, unabhängig von Vorwissen und modischer Beeinflussung.50 Auch Perrault geht also von der Existenz einer unveränderlichen Schönheit aus. Er spricht diese Eigenschaft allerdings den durch die in diversen Säulenordnungen geregelten Proportionen mit ihren festen Regeln ab. Dadurch eröffnet sich hier eine peut pas assurer la même chose du jugement que lʼon fait sur lʼapparence formée dans lʼœil.“ Blondel 1698b, S. 716. 48 Zur weiteren Erläuterung vgl. auch Brönner 1972, S. 19. ff. 49 „Lʼimitation de la Nature, ny la raison, ny le bon sens ne sont donc point le fondement de ces beautez, quʼon croit voir dans la proportion, dans la disposition, & dans lʼarrangement des parties dʼune colonne; & il nʼest pas possible de trouver dʼautre cause de lʼagrément, Quʼon y trouve, que Lʼaccoûtumance.“ Perrault 1683, S. X. 50 Vgl. ebd., S. VII (Vorwort). Damit ließe sich seine Argumentation gleichzeitig auch im Feld der allgemeinen Geschmacksdiskurse einordnen, die sich ebenfalls im Kontext der Frage der Bildungsabhängigkeit von Schönheitsurteilen bewegen (s. dazu auch Kapitel 5).
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größere architektonische Freiheit, die als Ziel nicht die möglichst gute Nachahmung einer schon vorhandenen und als vollkommen angesehenen Bauform hat, sondern bei Erfüllung der Grundsätze für die positive Schönheit gleiches, wenn auch in anderer Form erreichen kann.51 Bei aller Unterschiedlichkeit verbindet die beiden Einstellungen Blondels und Perraults die Aufwertung des Subjektes bzw. des Subjektiven in der Architektur einerseits und ihrer Wahrnehmung andererseits. Diese Entwicklung ist für den weiteren Verlauf der Architekturgeschichte nicht zu unterschätzen. Während Blondel den Fokus von der gebauten auf die wahrgenommene Architektur verschiebt, setzt Perrault diese Wahrnehmung in einen sozialen Kontext. Dadurch eröffnet sich hier die Möglichkeit der Betrachtung verschiedener Architekturen in Abhängigkeit des jeweiligen räumlichen oder historischen Kontextes, ohne dabei Rückschlüsse auf den ästhetischen Wert des Gebauten zu ziehen.52 Da dieser nicht mehr universellen Maßstäben folgt, können auch Bauten, die außerhalb des klassischen Kanons stehen, auf ihre Weise ästhetische Ansprüche befriedigen. Dadurch öffnete sich der Weg für die positive Wahrnehmung und Wertschätzung von Architekturen, die außerhalb dessen standen, was bis dahin als künstlerisch und schön empfunden wurde. In der direkten Folgezeit schloss sich die Architekturtheorie in weiten Teilen eher Blondels Meinung der Existenz unveränderlicher Proportionsregeln in Bezug auf architektonische Schönheit an. Perraults Gedanke der arbiträren, auf Gewohnheit basierenden Schönheit fand zunächst wenig Nachfolger in der Architekturtheorie, wenn auch das Selbstbewusstsein der zeitgenössischen Architekten, auch antinormativ zu bauen, stieg.53 Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts stieg die Anerkennung seiner Arbeit wieder, was in Zusammenhang mit einer zunehmenden Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Subjektivität (auch in Bezug auf den „bon goût“) steht. Die Auseinandersetzung zwischen Blondel und Perrault führte so also
51 Kruft sieht hier einen Einfluss der Ideen des erkenntnistheoretischen Empirismus und in erster Linie John Lockes auf die Thesen Perraults. Dies bezieht er auf dessen Gedanken der Prägung der Seele durch äußere (sensation) und innere Erfahrung (reflection), den er in Verbindung mit Perraults Postulat der Gewohnheit setzt. Gleichzeitig lässt sich jedoch auch eine Ähnlichkeit zwischen Lockes Ideen und Blondels Begründung für sein „changement des proportions“ sehen. Auch Blondel trennt die Wahrnehmung in zwei parallel stattfindende Prozesse der physischen und mentalen Wahrnehmung. Dass beide Architekten sich auf ähnliche Ausgangsgedanken bezogen, ist dabei gar nicht unwahrscheinlich. Auch Kruft stellt fest, dass bei genauem Hinsehen die Ähnlichkeiten im Denken der beiden Protagonisten auftreten, auch wenn sie meist als Gegenparts rezipiert wurden und sich scheinbar über weite Strecken auch so empfanden. Vgl. Kruft 2004, S. 149. 52 Vgl. hierzu auch Kambartel 1972, S. 119. 53 Vgl. Kambartel 1972, S. 33 f.
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zunächst zu keiner offensichtlich revolutionären Neubetrachtung von Architektur, bahnte aber späteren Entwicklungen den Weg. 2.1.2.3 Das Schöne und die Schönheit zwischen Objekt und Idee In Deutschland wurde eine neue Form der Architekturbetrachtung, die sich kritisch mit den Schriften Vitruvs auseinandersetzte, in erster Linie durch Johann Joachim Winckelmann eingeführt.54 Ausschlaggebend war für Winckelmann zunächst nicht die Verlagerung seiner Betrachtungen auf rezeptionsästhetische Parameter sondern die empirisch begründete Auseinandersetzung mit den Bauten der griechischen und römischen Antike, die er auf seinen Reisen kennenlernte.55 So stellte er bei seinem Besuch in Paestum im Jahr 1758 fest, dass Vitruvs Anmerkungen zur Proportion der dorischen Baukunst nicht mit dem dortigen dorischen Tempel übereinstimmten.56 In der Folge stützte sich Winckelmann daher vermehrt auf seine eigenen Architekturbetrachtungen und eröffnete so die Möglichkeit eines neuen Blickwinkels.57 In der Folgezeit kam es zu einem rapiden Bedeutungsverlust des Vitruvianismus.58 Jens Bisky sieht in der nun stattfindenden schrittweisen Aufhebung des Vitruvianismus entsprechend einen „Konflikt zwischen Theorie und Empirie“ 59, der schlussendlich zu Gunsten der Empirie ausging. Gleichzeitig wurde Vitruv selber zunehmend historisiert, seine Bücher über die Architektur nicht mehr als Regelwerk sondern als historische Quelle verstanden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verloren die architektonischen Normen an Bedeutung. Stattdessen stieg die Bedeutung der subjektiven Erfahrung als Urteilsinstanz, und die Beobachtung von Wirkungen der Architektur und der durch sie ausgelösten Empfindungen verdrängten die Bedeutung der architektonischen Proportion.60 Gleichzeitig reiht sich die Aufwertung des wahrnehmenden Subjekts in die zeitgleich stattfindende Aufwer-
54 Vgl. Schrader 2005, S. 11 ff. Schrader sieht ihn als ersten Verfechter einer Diskussion um Form und Ästhetik, die so schon seit Beginn des Jahrhunderts in Frankreich und England geführt wurde. Der Einfluss Winckelmanns auf die ästhetische Diskussion wurde schon von Zeitgenossen betont. Vgl. auch Friedrich 2003, S. 224. 55 Vgl. Kruft 2004, S. 211. 56 Nach Vitruv hätte das Verhältnis von Säulendurchmesser zu Säulenhöhe 1:6 betragen sollen; nach Winckelmanns Nachmessungen betrug es jedoch nicht einmal 1:5. Vgl. Borbein 2001, S. XIII. 57 Vgl. ebd. 58 So empfahl Goethe ihn zwar noch zur Lektüre, hauptsächlich aber wegen seiner Baubeschreibungen und Zeichnungen und nicht mehr wegen der Vorbildhaftigkeit seiner Proportionslehre. Vgl. Bisky 2000, S. 3. 59 Ebd., S. 4. 60 Vgl. ebd., S. 5.
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tung des Subjekts im Zusammenhang mit den Überlegungen der ästhetischen Philosophie ein.61 Für Winckelmann liegen Endzweck und Mittelpunkt der Kunst in der Schönheit.62 Dabei äußert er sich an verschiedenen Orten seines literarischen Schaffens über seine Vorstellung dessen, was Schönheit bedeutet, die sich für ihn „von der Gefälligkeit oder von der Lieblichkeit“ unterscheidet.63 Winckelmanns Schönheitsbegriff changiert stets zwischen einer wahrnehmungsästhetischen Auffassung in Annäherung an Baumgarten und Kant und einer formalästhetischen. In seiner Geschichte der Kunst des Alterthums hält er 1764 fest, dass die „Schönheit […] durch den Sinn empfunden, aber durch den Verstand erkannt und begriffen [wird], wodurch jener mehrentheils weniger empfindlich auf alles, aber richtiger gemacht wird und werden soll.“64 Der positive Einfluss, der der Schönheitserfahrung auf den Verstand zugeschrieben wird, erklärt sich aus Winckelmanns Definition der Schönheit als Wahrheit, womit er zum einen an einen Gedanken anknüpft, der in der Philosophie bereits seit der Antike verbreitet war 65, zum anderen aber wiederum eine Nähe zu der ästhetischen Theorie Baumgartens aufweist: „Die Schönheit ist eines von den großen Geheimnissen der Natur, deren Wirkung wir sehen und alle empfinden, von deren Wesen aber ein allgemein deutlicher Begriff unter die unergründlichen Wahrheiten gehört.“66 Im Gegensatz zu Baumgarten sieht Winckelmann die Schönheit also nicht im Bereich der abstrakten Erkenntnis, sondern sie bezeichnet die Wirkung, die etwas auf uns ausübt. Das Wesen dieser Wirkung (also der Schönheit) ist begründet in einer unergründlichen Wahrheit, so dass es als Konsequenz nicht verwunderlich ist, wenn Winckelmann die höchste Schönheit in letzter Instanz Gott zuordnet.67 61 Baumgartens Aesthetica erschien 1750-58, Kants Kritik der Urteilskraft 1790. Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums erschien in erster Auflage 1764 in Dresden. Auch wenn es von Winckelmann zu Baumgarten und Kant keine direkten Verbindungen gibt, so kann doch davon ausgegangen werden, dass auch die beiden letztgenannten nicht im Sinne eines Geniebergriffs die von ihnen formulierten Gedanken aus sich selbst schöpften, sondern diese sich in einem weiter angelegten zeitgenössischen Diskurs einbetteten, der auch an Winckelmann nicht spurlos vorübergegangen ist. 62 Vgl. Fridrich 2003, S. 37. 63 Winckelmann 1776, S. 258. 64 Ebd., S. 256. 65 Vgl. Liessmann 2009, S. 7. Ausführlich vgl. Kapitel 4.1. 66 Winckelmann 1776, S. 249. 67 „Die höchste Schönheit ist in Gott, und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden. […] Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist, welcher sich sucht ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde
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In seiner Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen aus dem Jahr 1771 versucht Winckelmann, seine Gedanken zum Schönen und zur Schönheit stärker zu differenzieren. Um einen Weg aus der Vermischung zwischen Schönheit als ästhetische Wirkung und Schönheit als objektinhärente Eigenschaft zu finden, schlägt er eine begriffliche Differenzierung zwischen „dem Schönen“ und „der Schönheit“ vor. Demnach bezeichne das Schöne alles „was gedacht, entworfen und ausgearbeitet wird“, die Schönheit hingegen „die Bildung“ und damit „die höchste Absicht der Kunst“.68 Trotz dieser Trennung zwischen der auf das Subjekt bezogenen Schönheit und dem dem Objekt anhaftenden Schönen, verbleibt für beide doch das Postulat des Unergründlichen. Dennoch geht Winckelmann in beiden Fällen von allgemeinen Grundzügen aus, die man festsetzen könne, auch wenn sie damit das Wesen nicht erschöpfend erklären.69 Und auch in Bezug auf das Schöne als Verursacher der empfundenen Schönheit sieht Winckelmann keine Möglichkeit der erschöpfenden Erklärung, was er in seinen Ausführungen empirisch begründet: „Wäre dieser Begriff [des Schönen, S. H.] geometrisch deutlich, so würde das Urtheil der Menschen über das Schöne nicht verschieden seyn, und es würde die Ueberzeugung von der wahren Schönheit leicht werden.“70 Eventuell ist im Bewusstsein dieses Scheiterns eines Regelwerks die Begründung dafür zu suchen, dass Winckelmanns „Architektur-Verständnis“, wie Kruft es nennt, „keinen festen Umriß“ gewinnt.71 Denn obwohl er die Schönheit als die nicht ergründbare Wahrheit betrachtet und das Schöne lediglich als Auslöser zum Empfinden dieser nicht ergründbaren Schönheit, so versucht er doch innerhalb seines Werks, sich dem Wesen des Schönen durch Analyse und architektonische Regelwerke anzunähern.72 Trotz der Fokussierung auf die Wirkung des Schönen hielt Winckelmann so am antiken Ideal fest, indem er die dort vorherrschende „Einfalt und Größe“ zum erstrebenswerten Ziel erklärte.73 Dabei offenbare nicht mehr die logische Schlüssigkeit der Werke, sondern deren sinnliche Wirkung die Gesetze der Schönheit. 74 Auf der im Verstand der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Kreatur.“ Winckelmann 1764, S. 149 f. 68 Winckelmann 1771, S. 4. 69 Vgl. Gleichen-Russwurm 1909, S. 29. 70 Winckelmann 1776, S. 249. 71 Kruft 2004, S. 211. 72 Kruft sieht die große Problemantik von Winckelmanns Kunsttheorie darin begründet, dass sie ein historisches Bewusstsein beinhaltet, das die Geschichtlichkeit und damit Veränderbarkeit der Kunst akzeptiert, gleichzeitig aber dem Gedanken des Normativen in der Architektur verhaftet bleibt. Vgl. Kruft 2004, S. 205 ff. 73 Vgl. dazu Fridrich 2003 S. 9 und Kruft 2004 S. 210. 74 Vgl. Fridrich 2003, S. 37.
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diesem Gebiet galten ihm die Werke der griechischen Architektur aber als vorbildhaft, weswegen der Weg zur Annäherung an das Schöne über die Nachahmung der Griechen und ihrer Kunst erfolgt: „Die Kenner und Nachahmer der Griechischen Werke finden in ihren Meister-Stücken nicht alleine die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur; das ist, gewisse Idealische Schönheiten derselben, die, wie uns ein alter Ausleger des Plato lehret, von Bildern bloß im Verstande entworffen [sic] sind.“75
Winckelmann macht den vorbildhaften Charakter der griechischen Kunst also nicht mehr an ihrem Formenkanon fest, sondern an dem ihr unterstellten Versuch der Darstellung der überindividuellen Idee der Schönheit. Über das Postulat der Nachahmung hält er damit gleichzeitig an einem Formenkanon fest, ohne diesen jedoch aufgrund seiner mathematisch berechenbaren Proportionen zum Kanon zu erheben. Das Vorbildhafte der griechischen Architektur lag weniger in der Form, als in der Idee hinter der Form begründet. So war es vielleicht auch weniger das aufkommende historische Bewusstsein, das den Formenkanon in der Architekturtheorie aufweichen ließ, als vielmehr die Verschiebung hin zur Wahrnehmung des betrachtenden Subjekts. Goethe, der in Winckelmanns Ästhetik ein Vorbild sah, äußerte sich diesbezüglich in seiner Schrift Über Kunst und Alterthum: „Lassen wir also Altes und Neues, Vergangenes und Gegenwärtiges fahren und sagen im Allgemeinen: jedes künstlerisch Hervorgebrachte versetzt uns in die Stimmung, in welcher sich der Verfasser befand.“76
Auch hier gilt Architektur in erster Linie als Träger eines künstlerischen Ausdrucks (bzw. Stimmung), der dabei unabhängig von zeitlicher Epochenbildung auf den Betrachter wirken kann. Die Konzentration der Philosophie auf die Erkenntnis durch das erfahrende Subjekt bleibt Goethe jedoch suspekt: „Was ist das mit der Philosophie und besonders mit der neuen für eine wunderliche Sache! In sich selbst hinein zu gehen, seinen eigenen Geist über seinen Operationen zu ertappen, sich ganz in sich zu verschließen, um die Gegenstände besser kennen zu lernen! – Ist das wohl der rechte Weg?“77
75 Winckelmann 1885 [1755], S. 9. 76 Goethe 1818, S. 149. 77 Goethe 1830b, S. 59 f.
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Im Gegensatz zur Philosophie kann sich die Kunst- und Architekturtheorie schon durch den gegebenen Untersuchungsgegenstand nicht von ihrer Gegenständlichkeit lösen. Darin liegt eventuell die Schwierigkeit der Anwendung der ästhetischen Philosophie auf die Kunst begründet. Denn dort lautet die Frage: „Was ist Schönheit?“, hier lautet sie immer „Was ist schöne Kunst?“. Die Problematik liegt darin, beide Ansätze mit einander zu verbinden. Dies schlägt sich auch in der 1771-74 erschienenen Allgemeinen Theorie der Schönen Künste von Johann Georg Sulzer nieder, die als einer der wichtigsten Beiträge zur deutschsprachigen Kunsttheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelten kann.78 Nach dem Vorbild von Diderots Encyclopédie verfasst, versucht der Autor in den dort versammelten rund 900 Artikeln die philosophischen Gedanken Baumgartens und Wolffs zur sinnlichen Wahrnehmung in seine ästhetische Systematik mit einfließen zu lassen.79 Dabei eröffnete die Subjektivierung der Architekturbetrachtung Sulzer die Möglichkeit, durch sie Einfluss auf eine allgemeine, weiter gefasste Geschmacksbildung zu nehmen.80 Die Schönheit betrachtete Sulzer als die Grundlage der Glückseeligkeit, wodurch sein Augenmerk bei der Architekturbetrachtung und der Suche nach dem ästhetischen Wert sich in Richtung einer sozialpädagogischen Wirkung von Architektur entwickelte. 81 Insgesamt lässt sich hier ein Trend betrachten, der sich in der weiteren Architekturtheorie verfolgen lässt. Nachdem die Wirkung der Architektur auf das Subjekt akzeptiert ist, beschäftigt man sich mit den Auswirkungen der Architektur auf den Menschen und versucht darin die Form der Architektur zu begründen. Dadurch drückt sich in der Architektur nicht länger nur die Suche nach Schönheit, sondern auch die nach Glück und nach einem besseren Menschen aus. Zu verschiedenen Zeiten wird dem Problem dabei mit verschiedenen Hilfsmitteln begegnet. Mit dem Aufkommen der Psychologie rückte der Fokus von der ästhetische Philosophie in Richtung des Versuchs der Erfüllung dieser Glücksversprechen durch die neue Wissenschaft. Als Beispiel hierzu kann Heinrich Wölfflins Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur aus dem Jahr 1886 gelten, in der er die Frage aufwirft, wie es der Architektur möglich sei, bestimmte Stimmungen auszudrücken, die der Betrachter in der Folge nachempfinde. Ziel ist die Schaffung einer „Psychologie der Architektur“, die „die Aufgabe [hat], die seelischen Wirkungen, welche die Baukunst mit ihren Mitteln hervorzurufen im Stande ist, zu beschreiben und zu erklären.“82 Die Wahrnehmung siedelt Wölfflin also im psychologischen Bereich an und behandelt sie nicht mehr als philosophisches Problem. Dem folgend 78 Vgl. Kruft 2004, S. 211. 79 Vgl. ebd. 80 Vgl. Büttner 1990, S. 261. 81 Vgl. Kruft 2004, S. 212. Siehe dazu ausführlich Kapitel 5.2.1. 82 Wölfflin 1886, S. 2.
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zieht er zur Einführung in das Problem zeitgenössische wahrnehmungspsychologische Theorien heran, die davon ausgingen dass sich der „Gefühlston von Formen erklärt aus den Muskelgefühlen des Auges [Hervorhebung im Original]“ bei der Betrachtung einer Form herleite.83 Nachdem er dieser zeitgenössischen Auffassung aufgrund von empirischen Überlegungen widerspricht, sucht er den Grund für den Transfer von Gefühlen durch die Architektur in der Beseelung, die der Mensch bei der Betrachtung den Gegenständen zukommen lasse und die daraufhin ein Nachempfinden ermögliche.84 So versucht er zu erklären, warum manche Bauten auf den Betrachter schwerfällig und bedrückend, andere heiter wirken. Wölfflin untersucht also die Wirkung von Architektur auf den Menschen, ist dabei aber nicht auf der Suche nach einer als Wahrheit verstandenen Schönheit als höchstes Ziel der Architektur und greift in seinen Darlegungen auch nicht auf die Theoretiker der Ästhetik zurück, sondern sieht sie im Rahmen der modernen Wissenschaft der Psychologie verankert. Insofern kann man sagen, dass die Ästhetik im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung die Architekturtheorie zwar weiter beeinflusste, dies aber oft auf Grundlage anderen Methoden und verbunden mit anderen Zielvorstellungen als die frühe Ästhetik. So bleibt die Subjektivierung, die im 18. Jahrhundert stattfand, zwar ausschlaggebend für die Architekturbetrachtung, die Suche nach der allumfassenden Schönheit rückt aber zusehends in den Hintergrund. Aspekte dieser Diskussion werden jedoch weitergetragen in Fragen nach Harmonie, Transparenz (Wahrheit) und Glück.
2.2 D IE ‚ÄSTHETISIERUNG ‘
DER G ESCHICHTE ODER VON DER ÄSTHETISCHEN ANEIGNUNG DES H ISTORISCHEN
Es existieren verschiedene Theorien darüber, zu welcher Zeit das Historische als Wertekategorie an gesellschaftlicher Bedeutung gewann. Christoph Hellbrügge nimmt als spätmöglichsten Zeitpunkt für eine „bewusste Trennung von Gegenwart und Vergangenheit“ das Jahr 1806 mit dem Verzicht Franz II. auf die Kaiserkrone und dem damit verbundenen Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation an.85 Durch das so entstandene Gefühl des Endes einer Epoche, so argumentiert er, könne erst ein Bewusstsein für den Wert der Relikte aus dieser Zeit entstehen.
83 Ebd., S. 2. 84 Vgl. ebd., S. 5. 85 Hellbrügge 2002, S. 1; Gabriele Wolff betont im gleichen Zusammenhang die Rolle der Französischen Revolution und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Verunsiche-
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Auch wenn eine genaue Datierung des entstehenden Interesses wohl kaum möglich ist, lassen sich doch ab dem späten 18. Jahrhundert drei Strömungen erkennen, die auch für die weitere Entwicklung der Denkmalpflege ausschlaggebend sind. Die wichtigste Entwicklung vollzog sich dabei vielleicht nicht in Bezug auf ein neues Geschichtsverständnis, sondern in einem veränderten Verständnis der Geschichtswissenschaft beziehungsweise der Geschichtsschreibung. Von Seiten der Geschichtsgelehrten wurde zunehmend eine ganzheitliche Geschichtsschreibung gefordert, die nicht mehr nur die Daten und Namen der Herrscher umfassen, sondern das gesamte Volk in seiner Entwicklung beinhalten sollte. Nach Justus Möser sollte der Geschichtsschreiber die Geschichte der „Religion, Rechtsgelehrsamkeit, der Philosophie, der Künste und der schönen Wissenschaften“ mit seiner Staatsgeschichte umfassen.86 Und Herder bemängelte 1779: „An Physiologie des ganzen Nationalkörpers ist wenig gedacht; und ohne die Vorarbeit ist die Geschichte der Denkart, der Bildung [Hervorhebungen im Original] des ganzen Körpers, was auf ihn gut und böse und wie weit Alles würkte? zu schwer oder unmöglich!“87 Das hier formulierte Verlangen nach einer anderen Form der Geschichtsschreibung und den damit verbundenem Erkenntnisgewinn äußerte sich sowohl in neuen Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit (Anfang des 19. Jahrhunderts erschienen die ersten historischen Werke, die nach quellenkritischer Methode verfasst worden waren, wie beispielsweise Niebuhrs Römische Geschichte, 1811)88, gleichzeitig rückten auch ganz neue Quellen ins Blickfeld der Forschung. So wurden auch Kunstwerke aus verschiedenen Zeiten als Repräsentanten ihrer Kulturepochen betrachtet und damit als historische Quellen. Gleichzeitig diente die Auseinandersetzung mit der Geschichte als eigener Vergangenheit der Selbstversicherung im Sinne einer (nationalen) Identitätsbildung. Dies war erst durch Herders Glaube an einen „Nationalkörper“ und dessen Geschichte möglich geworden. Die Verankerung dieses Werts in (architektonischen) Relikten der jeweiligen Zeit, also das Wahrnehmen von Architektur als historisches Zeugnis, ging mit dieser Form des Geschichtsverständnisses einher. Auf der Suche nach dem ‚Eigenen‘ wurde so die mittelalterliche Baukunst zum Zeugnis einer als heroisch angenommenen Geschichte.89 rungen, die das Bedürfnis nach (historischer) Selbstvergewisserung zur Folge hatten. Vgl. Wolff 1992, S. 10 und 149. 86 Möser 1768, S. 3. 87 Herder 1885, S. 65. 88 Vgl. Dürr 2001, S. 6. 89 Dass dies nicht nur Auswirkungen auf das historische, sondern auch auf das ästhetische Betrachten dieser Relikte hatte, untermalt ein Zitat aus Wilhelm Heinrich Wackenroders 1796 erschienen Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbrunders: „Nicht bloß unter italienischem Himmel, unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säulen: –
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Gleichzeitig spielte bei diesem neuen Interesse an Geschichte auch der Gedanke des emotionalen Zugangs eine Rolle, sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Betrachtung historischer Relikte, dort eng verbunden mit der ästhetischen Wahrnehmung des Gesehenen. Diese, hier mit ‚Einfühlung‘ bezeichnete Herangehensweise, hatte somit auch Auswirkungen auf die frühe Denkmalpflege und lässt sich in Spuren auch in den denkmalpflegerischen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts finden. 2.2.1 Die ‚Einfühlung‘ in die Geschichte als Methode „Über die Alten schreiben, sie dollmetschen und kommentieren, ohne Gefühl für sie, für ihre Tugenden und Lebensweise, kurz ohne auch praktisch etwas von ihrem Sinne zu haben, gibt bei aller Gelehrsamkeit und Wortkänntniß ewig dumme Sophisten und Pedanten.“ 90
So schreibt Herder 1778 in einem Aufsatz, in dem er die Errungenschaften Winckelmanns hervorhebt. Er plädiert hier für ein Einfühlen in eine Zeit, was seine ganzheitliche Geschichtsauffassung insbesondere auch unter Berücksichtigung der jeweiligen Kulturgeschichte, zum Ausdruck bringt. Damit war gewiss nicht die Billigung willkürlicher Urteile verbunden, vielmehr der Glaube an einen Erkenntnisgewinn, der sich auch auf nicht messbare Fakten stützt. So beschreibt er in demselben Text denn auch den Altertumsforscher, wie er ihn sich wünscht: „Schön oder häßlich, ist ihm eine Nebensache; nur freilich, je schöner je beßer: denn auch der Antiquar soll ein Mensch seyn von Augen und Geist und Seele. Je mehr er dies ist, desto brauchbarer für Staat, Literatur, selbst für den Künstler.“ 91
Eine Trennung nach heutigen Maßstäben zwischen subjektiv und objektiv liegt gänzlich außerhalb dieser Herangehensweise, die den Zweck, nämlich die Erforschung der Altertümer vor Augen hat, und dazu die verschiedensten Mittel heranziehen möchte. Robin Rehm sieht so auch Herder als einen der Hauptprotagonisten, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt mit dem Thema der ‚Einfühlung‘
auch unter Spitzgewölben, kraus-verzierten Gebäuden und gotischen Türmen, wächst wahre Kunst hervor.“ Wackenroder und Tieck 1797, S. 129. Nicht umsonst bedient sich Wackenroder hier geradezu trotzig der Terminologie der Gotik-Verächter („krausverziert“), um diese aber hinterher als der wahren Kunst fähig zu bezeichnen und sie gleichberechtigt neben die Antike zu stellen. 90 Herder 1882, S. 11. 91 Ebd., S. 21.
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als Erkenntnismethode beschäftigten.92 Herder möchte die verschiedenen Ansätze und Erkenntnisse der Geschichtswissenschaften ausweiten auf eine „Geschichte der Denkart, der Bildung des ganzen Körpers“, um die „Psychologie des ganzen Volkskörpers“ zu ergründen.93 In diesem Sinne begann man mit der Sammlung von Volksliedern (von Arnim, Brentano) und Volksmärchen (Wilhelm und Jacob Grimm), um so dem Volksgeist und damit dem Wesen des Volks näherzukommen. Und in diesem Sinne ist auch die von den genannten durchgeführte Adaption der Stoffe ihrem Vorhaben nicht abträglich, solange sie deren von den Autoren wahrgenommenen Wesen nicht widersprach. Dieses Verständnis des Wesens des Volks kann man in Ansätzen auch in Zusammenhang mit dem Versuch der Einfühlung in eine als gegeben vorausgesetzte Volksseele verstehen. Volkskunst wird hier als Teil der Volksseele und damit als Teil einer weiter gefassten Kulturgeschichte aufgefasst.94 Sybille Dürr sieht diese Ideen teilweise schon bei Johann Georg Hamann angelegt, der als gedankengebender Vorläufer der Romantik (und Lehrer Herders) „das Recht der Phantasie, des Gemüts, des Gefühls gegen den Verstand“ proklamierte95, ein Gedanke, den wir aber wie schon dargelegt in ähnlicher Form (wenn auch ohne das diesen Ausspruch beinhaltende Gegensätzliche) so auch schon bei Baumgarten und Leibniz antreffen. Neu sind jedoch die Durchschlagskraft des Gedankens und seine Anwendung auf die Geschichts- und Kunstwissenschaften. Dies äußerte sich sowohl auf dem Gebiet der ästhetischen Theorien als auch im kulturhistorischen Kontext. Unter Friedrich Theodor Vischer etablierte sich der Begriff der „Einfühlungsästhetik“.96 Später wurden die von ihm formulierten Gedanken durch Theodor Lipps in seiner Psychologie des Schönen (1906) weiter ausgeführt. Sowohl Vischer als auch Lipps wendeten das zunächst erkenntnistheoretische Prinzip der Einfühlung auf Werke der bildenden Kunst an und gingen dabei von einem dem Werk zugrunde liegenden ‚Wesen‘ aus, das es zu erkennen gelte. 97 92
Vgl. Rehm 2005, S. 84. Dabei geht er davon aus, dass sich Herder bewusst gegen Kants in dessen Kritik der reinen Urteilskraft vertretene Lehre positionierte.
93
Herder 1774, zitiert nach Dürr 2001, S. 30.
94
Für die Denkmalpflege wurde insbesondere auch der Gedanke an ein zugrundeliegendes Wesen der Dinge von Bedeutung, s.u.
95
Dürr 2001, S. 22. Hamann bezeichnet die Poesie als „die Geschichtsschreibung des Herzens; hier ließe sich ein schöner Bogen zu Hayden White ziehen, der in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Geschichtsschreibung als Poesie bezeichnet.
96
Vgl. Friedrich / Gleiter 2007, S. 7 f.
97
Wichtig für die Denkmalpflege ist in diesem, auf erkenntnistheoretischen und ästhetischen Theorien der Jahrhundertwende gründenden Kontext, der verbindende Gedanke an ein zugrunde liegendes Wesen der Dinge. Im Gegensatz zu einem auf der Substanz des Denkmals basierenden Authentizitätsbegriff, stützt sich der Begriff des Wesenhaften auf ein allgemeineres und umfassenderes historisches Verständnis des Objekts. Ein
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Aber auch auf historischem Gebiet war der Gedanke der Einfühlung in ein Thema bzw. eine Zeit von Bedeutung, was sich anhand der wissenschaftlichen Praxis der Historiker im 19. Jahrhundert nachvollziehen lässt. Daniela Saxer führt dazu aus, dass der Prozess der Einfühlung bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts als Weg zur Erkenntnis in den interpretatorischen Vorgehensweisen der Geschichtswissenschaften eine Rolle spielte.98 Darüber hinaus dienten Gefühlsbezeichnungen im Sinne eines ‚gefühlten Wissens‘ im internen wissenschaftlichen Sprachgebrauch auch zum Zusammenfassen nicht formalisierter Arbeitsvorgänge und Interpretationen.99 Einfühlung wurde also nicht als komplementär zu einem faktischen Wissen empfunden, beides gehörte vielmehr zusammen und ergänzte sich gegenseitig. Die Fähigkeit zur Einfühlung ist somit Teil der Professionalität des Historikers und wurde als solche auch explizit gefördert. Saxer interpretiert in diesem Zusammenhang auch die bis in die 1870er Jahre üblichen Schreibübungen im Stil antiker und mittelalterlicher Historiographien im Rahmen des Hochschulunterrichts, die sie als „Gefühlsbrücke[n] in die Vergangenheit“ bezeichnet.100 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts veränderte sich die geschichtswissenschaftliche Praxis. Die Konzentration auf neue Quellentypen (Urkunden anstelle von Chroniken) und eine stärkere Standardisierung und Methodisierung führten zu einer Zunahme an explizitem Wissen, wodurch das als Gefühl artikulierte Wissen an Bedeutung verlor (s. dazu Kapitel 4.3.3). Dennoch spielte das Einleben in die Geschichte und das Nachempfinden einer historischen Atmosphäre weiterhin eine Rolle.101 Auch Wilhelm Diltheys um 1900 entwickelte hermeneutische Interpretation zeigt in Ansätzen noch die Übernahme des Gedankens der Einfühlung:
Weiterbauen von Denkmalen „im Geiste des Originals“ (vgl. beispielsweise die Restaurierung des Altenberger Doms, Ritter-Eden 2002, S. 221.) oder den Gedanken des den „Denkmalcharakter“ begründenden „künstlerischen Wesens“ eines Objekts, das Joseph Maria Ritz am Bayerischen Denkmalamt noch in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vertrat (vgl. Huber 1996, S. 65 ff.), zeugen von der Haltbarkeit des Gedankens an ein spezifisches ‚Wesen‘ der Objekte. 98
Vgl. Saxer 2008, S. 90 f.
99
Vgl. ebd., S. 81. Als Beispiel zitiert Saxer die Korrespondenz zwischen den Historikern Theodor Sickl und Julius Ficker, in der sich ersterer bei der Interpretation einer historischen Textquelle explizit auf sein Gefühl beruft als ausreichende Legitimation (vgl. ebd. S. 93). Hier lassen sich Parallelen zu dem Begriff des „Geschmacks“ finden, dessen Urteile ebenfalls über lange Zeiträume mit einer gewissen Expertise in Zusammenhang gebracht wurden und damit allgemeinere Gültigkeit erlangen konnten (vgl. hierzu Kapitel 5.3).
100 Ebd., S. 92. 101 Vgl. ebd., S. 94 f.
40 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Unser Handeln setzt das Verstehen anderer Personen überall voraus; ein grosser Teil menschlichen Glückes entspringt aus dem Nachfühlen fremder Seelenzustände; die ganze philologische und geschichtliche Wissenschaft ist auf die Voraussetzung gegründet, dass dies Nachverständnis des Singulären zur Objektivität erhoben werden könne. Das hierauf gebaute historische Bewusstsein ermöglicht dem modernen Menschen, die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig zu haben: über alle Schranken der eigenen Zeit blickt er hinaus in die vergangenen Kulturen; deren Kraft nimmt er in sich auf und genießt ihren Zauber nach: ein großer Zuwachs von Glück entspringt ihm hieraus.“ 102
Dabei lag für Dilthey der Vorteil der Geisteswissenschaften gerade in der Möglichkeit zur ganzheitlichen Erkenntnis. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 stellte er die Geisteswissenschaften über die Naturwissenschaften, da diese nicht nur zu einer rationalen, sondern auch zu einer sinnlichen und gefühlsmäßigen Auseinandersetzung der Welt fähig seien und somit einen breiteren Erkenntnishorizont hätten, indem sie mit „der ganzen Menschennatur“ forschten. 103 Diltheys Anliegen war es nun, diesem zunächst nachfühlenden Verständnis eine objektivierende Basis zu geben. Die Basis dafür bildet der auszulegende „menschliche Geist“, der den Dingen zugrunde liegt: „Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Geberden [sic!], Worten und Schrift, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns und bedarf der Auslegung. Und zwar muss der Vorgang des Verstehens überall, sofern er durch die gemeinsamen Bindungen und Mittel dieser Erkenntnisart bestimmt ist, gemeinsame Merkmale haben. Er ist in diesen Grundzügen derselbe. Will ich etwa Lionardo [sic!] verstehen, so wirkt hierbei die Interpretation von Handlungen, Gemälden, Bildern und Schriftwerken zusammen, und zwar in einem homogenen einheitlichen Vorgang.“104
Mit Interpretation bezeichnet Dilthey dabei den höchsten Grad des Verständnisses, das dadurch ermöglicht werden kann, immer wieder zu ein und derselben bestimmten Lebensäußerung zurückzukehren und sich so an diese verstehend anzunähern. Auf diese Art ist für ihn auch die Interpretation von Werken der Kunst möglich, auch wenn diese in dem Falle notwendigerweise auf die Zuhilfenahme literarischer Quellen angewiesen ist.105 Das Einfühlen als legitime wissenschaftliche Herangehensweise behielt also bis ins 20. Jahrhundert hinein Bedeutung. Dies spiegelt sich
102 Dilthey 1900, S. 187. 103 Ders. 1883, S. XVII. 104 Ders. 1900, S. 189. 105 Vgl. ebd.
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auch im denkmaltheoretischen Diskurs – gerade zu dieser Zeit – wider. Das Denkmal wurde so zur historischen Quelle und gleichzeitig zu einem Medium, das das Nachempfinden der Vergangenheit ermöglicht. 2.2.2 Das Denkmal als historische Quelle und Objekt der Einfühlung Das Denkmal als Objekt der Einfühlung ist auf mehreren Ebenen zu betrachten. Neben einem historischen Erkenntnisgewinn wie oben dargelegt bietet das Denkmal darüber hinaus die Möglichkeit, zu einem poetischen Nachempfinden von Zeitlichkeit im Allgemeinen, deren Vorteile gerade in dem Diffusen der durch das Denkmal vermittelten Botschaft liegen. Diese Gedanken begegnen uns sowohl in der Gotikbegeisterung der Romantik als auch in Riegls Konzept des Alterswerts. Die Einfühlung in das Denkmal übernimmt hier also verschiedene Funktionen. Dient sie zum einen der historischen Erkenntnis, so wird ihr darüber hinaus die Möglichkeit einer Art poetischer Selbsterkenntnis zugeschrieben. Die Grenzen zwischen beiden Herangehensweisen sind fließend, die Vermischung von beidem führte daher auch oft (beispielsweise bei Goethe oder Dehio) zur vordergründigen Ablehnung eines emotionalen Zugangs zum Denkmal. 2.2.2.1 Das Denkmal zwischen Geschichtswissenschaft und Denkmalpoesie „Eben diese Betrachtungen drängen sich auch bey dem Straßburger Münster auf. […] Wenn der Mensch in der Beschauung dieser erhabenen Schöpfungen der Kunst versunken ist, so wagt er es kaum, aufzuatmen; er achtet es hoch, Mensch zu sein, weil er überlegt, daß Menschen so etwas ausführen konnten; er freut sich ein Franzose zu sein, weil er sieht, daß diese Wunder auf dem Boden seines freien Vaterlandes ruhen.“106
Bereits dieses Zitat, in dem Abbé Grégoire seine Empfindungen bei der Betrachtung des Straßburger Münsters beschreibt, beinhaltet die meisten der Topoi, die im Rahmen dieser Geschichtsempfindung immer wieder mit unterschiedlicher Gewichtung auftreten werden: da ist zum einen das Gefühl des Staunens über die künstlerische Leistung der Vergangenheit und das Gefühl, als Mensch Teil eines geschichtlichen Ganzen zu sein und somit auch Teilhaber an diesem Werk. Zum anderen lässt sich dieses Gefühl sowohl als ein allgemein menschliches empfinden, als auch als ein patriotisch-vaterländisches, bezogen auf die Kulturleistungen eines Volks, dem man sich zugehörig fühlt. Beide Interpretationen treten in der Geschichte immer wieder mit unterschiedlicher Gewichtung auf, abhängig vom jeweiligen histori106 Zit. nach Wolff 1992, S. 14.
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schen Kontext des Betrachters. Das Staunen107 scheint dabei ein erster und direkter Zugang zum Gesehenen zu sein, der in seinem Charakter ästhetisch, weil wahrnehmend ist, sich jedoch nicht in erster Linie auf die spezifische künstlerische Ausformung des Gesehenen beziehen muss, sondern eng mit dem Bewusstsein der Historizität verbunden ist. Auch in Deutschland lässt sich dies gerade am Beispiel der Rezeption des Straßburger Münsters nachvollziehen, gilt doch Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst aus dem Jahr 1772, in dem er seinen Besuch des Straßburger Münsters schildert, als Vorläufer und Auslöser der Gotikbegeisterung östlich des Rheins. Dabei bringt der Text weniger das historische Interesse an einer Epoche zum Ausdruck, als vielmehr ein Gefühl der Überwältigung beim Betrachten der Architektur des Straßburger Münsters. Die Form der direkten Ansprache des verstorbenen vermeintlichen Baumeisters Erwin von Steinbach lässt Autor und Leser geistig in ferne Zeiten wandern.108 Diese bleiben jedoch abstrakt. So lässt sich der Aufsatz zwar als Beginn der Gotikbegeisterung betrachten, diese basiert jedoch gerade nicht auf einer historischen Auseinandersetzung mit einer Zeit oder kunsthistorischen Stilrichtung sondern auf einer emotionalen Annäherung. 109 Ähnliches lässt sich auch in anderen Texten Goethes feststellen, beispielsweise seiner Schilderung des Halberstädter Doms 1805: „Die öden, feuchten Räume des Doms besuchten wir zu wiederholten Malen; er stand, obgleich seines früheren religiösen Lebens beraubt, doch noch unerschüttert in ursprünglicher Würde. Dergleichen Gebäude haben etwas eigen Anziehendes, sie vergegenwärtigen uns tüchtige, aber düstere Zustände, und weil wir uns manchmal gern ins Halbdunkel der Vergangenheit einhüllen, so finden wir es willkommen, wenn eine ahnungsvolle Beschränkung uns mit gewissen Schauern ergreift, körperlich, physisch, geistig auf Gefühl, Einbildungskraft und Gemüt wirkt, somit sittliche, poetische und religiöse Stimmung anregt.“ 110
Obwohl der Ort als öde wahrgenommen wird, ist es doch auch hier die von Abbé Grégoire beschriebene Stimmung der Teilhabe an einem Werk der Vergangenheit, das den Betrachter in seinen Bann zieht. Und gerade die Unklarheiten in dem Geschichtsbild machen für Goethe bei seiner Betrachtung den besonderen Reiz aus. Es 107 Der Begriff des „Staunens“ taucht dabei immer wieder bei der Beschreibung von Architekturerlebnissen auf (s. im Folgenden Goethe und Sulpiz Boisserée). Georg Mörsch sprach in diesem Zusammenhang 1989 auch von „Denkmalstaunen“ (Mörsch 1989, S. 137). 108 Vgl. Goethe 1896, S. 137 ff. 109 Entsprechend wird auf den erwähnten Aufsatz noch im folgenden Kapitel zur ‚gefühlten Geschichte‘ einzugehen sein. 110 In Tag- und Jahreshefte, Goethe 1830, S. 244 f.
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geht hier also nicht um das Verständnis eines historisch konkreten Gebäudes, sondern um ein diffuses Gefühl von Geschichtlichkeit, das die Besonderheit des leeren Gebäudes ausmacht – unabhängig von spezifischen künstlerischen Werten. Die Stimmung, die so beim Betrachter ausgelöst wird, bezeichnet Goethe nicht nur als poetisch, sondern auch als sittlich und religiös, wodurch der Betrachtung gleichzeitig ein pseudo-pädagogisches Potential eingeräumt wird.111 Neben der sittlichen Komponente enthält für Goethe die Betrachtung der gotischen Kirchen aber auch eine religiöse, die für ihn das Wesen der gotischen Baukunst ausmacht: „[D]en christlichen Kultus förderte sie höchlich und wirkte mächtig auf Geist und Sinn; sie muß also etwas Großes, gründlich Gefühltes, Gedachtes, Durchgearbeitetes enthalten, Verhältnisse verbergen und an den Tag legen, deren Wirkung unwiderstehlich ist.“ 112
Eröffnet dieses Zitat bereits implizit die Möglichkeit, sich mit der Suche und Analyse der geschilderten „durchgearbeiteten“ Verhältnisse auch (kunst-)wissenschaftlich zu beschäftigen, so bezeichnet Goethe an anderer Stelle die oben beschriebene „Totalwirkung“ der Gebäude auch als „das Dämonische, dem wir huldigen“.113 Die Wirkung eines Gebäudes bleibt für ihn also in letzter Instanz nicht deutbar. Für den späteren Goethe stellte dieses emotionale Fundament in der von ihm so wahrgenommenen späteren Übersteigerung gleichzeitig auch den Schwachpunkt der Gotikbegeisterung dar, weswegen er später bewusst auf Distanz zu ihr ging: „Daß Gelehrte sodann und Dichter die Natur der Kunst, ihr wahres Wesen und Streben nicht besser fassend, mit den Malern in gleichem Irrthum, zu gleicher Vorliebe für das Alte sich verbündet, Sache der Religion mit der Sache der Malerey gemischt und in Folge dieses Vermischen jene alten, in Haupterfordernissen mangelhaften Werke, als die besten, einzigen Muster für ächte Geschmackbildung empfohlen, war ohne Zweifel noch schädlicher […]“.114
Aufgrund der „gutmüthigen Überschätzung“ der Gotik bezeichnete er so die Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts als Episode der „Verherrlichung“115 einer Epoche, die er insbesondere auch in Bezug auf die Nachahmung ihrer Werke, also den Historismus, als für die Kunstentwicklung insgesamt eher schädlich betrachtete. 116 Auch 111 Dasselbe stellt Wolff auch für die vorher erwähnten Protagonisten Grégoire und Quatremère de Qincy fest (vgl. Wolff 1992, S. 28). Mehr dazu s. Kapitel 5. 112 Goethe 1823, S. 139. 113 Goethe 1830a, S. 161. 114 Goethe 1817, S. 30. 115 Ebd. S. 39 f. 116 Vgl. ebd., S. 29. Vgl. hierzu auch Kruft 2004, S. 217.
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in Bezug auf sein eigenes Werk stellte er retrospektiv in Dichtung und Wahrheit 1814 kritisch fest, die ganz einfachen „Gedanken und Betrachtungen in eine Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen“ gehüllt zu haben und damit das Licht, das ihm aufgegangen war, für sich und andere verdüstert zu haben.117 Goethes eigenes Interesse an der Gotik verschwand entsprechend nach dem Baukunst-Aufsatz und sollte erst nach 1810 wieder in Form einer stärker kunsthistorisch geprägten Auseinandersetzung wieder aufkommen.118 Dabei stieg sein historisches Interesse an dieser Zeitepoche, das verklärende Moment der frühen Jahre verschwand jedoch. Stattdessen versucht er, gotische Architektur zu analysieren und bedient sich dabei der Anwendung klassischer Architekturelemente und -theorien auf gotische Bauwerke.119 Als Autor des Baukunstaufsatzes wurde Goethe auch zum interessanten Partner für Sulpiz Boisserée, als dieser Unterstützer für sein Projekt zum Weiterbau des Kölner Doms suchte. Dabei musste Boisserée einige Überredungskunst leisten, da Goethe ihn zunächst als typischen Vertreter der von ihm zu dieser Zeit abgelehnten Gotikbegeisterung betrachtete.120 Boisserée selbst hatte hingegen einen durchaus historisch geprägten Zugang zu dem Werk. In einem Brief an Schelling aus dem Jahr 1848 schildert er die Notwendigkeit, sich in den Kölner Dom „hineinzudenken“ als Voraussetzung für den Weiterbau: „Hingegen ist der Kölner Dom etwas Gegebenes [Hervorhebung im Original], in das man sich hineindenken mußte, […] Deswegen kann ich jedoch nicht sagen, daß ich diese Fülle von Bildwerken an den Portalen billige; im Gegentheil, wenn ich eine Domkirche im altdeutschen Styl zu entwerfen hätte, würde ich in dieser Beziehung sehr auf Vereinfachung bedacht 117 Goethe 1829, S. 99. 118 Vgl. Büchsenschuß 2010, S. 124 f. 119 Die Wand sieht er beispielsweise als klimatisch bedingtes nordeuropäisches Pendant zur Säule als Grundelement der griechischen und römischen antiken Architektur, die gotischen Gliederungselemente, als Mittel, „sie dem Scheine nach zu durchbrechen und das Auge würdig und erfreulich auf der großen Fläche zu beschäftigen“. (Goethe 1829, S. 99.) Jan Büchsenschuß sieht gerade in dieser kunsthistorischen Auseinandersetzung, die sich weiterhin an der Antike als dem rahmengebenden Ideal orientiert, den Hauptunterschied zu der Gotikbegeisterung der Romantik. (vgl. Büchsenschuß 2010, S. 128.) Interessant bleibt, dass, obwohl Goethe sich in späteren Jahren intensiv architekturhistorisch mit der gotischen Bauweise beschäftigt, sein am meisten rezipiertes Werk in dieser Hinsicht doch der später von ihm geringgeschätzte Baukunstaufsatz bleiben sollte, der einen emotionalen Zugang zu dieser Zeit wiedergibt. 120 In einem Brief an seinen Bruder Melchior vom 3.5.1811 beschreibt Sulpiz Boisserée eindrücklich die unterkühlte Stimmung, mit der er von Goethe zunächst aufgenommen wurde. Vgl. Boisserée 1862, S. 111 f.
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seyn, um jeder bildlichen Darstellung einen höhern Werth geben und so einen größern Eindruck dadurch hervorbringen zu können.“121
Der Begriff des ‚Hineindenkens‘ scheint hier gleichbedeutend mit der oben beschriebenen ‚Einfühlung‘ der zeitgenössischen Geschichtswissenschaften zu sein. Das Hineindenken bezeichnet einen legitimen und übersubjektiven Vorgang, ein Aspekt, der von Boisserée noch dadurch unterstrichen wird, dass er seine eigene, subjektive ästhetische Präferenz kontrastierend neben das als richtig und notwendig Erachtete stellt. Dieses Hineindenken oder Hineinfühlen ist dabei etwas anderes als das von Goethe geschilderte „Dämonische“, das diffuse poetische Gefühl, das den Betrachter eines Denkmals ergreift. Dies scheint sowohl Goethe als auch Boisserée bewusst gewesen zu sein, und schließlich überzeugte auch Boisserées kunsthistorische Expertise den alten Goethe, sich für dessen Projekt einzusetzen. 122 Zu dieser Expertise gehörte auch für Goethe die Einfühlung in das Historische, wie er seinem 1823 für die Propyläen verfassten Aufsatz Von Deutscher Baukunst hervorhebt: „[S]o verdienen diejenigen großen Dank, die uns in den Stand setzen, Werth und Würde im rechten Sinne, das heißt historisch zu fühlen und zu erkennen“ 123. Damit greift Goethe nicht nur Baumgartens These der empfindenden Aneignung seiner Umwelt auf 124, sondern schließt sich auch der Auffassung Herders an, der das „Gefühl“ für die „Tugenden und Lebensweisen“ der „Alten“ als unerlässlich für die Arbeit des Historikers begreift.125 Kritisiert wird von Goethe nicht die Einfühlung in das Historische, also ein ästhetisch begründeter Zugang zur Geschichte, sondern deren Vermischung mit poetischen und romantischen Aspekten, die zu einer Verunklärung der historischen Erkenntnis führten. Die Rolle des Denkmals als Geschichtszeugnis gewann mit der Institutionalisierung der Denkmalpflege an Bedeutung. Die Einfühlung als Teil eines Erkenntnisprozesses des betrachtenden Subjekts rückt in den dazugehörigen Schriften in den Hintergrund, was eventuell auch auf den geänderten Kontext zurückzuführen ist. Mit dem Aufkommen der staatlichen Denkmalpflege verschiebt sich die Perspektive der Akteure von der Denkmalwahrnehmung auf Denkmalerhalt und Denkmalvermittlung. Erkennbar wird dies beispielsweise in Schinkels Memorandum zur Denkmalpflege, in dem er sich 1815 für den Erhalt historischer Denkmale aus121 Boisserée 1862, S. 856 f. 122 Boisserée schildert in seinen Briefen auch die nächsten Treffen mit Goethe, während derer sie anhand von Boisserées Zeichnungen Gespräche über die gotische Architektur führten, die Goethe von der Ernsthaftigkeit des Vorhabens überzeugten. Vgl. Boisserée 1862, S. 117. 123 Goethe 1831, S. 357. 124 Vgl. Solms 1990, S. 21. 125 Herder 1882, S. 11.
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spricht. Dort schreibt er über die Denkmale aus „lutherischer Zeit“, motiviert durch den Besuch der Schlosskirche in Wittenberg, dass „[…] man gerade diese Monumente ganz rein in dem Ehrenwerten der lutherischen Zeit zu sehen wünscht, einer Zeit, die gerade nicht mehr aus den altertümlichen und hergebrachten Formen verdrängte, als nötig war, den gefühlten Ausartungen zu begegnen, keineswegs aber schon, wie in späterer Zeit, eine barbarische Bilderstürmerei ungezügelt wüten ließ, eben so wenig mit dem aus der fremde entliehenen Schmuck den harmonischen Eindruck ehrwürdiger Denkmäler verdeckt.“126
Neben der Einordnung des Gebäudes in einen kunsthistorischen Kanon tritt bei Schinkel verstärkt das Bewusstsein für diese Denkmale als historische Zeugnisse in den Vordergrund, was bestimmt auch mit seiner Funktion als Dezernent der Oberbaudeputation zu tun hat, die ihn als Akteur über die Rolle des rein Beschreibenden setzt und Denkmalpflege auch als staatliche Aufgabe betrachtet. Dies wird insbesondere in einem Brief deutlich, den er ein Jahr vorher im August 1814 verfasste: „Die für die Kultur des nördlichen Deutschlands so wichtigen Zeiten der Ottonen und selbst noch ihrer Vorgänger stehen in Sachsen und Thüringen noch in wenigen Monumenten vor unseren Augen, die vor ihrem gänzlichen Untergang nach einer schleunigen Rettung schmachten. Unsere Rheinischen Länder sind voll von den vollendeten Werken unserer blühenden deutschen Vorzeit, die bisher in ihrer Herrlichkeit verkannt, und jetzt noch nicht einmal wieder allgemein gekannt, dem Unwissenden preisgegeben sind und täglich noch hört man von Zerstörungen.“127
Zu dem Gedanken der historischen Begeisterung tritt hier die Betrachtungsweise dieser Bauten als historische Quellen, die eine tragende Rolle in der Geschichtsschreibung des Landes übernehmen können und sollen. Dies unterscheidet die Äußerungen Schinkels von den Schriften Goethes, die in den architektonischen Werken vergangener Zeiten doch immer in erster Linie das Kunstwerk sahen und dieses – sei es in seiner Wirkung oder in seiner künstlerischen Entstehung – untersuchten.128 126 Schinkel 1815; zitiert nach Mohr de Pèrez 2010, S. 282. 127 Zitiert nach Mohr de Pèrez 2010, S. 86 f.; in demselben Schreiben fasst er die genannten Bauwerke als das „was wir schönes an Denkmalen besitzen“ zusammen, um in einem Apell zu dessen Erhalt zu enden. Dieser Schwenk zum Schönen erfolgt hier relativ abrupt. Es bleibt unklar, in welchem Verhältnis für Schinkel das Schöne zum historisch Wertvollen steht. 128 Dass Schinkel mit seinen Forderungen nicht unerhört blieb und ein ähnliches Denken vielerorts (insbesondere von staatlicher Seite auch im Zusammenhang mit Prozessen
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Auch Hardenbergs Erlass zur Inventarisierung vom 18.12.1821 sieht in Denkmalen ausdrücklich „Dokumente der Vergangenheit“, von denen die „Denkmäler der hohen Baukunst“ einen Teil bilden und auch der damalige preußische Kultusminister Altenstein spricht 1827 von der Notwendigkeit der „Erhaltung der vaterländischen Denkmäler, für Geschichte, Kunst und Literatur“. 129 Im Zuge der Erweiterung der Geschichtsschreibung auf neue Themenfelder wuchs in der nachfolgenden Zeit die Zahl dessen, was von offizieller Seite als potenziell denkmalwürdig angesehen wurde, was Rita Mohr de Pèrez in einer Zusammenstellung entsprechender Verfügungen und Kabinettsordern der preußischen Regierung darlegt.130 Es zeigt sich hier eine Tendenz, die sich von der Betrachtung einzelner Kunstgegenstände bzw. künstlerisch wertvoller Gebäude und für die Landesgeschichte als wichtig empfundener Überreste wie Befestigungsanlagen hin zu einer Betrachtung auch profanerer Architekturen in Hinblick auf ihren historischen Zeugnischarakter verschob. 131 Das völlige Fehlen ästhetisch-einfühlender Aspekte lässt sich eventuell auch auf den offiziellen Kontext all dieser Schreiben zurückführen. Gegen einen konsequenten Bruch in der Herangehensweise an historische Bauten spricht die auch später immer wiederkehrende Beschreibung persönlicher Denkmalerlebnisse auch von
des nationbuilding) geteilt wurde, lassen die Formulierungen zu den in den folgenden Jahren durchgeführten Bemühungen um den Erhalt historischer Denkmäler erkennen. 129 Zitiert nach Mohr de Pèrez 2010, S. 92 und S. 95. Dass mit Denkmälern natürlich nie nur Gebäude, sondern auch „Altertümer“ im weiteren Sinne (also Epitaphien, Bodendenkmäler und bewegliche Gegenstände) gemeint sind, gilt als selbstverständlich. 130 „1823: alte Kunstgegenstände und geschichtliche Merkwürdigkeiten; 1824: Gebäude, die einen historischen Wert haben; […] 1830: Stadtmauern, Tore, Türme, Wälle; 1831: Umfassungsgräben; 1835: Ruinen; 1835: Überreste der Baukunst aus der Vorzeit, welche für die Geschichte, Wissenschaft und Technik Wert und Interesse haben; […] 1844: Hünengräber, Landwehre, Schanzen usw.; 1854: Teile von Gebäuden, wie Erker, Freitreppen, Türme, Dachfenster, Holzarchitekturen usw.“ Mohr de Pèrez 2010, S. 102 f. 131 Hierin spiegeln sich wohl auch die Gedanken Herders zu Volkskunst und Volksseele wider. Ab der Jahrhundertwende traten so auch Objekte der bildenden Volkskunst in den Betrachtungsfokus, wofür sich insbesondere der bayerische Generalkonservator Wilhelm Heinrich Riehl, der heute in erster Linie als Wegbereiter der wissenschaftliche Volkskunde bekannt ist, einsetzte. (vgl. Huber 1996, S. 13 und Dürr 2001, S. 193.) Die Dorfkirchen und Bauernhäuser werden in diesem Zusammenhang als erhaltenswert betrachtet, weil sie als „Bruchstücke“ des allgemeinen Kunstschaffens eines Volks verstanden werden. Insofern entsteht hier die Möglichkeit, die Empfindung des allgemein Historischen bei der Betrachtung alter Bauwerke auf das Nachempfinden eines Volkscharakters auszuweiten, die Suche nach dem Wesen des Erbauten stellt sich neben die Suche nach dem Wesen des Erbauenden.
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professionellen Akteuren, die in ihren Formulierungen das poetische oder historisch-einfühlende Denkmalerleben thematisieren. So schildert der preußische Landeskonservator Ferdinand von Quast seinen Besuch der Baustelle der Trierer Basilika in einem Reisebericht von 1851, in dem er seine Unzufriedenheit mit den dort stattfindenden Restaurierungsmaßnahmen zum Ausdruck bringt: „Alle Poesie, welche der Anblick alter Mauerwerke in uns zu erwecken pflegt, wird durch solche glatte, kahle Wände in uns vernichtet. Vergeblich sucht man jene Striemen und Löcher auf, welche unsere Vorfahren, die alten Barbaren, einst vor 1500 Jahren in den Römerbau einhieben und einbrachen, ein lebendiges Zeichen der Völkerwanderung und der Neuordnung Europaʼs, welche noch bis jetzt fortdauert. Die glatte Wand ohne alle Flecken, ohne alle Vorsprünge u.s.w. erinnert mehr an ein rohes Fabrikgebäude.“ 132
Zwar bezeichnet Quast im Weiteren die Bereinigung der Fassade von ihren Vorsprüngen als Vernichtung eines historischen „Beweisdokument[s]“, stellt also den Wert des Bauwerks als historische Quelle in den Vordergrund, Auslöser des Unmuts ist jedoch die verlorene „Poesie“ des Bauwerks. Diese „Poesie“ Quasts kann man zwischen Goethes diffusem Empfinden und der Möglichkeit zur historischen Einfühlung verorten. Der Verweis auf die Zeitspuren als Dokumente lässt dabei gleichzeitig auf eine Abwertung des Prinzips der Einfühlung schließen, wobei diese, wenn auch unter einer veränderten Schwerpunktsetzung, auch und gerade noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielte. 2.2.2.2 Wahrnehmung von Zeit und Geschichte bei Riegl und Dehio Kerstin Thomas konstatiert für die Kunstgeschichte der Jahrhundertwende einen „wahrnehmungsgeschichtlichen Ansatz“133, der jedoch, wie bereits gezeigt wurde, in der Tradition einer einfühlenden Geschichtsschreibung steht. Bei diesem Ansatz handelt es sich nicht nur um einen einfühlenden Zugang zur Geschichte, sondern auch allgemeiner um das emotionale Nachempfinden der Zeitlichkeit. Eben diese Zeitlichkeit ist es, die in Riegls Alterswert zum Ausdruck kommt, der damit eher an das von Goethe kritisierte diffuse poetische Gefühl anknüpft als an die historische Einfühlung im engeren Sinne. Mit seinen Überlegungen zum Alterswert, der ästhetisch vermittelten Wertschätzung historischer Bauten, den er 1903 neben dem historischen und den Kunstwert in seiner Schrift Der Moderne Denkmalkultus als einen der Denkmalwerte etablierte, unternimmt Alois Riegl den Versuch, die gefühlte Zeitlichkeit in den Wertekanon der Denkmalpflege aufzunehmen. Er stellt ihn dabei bewusst als dritte 132 Zitiert nach Buch 1990, S. 82. 133 Thomas 2010, S. 14.
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Wertekategorie neben den historischen Wert und den Kunstwert der Denkmale und ordnet ihn den Erinnerungswerten zu.134 Dabei hält er zunächst grundlegend fest, dass die Motivation für jeden Denkmalschutz im Erhalt des Historischen beruhe: „Die Kunst, der wir da [im Denkmal, S.H.] begegnen, interessiert uns aber zunächst lediglich vom historischen Standpunkte: das Denkmal erscheint uns als ein unentbehrliches Glied in der Entwicklungskette der Kunstgeschichte. Das ‚Kunstdenkmal‘ in diesem Sinne ist also eigentlich ein ‚kunsthistorisches Denkmal‘, sein Wert ist von diesem Standpunkte kein ‚Kunstwert‘, sondern ein ‚historischer Wert‘.“135
Den Kunstwert der Denkmale erkennt er zwar an, sieht ihn jedoch, zumindest in seiner Ausformung als „relativer Kunstwert“ den Gegenwartswerten des Denkmals zugeordnet, da er als solcher „vom modernen betrachtenden Subjekte“ erfunden sei.136 Aber auch der historische Wert der Denkmale wird nach seiner Theorie vom jeweils betrachtenden Subjekt geformt, zumindest im Fall der „ungewollten“ Denkmäler: „Da die einstigen Hersteller mit diesen Werken, die uns heute als historische Denkmale erscheinen, hauptsächlich bloß gewissen praktischen oder idealen Bedürfnissen ihrer selbst, ihrer Zeitgenossen und höchstens deren nächster Erben genügen wollten und in der Regel wohl gar nicht daran gedacht haben, damit den Nachlebenden in späteren Jahrhunderten Zeugnisse ihres (der Hersteller) künstlerischen und kulturellen Lebens und Schaffens zu hinterlassen, kann die Bezeichnung ‚Denkmale‘, die wir diesen Werken trotzdem zu geben pflegen, nicht in objektivem, sondern bloß in subjektivem Sinne gemeint sein: nicht den Werken selbst kraft ihrer ursprünglichen Bestimmung kommt Sinn und Bedeutung von Denkmalen zu, sondern wir modernen Subjekte sind es, die ihnen dieselben unterlegen.“ 137
Als Konsequenz daraus spricht Riegl hier vom „Erinnerungswert“, von dem der spezifische historische Wert zwar einen Teil bildet, diesen jedoch nicht gänzlich erschöpft. Vielmehr geht er davon aus, dass es neben einem konkreten historischen Zeugniswert, der über bestimmte historische Entwicklungen Auskunft gibt, noch 134 Renzo Casetti sieht in Riegls Dreiteilung von gewolltem Erinnerungswert, historischem Erinnerungswert und Alterswert ein Pendant zu Nietzsches Dreistufenmodell einer monumentalischen, antiquarischen und kritischen Art der Betrachtung von Historie, dass dieser in seinem Aufsatz Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben aus dem Jahr 1873 darlegte. Auch Mike Gubser stellt hier Einflüsse fest, auf die an dieser Stelle jedoch nur verwiesen werden soll. Vgl. Casetti 2008, S. 111 f. und Gubser 2006, S. 19. 135 Riegl 1903, S. 3. 136 Ebd., S. 4 ff. 137 Ebd., S. 6 f.
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einen allgemeineren ästhetischen Wert gibt, der sich auf die Geschichtlichkeit der Objekte bezieht, die in sich die Zeitlichkeit als solche widerspiegeln: „Ebenso haben wir etwa angesichts eines alten Kirchturms zu scheiden zwischen den mehr oder minder lokalisierten historischen Erinnerungen verschiedenster Art, die sein Anblick in uns wachruft, und der ganz allgemeinen nicht lokalisierten Vorstellung der Zeit, die der Turm ‚mitgemacht‘ hat und die sich in seinen unmittelbar wahrzunehmenden Altersspuren verrät.“138
In diesen Fällen, so Riegl, macht sich das Interesse des Betrachters und der spezifische Wert des Denkmals nicht an „dem Werke in seinem ursprünglichen Entstehungszustande [fest], sondern an der Vorstellung der seit seiner Entstehung verflossenen Zeit, die sich in den Spuren des Alters sinnfällig verrät.“ 139 Das Denkmal wird in diesem Fall für den modernen Betrachter ein „sinnfälliges Substrat, um in seinem Beschauer jene Stimmungswirkung hervorzubringen, die im modernen Menschen die Vorstellung des gesetzlichen Kreislaufs von Werden und Vergehen, des Auftauchens des Einzelnen aus dem Allgemeinen und seines naturnotwendigen allmählichen Wiederaufgehens im Allgemeinen erzeugt.“140
Bereits vier Jahre früher ging Riegl in seinem Aufsatz Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst genauer auf diesen Begriff ein. Dort bezeichnet er das Erzeugen von Stimmung als eine der wichtigsten Aufgaben der modernen Kunst. Wichtiger in Bezug auf seine Denkmaltheorie scheint jedoch seine Definition dessen zu sein, was er als „Stimmung“ bezeichnet. Nach seinem Dafürhalten „[…] hat sie von allem Anbeginn im letzten Grunde niemals eine andere Bestimmung gehabt, als dem Menschen die tröstliche Gewissheit von der Existenz jener Ordnung und Harmonie zu verschaffen, die er in der Enge des Weltgetriebes vermisst und nach der er sich unablässig sehnt, ohne die ihm das Leben unerträglich scheinen würde.“141
Die in Bezug auf die moderne Kunst postulierte „tröstliche Gewissheit von der Existenz jener Ordnung und Harmonie“, die für Riegl die Stimmung ausmacht, findet sich auch in der durch den Alterswert hervorgerufenen Stimmung des „gesetzlichen Kreislaufs von Werden und Vergehen“ wieder. Damit erhält der Alterswert das Potenzial, über einen ästhetisch fundierten Erinnerungswert hinaus zu gehen, 138 Ebd., S. 7 f. 139 Ebd., S. 8. 140 Ebd., S. 9. 141 Riegl 1995a, S. 30.
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zumindest lässt er sich so interpretieren. Wenn man, der ästhetischen Theorie folgend, die Schönheit nicht im Objekt verhaftet sieht, sondern als das Gefühl, das beim Betrachten des Objekts im Betrachter ausgelöst wird, und darüber hinaus bedenkt, dass das Harmonische als Attribut des Schönen gilt, dann stellt die Etablierung des Alterswerts – gewollt oder ungewollt – auch den einmaligen Versuch dar, dem Schönen am Denkmal einen eigenständigen Wert zuzuschreiben, fernab formalästhetischer Kriterien. Von Riegl selbst bleibt dieser Aspekt unerwähnt, auch wenn sein Wert in der Auslösung des oben beschriebenen Gefühls liegt. Dabei ist der Alterswert der Gebäude weniger im jeweiligen Objekt und seiner spezifischen Geschichte verankert, als vielmehr in der ästhetischen Wahrnehmung des Zeitverlaufs als solchem. 142 Dieser wird zwar durch den modernen Betrachter subjektiv wahrgenommen, ist aber gleichzeitig objektivierbar, da seine Empfindung auf allgemein-menschlichen Bedürfnissen beruht. Dieser Gedanke ist verwurzelt in Riegls universalhistorischen Vorstellungen, die eventuell auf seinen Lehrer Max Büdinger, bei dem er in Wien studiert hatte, zurückzuführen sind und die von allgemeinmenschlichen Strukturprinzipien ausgehen. So veröffentlichte Riegl im Jahr 1898 den Artikel Kunstgeschichte und Universalgeschichte in dem er versucht, universalhistorische Gedanken für die Kunstgeschichte fruchtbar zu machen. Am Beispiel eines Vergleichs zwischen römischer Malerei der Kaiserzeit, Franz Hals und Velasquez hält er fest, dass bei aller Unterschiedlichkeit der Werke denselben doch ein gemeinsames Prinzip zugrunde liege, was in der allgemeinen Menschlichkeit der drei Künstler begründet sei: „Aber da es doch der Mensch ist, der die eine sowie die andere Erscheinung ins Leben gerufen hat, so drängt sich allmählich mit unabweisbarer Macht die Vermutung auf, der Römer sowie der Holländer und der Spanier hätten in beiden Fällen einem und demselben höheren Gesetze gehorcht.“143
Dieses zugrundeliegende Gesetz ist in seiner Ausformung abhängig vom jeweiligen Entstehungskontext, bleibt in seiner Grundform aber bestehen. Riegl geht also von einem festen Kern der Dinge aus, der zwar nicht genauer zu benennen ist, sich aber 142 Mike Gubser weist in seinem Werk über Riegls Theorie zu Recht darauf hin, dass hier zwischen dem Konzept der Geschichtlichkeit und dem der allgemeineren Zeitlichkeit unterschieden werden muss. Gubser sieht darin eine Reaktion auf eine methodologische Kriese der Geisteswissenschaften um die Jahrhundertwende, bei der sich insbesondere in Wien Wissenschaftler zunehmend im Zuge einer als nicht mehr haltbar postulierten umfassenden Objektivität Phänomenen der Zeitlichkeit und Subjektivität zuwandten. Vgl. Gubser 2006, S. 7. 143 Riegl 1995b, S. 7.
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dennoch auch in allgemein menschlichen Empfindungen wiederfindet. Dieser Gedanke ist grundlegend für sein Konzept des Alterswerts als damit quasi universellem Denkmalwert. Und daraus ergibt sich auch die Folgerung, dass der Alterswert für jeden Menschen empfindbar sei, unabhängig seiner jeweiligen Vorbildung, worin Riegl selbst die größte Bedeutung des Alterswerts erkennt: „Indem diese Stimmungswirkung keine wissenschaftliche Erfahrung voraussetzt, insbesondere zu ihrer Befriedigung keiner durch historische Bildung erworbenen Kenntnisse zu bedürfen scheint, sondern durch die bloße sinnliche Wahrnehmung hervorgerufen wird und sich darauf sofort als Gefühl äußert, glaubt sie den Anspruch erheben zu können, sich nicht allein auf die Gebildeten, auf die die historische Denkmalpflege notgedrungen beschränkt bleiben muß, sondern auch auf die Massen, auf alle Menschen ohne Unterschied der Verstandsbildung zu erstrecken. In diesem Anspruche auf Allgemeingültigkeit, den er mit den religiösen Gefühlswerten gemein hat, beruht die tiefe und in ihren Folgen vorläufig noch nicht übersehbare Bedeutung dieses neuen Erinnerungs-(Denkmal-)wertes, der im folgenden als ‚Alterswert‘ bezeichnet werden soll.“144
Riegl etabliert mit dem Alterswert einen ästhetischen (d.h. sich durch Wahrnehmung erschließenden) Denkmalwert, der seine Legitimation jedoch nicht aus einer subjektiven Wahrnehmung bezieht, sondern aus postulierten universell-menschlichen Bedürfnissen und Gesetzen. Bei aller Wichtigkeit, die Riegl diesen Gesetzen zuspricht, bleibt doch zu erwähnen, dass auch er sich der Grenzen des Alterswerts wohl bewusst war und ihn ganz explizit in der Abwägung mit anderen, gleichberechtigten Werten betrachtet sehen möchte. Eberhard Grunsky stellt in diesem Zusammenhang fest, dass sich Riegl schon sprachlich auch immer wieder von den Verfechtern des Alterswerts, die er oft in der dritten Person bezeichnet, abgrenzen zu scheinen möchte. 145 So stellt er die Beobachtung an, dass die Ruine einer mittelalterlichen Burg zwar als stimmungsvoll betrachtet würde, nicht aber die eines barocken Palais, weil letzteres noch nicht alt genug wäre für einen sich natürlich ergebenden ruinösen Zustand (wobei in der natürlichen Entwicklung des Ruinösen, d.h. in dem natürlich Zeitablauf ja das Postulat des Alterswertes begründet ist).146 Das Vorwissen, das den Betrachter lehrt, welches Gebäude alt genug für den natürlichen Verfall ist, ist jedoch ein historisches. Insofern erkennt Riegl an, dass auch der von ihm dargestellte Alterswert im Kern nicht vollständig losgelöst von historischem Wissen existieren kann.
144 Riegl 1903, S. 9. 145 Grunsky 2006, S. 9. 146 Riegl 1903, S. 33.
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Während Riegl also versuchte, einen ästhetisch begründeten Erinnerungswert zu etablieren, war es zeitgleich das Anliegen Georg Dehios, die Denkmalpflege auch methodisch stärker an die modernen Geschichtswissenschaften heranzuführen. In der Rezeption werden beide Positionen häufig gegeneinander polarisiert. So sieht Achim Hubel in dem aus Dehios ‚Kaiserrede‘ aus dem Jahr 1905 stammenden Zitat „Wir konservieren ein Denkmal nicht, weil wir es für schön halten“ einen direkten Seitenhieb auf Riegl und sein Konzept des Alterswerts. 147 Aber auch schon vorher hatte Dehio sich 1903 in seinem Vortrag zur Vorbildung zur Denkmalpflege, gehalten auf dem vierten Tag für Denkmalpflege in Erfurt, gegen die Verwechslung von „subjektiv-ästhetischem Wohlgefallen“ und „objektiv-historische[m] Interesse“ ausgesprochen, woran die Praxis der Denkmalpflege seiner Meinung nach lange krankte.148 Da dieser Text zeitgleich zu Riegls Denkmalkultus entstanden ist, bleibt unklar, inwieweit er sich auch hier darauf bezieht. Sein Inhalt, der die Ausbildung von Denkmalpflegern thematisiert, lässt jedoch eher darauf schließen, dass Dehio sich hier gegen ein allgemeiner verbreitetes Phänomen stellen möchte. Darüber hinaus kann Dehios Ablehnung ästhetischer Ansätze in der Denkmalpflege auch stellvertretend für ein verändertes Ästhetikverständnis dieser Zeit herangezogen werden. Nach Wolfgang Iser war das Ästhetische seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend negativ konnotiert, als „Realitätsflucht, als Illusionsbefangenheit, als selbstzufriedener Quietismus, als narzißtischer Hedonismus.“149 Neben dem Wunsch nach wissenschaftlicher Professionalisierung innerhalb der Disziplin kommt hier also auch eine allgemeine Entwicklung zu tragen, die in ihrer Grundausrichtung bis heute besteht. Dennoch geht auch Dehio davon aus, dass sich der Wert der Denkmale nicht allein auf historische Aspekte beschränken lässt. Diesen Gedanken äußerte er vor allem in seinem Aufsatz über Denkmalpflege und Museen (1911), in dem er sich gegen die Loslösung vor allem kleinerer Denkmale aus ihrem historischen Kontext zum Zweck ihrer Präsentation in Museen äußert: „Wir messen den Wert eines alten Kunstwerkes nicht mehr allein nach der Höhe des Vergnügens, das uns aus ihm quillt; wir haben erkannt, daß es außer seinen ästhetischen und außer seinen antiquarischen Eigenschaften noch andere besitzt; wir fassen sie in das Wort Denkmal zusammen. [Hervorhebung im Original]“150
Obwohl für ihn die Translozierung eines Denkmals auch aufgrund der damit verbundenen Dekontextualisierung und dem daraus resultierenden historischen Er147 Hubel 2005, S. 227. 148 Dehio 1903/1904, S. 35. 149 Iser 2003, S. 176. 150 Dehio 1914b, S. 291.
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kenntnisverlust zu vermeiden ist, so betont er doch, dass neben diesem Erkenntnisverlust auch weitere Eigenschaften des Denkmals unter dieser Loslösung aus seiner ursprünglichen Umgebung leiden. Denn durch seine Überbringung in ein Museum „fehlen alle Erreger der so notwendigen Phantasieassoziationen, es fehlen die unwägbaren Verbindungswerte“, was für ihn zwangsläufig auch immer mit einem Werteverlust verbunden ist.151 Interessant ist, dass Dehios Aufzählung der Denkmalwerte ästhetische und antiquarische umfasst, was Riegls Kunst- und historischem Wert entsprechen könnte. Auch Dehio betont, ähnlich wie Riegl, dass es darüber hinaus noch Werte gebe: für ihn die „Phantasieassoziationen“ und „Verbindungswerte“, für Riegl der Alterswert. Im Gegensatz zu Riegl macht Dehio jedoch nicht weiter deutlich, woraus diese Werte bestehen und er versucht auch nicht, sie zu kanonisieren, schreibt ihnen also höchstwahrscheinlich eher sekundären Wert zu. Was für ihn diese „Verbindungswerte“ beinhalten, lässt sich höchsten erahnen, wenn man beispielsweise das Vorwort zu seiner Monografie zum Straßburger Münster liest, die 1922 nach seinem Verlassen der Stadt erschien. Vor dem Hintergrund dieses subjektiven Verlustempfindens beschreibt er dort seinen letzten Besuch der Kirche im Jahr 1919 und stellt so einführend sein „persönliches Verhältnis“ zu dem Gebäude dar: „Ich fand das Münster angefüllt mit französischen Soldaten, weißen und farbigen. In unerschütterlicher Ruhe sahen aus den Fenstergemälden die alten Kaiserbilder herab auf das flanierende Gewimmel. Es zog mich in die Stille der an diesem Wintermorgen noch fast dunklen, kryptenartigen Johanneskapelle, und hier stiegen vor meinem Geiste die Bilder der Vergangenheit auf. Die Römer hatten hier ihr Forum gehabt. Ein Bischof aus dem Hause Habsburg, der älteste desselben, den die Geschichte kennt, hatte den Grundstein zum heutigen Münster gelegt. Unter den staufischen Kaisern war es neu erbaut, aber noch nicht vollendet worden. Aus Ulm kam ein Meister, und dann einer aus Köln, um den Turm, ein dritter aus Landshut, um die glänzende Fassade der Laurentiuskapelle zu errichten. Die Reformation wurde gepredigt. Hundertfünfzig Jahre später verriet ein Bischof die Stadt an Ludwig den Vierzehnten. Als das Haupt des Sechzehnten unter der Guillotine fiel, wurde die christliche Kirche in einen Tempel der Vernunft verwandelt, und die Jakobiner gedachten den Turm als ein Denkmal des Aberglaubens abzubrechen. Aber der alte Christengott kehrte zurück. Dann zogen siegreiche deutsche Heere über den Rhein, ein erstes und ein zweites Mal. Ich dachte an meinen ersten Besuch im Oktober 1870 und alle die langen Jahre, in denen ich in ihm aus und ein gegangen war... Mein letzter Gedanke vor dem Abschied war: Du altersgrauer, schicksalskundiger Münsterbau, welchen Wechsel der menschlichen Dinge wirst du in Zukunft noch mit ansehen?“152
151 Ebd., S. 290. 152 Dehio 1922, S. 5 f.
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Zwar trennt Dehio diese emotional geprägte Einführung (und in ihrer abschließenden direkten Ansprache des Gebäudes stilistisch an Goethes Steinbach-Ansprache erinnernden Aufsatz) streng von seinen folgenden kunsthistorischen Erläuterungen, dennoch lässt sie nachvollziehen, was er an anderer Stelle durchaus auch als Qualität von historischen Denkmälern postulierte, wenn er sich in seiner bereits erwähnten ‚Kaiserrede‘ zu Denkmalschutz und Denkmalpflege (1905) über die stilistischen Bereinigungen an Kirchenbauten auslässt: „Der historisch empfindende Mensch freut sich daran, die Stimme der Vergangenheit in so reicher Polyphonie zu vernehmen […]“.153 Dort schreibt er weiter: „Es ist nicht zu sagen, wieviel gute alte Kunst durch den Purismus verschleudert worden ist. Und schlimmer noch als der Untergang der einzelnen Stücke ist der Verlust an Lebenswärme, an historischer und künstlerischer Gesamtstimmung, an jener Vornehmheit, die nur das Alter hat.“ 154
Diese Gedanken führen ihn inklusive der verwendeten Terminologie („Gesamtstimmung […] die nur das Alter hat“) inhaltlich sehr in die Nähe des Rieglʼschen Alterswertes. Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch der größte Unterschied zu Riegls Theorie vom Alterswert. Während es bei Riegl um das Empfinden von Zeit geht, das den modernen Menschen in eine harmonische Stimmung versetzt, ein Teil des ewigen Kreislaufes aus Werden und Vergehen zu sein, handelt es sich bei Dehio um ein konkret historisches Gefühl, das heißt, Teil einer tatsächlich historischen Entwicklung zu sein, die sich aus einzelnen, konkreten historischen Ereignissen zusammensetzt. Dieses historische Empfinden nimmt Zerstörung nicht als Sinnbild eines Kreislaufs wahr, sondern als Verlust, der als fortlaufend gedachten historischen Entwicklung zuwider gesetzt: „Nichts ist berechtigter gewiß als Trauer und Zorn über ein entstelltes, zerstörtes Kunstwerk; aber wir stehen hier einer Tatsache gegenüber, die wir hinnehmen müssen, wie die Tatsache von Alter und Tod überhaupt, in Täuschungen Trost suchen wollen wir nicht.“155
Auch wenn Dehio sich hier im Zusammenhang mit Zerstörungen durch Restaurierungsmaßnahmen äußert, also nicht mit den für den Alterswert typischen Zerstörungen durch natürlichen Zeitverlauf und Verfall, so stellt er doch klar, dass „Alter 153 Dehio 1914c, S. 277. 154 Ebd., S. 278. Dabei geht auch Dehio davon aus, dass es in erster Linie der ästhetische Wert ist, der den Laien anspricht und weniger der historische; er sieht darin aber im Gegensatz zu Riegl kein universelles Gesetz sondern leitet daraus eher eine pädagogische Aufgabe für die Geschichtsschreibung ab. Vgl. Dehio 1914d, S. 65. 155 Dehio 1914c, S. 275.
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und Tod“ für ihn existenzielle Bedrohungen darstellen, die nicht in einem akademisch postulierten ewigen Kreislauf auflösbar sind. 1907 schrieb Dehio seinen Aufsatz Deutsche Kunstgeschichte und deutsche Geschichte, in dem er versucht, die beiden Disziplinen einander näher zu bringen. Dabei kritisiert er die Ansätze der Kunstgeschichte, die sich seiner Meinung nach zu weit von denen der Geschichte entfernt haben: „Zurzeit beschäftigt uns am meisten die Erforschung der inneren Kunstgesetze und die aus ihnen hervorgehende Stilentwicklung. [Hervorhebungen im Original] Diese Betrachtungsweise verleugnet nicht das geschichtliche Moment, das in dem Begriff der Entwicklung schon gegeben ist; aber sie beschränkt es. Ihr erscheint die Kunst als eine autonome Macht. Sie fragt wenig, zu wenig nach den anderen geistigen Mächten, in deren Umgebung die Kunst ihr geschichtliches Leben führt, und von denen sie mitbedingt wird; sie fragt noch weniger nach den materiellen Voraussetzungen, sie gibt eine Geschichte des künstlerischen Denkens, nicht eine vollständige Darlegung des wirklichen Verlaufes in seinen verwickelten Kausalzusammenhängen.“156
Im Grunde kritisiert Dehio hier genau das von Riegl in seinem Aufsatz über Kunstgeschichte und Universalgeschichte geschilderte Vorgehen, das heißt, die Grundannahme eines verbindenden „Gesetzes“, wie es von beiden Autoren an dieser Stelle betitelt wird. Dabei bleibt hervorzuheben, dass Dehio diesem die Existenz nicht abspricht, sondern die Gewichtung als falsch gesetzt betrachtet. Ebenso wie Riegl den historischen Kontext der Kunstgeschichtsschreibung nicht in Frage stellt, sondern die Gewichtung anders vornimmt. Im Grunde stellen sich beide Forscher unterschiedliche Fragen. Während Dehio explizit nach der Geschichte der Kunst fragt, fragt Riegl nach dem Wesen der Kunst. Für Dehio liegen der Kunst keine allgemein menschheitlichen Gesetze zu Grunde, sondern der „Lebensstoff“, dem der Künstler lediglich die Form verleiht und den der Historiker allein unter Berücksichtigung des historischen Kontextes „aufdecken“ kann.157 So ist es dem Historiker möglich, „ganze[n] Epochen, die dem Ästhetiker leer erscheinen“, einen Inhalt abzugewinnen, da für ihn auch scheinbare Misserfolge einen Erkenntnisgewinn bedeuten.158 Dehio argumentiert also seiner Profession entsprechend als Historiker. Und auch die Kunstgeschichte bleibt für ihn ein Teil der Geschichtswissenschaften, Kunstwerke sind damit logischerweise als historische Quelle zu begreifen, was die Notwendigkeit ästhetischer Fragestellungen für ihn erst mal an zweite Stelle rückt:
156 Dehio 1914d, S. 67. 157 Ebd., S. 68. 158 Ebd.
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„Daß in den letzten Jahrzehnten ästhetische und psychologische Gesichtspunkte stärker als früher in die Gedankengänge der Kunsthistoriker hineingezogen wurden, war an sich gewiß kein Fehler. Aber zu einer verhängnisvollen Verwirrung führte es, wenn darüber in Vergessenheit geriet, daß die Kunstgeschichte, wie besonders geartet auch ihre Methoden sind und sein müssen, doch im letzten Grunde immer Geschichte ist.“ [Hervorhebung im Original] 159
Der Grundunterschied zwischen Riegl und Dehio liegt also nicht darin, dass nicht beiden bewusst wäre, dass es ästhetische Aspekte der Denkmalbewertung gibt, die auf dem Alter und der Geschichtlichkeit der Objekte beruhen. Der Unterschied liegt im wissenschaftlichen Umgang mit diesem Gedanken. Während Riegl universalhistorisch geprägt Geschichte als Menschheitsgeschichte verstehen möchte und daher nach universellen Werten und Gesetzmäßigkeiten fragt (die er im Alterswert gefunden zu haben glaubt), stellt sich Dehio eher entwicklungsgeschichtliche Fragen, zu deren Untermauerung die einzelnen Objekte als Quellen herangezogen werden können. Der ästhetische Zugang zu den Denkmalen in Form einer Weiterentwicklung des Gedankens der Einfühlung lässt sich bei beiden finden. Während Riegl darin jedoch einen universellen Wert sieht und die Qualitäten der Einfühlung daher als Alterswert kanonisieren möchte, scheint sich der ästhetische Zugang zum Denkmal für Dehio eher auf einer persönlichen Ebene abzuspielen.
2.3 I NNERE
UND ÄUßERE
H ARMONIE
Die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellte Entwicklung von formalästhetischen Überlegungen hin zu wahrnehmungsästhetischen lässt sich anhand der Wandelung des Harmonieverständnisses nachvollziehen, das eng mit jeweiligen Vorstellungen vom Schönen verbunden ist und beides, sowohl formalästhetische als auch zeitliche Aspekte, mit einschließen kann. So wird unter einer harmonischen Ästhetik meist eine auf formalästhetischen Kriterien basierende Harmonie verstanden. Innerhalb des denkmaltheoretischen Diskurses gab es jedoch insbesondere zur letzten Jahrhundertwende auch einen erweiterten Harmoniebegriff, der im Sinne der ‚gefühlten Geschichte‘ Aspekte und Spuren der zeitlichen Veränderung mit in sein Harmonieverständnis aufnahm. Der Gedanke vom Harmonischen als der Ausdrucksform des Schönen lässt sich bis in die Antike zurückführen. In der klassischen ästhetischen Philosophie gilt 159 Dehio 1914e, S. 245. Dieser Aufsatz über Das Verhältnis der geschichtlichen zu den , der ursprünglich bereits 1887 entstanden war, ist der einzige, den Dehio zur Veröffentlichung in seiner Aufsatzsammlung 1914 mit einem Nachwort versah, in dem es ihm ein Bedürfnis war, das Zitierte noch einmal zur Sprache zu bringen.
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Schönheit als die harmonische Übereinstimmung von Wesen und Erscheinung 160 und stellt so ein vermittelndes Element zwischen Form und Idee dar. Das Harmonische ist also die optisch fassbare Ausdrucksform einer Idee. Neben dieser abstrakten Definition wurden gestalterische Regeln für formale Kriterien des Harmonischen festgelegt. Dadurch wird das Harmonische nicht nur Ausdrucksform des Schönen, sondern auch umgekehrt das Schöne Ergebnis der harmonischen Form. 2.3.1 Die harmonische Form Im Zuge der Wechselwirkungen zwischen harmonischer Form und Schönheit wurde in der Architektur schon früh versucht, Regeln zum Erreichen dieser harmonischen Schönheit aufzustellen. Harmonie wird dabei meist als das Verhältnis der einzelnen Bauteile zueinander verstanden. Vitruv führt diese unter dem Überbegriff der Proportionslehre zusammenfassbaren Vorstellungen unter den drei Begriffen der ordinario, eurythmia und symmetria in seinen zehn Büchern über Architektur auf, durch die er sowohl die Maße für das gesamte Bauwerk an sich, als auch die Verhältnisse der einzelnen Teile untereinander festlegt (s. Auch Kapitel 2.1.2.1). Diese Gedanken wurden sowohl in der Renaissance (beispielsweise durch Alberti, der die Schönheit durch die „Korrespondenz zwischen dem Ganzen und seinen Teilen“ definierte161) als auch im Klassizismus weiter ausgeformt und tradiert und waren zeitweise so einflussreich, dass sie wiederum rückwirkend Einfluss auf die philosophische Ästhetik nehmen konnten. So nennt Shaftesbury in seinen Characteristics aus dem Jahr 1732 die Proportion neben der Harmonie als Charakteristikum des Schönen: „[W]hat is Beautiful is harmonious and proportionable; what is harmonious and proportionable, is True; and what is at once beautiful and true, is, of consequence, agreeable and Good [Hervorhebungen im Original].“ 162 Auch wenn es, wie bereits dargelegt, schon seit dem 17. Jahrhundert zu einer wachsenden Kritik an einem streng auf Vitruv aufbauenden Architekturverständnis kam, das sich vor allem gegen ein als zu streng empfundenes formales Gerüst richtete, 163 kam es in der Folge zwar zu einer Distanzierung von der klassischen Formgebung bzw. einer Aufweitung des Kanons, die Vorstellung von der Notwendigkeit der harmonischen Gestaltung des Gebäudes als Ziel und als Garant für dessen Schönheit wurde jedoch beibehalten. Beispielhaft können Goethes Gedanken zu Proportion und Harmonie von Bauwerken herangezogen werden. In seinem Spätwerk Über Kunst und Alterthum, das in sechs Bänden zwischen 1816 und 1832 erschien, setzt er sich immer wieder mit dem Gedanken der richtigen Proportionierung von Gebäuden auseinan160 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 64. 161 Im Original „correspondenza del tutto alle parti“, Zit. nach Kruft 2004, S. 99. 162 Shaftesbury 1732, S. 183 f. 163 Vgl. dazu z.B. Bisky 2000, S. 3 und Kruft 2004, S. 141.
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der und versucht dabei, die klassischen Lehren auf die historische heimische Bauweise zu übertragen. Bereits im ersten Band von 1816 geht er genauer auf die Beziehung zwischen der Proportionierung eines Bauwerks und dem dadurch beim Betrachter ausgelösten Wohlgefallen ein: „Alles was uns daher als Zierde ansprechen soll, muß gegliedert seyn und zwar im höhern Sinne, daß es aus Theilen besteht, die sich wechselweise auf einander beziehen. Hiezu wird erfordert, daß es eine Mitte habe, ein Oben und Unten, ein Hüben und Drüben, woraus zuerst Symmetrie entsteht, welche, wenn sie dem Verstande völlig faßlich bleibt, die Zierde auf der geringsten Stufe genannt werden kann. Je mannigfaltiger dann aber die Glieder werden, und je mehr jene anfängliche Symmetrie verflochten, versteckt, in Gegensätzen abgewechselt, als ein offenbares Geheimnis vor unsern Augen steht, desto angenehmer wird die Zierde seyn, und ganz vollkommen, wenn wir an jene ersten Grundlagen dabey nicht mehr denken, sondern als von einem Willkührlichen und Zufälligen überrascht werden.“ 164
Der besondere Reiz bei der Betrachtung besteht also erst darin, dass die Proportionierung nicht mehr auf den ersten Blick gedanklich nachvollzogen werden kann, eine Kunst, in der nach Ansicht Goethes insbesondere die Griechen und nach ihnen die Römer weit fortgeschritten waren. Das wohlgeplante Bauwerk scheint so eine Zufälligkeit zu enthalten, die den Betrachter überrascht und dadurch ein besonderes ästhetisches Erlebnis ermöglicht. Diese Gedanken führt Goethe 1832 kurz vor seinem Tod in einem Brief an Wilhelm Zahn bezüglich eines Hauses in Pompeji noch genauer aus: „Bey dem Gebäude selbst, […] ist gar manches zu denken, vorzüglich aber Ihre Bemerkung über das Abweichen von einer strengen Symmetrie als von der größten Wichtigkeit zu betrachten. Es läßt sich dieses ansehen wie die Ausweichungen in der Musik, die man nicht Mißtöne nennen sollte, weil sie zu einem sonst unerreichbaren Schönen hinführen und uns die anmuthigste Befriedigung vorbereiten.“165
Das Erreichen einer „anmuthigen Befriedigung“ wird zwar durch die Ordnung der einzelnen Teile zueinander bedingt, im Detail sind jedoch sowohl Abweichungen als auch Variationen möglich, zu Gunsten einer stärkeren Wirkung auf den Betrachter. Auslöser für die Empfindung des Schönen bleibt für Goethe jedoch in erster Linie die Proportion und das Verhältnis der Dinge untereinander. Auch eine mögliche Aufwertung gotischer Architektur wird für ihn erst dadurch möglich, dass er hier die gleichen Proportionsregeln zugrundegelegt vermutet, wie in klassischen Archi-
164 Goethe 1816, S. 146. 165 Zit. nach Büchsenschuß 2010, S. 166.
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tekturen.166 Auch Sulpiz Boisserée hob in seiner Geschichte und Beschreibung des Doms von Köln insbesondere dessen vollendete Harmonie hervor, die sich durch „die größte Mannigfaltigkeit im Einzelnen, verbunden mit der größten Einheit im Ganzen“ auszeichne.167 Auf das „Emporstreben der im schönsten Ebenmaaß und Verhältniß geordneten Theile und Glieder, bei steter Wiederholung des Ganzen im Einzelnen“ führt er auch die künstlerische Wirkung des Gebäudes zurück, das den Betrachter „wie mit Geistesschwingen ergreift“. 168 Das Hauptaugenmerk liegt also auch hier nicht auf der genauen rechnerischen Nachvollziehbarkeit der gebauten Proportionen, sondern auf der emotionalen Wirkung, die durch die mannigfaltige und doch Einheit stiftende Harmonie ausgelöst wird. Joseph Görres sah in dieser Harmonie eine spezifische Qualität, die in Bezug auf die gotische Bauweise insbesondere durch den Kölner Dom veranschaulicht würde. In seinem 1842 erschienen Vergleich zwischen dem Kölner Dom und dem Straßburger Münster stellt er die Qualitäten der Bauwerke einander gegenüber. Das Straßburger Münster stellt für ihn „ein Stück Weltgeschichte, in Stein und Eisen aufgeschrieben“ dar, wohingegen der Kölner Dom „aus dem Geist seines Urhebers in ganzer Vollendung hervorgegangen“ ist.169 Beide Varianten bringen für ihn bestimmte Qualitäten mit sich: „So hat jedes der beiden Meisterwerke seine Ehre, die ihm gebührt: die Jahrbücher der Zeiten, die Chronik des Vaterlandes vom Urbeginne an durch alle Lebensalter, seine Herrlichkeit und seine Trauer, alles ist in dem einen [dem Straßburger Münster, S. H.] ausgelegt; aber nur die durchgebildete Harmonie, die schöne Einheit, und durch Fremdartiges ungetrübte Schöne des anderen [des Kölner Doms, S. H.] kann canonisch seyn.“ 170
Während das Straßburger Münster also über einen historischen Wert verfügt, kann es durch seine lange Bauzeit und die vielen Zeitschichten, die sich in ihm vereinen, keine in sich geschlossene Harmonie erzeugen, wodurch sein Wert als Kunstwerk geschmälert ist. Harmonisch hingegen ist für Görres nur der in seiner Vorstellung auf einen schöpferischen Gedanken zurückgehenden Kölner Dom. Für ihn drückt sich Harmonie also durch ein in sich geschlossenes, formales System aus, das durch spätere Zugaben nur gestört werden kann.
166 Goethe 1823, S. 140-141. 167 Boisserée 1823, S. 25. 168 Ebd., S. 39. 169 Görres 1842, S. 57. 170 Ebd., S. 58.
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2.3.2 Die harmonische Wirkung Dies änderte sich in der Folgezeit, der Harmoniebegriff wurde erweitert, indem er sich nicht mehr nur auf das am Stück nach einem Regelwerk geschaffene Kunstwerk bezog, sondern auch zeitliche Veränderungen in sich aufnahm. Er entwickelte sich damit weg von der formalen Verankerung in den Proportionen und weiter hin in Richtung einer Wirkungsästhetik, wie sie bei Goethe schon angesprochen wurde. Diese Gedanken wurden insbesondere für die Denkmalpflege bedeutend. Ferdinand von Quast sprach sich 1858 explizit gegen eine auf Purismus abzielende Form der Restaurierung von Baudenkmalen aus, da oftmals „die Totalität des Anblicks in seiner jetzigen Zusammenstellung eine solche Harmonie“ zum Ausdruck bringen würde. Deswegen solle man sich stets auf das Notwendigste beschränken und auch scheinbare „Fehler“ belassen, allerdings mit der Einschränkung, dass diese weder Haltbarkeit noch Harmonie des Gebäudes störten.171 Im Gegensatz zu Görres, der in einem Bauwerk wie dem Straßburger Münster zwar ein historisches Dokument sah, jedoch kein harmonisches Werk, sieht Quast durchaus auch in historisch gewachsenen Werken die Möglichkeit zur Harmonie gegeben. Dies umfasst jedoch nicht zwangsläufig alle Elemente, nennt er doch explizit auch die Möglichkeit der Störung der Harmonie des Gebäudes durch später hinzugefügte Elemente. Dennoch richtet Quast sich – wohl in Reaktion auf die Praxis seiner Zeit – in erster Linie gegen ein zu Viel an einem in seinen Augen falschen Harmonieverständnis. So führt er an anderer Stelle aus, dass bei Wiederherstellungen und Umbauten an Denkmalen darauf zu achten sei, dass „kein zu starker Kontrast hervorgebracht oder auch gegenteils eine eingebildete Regelmäßigkeit dort eingeführt werde, wo dieselbe vom älteren Künstler niemals beabsichtigt wurde.“ Des Weiteren spricht er sich gegen die Anpassung alter Gebäude an neue Regeln aus, was dazu führe, dass die historische Form „oft weichen [müsse], um einer vermeintlichen Symmetrie nicht störend entgegen zu treten.“172 Neben der Vermeidung von zu starken Kontrasten – wegen der damit verbundenen Zerstörung der harmonischen Wirkung – ist er also auch gegen die Einführung einer falschen Regelmäßigkeit, die nicht mit Harmonie gleichgesetzt wird. Diese, beziehungsweise die harmonische Wirkung des Gebäudes, scheint für ihn zumindest implizit das Ergebnis einer gelungenen Restaurierung zu sein. Denn nochmals spricht er sich 1853 in seiner Denkschrift über Die Restauration von Kunstdenkmälern dafür aus, „daß unbedeutende Fehler, wo sie der Haltbarkeit des Mauerwerks und der Harmonie der Architektur nicht nachtheilig sind, unbedenklich ohne Veränderung bestehen bleiben müssen.“ 173 Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass dort, wo die Harmonie des Bauwerkes durch eine spä171 Zit. nach Buch 1990, S. 218 f. 172 Zit. nach Mohr de Pèrez 2001, S. 141. 173 Zit. nach Buch 1990, S. 240.
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tere Zutat gestört wird, diese durchaus wieder entfernt werden kann. Ausschlaggebend ist also nicht nur die Beurteilung des Denkmals als historisch gewachsen und die Achtung vor den unterschiedlichen Zeitschichten, sondern auch ein Urteil über deren harmonisches Zusammenspiel im Gebäude. Da diese Harmonie nicht mehr durch das Einhalten eines kanonischen Regelwerkes der Proportionen erzeugt wird, beziehungsweise darauf zurückzuführen ist, stellt sich jedoch für zukünftige Herangehensweisen vermehrt die Frage, worauf diese Harmonie beruhen könnte bzw. wer die Fähigkeit besitzt, sie zu beurteilen. Mit dieser Problematik hatte sich 1845 schon August Reichensperger auseinandergesetzt. Auch er möchte das historische Bauwerk so weit wie möglich erhalten wissen und richtet sich explizit gegen Versuche, das Alte wieder neu aussehen lassen zu wollen, da dies zu einem „Widerstreit zwischen dem Alten und dem Neuen“ führen würde, der auf den Betrachter verletzend wirke. 174 Auch für ihn existiert jedoch unter Umständen die Notwendigkeit, schon Vorhandenes wieder zu entfernen, und zwar, wenn dieses „offenbar und handgreiflich zweck- und stylwidrig“ und ohne „Kunstwerth“ sei. Um dies zu beurteilen, so führt Reichensperger weiter aus, sei nicht nur technischer Verstand sondern auch „allgemeine Geschmacksbildung“ notwendig.175 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verschob sich der Fokus weiter zu Gunsten einer Konzentration auf die Wirkung des Denkmals. Theodor Fischer betont 1902 die Wichtigkeit der „einheitlichen Gesamtstimmung“ alter Baulichkeiten, die für ihn unbedingt zu erhalten sei. Dabei spricht er sich explizit gegen die diese Stimmung zerstörenden Vereinheitlichungen an Gebäuden aus. 176 Der mit dieser Forderung verbundenen Schwierigkeiten ist sich Fischer durchaus bewusst, wenn er kurz darauf feststellt: „Es gehört […] viel Selbstverleugnung dazu für den modernen exakten Linealmenschen, über die von der Zeit gebleichten oder zerstückten Einzelheiten hinweg die Harmonie des Ganzen zu sehen. Und doch ist dies der erste und letzte Satz der alten Kunst gegenüber: Quieta non movere. Habt Achtung vor der Einheit des Gewordenen!“177
Die zu schützende Harmonie ist für Fischer also sowohl ein Aspekt der Denkmalbetrachtung, der sich in einer bei dem Betrachter ausgelösten Stimmung niederschlägt, als auch ein in dem Gebäude selbst manifestierter Aspekt. Dort setzt sich die Harmonie jedoch nicht mehr nur aus den einzelnen architektonischen Elementen des Gebäudes zusammen, sondern wird erweitert durch den Faktor der Zeit, der die ein174 Reichensperger 1845, o. S. 175 Ebd.; mehr zum Thema Geschmack und Geschmacksurteile s. Kapitel 5. 176 Fischer 1902, S. 299. 177 Ebd., S. 300.
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zelnen, verschiedenartigen Elemente zu einem einheitlichen, harmonischen Ganzen zusammenzufügen vermag. So erklärt sich die Achtung vor dem Gewordenen nicht nur aus einem veränderten historischen Verständnis, sondern auch aus damit einhergehenden veränderten ästhetischen Idealen. Geschichtlichkeit und harmonische Schönheit treten so in einen engen Dialog miteinander. Am konsequentesten ausformuliert findet sich dieser Gedanke in Alois Riegls Theorie des Alterswerts wieder, der, wie bereits gezeigt wurde, als ästhetischer Wert Zeitlichkeit vermittelt und so beim Betrachter eine harmonische Stimmung erzeugt (s.o.). Gleichzeitig geht Riegl in seinem Denkmalkultus jedoch auch auf andere Denkmalwerte und die damit verbundenen ästhetischen Ausdrucksformen ein, die eng mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Harmonie verbunden sind. Im Gegensatz zum Alterswert, der seine Ästhetik aus der Sichtbarkeit der zeitlichen Spuren und einer darauf basierenden zeitlichen Harmonievorstellung bezieht, zeichnet sich das neue Werk mit dem dazugehörigen Neuheitswert dadurch aus, dass es „ein in sich geschlossene[s] Ganzes“ ist.178 Hier, beim neuen Werk, verlange der Mensch „nicht allein eine tadellose Geschlossenheit in Form und Farbe, sondern auch im Stil […]“.179 Daraus ergeben sich für Riegl zwei unterschiedliche Ansprüche, die an Werke erhoben werden und auf den Ansprüchen an die Beibehaltung der jeweiligen Harmonievorstellungen basieren: „von der Menschenhand verlangen wir die Herstellung geschlossener Werke als Sinnbilder des notwendigen und gesetzlichen Werdens, von der in der Zeit wirkenden Natur hingegen die Auflösung des Geschlossenen als Sinnbild des ebenso notwendigen und gesetzlichen Vergehens. Am frischen Menschenwerk stören uns die Erscheinungen des Vergehens (vorzeitigen Verfalls) ebenso, wie am alten Menschenwerk Erscheinungen frischen Werdens (auffallende Restaurierungen).“180
Es kommt also darauf an, welcher Wert bei welchem Werk überwiegt. Verstöße gegen die jeweilige Harmonie werden in beiden Fällen als störend empfunden. Als „schön“, so die Beobachtung Riegls, gelte „den Massen“ jedoch das Neue und in sich geschlossen Werk, das demnach an klassische, in erster Linie auf der Form beruhende, Harmonievorstellungen anknüpft.181 Der Alterswert erzeugt also beim Be178 Riegel 1903, S. 23. 179 Ebd., S. 50. Der Wunsch nach Stileinheit beruht dabei nach Riegls Theorie auf dem „Kultus des historischen Wertes“ und seinem Ziel der „klaren Erkenntnis des ursprünglichen Zustandes“, der alle späteren Veränderungen beseitigen wollte und auch Neuerungen in stilistischer Ähnlichkeit älteren Zutaten, die vom ursprünglichen Stil abwichen, vorzog. Vgl. ebd., S. 51 f. 180 Ebd., S. 24. 181 Vgl. Ebd., S. 47.
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trachter eine Stimmung der Harmonie, daraus folgt aber nicht mehr zwangsläufig die Kategorisierung des jeweiligen Objektes als schön. Ähnlich wie Riegl, nämlich mit der durch das Denkmal ausgelösten Stimmung, argumentierte auch Georg Dehio drei Jahre zuvor in seiner Streitschrift für den Erhalt der Ruine des Heidelberger Schlosses, jedoch ohne dabei auf einen theoretischen Rahmen Bezug zu nehmen. Obwohl Dehio den Urkunden- und historischen Wert des Denkmals in den meisten seiner Schriften als ausschlaggebendes Argument zum Denkmalerhalt anbringt, bezieht er sich in seiner an ein breites Publikum gerichteten Flugschrift aus dem Jahr 1900 doch explizit auch auf die ästhetischen und emotionalen Werte des Denkmals. Dehio beschreibt das Heidelberger Schloss in seinem vorgefundenen Zustand als „wunderbare[s] Ganze[s], aus Vergänglichkeit und Ewigkeit, aus Kunst, Natur und Geschichte zu einem Eindruck zusammengewoben, wie ihn niemals menschlicher Verstand allein, auch nicht des größten Künstlers, hätte hervorrufen können“ und betont, dass eine Verbesserung dieses Objektes, wie sie geplant sei, gar nicht möglich wäre.182 Die geplante Rekonstruktion des Ott-Heinrich-Baus würde in dieses gewachsene Ensemble eingreifen und seine Harmonie, die durch bauliche und zeitliche Faktoren konstituiert wird, zerstören: „Er [der rekonstruierte Ott-Heinrichs-Bau, S. H.] wird als schreiende Dissonanz dastehen. Er und die ihn umgebenden Ruinen werden sich wechselseitig unmöglich machen. […] Wer hier höhnisch von ‚Sentimentalität‘ und ‚Romantik‘ spricht, beweist nur seinen gänzlichen Mangel an ästhetischem Takt. Daß Altes auch alt erscheinen soll mit allen Spuren des Erlebten, und wären es Runzeln, Risse und Wunden, ist ein psychologisch tief begründetes Verlangen. Der ästhetische Wert des Heidelberger Schlosses liegt nicht in erster Linie in dieser oder jener Einzelheit, er liegt in dem unvergleichlichen, über alles, was man mit bloß architektonischen Mitteln erreichen könnte, weit hinausgehenden Stimmungsakkord des Ganzen.“ 183
Ganz ähnlich wie Riegl argumentiert auch Dehio hier mit der Stimmung, die bei dem Betrachter durch den Bau ausgelöst wird. Das von Dehio angesprochene psychologische Verlangen, Altes auch alt aussehen zu lassen, deckt sich mit Riegls Gedanken zur Veranschaulichung der Kausalitätsgesetze, des Werdens und Vergehens. Und wie bei Riegl steht diese Stimmung in einem engen Zusammenhang mit einem Harmonieverständnis. Die Störung der vorhandenen Harmonie würde auch die Stimmung zerstören. Die Harmonie aber beruht auf der Harmonisierung der verschiedenen Bauteile durch die Zeit und den natürlichen Alterungsprozess mit seinen Spuren. Dies führt Dehio noch genauer in dem 1911 erschienen 4. Band der Deutschen Kunstdenkmäler aus: 182 Dehio 1914, S. 249. 183 Ebd., S. 258.
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„Es liegt der merkwürdige Fall vor, daß das Heidelberger Schloß durch seine Zerstörung ein Wachstum an ästhetischen Werten erfahren hat; vorher war es ein Gemenge inhomogener Formen. Schon die Entstehung als renaissancemäßiger Umbau einer mittelalterlichen Burg weist auf einen unüberwindlichen inneren Zwiespalt. Ererbte got. Grundrißanordnungen wurden mit Renss.-Aufrissen gewaltsam verbunden, hochfliegende künstlerische Absichten stießen sich öfters hart mit schlicht handwerklichen, dem Nutz- und Sparsinn gehorchenden Ausführungen. Diese Widersprüche sind jetzt im Ruinenzustand gemildert, harmonisiert; […] Und eingetreten ist jenes, menschlichem Willen und Verstand, auch dem des größten Künstlers, immer unerreichbare Bildnis von Kunst und Natur, das heute im Namen ‚Heidelberger Schloß‘ begriffen ist.“184
Während Dehio im Fall des Heidelberger Schlosses einen „grundlegenden Zwiespalt“ zwischen den Bauteilen der verschiedenen Zeiten ausmacht, betont er jedoch an anderer Stelle auch, dass dies keineswegs immer der Fall sein muss. In seinem Aufsatz Denkmalschutz und Denkmalpflege aus dem Jahr 1905 hatte er sich explizit gegen die Forderung nach Stileinheit gestellt. Dabei argumentiert er historisch, indem er betont, dass der Wunsch nach Stileinheit ein verhältnismäßig junger sei, wohingegen in früheren Zeiten jede Veränderung in der jeweils zeitgenössischen Ausdrucksweise ausgeführt wurden. Dies schade jedoch nicht der Ästhetik der Bauwerke, da auch eine künstlerische Harmonie ohne Stileinheit möglich sei: „Wenn an einem Bauwerk aus alter Zeit einzelne Teile erneuert oder hinzugefügt werden mußten, so tat man es stets in der jeweilig üblichen Bauweise. Die Stileinheit wurde dabei geopfert, aber nicht notwendig die künstlerische Harmonie überhaupt.“ 185 Inwieweit diese künstlerische Harmonie durch die Mitwirkung einer zeitlichen Komponente entsteht, wird von Dehio an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er hier von einer auf die Form bezogenen Harmonie spricht, die sich aus der künstlerischen Herangehensweise an den historischen Bestand ergibt. Den Zusammenhang zwischen beiden Komponenten der Harmonie (der formund der zeitbezogenen) führt Cornelius Gurlitt 1904 in seinem Werk Über Baukunst aus: „Man erkennt heute die Geschichte eines Baues aus seiner Erscheinung nur dann, wenn die Spuren seiner im Lauf der Zeiten vollzogenen Umgestaltungen erhalten blieben. […] Dem Bau liest man nun die Geschichte ab, die diesen Wandel [der Geschmäcker und der Ziele, S. H.] offenbart. Das Gefühl der Ehrwürdigkeit geht von jenem Werke aus, das verkündet, wie die Geschlechter nacheinander in ihm und an ihm wirkten. An einem solchen Werke empfinden wir bei verschiedenem Stil erst recht die Einheit: nämlich die des gleichen Grundgedan184 Ders. 1911, S. 146. 185 Dehio 1914, S. 276.
66 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE kens, der sich in verschiedener Form äussert, der gleichen Melodie in verschiedenartiger Vertonung bei symphonischem Einklang. Das Kunstwerk entsteht so aus einem Nacheinander des Schaffens; die Einheit ist die des Inhalts, nicht der Form; […]“.186
Auch wenn Gurlitt die harmonische Einheit des zeitlich gewachsenen Werkes hier dem Inhalt und nicht der Form zuordnet, so ist es dennoch die Form, durch die sie zum Ausdruck kommt. Im Grunde finden sich hier die Gedanken Dehios aus seiner Argumentation gegen das Streben nach Stileinheit wieder. Zugrunde liegt diesen Gedanken eine gewandelte Vorstellung dessen, was das Denkmal als Werk ausmacht. So wird in dem Denkmal eben nicht mehr das Werk eines Künstlers gesehen, das möglichst vollständig und in seiner vermeintlichen Ursprünglichkeit bewahrt werden sollte, sondern ein Werk aus Kunst und Zeit. Eberhard Grunsky stellt die Auffassungen Riegls und Dehios daher „traditionellen Auffassungen“ vom Kunstwerk gegenüber, die bis dahin vorherrschten und für ein „statisches Verständnis des Denkmalbegriffs“ stehen.187 Dabei wurde jedoch, wie gezeigt wurde, der Gedanke der Harmonie als konstituierendes Element des Werks nicht aufgegeben. Diese Harmonie wurde lediglich nicht mehr nur äußerlich, sondern, im Grunde anknüpfend an ästhetische Theorien seit der Antike, auf über das rein Äußerliche hinausgehende Aspekte erweitert, in erster Linie um den des Zeitverlaufs. Eine Störung dieser Komponente stellt automatisch auch eine Störung der Harmonie des Werks dar. Allerdings konnte sich dieser erweiterte Harmoniebegriff kaum durchsetzen, auch wenn die ihm zugrundeliegende Ästhetik unterschwellig durchaus eine Rolle spielen kann (vgl. dazu insbesondere Kapitel 3). Der Begriff der Harmonie in Verbindung mit dem Denkmal tritt heute jedoch meist in seiner negativen Wendung, der ‚Harmonisierung‘ im Zusammenhang mit einer Ästhetisierungskritik auf. Georg Mörsch spricht dabei von einem „optischen Harmoniebedürfnis“, das sich auf das Äußere der Gebäude beschränke und beispielsweise in den Rekonstruktionen und Rekonstruktionsabsichten seit den 70er Jahren zum Ausdruck komme. 188 Mögliche Forderungen nach der Imitation alter Formen bei innerstädtischen Neubauten zeugen seiner Meinung nach von einem „oberflächlichen Harmoniebegriff“189, der den Ansprüchen einer modernen Denkmalpflege nicht entspricht: „Der Harmoniebegriff, der hinter solchem Bauen steht, kann nicht der Harmoniebegriff
186 Gurlitt 1904, S. 16. 187 Grunsky geht in diesem Zusammenhang auch auf die besondere Rolle des Geniegedankens ein. Vgl. Grunsky 2006, S. 10. 188 Vgl. Mörsch 2005d, S. 71. 189 Mörsch 2005e, S. 100.
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Ä STHETISCHE W AHRNEHMUNG
UND DAS W AHRNEHMENDE
S UBJEKT
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einer aufgeklärten Denkmalpflege sein, die die wirklichen Spuren nicht leugnet und sie im formalen Diskurs für neue architektonische Taten klärt.“ 190 Der „oberflächliche Harmoniebegriff“, wie er von Mörsch konstatiert wurde, wird nicht selten mit einem gesellschaftlichen Harmoniebedürfnis erklärt, wodurch er um eine moralische Komponente erweitert wird. Dabei ist dieser auf das Äußere des Denkmals beschränkte Harmoniebegriff durchaus auch innerhalb der Denkmalpflege von Bedeutung. So fordert die Charta von Venedig 1964 zwar die sichtbare Abgrenzung neuer Zufügungen zum historischen Bestand, diese sollen sich aber „dem Ganzen harmonisch einfügen“, was eindeutig auf eine optische Harmonie abzielt. Beide Anforderungen zusammen sollen dazu führen, dass der „Wert des Denkmals als Kunst- und Geschichtsdokument nicht verfälscht“ wird.191 Dieses Zitat lässt zumindest die Interpretation zu, dass auch hier der künstlerische Wert des Denkmals mit einem harmonischen Erscheinungsbild des „Ganzen“ assoziiert wird. 2010 setzte sich Hans-Rudolf Meier mit dem Harmonischen in Bezug auf das Denkmal auseinander. In seinem Aufsatz begründet er die empfundene Harmonie der Denkmale mit deren baukünstlerischen Qualitäten, wodurch die Harmonie in einen engen Zusammenhang zum künstlerischen Wert des Denkmals rückt. Gleichzeitig führt er jedoch die breite Wertschätzung des Harmonischen auf eine Kompensationshaltung zurück, die den Wunsch nach (äußerlicher) Harmonie in einer erfahrenen Disharmonie begründet: „In einer oft als disparat erlebten Gegenwart ist es nicht die geringste Qualität mancher Denkmale, durch ihr Wohlgefallen einen Kontrast zum Alltäglichen und Gewöhnlichen zu bilden.“192 Neben der baukünstlerischen Form ist für Meier aber auch die Patina der Denkmale ein harmonisierendes Element, das „als Spur der durchlebten Zeit […] die Unterschiede“ glättet. 193 Der Text schließt mit einem Zitat Georg Mörschs als Appell für ein neues Harmonieverständnis: „Harmonie kann im Geschichtsbild einer aufgeklärten Gesellschaft ja nur bedeuten, dass alle historisch wichtigen Fakten und deren materielle Zeugen bereitwillig und offenen Auges für eine vielschichtige, gerechte Standortbestimmung eingesetzt werden.“194 Die Harmonie steht also nicht mehr nur für ein Gefühl von Geschichtlichkeit, sondern für die in ihrer Vielschichtigkeit differenziert wiedergegebene Geschichte. Die Kritik an der Harmonisierung richtet sich entsprechend nicht länger gegen die Harmonisierung der Form, sondern gegen die Harmonisierung der Geschichte. Geschichtlichkeit und Geschichte stellen dabei zwei grund190 Mörsch 2005b, S. 51. 191 Internationale Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälern und Ensembles (Charta von Venedig) 1964, Artikel 12. http://www.blfd.bayern.de/medien/ charta_von_venedig_1964.pdf, Zugriff 21.01.2016. 192 Meier 2010, S. 49 f. 193 Ebd., S. 55. 194 Mörsch 1989, zit. nach Meier 2010, S. 57.
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sätzlich unterschiedliche Dinge dar. Wiederum zeigt sich hier ein neues Denkmalverständnis: war die Grundlage der zuvor beschriebenen Veränderung des Harmoniebegriffes eng mit der veränderten Vorstellung des ‚Werks’ verbunden (in sich geschlossenes Kunstwerk oder historisch gewachsenes Werk), so liegt der neuen kritischen Auseinandersetzung mit dem Harmoniebegriff ein abermals gewandelter Harmoniebegriff zugrunde, der das Denkmal weniger als Werk sondern vielmehr als geschichtliches Zeugnis begreift. Insgesamt ist also der Harmoniebegriff der Denkmalpflege schillernd und nicht fest umrissen. Je nach Kontext kann er sich sowohl auf die Form des Denkmals als auch auf seine Wirkung beziehen, sowohl auf künstlerische, als auch auf zeitliche Elemente. Die Grundlage bleibt jedoch stets, dass Harmonie als erstrebenswert gilt (es sei denn, sie ist oberflächlich und damit potenziell verfälschend) und dass folglich Störungen der Harmonie als schädlich betrachtet werden – wobei die Störungen auch gerade in einer oberflächlichen Harmonisierung bestehen können. Eng verbunden sind diese Harmonievorstellungen mit Vorstellungen von Werk und Zeit. Form und Zeit sind die konstituierenden Elemente der Harmonie, die in jeweils unterschiedlicher Gewichtung zueinander auftreten. Von dieser Gewichtung und von der Frage, ob es sich bei Harmonie um eine Objekteigenschaft oder um eine durch das Objekt ausgelöste Empfindung handelt, ist auch die jeweilige harmonische Ästhetik abhängig. Die frühe denkmaltheoretische Auseinandersetzung mit dem Schönen ist geprägt von der Aufwertung des Subjektes seit der frühen Moderne. Dies äußert sich vor allem in der Betonung wahrnehmungsästhetischer Aspekte. Diese Wahrnehmungsästhetik schließt dabei nicht nur Momente der Kunstbetrachtung ein, sondern, einhergehend mit einer Ausweitung des Denkmalbegriffs auf profane Bauten und Ensembles als Zeugnisse einer allgemeinen (Volks-) Geschichte, auch die ästhetische Wahrnehmung von Zeit und Geschichtlichkeit. Dabei ist von Beginn an selten die Rede von einer Bewahrung der Schönheit des Objektes als denkmalpflegerischer Zielstellung, wohl aber von Störungen der ästhetischen Denkmalwahrnehmung. Was jedoch als ästhetisch störend empfunden wird, hängt von einem implizit vorhandenen ästhetischen Ideal ab, auch wenn dieses nicht explizit mit dem Begriff des Schönen in Verbindung gebracht wird. In den folgenden Kapiteln sollen daher unterschiedliche Aspekte dieser impliziten ästhetischen Vorstellungen untersucht werden, die stets in engem Zusammenhang mit anderen denkmaltheoretischen Überlegungen und Wertvorstellungen stehen.
3 Die ästhetischen Kategorien des Erhabenen und des Malerischen Die Verlagerung des Fokus von der Form des Objektes hin zu seiner Wahrnehmung durch das Subjekt, ging einher mit einer Weiterentwicklung ästhetischer Theorien und der Einführung neuer ästhetischer Kategorien neben der des Schönen. Die empirisch begründete Erfahrung, dass es neben der Empfindung des Schönen auch weitere ästhetische Empfindungen gibt, die in ihrer Eindrücklichkeit nicht weniger stark sind, aber ganz offensichtlich nicht von Objekten ausgelöst werden, die man im klassischen Sinne als ‚schön‘ bezeichnen kann und die auch nicht die dem Schönen zugeschriebenen Gefühle auslösen, mündete in der Suche nach ästhetischen Kategorien, die dem Schönen gegenübergestellt werden könnten. Am einflussreichsten war in diesem Zusammenhang wohl die 1757 von Edmund Burke veröffentlichte Arbeit A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. Darin untersuchte er, beeinflusst durch zeitgenössische empirische Studien, welche ästhetischen Phänomene beim Betrachter welche emotionalen Reaktionen auslösen. Mit dieser Schrift etabliert Burke die ästhetische Kategorie des Erhabenen als Gegenpart zum Schönen. Beide Kategorien definieren sich in Abgrenzung zu einander und gewinnen dadurch an Kontur. Ende des 18. Jahrhunderts wurde als weitere ästhetische Kategorie von William Gilpin und Uvedale Price das Malerische als Ergänzung zu Burkes Erhabenem eingeführt. Diese Kategorie fand schnell Eingang und Verbreitung in die verschiedenen Diskurse von Landschaftsmalerei und vor allem Landschaftskunst und wird in ihrer popularisierten Form bis heute verwendet, um die ästhetische Wirkung insbesondere von Landschaften und Ansiedlungen auf den Betrachter zu beschreiben. Durch die Anwendung der ästhetischen Kategorie des Malerischen auf die vom Menschen geprägte Umgebung erhielt sie auch Einzug in denkmalpflegerische Diskurse. Dabei war die Idee des Malerischen von Beginn an weniger klar umrissen als die des Erhabenen und wurde von Anfang an auch kontrovers diskutiert. Gleichzeitig lässt sich im Laufe der Zeit eine Bedeutungsverschiebung hin zum Trivialen erkennen, die sich rückwirkend auch auf den Umgang und die Auseinandersetzung mit den dem Malerischen zugeordneten Objekten niederschlägt.
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3.1 D AS E RHABENE
UND SEINE
B EZIEHUNG
ZUM
S CHÖNEN
Die Idee des Erhabenen lässt sich bis in die Antike auf den Autor Longin (auch Pseudo-Longinos) und seine Abhandlung Peri hypsous (Über das Erhabene) zurückführen.1 In diesem Text wird das Erhabene im Zusammenhang von Poetik und Rhetorik analysiert. Der Autor schreibt dem Erhabenen die Fähigkeit zu, den Rezipienten „zu großer Denkungsart“ zu stimmen: „Denn unsere Seele wird durch das wirklich Erhabene von Natur aus emporgetragen, schwingt sich hochgemut auf und wird mit stolzer Freude erfüllt, als hätte sie selbst geschaffen, was sie hörte.“2
Gleichzeitig steht für ihn das Erhabene außerhalb der ordnenden Vernunft. Als mögliche Auslöser des Gefühls des Erhabenen nennt er neben Naturbetrachtungen auch die Begegnung mit Schicksal und Tod.3 Diese beiden Grundcharakteristika, also das nicht durch die Vernunft Erfassbare und die enge Verbindung mit der Betrachtung der Naturgewalten, bleiben dem Erhabenen auch beim Wiederaufleben dieses Konzepts ab Ende des 17. und insbesondere im 18. Jahrhundert verbunden. Auftrieb bekam die neuerliche Auseinandersetzung mit dieser ästhetischen Kategorie zum einen durch die Übersetzung des antiken Textes ins Französische durch Nicolas Boileau-Despréaux im Jahr 1674 und zum anderen durch die Entdeckung und Eroberung neuer Naturräume, beispielsweise der Durchquerung der Alpen durch John Dennis im Jahr 1688.4 Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wurde das Erhabene schließlich als eigenständige ästhetische Qualität und Gegenpol zum Schönen etabliert, wobei die schon erwähnte Abhandlung Edmund Burkes den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet.5 Burke definiert ‚schön‘ und ‚erhaben‘ anhand der Emotionen die bestimmte Gegenstände beim Menschen hervorrufen und untersucht empirisch, welche Eigenschaften die Objekte besitzen, die diese Gefühle jeweils auslösen.6 Dabei postuliert er, dass aufgrund ihrer physiologischen und psychologischen Beschaffenheit alle Menschen gleich auf die Dinge reagieren würden.7
1
Z.B. Kösser 2006 und Fridrich 2003.
2
Zitiert nach Fridrich 2003, S. 133.
3
Vgl. Kösser 2006, S. 68 ff.
4
Vgl. ebd., S. 72 ff.
5
Vgl. ebd., S. 63 f.
6
Vgl. Burke 1767, insbes. S. 162 ff.
7
Vgl. ebd., S. 1 f.
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Im Gegensatz zum Schönen, dessen Wirkung darin besteht, Liebe oder vergleichbare Gefühle auszulösen, ist die Idee des Erhabenen für Burke mit der des Schreckens (terror) verbunden: „Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime.“ 8 [Hervorhebung im Original]
Gerade in dieser Verbindung mit Schmerz und Gefahr sieht er die besondere Kraft des Erhabenen, da er davon ausgeht, dass die Gefühle des Schmerzes stärker als die des Genusses seien.9 Gleichzeitig kann das Erhabene aber auch selbst genussartige Gefühle hervorrufen und zwar immer dann, wenn Gefahr und Schmerz zwar wahrgenommen werden, den Betrachter jedoch nicht direkt betreffen, sondern in einer gewissen Distanz verbleiben: „[T]hey are simply painful when their causes immediately affect us; they are delightful when we have an idea of pain and danger, without being actually in such circumstances; this delight I have not called pleasure, because it turns on pain, and because it is different enough from any idea of positive pleasure. Whatever excites this delight, I call sublime.“ 10 [Hervorhebung im Original]
Nachdem das Erhabene in seiner Wirkung auf diese Weise beschrieben wurde, folgt bei Burke eine Untersuchung, welche Eigenschaften Objekte besitzen müssen, um die geschilderten Gefühle hervorzurufen. Burke ordnet dem Erhabenen dabei die Attribute des Obskuren und der Kraft (power), der Größe (vastness), Unendlichkeit, Wiederholung (succession), Uniformität, Schwierigkeit bei der Herstellung und Pracht (magnificence) zu, während das Schöne sich durch Kleinheit, Weichheit und Abwechslungsreichtum auszeichne.11 In Bezug auf Gebäude betrachtet er insbesondere die Größe als wichtigste Voraussetzung des Erhabenen, da durch sie eine Vorstellung von Unendlichkeit vermittelt würde. Dabei ist aber die Ausgewogenheit der Größenverhältnisse untereinander wichtig, da der Effekt sich ansonsten aufhebe.12 Dennoch ist das Erhabene nicht auf rationale Prinzipien zu reduzieren, wie beispielsweise Proportionen, sondern wird bestimmt von sinnlichen Qualitäten. Das
8
Burke 1767, S. 138 und 58 f.
9
Ebd.
10 Ebd., S. 84 f. 11 Ebd., S. 101 ff. und S. 189. 12 Ebd., S. 115.
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Erhabene zeichnet sich durch eine Überwältigung der Sinne aus, die eine vernunftmäßige Rezeption erst im Nachhinein ermöglicht.13 Diese überwältigende Eigenschaft des Erhabenen wird auch von Kant in seiner Kritik der Urtheilskraft aufgegriffen. Dabei setzt er das Erhabene mit der Unmöglichkeit, Sinnzusammenhänge zu entdecken gleich.14 Im Gegensatz zu Burke geht es ihm jedoch nicht um eine empirische Untersuchung der Auslöser dieser Empfindungen, sondern um eine Untersuchung der Gefühlswelt des Subjektes. 15 Beiden gemeinsam ist jedoch, dass das Erhabene als das Unfassbare und Unbegreifliche definiert wird. Die ästhetischen Theorien zum Erhabenen werden damit zur Auseinandersetzung mit der nicht kalkulierbaren Bedrohung und stellen einen Versuch dar, die damit verbundenen Gefühle in ihrer Opposition zum Schönen in einen weiteren Zusammenhang zu stellen. Diese direkte Opposition des Erhabenen zum Schönen erhielt ihre Ausschließlichkeit erst durch Kant. Während bei Longin das Erhabene noch innerhalb des ästhetischen Kanons rangierte und bei Burke auch bzw. insbesondere das Erhabene die Möglichkeit beinhaltete, ästhetischen Genuss zu evozieren, wird der Begriff des Erhabenen bei Kant durch die Verknüpfung mit der Gegenüberstellung von Endlich und Unendlich, Bedingt und Unbedingt, zum Gegenpart des Schönen. 16 Für den Philosophen Richard Rorty steht daher das Erhabene in Anknüpfung an Kant für die „Berührung mit dem Unvertrauten und Unsagbaren“17, wohingegen das Schöne immer auch das gesellschaftlich Normative ist. Das Erhabene wird hier auch zum gesellschaftlichen Gegenkonzept. Neben dieser subversiven Kraft des Erhabenen lässt sich aber auch schon früh eine Entschärfung der den Begriff begleitenden negativen Aspekte erkennen. Carsten Zeller spricht in diesem Zusammenhang von einer Harmonisierung des Erhabenen in der idealistischen Kunstphilosophie in der Nachfolge von Schlegel und Schiller.18 Dem Erhabenen wird seine ursprüngliche Begründung im Schrecken des Unfassbaren genommen. Durch diese „Marginalisierung des negativen Grundes des Sublimen“19 nähert sich das Erhabene jedoch weniger dem Schönen als vielmehr dem Malerischen an, das sich zwar ebenfalls außerhalb des klassischen ästhetischen Kanons befindet, in seiner rezeptionsästhetischen Auswirkung aber eher selbstvergewissernd und nicht auflösend wirkt.
13 Vgl. Kösser 2006, S. 77 f. 14 Kant KU AA V, S. 248. 15 Vgl. Kösser, S. 84. 16 Vgl. Rorty 2001, S. 22. 17 Ebd., S. 16 f. 18 Vgl. Zeller 1995, S. 187. 19 Ebd.
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So lässt sich also auf der einen Seite eine Radikalisierung der Idee des Erhabenen im Zuge der philosophischen Ästhetik erkennen, während auf der anderen Seite im Bereich der Rezeptionsästhetik insbesondere in Bezug auf Natur und gebaute Umgebung eine Verschiebung des Inhalts der Idee des Erhabenen hin zu einer Auflösung im Malerischen erkennbar ist. Diese Tendenz spiegelt auch die Rolle des Erhabenen in Bezug auf die Denkmalpflege wider. 3.1.1 Das Erhabene in der Denkmalpflege am Beispiel der Ruinenromantik Im denkmaltheoretischen Diskurs gibt es wenige direkte Verweise auf eine mögliche Rolle des Erhabenen. Lediglich in jüngster Zeit wird im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den ästhetischen Wert von Denkmalen auch das Erhabene als mögliche ästhetische Kategorie erwähnt. Wolfgang Sonne stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der moderne Städtebau, wie er beispielsweise durch Martin Wagner, August Endell oder Daniel Burnham praktiziert wurde, in seiner Formensprache eher an die Idee des Erhabenen als des Schönen anknüpfe.20 Ähnliches könnte in Bezug auf architektonische Werke des Brutalismus zur Diskussion gestellt werden, die in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Denkmalpflege rücken. Der einzige Bereich, in dem das Erhabene in der Denkmalpflege zumindest implizit und unterschwellig Einfluss genommen hat, betrifft die besondere Gattung der Ruinen. Dieser bleibt aber aufgrund der spezifischen Qualitäten des Erhabenen letztlich gering. Die Auseinandersetzung mit Ruinen in Kunst und Architektur begann im 18. Jahrhundert mit der Entdeckung der Ruinen von Herkulaneum und Pompei, die anschließend in zahlreichen Veröffentlichungen popularisiert wurden.21 Über diesen Weg einem breiten Publikum zugänglich gemacht, fand die Ruine im Anschluss als Motiv ihren Eingang in die bildende Kunst. Dabei kann die Ruine sowohl die als positiv empfundene Überwindung des Alten als auch das Beklagen des Verlustes des vorher Dagewesenen versinnbildlichen.22 Beim praktischen Umgang mit baulichen Ruinen spielen beide Gedanken zwar immer wieder eine Rolle, werden jedoch in Abhängigkeit von der jeweils spezifischen Ruine und ihrem Bedeutungshintergrund variiert und nur selten theoretisch reflektiert.
20 Vgl. Sonne 2013, S. 161. 21 Vgl. Kruft 2004, S. 240. 22 Als Beispiel nennt Hans-Rudolf Meier in diesem Zusammenhang die fortschrittsfrohen Darstellungen der Abbrüche in Paris durch Hubert Robert, während in der Moderne der Verlust des Verschwundenen bildlich in Szene gesetzt wird. Vgl. Meier 2008, S. 9 f.
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Die bekannteste Ruine der Frühzeit der Denkmalpflege ist wohl der Kölner Dom, der in seiner Existenz als Bauruine eine besondere Stellung innerhalb der Ruinenthematik einnimmt und in seiner Stilisierung zum Nationaldenkmal eine emotionale Sonderrolle zugeteilt bekommt, die schließlich auch zu seiner Vollendung führte, also zum Ende seiner Existenz als Ruine. Vor dem Hintergrund dieser neuen symbolischen Aufladung des Gebäudes schilderte Goethe seinen Besuch des Domes unter dem Eindruck des Erhabenen: „Ich will nicht läugnen, daß der Anblick des Kölner Doms von Außen eine gewisse Apprehension in mir erregte, der ich keinen Namen zu geben wüßte. Hat eine bedeutende Ruine etwas Ehrwürdiges, ahnen, sehen wir in ihr den Conflict eines würdigen Menschenwerks mit der stillmächtigen, aber auch alles nicht achtenden Zeit; so tritt uns hier ein Unvollendetes, Ungeheures entgegen, wo eben dieses Unfertige uns an die Unzulänglichkeit des Menschen erinnert, so bald er sich unterfängt, etwas Uebergroßes leisten zu wollen.“ 23
Die Attribute, die dem Gebäude hier zugeschrieben werden – das Ungeheure und das Übergroße – bezeichnen klassische Eigenschaften des Erhabenen. Die Überwältigung, die der Dom in Goethe hervorruft, hebt sich für ihn auf im bereits fertiggestellten Chor mit seinen vollendeten Proportionen. Die Fertigstellung zerstört damit das Ungreifbare und Unfassliche des Gebäudes, die gefühlte Unzulänglichkeit des Menschen wird technisch überwunden. Der Wert der Ruine besteht also in ihrer Versinnbildlichung des Erhabenen. Dieser Wert wird aufgehoben durch die Zuordnung eines anderen Wertes (in diesem Fall als Nationaldenkmal), der einen Eingriff in die vorhandene Substanz nach sich zieht und damit dem für das Erhabene notwendige Gefühl des Schicksalhaften zuwider läuft. Diese Problematik prägt den Umgang der Denkmalpflege mit Ruinen. Im Grunde kann jeder Eingriff die ästhetische (erhabene) Wirkung der Ruinen nur zerstören, da diese gerade auf dem Gefühl des Ausgeliefertseins an die Natur beruht. Dem entgegen wirkt jedoch das Postulat der Substanzerhaltung, nach dem auch bei Ruinen die nötige Sicherung und den Erhalt des Vorhandenen in seinem Wert als Geschichtszeugnis notwendig ist. Gleichzeitig ist man sich des hohen ästhetischen Wertes der Ruine bewusst. Ferdinand von Quast stellte die Ruine in ihrem ästhetische Reiz nicht nur über die Wiederherstellung des Gebäudes, sondern unter Umständen auch über das ursprüngliche Gebäude: „Wie viel schöner ist manche Ruine in ihren vielsagenden, ahnungsvollen Formen, als es das vollständige Bauwerk während seines ehemaligen untergeordneten Gebrauchs oder selbst in der Fülle seiner einstigen Herrlichkeit
23 Goethe 1823, S. 147 f.
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war!“24 Ähnliche Gedanken findet man in Georg Dehios Text zum Heidelberger Schloss aus dem vierten Band seines Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler aus dem Jahr 1911.25 Diese Einstellung in ihrer Klarheit ist dabei schon eine Reaktion auf ein erneutes Aufleben des Ruinenkults zum Fin de Siècle, der sowohl in der Kunst als auch in der Philosophie zum Ausdruck kam. 26 Auch Alois Riegl setzte sich mit dem Ruinenkult und seiner Herkunft auseinander. So veranschaulichen für ihn die Gemälde der holländischen Ruinenmaler den „echt barocken Kontrast zwischen einstiger Größe und jetziger Erniedrigung“. 27 Neben dem Bedauern des Verlustes erkennt er dabei ein „gleichsam […] wollüstiges Wühlen im Schmerz“28 als Charakteristikum dieser Malerei. Diese Worte erinnern an Burkes Feststellung, dass das Erhabene durchaus auch Genuss (delight) hervorrufen kann, vorausgesetzt der Betrachter kann sich selbst in Distanz zum Gesehenen setzen. Riegl geht jedoch davon aus, dass der moderne Mensch das Aufwühlende, das der barocke Betrachter der Ruine empfand, nicht mehr nachvollziehen kann: „[D]ie Altersspuren wirken auf ihn [den modernen Menschen, S. H.] beruhigend als Zeugnisse des gesetzlichen Naturlaufs, dem alles Menschenwerk sicher und unfehlbar unterworfen ist.“29 Das Gefühl des Ausgeliefert-Seins an die Natur wird also ersetzt durch das Gefühl des Eins-Seins mit der Natur, das Riegl auch in der Stimmung des Alterswertes wiederfindet. Diese Stimmung wird unter anderem durch Ruinen ausgelöst, findet sich dort allerdings „zu laut […], um dem modernen Stimmungsmenschen vollkommene Erlösung zu verschaffen.“ 30 Das Gefühl der Unendlichkeit (bei Riegl nicht in Bezug auf die Größe des Objektes, sondern auf die verstreichende Zeit angewendet), das Burke als eine der Quellen des Erhabenen sah,31 wird in Riegls Alterswert zur Rückverankerung des modernen Menschen im natürlichen Kreislauf des Weltgeschehens. Dadurch verliert das Erhabene aber auch seinen Schrecken, wodurch das durch den Alterswert hervorgeru24 Zitiert nach Mohr de Pèrez 2001, S. 138. Auf die Zuordnung der Ruine zur ästhetischen Kategorie des Schönen durch Quast wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch eingegangen werden. 25 Dabei lag für Dehio dieser spezifische ästhetische Wert weniger im Erhabenen, als vielmehr in dem durch den Verfall harmonisierten Erscheinungsbild, s.o. 26 Der Künstler Puvis de Chavanne brachte dies in seinem Ausspruch “Il y a quelque chose de plus beau qu’une belle chose, ce sont les ruines d’une belle chose” zum Ausdruck (zitiert nach Dürr 2001, S. 5); Georg Simmel setzte die Ruine sogar als „Metapher seiner Lebensphilosophie“ (Lipp 2008, S. 120) ein (vgl. Simmel 1923). 27 Riegl 1903, S. 21. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Vgl. Burke 1767, S. 109.
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fene Gefühl die Harmonie ist, die entweder in Verbindung zum Schönen oder zum Harmonisierenden des Malerischen gesetzt werden kann. Schon wenige Jahre später hob Riegls Schüler Max Dvořák bei der ästhetischen Wirkung der Ruine ihre malerische Erscheinung in der Landschaft als Grundlage ihres speziellen Reizes hervor.32 Damit knüpft Dvořák an die Tradition der Ruine als Element des Malerischen an, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts begründet wurde. Die Idee der malerischen Ruine hat ihre Ursprünge im englischen Landschaftsgarten und wurde maßgeblich von William Gilpin geprägt. Gilpin war sich der verschiedenen möglichen Wirkungsweisen der Ruine – dem Erhabenen auf der einen und dem Malerischen auf der anderen Seite – durchaus bewusst und er versuchte zwischen den beiden zu differenzieren. In seinen Three essays: on picturesque beauty, on picturesque travel and on sketching landscape erörtert er in Bezug auf die Gestaltung von Landschaftsgärten, dass palladianische Architektur aufgrund ihrer Regelmäßigkeit niemals das Gefühl des Malerischen hervorrufen könne und deshalb zur Ruine demoliert werden müsse, um diesen Effekt zu erreichen. Diese künstlich geschaffenen, malerischen Ruinen grenzt er klar vom Erhabenen ab, das zwar ebenso die Form des Zerstörten haben kann, dabei aber unkontrollierbar ist. 33 Nach dieser Definition dürfte das Malerische also nur auf künstlich geschaffene Ruinen anwendbar sein, wohingegen ‚natürlich‘34 entstandene Ruinen dem Erhabenen zuzuordnen wären. Dass diese Differenzierung rezeptionshistorisch nicht beibehalten wurde, zeigt die oben aufgeführte Aussage Dvořáks aus dem Katechismus der Denkmalpflege und lässt sich auch im weiteren Diskurs zur ‚Ruinenromantik‘ verfolgen. Die Ruine changiert damit also immer zwischen der Lesart des Erhabenen und des Malerischen, wobei das Erhabene als ästhetische Kategorie im Laufe der Zeit an Kraft zu verlieren scheint. Stattdessen wendet sich die Diskussion um die Ruine innerhalb der Denkmalpflege verstärkt der möglichen Wiederherstellung und den damit verbundenen Konsequenzen zu. Spätestens seit dem von Georg Dehio überlieferten Ausspruch „Konservieren nicht Restaurieren“35 rückt dabei neben dem ästhetischen Wert zunehmend der historische Zeugniswert der Ruine in den Vordergrund der Diskussion.
32 Vgl. Dvořák 1918, S. 39. 33 Gilpin 1792, S. 7 f. 34 Tatsächlich wird die Ruine in der Landschaft im engen Zusammenhang mit der Natur, teilweise auch als Teil von ihr angesehen. Bei der Gründung des Deutschen Bund Heimatschutz 1904 wurde der Schutz von Ruinen nicht dem Aufgabenbereich der Denkmalpflege zugeordnet, sondern dem des „Schutz[es] der landschaftlichen Natur“. Vgl. Hartung 1991, S. 191 f. 35 Marion Wohlleben hebt dabei hervor, dass das Postulat ursprünglich von Ruskin geprägt wurde (vgl. Wohlleben und Mörsch 1988, S. 23).
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Cornelius Gurlitt stellt 1919 fest, dass es zwei verschiedene Formen der Romantik beim Umgang mit Ruinen gebe, die der „Ruinenschwärmer“ und die der „Burgenbauer“. Beide Haltungen sind für Gurlitt rezeptionsästhetisch motiviert. Die „Burgenbauer“ folgen seiner Meinung nach einem natürlichen Drang das ruinierte Bauwerk, das sie beim Betrachten gedanklich vervollständigen zu einem Zustand wie „in den Zeiten seiner Herrlichkeit“ zurückzuführen, und dem Wunsch „diese Geistesarbeit in Wirklichkeit zu übertragen“.36 Diese Vorgehensweise würde jedoch von vielen abgelehnt, wobei Gurlitt hier als Kritikpunkt neben dem Zeugniswert gleichberechtigt den ästhetischen Wert anführt: „Unzweifelhaft erklärte sich die Mehrzahl der Gebildeten und der Fachleute gegen diese Restaurierungen, von denen sie sagten, daß sie immer nur auf ungenügenden Beweisen über die Richtigkeit der Ergänzungsvorschläge aufgebaut seien, und daß sie gerade jenen Reiz zerstörten, den sie verstärken wollen, nämlich den des Alters und der malerischen Zerklüftung.“ 37
Zu der ästhetischen Argumentation zu Gunsten der Ruine gesellt sich also die historische. Gleichzeitig tritt das Erhabene weiter in den Hintergrund, da die Ruine – auch bei den Kritikern solchen Tuns – als grundsätzlich wiederherstellbar angesehen wird und damit die Kraft des Unfassbaren endgültig eingebüßt hat. Ihr Wert als historisches Zeitdokument weist sie als Menschenwerk aus, lässt sie nachvollziehbar und verstandesmäßig greifbar werden, entfernt sie somit aus dem Wirkungskreis des Erhabenen und rückt sie statt dessen in die Nähe der durch den Menschen geschaffenen malerischen Ruine. Eine Rückkehr des Erhabenen in den Diskurs der Ruinenromantik fand erst im Zusammenhang mit den tatsächlich in ihrem Umfang unfassbaren Zerstörungen des zweiten Weltkriegs statt. Während Paul Clemen 1933 noch davon ausging, dass Ruinen innerhalb der Städte dem „unverbildeten natürlichen Empfinden“ als Unnatur erscheinen und deswegen beseitigt werden müssten, 38 gab es nach Beendigung des Krieges auch Tendenzen, zumindest einzelne Ruinen zu erhalten. 39 Einen aus der Tradition der Ruinenromantik hergeleiteten Vorschlag für den Umgang mit den zerstörten Städten entwickelte der Dresdener Kunsthistoriker Eberhard Hempel in seinem 1948 erschienenen Aufsatz Ruinenschönheit. In diesem Text knüpft er sowohl an die malerische als auch an die erhabene Dimension der Ruine an und erweitert diese beiden angesichts der politischen und historischen Situation um eine symbolische Komponente. Auf diesen drei Strängen basierend argumentiert er für einen bewussten Umgang mit den Ruinen und gegen einen überstürzten Wiederaufbau. 36 Gurlitt 1919, S. 45. 37 Ebd. 38 Clemen 1993, S. 10. 39 Vgl. von Beyme 1987, S. 108 f.
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Das malerische Potenzial der Ruinen liegt für ihn in der Anregung der Phantasie. Wie Gurlitts „Burgenbauer“ stellt sich auch der Betrachter bei Hempel die Gebäude in ihren einstigen Zuständen vor, freilich jedoch ohne sie anschließend zu rekonstruieren: „Je mehr sich die Formen zersetzen, desto lebhafter wird die Phantasie angeregt, sich die ehemalige Gestalt vorzustellen. Dies ist auch der Grund der malerischen Wirkung der Ruinen. Sie gleichen Skizzen, die den Beschauer veranlassen, den Inhalt sich zu ergänzen und dadurch stärker anzueignen, als wenn sich dieser sofort klar und vollständig gezeigt hätte.“ 40
Neben dieser phantasieanregenden und malerischen Wirkung schreibt Hempel den Ruinen außerdem das Potential zu, den Menschen den Wandel der Zeiten vor Augen zu führen und den damit verbundenen zwangsläufigen Verfall aller menschlicher Bauten,41 womit er auch den Gedanken des Erhabenen in seine Ruinentheorie integriert. Symptomatisch für seine Zeit betrachtet er die Ruinen der zerstörten Städte aber auch als Symbol für die Ereignisse von Krieg und Zerstörung und die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die dazu führten. Der äußere Verfall wird so ein Zeichen für den inneren Verfall der Gesellschaft und die Nachkriegsruinen zum Zeichen für den Niedergang Europas. 42 Diese Assoziation der Ruinen mit dem „geistigen Schutt einer vergangenen Epoche“ war nach dem zweiten Weltkrieg durchaus weit verbreitet und unterstütze vielerorts den Wunsch, sich ihrer möglichst schnell zu entledigen.43 Hempel hingegen spricht sich gegen großflächiges Abräumen der Ruinen oder Wiederaufbau aus. Seiner Meinung nach muss die neu entstehende Gesellschaft ihre eigene Formensprache finden unter Integration der baulichen Überreste der Vergangenheit: „Die Zeugen der Vergangenheit dürfen unser Leben nicht beherrschen, aber sie müssen doch hineinwirken, da in ihnen das Fundament, auf dem unsere Gegenwart ruht, sichtbar wird.“ 44 Da es jedoch natürlich nicht möglich sein würde, alle Ruinen zu erhalten, sollten einzelne Ruinen „pietätvoll gehütet“ werden, wohingegen „Unzulängliches“ verschwinden könne um Raum für die Entfaltung von Neuem zu schaffen.45 Tatsächlich konnte sich dieser theoretisch fundierte Wunsch nach Erhaltung der Ruinen jedoch nur in Einzelfällen durchsetzen. In den Stadtraum integrierte Ruinen wie die Dresdner Frauen-
40 Hempel 1948, S. 76. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Andrä 1996, S. 138. 44 Hempel 1948, S. 90 f. 45 Ebd., S. 91.
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kirche, die Berliner Gedächtniskirche oder der Anhalter Bahnhof blieben die Ausnahme.46 Nach Beendigung des Wiederaufbaus spielte der Umgang mit Ruinen im denkmaltheoretischen Diskurs abgesehen von Fragen bautechnischer Art kaum mehr eine Rolle. Die Diskussion um die Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche konzentrierte sich in erster Linie auf Fragen von Geschichtsfälschung, Wahrheit und Original47 und berührte kaum die ästhetischen Wirkung des Ruinenbergs im Stadtraum. Schließlich bleibt nach dieser kurzen Analyse die Frage, ob und inwieweit die ästhetische Kategorie des Erhabenen für die Denkmalpflege überhaupt fruchtbar gemacht werden könnte. Wie gezeigt wurde, entzieht sich das Bauwerk in dem Moment, in dem es als Geschichtszeugnis wahrgenommen wird, der Unerklärlichkeit des Erhabenen ebenso wie jede Art von Eingriff das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dem Erhabenen unmöglich werden lässt. Die Denkmalpflege als ordnende (Inventarisierung) und erhaltende Wissenschaft widersetzt sich somit schon in ihren Grundanlagen dem alle Ordnungen sprengenden Erhabenen.
3.2 D AS M ALERISCHE
ALS ÄSTHETISCHE
K ATEGORIE
Die Geschichte des Malerischen als ästhetische Kategorie beginnt im England des 18. Jahrhunderts.48 Die frühen Autoren und Begründer des Malerischen, William Gilpin und Uvedale Price, benutzten den Begriff ‚picturesque‘ ursprünglich, um den ästhetischen Blick auf die Natur zu beschreiben, wodurch er eng verbunden mit dem Aufstieg des Genres der Landschaftsmalerei ist. Später wurde das Malerische insbesondere in der Kunst des englischen Landschaftsgartens auch aktiv als Gestaltungsform angewendet.49 Im Verlauf des 18. und frühen 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Begriff des Malerischen weiter und gewann insbesondere durch die Beiträge Ruskins an Komplexität. Im weiteren Verlauf einer starken Popularisierung wurde er gleichzeitig aufgeweitet und inhaltlich verflacht, wodurch er, wie der eng-
46 Von Beyme gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass es sich bei den als Ruinen belassenen Gebäuden meist um Bauten handelte, denen man keinen hohen kunsthistorischen Wert zuschrieb und dadurch eine Rekonstruktion aus kunsthistorischen Gründen nicht erwogen wurde, eine These, die zwar die nicht stattfindende Rekonstruktion erklärt, jedoch nicht den nicht stattfindenden Abriss. Vgl. von Beyme 1987, S. 108 f. 47 S. dazu Kapitel 4.3.1.3. 48 Macarthur führt aus, dass einzelne Autoren die Idee des Malerischen auch bis in die Malerei der italienischen Renaissance zurückführen (vgl. Macarthur 2007, S. 2). 49 Vgl. ebd., S. 4.
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lische Autor David Punter es ausdrückt, „a mere bundle of clichéd conventions“ wird.50 Um die Verknüpfung des Malerischen mit denkmaltheoretischen Diskursen zu erörtern, sowohl in Bezug auf die Popularität des Begriffes als auch in Bezug auf die immer wieder geäußerte Kritik, ist es daher notwendig, diese Entwicklung kurz zu skizzieren. Der englische Geistliche und Künstler William Gilpin entwickelte im Zusammenhang mit seinen Reisebeschreibungen das Malerische als ästhetische Kategorie, der er verschiedene landschaftliche Elemente zuordnete. In seinen Essays über das Malerische leitet er den Begriff direkt aus der möglichen Darstellbarkeit des Gesehenen ab: „I have always myself used it merely to denote such objects, as are proper subjects for painting.“51 Als wichtige Aspekte des Malerischen gelten für ihn Rauhheit und Abwechslungsreichtum (im Gegensatz zum Weichen, Sanften und Harmonischen des Schönen), wobei dieser Facettenreichtum durch das Malerische zu einem Ganzen zusammengefasst wird.52 Das Erhabene grenzt Gilpin nicht vom Malerischen ab, sondern integriert es in seine Theorie als mögliche malerische Spielart, die beispielsweise durch einen tieferliegenden Standpunkt des Betrachters ausgelöst würde. Obwohl Gilpin sich in verschiedenen Schriften immer wieder mit dem Malerischen auseinandersetzt, bleibt sein Konzept doch an verschiedenen Punkten unscharf. Macarthur sieht in dieser Unschärfe den Grundstein für eine Konfusion in der Theorie des Malerischen, die sie in ihrer Entwicklung geprägt hat und bis heute eine klare Auseinandersetzung mit dem Malerischen erschwert.53 So wird es bei Gilpin nicht klar, ob es sich für ihn beim Malerischen um die äußere Qualität eines Objekts handelt oder um dessen sinnliche Wahrnehmung und das dabei entstehende Gefühl. Die Theorie des Malerischen bewegt sich also am Übergang zwischen Objekt- und Rezeptionsästhetik und wird von verschiedenen Autoren und zu unterschiedlichen Zeiten mal mehr in die eine oder in die andere Richtung interpretiert – meist ohne die Zuordnung klar auszusprechen. Auch stellt Gilpin das Malerische sowohl als Anleitung zur Kunstproduktion als auch als Form der ästhetischen Wahrnehmung vor. Im Gegensatz zum Erhabenen ist das Malerische also durch den Menschen produzierbar, was es als ästhetische Kategorie insbesondere in Bezug auf großräumliche Strukturen wie Landschaft und Stadt hat fruchtbar werden lassen. So war das Malerische von Beginn an nicht nur 50 Punter 1994, S. 221. Wobei Malcolm Andrews zeitgleich argumentiert, dass dem Begriff des Malerischen die Banalität des Klischees von Anfang an anhaftete: “It emerged in the nineteenth century as both a ridiculous cliché and a concept of baffling complexity; and there it remains today.” (Andrews 1994, S. 282) 51 Gilpin 1792, S. 36. 52 Ebd., S. 30. 53 Vgl. Macarthur 2007, S. 35.
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eine Anleitung für die bildenden Künste, wie insbesondere die Landschaftsmalerei, sondern auch für die direkte Gestaltung der Landschaft im Rahmen des englischen Landschaftsgartens. Dieser gestaltende Aspekt wurde später auch auf den Umgang mit städtischen Strukturen ausgeweitet. Die wichtigste theoretische Weiterentwicklung erfuhr das Konzept durch Uvedale Price in dessen 1794 erschienenem Essay on the Picturesque, As Compared With The Sublime and The Beautiful. Wie der Titel des Essays schon andeutet, wollte Price das Malerische als eigene ästhetische Kategorie neben dem Schönen und dem Erhabenen etablieren und entwickelte so die Ideen Gilpins weiter, der die verschiedenen ästhetischen Kategorien noch nicht gegeneinander abgegrenzt hatte. In Bezug auf die Eigenschaften des Malerischen führt er die Gedanken Gilpins fort und betont die Rolle des Rauhen und Unregelmäßigen als Quelle des Malerischen: „ […] the two opposite qualities of roughness, and of sudden variation, joined to that of irregularity, are the most efficient causes of the picturesque.“ 54 Diese Qualitäten entsprechen für Price zwar nicht den gängigen Schönheitsauffassungen, dennoch ist es den malerischen Objekten eigen, dass sie das Auge des Betrachters erfreuen. Wie es Burke zuvor in Bezug auf das Erhabene praktiziert hatte, geht Price also beim Malerischen von einem Gefühl des Betrachters aus und untersucht, welche Objekteigenschaften dieses Gefühl auslösen. Gleichzeitig spricht er darüber hinaus und aus seinen Beobachtungen abgeleitet auch Empfehlungen für Architekten aus, wie das Malerische zu erzeugen wäre. Dabei empfiehlt er, sich an der ländlichen englischen Bauweise in ihrer scheinbar willkürlichen Unregelmäßigkeit zu orientieren.55 Insbesondere die einfache Architektur, auch in beschädigtem Zustand, gilt als Auslöser der Empfindung des Malerischen. Dass diese Formen nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt gefunden werden können, bringt ein anderer wichtiger Protagonist in der Entwicklungsgeschichte des Malerischen zum Ausdruck. John Ruskin hielt 1840 in seinem Tagebuch seine Eindrücke während eines Rombesuchs fest: „So completely is this place picturesque, down to its doorknockers, and so entirely does that picturesqueness depend, not on any important lines or real beauty of object, but upon the little bits of contrasted feeling – the old clothes hanging out of a marble architrave, that architrave smashed at one side and built into a piece of Roman frieze, which moulders away the next instant into a patch of broken brickwork – projecting over a mouldering wooden window, supported in its turn on a bit of grey entablature, with a vestige of inscription“.56
54 Price 1810, S. 50. 55 Vgl. Macarthur 2007, S. 52. 56 Ruskin 1956, S. 118.
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Für Ruskin macht gerade das Alte, das Gewachsene und das Unperfekte das Malerische aus und ermöglicht, die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart nachzufühlen.57 Dabei setzt Ruskin das Malerische auch zum Erhabenen in Bezug. Während nur die Natur erhaben sein könne, sei das Werk der Menschen malerisch. Durch den Faktor der Zeit nähern sich die vom Menschen geschaffenen Werke aber dem Natürlichen an.58 Trotz dieser offensichtlichen Begeisterung für das Malerische setzte sich Ruskin in der Folge auch kritisch mit dieser ästhetischen Kategorie auseinander. Die Assoziation des Malerischen mit dem Verfallenen und Ärmlichen führte seiner Ansicht nach zu einer Romantisierung von Armut und widrigen Lebensumständen, die der sozial engagierte Ruskin nicht akzeptieren konnte. Da er dennoch die ästhetische Kategorie des Malerischen nicht abschaffen oder ihr ihre Wertigkeit absprechen wollte, entwickelte er das Konzept weiter zu einer Differenzierung zwischen dem ‚lower picturesque‘ und dem ‚noble picturesque‘: „[I]n a certain sense, the lower picturesque ideal is an eminently heartless one; the lover of it seems to go forth into the world in a temper as merciless as its rocks. All other men feel some regret at the sight of disorder and ruin. He alone delights in both; it matters not of what. Fallen cottage – desolate villa – deserted village – blasted heath – mouldering castle – to him, so that they do but show jagged angles of stone and timber, all are equally joyful. Poverty, and darkness, and guilt, bring their several contributions to his treasury of pleasant thoughts. […] What is it to him that the old man has passed away his seventy years in helpless darkness and untaught waste of soul? The old man has at last accomplished his destiny, and filled the corner of a sketch, where something unsightly was wanting. What is it to him that people fester in that feverish misery in the lower quarter of the town, by the river? Nay it is much to him. What else were they made for? what could they have done better?“59
Neben dem so beschriebenen ‚lower picturesque‘ gibt es aber auch ein ‚noble picturesque‘, für dessen Veranschaulichung Ruskin die Werke Turners heranzieht. Bei dieser Form des Malerischen wird die Wahrheit ohne Übertreibung dargestellt, wodurch beim Betrachter Sympathie für das Dargestellte geweckt wird.60 Die so geweckte Sympathie des Betrachters im Sinne von Interesse an dem Gesehenen ist für Ruskin ein Zeichen von Menschlichkeit und wird damit für ihn zum wichtigsten Aspekt des Malerischen. Ruskin versucht also das Malerische durch eine morali-
57 Vgl. Andrews 1994, S. 295 f. Über die gedankliche Nähe zu Riegls Alterswert, die hier sichtbar wird, wird im folgenden Kapitel noch eingegangen werden. 58 Vgl. Macarthur 2007, S. 99. 59 Ruskin 1903b, S. 19. 60 Vgl. ebd.
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sche Komponente aufzuwerten. Allerdings konnte sich diese moralisch konnotierte Lesart des Malerischen nicht durchsetzen. Stattdessen etablierte sich die Vorstellung des Malerischen als trivial und sentimental auf lange Sicht. Verstärkt wurde dies durch die Zuschreibung politisch repressiver Inhalte, die beeinflusst war durch marxistische Theorien und im Grunde auch Ruskins Argumentation folgte. Das Malerische wurde reduziert auf „an ideology of the […] countryside and of colonialism, and the origin of modern pracitces of tourism”.61 So bleiben auch die schon früh angelegte diffuse Doppeldeutigkeit ebenso wie die von Ruskin geäußerte Kritik am Niederen des Malerischen Themen, die die Diskussion um das Malerische bis heute begleiten.
3.3 D AS M ALERISCHE
ALS ÄSTHETISCHE K ATEGORIE IM DENKMALTHEORETISCHEN D ISKURS
Auch in Deutschland wurden die englischen Konzepte des Malerischen schon früh rezipiert, sowohl von theoretisch-literarischer Seite (Schiller, Lessing, Goethe) als auch in Bezug auf die praktische Architekturausübung. Friedrich Gilly besaß bereits 1798 eine Übersetzung von Price. Die deutlichste Beeinflussung in der Praxis lässt sich aber erst Jahre später bei Camillo Sitte finden.62 Sigrid Brandt setzt entsprechend den Zeitraum für einen „wirkungsästhetischen Perspektivwechsel“ im ausgehenden 19. Jahrhundert an. In den Vordergrund der architektonischen Betrachtung treten nun nicht mehr einzelne, charakteristische Bauten, sondern das Zusammenspiel vieler Einzelarchitekturen, die ihren Wert aus der gemeinsamen Wirkung generieren.63 A. von Wussow hob in seiner Abhandlung über Die Erhaltung der Kunstdenkmäler in den Kulturstaaten der Gegenwart 1885 entsprechend die Bedeutung der Wirkung der Denkmale in ihrer Umgebung hervor: „Selbst die Lage oder Aufstellung eines Gegenstandes und die dadurch gegebene Beziehung zur örtlichen Umgebung können entscheidend auf die Anerkennung desselben als Denkmal einwirken. Ist für diese Beziehung eines Gegenstandes zu seiner örtlichen Umgebung weder die Kunst noch die lokale Geschichte von Erheblichkeit, so kann derselbe dennoch dadurch von Wichtigkeit sein, daß er seiner architektonischen oder landschaftlichen Umgebung zum Schmuck gereicht. Werden solche Gegenstände in die Zahl der Denkmäler eingereiht, so ist
61 Macarthur 2007, S. 17. Erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts fand nach Macarthur eine neuerliche Annäherung an das Malerische statt, allerdings ohne eine theoretische Auseinandersetzung. 62 Vgl. Macarthur S. 15 f. 63 Vgl. Brandt 2008, S. 95 ff.
84 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE dies eine Ausnahme, welche in der natürlichen Empfänglichkeit der Menschen für die Schönheit ihrer örtlichen Umgebung Rechtfertigung finden.“64
Gerade in Bezug auf das Denkmal in der Landschaft setzte sich dieser Gedanke früh durch. Sowohl Schinkel als auch von Quast hoben die Bedeutung des Denkmals als „Schmuck der Landschaft“ hervor.65 In Bezug auf städtische Ensembles stand das Malerische aber dennoch oft hinter dem Charakter des Einzeldenkmals zurück, wie die zeitgenössischen Freilegungen innerstädtischer Kirchenbauten zeigen.66 Die Kategorie des Malerischen ist also, wie sich auch schon im vorherigen Kapitel zeigte, eng mit einem gesteigerten Interesse für das Landschaftliche verbunden, was sich auch in der Rezeption des Malerischen innerhalb der Denkmalpflege widerspiegelt. Denn parallel zum steigenden Bewusstsein für die malerische Wirkung von Denkmalen entwickelten sich auch die Bewegungen des Heimat- und Naturschutzes, die ihrerseits gerade in ihren Anfängen eng mit der Denkmalpflege verbunden waren. Diese Bewegungen organisierten sich zunächst auf lokaler Vereinsebene mit unterschiedlichen Interessenschwerpunkten, bis 1904 der Bund Heimatschutz als Dachorganisation ins Leben gerufen wurde. Beispielhaft sei hier der 1902 gegründete Verein für Volkskunst und Volkskunde erwähnt, der in seinen Statuten als Vereinsziel festlegte „das Volk über den Wert seines alten Besitzes, über das Gute und Schöne seiner überkommenen Bauweise, seiner Dorf- und Marktstraßen, seiner Stadt- und Straßenbilder auf[zu]klären und [der] Zerstörung […] alter Baudenkmäler, Mauern und Tore, Kirchen und Kapellen […] entgegen[zu]treten“.67
Die Ziele von Heimat- und Denkmalschutz deckten sich zu weiten Teilen, so dass es naheliegend war, dass 1911 die erste gemeinsame Tagung von Denkmalpflege und Heimatschutz stattfand. Dort verkündete Paul Clemen einen programmatischen Wandel des Denkmalbegriffs mit einem Fokus auch auf die „kleinen unscheinbaren Zeugnisse der Baukunst […] bis zu den Schöpfungen der Volkskunst“ und auf das
64 Von Wussow 1885, S.3. Die Kombination bzw. Vermischung der Begriffe und Attribute des Malerischen und des Schönen ist dabei durchaus typisch und kann als Zeichen für die Ungenauigkeiten insbesondere im Konzept des Malerischen aber auch des Schönen gesehen werden. Dies wird sich auch im weiteren Verlauf immer wieder zeigen. 65 Mohr de Pèrez 2001, S. 145. 66 Beispielsweise wurde der Kölner Dom in Schinkels Entwürfen „von allen dessen Schönheiten versteckende Umgebung“ bereinigt. Zit. nach Brandt 2008, S. 94. 67 Zit. nach Dürr 2001, S. 254 f.
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Gebiet „des Wohnbaus, […] auf das ganze Stadtbild“.68 Die Idee des Malerischen war inzwischen also auch in Bezug auf das malerische städtische Ensemble zu einer wichtigen Kategorie geworden. Der Einfluss, den die Heimatschutzbewegung dabei auf die Denkmalpflege und ihre Ausrichtung ausübt, ist nicht zu unterschätzen, insbesondere in Bezug auf die Aufwertung des malerischen Erscheinungsbilds des Denkmals in seiner Umgebung bzw. die Orts-, Stadt- und Landschaftsbilder und deren Integration in denkmalpflegerische Fragestellungen und Wertungen.69 Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Gesetzgebungen der Zeit wider. In Österreich gingen die Organisationsbestimmungen der k. k. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale bereits 1899 explizit auch auf „Denkmalgruppen […], die als Ganzes eine historische und malerische Bedeutung haben, wie Straßenzüge, Plätze, Veduten oder ganze Stadtbilder“ ein, fünf Jahre später gab es auch in Preußen eine rechtliche Erweiterung in diesem Sinne mit einem Runderlass, der auch Objekte „von malerischer Bedeutung […] für das Bild eines Ortes“ als Denkmale zuließ.70 Gleichzeitig ist dieses Malerische nicht als Gegenpol zum Historischen des Denkmals zu betrachten, sondern im Gegenteil eher als visueller Zugang zur Geschichte, verkörpert durch das malerische Denkmal. Die Historikerin Billie Melman stellt fest, dass es ein Charakteristikum der Moderne sei, die Geschichte zunehmend visuell zu erfahren.71 Diese Entwicklung findet sich auch in der frühen Denkmalpflege, beispielsweise mit dem visuell erfahrbaren Alterswert als Ergänzung zum traditionellen Zeugniswert. Riegls Alterswert verfügt nicht nur, wie in den vorherigen Kapiteln bereits dargelegt, über Elemente des Erhabenen und auch des Schönen, sondern auch über malerische. Insbesondere der „Mangel an Geschlossenheit“72 lässt sich der Kategorie des Malerischen zuordnen. Wie schon im vorherigen Kapitel dargelegt, war der historische Aspekt auch schon bei Ruskin ein Charakteristikum des Malerischen. Die Attraktivität der malerischen Ästhetik für die Denkmalpflege lässt sich auch durch diese dem Konzept inhärente historische Komponente erklären. Die Bedeutung des Malerischen war Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich so hoch, dass Max Dvořák in seinem Katechismus das Bild der malerischen Stadt für die Erklärung der Aufgaben und des Zwecks der Denkmalpflege heranzog:
68 Zit. nach Oechelhaeuser 1913, S. 60. 69 Gerhard Vinken spricht in diesem Zusammenhang vom „nachhaltigen Einfluss der Heimatschutzbewegung bei der Formulierung des modernen Denkmalbegriffs“ (Vinken 2010, S. 85). Vgl. auch Lipp 1993, S. 14. 70 Zit. nach Euler-Rolle 2010, S. 93 f. 71 Vgl. Melman 2011, S. 28. 72 Riegl 1903, S. 22.
86 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Was ist Denkmalpflege? Ein Beispiel möge es erläutern. Wer das Städtchen N. vor dreißig Jahren besuchte, konnte sich nicht wenig an dem anmutigen Bilde des alten schönen Ortes erfreuen. Den Mittelpunkt bildete die altersgraue gotische Pfarrkirche mit ihrem barocken Turm und einer schönen barocken Inneneinrichtung, feierlich und einladend und tausendfach mit Erinnerungen verknüpft. […] Von der Kirche kam man durch ein Gewirr von alten kleinen Häuschen, die die hohe Kirche um so imposanter erscheinen ließen, auf den freundlichen Stadtplatz, wo man das ehrwürdige Rathaus aus dem XVII. Jh. mit einem gemütlichen Zwiebelturm bewundern konnte. Breitspurige solide Bürgerhäuser ohne falsche und überflüssige Verzierungen und doch schmuck, alle mit Laubengängen versehen und in der Höhe beschränkt, schlossen sich daran, bescheiden dem Gesamtbilde des Platzes sich unterordnend, das in seiner geschlossenen Einheit trotz der verschiedenen Entstehungszeit der Häuser in jedem kunstsinnigen Beschauer die Empfindung einer künstlerischen Harmonie und in jedem empfindsamen Menschen überhaupt ähnliche Gefühle, wie die trauten Räume eines alten Familienhauses, hervorrufen musste. Umgeben war das Städtchen von halbverfallenen, mit Schlingpflanzen bewachsenen Befestigungsmauern, an denen eine bequeme und abwechslungsreiche Promenade hinführte und die von vier stattlichen Stadttoren unterbrochen einen höchst malerischen Anblick boten.“73
Hier schildert Dvořak die Idylle einer namenlosen Stadt und geht intensiv auf ihre malerischen Qualitäten ein: die Kleinteiligkeit, die sich doch zu einer Einheit zusammenschließt, das Verfallene und das Abwechslungsreiche. Die Aufgabe der Denkmalpflege sieht er darin, diese Stadtbilder für die Nachwelt zu erhalten. Selbstverständlich ist diese kontinuierliche Aufwertung des Malerischen auch im Zusammenhang mit den historischen Rahmenbedingungen zur letzten Jahrhundertwende zu betrachten. Durch die immer weiter fortschreitende Industrialisierung und die damit einhergehenden Veränderungen sowohl in der Landschaft als auch in den Städten, wuchs der Wunsch nach dem Erhalt des Alten, oder, wie Wilfried Lipp es ausdrückt: „Die ‚gewachsene‘ Heimat wird zum Wunschbild einer noch rettbaren vorindustriellen Umwelt.“74 Dabei fungiert die Idylle wie die von Dvořák in seinem Katechismus geschilderte, als Gegenentwurf zu einer als defizitär empfundenen Gegenwart. Auch die Kleinstadt N. aus Dvořáks Katechismus existierte natürlich längst nicht mehr in dem geschilderten Zustand, sondern wurde durch Neu- und Umbauten weitestgehend in ihrer malerischen Wirkung zerstört: „Heute würde der Besucher das Städtchen […] kaum wiedererkennen. Die alte Pfarrkirche wurde ‚restauriert’. Man hat den barocken Turm abgetragen und ihn durch einen neuen falsch gotischen ersetzt, der in das Stadtbild wie eine Vogelscheuche in einen Rosengarten passt. […] Noch weit ärger war jedoch die Verwüstung in der Nachbarschaft der Kirche. Die alten 73 Dvořák 1918, S. 1 ff. 74 Lipp 2008, S. 37.
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Häuschen wurden rasiert und durch einen sogenannten Park ersetzt […]. In dieser Umgebung sah auch die einst so imposante Kirche langweilig und verkümmert aus. […] Das köstliche alte Rathaus wurde demoliert, hat einem Neubau Platz gemacht, der ein Mittelding zwischen Kaserne und Ausstellungsbude darstellt. Die trauten Bürgerhäuser mussten abscheulichen, schwindlerhaft aus billigem Material und nach Vorlagebüchern ohne geringste Spur einer künstlerischen Empfindung ausgeführten Miets- und Warenhäusern weichen.“75
Das Malerische ist also nicht nur eng verbunden mit dem Aspekt der Zeit und Geschichtlichkeit, sondern auch mit dem der Idylle als glücksversprechendem Gegenkonzept zur Gegenwart.76 In der Zwischenkriegszeit veränderte sich die Diskussion um die malerische alte Stadt zunächst schleichend, aber grundlegend. Ziel war nicht mehr der Erhalt einer malerischen Vielschichtigkeit, sondern die Erzeugung eines idealen Stadtbildes, das sowohl Zeugnis einer historischen Leistung als auch Vorbild für das Volk sein sollte. Traditionell malerische Aspekte, die auch das Unperfekte und den Verfall umschließen konnten als Elemente eines besonderen Reizes, störten in diesem Zusammenhang. Da diese Ideologisierung jedoch schleichend vor sich ging, führte sie nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur zu einer Ablehnung der ideologischen Indienstnahme und Verfälschung rezeptionsästhetischer Konzepte, sondern brachte die Konzepte insgesamt in Misskredit.77 Die Diskussion um den Wert der malerischen Wirkung von Denkmalen verebbte und kam spürbar erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder auf.78 In seiner Untersuchung zur Idee des Stadtdenkmals geht Uwe Paschke 1972 auf die Bedeutung des Malerischen für die Denkmalpflege ein: „Unter malerischem Wert ist die Wirkung zu verstehen, die von einem Denkmal auf Grund seines Alterswertes im Zusammenhang mit einer Reihe von außerhalb des Denkmals liegenden Faktoren, wie zum Beispiel der Beleuchtung, der Jahreszeit, der Kulisse (Bäume, Mond, Schnee) usw. ausgeht. […] Für die praktische Denkmalpflege bedeutet der malerische Wert, 75 Dvořák 1918, S. 2 f. 76 Wilfried Lipp grenzt die Idylle dabei explizit von der Utopie ab. Während die Utopie auf dem Konzept einer gesellschaftlichen Ordnung basiert, das der Gegenwart gegenübergestellt wird, handelt es sich bei der Idylle nicht um einen wirklichen Gegenentwurf, sondern um eine „Erinnerung möglicher individuelle Glückserfüllung“. Lipp 1987, S. 90 f. Vgl. dazu auch Kapitel 5. 77 Ähnliches lässt sich beispielsweise auch in Bezug auf den Begriff ‚Heimat‘ feststellen, der ebenfalls ab den 1970er Jahren in explizit entideologisierter Form eine Renaissance feierte. (s. Kapitel 3.4.3.4) 78 Über potenzielle Gründe für diese lange Unterbrechung und das spätere Wiederaufleben des Themas wird in den folgenden Kapiteln noch eingegangen werden.
88 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE daß sie darauf Rücksicht nehmen muß, sie darf z.B. gewisse Altersspuren nicht beseitigen oder Objekte entfernen, die zur Kulisse des Denkmals gehören.“ 79
Dabei ist eher ungewöhnlich, dass Paschke explizit von einem Wert des Malerischen ausgeht. Zwar gewann das Malerische in den darauffolgenden Jahren, im Zuge des Jahres für Denkmalpflege 1975 und der Auseinandersetzung mit der historischen Stadt und später verstärkt noch durch die städtebauliche Denkmalpflege zunehmend wieder an Bedeutung, dies geschah wie schon vorher jedoch meist implizit durch die Verwendung und Verhandlung malerischer Attribute. Selten wurde dem Malerischen aber so klar eine eigene Wertigkeit zugeschrieben. Vielmehr wird in den folgenden Kapiteln gezeigt werden, dass gerade Konzepte wie die des Ensembles immer in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Malerischen stattfanden. Stichworte wie Ästhetisierung und Kommerzialisierung spielen in diesem Zusammenhang immer wieder eine Rolle. So existiert das Malerische als Thema zwar in der heutigen Denkmalpflege weiter, aber eher in Form einer impliziten Auseinandersetzung mit Aspekten des Malerischen denn als eigener Denkmalwert. Dabei sind es zwei Hauptthemenfelder, in denen diese ästhetische Kategorie eine Rolle spielt: die malerische Landschaft und die malerische Stadt.
3.4 D IE
MALERISCHE
L ANDSCHAFT
Wie schon in Kapitel 3.2 dargelegt, ist die Entstehung der ästhetischen Kategorie des Malerischen eng verwoben mit einem gesteigerten Interesse an der Landschaft. Dabei bezeichnet der Begriff ,Landschaft‘ selbst eine durch den Menschen erfolgte Interpretation seiner Umgebung. Joachim Ritter sieht in der mentalen Loslösung und zweckfreien Rezeption eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Landschaft. Erst durch die Tatsache, dass Flüsse und Wege nicht mehr in ihrer Funktion als Grenzen gesehen werden und Felder in Zusammenhang mit ihrem landwirtschaftlichen Nutzen, sondern der Mensch sie abseits dieser praktischen Zwecke betrachtet, wird die Natur zur Landschaft, „die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist“. 80 Landschaft in diesem Sinne ist also an sich schon eine wahrnehmungsästhetische Kategorie, die als malerisch empfundene Landschaft ist dabei die positiv konnotierte Wahrnehmung dieses Phänomens. Dieses Konstrukt der Landschaft beinhaltete von Anfang an neben ästhetischen immer auch moralische Aspekte, die sich durch den Diskurs der malerischen Land-
79 Paschke 1972, S. 19 f. 80 Ritter 1989, S. 150 f.
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schaft ziehen. Bereits Uvedale Price setzt die ,gute Landschaft‘ in direkten symbolischen Bezug zum Politischen: „A good landscape is that in which all the parts are free and unconstrained, but in which, though some prominent and highly illuminated, and others in shade and retirement; […] yet they are all necessary to the beauty, energy, effect, and harmony of the whole. I do not see how a good government can be more exactly defined […].“81
Entsprechend wurde auch die neue Landschaftskunst, die in England im 18. Jahrhundert nach den Kriterien des Malerischen entwickelt wurde, von den gleichen Akteuren vorangetrieben, die sich auch politisch für Agrarreformen einsetzten. 82 Gleichzeitig etablierte sich das bewusste Genießen der Landschaft als bürgerliche Kulturtechnik. Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Spazierengehen Mode bei Adel und Bürgertum, die dafür eigens angelegte Spazierwege aufsuchten. 83 Es wurden eigens „verschönerte Landschaften“ angelegt, wie beispielsweise im Seifersdorfer Tal in der Nähe von Dresden, um den Städtern die Möglichkeit des „Naturgenusses“ zu ermöglichen – in einer künstlich nach den Grundsätzen des Malerischen überformten Landschaft.84 Diese Bewegung stand in der Tradition der Annahme eines zivilisatorischen und moralischen Gefälles zwischen Land und Stadt, die das Land als Ort der ländlichen Ruhe, der Einfachheit und der damit verbundenen Moralität dem dekadenten Leben am Hofe entgegensetzte. 85 Auch hier lässt sich also die Verbindung der malerischen Ästhetik mit einer moralischen Interpretation der Landschaft als Ideal erkennen.
81 Price 1810, S. 374. 82 Vgl. Macarthur 2007, S. 8. 83 Vgl. König 1996, S. 12. 84 Vgl. Krepelin und Thränert 2011, S. 15. Im Laufe des 19. Jahrhunderts öffnete sich diese kulturelle Praxis auch für andere Bevölkerungsschichten; in der Folge wurde dann auch das universelle Element des Naturgenusses als besonderes positives Merkmal hervorgehoben, wie beispielsweise 1813 in Erlangen, als die dortige Bürgerschaft sich gegen die Fällung von Bäumen auf dem Burgberg einsetzte unter dem Hinweis: „Hier wandelt der Vornehme und der Geringe, der Gelehrte und der Bürger, in traulicher Unterhaltung und im Genuß der Anmuth des Orts.“ Die Möglichkeit der Begegnung aller Bürger und der für jedermann mögliche Zugang zum ästhetischen Genuss machten für die Bürgerschaft einen besonderen Wert des Orts aus. (zit. nach Grau 2008, S. 43). 85 Vgl. ebd., S. 65. Außerdem wurde der Natur im Rahmen des immer beliebter werdenden Kurens auch eine körperlich heilende Wirkung zugesprochen, wobei diese Wirkung durch eine schöne Natur gesteigert werden konnte, womit der Naturgenuss Teil der eigentlichen Kur wurde (vgl. ebd., S. 40).
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Insbesondere ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die geprägt war von Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und Urbanisierung wurde in Folge eines durch den Gründerkrach 1873 gedämpften Fortschrittsglaubens ein Gegenpol in der Landschaft gesucht. Zugang zu dieser Landschaft war zunächst die malerische Ästhetik des Kleinteiligen, Idyllischen und Sanften, das somit auch unterschwellig zur Metapher für ein alternatives Lebenskonzept wurde. Dabei sah man sich in Deutschland gleichzeitig in der Tradition der Romantiker, deren Naturverständnis nun als vorbildhaft – und außerdem typisch deutsch – zitiert wurde mit dem Wunsch, an dieses verlorene Naturgefühl wieder anzuknüpfen. Ernst Rudorff, der Gründer der Heimatschutzbewegung, formuliert diesen Gedanken in seinem 1897 erschienenen programmatischen Text zum Heimatschutz: „Was haben die letzten Jahrzehnte aus der Welt und insbesondere aus Deutschland gemacht! Was ist aus unserer schönen, herrlichen Heimat mit ihren malerischen Bergen, Strömen, Burgen und freundlichen Städten geworden, seitdem sie Dichter wie Uhland, Schwab und Eichendorff zu unvergänglichen Liedern begeisterte, oder seit Ludwig Tieck, Arnim oder Brentano die Wunderwildnis des Heidelberger Schlosses priesen!“ 86
An dem Einsatz für die malerische Landschaft (bzw. die malerische Stadt) waren insbesondere Anfang des 20. Jahrhunderts die zu dieser Zeit eng miteinander verwobenen Bewegungen des Heimatschutzes, der Denkmalpflege und des Naturschutzes beteiligt. Um ein Verständnis für die Herangehensweise an malerische (Stadt-)Landschaften zu bekommen, ist es daher notwendig, die Wechselwirkungen zwischen diesen drei Strömungen zu untersuchen sowie auch später einzelne Protagonisten aus Heimat- und Naturschutz zu Wort kommen zu lassen. 3.4.1 Naturschutz, Heimatschutz, Denkmalschutz Die verschiedenen konservativ-bürgerlichen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts spielten in Bezug auf die Wahrnehmung und Gestaltung der Landschaft eine große Rolle. Ihre steigenden Aktivitäten spiegeln sich unter anderem in dem stark ausgeprägten Vereinswesen der Zeit wider. Auch die Denkmalpflege ist von dieser Entwicklung beeinflusst, regte doch der Gesammtverein der deutschen Geschichtsund Altertumsvereine auf seinen Generalversammlungen 1887 und 1893 explizit Reformen in der Organisation und im Recht der Denkmalpflege an und errichtete schließlich 1898 die Kommission für Denkmalpflege, dessen Leiter, Oberstudienrat Paulus, sowohl Sekretär des württembergischen Altertumsvereins als auch württembergischer Landeskonservator war.87 86 Rudorff 1994, S. 13 f. 87 Vgl. Speitkamp 1996, S. 128 f.
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Am einflussreichsten innerhalb dieses Geflechts von Gruppierungen wurde die 1904 gegründete Heimatschutzbewegung. Über den Heimatschutz hinausgehend gab es jedoch auch noch eine weit breitere Heimatbewegung in Deutschland, unter der man verschiedene zivilisationskritische und kulturpolitische Bewegungen zusammenfassen kann. Werner Hartung zählt zu diesen Vereinigungen so unterschiedliche Organisationen wie den Dürerbund oder die Lebensreform, die sich in ihren Zielsetzungen zwar durchaus unterschieden, jedoch auf dem gleichen im weitesten Sinne zivilisationskritischen Gedankengut basierten.88 Gemeinsam war den meisten dieser Bewegungen ein gewisser erzieherischer Aspekt. Ziel war die Verbesserung der Lebensumstände oder der Lebensumgebung, was sich wiederum auf eine Verbesserung des Menschen auswirken sollte. Diese Gedanken motivierten auch den Initiator des Heimatschutzes Ernst Rudorff, der sich zwar in erster Linie für den Erhalt der malerischen Landschaft einsetzte, darin aber keineswegs eine rein ästhetische Aufgabe sah. Eine Trennung ästhetischer Forderungen von ethischen Forderungen war für Rudorff nicht möglich, vielmehr betonte er „die Wichtigkeit des ästhetischen Moments auch für das sittliche Gedeihen des Volks“.89 Der Schutz der Landschaft umfasste für Rudorff damit auch die mit ihr verbundenen überkommenen Lebensweisen und Gesellschaftsformen, die er in Gefahr sah. Der von ihm auch als Begriff geprägte „Heimatschutz“90 sollte von Anfang an diese Komponenten beinhalten. Um 1890 war der Gesammtverein der Deutschen Geschichts- und Althertumsvereine an Rudorff herangetreten mit der Bitte, einen Antrag zu stellen, der den deutschen Regierungen die Verpflichtung nahelege, sich nicht nur mit einzelnen historischen Denkmälern zu befassen, sondern auch die „landschaftliche[n] Natur“ im Sinne einer „Gesammtphysiognomie des Vaterlandes“91 zu schützen. Bei dieser Arbeit fiel ihm jedoch auf, dass die einzelnen Vereine schwer für das Thema zu begeistern waren, sondern lieber ihre unterschiedlichen „Spezialinteressen“ vertraten.92 Um diese zu bündeln und so die Behandlung übergreifender Fragen zu ermöglichen, wollte Rudorff eine Organisation gründen, die alle bereits existierenden 88 Vgl. Hartung 1991, S. 324. Die Spaltung dieser Kritik in zwei Flügel – auf der einen Seite die durch die Sozialdemokratie abgedeckte Behandlung der „sozialen Frage“ und auf der anderen die Kritik an der „kulturellen Überformung der Lebenswelt durch die Rationalität des Kapitalismus“ (Rolf Peter Sieferle, 1984) durch die Konservativen – kristallisierte sich erst mit der Zeit heraus (vgl. ebd., S. 57). 89 Rudorff 1892, S. 21. 90 Der Begriff ‚Heimatschutz‘ stammt ursprünglich aus dem militärischen Bereich und wurde erst von Rudorff in seiner späteren Bedeutung angewendet (vgl. Borrmann und Schultze-Naumburg 1989, S. 61). 91 Rudorff 1892, S. 20 f. 92 Ebd.
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Strömungen und Vereine im Bereich der Volkskunde, Denkmalpflege, Traditionspflege und des Naturschutzes unter sich vereinen sollte. 93 1897 veröffentlichte Rudorff einen Aufsatz, in dem er für seine Idee des Heimatschutzes warb. Hier legte er sowohl die Inhalte als auch das von ihm angestrebte Organisationsprinzip dar. In der folgenden Zeit bemühte sich Rudorff, einflussreiche Persönlichkeiten für seine Idee zu gewinnen. So nahm er beispielsweise auch Kontakt zu Paul SchultzeNaumburg auf, auf den er durch dessen Publikationsreihe Kulturarbeiten aufmerksam geworden war. 1903 fand ein erster Kongress in Erfurt statt (organisiert vom Erfurter Regierungspräsidenten Drewitz, der ein großer Bewunderer SchultzeNaumburgs war), auf dem der Deutsche Ausschuß für gesundes Bauen in Stadt und Land gegründet wurde. Dieser verstand sich als Vorgängervereinigung für den angedachten größeren Verband, der auch tatsächlich ein Jahr später in Dresden im Rahmen des Tages für Denkmalpflege als Deutscher Bund Heimatschutz gegründet wurde.94 Erklärtes Ziel des Bundes war der Schutz der Heimat im Allgemeinen, der in der praktischen Durchführung auf die folgenden Aufgabenfelder verteilt wurde: „a) Denkmalpflege; b) Pflege der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bauweise; Erhaltung des vorhandenen Bestandes; c) Schutz des Landschaftsbildes einschließlich der Ruinen; d) Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt sowie der geologischen Eigentümlichkeiten; e) Volkskunst auf dem Gebiet der beweglichen Gegenstände; f) Sitten, Gebräuche, Fest und Trachten.“95
Wie von Rudorff geplant, umfasste der Bund Heimatschutz in seinen Aufgaben also sowohl die Denkmalpflege als auch den Naturschutz. Und in der Tat waren die Verbindungen zwischen den verschiedenen Vereinigungen von Anfang an stark. So wurde der Bund wie schon erwähnt im Rahmen des Tags für Denkmalpflege gegründet und zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs gehörte neben vielen anderen auch Hugo Conwentz, einer der damaligen Hauptvertreter der Naturschutzbewegung und spätere Gründer der staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen.96 Die Resonanz war entsprechend der guten Vernetzung des Bundes groß. Laut Geschäftsbericht zählte der Bund ein Jahr nach der Gründung bereits 682 Ein-
93 Eine Ausnahme bildeten für Rudorff die Touristen- und Verschönerungsvereine, da er im Tourismus und den in dessen Rahmen vorgenommenen „Verschönerungen“ eine Gefahr der Verstädterung der Landschaft sah und den Verlust ihres ursprünglichen Charakters befürchtete (vgl. Hartung 1991, S. 56). 94 Vgl. Borrmann und Schultze-Naumburg 1989, S. 62. 95 Aus der Präambel der ersten Satzung, zit. nach Jakobi 2005, S. 121. 96 Vgl. Hubel 2007, S. 180 und Hartung 1991, S. 61.
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zelmitglieder und vor allem 84 Vereine und körperschaftliche Mitglieder, darunter auch zwei Ministerien und drei Stadtverwaltungen.97 3.4.2 Das Naturdenkmal Der Naturschutz entwickelte sich in Deutschland zunächst analog zur Denkmalpflege.98 Die ursprüngliche enge gedankliche Verbindung zwischen Denkmalschutz und Naturschutz lässt sich zurückzuverfolgen bis hin zur ersten Verwendung des Begriffs des Naturdenkmals. Dieser wird Alexander von Humboldt zugeschrieben, der im Rahmen der Beschreibung seiner Südamerikareise in den Jahren 1799-1804 alten Bäumen den Status von Naturdenkmälern zuschrieb, die insbesondere da an Wichtigkeit gewännen, wo es an Kunstdenkmälern fehle. Die Naturdenkmäler sind in diesem Sinne also als Ergänzung, wenn nicht als Ersatz der Kunstdenkmäler zu verstehen, beiden gemein ist die imponierende Wirkung, die Alexander von Humboldt als Begründung für den Schutz angibt.99 Dass insbesondere Bäume diese Wirkung immer wieder hervorzurufen in der Lage waren, spiegelt sich auch in der weit verbreiteten Schaffung von Bauminventaren wider, die insbesondere ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu den frühesten naturschützenden Maßnahmen gehörten. In Hannover ging diesbezüglich 1858 ein Erlass des Finanzministeriums, Abteilung Domänen und Forste an alle königlichen Forstinspektionen: „Im Hinblick auf das vielseitige Interesse, welches Nachrichten über Waldbäume erregen, die an bedeutsame Ereignisse erinnern, oder durch sehr hohes Alter und besonders merkwürdige Wuchsverhältnisse sich auszeichnen, veranlassen wir die Königlichen Forstinspektionen, die in der einen oder anderen Beziehung interessanten Bäume der dortigen Gegend zusammenzustellen […]“.100
Den Naturdenkmälern wurde also neben dem ästhetischen unter Umständen auch ein historischer Wert beigemessen, was den Weg in die Aufnahme in die Denkmalschutzgesetze erst sinnvoll werden ließ. Die Vorstellung von Geschichte umfasste in diesem Zusammenhang sowohl die Menschheitsgeschichte als auch die Naturge-
97
Vgl. Hartung 1991, S. 60 f.
98
Walther Schoenichen geht daher davon aus, dass der Naturschutz anfänglich analog und als Ergänzung zum Denkmalschutz gedacht wurde, weswegen auch diesem hier Raum eingeräumt werden soll (vgl. Schoenichen 1954, S. 213 f).
99
Vgl. Piechocki 2010, S. 134.
100 Zit. nach Schoenichen 1954, S. 42.
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schichte im Allgemeinen.101 So definiert das Hessische Denkmalschutzgesetz von 1902 Naturdenkmale als „natürliche Bildungen, deren Erhaltung aus geschichtlichen oder naturgeschichtlichen Rücksichten oder aus Rücksicht auf landschaftliche Schönheit oder Eigenart im öffentlichen Interesse liegen“. 102 In dem ersten umfassenden und einflussreichen Werk über den Naturschutz in Deutschland, der von Hugo Conwentz verfassten Denkschrift Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung aus dem Jahr 1904 spricht der Autor entsprechend konsequent von Naturdenkmalpflege und Naturdenkmalen. Er bezieht sich dabei explizit auf Alexander von Wussows schon erwähnte Schrift zum Erhalt von Denkmälern in Kulturstaaten aus dem Jahr 1885: „Nach Wussow kann ein Objekt, obwohl es weder durch Geschichte noch durch Kunst erheblich ist, dennoch von Wichtigkeit sein, wenn es seiner architektonischen oder landschaftlichen Umgebung zum Schmuck gereicht. Werden solche Gegenstände in der Zahl der Denkmäler eingereiht, so ist dies die Ausnahme, welche in der natürlichen Empfänglichkeit der Menschen für die Schönheit der örtlichen Umgebung Rechtfertigung findet.“103
Zu dieser Kategorie von Denkmälern können für Conwentz also auch Naturdenkmale zählen, die bei ihm in diesem Zusammenhang ihren Wert jedoch nicht mehr durch die historische Komponente, sondern ausschließlich aus ästhetischen Gründen zugeschrieben bekommen. Dies geht einher mit einer Aufwertung der Landschaft. Wertvoll ist nicht das Objekt an sich, sondern es wird erst wertvoll durch seine ästhetische Wirkung in der landschaftlichen Umgebung. 104 Gleichzeitig weitet Conwentz den Naturschutz vom einzelnen Objekt auf landschaftliche Zusammenhänge aus, indem er das Naturdenkmal definiert als „ein ursprünglicher, d. i. ein von allen kulturellen Einflüssen völlig oder nahezu unberührt gebliebener, lebloser oder belebter charakteristischer Naturkörper im Gelände, bzw. ein ur-
101 In Bayern erging 1852 ein Erlass von König Maximilian II. zum Schutz alter Dorflinden, da in ihnen ein Kulturdenkmal gesehen wurde, das die Erinnerung an alte Bräuche aufrecht erhalte (vgl. Grau 2008, S. 47). 102 Zit. nach Mainzer 2006, S. 74. 103 Conwentz 1904, S. 5. 104 Dass dieses Denkmalverständnis Conwentzʼ nicht ungewöhnlich, sondern durchaus zeittypisch ist, zeigt das seit 1906 in Frankreich existierende Gesetz „organisant la protection des sites et monuments naturels de caractère artistique“, mit dem der Erhalt von Grundstücken sichergestellt werden soll, die „au pont de vue artistique ou pittoresque“ im öffentlichen Interesse liegen (vgl. Schoenichen 1954, S. 141).
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sprünglicher charakteristischer Landschafts- oder Lebenszustand in der Natur, von hervorragendem allgemeinem oder heimatlichem, wissenschaftlichem oder ästhetischem Interesse.“ 105
Der historische Aspekt geht hierbei ganz verloren, wird sogar negiert indem die Natur der Kultur als Gegenpart gegenübergestellt wird, die Naturdenkmäler symbolisieren somit Dauerhaftigkeit und Verwurzelung in einer sich schnell verändernden Welt. In diesem Sinne handelt es sich bei der Naturschutzbewegung historisch betrachtet nach Piechocki also um eine Bewegung, der es nicht um „den Schutz der Natur ‚um ihrer selbst Willen‘ geht, sondern um ein idealisiertes, verloren geglaubtes oder anzustrebendes Mensch-Natur-Verhältnis“.106 3.4.3 Landschaftskonzepte Damit reiht sich der Naturschutz in die oben geschilderten Reformbewegungen der Zeit um 1900 ein und rückt in gedankliche Nähe zum Heimatschutz. Ihre Schnittmenge finden die beiden im Schutz der (malerischen) Landschaft, an der sie jedoch unterschiedliche Dinge wertschätzen und den sie daher auch unterschiedlich betreiben. Der Hauptunterschied bestand dabei in Bezug auf den allgemeinen Landschaftsschutz. Während der Heimatschutz die Landschaft metaphorisch auch als ideales Gesellschaftsbild auflud und daraus eine Legitimation für verbessernde Eingriffe ableitete, konzentrierte sich der Naturschutz zunächst auf den Erhalt der Naturdenkmäler, wohingegen die Denkmalpflege erst verhältnismäßig spät ein Konzept für einen umfassenden Schutz der historischen Kulturlandschaft entwickelte. 3.4.3.1 Landschaft und Heimatschutz Im Rahmen des Heimatschutzes wurde der Landschaftsschutz in erster Linie als ästhetische Intervention gesehen, die überkommene Landschaftsbilder zwar erhalten wollte, sich dabei jedoch nicht grundsätzlich dem Fortschritt verschloss, sofern dieser die Landschaft nicht zu sehr entstellte. Werner Hartung erklärt diese Haltung auch aus der bürgerlichen Zusammensetzung der Heimatschutzbewegung, die eine intakte Landschaft zwar als wichtigen Erholungs- und Kompensationsraum betrachtete, dabei aber nicht zum Gegner zivilisatorischer Weiterentwicklung wurde. 107 Die Heimatschutzbewegung engagierte sich nicht nur gegen die Vernichtung einer als harmonisch und schön empfundenen Kulturlandschaft, sondern auch gegen die empfundenen gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen im Zuge der Industrialisierung.108 Dazu gehörte auch die zunehmende Angleichung von Stadt und Land 105 Zit. nach Schoenichen 1954, S. 217. 106 Piechocki 2010, S. 134 f. 107 Hartung 1991, S. 220 f. 108 Vgl. Piechocki 2010, S. 147.
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(was zwangsläufig die Inszenierung des Landes als Gegenpol erschwerte), als deren Grund man unter anderem den Tourismus ausmachte. So erklärt es sich, dass die Heimatschutzbewegung in den existierenden Tourismusvereinen zunächst keine Verbündeten sah, sondern einen Teil des zu bekämpfenden Übels. Fünf Jahre vor seinem programmatischen Werk zum Heimatschutz hielt Rudorff einen Vortrag zum gleichen Thema vor dem Allgemeinen Deutschen Verein in Berlin. Der aktuelle Anlass war die Planung „eine[r] Art von Fahrstuhl“ für touristische Zwecke in der Nähe der Felswand an der Roßtrappe im Bodetal, womit „man dann den letzten Rest von großartiger Poesie, der trotz Allem der herrlichen Landschaft bis heute noch geblieben ist, aus der Welt geschafft haben würde.“109 Die „poetische Schönheit der Landschaft“, so Rudorff weiter, werde nicht nur im Bodetal, sondern auch andernorts „nichtachtend mit Füßen getreten“, auch „durch sogenanntes ‚Zugänglichmachen‘ und ‚Verschönern‘, Luxusanlagen aller Art, sanitäre Anpreisungen u. dgl. […], um sie [die Natur] auf diesem Wege […] in ihrem eigentlichen Wesen zu zerstören.“110 Zu diesen „Luxusanlagen“ zählte Rudorff auch künstlich angelegte Parkanlagen in der freien Natur, die er als unnötig und sogar schädlich betrachtete, da man die Natur nicht verschönern könne, sondern lediglich „in ihrer Jungfräulichkeit schützen“111. Die durch künstliche Anlagen gestaltete Natur betrachtete er als unnötiges Opfer an die Bequemlichkeitsliebe seiner Zeit, weswegen er für die Tourismus- und ländlichen Verschönerungsvereine den alternativen Namen „Verbequemlichungsvereine“ vorschlug.112 In dieser Liebe zur Bequemlichkeit sah er das Hauptübel seiner Zeit: „‚Häßlich und bequem‘ ist heut zu Tage die Losung auf den Gassen, und dasjenige Publikum, das sich zu dieser Anschauung bekennt, für das der Begriff ‚Naturempfindung‘ überhaupt nicht existiert und das unter ‚Naturgenuß‘ nichts Anderes als eine Kneiperei mit Wechsel der Dekoration versteht, wenden sich die obengenannten Urheber des neuesten Planes zur Verunglimpfung des Bodethals. So lange es aber noch Leute in Deutschland giebt [sic], denen nicht 109 Rudorff 1892, S. 3. Auch Hugo Conwentz, wenn auch sonst zurückhaltender in Fragen der Landschaftsgestaltung, sprach sich explizit gegen den Bau von Seilbahnen und Aussichtstürmen aus: „Denn bei Ausführung solcher Bahnen [Seilbahnen] ist eine Beeinträchtigung des Anblicks der Landschaft fast unvermeidlich; überdies wird dadurch die Unruhe des großstädtischen Lebens in Gegenden getragen, welche sonst einem großen Teil der Bevölkerung zur Erholung dienen.“ zit. nach Schoenichen 1954, S. 222 f. 110 Rudorff 1892, S. 5. 111 Ebd., S. 25 f. 112 Ebd. Das Argument, die Schönheiten der Natur so auch für Kranke und Schwache zugänglich zu machen, akzeptierte Rudorff nicht mit dem Hinweis, dass für „etwaige schwächliche und kränkliche Personen“ der Ort nicht für die Gesunden ruiniert werden sollte. Ebd. S. 7.
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jede Ahnung von dem, was Schönheit, Poesie und Idealismus zu bedeuten haben, abhanden gekommen ist, denen ein Bewußtsein davon geblieben ist, was sie dem Vaterlande unserer großen Dichter und Künstler schuldig sind, so lange wird es auch vergeblich sein, ein Unternehmen, wie das in Rede stehende, in den Augen der Besten der Nation von dem Makel der Entweihung heiligster Güter reinigen zu wollen […].“113
Die Berufung auf deutsche Geschichte und Vaterland weckt aus heutiger Perspektive zwangsläufig Erinnerungen an Terminologie und Ideologie des Nationalsozialismus. Tatsächlich knüpft Rudorff hier aber an Gedanken an, die spätestens seit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit weit verbreitet waren. Hier führte Herder Ende des 18. Jahrhunderts aus, wie sich die natürliche Umgebung auf den Charakter der bewohnenden Bevölkerung auswirkt und legte so den Grundstein für die Vorstellung eines organischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, das auch die Heimatbewegung beeinflusste. Die vom Menschen geschaffene und gewachsene Kulturlandschaft harmoniert so mit dem eigentlichen Wesen ihrer Bewohner.114 Wenn diese Harmonie gestört wird, so muss sich das auch negativ auf die Bewohner auswirken. Diese negative Entwicklung aufzuhalten war die Motivation Ernst Rudorffs und der von ihm ins Leben gerufenen Heimatschutzbewegung: „Die Seele [Hervorhebung im Original] des Volkes – und um diese handelt es sich doch – kann nicht gesund bleiben, wenn ihr der Hintergrund unverfälschter Natur in ihrem Vaterlande genommen wird; sie muß, – wenn sie nicht verkümmern und ausarten soll, – in ihrer Landschaft und in den Denkmälern ihrer Vergangenheit gleichsam ein Spiegelbild ihres innersten Wesens bewahren dürfen, aus dem ihr das Ideal ihrer Eigenart, wie diese sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hat, immer wieder frisch und ungetrübt entgegenleuchtet. Hier liegt der wahre Jungbrunnen des Volksthums!“ [Hervorhebung im Original]115
In der Heimatschutzbewegung wird die harmonische und malerisch-schöne Landschaft als Medium der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung gesehen. Als Kulturlandschaft spiegelt sie auch die gesamte Geschichte des Volkes wider. Neben dem Tourismus wurde von den Heimatschützern vor allem die Intensivierung der Landwirtschaft kritisiert. Diese äußerten sich auf dem Land sichtbar durch die Flurbereinigung, die Zusammenlegung von Wirtschaftsflächen und die damit verbundene Zerstörung der gewohnten Kleinteiligkeit. Die Viehweiden wurden in Ackerland umgewandelt, während man zunehmend auf Stallfütterung umstellte. Um bei der Flurbereinigung mögliche Restflächen zu vermeiden und die 113 Ebd., S. 6 f. 114 Vgl. Piechocki 2010, S. 146. 115 Rudorff 1892, S. 8.
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Bewirtschaftung zu erleichtern, wurden Grundstücksgrenzen begradigt. Dadurch änderte sich das Landschaftsbild nachhaltig. Das Kleinteilige, Gewundene, Verwinkelte und auch die belebende Staffage der Tierhaltung – alles Elemente, die eine Landschaft malerisch werden lassen – traten durch diese Entwicklung in den Hintergrund. Ernst Rudorff sah in diesen Eingriffen eine großflächige Zerstörung der heimatlichen Landschaft: „Das alles [die Flurbereinigung] klingt vielleicht sehr unschuldig, wenn man sich fern vom Schuß davon erzählen lässt. In der That ist es für die Landschaft [Hervorhebung im Original] vernichtend; […] Wie will man ein abstraktes Prinzip, ein am grünen Tisch ausgeklügeltes Kartenschema, der wirklichen Erde aufzwängen mit ihren tausend lebensvollen Unregelmäßigkeiten, ohne jeden Reiz der Erscheinung zu tödten [sic]? Die Bäche in einer solchen Feldmark werden eingezwängt in schnurgrade Gräben; die Waldgrenzen begradigt, jede vorspringende Ecke, jede heraustretende Baumgruppe abgeschoren; die Ackerstücke und Wiesen in immer sich wiederholenden Rechtecken nebeneinander gepackt [...] Das Land ist zugerichtet, wie ein schönes Gesicht, das man unbarmherzig zerhackt hat. Begrenzende Hecken und einzelne Büsche, die sonst überall das Bild belebten, müssen fallen, da die Grenzen eben andre geworden sind.“116
Ähnlich wie in Camillo Sittes Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, das drei Jahre vorher erschienen war, stellt Rudorff hier der gewachsenen Struktur den technokratischen Planer entgegen, der den Gegenstand seiner Planung nicht aus eigener Anschauung, sondern lediglich vom Papier her kennt. 117 Die visuellen Qualitäten der malerischen Landschaft gingen so verloren. Die Motivation zum Schutz der Kulturlandschaft Ende des 19. Jahrhunderts war also eng mit der ästhetischen Kategorie des Malerischen verbunden. Geschützt werden sollte das Landschaftsbild mit seinen überkommenen ästhetischen Qualitäten des Kleinteiligen, Abwechslungsreichen und der geschwungenen Linien. Gleichzeitig war man sich der stets mitschwingenden Komponente des Historischen, wie sie bereits durch Ruskin in Bezug auf das Malerische beschrieben wurde, bewusst. Diese beiden Komponenten der malerischen Landschaft wurden jedoch nicht getrennt voneinander betrachtet und verhandelt, sondern bildeten eine Einheit im Konzept der gewachsenen Kulturlandschaft. Erweitert wurde das Konzept durch die oben schon erwähnte moralische Komponente einer Idealisierung des Überkommenen als Spuren einer idealen Gesellschaftsform. 116 Ebd., S. 15. 117 In der Tat beruft sich Rudorff im weiteren Verlauf des Textes mit seiner Kritik an der geraden Linie auf Camillo Sitte und sieht auf dem Land diesbezüglich die gleichen Probleme, wie Sitte sie im Rahmen seines Städtebaus beschrieben hatte. Vgl. ebd., S. 17.
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3.4.3.2 Landschaft und Naturschutz Der von Hugo Conwentz geprägte Naturschutz zeichnete sich im Gegensatz zum Heimatschutz durch ein stärker naturwissenschaftlich geprägtes Selbstverständnis aus, wodurch sein Ansatz weniger umfassenden war. Zwar geht Conwentz in seiner Denkschrift auch am Rande auf die Frage der Landschaftspflege ein, beispielsweise indem er den Bau von Drahtseilbahnen und Aussichtstürmen im Gebirge kritisiert,118 sein Hauptaugenmerk liegt aber auf der Unterschutzstellung natürlicher Besonderheiten und nicht der heimatlichen Kulturlandschaft im Allgemeinen. Dieses Vorgehen brachte Conwentz Kritik von Seiten der Heimatschutzbewegung ein. Die Arbeit des „conwentzionellen“ Naturschutzes wurde als „Flickenteppich“ gesehen, der gegen die „Naturverhunzung“, die im Gegensatz dazu „en gros“ arbeite nichts ausrichten könne.119 Conwentz auf der anderen Seite befürchtete zwar Konkurrenz durch die Gründung des Heimatschutzbundes, sah aber auch das Potential dieser Bewegung, so dass er sich bereit erklärte, bei der Gründungsversammlung des Bundes einen Vortrag zu halten.120 Ausschlaggebend dafür kann die Tatsache gewesen sein, dass der Naturschutz noch nicht institutionalisiert war und es für Conwentz also strategisch durchaus Sinn machte, sich zunächst an die gesellschaftlich stark verankerte und gut vernetzte Heimatschutzbewegung anzuschließen. Eine Auswirkung der Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Naturschützer Conwentz und dem Heimatschützer Rudorff sieht Hartung in der Satzung des Heimatschutzes manifestiert, die klar zwischen dem „Schutz der landschaftlichen Natur“ und der „Rettung der einheimischen Natur- und Pflanzenwelt“ unterscheidet und diese in zwei unterschiedlichen Aufgabenbereichen ansiedelt.121 Zwei Jahre nach der Gründung des Bundes Heimatschutz kam es 1906 zu einer ersten Institutionalisierung des Naturschutzes. Als europaweit erste NaturschutzInstitution wurde in Preußen die Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege gegründet, unter der Leitung und maßgeblich auf Betreiben von Hugo Conwentz. 122 Die
118 Vgl. Conwentz 1904, S. 74 f. 119 Hauptkritiker hier waren der Breslauer Naturforscher Theodor Schube, der den Begriff des „conwentzionellen Naturschutzes“ prägte und vor allem Hermann Löns, der auf Vortägen immer wieder gegen das von Hugo Conwentz geprägte engere Verständnis des Naturschutzes anging („Die Naturverhunzung arbeitet ‚en gros‘, der Naturschutz ‚en detail‘.“) Vgl. Schoenichen 1954, S. 207 und Piechocki 2010, S. 138. 120 Vgl. Hartung 1991, S. 59. 121 Vgl. ebd., S. 222. 122 Im selben Jahr wurde als Pendant zur preußischen Institution in Bayern der Landesausschuß für Naturpflege gegründet. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Behörde, sondern lediglich um ein beratendes Gremium von Sachverständigen. Zum Aufgabenbereich des bayerischen Landesausschusses gehörten außerdem auch Fragen der Lan-
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Behörde beschränkte sich in ihrer Arbeit auf die Inventarisierung und Erforschung des vorhandenen Bestands an Naturdenkmälern sowie die Beratung in naturdenkmalpflegerischen Belangen, arbeitete also tatsächlich analog zur Denkmalpflege. 123 Den Heimatschützern ging dieser rein erhaltende Einsatz nicht weit genug. In diesem Sinne grenzte Paul Schultze-Naumburg noch 1927 die Naturdenkmalpflege von dem von ihm favorisierten Naturschutz ab: „Auch rein ästhetisch betrachtet ist das Naturbild nur als Einheit zu fassen, und es gibt in demselben nichts, was wichtig und unwichtig wäre, wenn auch das einzelne stärker oder schwächer hervortritt. Deswegen werden Naturschutz im besten Sinne auch nur mehr künstlerische Naturen treiben können, während die einseitig wissenschaftlichen wohl der Naturdenkmalpflege gerecht werden können, aber der lebendigen Auffassung des Naturschutzes fern bleiben.“124
Diesen Gedanken greift er auch 1942 noch einmal auf, also schon einige Jahre nachdem sich mit dem 1935 erlassenen Reichsnaturschutzgesetz längst der allgemeinere Begriff des Naturschutzes gegen den der Naturdenkmalpflege durchgesetzt hatte. In seiner Abhandlung über Das Glück der Landschaft betont er, dass der Mensch aus „Verstehen und Fühlen“ bestehe und „daß zur richtigen Betrachtung der Landschaft Fühlen und Denken, Kunst und Wissenschaft gehören. Es ist ein nicht zu Ende gedachter Gedanke, daß die künstlerische Auffassung der Natur durch wissenschaftliche Beobachtung beeinträchtigt würde.“ 125
Der Positionsstreit zwischen der maßgeblich von Conwentz geprägten naturwissenschaftlich orientierten Naturdenkmalpflege und einer stärker dem Heimatschutz verpflichteten Ausprägung löst sich also zu Gunsten eines allgemeiner verstandenen Naturschutzes auf. Diese Verknüpfung spiegelt sich bis heute in den entsprechenden Gesetzestexten wider. Der Schutz der Landschaft war seit 1935 auch gesetzlich in den Naturschutzgesetzen verankert. Das Reichsnaturschutzgesetz enthielt neben den Paragraphen zu Landschaftsschutzgebieten und geschützten Landschaftsteilen
desgestaltung, die die Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege klar aus ihrem Aufgabengebiet ausklammerte. Vgl. Schoenichen 1954, S. 282. 123 Dabei verfügte die Stelle über keinerlei Befugnisse für gesetzliche oder verwaltungstechnische Anordnungen, die nach wie vor bei den Ministerien verblieben, die sich in ihren Entscheidungen jedoch auf die fachliche Beratung durch die Stelle stützten. Vgl. ebd. 124 Schultze-Naumburg 1927, S. 76. 125 Schultze-Naumburg 1942, S. 13.
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(§ 5) auch Paragraphen zur Pflege des Landschaftsbildes (§§ 19 und 20).126 Auch das erste Bundesnaturschutzgesetz, dass das Reichsnaturschutzgesetz 1976 ablöste, behandelte nicht nur den Naturschutz, sondern auch die Landschaftspflege und regelte unter anderem den Schutz von Kulturlandschaften „von besonderer Bedeutung für die Eigenart oder Schönheit geschützter […] Kultur-, Bau- oder Bodendenkmäler“.127 Auch das aktuelle Bundesnaturschutzgesetz aus dem Jahr 2010 verbindet Naturschutz und Landschaftspflege und setzt sich unter anderem den Erhalt den „Vielfalt, Eigenart und Schönheit […] von Natur und Landschaft“ zum Ziel. 128 Dazu sollen „Naturlandschaften und historisch gewachsene Kulturlandschaften, auch mit ihren Kultur-, Bau- und Bodendenkmälern, vor Verunstaltung, Zersiedelung und sonstigen Beeinträchtigungen bewahrt werden.“129 Auch hier wird also die Schönheit als spezifische Qualität gesetzlich geschützt und gleichzeitig zu einem weit gefassten Landschaftsverständnis in Bezug gesetzt. Die historische Entwicklung des Naturschutzes ist also eine Entwicklung nicht nur der Institutionalisierung, sondern auch der inhaltlichen Aufweitung in Richtung des Landschaftsschutzes. Unter dem Einfluss der Heimatschutzbewegung setzte sich auch hier ein ästhetisch geprägtes, dem Malerischen verpflichtetes Landschaftsverständnis durch, das sich als gleichberechtigt neben naturwissenschaftliche Aspekte stellte und so auch den Schutz der malerischen Landschaft als Teil des Naturschutzes etablierte. Parallel zur erfolgreichen Institutionalisierung dieses weiter gefassten Naturschutzes verlor der Schutz der heimatlichen Natur zunehmend an Bedeutung für den traditionellen Heimatschutz, der sich in der Folge stärker auf den Schutz des kulturellen (und baulichen) Heimatgutes konzentrierte. 130 3.4.3.3 Landschaft in der frühen Denkmalpflege Das Verhältnis zwischen Heimatschutz und Denkmalpflege war weniger spannungsreich. Wahrscheinlich auch, weil die Denkmalpflege zum Zeitpunkt des aufkommenden Heimatschutzgedankens schon etabliert war, sahen die Akteure zur Zeit der letzten Jahrhundertwende in der Heimatschutzbewegung eher eine willkommene Ergänzung, deren breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit durchaus ein Potenzial auch für die Denkmalpflege bot.131 Der Bund Heimatschutz sah jedoch zeitgleich den Bedarf für eine Erweiterung des Schutzinteresses im Bereich der Denkmalpflege. So regte Fritz Koch, seit 1908 Geschäftsführer des Bund Heimatschutz, 126 http://www.naturschutzrecht.net/Gesetze/Bund/rnatschg.pdf, Zugriff 16.09.2015. 127 Zit. nach Mainzer 2006, S. 88. 128 Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege (BNatSchG) 2009, inkraftgetreten 2010, § 1 (1), http://www.bgbl.de, Zugriff 28.08.2015. 129 Ebd., § 1 (4). 130 Vgl. Schoenichen 1954, S. 156. 131 Vgl. Hartung 1991, S. 195 f.
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an, die Denkmalpflege von den herausragenden Werken allgemein auf die „Pflege der Werke, die uns von unseren Vorfahren überkommen sind“ 132 auszuweiten (eine Entwicklung, die, wie bereits gezeigt wurde, zeitgleich in der Denkmalpflege bereits stattfand). Außerdem strebte der Bund Heimatschutz Förderungen für ein „gutes Neuschaffen“ an, um „eine harmonische, bodenständige Entwicklung der Architektur und der Volkskunst auf dem Gebiet der beweglichen Gegenstände“ zu gewährleisten.133 Hier zeigte sich ein grundlegender Unterschied zwischen dem Bund Heimatschutz, der seine Aufgabe auch in der Gestaltung der zukünftigen Heimat sah, und der Denkmalpflege, die sich als historisch arbeitende Wissenschaft dem Erhalt des Überkommenen verpflichtet sah. Schultze-Naumburg betrachtete denn auch als Vertreter des Heimatschutzes in seinem 1907 auf dem Tag für Denkmalpflege in Mannheim gehaltenen Vortrag „dies Neuschaffen und nicht das Erhalten [als] ausschlaggebend für die Zukunft unseres Heimatbildes“. 134 Dass diese Ansicht auf einem Tag für Denkmalpflege vertreten werden konnte, kann als Zeichen dafür gesehen werden, wie eng Denkmalpflege und Heimatschutz zu diesem Zeitpunkt verbunden waren. So wurden nicht nur Vertreter des Heimatschutzes zu den jährlich stattfindenden Tagen für Denkmalpflege geschickt. 1910 wurde darüber hinaus beschlossen, künftig alle zwei Jahre einen Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz abzuhalten, was 1911 und 1913 auch durchgeführt wurde. 135 Auf dem gemeinsamen Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz 1911 in Salzburg machte Paul Clemen den Schutz der heimatlichen Landschaft – nun bereits inklusive der Städte – auch zur Aufgabe der Denkmalpflege, indem er festhielt, dass „die Kunstgeschichte eines Landes sich doch nur aufbaut auf der engeren Entwicklung eines kleineren geographischen Gebietes, […] und ganz von selbst sind wir auf diese Weise gekommen zur Ausdehnung des Schutzes der Denkmalpflege auf das ganze Stadtbild, zur Erhaltung der historischen Ortsbilder, des Landschaftsbildes.“ 136
In der Zeit der Weimarer Republik wurde die Verbindung zwischen Denkmalpflege und Heimatschutz noch enger. Mitte der 20er Jahre wurde der Tag für Denkmalpflege vollständig vom Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz abgelöst, die Zeitschrift Die Denkmalpflege war bereits 1922 in Denkmalpflege und Heimatschutz umbenannt worden.137 Gleichzeitig wandelte sich der Heimatschutz zunehmend von einer anfangs stark regional geprägten Bewegung hin zu einer nationalen 132 Zit. nach ebd. 133 Zit. nach ebd. 134 Zit. nach Borrmann und Schultze-Naumburg 1989, S. 63. 135 Hammer 1995, S. 129 f. 136 Zit. nach Oechelhaeuser 1913, S. 60. 137 Vgl. Speitkamp 1996, S. 145 f.
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Ausrichtung mit teilweise nationalistischen Inhalten, eine Entwicklung die sich zur Zeit des Nationalsozialismus weiter fortsetzte.138 Auch die deutsche Denkmalpflege machte eine ähnliche Entwicklung mit und arrangierte sich schließlich ebenfalls in weiten Teilen mit den neuen Bedingungen im Nationalsozialismus. Thomas Scheck geht davon aus, dass die meisten Denkmalpfleger zumindest anfangs ihre Interessen durch den Nationalsozialismus durchaus gut vertreten fanden, zumal das Regime – zumindest bis zum Kriegsausbruch – bereit war, in bisher nicht bekanntem Maße finanzielle Mittel zum Erhalt von Baudenkmalen bereitzustellen. 139 Auch wenn es inhaltliche Überschneidungen und Annäherungen gab, blieb die Denkmalpflege immer eigenständig und sah im Heimatschutz einen Partner, der sich aber dennoch so weit unterschied, dass ein Fusionieren nicht in Frage kam. Die Landschaft in Form des „Landschaftbildes“ – und damit in Zusammenhang mit ihrer malerischen Ästhetik – wurde jedoch auch in der Denkmalpflege diskutiert. Erste Priorität blieb jedoch der Erhalt der verschiedenen Baudenkmäler. Auch in die Denkmalschutzgesetze fanden die Gedanken des Schutzes der malerischen Landschaft so – im Unterschied zum Naturschutz – keinen Einzug.140
138 Vgl. ebd. S. 151; Dass es sich beim Heimatschutz zunächst keineswegs um eine nationalistische Bewegung handelte, legt Rolf Peter Sieferle dar. Er zitiert aus der Zeitschrift Heimatschutz aus dem Jahr 1912: „Nur wer die eigene Heimat und Art liebt und schätzt – nicht in rohem, überhebenden Chauvinismus, sondern in verfeinerter Reflexion und Erkenntnis ihrer kulturellen Bedeutung – , wird auch Heimat und Eigenart anderer achten. Und so können auch die internationalen Heimatschutz-Kongresse ein wichtiges Mittel sein zur kulturellen Annäherung der Völker.“ Der Autor unterstreicht in diesem Zusammenhang auch die utopischen Aspekte des Heimatschutzes. Vgl. Sieferle 1985, S. 40. 139 Das Verhältnis zwischen Denkmalpflege und Nationalsozialismus beschreibt er daher mit einer „Phase des bedingten Widerstands“ 1933/34, einer „Phase des allmählichen Arrangements“ 1935/36 und einer anschließenden Phase, in der die Denkmalpflege „in weiten Teilen umfangen und damit in ein Instrument politischer Interessen verwandelt“ war. Vgl. Scheck 1995, S. 142 ff. 140 Felix Hammer bemerkt hierzu eine erstaunliche Konstanz der Gesetzgebung in dem Bereich, größtenteils ungeachtet der umgebenden Tendenzen und Ideologien. Vgl. Hammer 1995, S. 195.
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3.4.3.4 Denkmallandschaft und Ökobewegung – Landschaft nach dem zweiten Weltkrieg Die gesellschaftliche Verankerung des Schutzes der Kulturlandschaft war hingegen zunächst eine Erfolgsgeschichte. 1942 konnte Paul Schultze-Naumburg rückblickend feststellen, dass die Zeit, als die „Schönheiten des einfachen Landes“ noch nicht „entdeckt“ waren, „längst vorbei“ seien.141 Die enge Verbindung zwischen der Vorstellung von Landschaft und dem Heimatbegriff in der nationalsozialistischen Ideologie ließ das Thema in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg jedoch zunächst zum Tabu werden. Erst in den 70er Jahren setzte sich eine neue Generation von WissenschaftlerInnen wieder intensiver mit dem Gedanken auseinander. Dabei wollte man sich jedoch explizit von herkömmlichen Vorstellungen lösen, die durch ihre enge Verbindung zum nationalsozialistischen Gedankengut diskreditiert schienen. 142 Statt dessen definierte die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus Heimat 1979 als „identitätgewährenden Lebensraum“, den sich der Mensch „aktiv und selbstgestaltend“ aneignet. 143 Hier wurde also versucht, fernab aller bildlicher Assoziationen Heimat als soziales, raumbezogenes Phänomen zu betrachten. Neben dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Begriff und Funktion von Heimat fand in der Bevölkerung eine breite Bewegung statt, die Werner Hartung als „Nostalgiewelle“ und „HeimatRenaissance“ betitelt. Er sieht darin eine Auswirkung der wirtschaftlichen Depression und der Ölkrise der frühen 70er Jahre, die zu einer wachsenden Skepsis gegenüber der Industriegesellschaft geführt habe. In diesem Zusammenhang wurde nicht nur die damit verbundene Wachstumsideologie in Frage gestellt, es wurden auch die negativen Auswirkungen der Industrialisierung kritisiert. Insbesondere die Umwelt- und Naturschutzbewegung gewann so an Zulauf. Gefördert wurde das durch verschiedene Schriften, die zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umdenken aufriefen wie Dennis Meadows‘ 1972 veröffentlichter Report Grenzen des Wachstums oder das 1975 erschienene Buch Ein Planet wird geplündert, das als Bestseller großen Einfluss auf die neue Bewegung hatte, die im Grunde auch eine Umweltbewegung war. Auch der zweite Bericht des Club of Rome aus dem Jahr 1974, der unter dem Titel Menschheit am Wendepunkt für Aufsehen sorgte, lässt sich in diese Reihe einordnen.144 Die Ökobewegung, die unter Einfluss dieser Schriften entstand, agierte losgelöst von den traditionellen und immer noch bestehenden Heimatverbänden, bündelte so neue Kräfte und schaffte es schnell, sich auch institutionell zu etablieren.145 Die Distanzierung von bis dahin gängigen Hei141 Schultze-Naumburg 1942, S. 52 f. 142 Vgl. Hartung 1991, S. 1. 143 Greverus 1979, S. 17 f. 144 Vgl. Hartung 1991, S. 2. 145 Vgl. ebd.
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mat- und Landschaftsvorstellungen, wie sie in den Verbänden noch fortexistierten, war dabei eine wichtige Komponente der ökologischen Bewegung. Reinhard Piechocki stellt in dem Zusammenhang fest, dass die „symbolische Bedeutung von Landschaft als Ausdruck der Harmonie von Mensch und Natur […] als emotional, nicht intersubjektiv überprüfbar und letztlich irrational eingeschätzt [wurde]. War Landschaft im konservativ orientierten Naturschutz bisher ein Träger von Idealen, so wurde sie in der ökologischen Planung zum Träger von Nutzungsfunktionen.“ 146
Aber auch in anderen Bereichen leitete die Bewegung einen Umdenkungsprozess ein, der sich später auch in der Denkmalpflege niederschlug. Wilfried Lipp stellt 2008 rückblickend fest, dass in den Siebzigern „über die ökologische Diskussion […] die Öffentlichkeit auch für die Probleme der Denkmalpflege sensibilisiert [wird]. Ensemble, Ortsbild, Dorf, Denkmallandschaft und Stadtdenkmal werden gegenüber den Verlustrealitäten des Fortschritts als Relikte von Ganzheit, Unversehrtheit, Geschlossenheit, Homogenität und Kontinuität entdeckt und ästhetisch und sozialstrukturell emporgewertet.“147
Insofern rücken diese verschiedenen Strömungen der 70er Jahre inhaltlich doch auch wieder in die Nähe der frühen Heimatbewegung, die sich ebenfalls in einer Zeit der durch (industriellen) Wandel geprägten Verunsicherung formierte. In die neu überarbeiteten Denkmalgesetze fließt der Gedanke des Schutzes der Kulturlandschaft aber nur bedingt ein. So spricht das Nordrhein-Westfälische Denkmalgesetz aus dem Jahr 1980 von „vom Menschen gestalteten Landschaftsteilen“ 148. In den meisten Ländern bleibt man jedoch bei vagen Formulierungen, die es möglich machen, auch „Sachzusammenhänge“ zu schützen, unter die man auch die Kulturlandschaft zählen könnte.149 Ein Grund dafür könnte in einem im Gegensatz zum Beginn des 20. Jahrhunderts veränderten Denkmalverständnis liegen. Während Paul Clemen 1911 noch das Landschaftsbild als Spiegel der gesamten Entwicklung des Landes als potenziell denkmalwürdig betrachtete, wurde das Verständnis von Landschaft als Vermittlerin eines Geschichtsgefühls inzwischen mehr und mehr durch die Auffassung von Landschaft als großflächiges und vielschichtiges Geschichtsdokument abgelöst. Oder, wie Thomas Gunzelmann es 2007 fomulierte: 146 Piechocki 2010, S. 150. 147 Lipp 2008, S. 39 f. 148 Gesetz zum Schutz und zur Pflege der Denkmäler im Lande Nordrhein-Westfalen vom 11. März 1980, (DSchG NRW), § 2 (2), https://recht.nrw.de, Zugriff 28.08.2015. 149 Vgl. Eidloth 2000.
106 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „… [D]ie Idee von Landschaft oder Kulturlandschaft als ein von einem Betrachter wahrgenommener Ausschnitt der Umwelt, als ein schönes Bild, das Emotionen weckt, wird uns hier nicht weiterführen. Der Denkmalpfleger wird sich […] immer vorrangig für die Sicherung der historischen Substanz in ihrer Authentizität als dem klassischen Leitbild der Denkmalpflege seit Dehio verpflichtet sehen.“150
Abseits der nicht mehr den denkmaltheoretischen Standards entsprechenden ästhetischen Herangehensweise versuchte insbesondere Tilman Breuer in den 1980er Jahren die Kulturlandschaft als denkmalpflegerisches Interessensgebiet neu zu verankern. Zu diesem Zweck schuf er den Begriff der „Denkmallandschaft“. Da es sich nach seiner Argumentation genau genommen bei jeder europäischen Landschaft um Kulturlandschaft handele, kann es in der Denkmalpflege nicht um den Schutz der Kulturlandschaft im Allgemeinen gehen. Darüber hinaus gebe es aber innerhalb dieser Kulturlandschaften auch „Landschaften von Denkmalcharakter“, die er als „gestalthafte Landschaftsindividualität […], in der sich menschliche Kulturleistung von allgemeiner Bedeutung so verdichtet, daß dadurch der Totalcharakter eben dieser Landschaft bestimmt wird“151 definiert. Solche Landschaften bezeichnet Breuer als Denkmallandschaften. Dabei ist ihm wichtig, dass die Qualitäten dieser Denkmallandschaften über ein malerisches Landschaftsbild hinausgehen.152 Vielmehr versteht er die Denkmallandschaft als Struktur und grenzt sie strikt gegen jegliches bildliche Landschaftsverständnis ab.153 Denkmallandschaften sind für ihn Sinnzusammenhänge in der Landschaft, entstanden durch einen gemeinsamen Wirkungsraum. Als Beispiele nennt er das Maintal mit den Klöstern Banz und Vierzehnheiligen nördlich von Bamberg oder die Stadt Weimar mit der von ihr geprägten Umgebung.154 Landschaftsbilder können laut Breuer dabei lediglich den Anstoß dazu geben, „räumliche Gefüge als Denkmallandschaft zu erfassen“.155 In diesem Zusammenhang hebt er auch mögliche positive Aspekte der emotionalen Wirkung von Landschafträumen hervor:
150 Gunzelmann 2007, S. 5. 151 Breuer 1983, S. 75. 152 Vgl. Ebd. S. 76. 153 Breuer 1997, S. 5. 154 Vgl. Breuer 1997, S. 6 ff. Bei Weimar bezieht Breuer auch das KZ Buchenwald in seine Denkmallandschaft mit ein, da sich auch dadurch die Verflechtungen deutscher Geschichte verdeutlichen lassen. 155 Breuer 1983, S. 78.
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„Weiter braucht überhaupt nicht verschämt geleugnet zu werden, daß eine Landschaftsstimmung allein schon den Anlaß geben kann zu fragen, ob sich hier, in der Landschaft, nicht der Kern einer Botschaft aus der Geschichte zeigt, ebenso wie die Landschaften Claude Lorrains in all ihrer Problematik mehr mitteilen als die Stimmung, mit der sie beeindrucken.“ 156
Die emotionale Wirkung kann also der Ausgangspunkt für eine folgende historische Analyse sein, jedoch nicht Selbstzweck oder gar ausschlaggebend für eine Unterschutzstellung. Das diffuse historische Gefühl, das mit dem Malerischen einhergeht, wird in diesem Rahmen forschend konkretisiert. In den daraus entstehenden Folgen, die Tilman Breuer durchaus bewusst waren, liegt vielleicht die größte Veränderung im Umgang mit der historischen Kulturlandschaft. Die Denkmallandschaft erschließt sich in ihrer Bedeutung nur dem Wissenden. Die Sinnzusammenhänge, die sich in der Denkmallandschaft manifestieren, müssen herausgearbeitet werden und erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Die „Denkmalkunde“ wird so zur Voraussetzung dafür, die Denkmallandschaft überhaupt erst als solche zu erkennen.157 In einem zweiten Schritt muss dann die Existenz dieser Denkmallandschaft ins Bewusstsein gerückt werden, damit sich ihr Schutz implementieren lässt. 158 Die malerische Landschaft im Sinne des Heimatschutzes hingegen wurde gerade aufgrund ihrer direkten Ansprache an den Betrachter als schützenswert empfunden. Gleichzeitig wurde die Landschaft aufgeladen mit gesellschaftlichen Inhalten, indem sie für ein vages Idyll stand, das der Gegenwart gegenübergestellt wurde. Die Undifferenziertheit der malerischen Landschaft machte es möglich, dass sich die verschiedensten Akteure auf unterschiedliche Art und Weise mit ihr auseinandersetzten und in ihr eine Schnittmenge fanden – nicht immer harmonisch. Sie schuf aber gleichzeitig auch Raum für extreme Positionen und führte zur ideologischen Vereinnahmung. Die Denkmalpflege konzentrierte sich, insbesondere in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg, auf ihre Wissenschaftlichkeit als historische Disziplin, wodurch Aspekte der ästhetischen Wirkung der Denkmale, wie das Schöne und das Malerische, als Bewertungskategorien nicht in Frage kamen. Eine solche Polarisierung zwischen ästhetischer Wahrnehmung und wissenschaftlichem Selbstverständnis fand so im Naturschutz – eventuell unterstützt durch die gesetzliche Verankerung der ästhetischen Komponente – nicht stattfand. In dieser Entwicklung könnte auch ein Grund für die geringere Scheu vor emotionalen Zugängen im Bereich des Naturschutzes liegen, die Achim Hubel 2005 konstatiert:
156 Ebd. 157 Vgl. Breuer 1997, S. 5. 158 Vgl. Hoh-Slodczyk 1988, S. 89.
108 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Umgekehrt kann man allerdings feststellen, dass die Fixierung auf den wissenschaftlichen Denkmalbegriff und die Ausgrenzung der emotionalen Komponente die Popularität der Denkmalpflege nicht gerade gesteigert haben. Im Gegensatz dazu arbeiten die Naturschutzbewegungen unserer Zeit hemmungslos und erfolgreich mit Gefühlswerten, wenn es um Forderungen nach Erhalt von Natur und Umwelt geht.“159
Seit den siebziger Jahren wurden einzelne Werte der malerischen Landschaft auf den Gebieten des Naturschutzes, der Denkmalpflege und der Kulturwissenschaften wieder entdeckt. Dies geschah jedoch meist auf einer konzeptionellen und abstrakten Ebene, wie sich an der Renaissance des Heimatbegriffes oder Breuers Vorstellung der Denkmallandschaft nachvollziehen lässt. Eine Renaissance der ästhetisch erfahrbaren und malerischen Landschaft als sinnstiftendes gesellschaftliches Element blieb dabei aus.
3.5 D IE
MALERISCHE
S TADT
Wie schon in Kapitel 3.2 dargelegt, stand die Entwicklung des Konzeptes des Malerischen in engem Zusammenhang mit Theorien der zeitgenössischen Landschaftsgestaltung. Eine Übertragung des Gedanken auf Fragen der städtischen Gestaltung fand zunächst kaum statt. 160 Eine Ausnahme findet sich in Reynoldsʼ 13. Discourse aus dem Jahr 1786, in dem er ausführt: „The forms and turnings of the streets of London, and other old towns, are produced by accident, without any original plan or design; but they are not always the less pleasant to the walker or spectator, on that account. On the contrary, if the city had been built on the regular plan of Sir Christopher Wren, the effect might have been, as we know it in some new parts of the town, rather unpleasing; the uniformity might have produced weariness, and a slight degree of disgust.“161
Hier lobt Reynolds die typischen Eigenschaften des Malerischen – das Gewundene, Unregelmäßige und Abwechslungsreiche – und stellte dies anhand des auch später beliebten Beispiels der gewundenen Straße dem klassizistisch geprägten Städtebau gegenüber. Gleichzeitig tritt hier bereits der Gedanke der organisch gewachsenen Stadt auf, die auch später als idealisierendes Gegenbild zum geplanten Städtebau
159 Hubel 2005, S. 229. 160 Vgl. Pevsner und Aitchison 2010, S. 108. 161 Reynolds 1891, S. 324.
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inszeniert wurde (und wird).162 Weiter regt Reynolds an gleicher Stelle an, dass Architekten sich von den so beschriebenen unregelmäßigen und malerischen Szenarien in ihrer Arbeit inspirieren lassen sollten: „It may not be amiss for the Architect to take advantage sometimes of that which I am sure the Painter ought always to have his eyes open, I mean the use of accidents: to follow when they lead, and to improve them, rather than always to trust the regular plan. […] Variety and intrincacy is a beauty and excellence in every other of the arts which adress the imagination; and why not in Architecture?“163
Ähnlich wie im Bereich der Malerei und der Landschaftsarchitektur bezeichnet das Malerische also auch im Kontext der malerischen Stadt nicht nur die ästhetische Qualität des gesehenen, sondern soll gleichzeitig auch Anleitung für die gelungene Gestaltung bieten. Beide Aspekte lassen sich in der weiteren Entwicklung des Themas der malerischen Stadt weiterverfolgen. 3.5.1 Das Malerische und die Anfänge von Städtebau und Stadtplanung Städtebau und Stadtplanung als eigenständige Disziplinen bildeten sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus, im Rahmen einer professionellen und wissenschaftlichen Differenzierung, in deren Zusammenhang auch die Denkmalpflege als eigenständige Disziplin etabliert wurde. Bei der frühen Stadtplanung standen dabei zunächst technische Fragen im Vordergrund, der Stadtplaner verstand sich als Ingenieur, der sich in erster Linie mit der Planung von Verkehr, Bebauung in Form von Fluchtlinienplänen und Hygiene, wozu sowohl Kanalisation als auch Grünflächen zählten, beschäftigte. So lautet der Titel des ersten in Deutschland erschienen Buches zum Städtebau aus dem Jahr 1876 von Reinhard Baumeister auch Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung und auch Joseph Stübbens Grundlagenwerk Der Städtebau aus dem Jahr 1890 beschäftigt sich in erster Linie mit Fragen der Trinkwasserversorgung, der Kanalisation, öffentlicher Verkehrsmittel und der Etablierung von Grünflächen im städtischen Raum zur Verbesserung der Luftverhältnisse. Ästhetik spielt zwar in beiden Werken eine Rolle, sie bleibt jedoch zumeist im Hintergrund und bildet keinen Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt. Baumeister favorisierte einen symmetrischen Städtebau, bei dem der von Reynolds beschriebenen missfallenden Uniformität durch „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ entgegen gewirkt werden soll162 Tilmann Breuer beispielsweise verweist in diesem Zusammenhang abermals auf Dvořáks Einleitung zum Katechismus der Denkmalpflege. Vgl. Breuer 1989, S. 40 ff. 163 Reynolds 1891, S. 324.
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te. Das Malerische lässt sich hier lediglich in der Anregung zur Schaffung von Aussichtspunkten mit malerischen Perspektiven wiederfinden.164 Stübben leitet die Schönheit in klassischer Tradition von der Zweckmäßigkeit ab und sieht in ihr somit einen sekundären Wert.165 Anfang des 20. Jahrhunderts steigerte sich das Interesse an Fragen des Städtebaus stetig. 1910 fand die erste internationale StädtebauAusstellung unter den Stichpunkten „Ordnung, Gefahrenabwehr, Hygiene, Verkehr, Wohnen“ statt. Auch hier beschäftigte man sich wiederum hauptsächlich mit technischen Fragestellungen zu den genannten Themenkomplexen. 166 Zur gleichen Zeit begann jedoch auch eine verstärkte Auseinandersetzung mit der historischen Stadt. Die Motivation lag dabei nicht zwingend in dem Wunsch nach Erhalt des Alten, sondern verbreitet in der Suche nach ästhetischen Vorbildern für das zeitgenössische Bauen.167 Der vielleicht wichtigste Vertreter auf diesem Gebiet war der österreichische Architekt und Stadtplaner Camillo Sitte. 1889 veröffentlichte Sitte sein Hauptwerk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, in dem er historische Stadtstrukturen analysiert und zeitgenössischen Planungen gegenüberstellt, um die ästhetischen Vorzüge der alten Stadt zu analysieren, zu verdeutlichen und für die moderne Stadtplanung nutzbar zu machen. Dabei richtet er sich in erster Linie gegen die geometrischen Planungen, wie sie von Baumeister vertreten und auch international bei den meisten Stadterweiterungen praktiziert wurden. Stattdessen sieht er die krummen Straßen der mittelalterlichen Städte als ästhetisches Vorbild an. Sitte argumentiert dabei wirkungsästhetisch, indem er die Position des durch die Stadt laufenden Betrachters einnimmt und sich gegen einen Städtebau am Reißbrett richtet.168 Wichtiges Merkmal ist der Abwechslungsreichtum der Bilder und die damit verbundene Wiedererkennbarkeit verschiedener Orte im Gegensatz zu den als monoton empfundenen zeitgenössischen Planungen.169 Elemente der Ästhetik des Malerischen werden von ihm (ganz im Sinne Reynolds) in seine Stadtplanung aufgenommen. Auch in Bezug auf seine Platzgestaltungen, bei denen er zwar an die klassische Forumsidee in ihrer geschlossenen Form anknüpft,170 sich jedoch gegen eine starr symmetrische Gliederung ausspricht, knüpft er an wirkungsästhetische Elemente des Malerischen an. Sittes Gedanken wurden sowohl innerhalb als auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes rezipiert. Im englischen Sprachraum machte vor allem der mit Wer-
164 Vgl. Baumeister 1876, S. 97. 165 Vgl. Stübben 1907, S. 208 ff. 166 Vgl. Brichetti 2009, S. 66. 167 Vgl. Sonne 2013, S. 159. 168 Vgl. Sitte 1889, S. 74. 169 Vgl. ebd. S. 77. 170 Vgl. Wilhelm 2006, S. 24.
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ner Hegemann befreundete Städtebauer Raymond Unwin Sittes Ideen populär. 171 Auch Unwin hebt die malerischen Qualitäten alter Stadtstrukturen hervor und stellt sie der zeitgenössischen Planungspraxis gegenüber: „Many of the old and unhealthy slums are, from the point of view of picturesqueness and beauty, infinitely more attractive than the vast, ugly, dreary districts growing up around our big towns.“172
Gleichzeitig kritisiert er Sitte jedoch auch für sein vermeintlich über alles gestellte Postulat der krummen Straße und entwickelte Gegenvorschläge. 173 Die einseitige Interpretation Sittes, die Reduzierung seiner Ideen auf die ‚krumme Straße‘ beeinflusste seine Rezeption nachhaltig, wobei sich auch seine Kritiker bemüht zeigten, zwischen Sittes Theorie und deren „verständnislosen Nachbetern“ (Zitat Hegemann) zu unterscheiden. Reinhard Baumeister sah 1914 die Gefahr, unter den Nachfolgern Sittes „die künstlerische Auffassung als die allein maßgebliche anzusehen unter Geringschätzung von Verkehr, Hygiene usw.“174 In Bezug auf den malerischen Städtebau schwang also auch immer ein angenommenes Gegeneinander des Ästhetischen und des Technischen mit, das sich lange Zeit nicht auflösen sollte.175 Den Versuch einer Vermittlung zwischen beidem unternahm der Brüsseler Bürgermeister Charles Buls in seinem Werk Ésthetique des villes aus dem Jahr 1893. Im Vorwort zur zweiten Auflage 1898 geht er nicht nur auf seine geistigen Väter ein (neben Viollet-le-Duc auch Schnaase, Vischer und Semper), sondern äußert sich auch zu dem Thema des Verhältnisses von Technik und malerischer Ästhetik: „So wenig er [der Autor] einen unbequemen Sessel unter dem Vorwande der Archäologie möchte, so wenig gefiele ihm eine Stadt ohne Komfort unter dem Vorwande der malerischen Schönheit, und sein ganzes Streben ging darauf hinaus, die Forderungen des Schönen und die Achtung vor dem Alten mit den Erfordernissen des modernen Lebens in Übereinstimmung zu bringen.“176
171 Vgl. Jessen-Klingenberg 2006, S. 103. 172 Zit. nach Pevsner und Aitchison 2010, S. 173. Bei diesem Zitat zeigt sich gleichzeitig wieder das bereits von Ruskin erkannte Problem des malerischen der Romantisierung von Armut. 173 Vgl. ebd., S. 175. 174 Zit. nach Jessen-Klingenberg 2006, S. 100 ff. 175 S. dazu auch Kapitel 3.5. 176 Buls 1898, S. IX f.
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Den besonderen Vorzug der alten Städte sieht Buls in ihren malerischen Qualitäten, die er explizit gegen die der klassischen Schönheit abgrenzt: „Die alten Städte und die alten Straßen haben einen besonderen Reiz für alle diejenigen, die den Kunsteindrücken nicht verschlossen sind. Man kann zwar nicht behaupten, daß sie schön seien; nichtsdestoweniger sind sie anziehend. Sie gefallen durch ihr schönes Durcheinander, das hier keine Wirkung der Kunst, sondern eine solche des Zufalles ist, wenn diesem überhaupt ein Ergebnis zugeschrieben werden darf, das dem natürlichen Wachstum der Wohnungen längs eines gewundenen, nach und nach zum Range einer Straße erhobenen Pfades zu verdanken ist.“177
Hier werden also die charakteristischen Motive des Malerischen, der Abwechslungsreichtum, der geschwungene Weg und auch das natürliche Wachstum, wieder formuliert. Dabei wehrt sich der Autor gegen die Vorstellung, man könne dieses Malerische überall verwirklichen und das Malerische wäre der einzige Weg zu einem ästhetischen Städtebau. Stattdessen plädiert in „gewissen Teilen der Stadt“ für eine Bauweise von symmetrischer Einheit, um diesen „einen großartigen, monumentalen Charakter“ zu verleihen.178 In ähnlicher Weise äußerte sich Cornelius Gurlitt in seinem 1904 erschienen Werk Über Baukunst. Auch er sieht in der geraden Straße „die vielleicht vornehmste Form der Strasse“179 und betont, dass keineswegs das Postulat der gewundenen, krummen Straße über alles gestellt werden sollte. Diese Feststellung trifft er jedoch erst nach einem langen Plädoyer für den Einsatz von gewundenen Straßen im Städtebau. Dabei argumentiert er in erster Linie als Architekt: „Eine gewundene oder gebrochene Straße hat den Vorteil, dass ich durch die Windung stets einen Teil der Strassenwand vor Augen habe: bald erscheint diese an der rechten, bald an der linken Strassenseite. Mit jedem Schritt verschiebt sich das Bild, wechselt der Anblick vor meinen Augen. Die einzelne Fassade steht nun schräg vor mir, und ich muss sie sehen, blicke ich nicht zur Seite oder schliesse ich nicht die Augen. Also die Mühe des Architekten und die Ausgaben des Bauherrn werden belohnt. Man sieht unfreiwillig, was sie geleistet haben.“ 180
177 Ebd., S. 1. Die Abgrenzung zwischen dem „Schönen“ und dem „schönen Durcheinander“ zeigt die enge Verwandtschaft des Malerischen mit dem Schönen, ohne dass beide gleichzusetzen wären. 178 Ebd., S. 8 f. Dabei müsse man allerdings darauf achten, die Straße in Länge und Breite in einem angemessenen Maß zu lassen und außerdem einen point de vue als Abschluss zu konzipieren. 179 Vgl. Gurlitt 1904, S. 33. 180 Ebd., S. 31.
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Der zeitliche Verlust beim Zurücklegen des gewundenen Weges würde durch den ästhetischen Gewinn aufgewogen. Gleichzeitig nimmt er wieder das Bild der gewachsenen Stadt auf, wenn er den gewundenen Weg anthropologisch als dem menschlichen Naturell entsprechend interpretiert: „Vor uns liegt ein völlig ebener Wiesenplan, durch den ein Weg vom Dorf zur Mühle führt. Nichts hätte gehindert, hier eine völlig gerade Linie einzuschlagen. Der Weg ist aber nicht gerade, er hat eine Menge Krümmungen, er ‚schlängelt‘ sich durch die Wiese, wie die Dichter sagen. […] Die Dorfbewohner, die den Weg mit ihren Füssen schufen, gingen also nicht gerade auf ihr Ziel los, sondern schwankten hin und her: Und in diesem Schwanken liegt die Menschlichkeit, die Schönheit des Weges.“181
Die Stadt wird als Ergebnis und Spiegel der menschlichen Lebensgewohnheiten betrachtet. Darin besteht ein charakteristisches Wesensmerkmal des malerisch geprägten Städtebaus der Zeit, der seine Entstehung der Kritik an den modernen Städten verdankt. Die vorindustrielle Stadt wurde als deren Gegenbild konzipierte, das – ähnlich wie bei der malerischen Landschaft – gleichzeitig auch ein gesellschaftliches Gegenmodell beinhalten konnte. Insofern standen hinter allen Planungstheorien auch immer Vorstellungen von einem idealen gesellschaftlichen Zusammenleben, was das ästhetische Gestalten mit einer sozialen Aufgabe in Verbindung setzte.182 Auch Sittes Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen kann man in diesem Zusammenhang lesen. Die Autoren Detlef Jessen-Klingenberg und Karin Wilhelm stellen Sitte in die Tradition von Schillers ästhetischer Erziehung des Menschen „in welcher die emanzipatorische Idee vom Reich der Freiheit über das Schöne und die Bildung des Menschen vermittelt wurde“. Das „autonom gedachte Schöne“ werde darin als „Widerstandspotential gegen die Kraft der rationalisierten Ökonomie und Politik“ betrachtet.183 Mit seinem künstlerischen Städtebau wollte Sitte, so die These der Autoren, ein Gegengewicht zur scheinbaren Überrationalität und Gefühlsleere seiner Zeit setzen, indem er sich an historischen Stadtgrundrissen orientierte und so „eine Topographie der erinnerten Gefühle mit der Philologie historischer Stadträume zu verbinden suchte“.184 So sollten auch im neuen Städtebau positive Stimmungswerte erzeugt werden, wie sie in Bezug auf die alte Stadt von vielen Zeitgenossen wahrgenommen wurden. Stellvertretend wird hier nochmal Ernst Rudorff aus seinem 1892 in Berlin gehaltenen Vortrag zitiert:
181 Ebd., S. 29. 182 Vgl. Speitkamp 1996, S. 64 und Hartmann 1985, S. 95. In Kapitel 5.1 wird auf diese Verflechtung noch genauer eingegangen werden. 183 Jessen-Klingenberg et al. 2006, S. 10 f. 184 Wilhelm 2006, S. 42.
114 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „In einer alten Stadt kein Platz, auf dem nicht eine Fülle von architektonischem Reiz zum Verweilen einlüde! Und in den gewundenen Straßen wie wechselvolle Bilder, von denen das Auge festgehalten wird! Wie viel scheinbar Abschließendes, auf dem der Blick auszuruhen vermag! Erfrischen wir unser Fühlen und Denken wieder an dem lebensfähigen Wesen unserer Ahnen! Lernen wir von ihnen wieder verstehen, was es für das tägliche Leben bedeutet, sich überall in ein schönes Gegenwärtiges zu vertiefen, und den inneren Sinn bereichern zu dürfen, statt daß wir nur weiter und weiter drängen und treiben, rastlos und friedlos!“ 185
Auch wenn Camillo Sitte mit seinem Städtebau-Buch auf den zeitgenössischen Städtebau zielte, so blieb die malerische Stadt doch gedanklich immer eng an die alte Stadt gebunden, die für Sitte die Vorbilder für seine Motive lieferte. Die malerische alte Stadt wurde so als Gegenpol zu einer scheinbar immer schnelllebigeren Zeit und zum Identifikationsobjekt, das die Verbindung zu überkommenen Werten sicherstellen sollte.186 Gleichzeitig rückten damit die malerischen Strukturen und Bilder der alten Städte zunehmend in das Interesse des Denkmalschutzes, der das scheinbar gewachsene Ensemble187 neben einzelnen herausragenden Bauten als Schutzgut erkannte. 3.5.2 Das Ensemble oder die historisch gewachsene malerische Stadt Der Gedanke, dass verschiedene Bauwerke gemeinsam eine Einheit bilden könnten, die als solche schützenswert sei, lässt sich bis vor die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückverfolgen. So schlug Schinkel 1815 in seinem Bericht an das Innenministerium zur Wiederherstellung der Schlosskirche in Wittenberg vor, auch das Schloss zu renovieren, da so „ein schönes und großes Ganzes in seiner ursprünglichen Gestalt wieder hergestellt“ 188 würde. Dennoch bleibt hier die Vorstellung des gemeinsamen Ganzen eng an den Gedanken des Einzeldenkmals gebunden, da es sich nicht um eine sich langsam entwickelte Struktur handelt, die ihren Wert durch diese Genese bezieht, sondern um zwei sich aufeinander beziehende Einzeldenkmale. Die Auseinandersetzung mit dem malerischen städtischen 185 Rudorff 1892, S. 17. 186 Von Beyme sieht diesen Vorgang in Deutschland besonders ausgeprägt da aufgrund der lange fehlenden nationalen Einheit die regionale und damit auch regional-städtische Identität einen höheren Stellenwert hatte (vgl. von Beyme 1987, S. 17). 187 Der Begriff des „Ensembles“ wird im Folgenden trotz der unterschiedlichen Bedeutungen zu verschiedenen Zeiten, auf den Gedanken einer Gruppe von Gebäuden angewendet, die, ungeachtet des Vorkommens überragender Einzelbauten, einen gemeinsamen Denkmalwert zugesprochen bekommt. 188 Schinkel 1815, S. 272.
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Ensemble, das auch an sich nicht als wertvoll eingestufte Gebäude umfasst, begann tatsächlich erst Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts.189 Ihren Beginn fand diese Auseinandersetzung in der ‚Entdeckung‘ der alten Stadt als Ort und Sehnsuchtsort. Gerhard Vinken sieht in der „Altstadt“ so auch eine Erfindung der Romantik, die durch den Rückbezug auf die scheinbar gewachsene Stadt für sich ein Modell zur „Selbstvergewisserung in den Umbrüchen der Moderne“ gefunden hatte. 190 Die alten Städte sah man dabei als gewachsene Einheiten an, die insgesamt in ihrer Struktur und in ihrem Stadtbild zu erhalten seien, unabhängig davon, ob es sich bei einzelnen Bauwerken um herausragende künstlerische Leistungen handelte. Gleichzeitig sah man die alten Städte durch die steigende Bautätigkeit und das städtische Wachstum vielerorts gefährdet. So wurde der Erhalt städtischer Strukturen für die Denkmalpflege des ausgehenden 19. Jahrhunderts zunehmend zum Thema. Insbesondere gegen die Niederlegung von zu der Zeit noch vorhandenen Wallanlagen regte sich vielerorts Widerstand. Die Schriftleiter der Zeitschrift Die Denkmalpflege, Otto Sarrazin und Oskar Hoßfeld, wenden sich gleich zu Beginn ihres Leitartikels zur ersten Ausgabe der Zeitschrift 1899 gegen die Praxis des Abrisses von Mauern und Stadttoren (sowie innerstädtischer Bauten) aufgrund eines „Verkehrsinteresses“.191 Bereits in den 1880er-Jahren hatte sich der Bayerische Generalkonservator Hefner-Alteneck (vergeblich) für den Erhalt des Herstalltores in seiner Heimatstadt Aschaffenburg eingesetzt. 192 Während Hefner-Alteneck das Tor vor allem wegen seines historischen Wertes als einzelnes Bauwerk erhalten möchte und nicht als Teil einer geschlossenen Wallstruktur, betont sein Nach-Nachfolger im Amt, Hugo Graf, 1897 bei seiner Parteinahme für den Erhalt der Befestigung Rothenburgs die Wirkung der „malerischen Türme[n] und Mauerpartien“ – und hebt des Weiteren das Potential dieses malerischen Bildes für den Tourismus als „Quelle des Wohlstands“ für die Stadt hervor.193 189 Während Katharina Brichetti die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Ensemble auf das Ende des Jahrhunderts datiert, stellt Gerhard Vinken diesen Trend schon für die Mitte des Jahrhunderts fest. Die Grenzen dürften hier wohl fließend sein. Vgl. Brichetti 2009, S. 71 und Vinken 2010, S. 8. 190 Vinken 2010, S. 207. 191 Vgl. Sarrazin und Hoßfeld 1899, S. 1. 192 Vgl. Hefner-Alteneck 1899, S. 269 f. 193 Zit. nach Dürr 2001, S. 209. Dass nicht alle Kollegen seinerzeit das Malerische als denkmalwürdig betrachteten zeigt der Fall des Abrisses des Ziegeltors in Freising, das 1897 von dem zuständigen Referenten Wolfgang Maria Schmidt zwar als zu einem „wirkungsvollen Stadtbild“ gehörend, nicht jedoch als künstlerisch herausragend eingestuft wurde, woraufhin das Tor 1898 abgerissen wurde (vgl. ebd). Ironischerweise startete der Freisinger Verein für Stadtbildpflege 1998 den Versuch, eine Rekonstruktion des Tores zu veranlassen, der jedoch aus finanziellen Gründen scheiterte. Vgl.
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Die malerische Wirkung der alten Stadt gewann bis zur Jahrhundertwende an Wichtigkeit und war eng mit der Vorstellung vom Ensemble verbunden. Nach Tilmann Breuer beruhte das damalige Konzept des Ensembles dabei auf der Vorstellung einer „Gestalteinheit, die ihren wesentlichen Charakter aus einem einheitsstiftenden Moment bezieht, das mehr aussagt als die Summe von Teilen, das in einer ‚Übersumme‘ erkennbar wird.“194 Tilman Breuer betont weiter die Bedeutung der zeitgenössischen Landschaftsmalerei und des Impressionismus mit ihrer auf Stimmungswerte abzielenden Sichtweise und beruft sich dabei sowohl auf Riegl als auch auf Dvořák, die sich beide zum Verhältnis von Landschaftsmalerei und Denkmalpflege äußerten.195 Tobias Leidinger schließt aus der Betonung dieser Verbindung, dass bei dem Ensemble im Gegensatz zum Einzeldenkmal erstmals „nicht die Funktion, an Vergangenes zu erinnern, […] auch nicht der geschichtliche Wert, nicht die historische Bedeutung […] im Vordergrund [steht], sondern die ‚malerische, bildhafte‘ Wirkung, die von einem Bauwerk samt seiner Umgebung und seinen Umbauten ausgeht“.196 Diese Aussage ist jedoch nur teilweise zu halten, abhängig davon, was als „geschichtlicher Wert“ definiert wird. Wie schon oben gezeigt, ist dem Konzept des Malerischen sowohl in seiner Anwendung auf die Stadt als auch auf die Landschaft eine historische Komponente inhärent, die sich jedoch weniger in Form einer Zeugnishaftigkeit als vielmehr eines emotionalen Zugangs zur Geschichtlichkeit äußert. Das historisch Gewachsene bleibt zwar schwer fassbar, stellt jedoch in der Diskussion um das Malerische ein wichtiges Charakteristikum dar. Dass die Gegenüberstellung malerischer und historischer Werte eine spätere Erfindung ist, zeigt auch die Kontroverse um die Erhaltung der Altstadt von Split durch Alois Riegl, die Achim Hubel in ihrer Bedeutung für die Denkmalpflege und die Etablierung des Ensemble-Gedankens in ihrer Wichtigkeit mit der Debatte um das Heidelberger Schloss vergleicht.197 1902 war eine Kommission eingesetzt worden, die sich mit dem Antrag beschäftigte, die Reste des antiken Palastes von Kaiser Diokletian, der durch die mittelalterliche Altstadt Splits überbaut worden war, freizulegen und zu diesem Zweck einen nicht unerheblichen Teil der mittelalterlichen Wohnbebauung abzureißen. 1903 untersuchte Alois Riegl den Ort in seiner Funktion als Generalkonservator und sprach sich entschieden gegen die Freilegung des Palastes aus. Das malerische Erscheinungsbild der Altstadt war dabei ein Argument für Riegl, das für die Erhaltung des Ensembles sprach: „Übrigens bilden gehttp://www.sued-deutsche.de/muenchen/freising/projekt-fuer-die-ziegelgasse-alles-inder-schwebe-1.1497069, Zugriff 22.01.2016. 194 Breuer 1989, S. 39. 195 Vgl. ebd., S. 42. Auf dieses Verhältnis zur Malerei und die Bildhaftigkeit des Denkmals wird in Kapitel 3.6 noch genauer eingegangen werden. 196 Leidinger 1993, S. 28. 197 Vgl. Hubel und Bock 2011, S. 101.
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rade die Häuser […] mit ihren vor- und zurückspringenden Wänden, ihren Freitreppen, schmalen Fassaden und scharfen Ecken ein so malerisches Straßenbild, daß man es wohl nur ungern missen möchte.“198 Gleichzeitig geht er jedoch auch auf die geschichtliche Bedeutung der Altstadt ein, die für ihn in dem jahrhundertelangen Bauprozess zwischen den Ruinen lag. Das Ensemble war für Riegl so ein historisches Dokument, verfügte darüber hinaus aber auch noch über einen „unvergleichlichen und unersetzlichen Stimmungsreiz“.199 Tilmann Breuer stellt in diesem Zusammenhang zu recht fest, dass die Begründung des Ensembles im Malerischen auch die historische Komponente des Ensembles beinhaltet: „Wenn im malerischen Sehen eine Wurzel des Ensemblebegriffs ist, so ist dieser [Wurzel] eng verbunden die andere, das Bewusstsein nämlich, das gerade in der Gruppierung von Bauten geschichtliche Aussage anschaulich wird.“ 200 Anknüpfend an Riegls Darstellung setzten sich auch weitere Denkmalpfleger für den Erhalt der Altstadt von Split ein. Riegls Nachfolger Max Dvořák folgte der Linie seines Vorgängers und auch Cornelius Gurlitt sprach sich gegen Abrisse aus.201 Die Wertschätzung des Ensembles etablierte sich so in der Denkmalpflege und wurde nicht nur auf den Präzedenzfall Split bezogen, sondern auch auf andere altstädtische Strukturen. So bezeichnete Georg Dehio 1908 die gesamte Stadt Rothenburg als Denkmal: „Die Stadt [Rothenburg] als Ganzes ist Denkmal. Was wir sonst nur in abgelegenen Miniaturstädtchen gelegentlich finden, […] das zeigt sich uns hier in einer begüterten und kunstsinnigen Reichsstadt mittlerer Größe: Erhaltung des alten Zustandes in unerreichter Vollständigkeit und Dissonanzfreiheit.“202
Auch hier findet sich der Gedanke des Ensembles wieder. Dehio sieht den Wert des Ensembles Rothenburg jedoch insbesondere in seiner „Dissonanzfreiheit“. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was in einem malerischen Ensemble, das sich durch seinen Abwechslungsreichtum und die vorhandenen Unregelmäßigkeiten definiert, als Dissonanz wahrgenommen werden könnte. Mit diesem Problem setzte sich schon Gilpin in seiner Theorie des Malerischen auseinander. Charakteristisch für das Malerische ist für ihn, dass es sich in seiner Kleinteiligkeit doch auch wieder zu einem Ganzen zusammensetze, wobei Gilpin den Begriff der Harmonie für die Vorstellung der klassischen Schönheit reserviert. 203 Das malerische Ensemble 198 Zit. nach ebd., S. 103. 199 Vgl. ebd. 200 Zit. nach Wohlleben 2008, S. 155. 201 Vgl. Hubel 2005, S. 227 f. 202 Dehio 1908, S. 436. 203 Vgl. Kapitel 3.2.
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bildet also in seiner malerischen Kleinteiligkeit doch auch immer eine Einheit, die gestört werden kann, ein Gedanke, der insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Altstädten stetig weiter ausgebaut wurde. Cornelius Gurlitt bezeichnete städtische Ensembles 1908 als Kunstwerke, die, ebenso wie einzelne Baudenkmäler, eines besonderen Schutzes bedürfen: „Als alte Kunstwerke werden aber betrachtet nicht nur einzelne Schöpfungen der Malerei, Bildhauerei oder Baukunst, sondern auch das Gesamtbild einzelner Stadtteile, einzelner Straßen, Plätze oder ganzer Gemeinwesen. Auch für den Schutz dieser Kunstwerke wünschen wir eine gesetzliche Handhabe, die die maßgebenden Autoritäten berechtigt, die Erhaltung solcher zum Gemeingut gewordener schöner Bilder auf Grund gesetzlicher Verordnungen als ein der Nation gehöriges Eigentum zu fordern.“204
Das „Gesamtbild einzelner Stadtteile“ als Kunstwerk zu betrachten ist ebenfalls eine Weiterentwicklung des Ensemblegedankens über die Idee des Malerischen hinaus. Obwohl nach wie vor von einem malerischen Bild die Rede ist, wird die Vorstellung des kontinuierlich und scheinbar natürlich Gewachsenen, das die historische Komponente des Malerischen beinhaltet, ersetzt durch den Gedanken des Kunstwerks. Das geschaffene Kunstwerk kann aber, da es als abgeschlossenes Werk betrachtet werden kann, auch viel leichter über erkennbare Dissonanzen verfügen als die einem natürlichen Organismus gleichgesetzte gewachsene Stadt. Gleichzeitig erleichtert die Gleichsetzung mit dem abgeschlossenen Kunstwerk auch eine Abgrenzung gegen spätere Hinzufügungen, die in dem Konzept der organisch wachsenden Stadt zumindest auf theoretischer Ebene schwierig ist (auch wenn dies in der praktischen Anwendung durch die Idealisierung des Alten und damit den automatischen Ausschluss des Neuen selten ein Problem war). Für die Wichtigkeit dieses Praxisbezugs spricht auch, dass sich die Denkmalpflege zeitgleich um eine gesetzliche Verankerung des Ensembleschutzes bemühte. Schon fünf Jahre vor dem oben zitierten Artikel setzte sich Cornelius Gurlitt für eine Verankerung denkmalerhaltender Maßnahmen in der Bauplanung ein. Auf dem Tag für Denkmalpflege 1903 wurde eine Entschließung verabschiedet, die Gurlitt gemeinsam mit Joseph Stübben und Josef Hoffmann vorbereitet hatte, und die darauf gerichtet war, „alte Baulichkeiten von künstlerischer und geschichtlicher Bedeutung bei Aufstellung von Fluchtlinienplänen zu schonen, Platzwandungen auch bei Straßenverbreiterungen möglichst zu erhalten und vermeidbare Freilegungen zu verhindern“.205 Hier zeigt sich also der Gedanke, über den Erhalt der Einzeldenkmäler hinausgehend, auch städtische Strukturen zu erhalten. Um dies zu erreichen, versuchte die Denkmalpflege zunächst, sich auf Gesetzgebungen gegen Verschan204 Gurlitt 1908, S. 13. 205 Brichetti 2009, S. 72.
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delungen und zur Ortsbilderhaltung zu berufen, wie es Cornelius Gurlitt in einem Artikel aus dem Jahr 1908 vorschlägt. 206 In die frühen Denkmalgesetze jedoch ist ein Ensembleschutz zunächst nicht eingegangen. Zwar verfügt das fanzösische Gesetz sur les monuments historiques aus dem Jahr 1913 über einen konkret definierten Umgebungsschutz (ein Sichtbereich von 500 m), dies bezieht sich jedoch nur auf die Umgebung eines Einzeldenkmals und unterscheidet sich damit vom Gedanken des Ensembles.207 Auch in Deutschland ist die Umgebung des Einzeldenkmals in den Denkmalgesetzen Anfang des 20. Jahrhunderts verankert. Das erste Gesetz, das auch den Gedanken des Ensembles aufnimmt, ist aber erst das sächsische Denkmalschutzgesetz aus dem Jahr 1934, das explizit auch „Ortsteile von besonderer städtebaulicher, siedlungstechnischer oder heimatlicher Bedeutung“ als Denkmale anerkennt.208 Nach dem zweiten Weltkrieg ermöglichte das Badische Denkmalschutzgesetz 1949 erstmals den Schutz von „Straßen-, Platz- und Ortsbildern, die in ihrer Gesamterscheinung als Kulturwerte anzusehen sind“.209 International hatte es dazu bereits Vorläufer gegeben. Das französische Gesetz sur la protection des monuments naturels et des sites de caractère artistique, historique, scientifique, légendaire ou pittoresque aus dem Jahr 1930 war europaweit das erste Gesetz, das auch Denkmalgruppen unter Schutz stellte.210 Außerdem wurde hier das Malerische in klarer Abrenzung zum Künstlerischen als Denkmalwert herangezogen, eine Regelung, die in Deutschland nie so übernommen wurde, auch wenn oft von Stadtoder Ortsbildern die Rede ist. Ein Jahr später hatte die Charta von Athen zur Restaurierung historischer Denkmäler, die auf dem Ersten Internationalen Kongress der Architekten und Denkmalpfleger 1931 in Athen beschlossen wurde, versucht, Maßstäbe für den Umgang mit Denkmalen zu setzen, die auch malerische Qualitäten und den Umgebungsschutz berücksichtigten. Unter dem Absatz „Ästhetische Aufwertung historischer Baudenkmäler“ empfiehlt die Charta den Schutz der Umgebung von Denkmalen vor unpassender Bebauung wie Telegraphenmasten oder auch Fabrikanlagen. Es wird eigens betont, dass nicht nur der Schutz von Einzeldenkmälern das Ziel ist, sondern auch von „bestimmte[n] Ensembles und gewisse[n] besonders pittoreske[n] Perspektivbehandlungen“.211 Dabei wurde sogar die Rolle der 206 Vgl. Gurlitt 1908, S. 14. Das preußische Gesetz gegen Verunstaltungen wurde 1907 erlassen und war das erste in einer Reihe von Folgegesetzen. Auf die Rolle der Verunstaltungsgesetze in Bezug auf die Denkmalpflege wird im folgenden Kapitel noch genauer eingegangen werden. 207 Vgl. Paschke 1972, S. 66. 208 Zit. nach Leidinger 1993, S. 39. 209 Zit. nach ebd. 210 Vgl. Paschke 1972, S. 25 f. 211 Charta von Athen, http://www.landesarchaeologen.de/fileadmin/Dokumente/Texte_ Denkmalschutz/ 131_1931_Charta_von_Athen.pdf (Zugriff 30.07.2013).
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Bepflanzung für den spezifischen Charakter der Orte hervorgehoben. 212 Die Vorstellung vom Ensemble war also noch stark dem Gedanken des Malerischen und seiner ästhetischen Wirkung verhaftet. In den darauffolgenden Jahren scheint sich das gewandelt zu haben. Zwar etablierte sich die Vorstellung von der Schutzwürdigkeit des Ensembles, die Begründung dafür wurde jedoch eine andere. Die Haager Konvention von 1954 spricht in dem Zusammenhang von „Gruppen von Bauten, die als Ganzes von historischem oder künstlerischem Interesse sind“. 213 Vom malerischen Erscheinungsbild als schützenswerter Komponente des Ensembles ist hier nicht die Rede, ebenso wenig wie in der Charta von Venedig von 1964, die unter anderem als Ziel formuliert, die „Denkmalbereiche“ in „ihre[r] Integrität“ zu bewahren.214 Das Ensemble wird so zum historischen Dokument, das ebenso wie das Einzeldenkmal intakt sein und in einem Zustand der Vollständigkeit in die Zukunft überführt werden soll. Tilman Breuer bemerkt dazu in einem 1989 erschienen Artikel, dass der Ensemblebegriff sich von seinen ästhetisch dominierten Ursprüngen emanzipiert habe und führt weiter aus: „Daß ein Ensemble durch ein einheitsstiftendes Moment konstituiert wird, hat der Ensemblebegriff der gegenwärtigen Denkmalkunde von seinen Ursprüngen bewahrt, doch ist für ihn charakteristisch, daß eben dieses einheitsstiftende Moment sich nicht in einer vereinheitlichenden malerischen Stimmung niederschlägt, sondern vielmehr der Träger der geschichtlichen Aussage ist, die einem Ensemble die Bedeutung eines Denkmals verleiht“.215
Tatsächlich hatte des Ensemble, wie bereits oben verdeutlicht, immer auch eine geschichtliche Bedeutung, die sich im Bereich des Malerischen jedoch eher in einem emotionalen Zugang zu einer kaum differenzierten Vergangenheit niederschlägt und weniger in einer konkreten historischen Aussage, wie sie Tilmann Breuer in diesem Fall vorschwebt, d.h. also im Sinne eines Bezeugens eines bestimmten historischen Aspektes.216 Diese emotionale Zugangsweise ist es, die Breuer kritisiert 212 Vgl. ebd. 213 Haager Konvention, Artikel 1, https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/ 19540079/index.html (Zugriff 18.08.2017). 214 Charta von Venedig, Artikel 14, (ICOMOS 1992). 215 Breuer 1989, S. 47. 216 Dass es diesen konkreten Anspruch an das Ensemble als historisches Dokument auch schon früher gegeben hat bezeugt das Zitat des Braunschweiger Museumsdirektors Prof. Paul Jonas Meier auf dem Tag für Denkmalpflege 1905 in Bamberg: „Wenn ich um meine Meinung befragt würde, welchem ‚Denkmal‘ einer beliebigen Stadt, die zu inventarisieren wäre, seiner ganzen geschichtlichen Bedeutung nach der Platz an erster Stelle gebührt, so würde ich ohne weiteres Besinnen sagen: dem Grundriß der Stadt mit dem Laufe ihrer Straßen, der Lage und Gestalt ihrer Plätze, dem Zuge der Stadtmauern
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und als überwunden ansieht, wobei der Hauptkritikpunkt in der Subjektivität der Reaktion auf die malerische Stimmung liegt.217 Vier Jahre später wird dieser Gedanke von Tobias Leidinger aufgegriffen und weitergeführt: „Letztlich wird damit der Erkenntnis Rechnung getragen, daß es das Bestreben einer Objektivität und Authentizität verpflichteten Denkmalpflege sein muß, geschichtliche Entwicklungen in all ihren Ausprägungen umfassend zu dokumentieren und daher über Einzelobjekte und Gruppen von Bauten hinausgehend auch Stadt- und Ortsgrundrisse, Silhouetten, Stadt- und Ortsbilder, ja ganze Ortsteile, und die für ihren Wirkungsbezug wichtigen Frei- und Grünflächen zu erhalten.“218
Der subjektive Zugang zum malerischen Ensemble widerspricht also dem Selbstverständnis einer sich als wissenschaftlich und damit objektiv verstehenden Denkmalpflege. Dennoch hebt Leidinger hier auch die besondere Schutzbedürftigkeit des „Wirkungsraums“ des Ensembles hervor. Diese Wirkung des Ensembles hat ihre Wurzeln nach wie vor direkt im ästhetischen Konzept des Malerischen als rezeptionsästhetischer Kategorie, auch wenn sie sich natürlich historisieren lässt, beispielsweise in Form historischer Sichtbezüge, die erhalten werden sollen. Seit in den 70er und Anfang der 80er Jahren die meisten Bundesländer neue Denkmalgesetze erlassen haben, ist das Denkmalensemble – wenn auch in unterschiedlichen Umschreibungen – auch gesetzlich geschützt. Dass in einer Vielzahl der Gesetze von Orts- und Straßenbildern die Rede ist,219 macht deutlich, wie eng der Gedanke des Ensembles nach wie vor mit der Bildhaftigkeit des Malerischen verbunden ist. Michael Petzet, der 1975 die Bedeutung des Ensembles für den denkmalpflegerischen Erhalt der Städte betonte, begründete diese wie folgt: „Häuser, die, rein kunsthistorisch gesehen, zweiter oder dritter Qualität oder überhaupt ohne Bedeutung sind, machen ja oft gerade den Reiz eines Ensembles, den Charakter einer Stadt aus.“220 Die Bezugnahme auf den besonderen optischen Reiz des Ensembles und den spezifischen, aber nicht genauer erklärbaren Charakter einer Stadt […] Man kann vielleicht sagen, der Grundriß einer Stadt ist die monumentalste Urkunde ihrer Geschichte“. Zit. nach Hubel und Bock 2011, S. 104 f. Vergleichbare Aussagen sind jedoch kaum zu finden und treten meist hinter dem oben geschilderten Aspekt des Malerischen zurück. 217 Breuer 1989, S. 47. 218 Leidinger 1993, S. 31. 219 Beispielsweise in Baden-Württemberg (1971), Bayern (1973), dem Saarland (1977) und Rheinland-Pfalz (1978); vgl. Breuer 1989, S. 38. Auch das aus dem Jahr 1975 stammende Denkmalschutzgesetz der DDR machte den Schutz städtebaulicher Ensembles möglich. Vgl. Leidinger 1993, S. 43. 220 Petzet 1975, S. 14.
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knüpfen an Gedanken der Jahrhundertwende an. Insgesamt lässt sich ungeachtet von Tilmann Breuers Text aus den späten 80ern im Zusammenhang mit dem Denkmaljahr 1975 eine Art Renaissance des Malerischen beobachten, insbesondere auch durch die verstärkte Nutzung von Bildmedien, auf die an späterer Stelle noch eingegangen wird. 3.5.3 Fassadenwettbewerbe und Townscape oder die gebaute malerische Stadt Schon vor den Denkmalschutzgesetzen gab es gesetzliche Regelungen, die darauf abzielten, das Erscheinungsbild der Städte zu erhalten. Bereits das preußische Landrecht von 1794 enthielt ein Verbot, Gebäude zu verändern, wenn dadurch eine „Verunstaltung der Städte und öffentlichen Plätze“ drohte. 221 Die seit den 1860ern erlassenen Baugesetze enthielten zwar vielerorts Vorkehrungen, welche die ästhetische Gestaltung von Städten betrafen, diese bezogen sich jedoch meist auf bestimmte, als besonders wichtig eingestufte Gebäude oder Straßenzüge. Ästhetisches Leitbild blieb dabei zunächst der klassizistische Städtebau mit seinen symmetrischen und geometrischen Idealen.222 So untersagte die Bayerische Landesbauordnung von 1864 bei „Städten I. Klasse“ in Bezug auf die Fassadengestaltung alles, „was die Symmetrie und Sittlichkeit verletzen könnte“. 223 Seit den 1880er Jahren nahmen die Gesetze zunehmend auch Anregungen aus der Wohnreformbewegung auf, insbesondere was Aspekte der Hygiene, aber auch der Raumhöhe und Gestaltung betraf. Indirekt wurde so auch die Rolle der Ästhetik gesetzlich aufgewertet, die sich nun jedoch in ihrer Ausformung vom klassischen Ideal entfernte.224 Zur Jahrhundertwende schlug sich schließlich auch der Einfluss des malerisch beeinflussten Städtebaus und der Heimatschutzbewegung im novellierten Baurecht nieder. Durch Gesetze gegen Verunstaltungen versuchte man, ästhetische und historische Werte im Stadt- bzw. Ortsbild zu schützen.225 Dabei waren oftmals die Kommunen Vorreiter und erließen Schutzbestimmungen noch bevor von staatlicher Seite gehandelt wurde. Insbesondere Städte, die in ihrem historischen Ortsbild auch einen Wirtschaftsfaktor sahen, versuchten dieses frühzeitig auch gesetzlich vor als unpassend empfundenen Veränderungen zu schützen.226
221 Zit. nach Speitkamp 1996, S. 288. Ähnliche Vorschriften ließen sich auch in anderen Gesetzestexten der Zeit wiederfinden. 222 Vgl. ebd., S. 289. 223 Zit. nach ebd., S. 290. 224 Vgl. ebd. 225 Vgl. ebd., S. 287. 226 Vgl. ebd., S. 290.
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Das älteste Gestaltungsstatut zum Schutz einer Altstadt wurde 1899 in Hildesheim in die Bauordnung aufgenommen. Die Verordnung zur Verhütung einer Verunstaltung der älteren Stadtteile Hildesheims war auf Anregung des Vereins zur Erhaltung der Kunstdenkmäler in Hildesheim zustande gekommen.227 Der Verein hatte sich 1887 als Reaktion auf den Brand des Knochenhaueramtshauses gegründet, zunächst mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung des Gebäudes.228 Mit der Absicht, einer Verunstaltung der Hildesheimer Altstadt durch als unpassend empfundene Neubauten entgegenzuwirken, entstand außerdem ein Musterkatalog für Fassaden, der 200 Tafeln umfasste. Die als Beispiele verstandenen Musterfassaden orientierten sich hauptsächlich an der regionalen Bauweise der Mitte des 17. Jahrhunderts und passten sich im Maßstab der vorhandenen Bebauung an. Ziel des Vereins war es, durch diese Muster Anregungen für Hausbesitzer und Bauunternehmer zu liefern für ein Bauen unter Befolgung der baupolizeilichen Vorschriften gegen Verunstaltungen.229 Die Arbeit des Vereins war insgesamt von großem Einfluss auf das Hildesheimer Stadtbild, so dass der Verein in seinem Jahresbericht von 1903 stolz feststellen konnte: „Das ganze Stadtbild hat sich seit 1887 völlig verändert; es ist unendlich reicher, stimmungsvoller und malerischer, architektonisch schöner und wahrer geworden.“230 Dem Verein in Hildesheim ging es in erster Linie nicht um den Erhalt der historischen Substanz, sondern um eine Verbesserung des Stadtbildes. Diesem idealen Stadtbild lag die Vorstellung einer historischen Stadt zugrunde, die als ‚schön‘ im Sinne des malerischen Schönen (kleinteilig, historisch gewachsen) galt und der eine typische, dem Charakter der Stadt entsprechende Bauweise zugrunde lag. Dieses Typische sollte sowohl bei den alten als auch bei den neuen Bauten der Stadt hervorgehoben werden, wodurch die Stadt in den Augen der Vereinsmitglieder nicht nur schöner wurde, sondern auch „wahrer“ im Sinne von ihrem eigenen Wesen wieder angenähert. Das Vorgehen in Hildesheim erregte deutschlandweit großes Aufsehen und fand in verschiedenen Städten Nachahmung in Form von Fassadenwettbewerben. Kurz nach der Jahrhundertwende wurden Gestaltungswettbewerbe durchgeführt in Bremen (1901), am Kölner Rheinufer (1901), in Lübeck (1902), Danzig (1902), Dresden (1902), Frankfurt (1903) und Trier (1903). 231 Die Vorgehensweisen und Inhalte der Wettbewerbe waren dabei im Detail oft unterschiedlich, gemeinsam war ihnen 227 Vgl. Brix 1985, S. 71. 228 Da sich der Verein insbesondere für die Wiederherstellung der farbigen Fassung des Fachwerks einsetzte und sich auch bei anderen Fachwerkbauten für eine farbige Gestaltung aussprach, erhielt er in der Bürgerschaft auch den Spitznamen „Pinselverein“. Vgl. ebd. S. 70. 229 Vgl. Schultze 1901, S. 122 f. 230 Zit. nach Brix 1985, S. 70. 231 Vgl. ebd., S. 71.
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aber der Gedanke der Erstellung von Musterfassaden, meist unter Berücksichtigung der vorhandenen Traufhöhe und teilweise auch der Parzellierung, um die Vorstellung einer angemessenen Bebauung in den Städten zu verbildlichen. Teilweise wurden dabei auch bestimmte erwünschte Baustile vorgegeben, wie etwa im Falle Hildesheims die Orientierung am 17. Jahrhundert. Die Ausschreibung der Wettbewerbe erfolgte meist durch bürgerliche Altstadt-, Verschönerungs- und Kunstvereine, worin ein weiterer Grund liegt, dass die Wettbewerbe im Grunde nur einen empfehlenden Charakter annehmen konnten und keineswegs verbindliche oder konkrete Planungen darstellten. So beschränkte sich die Aufgabe der Wettbewerbe auch auf die Fassadengestaltung von Gebäuden in bestimmten Straßenzügen der Städte, meist unter der Annahme einer gemischten Wohn- und Geschäftsnutzung, aber ohne konkrete Überlegungen zu Raumaufteilung und Nutzung im Inneren. 232 Zu einer Umsetzung der in den Fassadenwettbewerben erarbeiteten Vorschläge kam es in den meisten Fällen nicht.233 Dennoch erhielten sie große Aufmerksamkeit und können, wie Marion Wohlleben es 1989 darstellte, durchaus als exemplarisch für den Umgang mit Altstadt und Stadtbild angesehen werden.234 Insbesondere der gut dokumentierte Trierer Fassadenwettbewerb für den Hauptmarkt wird gerne herangezogen, um die Intentionen der Fassadenwettbewerbe zu verdeutlichen, die eben nicht im Erhalt der historischen Bausubstanz lagen, sondern in der Herstellung eines bestimmten Stadtbildes.235 Der Trierer Wettbewerb, dessen Initiative von einer Kommission zur Aufnahme alter Häuser ausging, wollte durch die Ausschreibung zur Bebauung des Hauptmarktes verhindern, „dass die reizvollen Bilder durch ungeschickte Neubauten“ verloren gingen.236 Die eingereichten Entwürfe und Besprechungen zeigen dabei, dass diese „reizvollen Bilder“ nicht unbedingt mit den bestehenden übereinstimmen mussten. Vielmehr orientierte man sich auch hier an einem vermeintlich typischen Stil, den es herzustellen galt – im Falle Triers waren die Vorbilder die Bürgerhäuser des späten Mittelalters und der Renaissance, freilich in ihrer Interpretation durch das 19. Jahrhundert und damit in ihrer Formensprache weit entfernt vom eigentlichen Bestand.237 Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass die staatliche Denkmalpflege den Fassadenwettbewerben zunächst wohlwollend bis unterstützend gegenüber232 Vgl. Wohlleben 1989, S. 20. 233 Vgl. Haps 2011, S. 25. 234 Vgl. Wohlleben 1989. 235 Auch Tilmann Breuer verdeutlicht dies am Beispiel des Wettbewerbs in Trier und geht darüber hinaus noch auf Beispiele aus Lübeck und München ein. Vgl. Breuer 1989, S. 44. 236 Zit. nach Wohlleben 1989, S. 21. 237 Vgl. ebd., S. 27. Die Entwürfe waren meist bedeutend stärker ausgeschmückt, die Fassaden mit Volutengiebeln, Erkern und figürlichem Schmuck versehen.
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stand und diese in ihrem Zeitschriftenorgan Die Denkmalpflege positiv besprach. In der Ausgabe von 1902 werden Tafelwerke mit Musterfassaden als geeignetes Mittel zur Überwindung der Stil-Architektur gelobt, als Abkehr „vom Hohlen, Unechten, und Phrasenhaften der letzten Jahrzehnte.“238 Was aus heutiger Sicht erstaunen mag war begründet in der Tatsache, dass die Fassadenwettbewerbe sich wie oben gezeigt zum Ziel setzten, sich an vermeintlichen örtlichen Stilen zu orientieren, was im Ergebnis aus heutiger Sicht zwar nicht befriedigend gelungen scheint, im damaligen Kontext aber durchaus als Abgrenzung zum damals verbreiteten, eklektizistischen Historismus ohne Ortsbezug gesehen wurde (und damit als ‚wahrer‘ und schöner galt, s. Hildesheim). Diese Entwicklung honorierte die Denkmalpflege, indem sie auf dem 3. Tag für Denkmalpflege 1902 beschloss, die Fassadenwettbewerbe grundsätzlich zu unterstützen, da man in ihnen ein probates Mittel gegen die potenzielle Verunstaltung von Altstädten sah.239 Die positive Grundeinstellung gegenüber den Fassadenwettbewerben war jedoch nicht gänzlich frei von Kritik. Ein Jahr vor der positiven Besprechung in der Zeitschrift äußerte sich der Architekt Friedrich Schultze, nachdem er die „vorzügliche[n] Ergebnisse“ der Fassadenwettbewerbe in Hildesheim und Bremen gelobt hatte, auch zu möglichen Risiken, die er mit diesem Vorgehen verbunden sah: „Allerdings wird bei derartigen Wettbewerben die Gefahr der Alterthümelei, welche in den letzten 10 bis 20 Jahren abschreckende Beispiele zur Genüge hervorgebracht hat, stets vorhanden sein. […] Es kann gar nicht genug davor gewarnt werden, absichtlich malerisch zu bauen mittels gesuchter Dach- und Thurmausbildungen, durch willkürlich angelegte Erker, Thürmchen, Dachluken usw. Dadurch werden nur unruhige Straßenbilder hervorgebracht, bei denen kein Haus vor dem anderen zur richtigen Wirkung kommen kann.“ 240
Damit bringt Schultze ein Grundproblem des Malerischen zum Ausdruck. Da es ein wesentliches Kriterium des Malerischen ist, den Aspekt des scheinbar natürlich Gewachsenen zu verbildlichen, gestaltet sich der Versuch, gezielt malerisch neu bauen zu wollen als extrem schwierig. Um innerhalb dieser Planung dennoch den als charakteristisch für das Malerische empfundenen Abwechslungsreichtum zu erzeugen, versuchten die Architekten, mit Hilfe architektonischer Details bei der Fassadengestaltung eine möglichst große Variabilität zu erzeugen. Die Elemente, auf die dabei zurückgegriffen wurde, sind die erwähnten Erker, Giebel und Figuren, die auch im Trierer Wettbewerb zum Tragen kamen. Statt des gewollten malerischen Abwechslungsreichtums sieht Schultze dadurch jedoch eine Unruhe erzeugt, die er als negativ betrachtet. Die ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘, wobei in Bezug auf die 238 Zit. nach Brix 1985, S. 83. 239 Vgl. ebd., S. 69. 240 Schultze 1901, S. 123 f.
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Altstadtsanierung ersteres immer mehr an Wichtigkeit gewann, scheint dem Autor durch die Verwendung zu vieler architektonischer Details und gewollter historisierender Anklänge gestört. Schultze sieht daher den Hauptzweck der Wettbewerbe auch nicht in den konkreten Ergebnissen, sondern in der „künstlerischen Erziehung“, die durch die Auseinandersetzung mit dem historischen Stadtraum gefördert würde.241 Ähnlich positioniert sich zu der Frage auch ein Jahr später in derselben Zeitschrift ein Autor namens Schaumann in Bezug auf den Fassadenwettbewerb in Lübeck. Auch er sieht den „Werth eines allgemeinen Façaden-Wettbewerbes, wie ihn der Verein von Kunstfreunden in Lübeck im vorigen Jahre ausschrieb […] weniger darin […], daß er unmittelbare Vorbilder schafft, als darin, daß er das Interesse an die Erhaltung des Stadtbildes fördert.“ 242
Dabei geht es dem Autor erklärtermaßen in erster Linie um die Erhaltung des Stadtbildes, wie durch das von ihm vorgetragene Beispiel betont wird. Dort beschreibt er, wie in Lübeck kürzlich „fünf für das Stadtbild in Lübeck recht bezeichnende, wenngleich künstlerisch nicht bedeutende Häuser“ abgerissen wurden, wobei „glücklicherweise […] begründete Hoffnung vorhanden [ist], an Stelle dieser Häuser einigermaßen gleichwerthige wiedererstehen zu sehen.“243 Dass das Malerische für den Autor einen Wert in Bezug auf das Stadtbild besitzt den er dabei streng vom künstlerischen Wert trennt, veranschaulicht er an einem weiteren Lübecker Beispiel. Die Bauten des dortigen Johannisklosters beschreibt er als „Buden“, die Anfang des 19. Jahrhunderts umgebaut wurden, als „einfache schmucklose Ziegelbauten, malerisch zwar in ihrer Art, aber von äußerst geringem Kunstwerth“.244 Die malerische Wirkung geht also nicht zwingend einher mit einem spezifischen Kunstwert, und während der Kunstwert eines Gebäudes dieses unersetzlich macht, schützt der malerische Eindruck eine Bebauung nicht vor deren Abriss, da man sie – so die implizite These – auch durch neue „gleichwerthige“ Gebäude wieder erzielen könne. Die Rolle, die das Malerische beim Denkmalerhalt spielen sollte, scheint Anfang des 20. Jahrhunderts umstritten gewesen zu sein. Während Schaumann 1902 das Malerische als prinzipiell ersetzbar einzustufen scheint und daher kein Erhaltungspostulat daraus ableitet, schildert Schultze die Schwierigkeiten und Gefahren bei dem Versuch, ein malerisches Stadtbild zeitgenössisch neu zu schaffen. In beiden Fällen bleibt jedoch die malerische Wirkung der Stadt das gewünschte Ziel. 241 Vgl. ebd., S. 124. 242 Schaumann 1902, S. 114. 243 Ebd. 244 Ebd.
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Genauso wenig, wie diese aber zwingend an die alte Substanz gebunden scheint, verfügten die alten Städte zwangsläufig über eine malerische Wirkung. In der Zeitschrift Die Denkmalpflege geht der Autor Julius Hülsen 1900 in einem Artikel ausführlich auf das „Verschwinden“ von „Alt-Frankfurt“ ein. Die Einstellung gegenüber der alten Bebauung ist dabei ambivalent. So äußert er sich zunächst über den Abriss einiger Gebäude, der für den Neubau des Rathauses notwendig war, wenig reuevoll, indem er den Verlust als gering betrachtet, da die Gebäude so oft verändert worden wären, dass von den „Ursprungsbauten“ kaum noch etwas vorhanden sei. Das, was noch zu sehen gewesen sei, sei zudem ästhetisch wenig reizvoll gewesen: „Wohl hatten die genannten Gassen ein alterthümliches Aussehen, sie entbehrten aber des malerischen Reizes“.245 Fraglich bleibt in diesem Fall jedoch, ob ein malerisches Aussehen alleine die betreffenden Bauten geschützt hätte, da ein malerisches Bild, wie bereits dargelegt, ja keineswegs unersetzlich ist. Was den Autor so auch viel stärker berührt, ist der Verlust einiger weniger Gebäude, bei denen er insbesondere den Verlust der inneren Ausstattung aufgrund ihres hohen künstlerischen Werts bedauert. Gleichzeitig hält er es für notwendig, dies genauer zu erläutern: „Mag auch der Laie, der zu oft noch den Begriff des Baudenkmals unzertrennlich mit einem prunkvollen Aeußeren hält und allen Bauten der Vergangenheit, die solchen Schmuck entbehren, kühl oder verständnißlos gegenübersteht, obige Wertschätzung als ‚superlativ‘ belächeln: der Leserkreis dieses Blattes wird die Klage über den Verlust an sich […] von dem heutigen Standpunkte der Denkmalpflege aus gerechtfertigt finden.“ 246
Auch hier differenziert der Autor also zwischen dem Kunstwert des Denkmals und seinem äußeren Erscheinungsbild und spricht sich explizit für den Vorrang des ersteren aus, wohingegen er den Wunsch nach dem Erhalt des Erscheinungsbildes den Laien zuordnet, von dem sich der denkmalpflegerische Fachmann abhebt. Die Zeit der Fassadenwettbewerbe war verhältnismäßig kurz. Der Wettbewerb in Trier war einer der letzten, danach wurden keine weiteren Wettbewerbe mehr ausgeschrieben.247 Auch die Unterstützung der Wettbewerbe durch die Denkmalpflege war von kurzer Dauer und, wie gezeigt wurde, auch nicht frei von Kritik. Michael Brix führt dies auf ein sich wandelndes Denkmalverständnis Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Nicht mehr nur die „anerkannte[n] Meisterwerke“ lägen nun im Fokus der Denkmalpflege, sondern auch „Werke, die im bescheidendsten Gewande Kunde geben von der Arbeit des Volkes, von den Gewohnheiten und Bedingungen des bürgerlichen Lebens unserer Vorfahren“.248 Dass dies nicht der ein245 Hülsen 1900, S. 58. 246 Ebd., S. 66. 247 Vgl. Brix 1985, S. 71. 248 Ebd., S. 84.
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zige ausschlaggebende Grund war und es Gebäude im „bescheidendsten Gewande“ nach wie vor schwer hatten, zeigen die obigen Ausführungen. Stärker in den Fokus rückte jedoch die Priorität der Erhaltung des historisch und künstlerisch Wertvollen, wobei das Malerische vom künstlerisch Wertvollen abgegrenzt wurde. Vielleicht gerade als Folge der Fassadenwettbewerbe, die das malerische Erscheinungsbild der Städte in den Aufgabenbereich von Planern und Architekten legten, wurde der Erhalt (bzw. die Schaffung) einer malerischen Wirkung nicht als denkmalpflegerische Aufgabe betrachtet. Stattdessen ging der Gedanke der Stadtbilderhaltung in die Baugesetzbücher ein. 1907 wurde in Preußen das Gesetz gegen die Verunstaltung von historisch bedeutenden Ortschaften und landschaftlich hervorragender Gegenden verabschiedet, das erste einer Reihe entsprechender Gesetze in Deutschland.249 Tobias Leidinger betont den Einfluss des von der Denkmalpflege geprägten Ensemblegedankens auf diese neuen Gesetzgebungen, auch wenn sich der Schutz ausschließlich auf das Erscheinungsbild und nicht auf die damit verbundene Substanz bezieht.250 Auch der Einfluss des Deutschen Bundes Heimatschutz auf die neue Entwicklung wurde zeitgenössisch rezipiert.251 Doch obwohl das preußische Gesetz von 1907 in weiten Teilen der Bevölkerung positiv aufgenommen wurde und auch schnell Nachfolger in den andern Ländern fand, blieben die Gesetze gegen Verunstaltungen auch nicht von zeitgenössischer Kritik verschont. Diese bezog sich zum einen auf den Begriff der „Verunstaltung“. Sowohl Städtebauer als auch Juristen hoben die mangelnde Klarheit des Begriffs hervor und stellten nicht nur die Frage, wie genau „Verunstaltung“ zu definieren sei, sondern auch, wer befugt sei, dies zu tun.252 Ein weiterer Kritikpunkt insbe249 Es folgten 1909 die Gesetze in Sachsen und Sachsen-Coburg, 1910 Sachsen-Gotha, Oldenburg und Elsaß-Lothringen, 1911 Braunschweig und Schaumburg-Lippe und 1912 Hamburg. In den süddeutschen Ländern Bayern, Baden, Württemberg und Hessen wurden ähnliche Vorschriften in die Landesbauordnungen bzw. Polizeistrafgesetzbücher aufgenommen (vgl. Leidinger 1993, S. 32 ff). 250 Vgl. ebd. 251 Norbert Borrmann bezieht sich hier auf einen Artikel in der Deutschen Bauzeitung, der insbesondere das Verdienst Paul Schultze-Naumburgs in diesem Zusammenhang hervorhebt, der jedoch zu dieser Zeit Erster Vorsitzender des Deutschen Bundes Heimatschutz war. Vgl. Borrmann und Schultze-Naumburg 1989, S. 65. 252 Vgl. Speitkamp 1996, S. 306. Bereits 1882 hatte sich das preußische Oberverwaltungsgericht mit ähnlichen Fragen beschäftigt, die sich im Zusammenhang mit der damals gültigen Verunstaltungsklausel im preußischen Landrecht stellten. Damals beschloss das Gericht, dass eine Verunstaltung „nicht schon dann vor[liegt], wenn nur eine vorhandene Formschönheit vermindert wird oder auch ganz verloren geht“, oder wenn eine „Störung der architektonischen Harmonie“ droht, sondern nur bei einer „Herbeiführung
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sondere seitens der Denkmalpflege lag darin, dass es sich bei den Verunstaltungsgesetzen um reinen Fassadenschutz handelte ohne weitere Auswirkungen auf die Substanz oder das Innere der Gebäude.253 Dennoch stand das Gros der Denkmalpfleger den Gesetzen positiv gegenüber. Auf dem Tag für Denkmalpflege 1907 wurde festgehalten, dass die Forderungen der Gesetze im Wesentlichen mit denen der Denkmalpflege übereinstimmten. 254 1919 hielt Cornelius Gurlitt rückblickend fest, dass das Gesetz den Denkmalpflegern Möglichkeiten eröffnete, auch die Umgebung von Einzeldenkmalen vor zu starken Veränderungen zu schützen, was aufgrund der Denkmalgesetze nicht möglich gewesen wäre. 255 Gleichzeitig machte Gurlitt aber bereits 1911 auf der gemeinsamen Tagung für Denkmalpflege und Heimatschutz in Salzburg deutlich, dass er eine zu starke Einflussnahme auf den Städtebau seitens der Baupolizei nicht erstrebenswert fand. So begrüßte er, dass diese nur im Sinne einer Verhinderung von Negativem möglich sei, nicht jedoch in Form einer darüber hinausgehenden Beeinflussung. 256 Die Ausschreibung architektonischer Wettbewerbe zur Stadtgestaltung betrachtete Gurlitt nur als sinnvoll, wenn in ihnen zeitgemäßes Bauen praktiziert und nicht auf Historisierungen zurückgegriffen würde.257 Damit schließt sich Gurlitt der Meinung seiner Denkmalpflegekollegen an, die die Hauptkraft der Wettbewerbe in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Alten sahen. Trotz der weit verbreiteten Vorstellung von der malerischen Stadt als quasi städtebauliches Leitbild war die alte Stadt doch auch nicht nur positiv konnotiert. Neben ihrer malerischen Qualitäten war man sich auch ihrer Defizite, der schlecheines positiv häßlichen, jedes offene Auge verletzenden Zustandes“. (Zit. nach ebd., S. 292.) Dieser Versuch einer genaueren Definition schafft es natürlich aber auch nicht, das Problem zu lösen. Interessant ist jedoch, dass es sich bei der Verunstaltung um einen Zustand handelt, der für jedermann sichtbar ist und somit nicht auf dem Urteil einzelner Experten beruht. 253 Vgl. ebd., S. 308. 254 Vgl. ebd., S. 302. 255 Gurlitt 1919, S. 25. 256 Lediglich im Bereich der Verhinderung von Reklame innerhalb der Städte spricht er ein uneingeschränkt positives Urteil, da diese eine „Verwüstung in unserem Stadtbild“ zur Folge hätten (Gurlitt 1908, S. 13). Tatsächlich fand sich im Bereich der Reklamebekämpfung wohl der größte Konsens in Bezug auf die Verunstaltungsgesetze, wohl auch, weil hier eine eindeutige Sachlage zu beurteilen war. 1908 wurde das bayerische Polizeistrafgesetzbuch dahingehend verändert, dass jeder, der gegen den Schutz von Ortsund Landschaftsbildern vor Reklame verstieß, eine Strafe von 150 Mark zu begleichen hatte (vgl. Grau 2008, S. 48). 257 Gurlitt 1919, S. 25. Als Beispiele hierfür führt er Wettbewerbe aus Bautzen und Zittau an.
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ten Lebensverhältnisse durch die oft mangelhaften Zustände der Bebauung und vor allem auch der hygienischen Verhältnisse durchaus bewusst, so dass hier mitunter eine Paralleldiskussion zur malerischen Stadt stattfand.258 Auch Cornelius Gurlitt beschreibt die Altstadt in seinem Handbuch des Städtebaus aus dem Jahr 1920 nicht nur als den historischen Kern der Stadt, sondern gleichzeitig als übermäßig verdichtet und verwahrlost.259 Um diese Dichte zu verringern, wurde insbesondere in den Bereichen innerhalb der Blöcke im Rahmen von Stadtsanierungen Abbrüche vorgenommen. In den 1930er Jahren schließlich trafen sich der Wunsch nach der malerischen Altstadt und der gesunden Stadt in den Altstadtsanierungen, die, als „Gesundung“ oder „Entschandelung“ bezeichnet, sowohl ästhetisch als auch hygienisch und nicht zuletzt ideologisch motiviert waren.260 Neben Blockentkernungen und der Modernisierung von Altbauten kommt es auch zur Ersetzung des Bestands durch Neubauten, die in Tradition der Fassadenwettbewerbe in ihrer Formensprache bzw. Proportionierung dem Bestand angepasst sein sollten. Auch in Bezug auf die moralische Konnotation der Altstadt wurde an die Vergangenheit angeknüpft, indem das (vermeintlich) Alte immer noch nicht nur als ästhetisch, sondern auch als moralisch vorbildlich betrachtet wurde.261 Dabei ging es bei den Altstadtsanierungen – ähnlich wie schon bei Fassadenwettbewerben und Verunstaltungsgesetzen – nicht um Substanzschutz, sondern um eine Verbesserung des Vorhandenen nach den eigenen Vorstellungen. Gerhard Vinken verweist außerdem darauf, dass den Begriffen der Sanierung bzw. Gesundung der Gedanke der Stadt als gewachsener Organismus zugrunde liegt, der gleichzeitig über ein bestimmtes Wesen verfügt, das verdeckt wurde und wieder zum Vorschein gebracht werden muss.262 Die ‚Entschandelungen‘ und ‚Gesundungen‘ der 1920er und 30er Jahre greifen also sowohl den Topos der ‚gewachsenen Stadt‘ wieder auf, als auch den der tieferen Wahrheit, die eben nicht in der Substanz, sondern in dem angenommenen Charakter der jeweiligen Stadt liegt – ganz wie schon bei dem ersten Fassadenwettbewerb im Jahr 1899. Trotz dieser Konstanten lässt sich jedoch eine Veränderung im ästhetischen Leitbild feststellen. Während zum Beginn des 20. Jahrhunderts der Fokus auf dem Abwechslungsreichtum der Altstädte lag, auf ihrer als malerisch empfundenen Kleinteiligkeit, wird etwa 30 Jahre später die Harmonie und Einheitlichkeit der Altstädte betont. In seinem Vortrag über Altstadt und Neuzeit, den Theodor Fischer auf dem Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz 1928 hielt, führt er diesen Gedanken aus. Nicht „einzelne Häuser und Denkmäler“ möchte er geschützt wissen,
258 Mehr dazu im folgenden Kapitel. 259 Vgl. Vinken 2010, S. 7. 260 Vgl. hierzu Kapitel 5.2.2.2. 261 Vgl. ebd., S. 82. 262 Ebd., S. 91.
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„sondern den weiteren Begriff, das Räumliche und das Einheitliche […]. Wir haben gesehen, dass das schöne Einzelne seine runde volle Schönheit erst in seiner Einpassung in das schöne Ganze gewinnt, und dass das mit seiner Umgebung in Widerspruch gestellte schöne Einzelne widerwärtig wirkt.“263
Fünf Jahre später äußerte sich Wilhelm Pinder zur Rettung der deutschen Altstadt ebenfalls auf dem Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz, der nun erstmals im Rahmen des Reichstreffens vom Reichsbund Volkstum und Heimat stattfand. Auch er sieht den Quell der Schönheit der Altstädte in ihrer „ganzheitlichen Einheit“, die sich in „Proportion, Rhythmus, Farbe, Werkstoff und Umrißverwandschaft“ äußere.264 Gerhard Vinken verdeutlicht anhand von Pinders Rede, wie die Gedanken des Heimatschutzes in die nationalsozialistische Terminologie überführt werden. Der Grundbegriff der Ganzheit wird politisch aufgeladen, indem er der Zersplitterung als Kennzeichen des Liberalistischen gegenübergestellt wird. Die neue Gesellschaft würde einen „neuen großen Stil“ schaffen und bis dahin solle die mit dem Liberalismus in Verbindung gebrachte Gründerzeitarchitektur getilgt und sich stattdessen auf das Alte besonnen werden.265 Die Verdrängung des Malerischen hängt also auch mit der moralischen Indienstnahme der Altstadt zusammen. Da die Idee der alten Stadt traditionell mit der Idee einer besseren Gesellschaftsform im Sinne einer rückwärtsgewandten Idealisierung des Vergangenen verbunden war und so als Identifikationsobjekt und Orientierung für die Jetztzeit dienen sollte, veränderte sich das Ideal der alten Stadt zeitgleich zu dem gesellschaftlichen Ideal, das durch sie verkörpert werden sollte. Das war eben nicht mehr das Bürgerliche und auch das vermeintliche friedliche Nebeneinander der Schichten, sondern das „Wesen“ des deutschen Volkes, das sich durch Klarheit und Unversehrtheit auszeichnen sollte.266 Die angestrebten Ortsbilder zeichneten sich also nicht mehr durch das Malerische „im Sinne einer gestaffelten und gruppierten Vielfalt und choreografierten Rahmungen und Blicken“ aus, sondern zielten vielmehr auf Vereinheitlichung.267 Trotz der Ablehnung der ideologischen Hintergründe der Altstadtsanierungen setzte sich diese Tendenz zur Vereinheitlichung auch nach dem zweiten Weltkrieg fort.268 Außerdem sah man nun aber auch, neben einer gewollten inhaltlichen und ideologischen Abgrenzung gegen das Alte, die Notwendigkeit und die Möglichkeit, 263 Fischer 1929, S. 72. 264 Pinder 1934, S. 128. 265 Vgl. Vinken 2010, S. 147. 266 Vgl. ebd., S. 148. Ausführlicher werden diese Prozesse in Kapitel 5.2.2 dargestellt. 267 Ebd., S. 169. 268 Als Beispiel könnte man hier den Wiederaufbau des Münsteraner Prinzipalmarktes nennen, der mit seiner Ästhetik die Schaffung eines einheitlichen, harmonischen Stadtraums anstrebt und keine malerische Kleinteiligkeit.
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die Städte ihren neuen Aufgaben anzupassen. Das neue Leitbild hierfür war die organische, aufgelockerte und gegliederte Stadt. 1947 erging ein Aufruf zum neuen Städtebau, der grundsätzliche Forderungen enthielt und unter anderem von Otto Bartning, Egon Eiermann und Fritz Schumacher unterschrieben war. Dort wurde zunächst prinzipiell festgelegt, dass das „historische Erbe“ nicht „historisch rekonstruiert werden“ dürfe, da es „für neue Aufgaben nur in neuer Form entstehen“ könne.269 Des Weiteren wurde aber auch differenziert zwischen den stark zerstörten Großstädten und den Klein- und Mittelstädten: „In den Landstädten mit ihren alten Bauten und Straßen – letzten sichtbaren Kündern deutscher Geschichte – muss eine lebendige Einheit aus altem Gefüge und modernen Wohnquartieren und Industriebauten gefunden werden.“270 Gerhard Vinken argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Autoren im Gewachsenen der historischen Städte ihre eigenen Prinzipien des Organischen wiederfanden, was es ihnen möglich machte, diesen Aspekt in ihre Vorstellungen vom zeitgenössischen Städtebau zu integrieren. 271 So konnte sich zumindest ein inhaltlich mit dem Konzept des Malerischen verbundener Aspekt in neuem Kontext etablieren, wenn auch das Malerische als ästhetische Kategorie in Deutschland zu der Zeit undiskutiert blieb. Einen Vorstoß, das Malerische auch als ästhetische Kategorie wieder aufzugreifen, unternahm in der Nachkriegszeit in England die sogenannte TownscapeBewegung. Inhaltlich basierte diese Bewegung auf einer Reihe von Aufsätzen, die Nikolaus Pevsner in den 1940er und 50er Jahren im Architectural Review zum Thema des Malerischen veröffentlichte. In diesen Texten versuchte er, die Ideen und Techniken des Malerischen auf den Wiederaufbau der zerstörten englischen Städte nach dem zweiten Weltkrieg anzuwenden.272 Ursprünglich hatte Pevsner ein dreibändiges Werk zu dem Thema geplant, das jedoch nie ausgeführt wurde. Stattdessen veröffentlichte Gordon Cullen 1961 ein Buch mit dem Titel Townscape, in dem er die Ideen der Townscape-Bewegung mit ihrer Präferenz für das Zufällige und Kleinteilige (Malerische) darlegte. 273 Die Idee von Townscape ging davon aus, dass Planung Instrumente der visuellen Analyse benötigt, die im rezeptionsästhetischen Konzept des Malerischen zu finden seien. Gleichzeitig sah man das Malerische historisch durch seine enge Verbindung mit der Idee des Landschaftsgartens und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Grundideen in der Tradition des
269 Zit. nach Vinken 2010, S. 163. 270 Zit. nach ebd. 271 Vgl. ebd. 272 Vgl. Macarthur 2007, S. 197 und Pevsner und Aitchison 2010, S. 1. 273 Vgl. Meier 2008, S. 11; Mathew Aitchison veröffentlichte 2010 eine „Rekonstruktion“ des geplanten Werks, die sich aus Textfragmenten und Aufsätzen Pevsners zu dem Thema zusammensetzt.
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Liberalen verankert,274 weswegen das Malerische in England – im Gegensatz zu seiner konservativen bis ideologisch-nationalen Konnotation in Deutschland – auch moralisch als attraktives Konzept nutzbar gemacht werden konnte. Townscape nahm die Mischung verschiedener Gebäudetypen und -ästhetiken, wie sie in alten Städten nebeneinander existieren, als ästhetisches Vorbild. Diese würden durch das Malerische miteinander verbunden, dessen Aufgabe darin gesehen wurde „to reconcile visually [Hervorhebung im Original] in the mindʼs eye what would appear to be irreconcilable elements in any town plan: quain bits, new bits, monuments, traffic, tall buildings, short buildings, flat blocks, individual cottages, etc., etc.“ 275 Um diese Wirkung auch im zeitgenössischen Städtebau zu erreichen, bezieht sich Pevsner explizit auf Sitte, der sich gegen die Planung am Reißbrett ausgesprochen hatte: „Sitte teaches something that still needs as much emphasis today as it did in the last century. He teaches visual planning as opposed to drawing-board planning, and the informal as opposed to uniformity.“ 276 Pevsner möchte „visual planning“ als Planungsmethode etablieren, die in erster Linie auf den Eindrücken, die durch verschiedene Ansichten erzeugt werden, basieren sollte.277 Dabei war der Zufall für Pevsner einer der planerischen Schlüsselmomente. Bei seiner Beschreibung Oxfords und der Londoner Inns geht er auf diesen Aspekt genauer ein: „They are the outcome of growth, and usually growth on a pre-determined site. What we appreciate as a little drama of pleasant or piquant surprise in many scenes may only be due to the fact that architects could not plan as they liked.“ 278 Die Ortsgebundenheit und die damit verbundenen Vorgaben sah Pevsner also als positiv für die Planung, sie sollten durch sie aufgegriffen und nicht negiert werden. Ebenso positiv war Pevsners Einstellung gegenüber dem Funktionalen. Für ihn stellte die Funktion der Stadt den Ausgangspunkt der Planung dar. Dabei verstand er das Funktionale jedoch nicht als Gegenpol zum Malerischen sondern im Gegensatz als einen möglichen Verursacher einer malerischen Gesamtlösung. Die vielen verschiedenen Nutzungen und die damit notwendig einhergehenden unterschiedlichen Architekturen, mussten nach seiner Meinung zwangsläufig zu malerischen Lösungen führen, da es nicht möglich sei, bei einer Fokussierung auf die Funktion ästhetische Ideale wie Symmetrie oder Einheitlichkeit zu berücksichtigen. Das Ergebnis würde so also durch die entste274 Vgl. Macarthur 2007, S. 198. 275 Pevsner 1944, S. 3. 276 Zit. nach ebd., S. 208. 277 Vgl. Pevsner und Aitchison 2010, S. 20. Aitchison sieht darin eine Verbindung zu Pevsners Ausbildung in Deutschland und den Ideen von Wölfflin und Schmarsow und einem daraus resultierenden „empatischen Architekturverständnis“, das den Betrachter Architektur betrachtend empfinden lässt und so einen Zugang zu ihr schafft. Vgl. ebd., S. 4. 278 Ebd., S. 88.
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henden Materialmischungen, die unterschiedlichen Höhen und die Interaktion der Gebäude mit der vorhandenen Landschaft automatisch malerisch ausfallen. 279 Insofern verstand sich Townscape keineswegs als anti-modernes Konzept sondern lediglich als eine Planungsmethode mit Fokus auf die visuelle Wirkung und ästhetische Aspekte, die dabei aber durchaus auch das Funktionale der Stadt berücksichtigt wissen wollte und so quasi den Versuch eines Brückenschlags unternahm. 280 Townscape wurde meist missverstanden als Befürworter historischer Bauformen und wurde wohl auch deswegen von Zeitgenossen eher abgelehnt und erst in der Postmoderne wieder verstärkt rezipiert.281 Obwohl das Townscape-Konzept also relativ wenige direkte Auswirkungen insbesondere auch auf die Praxis in Deutschland hatte, stellt es doch einen außergewöhnlichen Versuch dar, das Malerische mit dem Funktionalen zu versöhnen. Tatsächlich spielte das Malerische aber außerhalb dieses Konzepts in der Städtebaudebatte der 50er und 60er keine explizite Rolle. In den 1950er Jahren war der Wiederaufbau der zerstörten Städte das beherrschende Thema der Stadtplanung. Spätestens seit den 60ern konzentrierte sich die Planung dann auch auf die funktionsgerechte Weiterentwicklung des Vorhandenen, wobei im Zuge von Flächensanierungen damit verbundene Verluste im Bestand in Kauf genommen wurden. In der DDR wurde 1960 die Stadtsanierung als gesellschaftlicher Auftrag formuliert. Hier ging es nicht mehr um die Wiederherstellung der kriegszerstörten Altstädte im Sinne einer Schließung von Baulücken, sondern um eine flächendeckende Sanierung, die meist mit großflächigen Abrissen des noch vorhandenen Altbaubestands verbunden war. 282 Die Kritik an diesem Vorgehen, die sich ab den 60er Jahren zu formieren begann, war zunächst in erster Linie sozial motiviert und richtete sich gegen die Lebensbedingungen in den neu entstandenen Wohngebieten. Unter dem Stichwort des „Betonfaschismus“ beteiligte sich auch die Studentenbewegung an den Debatten um die Stadt: „Die Stadt des ‚Neuen Bauens‘ wurde nun in fataler Nähe zu Gottfried Feders ‚Neuer Stadt‘ gesehen. Auch im ‚mythischen Glauben an die direkte Einwirkung baulicher Formen auf das Bewußtsein und das Handeln seiner Benutzer‘ wurden Parallelen zwischen Faschismus und Funktionalismus gezogen.“283 Gleichzeitig gingen auch die Kritiker am zeitgenössischen Städtebau von einer zumindest indirekten Beeinflussung des Menschen durch 279 Vgl. ebd., S. 178 und S. 202 und Macarthur 2007, S. 155. 280 Vgl. Pevsner und Aitchison 2010, S. 14. 281 Macarthur verweist hier insbesondere auf Venturi, dessen erste Veröffentlichung in der Architectural Review als Townscape-Studie von Campodogolio betitel war und bei dessen Learning from Las Vegas sich auch Anklänge an das Townscape-Konzept wiederfinden lassen. Vgl. Macarthur 2007, S. 202. 282 Vgl. Andrä 1996, S. 146. 283 Von Beyme 1987, S. 92.
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sein Umfeld aus.284 Damit wurde die Debatte zwangsläufig auch zur ästhetischen Debatte, auch wenn dies zunächst an zweiter Stelle diskutiert wurde. So forderte John Kenneth Galbraith in dem schon erwähnten Vortrag auf dem Deutschen Städtetag 1972 keine konkreten ästhetischen Formen und auch keine Ablösung des Funktionalen durch das Ästhetische, vielmehr forderte er, dass „ästhetische Qualitäten […] gesellschaftsrelevant interpretiert werden“ müssten.285 Als ästhetisches Vorbild für diese neue Gewichtung in der Planung gewannen historische Strukturen und Formen erneut an Bedeutung. Obwohl die sozial begründete Abkehr vom Funktionalismus keine ästhetischen Leitbilder generierte, gewann doch die alte Stadt, sei es als ‚Europäische Stadt‘ oder als ‚Altstadt‘ an Bedeutung und zwar parallel als Folie für ein gedacht positives Zusammenleben in einem gemischten sozialen Gefüge als auch ästhetisch. Im Gegensatz zur Zeit vor dem ersten und auch zweiten Weltkrieg war die alte Stadt dabei mit ihrem „stimmungsvoll historischen Ambiente“ ausschließlich positiv konnotiert, negative Aspekte, wie sie ehemals durch die oft ärmlichen Lebensbedingungen bei der Diskussion um die Altstadt mitschwangen, spielten inzwischen keine Rolle mehr.286 Auf diese Weise kehrte auch das Malerische mit zwei seiner Hauptcharakteristika zurück in den städtebaulichen Diskurs, nämlich zum einen als Formdebatte in Bezug auf die kleinteilige, abwechslungsreiche Architektur, für die die alten Städte Pate standen und die nun auch für den modernen Menschen wieder „Heimat“ werden sollte, zum anderen in Bezug auf den emotionalen Zugang zum gebauten Umfeld in Zusammenhang mit dem wieder auflebenden Interesse an einer als historisch empfundenen Umgebung.287 3.5.4 Städtebauliche Denkmalpflege Nicht nur Stadtplaner waren nach dem zweiten Weltkrieg in der Lage, den Kriegszerstörungen auch positive Aspekte abzugewinnen, auch unter Kunsthistorikern und Denkmalpflegern fanden sich entsprechende Stimmen. So begrüßte noch vor Kriegsende der Düsseldorfer Professor für Christliche Kunst Andreas Hupperts die Zerstörungen der Kölner Innenstadt als „kaum jemals wiederkehrende Möglichkeit“ die „Geschmacklosigkeiten“ der Gründerzeit zu tilgen und ein „im ganzen befriedigendes Stadtbild“ zu erreichen.288 Ästhetisch knüpften diese Vorstellungen weniger 284 Vgl. ebd. und ausführlicher Kapitel 5.2.2.2. 285 Zit. nach Glaser 1985, S. 21. 286 Vgl. Vinken 2010, S. 8. 287 Gerhard Vinken weist darauf hin, dass die als malerisch empfundene Altstadt einhergeht mit einer Authentizitätsbehauptung, die, obwohl Konstrukt, in allen Debatten um die Altstadt mitschwingt. Vgl. Vinken 2010, S. 8. 288 Zit. nach Vinken 2010, S. 162.
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an die Idee der malerischen Altstadt an, als vielmehr an die im Nationalsozialismus propagierte harmonisierte ‚Altstadt‘ einheitlichen Charakters. Paul Clemen äußerte sich 1947 in der Zeitschrift für Kunst über die Aufgaben der Denkmalpflege heute und morgen in ganz ähnlicher Weise. Auch er sah in den Zerstörungen des zweiten Weltkriegs und dem darauf folgenden Wiederaufbau die Chance „unglückliche Lösungen der Vergangenheit zu korrigieren“ und so „das Gesamtbild zu bereinigen“.289 Da die Substanz, an deren Erhalt man sich gebunden fühlte, verloren war, ergaben sich Spielräume zur Entwicklung der Städte, über deren Gestaltung auch Denkmalpfleger nachdachten. Der sächsische Landeskonservator Hans Nadler führte diese Gedanken 1954 weiter aus, indem er ebenfalls die Chance der „Bereinigung des Stadtgebietes von städtebaulichen Sünden der Vergangenheit“ hervorhob, gleichzeitig aber auch Aspekte der historischen Stadt aufzeigte, die er berücksichtigt sehen wollte: „Die leichten Krümmungen in alten Straßenzügen, die wohlüberlegte Folge von Plätzen und Straßen, die Anordnung öffentlicher Gebäude, gibt unseren mittelalterlichen Städten so charakteristische Eigentümlichkeiten und Reize, die wir erhalten wollen.“290
Obwohl das Thema des Wiederaufbaus der Städte also auch in Denkmalpflegekreisen diskutiert wurde, konzentrierte sich die Denkmalpflege in der Praxis nach dem Krieg jedoch in erster Linie auf den Wiederaufbau und die Instandsetzung von Einzeldenkmalen.291 Der Umgang mit größtenteils intakten Altstadtbereichen war noch über lange Zeit von der Herangehensweise der ‚Altstadtgesundungen‘ der 30er Jahren geprägt. So sah beispielsweise die 1960 von Hans Döllgast erarbeitete städtebauliche Planung für die Stadtsanierung Regensburgs die Entkernung der Hofbereiche und eine architektonische Harmonisierung des Stadtbilds zu einem „Ganzen“ vor. 292 Bereits im Laufe der 60er Jahre änderte sich dieses Verständnis von Altstadt aber schrittweise, ausgehend meist von bürgerlichen Initiativen. Außerdem wurden seit Anfang der 70er Jahre sowohl die Denkmalschutzgesetze als auch das Städtebauförderungsgesetz geändert. Ebenso wie die Denkmalschutzgesetze nun auf den Ensemblebegriff eingingen und so ein Umdenken in Bezug auf den Umgang mit städtischen Strukturen erkennen ließen, enthielt auch das Städtebauförderungsgesetz von 1971 neue Regelungen für Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen. Ziel war hier die Beseitigung städtebaulicher Missstände unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Denkmalschutzes. Der Schwerpunkt lag jedoch nach wie vor auf der städtischen 289 Clemen 1947, S. 42. 290 Zit. nach Brandt 2003, S. 128 und 133. 291 Vgl. Brichetti 2009, S. 126. 292 Vgl. Hubel 2007, S. 185.
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Weiterentwicklung, die mit Veränderung gleichgesetzt wurde. Dadurch wurden die Flächensanierungen auch weiterhin als geeignetes Mittel betrachtet und entsprechend praktiziert. Mit der Novelle des Gesetzes 1976 wurde dann stärker der Erhalt vorhandener Strukturen als mögliche Maßnahme betont. Außerdem wurden im Rahmen des Konjunkturprogramms 1975/76 gezielt Gelder zur Objektsanierung bereitgestellt, worin Gottfried Kiesow die eigentliche Grundlage für die Trendwende sieht.293 Die Entwicklung in der DDR fand fast parallel zu der in der Bundesrepublik statt. 1967 rief die sogenannte Torgauer Initiative zur „Verschönerung“ von Städten und Dörfern auf, woraufhin der von der Nationalen Front getragene Wettbewerb Schöner unsere Städte und Gemeinden – mach mit! begründet wurde. Ziel der Initiative war, ein kommunal begründetes Gegengewicht zur ansonsten zentral geleiteten Bau- und Städtebaupolitik zu schaffen, das sich für die Aufwertung der innerstädtischen Bereiche einsetzte.294 Auch gesetzlich verlief die Entwicklung ähnlich wie in der Bundesrepublik. Schon die Verordnung über die Pflege und den Schutz der Denkmale aus dem Jahr 1961 hatte einen Verweis auf „Stadtanlagen, Orts-, Straßen- und Platzbilder, desgleichen stadtgeschichtlich bedeutsame Anlagen wie Stadtumwehrungen, Burganlagen, charakteristische alte Dorf- und Gehöftanlagen, […]“ enthalten. Das 1975 erlassene Denkmalschutzgesetz der DDR umfasste dann explizit den Schutz von „Denkmalen mit Gebietscharakter“ bzw. „Denkmalschutzgebieten“.295 Nach Einschätzung Peter Goralczyks wurde das Bewusstsein für städtebaulichen Denkmalschutz in der DDR allerdings nie „über Absichtserklärungen hinaus entwickelt“.296 Seitens der Bevölkerung wuchs jedoch auch hier das Bewusstsein für einen sensiblen Umgang mit den historischen Stadtkernen, wodurch das Engagement in den Interessens- und Arbeitsgruppen des Kulturbundes für Regional- und Ortsgeschichte und Denkmalpflege stieg.297 Trotz dieses steigenden Engagements sieht Achim Hubel vor allem durch die legislativen Entwicklung der Zeit die Grundlage für ein Umdenken in Bezug auf die städtebauliche Denkmalpflege gegeben, wobei er inhaltlich einen direkten Bezug zur Diskussion um die letzte Jahrhundertwende feststellt.298 Tatsächlich lassen sich in der in den 70ern beginnenden Diskussion verschiedene Parallelen zu der Zeit um 1900 feststellen. 1972 verfassten Studierende der Uni Kiel in Vorbereitung auf den 293 Vgl. von Beyme 1987, S. 230 und Kiesow 1996c, S. 13. 294 Vgl. Andrä 1996, S. 150. 295 Zit. nach Goralczyk 1996, S. 311 f und 307. Sigrid Brandt verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass es sich bei diesem Passus um eine Übernahme aus den früheren Verunstaltungsgesetzen handelt und schließt daraus auf eine angestrebte Synthese von Denkmal- und Heimatschutz in der Anfangszeit der DDR (vgl. Brandt 2003, S. 96). 296 Vgl. Goralczyk 1996, S. 314. 297 Vgl. Andrä 1996, S. 160. 298 Vgl. Hubel 2007, S. 186.
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Konstanzer Kunsthistorikertag die sogenannten Kieler Thesen, die sich mit den Themen der Stadtplanung und Denkmalpflege beschäftigten. Dort wurde unter anderem angeregt, den Denkmalkriterienkatalog um wirkungsästhetische, soziologische und psychologische Aspekte zu erweitern. 299 Wie bereits um 1900 wird also eine ganzheitliche Betrachtung der Stadt und ihrer historischen Dimension propagiert, die getragen wird durch ein starkes gesellschaftliches bzw. soziales Element und dieses mit historischen und ästhetischen Aspekten verbindet. Im selben Jahr wie die Kieler Thesen erscheint mit Uwe Paschkes Idee des Stadtdenkmals auch erstmals wieder ein wissenschaftliches Buch, das die Stadt und ihre potenziellen Denkmaleigenschaften thematisiert.300 Paschke argumentiert in seinem Werk in Bezug auf den Erhalt historischer städtischer Strukturen in erster Linie wirkungsbasiert. So spricht er sich zwar für den Erhalt der historischen Substanz aus, liefert aber auch Lösungsvorschläge für die Fälle, wo ein solcher Erhalt nicht mehr möglich sein sollte: „In solchen Fällen sollte […] versucht werden, zumindest die Fassade zu erhalten, wenn ihr im Gesamt eines Straßenzuges oder eines Platzes eine Bedeutung zufällt; der neue Hauskörper kann dann dahinter im modernen Geschmack erbaut werden. Läßt sich auch die Fassade unter keinerlei Umständen retten, so ist ein völliger Neubau unumgänglich, der dem demolierten Bau in Maßstab und Form anzugleichen ist, ohne ihn direkt zu kopieren. Der Neubau, der durchaus in der architektonischen Formensprache der Gegenwart errichtet werden kann, muß sich dabei allerdings in seiner Proportion und in seinem Rhythmus dem historischen Straßen- und Platzbild harmonisch einpassen und darf nicht als störend empfunden werden.“301
Falls es sich bei dem nicht mehr zu haltenden Gebäude um ein Einzeldenkmal handle, empfiehlt Paschke nach dem Abbruch „die Errichtung einer Kopie unter Verwendung der noch brauchbaren Teile des ursprünglichen Gebäudes“, wobei er davon ausgeht, dass solche Fälle nur in Ausnahmesituationen auftreten würden. 302 Für Paschke besteht der Wert des „Stadtdenkmals“ also neben der Substanz auch in der spezifischen ästhetischen Erscheinung, die er ganz klassisch durch Proportionen, Rhythmen und den daraus entstehenden Bildern generiert sieht. Dies zu erhalten, auch bei einem möglichen Substanzverlust, sieht er als oberstes Gebot an. Dabei betont Paschke jedoch auch die Rolle des vorhandenen Bestands, der schließlich erst „das Gesamtbild einer historischen Stadt ausmacht und ihr den Charakter eines 299 Vgl. Wohlleben 2008, S. 156. 300 Auch Wilfried Lipp stellt fest, dass erst mit Paschkes Buch in den 70ern das Thema wieder aufgegriffen wird (vgl. Lipp 2008, S. 236). 301 Paschke 1972, S. 39 f. 302 Ebd.
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Stadtdenkmals verleiht“.303 Daher kann die „Erhaltung […] sich […] nicht in einer oberflächlichen Konservierung des Stadtbildes, dem für das moderne ästhetische Empfinden eine malerische Wirkung zukommt, erschöpfen […] sondern sie hat dahin zu zielen, auch die Baukörper selbst zu regenerieren.“ 304 Die Altstadt als Stadtdenkmal erschöpft sich also nicht in ihrer malerischen Wirkung, sondern setzt sich aus vielen einzelnen historischen Baukörpern zusammen, die diese malerische Wirkung erst produzieren und möglich werden lassen. Eine „malerische Wirkung“ ohne diesen Bezug zur historischen Substanz wird dabei mit Oberflächlichkeit gleichgesetzt, die zwar erfreut, jedoch keine Begründung oder Motivation für städtebauliche Denkmalpflege sein kann, allenfalls ein erfreuliches Nebenprodukt. Um sich gegen diese Oberflächlichkeit – das Verharren an der Oberfläche des malerischen Bilds – abzugrenzen, ist der Bezug zurück zum einzelnen Baukörper in seiner historischen Integrität notwendig. Dass diese Verbindung zwischen malerischer Wirkung und historischer Substanz dabei durchaus negative Auswirkungen auf die historische Substanz haben kann, die für die malerische Wirkung ohne Relevanz bleibt, zeigt Paschkes Vorschlag zur Sanierung von Altstädten: „Eine Altstadtsanierung wird zunächst darauf zielen, die Bebauung der Höfe der Altstadthäuser, die [...] vor allem im 19. Jahrhundert erfolgte und wesentlich zum Niedergang der Altstädte beitrug, zu beseitigen.“305 In diesem Satz zeigt sich nicht nur die mangelnde Wertschätzung von Bauten des 19. Jahrhunderts. Diese pauschale Formulierung verdeutlicht darüber hinaus, dass Paschke die Altstadt dennoch als sich hauptsächlich durch ihre Straßenbilder konstituierten Körper versteht, was zur Folge hat, dass nicht Sichtbares auch von geringerem Wert ist, unbeachtet seines sozialen bzw. historischen Kontextes.306 Dass auch die kleinteiligen Strukturen, wie sie beispielsweise durch Hofbebauungen entstehen, durch ihre soziale Funktion prägend für eine Stadt sein können (abgesehen von ihrer möglichen historischen Aussagekraft), war eine der Grundideen der behutsamen Stadterneuerung, wie sie erstmals und mit großer öffentlicher Resonanz in Bologna 1973 durchgeführt wurde. Pier Luigi Cervellati wollte in diesem Zusammenhang nicht das Stadtbild Bolognas erhalten, sondern sah in der Stadt „ein[en] Komplex von Gebäuden, Organismen, Menschen und Umweltverhältnissen, die es zu erhalten gilt, physisch und sozial.“307 In diesem Sinne ging die behutsame Stadterneuerung also über eine städtebauliche Denkmalpflege hinaus, die sich 303 Ebd., S. 41. 304 Ebd. 305 Ebd., S. 42. 306 Gleichzeitig knüpft dieser Satz an die Tradition der Altstadtsanierungen der 20er und 30er Jahre an – ohne dem Autor die damit verbundenen sozialen und ideologischen Motivationen unterstellen zu wollen. 307 Zit. nach Brichetti 2009, S. 150 f.
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in erster Linie der baulichen Substanz verpflichtet sah. Dennoch ist auch hier die Tendenz zu beobachten, dass Städte zunehmend komplexer verstanden wurden. Die Idee der gewachsenen Stadt, die in sich die Spuren historischer und sozialer Entwicklungen trägt, gewinnt so im Gegensatz zur harmonischen bzw. harmonisierten Stadt wieder an Bedeutung. Einen Ausdruck und gleichzeitig seinen Höhepunkt fand die neue Sensibilität gegenüber der historischen Stadt im Europäischen Denkmalschutzjahr 1975.308 Hier schlug sich auch der Gedanke der wechselseitigen Beziehung zwischen den Menschen und dem sie umgebenden städtischen Umfeld nieder. Das Deutsche Nationalkomitee zur Vorbereitung des Denkmalschutzjahres formulierte die damit verbundene Motivation in seinem Beschluss über die Konzeption des Denkmalschutzjahres: „Es geht darum, den Menschen vor dem Verlust eines seiner wichtigsten Lebenselemente zu schützen: denn das Weiterbestehen überkommener Bauten und städtebaulicher Strukturen gibt oft den Ausschlag dafür, daß das Gefüge einer Gemeinde sozial, wirtschaftlich und kulturell unversehrt bleibt. Wo diese Bauten und Strukturen niedergerissen werden oder durch entstehende Umbauten ihr Gesicht verlieren, gerät deshalb das gemeindliche Leben in Gefahr.“309
Denkmalpflege wird so auch zur sozialen Aufgabe. Gleichzeitig werden hier wieder die Themen der Verbindung von Mensch und Umwelt aufgegriffen, sowie die Vorstellung des intakten sozialen Gefüges der überkommenen Stadt, Themen also, die schon um die Jahrhundertwende (und davor) – wenn auch in anderem Wortlaut – diskutiert wurden. Das steigende Interesse an der städtebaulichen Denkmalpflege ging also einher mit der Rückkehr zur Vorstellung von Stadt als komplexem und in seinen überkommenen Strukturen auch sozial wertvollem Lebensraum. Da die sozialen Strukturen der Stadt sich in den Bauten widerspiegeln, kann also auch die äußerliche Veränderung (das Verlieren des ‚Gesichts‘) negative Auswirkungen auf dieses Leben haben. Ausgegangen wird von dem Ideal einer intakten Stadt, wobei dieses Intakt-Sein sich durch die enge Verbindung von Mensch und Umgebung sowohl auf bauliche als auch auf gesellschaftliche Aspekte bezieht. Gleichzeitig wird das Bild der Stadt in ihren gewachsenen und damit einmaligen Strukturen zum identitätsprägenden Element: „Die Unverwechselbarkeit des Bildes von Stadt und Land ist eine der wichtigsten Grundlagen für die Bindung des Bürgers an seine 308 Von Beyme führt auf, dass im direkten Anschluss an das Denkmaljahr im Jahr 1976 38 % der Bevölkerung der Meinung waren, dass zu wenig für den Erhalt von Denkmälern getan würde, wohingegen diese Zahl drei Jahre später schon auf 32 % gesunken war. Vgl. von Beyme 1987, S. 232. 309 Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz 2007, S. 82ff.
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Gemeinde und für ein intaktes kommunales Leben.“310 Das „Bild der Stadt“ wird hier also nicht als vermeintlich oberflächlicher Aspekt im Sinne der malerischen Idylle gesehen, sondern als Zugang des Bewohners zu seiner Umgebung und gleichzeitig als visueller Ausdruck historischer und gesellschaftlicher Strukturen. 311 Diese Identifizierung mit der eigenen Vergangenheit über die Ästhetik der alten Stadt greift auch Walter Scheel in seinem Vorwort zum Katalog der Ausstellung Eine Zukunft für unsere Vergangenheit auf, die im Rahmen des Denkmalschutzjahres 1975 veranstaltet wurde: „Unsere Städte stehen in Gefahr, gesichtslos und geschichtslos zu werden. Sie drohen unorganischer, häßlicher, unpersönlicher zu werden. […] Noch gibt es in unserem Land Hunderte von Orten, deren Schönheit jeden Menschen bezaubert. Noch ist Deutschland ein schönes, lebenswertes Land. Helfen wir alle mit, daß dieses schöne Land unseren Kindern und Enkeln erhalten bleibt.“312
Was Walter Scheel auf eher populistische Weise zum Ausdruck bringt, führt August Gebeßler in seinem Beitrag im selben Band genauer und in einem wissenschaftlichen Kontext aus: „Allgemein wurde und wird das Bekenntnis zur historischen Stadt noch immer zuerst geprägt von dem spontanen Erlebnis, das durch den unvergleichlichen Reichtum individueller Gestaltung vermittelt wird: das Unverwechselbare der Hausgesichter, das menschliche Maß und das kleingliedrige Detail der Fassaden, das scheinbar Ungeplante und die räumliche Geborgenheit intimer Plätze und überschaubarer Straßenräume, oder anderswo der repräsentative Ordnungsraum städtebaulicher Neuschöpfungen des 18. und 19. Jahrhunderts, und nicht zuletzt der optische Informationswert in den neuerdings wichtig gewordenen Bauten der Gründerzeit. […] Vieles daran wird oft nur empfindungsmäßig wahrgenommen und gewertet – beispielsweise das Milieu und die Atmosphäre altstädtischer Bereiche. Beide Begriffe werden als Mitfaktoren der Lebensqualität in historischen Stadtkernen heute immer wieder zitiert; sie sind im Detail aber nicht so weit zu konkretisieren, um im Fachjargon einer Sanierungsplanung als Wert eingebracht zu werden. Sie haben aber ihre Ursache – neben dem Alterswert – gerade auch in der anschaulichen Vielfalt und Mannigfaltigkeit humaner Belange, die für die urbanen Bereiche Jahrhunderte hindurch als sicherer Lebensraum gedient haben.“313 310 Ebd. 311 In diesem Sinne hatte auch die Arbeitsgemeinschaft historischer Städte, die 1973 von den Städten Lübeck, Bamberg und Regensburg gegründet wurde, nicht „idyllische Bilder“ als Ziel, sondern wollte die „ganze Stadt“ mit ihren verschiedenen Funktionen und in ihrem komplexen Gefüge erhalten (vgl. Mörsch 2005b, S. 139). 312 Eine Zukunft für unsere Vergangenheit 1975, S. 3. 313 Gebeßler 1975, S. 58.
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Im Grunde führt Gebeßler hier die schon vom Nationalkomitee in der Konzeption für das Denkmaljahr formulierten Gedanken genauer aus. Während in der Konzeption des Nationalkomitees jedoch relativ vage vom Bild der Stadt als Identitätsträger die Rede war und ein Schwerpunkt auf den daraus folgenden positiven gesellschaftlichen Aspekte gelegt wurde, geht Gebeßler den Gründen für die direkte und positive ästhetische Ansprache des Menschen durch die historische Stadt nach. Die Kriterien, die er dem positiven evozierten Gefühl zugrunde legt, geben dabei die Aspekte des Malerischen wieder: das menschliche Maß, die Kleinteiligkeit, der Detailreichtum, das scheinbar organisch Gewachsene. All das zusammen kreiert die altstädtische Atmosphäre, bei der es sich um einen empfundenen, jedoch aufgrund seiner Komplexität nicht genauer definierbaren Wert handelt. Die (malerische) Erscheinung der Städte stellt also für Gebeßler einen spezifischen Wert dar, der aber, um für die Denkmalpflege relevant zu werden noch eines weiteren Aspektes bedarf: „Das Historische einer Altstadt ist wie bei jedem Baudenkmal immer zweierlei: Einmal die historische Erscheinungsweise, die für eine bestimmte Zeit typische Baugestalt der Häuser und auch die kennzeichnende Stadtgestalt, von der so viel die Rede ist; zum anderen aber ist damit die Originalität, das heißt die Tatsache der vorhandenen historischen Substanz gemeint, die es uns überhaupt erst erlaubt, von ‚Altstadt‘ zu reden. Eng gereihte Fassaden, geduckte Erker, Fachwerkgiebel, spitzbogige Haustüren und die Putzgliederung barocker Bürgerhäuser – das alles sind historische Formen, die aber jederzeit so sauber nachgeformt werden können wie ästhetische Qualitäten für eine verordnete Umwelttherapie. Erst die Originalität der Bausubstanz in ihrer ablesbar handwerklichen Handschrift und mit den mehr oder minder ausgeprägten Spuren des Alters dieser Gebäude ist die Geschichte selbst.“ 314
Die Ästhetik des Malerischen kann also nur dann von Wert sein, wenn sie einher geht mit dem original Historischen. So kommt Gebeßler bei aller Wertschätzung für die ästhetische Komponente der Stadt auch zu dem Schluss, dass „Stadtbildpflege“ für die städtebauliche Denkmalpflege nur dann zum Thema werden kann, wenn es sich um die Eingliederung unbedingt notwendiger Neubauten handele.315 Das malerische Stadtbild ergibt sich also quasi zwangsläufig durch die historische Entwicklung der Stadt. Da es ohne diese historische Komponente für die Denkmalpflege keinen Wert hat, reicht es denn auch, sich weiterhin mit dem historischen Wert der Denkmale zu beschäftigen, das den Wert des Malerischen quasi transportiert und höchstens durch außerhalb des eigentlichen Denkmals liegende Neuerungen gestört werden kann. Im selben Jahr wie der oben genannte Katalog und in Anlehnung an das Motto des Denkmalschutzjahres erschien auch der von Gottfried Kiesow, Roland Günter 314 Ebd., S. 60. 315 Vgl. ebd. S. 63.
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und Heinrich Klotz gemeinsam herausgegebene Band Keine Zukunft für unsere Vergangenheit mit dem Untertitel Denkmalschutz und Stadtzerstörung. Ziel des Buches sollte es sein, die durchschnittlichen Beispiele vom Umgang mit der historischen Stadt zu zeigen und ausdrücklich nicht die positiven, wie Heinrich Klotz im Vorwort darlegt. Polemik war von Seiten der Autoren dabei durchaus beabsichtigt.316 Nach Ausführungen zum Thema der historischen Stadt als historischem Gefüge und sozialem Lebensraum geht Gottfried Kiesow gegen Ende des Buches auch auf die Rolle der praktischen Denkmalpflege bei der Altstadtsanierung nach dem Städtebauförderungsgesetz ein. Dazu stellt er „Kriterien für die Bestimmung von Baudenkmalen“ zusammen, deren Prüfung im Rahmen der Vorbereitung zur Altstadtsanierung stattfinden sollte. Die Bewertungen der Bauten nach kunstgeschichtlicher, städtebaulicher, geschichtlicher und technischer Bedeutung differenziert er dabei noch genauer. In Bezug auf die städtebauliche Bedeutung hebt er insbesondere die „Bedeutung für ein Stadtbild oder eine Landschaft“ hervor, betont dabei jedoch gleichzeitig, dass „normative ästhetische Wertekategorien […] von der Denkmalpflege abzulehnen“ seien, da ein einfaches Fachwerkhaus genau so wertvoll sein könne, wie ein prachtvolles Patrizierhaus. 317 Mit ästhetisch normativen Wertekategorien meint Kiesow hier also in erster Linie den klassischen Kanon, was besonders deutlich wird, wenn er wenig später über das Vorgehen bei der Objektsanierung im Rahmen der Altstadtsanierung spricht: „Eindringlich warnen muß man hier vor der üblichen Perfektion und Erneuerungssucht unserer Zeit. […] Der rechte Winkel wie auch die absolute Senkrechte und Waagerechte sind keine Voraussetzung für glückliches Wohnen. Perfektion jeder Art ist der sichere Tod historischer Bauten. […] So müssen auch Objektsanierungen nicht mit übermäßiger Gründlichkeit vorgenommen werden. Eine schiefe Wand kann noch hundert Jahre so stehen, eine durchhängende Decke sehr malerisch wirken.“318
Dass er bei dem von ihm Geschilderten normative Aspekte einer malerischen Ästhetik aufgreift, wird von Kiesow nicht weiter kommentiert. Statt dessen bringt er diese Form des Bauens mit dem „glücklichen Wohnen“ in Zusammenhang, ein Topos, der zu der Zeit – spätestens seit Mitscherlichs Unwirtlichkeit der Städte aus dem Jahr 1968 – auch an anderer Stelle immer wieder aufgenommen wird und zu dem sich nun auch die Denkmalpflege positioniert, die sich als Akteur in diesem weiteren gesellschaftlichen Kontext sieht. Michael Petzet formuliert dies in seinem Beitrag zum Katalog Eine Zukunft für unsere Vergangenheit: „Es geht dabei [beim Denkmalschutzjahr] um unser historisches Erbe wie um sozia316 Vgl. Günter et al. 1975, S. 5. 317 Vgl. Kiesow in Günter et al. 1975, S. 148 f. 318 Ebd., S. 153.
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le, ja selbst psychologische und medizinische Aspekte unseres Lebens, Faktoren, die man heute gerne unter dem Begriff ‚Lebensqualität‘ sieht.“319 Die Städte sieht er dabei als „Sorgenkinder der Denkmalpflege“, die immer mehr zu Ballungsräumen würden und dabei ihre Identität verlören. Der Bürger könne sich mit der eigenen Stadt nicht mehr identifizieren, wobei das Ideal der autogerechten Stadt zu dieser „Unwirtlichkeit der Städte“ – und hier bezieht sich Petzet direkt auf Mitscherlich – beigetragen habe.320 Eine Rückkehr zur historischen Stadt bringt für Petzet also auch gesellschaftliche Vorteile mit sich, die die Denkmalpflege mit ihren Aufgaben im Gegenzug als gesamtgesellschaftliche Aufgabe von höchster Relevanz erscheinen lassen: „Bewahren von historischen Bauten verbindet sich also nicht zufällig mit Schlagworten wie ‚Urbanität‘, ‚Identität‘, ‚Atmosphäre‘, ‚Milieu‘, ‚menschlicher Maßstab‘, ja, eine unter Erhaltung der historischen Substanz vorbildlich sanierte Altstadt könnte geradezu als Modell für die Zukunft erscheinen, nachdem sich die von den Fachleuten geforderte ‚humane Stadt‘ auf dem grünen Rasen einfach nicht einstellen will.“321
Die Altstadt wird also wieder zum gesellschaftlichen und ästhetischen Modell einer idealen Stadt. Gerade diese Vorstellung brachte dem Denkmaljahr aber auch Kritik ein. Bereits während seines Verlaufs kritisierte Michael Brix in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der Besucher der Ausstellung Eine Zukunft für unsere Vergangenheit durch die Gegenüberstellung von Altem und Neuem „mit einer pauschalen Feindlichkeit gegen die Moderne indoktriniert“ würde. 322 Diese Kritik wurde später von Hans-Rudolf Meier aufgenommen, der zwar das Verdienst des Denkmaljahrs herausstellt, „den Denkmalgedanken auf die Stadt ausgedehnt, ihn mit der Stadtplanung verknüpft zu haben“, gleichzeitig aber auch die Frage nach dem vermittelten Bild von Altstadt stellt. Die pauschale positive Bewertung des Alten mit der gleichzeitig negativen Bewertung der jüngeren Vergangenheit sieht er bis heute nachwirken, wenn es um die schwierige Vermittlung des Erhalts von Gebäuden eben jener jüngeren Vergangenheit geht. 323 Tatsächlich wurde die positiv konnotierte alte Stadt als ästhetisch und gesellschaftlich wertvolles Schutzobjekt so auch 1987 in der Charta von Washington zur Denkmalpflege in historischen Städten aufgenommen. Durch sie „soll auch die Harmonie des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens in diesen Bereichen begünstigt und der gesamte kulturelle Besitz, selbst in seinen bescheidensten For319 Petzet 1975, S. 7. 320 Vgl. ebd., S. 13. 321 Ebd., S. 14. 322 Vgl. Meier 2005, S. 4 f. 323 Vgl. ebd.
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men, als historisches Erbe der Menschheit auf Dauer gesichert werden.“ 324 Die alte Stadt mit ihren baulichen aber auch sozialen Strukturen wird hier in alter Tradition als Garant für ein harmonisches Zusammenleben betrachtet. Gleichzeitig ist es das erklärte Ziel der Charta, nicht nur das kunsthistorisch herausragende Objekt zu schützen und zu erhalten, sondern auch die bescheidenen Formen. Zu den „Werten“, die durch die Charta erhalten werden sollen, „gehören der historische Charakter der Stadt und alle jene materiellen und geistigen Elemente, in denen sich dieser Charakter ausdrückt […]“.325 Dieser Charakter konstituiert sich nicht nur durch die baulichen Strukturen, sondern auch durch „die verschiedenen Funktionen, die die Stadt oder der städtische Bereich im Lauf der Zeit übernommen hat. Jede Bedrohung dieser Werte stellt eine Gefahr für die Authentizität der historischen Stadt oder des städtischen Bereichs dar.“ 326 Trotz dieser rigorosen Formulierung ist ein rein erhaltender Umgang mit der Stadt – so lange sie bewohnt wird – kaum möglich, sondern es ist auch hier eine Wertung notwendig, was als erhaltenswert (oder im Sinne der Charta „charakteristisch“) bei einer Stadt betrachtet wird. Gottfried Kiesow formulierte dies knappe zehn Jahre nach der Charta wie folgt: „Dabei kann bloße Konservierung ebenso wenig das Ziel sein, wie wesentliche Veränderungen des historischen Erscheinungsbildes durch Umstrukturierung. […] Der städtebauliche Denkmalschutz hat die Weiterentwicklung des Stadtdenkmals in der Kontinuität der unverzichtbaren Werte bei Erhaltung der Identität zum Ziel.“ 327
Nach der Wende kam es noch einmal zu einer vermehrten Auseinandersetzung mit der historischen Stadt. Die Konfrontation mit vielen, strukturell verhältnismäßig intakten, jedoch stark vernachlässigten historischen Stadtkernen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, ließen die Beteiligten nach neuen Möglichkeiten für deren Erhalt suchen. Zu diesem Zweck wurde 1991 vom Bundesministerium für Raumordnung und Bauwesen das Förderprogramm städtebaulicher Denkmalschutz ins Leben gerufen, das 2008 auslief. 1990 hatte sich zur Entwicklung des Programms in Neuruppin eine Expertengruppe unter der Leitung von Gottfried Kiesow getroffen, die in ihrem Ergebnis die Neuruppiner Erklärung zur Städtebaulichen Denkmalpflege verfasste. Hier wurden die Eckpunkte des Programms festgelegt, durch das nicht nur die Förderung von baulichen Vorhaben an Denkmälern möglich war, sondern das auch dazu diente,
324 ICOMOS 1987, S. 1. 325 Ebd. 326 Ebd. 327 Kiesow 1996c, S. 13.
146 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „die Wohnbedingungen zu verbessern, die traditionelle Vielfalt klein- und mittelständischer Unternehmen zu sichern, Ver- und Entsorgungskonzepte durchzusetzen, Baulücken durch standortbezogen gestaltete Neubauten zu schließen und so neues Leben in alten Stadtstrukturen zu ermöglichen und zu fördern.“328
Das Programm richtete sich zunächst ausschließlich an ausgesuchte ostdeutsche Städte, die „trotz ihres Verfalls noch immer Mitte urbanen Lebens und Orte der Identifikation der Bürger [waren]“ und über „eine weitgehende Geschlossenheit originärer sowie geschichtlich, sozio-kulturell, und städtebaulich-künstlerisch einzigartige[r] Bestände“ verfügten. Zwar sollten daneben auch der Erhalt von Ensembles des 19. und 20. Jahrhunderts in größeren Städten durch das Programm unterstützt werden, die beigefügte Liste der beteiligten Kommunen zeigt aber einen eindeutigen Schwerpunkt auf der historischen „Altstadt“.329 Dies bestätigte Gottfried Kiesow mit seiner Darstellung im Dokumentationsband aus dem Jahr 1996, der mit dem Begriff „städtebaulichen Denkmale[n]“ in erster Linie „mittelalterliche Stadtzentren innerhalb des ehemaligen Mauerrings“ bezeichnet, die „Zeugnisse aus allen Jahrhunderten seit der Gründung enthalten“.330 Innerhalb dieser Stadtdenkmäler identifiziert Kiesow vier Kategorien von Bauten. Zunächst nennt er in der ersten Kategorie die Baudenkmale, die als Einzeldenkmale unter Denkmalschutz stehen. Die zweite Kategorie bilden „Bauten von stadtbildprägender Bedeutung“, die für den Erhalt des Stadtbildes unverzichtbar sind, jedoch keine Denkmale an sich. Die dritte Kategorie beinhaltet Bauten, „die das Stadtbild weder positiv noch negativ beeinflussen“, während die vierte Kategorie schließlich die Bauten beinhaltet, die stören und „nach Möglichkeit bei passender Gelegenheit durch qualitätvolle Neubauten ersetzt werden sollten.“331 Durch die Ersetzung von Bauten aus den letzten beiden Kategorien sieht Kiesow die Möglichkeit zur Weiterentwicklung der Stadt gegeben bei gleichzeitigem Erhalt ihrer baulichen Werte. Obwohl diese von Kiesow gebildeten Kategorien fast ausschließlich ästhetisch argumentieren durch die Rolle, die die betreffenden Bauten für das jeweilige Stadtbild spielen, betont er doch des Weiteren, dass der spezifische Wert eines Stadtdenkmals zwar „zum einen in der stets aktuell bleibenden künstlerischen Bedeutung des Stadtraumes insgesamt wie auch der einzelnen Straßen, Plätze und Bauwerke“ läge, hebt darüber hinaus aber auch den „Erinnerungswert“ historischer Stadtgebiete hervor, „die vom Schicksal vergangener Geschlechter künden“.332 328 Neuruppiner Erklärung, zit. nach http://ebookbrowsee.net/neuruppiner-erklaerung-pdfd219197936, Zugriff 23.8.2013. 329 Vgl. ebd. 330 Vgl. Kiesow 1996c, S. 14. 331 Ebd. 332 Ebd.
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Die staatliche Denkmalpflege argumentiert zeitgleich zum Entstehen des Förderprogramms (das Benita von Perbandt als „Leitbild für die Erneuerung der Innenstädte“ bezeichnet333) in Bezug auf städtebaulichen Denkmalschutz mit sehr viel weniger Bezug zum Ortsbild, sondern stellt die historische Komponente der Stadt in den Vordergrund. 1990 hielt die Arbeitsgruppe Städtebauliche Denkmalpflege der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland in einem Arbeitspapier zu Straßen und Plätzen in historisch geprägten Ortsbereichen fest, dass es gerade nicht die äußerliche Erscheinung, das Stadtbild, sein könne, auf dem der Fokus der städtebaulichen Denkmalpflege läge, da die heute sichtbare Bebauung oft jüngeren Datums als der Platz oder die Straße selbst sei: „Bei der Frage nach der Bedeutung von Straßen und Plätzen für die jeweilige Ortsgeschichte steht daher zunächst nicht die künstlerische Qualität ihrer heutigen Erscheinung im Vordergrund. Vielmehr ist zu fragen, welche meist bescheidenen und vertrauten Bestandteile und Gestaltungselemente der öffentlichen Flächen so viel Zeugniswert besitzen, dass sie wesentlich zum Verständnis der Ortsgeschichte beitragen.“ 334
Der historische Zeugniswert steht also an erster Stelle, auch in Bezug auf die städtebauliche Denkmalpflege. Die Frage, die sich der Denkmalpfleger auf Empfehlung der Arbeitsgruppe nach getaner Analyse stellen sollte, lautet demnach: „Welche Bestandteile der Straße oder des Platzes sind als beachtenswert bzw. als schützenswert einzustufen, weil sie für die Orts- und Straßenbaugeschichte wesentlich und für das Verständnis des heutigen Straßen- oder Platzbildes von Bedeutung sind?“335 Der Fokus des Textes liegt also auf dem Verständnis der Geschichte, die sich im Straßen- und Platzbild zeugnishaft manifestiert. Darüber hinaus wird auch in diesem Arbeitsblatt abschließend hervorgehoben, dass bei baulichen Belangen in der Umgebung der behandelten historischen Straßen und Plätze die „geschichtliche Prägung“ beachtet werden müsse, was je nach Lage in Abstufungen von der Ausweisung und Behandlung als Denkmal bis hin zur „selbstverständlichen Rücksichtnahme auf Charakter und Bedeutung der umgebenden historischen Bebauung“ reichen kann.336 Der Rückgriff auf den nicht näher definierten „Charakter“ der Stadt weist dabei durchaus Verbindungen zum Topos der malerischen alten Stadt auf, scheint jedoch hinter der historischen Bedeutung in den Hintergrund zu treten. Dabei betrachten sich die Akteure der institutionellen Denkmalpflege im Bereich der städtebaulichen Denkmalpflege als Partner der Stadtplanung, indem sie sich zum 333 Vgl. von Perbandt 1996, S. 197. 334 Vereinigung der Landesdenkmalpfleger der Bundesrepublik Deutschland, Arbeitsblatt 4, S. 1. (http://www.denkmalpflege-forum.de/Download/Nr04.pdf), Zugriff 23.8.2013. 335 Ebd., S. 3. 336 Ebd., S. 4.
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Ziel setzen, „die zukünftige Stadtentwicklung an den historischen Bestand unter Wahrung seiner Eigenart und unverwechselbaren Identität an[zu]knüpfen“. 337 Gerade dieses Verständnis einer engen Zusammenarbeit und Einflussnahme führte aber auch zu Kritik an der Denkmalpflege. In Dieter Hoffmann-Axthelms Denkmalpflegegutachten, in dem er sich in erster Linie mit dem Gedanken einer möglichen Entstaatlichung der Denkmalpflege auseinandersetzt, geht der Autor auch auf die städtebauliche Denkmalpflege ein, in der er ein Negativbeispiel für Kompetenzüberschreitungen sieht: „Die neuere Ergänzung der klassischen Denkmalpflege um eine ‚städtebauliche Denkmalpflege‘ […] hat zu der widersinnigen Situation geführt, daß Denkmalpfleger ständig berechtigt bzw. genötigt sind, in Neubauvorhaben einzugreifen. Auf der Ebene des Einzeldenkmals betrifft das den Umgebungsschutz, auf der Ebene der Bereichsdenkmalpflege die Ausweisung ‚geschützte Baubereiche‘. Obwohl die DP [Denkmalpflege] in beiden Fällen recht von der Sache her unterschiedlich legitimiert erscheint, läuft es rechtlich auf das selbe hinaus: Vorgaben für Neubauten zu machen, damit diese nicht das gegebene Bild stören. Der Wunsch ist verständlich und naheliegend. Im Detail führt das aber dazu, daß Denkmalpfleger Architektur machen, was schlechterdings nicht ihre Aufgabe sein kann. Selbst wenn dem einzelnen Pfleger das Problem bewußt ist, wird er sich kaum davor schützen können, unter dem Vorwand, dem DS [Denkmalschutz] zu dienen, persönliche ästhetische Vorlieben und Abneigungen zu betätigen.“338
Das Hauptproblem liegt für Hoffmann-Axthelm also in der ästhetischen Einflussnahme des Denkmalpflegers, die ihm nach seinem Verständnis des Berufsbilds nicht zusteht, sondern seine Kompetenzen überschreitet. Nicht nur die Einmischung in das Neubauprojekt an sich ist verwerflich, sondern die Vermischung einer vermeintlich persönlichen Ästhetik mit der fachlichen Kompetenz und Ausrichtung des Denkmalpflegers. So argumentiert er auch weiter ästhetisch gegen die städtebauliche Denkmalpflege. Der Begriff des Ensembles „verschmilzt historische Diversität zu einem widerspruchsfreien Bild, unterdrückt also genau jene Individualität – und das heißt: jene historische Abfolge individuell ausgeübter Baurechte –, auf der die Schönheit des Zusammenhangs beruht.“339 In der Tat spricht Hoffmann-Axthelm hier ein ästhetisches Problem an, das, wie bereits gezeigt wurde, in Bezug auf das Ensemble durchaus zu diskutieren ist – nämlich die Problematik des richtigen Verhältnisses von Harmonie und Diversität, oder auch der ‚Einheit in der Mannigfal337 Vereinigung der Landesdenkmalpfleger der Bundesrepublik Deutschland, Arbeitsblatt 6, 1990, S. 5. (http://www.denkmalpflege-forum.de/Download/Nr06.pdf; Zugriff 23.08.2013) 338 Hoffmann-Axthelm 2000, S. 16. 339 Ebd., S. 23.
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tigkeit‘, als Zielvorstellung sowohl des Malerischen als auch des klassisch Schönen. Unschlüssig ist jedoch seine Argumentation in Bezug auf die Schönheit der Stadt. So wehrt er sich einerseits gegen ästhetische Urteile seitens der Denkmalpfleger, argumentiert selbst aber ästhetisch in Bezug auf den Wert des Ensembles, indem er in erster Linie den Gebrauch der falschen ästhetischen Maßstäbe kritisiert. 340 In den heftigen Reaktionen, die auf das Gutachten folgten, ging es meist um das dort behandelte Kernthema, nämlich die Vorschläge zu einer Entstaatlichung der Denkmalpflege, teilweise auch um sein Verständnis von Schönheit und Denkmalpflege. Während die direkten Reaktionen meist ablehnend waren und in der vermeintlichen Schönheit des Denkmals günstigstenfalls „geschminkte Fratzen“ 341 und schlechtestenfalls den Versuch einer „Auratisierung des Staates“ 342 sahen, kann man in den darauf folgenden Jahren eine Entemotionalisierung der Auseinandersetzung mit dem Thema Schönheit innerhalb der Denkmalpflege verfolgen, die sich insbesondere im Bereich der städtebaulichen Denkmalpflege niederschlägt. 2005 stellte Georg Mörsch fest, dass die Denkmalpflege „es sich gefallen lassen [muss], Begriffe wie ‚harmonisches Gesamtbild‘ […] auf ihre verbindliche Schutzfunktion befragen zu lassen.“343 Gerade bei besonderen Bauaufgaben, wie beispielsweise Rathausbauten, sei das Harmonische nicht zwingend das passende Kriterium, in solchen Fällen sei verstärkt auf eine öffentliche Auseinandersetzung in Bezug auf den Umgang mit und die Weiterentwicklung von historischen Strukturen zu achten. Damit schlägt er einen konstruktiven Umgang mit ästhetischen Beweggründen vor und wendet sich gegen deren pauschale Ablehnung, auch wenn er den Inhalten kritisch gegenüber steht. Hans-Rudolf Meier setzt sich 2008 mit der Rolle des Bildlichen in der Denkmalpflege auseinander und konstatiert in diesem Zusammenhang ein „präkere[s] Verhältnis“ der deutschen Denkmalpflege zum Thema Stadtbild, das er auf die enge Verbindung mit dem Heimatschutz und dessen ideologische Verflechtungen zurückführt, und setzt sich anschließend mit der darauf basierenden Verneinung des Bildhaften in der Denkmalpflege kritisch auseinander.344 2013 schließlich behandelt Wolfgang Sonne – zwar selbst kein Denkmalpfleger, aber im Kontext des vom BMBF geförderten Forschungsverbunds Denkmal - Werte - Dialog – das Thema und entwickelt 13 Jahre nach Hoffmann-Axthelm eine offensive 340 Schließlich kommt er zum Ende seines Gutachtens zu dem Schluss, die „Schönheit als Denkmalkern“ zu benennen, als „unmittelbares Maß für [den] Denkmalwert“ – wobei er diese Schönheit nicht genauer definiert, außer, dass sie einen „selbstverständlichen Erhaltungswunsch“ mit sich bringt, den die moderne Denkmalpflege aufgrund ihrer Orientierung am historischen Wert überschreite. Ebd., S. 28. 341 Wefing 2000. 342 Rauterberg 2000. 343 Mörsch 2005d, S. 99. 344 Vgl. Meier 2008, S. 12.
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Haltung zu dessen These, indem er feststellt: „Die Schönheit als eine Aufgabe der städtebaulichen Denkmalpflege zu bezeichnen, mag für manche als Provokation, für andere dagegen als banale Selbstverständlichkeit erscheinen.“345 Dabei geht er ganz natürlich davon aus, dass es auch eine Aufgabe der städtebaulichen Denkmalpflege sein müsse, Neubauten zu beurteilen und kommt am Ende seines Artikels zu dem Schluss, dass „Schönheit – welchem Ideal und welchen Kriterien sie auch immer folgen mag – […] also ein hinreichender Beweggrund für städtebauliche Denkmalpflege sein“ könne.346 Genau in diesem Punkt der Ideale und Kriterien liegt aber ein Problem im Umgang mit der Schönheit begründet. In Bezug auf die städtebauliche Denkmalpflege kann man den Wandel der Kriterien nachvollziehen. Während in den 20er und 30er Jahren das Ideal in dem harmonischen Zusammenspiel der Bauten liegt, gewinnen seit den 70er Jahren wieder vermehrt malerische Aspekte an Bedeutung, insbesondere auch in Kombination mit der für das Malerische typischen Verbindung mit dem historisch Gewachsenen und der damit einhergehenden Vorstellung eines gesellschaftlichen Ideals. Diese malerische Ästhetik wird dabei einer kanonischen, formalästhetischen Ästhetik des Schönen gegenübergestellt und schließt doch gleichzeitig an einen implizit vorhandenen Kanon der malerischen Ästhetik mit seiner Kleinteiligkeit und Diversität an. Im Zuge des Programms zum städtebaulichen Denkmalschutz und mit dem dort praktizierten Umgang lässt sich jedoch auch wieder eine Tendenz zur Vereinheitlichung und Harmonisierung feststellen. Die staatliche Denkmalpflege versucht teilweise, das Problem durch einen Rückzug zum Zeugniswert des Denkmals zu lösen und argumentiert beim Umgebungsschutz so nicht mit der Bildhaftigkeit des Denkmals, sondern mit seiner Lesbarkeit. Da die Ästhetik des Malerischen in der ihr traditionell unterstellten Oberflächlichkeit diese Lesbarkeit auch unterlaufen oder verfälschen kann, kommt es immer wieder zur Kritik an der malerischen Schönheit.
3.6 D AS B ILD VOM D ENKMAL – DAS D ENKMAL
ALS
B ILD ?
Wie gezeigt wurde spielen der Begriff des Stadtbilds und die damit verbundene Vorstellung von der malerischen bzw. der harmonischen Stadt eine bedeutende Rolle in Bezug auf die städtebauliche Denkmalpflege. Dabei wird von verschiedenen Autoren immer wieder auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs hingewiesen. Marion Wohlleben bezieht sich 2008 auf die Definition des Begriffs „Stadtbild“ aus dem Lexikon der Kunst (1994), die darunter sowohl den „optischen Eindruck einer Stadt“ versteht, als auch deren „Darstellung“ in einer der Kunstgattungen, die „den 345 Sonne 2013, S. 158. 346 Vgl. ebd., S. 158 und 175.
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Gesamteindruck einer von außen betrachteten Stadt“ vermittelt. 347 Hans-Rudolf Meier erweitert den Bedeutungsrahmen noch, indem er das „Bild der Stadt als Vorstellung“ als weitere Facette mit aufnimmt.348 Alle drei Aspekte existieren dabei parallel zu einander, jedoch nicht streng voneinander abgegrenzt, sondern sich gegenseitig beeinflussend. Dieses Bildhafte ist zwar nicht – zumindest nicht immer und ausschließlich – mit dem Malerischen gleichzusetzen, findet aber eine Schnittmenge damit in der Konzentration auf die Wirkung des Gesehenen auf den jeweiligen Betrachter. Gleichzeitig lässt sich diese Feststellung vom Begriff des Stadtbildes auch auf das Bild bzw. die Bildhaftigkeit des Denkmals im Allgemeinen übertragen. Das konkrete Bild vom Denkmal kann Auswirkungen auf unsere Vorstellungen und den Umgang mit den jeweiligen Objekten haben. Diese Erkenntnis wurde schon früh dazu genutzt, die Popularität denkmalpflegerischer Projekte zu steigern. Ein frühes Beispiel einer groß angelegten Öffentlichkeitsarbeit in Form einer Bildoffensive stellt das von Sulpiz Boisserée initiierte ‚Domwerk‘ dar. Die Ansichten, Risse und einzelne Theile des Doms von Köln erschienen zwischen 1821 und 1831 als eine Sammlung von Kupferstichen, die den Kölner Dom in einem vollendeten Zustand darstellten, um so Unterstützer für die Domvollendung zu gewinnen. Seine Motivation, ein solches Werk zu schaffen, legt Boisserée wie folgt dar: „Um aber das Bedürfnis der Anschauung, welches sich bei Untersuchungen über Gegenstände aus dem Gebiete der Kunst als das erste und wesentliche aufdringt, auf eine wahrhaft förderliche Weise zu befriedigen, und um einen Eindruck hervorzubringen, der einigermaßen der Erhabenheit des Gegenstandes entspräche, und fähig, die Aufmerksamkeit dauernd zu fesseln, bediente ich mich aller Vortheile, welche die Zeichen- und Kupferstecherkunst neuerer Zeit darbietet, und […] scheute ich keine Bemühungen und Aufopferungen, das Werk mit der größten Pracht auszustatten.“349
Die unterstützende Wirkung von Bildern, die das Gewünschte in seiner besten Form veranschaulichen, ist also ein verhältnismäßig altes ‚Werbemittel‘. Dabei wurde diese Methode natürlich auch ganz alltäglich geschäftlich von Architekten und Landschaftsarchitekten genutzt, die ihre zukünftigen Werke in Ansichten veranschaulichten. Das hier erwähnten Beispiele des Kölner Doms zeichnet sich aber dadurch aus, dass es nicht nur ein mögliches Aussehen des fertiggestellten Gebäudes vor Augen führt, sondern diesen Zustand als schon einmal in der Vergangenheit gegeben vermittelt. Dies kommt beispielsweise durch den Einsatz mittelalterlich gekleideter Staffagefiguren zum Ausdruck. Dadurch wird das Gebäude nicht wie 347 Zit. nach Wohlleben 2008, S. 50. 348 Vgl. Meier 2008, S. 15. 349 Boisserée 1823, S. II.
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die abstrakte Planung eines architektonischen Projekts dargestellt, sondern als Teil städtischen und gesellschaftlichen Lebens. Durch die mittelalterliche Kleidung wird nicht nur eine historische Legitimation im Sinne eines ‚So-hätte-es-sein-sollen‘ produziert, sondern die Personen ermöglichen dem Betrachter auch einen emotionalen Zugang zum Gesehenen. Als bildstrategische Weiterentwicklung kann man die Gegenüberstellung zweier verschiedener Ansichten desselben Objekts bzw. Orts in einer Positiv- und einer Negativ-Version betrachten. Auch hier wird die Bildwirkung des als positiv Hervorgehobenen gesteigert, allerdings nicht nur durch die Darstellung eines belebten Idylls, sondern durch die Gegenüberstellung mit dem Negativen. Der Landschaftsarchitekt Humphry Repton nutzte diese Methode Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Red Books, in denen er für seine Kunden Vorher- und Nachher-Ansichten der von ihm zu gestaltenden Parks gegenüber stellte, um so den möglichen ästhetischen Gewinn zu veranschaulichen. Während es sich hier also um Anschauungsmaterial für einen bestimmten Auftraggeber handelte, setzte der Architekt August Welby Northmore Pugin das Stilmittel der Gegenüberstellung in seiner 1836 erschienenen Publikation Contrasts: Or, A Parallel Between the Noble Edifices of the Fourteenth and similiar buildings of the present day, shewing the present decay of taste ein, um einer breiten Leserschaft seine These vom geschmacklichen Verfall der Gegenwart zu veranschaulichen. Dabei stellt er verschiedene Gebäudetypen bzw. Ausstattungselemente einander gegenüber, wobei eines jeweils für die zeitgenössische Formensprache steht, während das andere das gotische Ideal verkörpert, wie bei Boisserée gerne durch Staffagefiguren bevölkert. Pugins Ziel war es dabei, nicht nur die Formensprache darzustellen, sondern ein Verständnis für die gesamte Gedanken- und Gefühlswelt der Zeit zu schaffen, da nur so eine Wiederherstellung der Kunst auf diesem Niveau möglich wäre: „[A]nd it is by studying the zeal, talents and feelings, of these wonderful but despised times, that art can be restored, or excellence gained.“350 Auch hier geht es also bewusst um ein Nachempfinden des Vergangenen, um einen emotionalen Zugang, der durch den Einsatz von Bildern erleichtert wird. Anfang des 20. Jahrhunderts griff Paul Schultze-Naumburg die Methode in Deutschland wieder auf. In den Jahren 1901 bis 1917 veröffentlichte er in neun Bänden die Kulturarbeiten. Auch Schultze-Naumburgs Motivation war, ähnlich wie zuvor bei Pugin, dem Betrachter das „allgemein anerkannte Bauelend“ vor Augen zu führen, indem zeitgenössische Bauten älteren des gleichen Typs gegenübergestellt wurden.351 Die neun Bände handelten verschiedene Architekturgruppen ab, 350 Pugin 1836, S. 35. 351 Zit. nach Borrmann 989, S. 27 ff; Borrmann betont außerdem an anderer Stelle, dass nicht bekannt ist, ob Schultze-Naumburg das Werk Pugins bekannt war, was einen Vergleich der beiden jedoch nicht hinfällig werden lässt; vgl. ebd., S. 26.
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beginnend mit dem Hausbau über Städtebau, Schlösser, Landschaftsgestaltung bis hin zum Industriebau, den Schultze-Naumburg keineswegs als zwingend unästhetisch einstufte. Dabei richteten sich die Bücher mit ihrer einfachen Schreibweise und einem erschwinglichen Preis von 3 Mark explizit an ein breites Publikum. 352 Die Verwendung des Bildmaterials zur Unterstreichung der Hauptthesen sollte noch zusätzlich dazu beitragen. Schultze-Naumburg legte großen Wert auf die Verwendung von Fotografien anstelle von druckgrafischen Darstellungen. In seinen Lebenserinnerungen hebt er hervor, dass er durch das Medium der Fotografie eine Objektivität herzustellen glaubte, der sich niemand entziehen könne, „die Methode des sichtbaren Augeneindruckes mit Hilfe des Lichtbildes als Beweis für gut und schlecht“.353 Das Bild wird von Schultze-Naumburg also als Medium benutzt, dem er eine universelle Verständlichkeit zuschreibt. Schultze-Naumburgs Kulturarbeiten wurden breit rezipiert, insbesondere in bildungsbürgerlichen Kreisen, und werden in der Forschung als prägend für das Architekturverständnis ihrer Zeit angesehen. 354 So sieht Norbert Huse, trotz der fehlenden Äußerungen Schultze-Naumburgs zum Denkmalschutz in dessen Kulturarbeiten, doch zumindest einen indirekten Einfluss, da seine Schriften „in ganz neuartiger Intensität und Differenziertheit die Bedeutung von Bauwerk und Umgebung ins Bewußtsein gehoben [haben]. Auch für Erscheinungsformen der Architektur, für die sich vorher kaum ein deutscher Denkmalpfleger als zuständig betrachtet hätte, […] hat Schultze-Naumburg der Fachwelt wie dem Publikum den Blick geschärft, ja oft erst geöffnet.“ 355 Direkte Auswirkungen auf die Denkmalpflege macht Gerhard Vinken aus, der den Einfluss von Schultze-Naumburgs Kulturarbeiten auf Dvořáks Katechismus der Denkmalpflege „noch in der Anordnung der Abbildungen“ nachvollzieht.356 Dvořák selbst sah über den Einsatz von Bildern für die Denkmalpflegevermittlung hinaus auch noch eine weitere Verbindung zwischen Denkmal und Bild, und zwar die Prägung der Denkmalwahrnehmung durch die Betrachtung von Bildern. In seinem Text Denkmalpflege in Österreich aus dem Jahr 1911 stellt er fest:
352 Vgl. Borrmann 1989, S. 25. 353 Zit. nach ebd., S. 26. 354 Vgl. ebd., S. 59. 355 Zit. nach ebd., S. 63. 356 Vinken 2010, S. 86. In der Tat arbeitet auch Dvořák im Abbildungsteil seines Katechismus mit dem System von Beispiel und Gegenbeispiel, bei denen es sich meist um Vorher- und Nachheransichten handelt, die missglückte Eingriffe in alte Strukturen verbildlichen sollen. Wie Schultze-Naumburg strebte Dvořák für sein Werk eine möglichst weite Verbreitung an, die Verwendung der plakativen Bildbeispiele sollte dies wohl begünstigen.
154 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Wer sich darüber Klarheit verschaffen will, was uns an alten Städten, an alten Bauwerken und Landschaften, die mit architektonischer Staffage versehen sind, interessiert und packt, der braucht nur – um die letzten Stadien zu nennen – den Weg zu wandeln, der etwa von Guardi zu Turner, von Turner zu Whistler führt.“ 357
Das durch die Malerei geprägte Sehen macht also erst empfänglich für den Blick auf die (malerische) Stadt. Dass sich Dvořák bei seiner Aufzählung vor allem auf die jüngere Malerei seiner Zeit bezieht – obwohl er diese nur als die letzten Stadien betrachtet – mag eine Anspielung auf Alois Riegl sein, der schon zuvor eine Nähe zwischen modernem Denkmalkult und moderner Landschaftsmalerei konstatiert hatte. Den gemeinsamen Nenner sieht Riegl vor allem in der sowohl durch die Malerei als auch bei dem Betrachten von Denkmalen suggerierte Stimmung. Offensichtlich werden diese Gedanken, die Malerei und Denkmalwahrnehmung in einen engen Zusammenhang zu stellen, anhand seiner Beschreibung Salzburgs aus dem Jahr 1904: „Wer es aber etwa von der Terrasse der Höllbrauerei in warmer Abendbeleuchtung betrachtet, dem enthüllt sich ein entzückender Farbenakkord. Aus grünem Gebüsch steigen die gelben Wände auf, bekrönt von rotem Dache, das in den blauen Himmel einschneidet, – alle Farbenzonen gefaßt und getrennt durch ruhige horizontale und vertikale Linien; ein stiller reiner Kunsteindruck, voll besänftigender und andachtsvoller Stimmung für den Beschauer. Oder wer jemals vom oberen Salzachkai die Müllnerkirche mit ihrem spätgotischen Chor und dem barockisierten Turme als Silhouette im Abendsonnenglühen geschaut hat, wird den unsäglichen Stimmungseindruck niemals vergessen.“358
Auch wenn Riegl die Gebäude historisch einordnet, so nimmt doch den Hauptteil die Beschreibung des Gesehenen ein, die, fernab jeglicher stilistischen Einordnung, in ihrer Terminologie („Farbzonen“, „horizontale“ und „vertikale Linien“) eher an die Beschreibung eines Gemäldes als an die einer realen Stadtansicht denken lässt. Der Schwerpunkt Riegls liegt in der Beschreibung des optischen Reizes, der den Stimmungswert ausmacht und der sowohl einer realen als auch einer gemalten Stadtansicht eigen sein kann. Das Verhältnis von Bild und Denkmal ist also ein zumindest zweiseitiges. Zum einen wurden und werden Bilder des Denkmals genutzt, um dieses populär zu machen, zum anderen wird unsere Wahrnehmung des Denkmals und damit auch unser Umgang mit diesem durch bereits existierende Bilder beeinflusst. In jüngster Zeit wird das Verhältnis zwischen Denkmalen und Bildmedien verstärkt thematisiert. Barbara Thiele untersuchte 2013 die Abbildungen von Bau357 Dvořák 1911, S. 72. 358 Riegl 1995d, S. 131 f.
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denkmalen in denkmalpflegerischen Publikationen aus der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis zum Denkmaljahr 1975 und kam dabei zu dem Schluss, dass der Einsatz bzw. die Form des Einsatzes von Bildmedien zu einer langfristigen Reduktion der Denkmale auf ihr äußeres Erscheinungsbild führte: „Diese Komplexitätsreduktion ist […] nicht erst symptomatisch für die heutige Zeit, sondern fand bereits nach dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichsten Publikationsformen sprachlich und vor allem bildlich Ausdruck.“359 Mit dieser Aussage stellt sie sich nicht nur gegen die These, in der verstärkten Fokussierung auf die Bildwirkung von Denkmalen eine Entwicklung der neusten Zeit zu sehen, sondern spricht der Denkmalpflege durch den gezielten – aber meist wenig reflektierten – Einsatz von Bildmedien zumindest eine Mitschuld an dieser Entwicklung zu.360 Kritik an der Bildpolitik der Denkmalpflege in diesem Umfang ist neu, auch wenn sich in Ansätzen immer wieder kritische Stimmen finden lassen. Insbesondere die bereits erwähnte Ausstellung Eine Zukunft für unsere Vergangenheit aus dem Denkmaljahr 1975 sorgte diesbezüglich für Unmut. So stellt Georg Mörsch 1992 in diesem Zusammenhang die Frage: „War es etwa geschickt, im Jahre der Denkmalpflege 1975 mit einer Fotoausstellung durch die Lande zu ziehen, in welcher die ästhetischen Vorzüge historischer Bausubstanz unbarmherzig mit einer tendenziösen Auswahl von modernen Unsäglichkeiten konfrontiert wurden? Damit hat man gleich mehreren Missverständnissen Nahrung gegeben. Zum einen wurde die Öffentlichkeit in der falschen Meinung bestärkt, Denkmäler seien hauptsächlich oder nur wegen ihrer uns heute erschliessbaren Schönheit erhaltenswert, und zum anderen wurden Architekten in der hartnäckigen Meinung bestärkt, ihr Entwurf müsse nur genügend ‚schön‘ sein, um den Altbau, der noch auf dem Grundstück steht, entbehrlich zu machen.“ 361
Diese Kritik ist natürlich berechtigt, dennoch muss man bedenken, dass die Ausstellung in dieser Form sowohl an gängige denkmalpflegerische Darstellungsweisen, wie in Dvořáks Katechismus, anknüpfte als auch an zeitgenössische Bildstrategien, wie beispielsweise im 1964 erschienenen Buch Die gemordete Stadt von Wolf Jobst Siedler mit Fotografien von Elisabeth Niggemeyer. Auch wenn Siedlers Zielstellung nicht denkmalpflegerisch war – ihm geht es in erster Linie um eine funktionierende und lebenswerte Stadt – so findet sich hier doch dieselbe Bilderwelt wie bei der Ausstellung von 1975. So ist bei der Kritik an der bildlich transportierten Aussage der Ausstellung zu beachten, dass man vielleicht in Ermangelung einer ande359 Vgl. ebd., S. 192. 360 Vgl. ebd. S. 182 ff. 361 Mörsch 2005d, S. 89. Das Zitat stammt aus einem Vortrag, den Mörsch 1992 im Rahmen eines Symposiums zum neuen Bauen im histoirschen Kontext 1992 in Dresden hielt.
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ren, differenzierten Bildsprache auf Bewährtes zurückgriff und sich tradierter Bildmechanismen bediente. Die Kritik an dieser Form des Bildgebrauchs macht sich daran fest, dass die gesehenen Bilder Rückwirkungen darauf haben, was wir vor Ort wahrnehmen, also auf unser mentales Bild der realen Stadt. Wird dieses zu eindimensional, so die Kritik, würde das langfristig dazu führen, dass auch unsere Städte eindimensionaler und homogener würden und sich sukzessive das reale dem mentalen Bild anpasse. Georg Mörsch versuchte diese Problematik bereits 1989 in der Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Ortsbild‘ darzulegen, indem er von einer bereits in dem Begriff ‚Bild‘ angelegten potenziellen Wiederholbarkeit ausgeht, die von auflösender Wirkung für den sich auf Authentizität und Originalität beziehenden Denkmalbegriff sei.362 Auch an anderer Stelle hebt er diesen Unterschied zwischen der Reproduzierbarkeit des Bilds und der Einmaligkeit des Denkmals hervor: „Bei der Erinnerung an die historische Stadt dürfen wir nicht nur ein Bild wahrnehmen. Das Bild allein würde uns in einer Zeit von ungeahnter virtueller Bildverfügbarkeit letztlich zu ähnlicher Unverbindlichkeit verführen wie der künstliche Stadtentwurf auf dem Computerbildschirm. Wir müssen in der historischen Stadt das Abbild, den Rahmen und den Ort unwiederholbarer und deshalb verantwortungsbeladener Handlung begreifen.“ 363
Während Mörsch sich hier auf einer theoretischen Ebene mit dem Problem der Nicht-Reproduzierbarkeit des Denkmals auseinandersetzt und am Bildhaften in erster Linie das Zurücktreten des Werts der Substanz kritisiert, sind es vielerorts konkrete ästhetische Folgen auf die Stadt, die kritisch betrachtet werden. In Bezug auf die Ergebnisse des Förderprogramms städtebauliche Denkmalpflege stellt HansRudolf Meier 2010 eine Angleichung der realen Stadtbilder unter einander fest, die er auf eine ähnliche ästhetische Sozialisation der Akteure zurückführt: „Wenige Akteure, die alle über einen ähnlichen kulturellen und beruflichen Hintergrund verfügen und ähnliche Bilder von Stadt haben, hatten die Gelegenheit, diese in der Praxis umzusetzen, um realiter homogene Städte zu schaffen, die nun wiederum anschaulich Stadt- und Denkmalbilder von zuvor nie dagewesener Einheitlichkeit prägen und vermitteln.“ 364
Schärfer formuliert diesen Gedanken Ulrike Wendland, die durch das Förderprogramm das rekonstruktionsfreudige Leitbild der schöpferischen Denkmalpflege der DDR-Zeit nachwirken sieht, womit aber auch gleichzeitig der Wille der Öffentlich362 Vgl. Mörsch 1989, S. 135. In seiner Bedeutungszuweisung für das Wort Bild beruft sich Mörsch dabei auf das Wörterbuch der Gebrüder Grimm. 363 Ders. 2005b, S. 143. 364 Meier 2010, S. 51 f.
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keit befriedigt würde. Insbesondere Stadtfotografien des 19. und 20. Jahrhunderts würden als Vorbilder zur Stadtgestaltung herangezogen. 365 Hier geht es also nicht mehr um die vage Vorstellung einer alten Stadt mit Marktplatz, Blockrandbebauung und Bepflanzung, sondern um konkrete historische Abbildungen, die in der Realität nachgeformt werden. Trotz dieser verschiedenen problematischen Aspekte im Umgang mit dem Thema des Bildes in seiner ganzen Vielschichtigkeit wird es der Denkmalpflege dennoch nicht möglich sein, sich der Bildlichkeit komplett zu verschließen. Vielmehr zeigt die Erfahrung – wie beispielsweise im Zusammenhang mit dem Denkmaljahr oder auch den Ergebnissen der städtebaulichen Denkmalpflege –, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema vonnöten ist, um die Denkmalpfleger ‚bildkompetent‘ werden zu lassen. Michael Petzet sah in diesem Zusammenhang bereits 1994 neue Herausforderungen, indem er den Authentizitätsbegriff der Charta von Venedig nicht nur auf „das authentische Material der Denkmäler, sondern auch [auf] ihre authentische Gestalt, ihr authentisches Bild“ anwendbar sah – wobei unklar bleibt, worin diese Authentizität des Bildes besteht.366 Der Umgang der Denkmalpflege mit diesen Herausforderungen wurde erstmals auf einer Tagung der Landesdenkmalpfleger zu dem Thema Das Denkmal als Bild 2001 in Halle breit erörtert. Im Rahmen der Tagung wurde das Thema unter den verschiedenen Aspekten seiner Bedeutung diskutiert, also sowohl im Sinne der Abbildung des Denkmals, als auch im Sinne des Bilds als Vorstellung vom Denkmal. Peter Findeisen hebt vor allem letzteres hervor, wenn er betont: „ebenso orientierend wie regulierend wirkt doch ein Bild als Vorstellung vom Denkmal, mir selbst und jedem von Ihnen zustande gekommen aus Kenntnissen und Erfahrungen und im Bezug zum jeweiligen Gegenstand scharf gezeichnet. Ob uns ein Denkmal gefällt oder nicht, verständlich wird oder nichts sagt, ist sehr wesentlich aus dieser Bildvorstellung gespeist.“ 367
Weiter schließt er daraus, dass auch die „Besonderheit eines Denkmals zu erkennen, […] eng mit einer Bildvorstellung davon verknüpft“ sei.368 Sich der bildhaften Komponenten des Denkmals zu verschließen, kann demnach für die praktizierende Denkmalpflege nicht sinnvoll sein. Stattdessen wirbt Findeisen für die bewusste Entscheidung zwischen verschiedenen Bildern in dem Bewusstsein dessen, was durch sie transportiert wird. Am Beispiel einer Fassadengestaltung erläutert er dies, indem er zwischen den Möglichkeiten einer Verbildlichung der verschiedenen Umbauten zum einen und der Darstellung eines Zustandes zum anderen unterscheidet. 365 Wendland 2010, S. 111. 366 Petzet 1994, S. 15. 367 Findeisen 2002, S. 24 f. 368 Ebd.
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Die Entscheidung zwischen beidem sei durchaus auch eine ästhetische und von Fall zu Fall abzuwägen.369 Hanno Rauterberg schließt sich dieser Meinung prinzipiell, wenn auch auf abstrakterer Ebene an. So ist es nicht die enge Verbindung zwischen Bild und Denkmal, die er kritisiert, sondern eine mögliche Versteifung auf lediglich ein Bild: „Die Aufgabe des Denkmalpflegers ist es also, vor allem die[se] Offenheit des Denkmals zu bewahren. Dass ein Denkmal nie ein Bild, sondern immer viele Bilder wachruft, dafür muss er sorgen und werben.“370 Zwei Jahre nach der Tagung in Halle griff Holger Brülls das Thema nochmals im Rahmen der Veranstaltung Nachdenken über Denkmalpflege auf. In seinem kontrovers aufgenommenen Beitrag Das Denkmal als Text oder Bild beschäftigt er sich zwar vordergründig mit der Metapher des ‚Lesens‘ von Denkmalen, geht dabei aber ausführlich auf deren Bildhaftigkeit ein, die er dagegen in Stellung bringt. So stellt er gleich zu Beginn seines Vortrages fest: „Das Denkmal ist seiner Natur nach […] ein Bildmedium. Wer für seine substanzielle Erhaltung eintritt, tut dies, hoffentlich, im Interesse von Anschaulichkeit. Und trotzdem gerät immer wieder die Phraseologie des Lesens in den Mittelpunkt der Argumentation.“ [Hervorhebungen im Original]371 Brülls polarisiert hier zwischen zwei Herangehensweisen, nämlich einer, die in dem Denkmal die historische Quelle sieht, und einer, die in ihm in erster Linie ein architektonisch-künstlerisches Werk betrachtet. Zwar sieht Brülls durchaus Schnittmengen in beidem, jedoch sieht er auch die Möglichkeit, dass das architektonische Werk durch sein Verständnis als historische Quelle gestört werden könnte: „Zugegeben: ‚Lesen‘ ist ja auch nur eine Methapher, und sie geht ja am Kern der Sache auch keineswegs vorbei. Lesen meint natürlich eine besondere, eine intellektuell animierte Art des Sehens [Hervorhebung im Original]. Sie ist durch erhöhte Aufmerksamkeit begleitet und schärft ihr Wahrnehmungsvermögen zusehends am Gegenstand, so dass diesem potenziell unendlich viel Gedachtes als Bedeutung eingelesen wird. Das alles aber führt der Tendenz nach weg vom bloß Baulichen, vom Sichtbaren [Hervorhebung im Original], vom Eigenen der Architektur, hinaus in das weite Feld der Geschichte, die ihrerseits weit mehr ist als nur Baugeschichte.“372
Die Betrachtung des Denkmals als Quelle führt also nach Brülls zu einer fragmentarischen Präsentation, die seine Wirkung als Werk zerstört (bzw. zerstören kann). Eben dieser Punkt seiner Argumentation wird ein Jahr später von Hans-Rudolf Meier kritisiert. Ähnlich wie zuvor schon Findeisen, sieht Meier in der Sichtbarma369 Vgl. ebd., S. 29. 370 Rauterberg 2002, S. 56. 371 Brülls 2003, S. 1. 372 Ebd.
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chung verschiedener Zeitschichten im Denkmal nicht nur den Ausdruck einer der Substanz verpflichteten Denkmalpflege, sondern auch eine Anknüpfung an ästhetische Vorbilder, die sich zwar nicht an der Ästhetik des Gedankens der Harmonie des Originals orientieren, ihre Vorbilder aber beispielsweise im Fragmentarischen, der Collage, der Ruinenromantik oder der Spolienverwendung finden. 373 Bernd Euler-Rolle setzt sich mit dem Problem – wenn auch nicht in direkter Reaktion auf Brülls – noch auf eine andere Weise auseinander. So betrachtet er die oben beschriebene Trennung zwischen Bild und Quelle als Ergebnis einer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Denkmalpflege als ‚bipolarer‘ Wissenschaft, beginnend bei Dehios „geistig-körperlicher Doppelnatur“ des Denkmals bis hin zur Trennung zwischen „historischer Substanz“ und „ästhetischer Präsenz“ durch Alfred Wyss 1993.374 An diese Analyse anschließend formuliert Euler-Rolle seinen Standpunkt, dass die Denkmalpflege sich trotz dieses schon traditionellen wissenschaftlichen Selbstverständnisses nicht zwischen Substanz und Bild hin- und hergerissen zu fühlen brauche. Schließlich sei in der Bestandsanalyse auch die Bildanalyse als wissenschaftlich fundierte Herangehensweise im theoretischen Rahmen der Denkmalpflege verankert. Statt eines scheinbaren Verzichts auf Bilder und Bildhaftigkeit spricht sich Euler-Rolle vielmehr für eine Öffnung hin zu neuen Bildformen aus, die in der Folge auch in der Lage seien, andere Bildinhalte (wie beispielsweise den der Zeitlichkeit) zu transportieren.375 Ähnliches fordert auch Hans-Rudolf Meier. In der Konsequenz lehnt er die Nutzung von Bildern für die Denkmalpflege keineswegs ab, ist aber gegen die Verengung auf „Bilder mit harmonischer Schönheit“, da damit die Gefahr einhergehe, dass Denkmalpflege als Schönheitschirurgie wahrgenommen würde. 376 Außerdem regt er eine verstärkte Beschäftigung mit der dem Bild inhärenten Mehrdimensionalität an, wodurch er sich auch neue Ansätze zum Thema Bild und Denkmal erhofft: „Der Körper als Medium und das Bild als mehrdimensionales Gebilde, als etwas, das mehr zeigt, als sich sagen lässt: Das sind Ansätze der jüngeren Kunst- und Kulturwissenschaft, die helfen können, die beinahe ikonoklastische Blockierung der Denkmalpflege zu lösen und ihr eine auch theoretische Beschäftigung mit dem Stadtbild zu ermöglichen.“ 377
373 Vgl. Meier 2004, S. 98 und ders. 2008, S. 13. 374 Vgl. Euler-Rolle 2010, S. 91. 375 Vgl. ebd. S. 97 f. 376 Vgl. Meier 2004, S. 99. Als Positivbeispiele nennt Meier die Fotografien von Max und Hilla Becher, die nach seiner Auffassung maßgeblich zur Akzeptanz von Industriedenkmalen beigetragen haben. 377 Meier 2008, S. 14.
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Insgesamt zeigt die Beschäftigung mit dem Thema der Bildlichkeit des Denkmals und deren Indienstnahme Parallelen zur allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Thema Ästhetik und Schönheit in der Denkmalpflege. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten findet hier auch eine reflektierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ästhetischen (Ideal)Vorstellungen und ihrem Bezug zum Denkmal statt, die in jüngster Zeit auch Potenziale von ‚Denkmalbildern‘ erkennt, sofern sie nicht der Eindimensionalität anheimfallen. Inwieweit sich diese Potenziale auch auf einen Umgang mit dem Thema der Schönheit des Denkmals übertragen lassen – im Sinne einer prinzipiellen Offenheit gegenüber verschiedenen Vorstellungen und Idealen von Schönheit und dem, was dadurch transportiert wird – wird noch zu diskutieren sein.
3.7 K RITIK
AM M ALERISCHEN : D AS O BERFLÄCHLICHE UND DER V ORWURF DES E SKAPISMUS
Seit seiner Etablierung als ästhetische Kategorie im 18. Jahrhundert hat der Begriff des Malerischen einen erheblichen Bedeutungswandel erlebt. Während er im Rahmen des ästhetischen Diskurses des 18. Jahrhunderts dem klassischen Schönheitsbegriff zur Erklärung ästhetischer Phänomene gegenübergestellt wurde, entfernte er sich im Laufe der Zeit von diesem theoretisch verankerten Kontext und wurde im Zuge dieser Entwicklung zunehmend als weniger wertvoll, oberflächlich und trivial empfunden. Wie Macarthur in seiner Studie über das Malerische darlegt, führte diese Entwicklung dazu, dass der Begriff ‚malerisch‘ heute im alltäglichen Sprachgebrauch eher als Synonym für ästhetische Trivialität benutzt wird, denn als Bezeichnung für eine spezifische ästhetische Qualität. 378 Gleichzeitig kann man diese Entwicklung auf einen entsprechenden Aspekt des Malerischen zurückführen, der dem Begriff von Anfang an anhaftete und im Laufe der Zeit an Gewicht zunahm. Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Malerische in England als Sinnbild einer freien, liberalen Gesellschaft interpretiert, wie Malcolm Andrews anhand des städtebaulichen Diskurses zur Hauptstadt London darlegt. 379 Auch eine politische Symbolik des Malerischen kann in England auf eine längere Tradition zurückblicken. Schon bei Price findet sich der Gedanke des Malerischen – hier in Bezug auf die malerische Landschaft – als Sinnbild einer idealen politischen Ordnung. Im Zuge der stärker werdenden sozialen Bewegung entwickelte sich aber ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine kritische Lesart des Malerischen. Das von Ruskin entwickelte 378 Vgl. Macarthur 2007, S. 1. 379 „Picturesque connotes, then, variety, idiosyncrasy and individuality, cornerstones of the new political and economic philosophy of the age - laissez-faire, self help, entrepreneurial freedom.“ Andrews 1994, S. 284 f.
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Konzept des „lower picturesque“ war auch Ausdruck eines sozialen Wandels, der einherging mit öffentlichen Debatten über Armut und Kriminalität, die die oben erwähnte laissez-faire Politik als sozial nicht mehr vertretbar empfand. Das Malerische wurde als Strategie zur Ästhetisierung dieser Zustände gesehen und war somit moralisch nicht mehr vertretbar.380 Die Interpretation des Malerischen als Transporteur einer repressiven politischen Meinung setzte sich schließlich in weiten Teilen durch. Macarthur sieht hier einen direkten Einfluss marxistischer Theorien, die diesen Trend verstärkten und dazu führten, dass die entsprechende kritische Lesart des Malerischen bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vorherrschte. 381 Tatsächlich lässt sich diese Entwicklung auch in Bezug auf die Rolle des Malerischen in der Denkmalpflege nachvollziehen. Die Hauptkritikpunkte einer malerischen Ästhetik im Rahmen des denkmalpflegerischen Diskurses lassen sich unter den Vorwürfen des Kommerzes, der Oberflächlichkeit, der Erstellung von Surrogaten bis hin zur (bewussten) Täuschung zusammenfassen. Die Kritik liegt also in allen Fällen weniger im ästhetischen, sondern vielmehr im damit in direkten Bezug gebrachten sozialen und moralischen Bereich und greift so die oben geschilderten klassischen Kritikpunkte auf. Die Kritik der Kommerzialisierung der Stadt durch den Rückgriff auf eine malerische Äthetik steht dabei in engem Zusammenhang mit dem Vorwurf der Oberflächlichkeit. Tatsächlich war es bereits den Protagonisten zur Jahrhundertwende bekannt, dass aus einer als schön geltenden Stadt auch wirtschaftlicher Nutzen gezogen werden kann.382 Die heutige Kritik an einer Kommerzialisierung des malerischen Stadtbilds setzt jedoch an einem anderen Punkt an, indem sie nämlich davon ausgeht, dass zuungunsten einer problematischeren Wahrheit ein Gegenbild produziert würde, das die ästhetischen Erwartungen der Betrachter befriedigt, gleichzeitig aber eine Fälschung darstellt. Paschke zitiert in diesem Zusammenhang Hans-Georg Gadamer, der sich zu dem Problem in Bezug auf das Denkmal im Allgemeinen äußerte: „Ist es [das Denkmal] nur noch Gegenstand eines ästhetischen Bewußtseins, so ist es nur von schattenhafter Wirklichkeit und lebt nur noch in der entarteten Form des Touristenziels oder der photographischen Wiedergabe ein verzerrtes Leben.“383 Gadamer stellt hier also fest, dass ein Denkmal immer mehr ist, als seine direkte, ästhetische Erfahrung. Interessant ist jedoch an dieser Stelle, dass er das Denkmal als Touristenziel – als reines Touristenziel – als Entartung deklariert, durch die es selbst rückwirkend, ebenso wie durch die fotografische Wiedergabe, 380 Vgl. ebd., S. 288 ff. 381 Vgl. Macarthur 2007, S. 17. 382 Vgl. ein entsprechendes Zitat von Späth aus dem Jahr 1914, der die Schönheit als einen der wichtigsten Faktoren für den Wohlstand einer Stadt nennt bei Speitkamp 1996, S. 107. 383 Gadamer 1960, S. 149, zit. nach Paschke 1972, S. 29 f.
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verzerrt wird. Die Reduktion auf das Ästhetische beraubt das Denkmal also nicht nur einiger seiner Bedeutungsaspekte, sondern verfälscht bzw. verzerrt die Denkmalbedeutung als Ganzes. In diesem Zusammenhang wird im denkmalpflegerischen Diskurs eine Polarität hergestellt zwischen der unbequemen Wahrheit auf der einen und einer oberflächlichen Ästhetik auf der anderen Seite. So moniert Norbert Huse 1984 die touristische Vermarktung der historischen Stadt und verbindet dies mit einer Kritik an der zeitgenössischen Stadtbildpflege: „Darüber hinaus ist auch das Stadtbild, das da heute gepflegt werden soll, gar nicht das der jeweiligen historischen Stadt. Allzuoft verdeckt der betuliche Begriff, daß eben dieses Bild bis zur Unkenntlichkeit verändert und dann, jeden historischen Wertes entkleidet, kurzfristigen Gegenwartsinteressen von Tourismus und Fußgängerzonenattraktivität zur Verfügung gestellt wird.“384
Huse stellt der historischen Stadt den Wunsch nach einer oberflächlichen Ästhetik gegenüber, dessen Erfüllung mit einem zwangsläufigen Wertverlust einhergeht. Dabei wird der Wunsch nach dieser Ästhetik nicht auf seine Ursachen hin untersucht, sondern als kurzfristig (oberflächlich, wandelbar) und kommerziell (Tourismus) negativ konnotiert und als Antipode zum historischen Wert betrachtet. Auch Udo Mainzer sieht die Entwicklung der Städte von „hauptsächlich kommerzielle[n] Interessen im nostalgisch verbrämten Kostüm untergegangener Architekturepochen“ beeinflusst.385 Diese Kritik einer Kommerzialisierung steht im Zusammenhang mit einer breiteren Ästhetisierungsdebatte, die zum Einen Teil einer allgemeineren Postmodernekritik ist, zum Anderen eine direkte Kritik an der städtebaulichen Denkmalpflege der Nachwendezeit. Wie bereits geschildert übte Hoffmann-Axthelm 2000 an prominenter Stelle Kritik an der städtebaulichen Denkmalpflege, da er die Denkmalpflege hier „auf der Höhe von Gestaltungssatzungen agieren“ sah, was mit „ihrem historischen Auftrag nichts mehr zu tun“ habe. 386 Für ihn besteht die Gefahr – hier durchaus im Konsens mit vielen zeitgenössischen Denkmalpflegern – , dass durch die Konzentration auf das Bildhafte das Denkmal zur „Ansteckbrosche am Neubaukomplex“ verkomme und die historische Stadt zur „Kulissenstadt“. 387 Dieser Ge384 Huse 1996 (1984), S. 214. 385 Vgl. Mainzer 2010, S. 195. Hans-Joachim Bürkner stellt fest, dass auch Ideen zur lokalen Identität von Städten in der Form von Imagekampagnen und Stadtmarketing zur Vermarktung der Städte beitragen, so dass ein Vorwurf der Kommerzialisierung nicht nur in Bezug auf die Ästhetik, sondern auch auf die Geschichtsschreibung und vermittlung der Städte möglich wäre (vgl. Brichetti 2009, S. 109). 386 Hoffmann-Axthelm 2000, S. 12. 387 Vgl. ebd., S. 14.
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danke war im Jahr 2000 keineswegs neu. Neu war lediglich seine Anwendung als Kritik an der institutionalisierten Denkmalpflege. Hoffmann-Axthelm ignorierte die Tatsache, dass die Denkmalpflege sich selbst schon kritisch mit ihrer Rolle in diesem Zusammenhang auseinandergesetzt hatte. Auf der Jahrestagung der Bayerischen Denkmalpflege 1993 unter dem Titel Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? war über die neuen Herausforderungen für die Denkmalpflege in einer postmodernen Gesellschaft diskutiert worden. Dort setzte sich Manfred Mosel kritisch mit dem Begriff des Ensembles auseinander, indem er sich und den Tagungsbesuchern die Frage stellt: „Ist die Einführung des Ensembles vielleicht gar nicht die großartige Reaktion des Gesetzgebers auf die Einsicht, daß Geschichte nicht ein punktuelles, sondern ein Kontinuität und Zusammenhänge beschreibendes Phänomen ist und daß deshalb Geschichte vermittelnde gebaute Zusammenhänge genauso zu schützen sind wie die einzelnen historischen Objekte? Ist im Gegenteil das Ensemble vielleicht der den Denkmalpflegern abgeforderte Beitrag zur Erlebnisgesellschaft, die gar nicht wissen will, gar nicht wissen kann, was Denkmalbedeutung soll, und die deshalb auf das assoziationsfähige, informationsfreie Ensemble als Psychotop angewiesen ist?“388
Dahinter steht der Gedanke, dass die Idee des Ensembles durch ihre Konzentration auf die ästhetische Erfahrbarkeit und emotionale Ansprache zu einer Verkürzung der vielschichtigen Bedeutungen des jeweiligen Denkmals führen könnte. HansRudolf Meier merkt in diesem Zusammenhang an, dass sich „ein Bauwerk nicht ohne Verlust an Erkenntnispotenzialen auf sein Bild reduzieren lässt“, und betont die Wichtigkeit anderer existenzieller Aspekte und Werte, die durch ein Denkmal transportiert werden können: „Angesprochen sind grundsätzliche Fragen des Daseins, wenn heute über Identität in der multikulturellen Gesellschaft, über Erinnerung, über Erfahrungen beschleunigter Entwicklung etc. diskutiert wird. Dabei kann es nicht um heile Welten und schönen Schein, um die Glättung von Brüchen oder allein um Kompensation gehen.“389
388 Mosel 1994, S. 60. Insbesondere bedauert Mosel den mit der Nostalgiewelle einhergehenden „Mangel an Auseinandersetzung und das Fehlen eines gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit von Experimenten und lehrreichen, intelligenten Irrtümern“, was ihn in seiner Argumentation von ähnlichen Positionen, die sich meist auf das Argument der Wirklichkeitsfälschung bzw. -ignorierung zurückziehen, unterscheidet. Vgl. ebd., S. 59. 389 Meier 2005, S. 9.
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Die Potenziale, die Denkmale in diesem Zusammenhang für eine Gesellschaft entwickeln können, sieht Meier durch die ästhetische Harmonisierung gefährdet. Diese Harmonisierung bedeutet dabei, wie schon im Zusammenhang mit der Entwicklung des Ensemblebegriffes gezeigt wurde, im Grunde eine Abkehr von dem Konzept des Malerischen, das auf Abwechslungsreichtum und der Idee des ‚Gewachsenen‘ basiert und seinen Reiz gerade durch verschiedene Brüche erhält. So wäre im Grunde gerade eine malerische Ästhetik viel eher in der Lage, die von Meier angesprochenen Brüche auch ästhetisch nachvollziehbar werden zu lassen. Da sich allerdings zwischenzeitlich die Vorstellung vom Malerischen im alltäglichen Sprachgebrauch geändert hat, wird dieses Potenzial nicht diskutiert, sondern das Malerische einseitig im Sinne seiner unkritischen, auf die Oberflächlichkeit des Begriffes abzielenden Lesart weiter tradiert. Tilmann Breuer stellte bereits 1989 fest, dass überkommene, dem Malerischen verpflichtete Darstellungsweisen von Städten teilweise auch auf die Stadtgestaltung übertragen würden, was in diesen Fällen dazu führe, dass „an die Stelle historischer Wirklichkeit […] verschleiernde Stimmung [träte], wenn auch nur in Surrogatwirkung“.390 Hier ist ein fundamentaler Unterschied zum Denkmalverständnis der Jahrhundertwende erkennbar. Während bei Riegl die Stimmung als wichtiger Zugang zum Denkmal gesehen wurde, gilt sie nun als dessen tatsächliche Botschaft verschleiernd und als oberflächlicher Ersatz für eine tiefere Auseinandersetzung. Es ist also nicht mehr von einer Ästhetik die Rede, die den Zugang zu einem Denkmalobjekt ermöglicht, sondern von dessen Ästhetisierung, die sich nach Uta Kösser eben durch diese Kompensation durch das Surrogat auszeichnet: „Ästhetisierung [ist] also [zu verstehen] als Ersatz, als Kompensation, als Kennzeichnung und als Milderung [Hervorhebungen im Original] sachlicher Gegebenheiten über sinnlich angenehme, fassbare, schöne, erhabene und auch hässliche Gestaltung“.391 So wird denn auch die Rückbesinnung auf die historische Stadt bzw. historische Bauformen oft als (fluchtartige) Reaktion auf eine komplexer werdende Welt interpretiert. 392 Im Rahmen der Postmoderne-Tagung 1993 forderte Wilfried Lipp Denkmalpflege und Denkmalpfleger auf, sich intensiv mit dem Thema der Ästhetisierung zu beschäftigen.393 Dabei spricht er sich auch explizit gegen eine pauschale Ablehnung 390 Vgl. Breuer 1989, S. 43. Breuer macht dies am Beispiel von stimmungserzeugendem Stadtgrün in historischen Ensembles fest. 391 Vgl. Kösser 2006, S. 463 f. 392 Gernot Böhme sieht in der Berufung auf historische Formen in der Architektur Ausdruck einer in der globalisierten Welt nach Sicherheit suchenden Mittelschicht und Dieter Bartetzko geht davon aus, dass die „Stadt dem Schonungsbedürfnis ihrer geängstigten und enttäuschten Bewohner“ angepasst werden soll (vgl. Meier 2010, S. 54; s. ausserdem Bentmann 1991, S. 41 f). 393 Vgl. Lipp 1994, S. 11.
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der „Surrogat-Nostalgie“ aus und plädiert für einen verständnisvollen und konstruktiven Umgang mit dem Phänomen, denn „bloße Negativität hilft weder, noch wird sie diesen Realitäten gerecht. Man kann darin ja auch versteckte oder ganz offene Sehnsüchte sehen, Versuche eines tastenden Bewußtseins, dem die klassische Denkmalpflege entgegen kommen könnte.“394 Eine Auseinandersetzung mit dem Thema fällt jedoch nach wie vor schwer. Dazu wäre zunächst eine ernsthafte Auseinandersetzung mit möglichen Gründen für die wahrgenommene Nostalgiewelle notwendig, die sich nicht auf deren Verurteilung auf der hypothetischen Grundlage des dadurch zum Ausdruck kommenden Verdrängungsmechanismus beschränkt. Bereits 1991 stellte der Kunsthistoriker Reinhard Bentmann die Frage nach den Gründen und der Bewertung der Sehnsucht nach der malerischen Stadt: „Aber ist diese [Altstadt-] Gemütlichkeit wirklich nur ein verschmocktes Gefühl, dieses Einvernehmen die verschwitzte Notgemeinschaft von emotional Beschädigten? Ist die Rettung der Idylle als Rettung in die Idylle mit der Hoffnung auf Rettung durch die Idylle [Hervorhebungen im Original] tatsächlich so verfehlt? Werden hier falsche Bedürfnisse mit den richtigen Mitteln, richtige Bedürfnisse mit den falschen Mitteln befriedigt?“395
Die Verwendung der Begriffe ‚richtig‘ und ‚falsch‘ bringt dabei zum Ausdruck, dass es sich bei einer solchen Diskussion immer auch um eine unterschwellige Verhandlung moralischer Grundsätze handelt. Allerdings findet Bentmann in seinem kurzen Text keine Antwort auf die gestellten Fragen, die über die gängigen Erklärungsmuster hinausgingen. Stattdessen wirft er jedoch die interessante Frage auf, warum als Reaktion auf eine Unzufriedenheit mit der gebauten Umwelt in den 1970er Jahren gerade die Flucht in ein explizit „geschichtliches Ambiente“ gewählt wurde, statt sich mit zeitgenössischen Bauformen zu behelfen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass man sich im Zuge der Städtebaukritik „ausschließlich und nachgerade beschwörend auf die organisch gewachsenen, als organisch erfahrbaren historischen Strukturen berief, sie zum Medium der Rettung städtischer Umwelt verklärte. Man identifizierte sich mit den gebauten Quellen der alten Zeit, und man identifizierte sich zugleich mit einer mythisierten, zur ‚guten‘ alten Zeit stilisierten Geschichte.“ 396
Dieser Entwicklung liegen für Bentmann „irrationale Züge“ zugrunde,397 wodurch sich im Grunde eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phä394 Ebd., S. 9. 395 Bentmann 1991, S. 34 f. 396 Ebd., S. 41 ff. 397 Ebd., S. 43.
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nomen erübrigen würde. Tatsächlich beschreibt Bentmann hier ein Phänomen, das nicht nur im Zuge der postmodernen Ablehnung des Städtebaus der 70er Jahre auftritt, sondern, wie bereits gezeigt wurde, als klassischer Topos in allen Diskussionen um die historische Stadt mitschwingt und eng mit der ästhetischen Kategorie des Malerischen verbunden ist. Die malerische Stadt ist so nach wie vor in ihrer Ästhetik an die Vorstellung einer idealen Gesellschaft gekoppelt, was Norbert Huse bereits 1984 zum Ausdruck brachte: „Sicherlich ist die schwärmerisch positive und meist nur ästhetisch begründete Bewertung alter Stadtstrukturen eine moderne Rückprojektion eigener Wünsche. Wenn dann die erst heute erfahrene ästhetische Harmonie auch noch als Resultat einer früher angeblich einmal existierenden sozialen Harmonie postuliert wird, ist der Weg von der rückwärts gewandten Utopie zum ideologischen Theorem nicht weit.“398
Im Gegensatz zum Altstadtdiskurs der Jahrhundertwende steht eine Rückbeziehung auf vermeintlich historische Gesellschaftsmuster spätestens seit Nationalsozialismus und zweitem Weltkrieg nicht nur im Verdacht eines weltfremden Eskapismus, sondern auch einer potenziellen ideologischen Vereinnahmung. Die Flucht in ein ästhetisch vermitteltes, harmonisiertes Geschichtsbild wird aufgrund des damit verbunden manipulativen Potenzials für Gegenwart und Zukunft abgelehnt. Georg Mörsch betrachtet die Reduzierung der Stadt auf ihre idyllischen Aspekte in diesem Zusammenhang als gesellschaftliche Gefahr: „Wer die Stadt als Idylle sieht, reduziert sie grundsätzlich auf Oberflächliches, wählt dabei aus ihrer Vergangenheit naiv oder ideologisch aus, verweigert sich ihrer ganzen Geschichte und manipuliert ihre Zukunft.“399 Durch die Betonung des nicht Zweckfreien sondern Instrumentellen bzw. Manipulativen handelt es sich hier um einen kritischen Beitrag zum Thema der Ästhetisierung von Städten.400 Die Diskussion dreht sich damit nicht länger um ästhetische Wahrnehmung, sondern um ästhetisierende Intervention. Die Denkmalpflege selbst scheint sich in diesem Zusammenhang in der Verantwortung zu sehen, da sie selber auf der Seite derjenigen steht, die – sei es erhaltend oder verändernd – auch an der Weiterentwicklung der Städte beteiligt ist. So stellt Mörsch denn auch an anderer Stelle fest, dass die „Denkmalpflege […] weder sich, noch ihrer Öffentlichkeit die Herstellung eines Geschichtsbildes nach dem oberflächlichen Vergnügungs- und Harmoniebedürfnis der heutigen Gesellschaft erlauben“ darf. 401 Die Denkmalpflege sieht sich also gesellschaftlich in der Verantwortung, ihren Teil zu einem differenzierten Geschichtsbewusstsein beizutragen. Ästhetik wird dabei 398 Huse 1996 (1984), S. 213. 399 Mörsch 2005b, S. 146. 400 Vgl. Kösser 2006, S. 463 f. 401 Mörsch 1989b, S. 13 ff.
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nicht als möglicher Erkenntnisweg sondern als potenziell oberflächliche Verflachung der gegebenen Umstände betrachtet. Die ästhetische Frage ist damit spätestens durch das Aufgehen der Ästhetik im Diskurs der Ästhetisierung zur moralischen Frage geworden. Der moralische Aspekt war immer Teil der malerischen Ästhetik und wurde insbesondere bei dieser ästhetischen Kategorie immer kontrovers diskutiert. So kann das Malerische einerseits mit den Vorstellungen einer als ideal betrachteten gesellschaftlichen Ordnung verknüpft werden, andererseits und parallel dazu sah und sieht es sich dem Vorwurf der Oberflächlichkeit ausgesetzt, der Ästhetisierung von sozialen, politischen, ökonomischen Umständen oder Zwängen. Dieser Aspekt ließ das Malerische schon Ruskin suspekt erscheinen und sorgte langfristig für seine Diskreditierung als ästhetische Wertekategorie. Schließlich zeigt die Untersuchung der Rolle der malerischen Ästhetik aber auch, dass Ästhetik immer an spezifische Wert- und Moralvorstellungen gebunden ist. In der heutigen Diskussion wird der malerischen Schönheit ein Wert abgesprochen, weil sie als potenziell oberflächlich oder sogar manipulativ eingestuft wird. Parallel dazu kam es zu einer Harmonisierung der malerischen Ästhetik. Das Potenzial gerade des Malerischen auch Brüche aufzuzeigen und ästhetisch erfahrbar zu machen, wird meist nicht reflektiert. Dabei ließen sich insbesondere hier neue ästhetische Muster aufzeigen, die nicht den ästhetischen Zugang zum Denkmal als solchen in Frage stellen, sondern die Reduzierung auf einzelne, bestimmte Vorstellungen vom schönen Denkmal. Die oben nachgezeichneten Entwicklungen führten jedoch dazu, dass insbesondere dem Malerischen keinerlei gewinnbringendes Potenzial mehr zugeschrieben wird. Die Frage nach möglichen gesellschaftsrelevanten positiven Aspekten wird – wenn überhaupt – nicht anhand der ästhetischen Kategorie des Malerischen verhandelt, sondern gehört zum klassischen Repertoire einer als idealisch verstandenen Schönheit, die diese in einen unauflöslichen Zusammenhang mit dem Guten und Wahren bringt und so zur moralischen Instanz werden lässt.
4 Vom Schönen, Wahren und Guten Mehr noch als das Malerische definiert sich das klassische Schönheitsideal immer auch ethisch und moralisch. Das Schöne stellt nicht primär eine ästhetische Kategorie, sondern ein moralisches Konzept dar, dass sich auch ästhetisch niederschlagen kann. Das Schöne funktioniert als Konzept nur als Einheit mit dem Wahren und Guten. Die moderne Entkoppelung des Schönen von diesen beiden Komponenten führt zwangsläufig zu einer Entwertung des Schönen und zu der Frage, wie (und ob) sich das Schöne gewinnbringend jenseits des Guten und Wahren denken lässt. Gleichzeitig wird die Frage nach dem Schönen im Zuge dieser Entwicklung meist auf die Ebene der Formfrage reduziert. Ziel des folgenden Kapitels wird es sein, diese Entwicklung in ihren Auswirkungen auf die Diskussionen in der Denkmalpflege aufzuzeigen. Auf der Koppelung zwischen dem Schönen und dem Wahren wird ein besonderes Augenmerk liegen. Die Denkmalpflege, die sich als Wissenschaft der (historischen) Wahrheit verpflichtet sieht, setzt sich inhaltlich immer mit ästhetisch wahrnehmbaren – und unter Umständen auch schönen – Objekten auseinander, wodurch das Verhältnis zwischen Ästhetik und Wahrheit zwangsläufig und zumindest implizit ein Thema der Denkmalpflege wird. Die Kategorie der Wahrheit wird dabei auf verschiedenen Ebenen verhandelt, die mit unterschiedlichen Vorstellung vom Charakter des Denkmals verbunden sind (sei es als historisches Zeugnis oder als künstlerisches Werk) und die in Korrespondenz mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Schönheit (im Sinne der jeweils angemessenen Ästhetik) stehen.
4.1 W AHRE S CHÖNHEIT
UND SCHÖNE
W AHRHEIT
In der ästhetischen Philosophie kann die Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten und Wahren auf eine lange Tradition zurückblicken, die bis weit ins 19. Jahrhundert fortwirkte. Der Gedanke der Einheit des Schönen und Guten mit dem Wahren lässt sich zurückführen bis auf das klassische Ideal der Kalokagathia, also dem Gedan-
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ken der Verbindung des Schönen mit dem Guten als menschliches Ideal. 1 In diesem Sinne stellte das Schöne, wie es von klassischen Philosophen wie Plato und Plotin verstanden wurde, nicht primär eine ästhetische Kategorie dar, sondern vielmehr eine sittliche Norm. Das Schöne konnte somit sowohl im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung – als Erscheinungsform des Guten –, als auch in geistigen Tätigkeiten zum Ausdruck kommen. Plato geht dabei von verschiedenen Stufen des Schönen aus, deren höchste Form schließlich in der abstrakten und überzeitlichen Idee des Schönen selbst zu finden ist.2 Die metaphysische und kosmologische Komponente des Schönen wurde im Mittelalter aufgegriffen und in einen theologischen Kontext gesetzt. Für Thomas von Aquin stand Schönheit nicht nur für die Proportion der Form, sondern auch für Vollständigkeit in einem übergeordneten Sinne.3 Diese Vollständigkeit wiederum stamme letzten Endes von Gott und wurde gleichzeitig als Ausdruck und Teilhabe des Göttlichen auf Erden verstanden. Das auf diesen Gedanken fundierte Ideal des Schönen drückt sich in Vollständigkeit und Harmonie aus und ist deckungsgleich mit dem Guten und Wahren. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass nur das Wahre und Gute in diesem Sinne tatsächlich schön sein kann. Bereits Aristoteles setzte diese Vorstellungen vom Schönen zu der Vorstellung des Kunstschönen (also des Schönen im Kunstwerk) in Bezug. Neben der Benennung von Eigenschaften, die dem Kunstschönen zugeordnet werden (wie Proportion und Ordnung), sieht er die Aufgabe des Künstlers darin, durch Nachahmung eines Objektes dessen idealen Charakter zum Ausdruck zu bringen. Die Aufgabe der Kunst liegt damit in der Darstellung des eigentlich Wahren. Diese klassische Vorstellung von Schönheit, die eng mit der philosophischen Tradition verbunden ist, blieb in Europa für lange Zeit prägend. 4 Der wahrgenommene „Verfall“ des Schönen5 wird in der Literatur meist mit der zunehmenden Säkularisierung und Subjektivierung der Gesellschaft in Verbindung gebracht. Uta Kösser begründet diesen Verfall des Schönen in der Moderne durch den Verlust einer allgemeinen moralischen Verbindlichkeit im Zuge der Aufwertung des (wahrnehmenden) Subjektes und führt den Niedergang des Schönen auf den Verlust seiner metaphysischen Komponente zurück. Dadurch, dass das Schöne nicht mehr als 1
Vgl. Liessmann 2009, S. 15.
2
Vgl. Beierwalters 2006, S. 38 f. und Schweppenhäuser 2007, S. 67.
3
Vgl. Eco et al. 2004, S. 88.
4
Aspekte dieser Vorstellung lassen sich in ihrer säkularisierten Form bis in die heutige Zeit finden: das Schöne als ungreifbare und unbegreifliche Kraft. Der Philosoph Wolfgang Welsch spricht in diesem Zusammenhang von der „großen […] atemberaubenden Schönheit“, die er gegen die zeitgenössische Ästhetisierung abgrenzt. Welsch 2005, S. 13.
5
Kösser 2006, S. 556.
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Verkörperung des Idealen und Göttlichen betrachtet wird, sondern erst durch das jeweilige Subjekt bestimmt und damit abhängig ist von Mode, Zeit, Sitten usw., verliert es seine überzeitliche moralische Bindungskraft. Was bleibt, ist nach Kösser eine „unbewusste Sehnsucht“ nach dem Schönen6 – worin sich vielleicht doch wieder ein Verweis auf das scheinbar Unfassliche (also Metaphysische) des Schönen in antiker Tradition finden lässt, das unbenennbar geblieben ist trotz aller Auflösung im Subjektiven. Konrad Liessmann sieht die Loskopplung des Schönen von moralisch normativen Werten bereits in Kants Ästhetik begründet. Durch dessen Postulat des interessenlosen Wohlgefallens war es demnach nicht mehr möglich, der ästhetischen Urteilskraft auch eine übergeordnete moralisch Bedeutung zukommen zu lassen. 7 Wie bereits in Kapitel 2 ausführlich dargelegt, fanden diese Prozesse zeitgleich mit der Auflösung künstlerischer Normen statt, so dass das Schöne nicht nur seine moralische Begründung, sondern auch seine ästhetisch normative Form verlor. Obwohl also von einer Tendenz der Loslösung des Schönen von seiner moralischen Verankerung ausgegangen werden kann, handelt es sich dabei nicht um einen kontinuierlichen und linearen Prozess. Parallel existieren auch Tendenzen, die mehr oder weniger explizit an einer Koppelung des Schönen und Guten festhalten. Insbesondere zeigt sich dies in Bezug auf das Kunstschöne, also der im Objekt materialisierten Schönheit. Die Verbindung zwischen Schönheit und Moral äußert sich dabei auf verschiedenen Ebenen. Zum einen klingt die Vorstellung des moralischen Wertes des Schönen in wirkungsästhetischen Konzepten zur Verbesserung des Menschen durch das Schöne nach,8 zum anderen auf einer objektbezogenen Ebene in der Theorie der Angemessenheit und Zweckerfüllung, die davon ausgeht, dass der zweckerfüllende (und damit gute) Gegenstand automatisch auch ein schöner Gegenstand sei, eine Einstellung, die sich insbesondere auf Architektur und kunsthandwerkliche Objekte bezieht.9 Gegen diese formalistische, zweckorientierte Kunst- und Schönheitsauffassung kam jedoch auch Kritik auf, die darin eine verkürzte Vorstellung von Kunst sah. Alois Riegl meint darin einen allgemeinen zeit6
Vgl. Kösser 2006, S. 556.
7
Vgl. Liessmann 2009, S. 39. Liessmann merkt außerdem an, dass Kant dennoch das Schöne als „Symbol des Sittlichen“ begreift und so zumindest teilweise an die Vorstellung des Schönen und Guten anknüpft.
8
Aspekte dazu wurden im vorangegangenen Kapitel am Beispiel der malerischen Schönheit dargestellt; außerdem wird dieser Punkt in Kapitel 5 unter dem Thema der Erziehung zu bzw. durch Schönheit noch einmal vertieft.
9
Schweppenhäuser verfolgt diesen Ansatz bis zum Griechen Xenophon zurück und zieht dann den Bogen bis zu Walter Gropiusʼ Funktionalismus, nach dessen Theorie der optimal gefertigte Gebrauchsgegenstand automatisch auch die schönste Gestalt habe. Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 73.
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lichen Trend festzustellen, wie er in einem 1903 erschienen Artikel über die Entstehung der christlichen Basilika darlegt. Riegl zeigt sich jedoch überzeugt, „daß zwischen ethischem und ästhetischem Wollen ein inniger Zusammenhang besteht.“10 Parallel zueinander existierten also unterschiedliche Vorstellungen von einem möglichen (bzw. unmöglichen) Verhältnis von Schönheit und Moral. Neben der Übernahme von Aspekten der Verbindung von Schönheit und Moral auf der Objekt- und Wahrnehmungsebene im Funktionalismus, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von England ausgehend mit dem Ästhetizismus eine weitere Spielart, die, in Positionierung gegen den Naturalismus und Realismus, den Wert der Schönheit um ihrer selbst Willen propagierte und sie dazu von moralischen und sozialen Bezügen losgelöst betrachtet wissen wollte. 11 Dieser Gedanke des l‘art pour l‘art fand auch in Deutschland großen Anklang, insbesondere in literarischen Kreisen. Die grundlegende Idee war dabei, dass die Schönheit selbst als anzustrebender Wert an sich betrachtet wurde, nicht mehr als Versinnbildlichung eines moralischen Ideals oder zur moralischen Verbesserung. In neuen Spielarten, die sich in der Auflösung der klassischen Trias von schön, gut und wahr äußern, eröffnen sich Denkmöglichkeiten, die das Schöne nicht nur losgelöst von seinem moralischen Wert betrachten, sondern diesem auch diametral gegenüberstellen. So beschrieb Nietzsche das Verhältnis vom Schönen, Guten und Wahren 1888 wie folgt: „An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind ein: fügt er gar noch hinzu ‚auch das Wahre‘, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“ 12
Was von Nietzsche hier positiv formuliert wird – die Flucht in die Schönheit vor dem Schlechten der Welt – führt gleichzeitig zu einer zunehmenden Kritik am Schönen. Da das Schöne nicht mehr mit dem Wahren verbunden ist, wird die Flucht in die Welt des Schönen zu einer Flucht in eine Welt der Falschheiten, die von der Wahrheit sozialer und gesellschaftlicher Gegebenheiten ablenkt. Das Schöne steht somit zunehmend unter dem Verdacht einer die Wahrheit verfälschenden Ästhetik und wird reduziert auf den oberflächlichen schönen Schein.13 Im 20. Jahrhundert wurden diese Gedanken weiterentwickelt, sei es bei Marx, Horkheimer oder in zeitgenössischen Ästhetisierungsdebatten, auf die später teilweise noch genauer eingegangen werden wird. In ihrem Konzept der Kulturindustrie stellen Adorno und 10 Riegl 1995d, S. 94. 11 Vgl. Kösser 2006, S. 282. 12 Nietzsche, eKGWB, NF1888, 16[40]. 13 Vgl. ebd., S. 10.
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Horkheimer der autonomen Kunst eine Welt von Kulturwaren entgegen, die in ein System aus Machtstrukturen eingebunden sind und dies auch mit Hilfe einer marktorientierten Ästhetik stützen. Bis heute wirkt dieses Konzept der Kulturindustrie, teilweise auch in vereinfachter bzw. verkürzter Form fort. 14 Neben der Kritik am oberflächlichen und unwahren Schönen – und dessen gesellschaftlichen Auswirkungen – wie sie sich auch in postmodernen Ästhetisierungstheorien wiederfindet, 15 bleibt die Schönheit jedoch gleichzeitig im alltäglichen Bereich ein zentraler Wert und wird als solcher gesellschaftlich verhandelt.16 Es bleibt festzustellen, dass über lange Zeiträume parallel verschiedene Vorstellung über moralische Aspekte des Schönen existierten und existieren. Zwar ist die Gleichsetzung des Schönen mit dem moralisch Guten aufgelöst, die implizite Vermittlung moralischer Aspekte durch das Schöne scheint aber immer wieder nicht ausgeschlossen. Und auch die These der Ästhetisierung, also die Vorstellung einer negativen und oberflächlichen Schönheit, misst dieser in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen doch auch wieder ein – wenn auch negatives – moralisches Potenzial zu. 4.1.1 Die Wahrheit der Kunst Ohne die Bindung an die Wahrheit ist das Schöne auch als moralisch Gutes nicht zu denken. Andererseits ist es gerade die Lüge des schönen Scheins, die das moralische Potenzial des Schönen untergräbt. Das Verhältnis der Schönheit zur Wahrheit ist also grundlegend für die Zuschreibung eines moralischen Wertes. Dabei ist zu unterschieden zwischen der Wahrheit, die sich im Schönen (Objekt) erkennen lässt und der Erkenntnis einer tieferen Wahrheit durch die Schönheit (durch das Subjekt). Insbesondere der Kunst wird hierbei die Aufgabe der Darstellung des Wahren zugeschrieben, wobei die Kunst gleichzeitig ihre eigene Wahrheit verkörpert. Aristoteles sah die Darstellung des allgemeinen Wahren als die Hauptaufgabe der Kunst an. Wie schon vorher erläutert ist mit dieser Wahrheit jedoch nicht die detailgetreue Wiedergabe des Gesehenen gemeint, sondern das zum Ausdruck bringen einer durch das Objekt verkörperten Idee. Dieser Gedanke wurde in späteren Kunsttheorien aufgegriffen. Schiller spricht in diesem Zusammenhang in einem Brief an Goethe 1797 von der notwendigen „Reduktion empirischer Formen auf ästhetische“.17 In der Erfüllung dieser Aufgabe liegt die eigentliche künstlerische Leistung begründet, die demnach nicht nur auf einer rein technischen Wiedergabe des Gesehenen beruht, sondern auch auf einer geistigen Auseinandersetzung. Bereits 90 Jahre vor14 Vgl. Illing 2006, S. 102. 15 Vgl. z.B. Welsch 1990. 16 Vgl. Liessmann 2009, S. 81. 17 Goethe und Schiller 2011, S. 422.
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her hatte der englische Philosoph Shaftesbury in seiner Abhandlung Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humor entsprechend den gute Dichter und Maler als denjenigen bezeichnet, der sich nicht auf die Nachahmung der Natur beschränkt, sondern „the Truth of Characters [Hervorhebung im Original] and Nature of Mankind“ darzustellen versucht.18 Ansonsten sei der Künstler ein bloßer Portraitmaler („Face-Painter“), was für Shaftesbury gleichbedeutend mit einem Geschichtsschreiber ist.19 Die Aufgabe des Künstlers liegt also in der Darstellung der Wahrheit, wobei diese Wahrheit nicht übereinstimmend sein muss mit dem Gesehenen. Die Kunst ist im Gegensatz zur Geschichtsschreibung, der sie Shaftesbury gegenüberstellt, also nicht der detailgetreuen Wiedergabe verpflichtet, sondern einer tieferen Wahrheit. Diese Vorstellung der künstlerischen Artikulation einer tieferen Wahrheit und auch der Glaube an die Möglichkeit der Erfüllung dieses Anspruches blieb über lange Zeit grundlegender Bestandteil des künstlerischen Selbstverständnisses. Verstärkt wurde er noch durch die insbesondere im 19. Jahrhundert sich verbreitende Vorstellung vom Künstler als schaffendem Genie. Das künstlerische Genie schafft ein Werk, das nicht die Wirklichkeit wiedergibt, sondern selbst eine neue Wirklichkeit darstellt. Die Werte und Wahrheiten, die sich durch das Kunstwerk ausdrücken, sind dabei nicht mehr an Ort und Zeit des Schaffensprozesses gebunden, sondern das fertige Werk verkörpert eine übergeordnete und zeitlose Wahrheit und Schönheit an der sie den Betrachter teilhaben lässt.20 Im 19. Jahrhundert stellte Ruskin diese Form der Wahrheit der durch die Wissenschaften vertretenen Wahrheitsauffassung gegenüber: „Science deals exclusively with things as they are in themselves; and art exclusively with things as they affect the human sense and human soul. […] Both, observe, are equally concerned with truth; the one with truth of aspect, the other with truth of essence. Art does not represent things falsely, but truly as they appear to mankind.“ 21
Die Wahrheit („truth“) stellt dabei die höchste künstlerische Qualität für Ruskin dar, da er in ihrer Darstellung die eigentliche Aufgabe der Kunst sieht. Dabei unterscheidet Ruskin zwischen zwei Formen der künstlerischen Wahrheit, die zum einen auf das Objekt selbst in seiner spezifischen Materialität bezogen werden kann, zum 18 Shaftesbury 1732, S. 145. 19 Vgl. ebd. S. 144. 20 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 196 f. 21 Ruskin 1904, S. 47 f. Dabei scheint es sich zu diesem Zeitpunkt bereits um eine Verteidigung der künstlerischen Wahrheit gegen die Vorherrschaft der wissenschaftlichen Wahrheit zu halten. Die Aussage, dass die Kunst die Dinge nicht verzerrt wiedergebe klingt wie die Reaktion auf einen nicht formulierten Vorwurf.
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anderen auf den gedanklichen und moralischen Grund des Kunstwerks. Er unterscheidet zwischen „a moral as well as a material truth – a truth of impression as well as of form, – of thought as well as of matter; and the truth of impression and thought is a thousand times the more important of the two“. 22
Für Ruskin existieren also nicht nur zwei Formen der künstlerischen Wahrheit, die beiden befinden sich auch in einer hierarchischen Abstufung zu einander. Diese beiden Ebenen einer möglichen künstlerischen Wahrheit, die sich beispielsweise durch Angemessenheit in Material und Formgebung auszeichnet, und einer geistigen Ebene zieht sich durch die Kunst- und Architekturdiskurse bis weit ins zwanzigste Jahrhundert. Während sich objektbezogene Faktoren wie Materialgerechtigkeit und angemessener Stil jedoch relativ einfach am jeweiligen Objekt behandeln lassen, scheint sich die Frage, wodurch eine tieferliegende künstlerische Wahrheit zum Ausdruck kommen könnte, ungleich schwerer beantworten zu lassen. Bereits Wilhelm von Humboldt sah in diesem Zusammenhang ähnlich wie Schiller die Notwendigkeit, dass der Künstler bei der Wiedergabe der Wirklichkeit eine Transferleistung vollbringe, die einer tieferen Wahrheit Ausdruck verleihen sollte, indem er die „ungeheure Masse einzelner und abgerissener Erscheinungen in eine ungetrennte Einheit und ein organisiertes Ganzes“ und auf diese Weise „das Wirkliche in ein Bild“ verwandele.23 Die vorgefundene Vielschichtigkeit, die sich auch in Widersprüchen und Dissonanzen äußern kann, wird also vom Künstler zu einer harmonischen Einheit transformiert. In dieser – als organisch verstandenen – Einheit kommt die künstlerische Wahrheit zum Ausdruck, die Harmonie verkörpert so die tiefer liegende Wahrheit. Die harmonische Schönheit wird zum Ziel des künstlerischen Schaffens. Auf formaler Ebene kann diese Harmonie durch die Einhaltung gestalterischer Regeln (Proportionslehre, goldener Schnitt, etc.) erreicht werden. Harmonie erschöpft sich jedoch nicht darin. So wie Shaftesbury die künstlerische Leistung nicht in der möglichst genauen Darstellung des Gesehenen sieht sondern im Ausdrücken der dahinter liegenden Wahrheit, bleibt auch die harmonische Schönheit ausdruckslos, wenn sie sich auf die Anwendung von Formeln beschränkt. Noch 1913 betont der Philosoph Fritz Medicus die Bedeutung des tieferen Sinnes, der durch das Kunstwerk zum Ausdruck kommen solle. Die größte Gefahr sah er in der sinnfreien Anwendung formaler Gesetze, da die Kunst ohne einen tieferen Sinn nicht schön, sondern lediglich „gefällig“ sein könne. Die Leere, die auf diese Weise entstünde, verkörpert für Medicus einen „Mangel an Geist“. Das Kunstwerk setze sich aus Stoff und Geist zusammen. Die beiden bilden eine organi22 Ruskin, 1903a, S. 104. 23 Zit. nach Schweppenhäuser 2007, S. 159.
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sche, untrennbare Einheit. Ein schönes Kunstwerk zeichnet sich für Medicus dadurch aus, dass weder ungeformter Stoff vorhanden ist, noch Geist, der nicht in das Werk eingeflossen ist, der aber notwendig wäre, es zu begreifen. In dieser Ausgeglichenheit zwischen Stoff und Geist liegt die Harmonie des schönen Kunstwerks begründet.24 Des Weiteren geht Medicus genauer auf sein Verständnis vom das Kunstwerk bildenden Geist ein. Der Geist ist für ihn der Ausdruck der in dem Kunstwerk verwirklichten Wahrheit, ein „Mangel an Geist ist Mangel an Wahrheit“.25 Die Wahrheit ist das höchste Anliegen der Kunst und als solche auch dem schaffenden Künstler in seiner Subjektivität übergeordnet: „Sofern ein Gehalt [des Kunstwerks, S. H.] nicht der Gehalt der Wahrheit ist, ist er notwendig etwas lediglich Subjektives, der bloße ‚Gedanke‘ des Künstlers, dem die ‚Natur‘ untergeordnet wird.“26
Im Gegensatz zum klassischen Wahrheitsverständnis, das von einer allumfassenden und überzeitlichen Wahrheit ausgeht, sieht Medicus die Wahrheit jedoch nicht als konstanten Wert an, sondern als sich nach den jeweiligen Umständen wandelnd. Ähnliche Gedanken formuliert auch Cornelius Gurlitt 1893 in einem Aufsatz über Ästhetische Streitfragen. In diesem Aufsatz, der sich theoretisch mit der Frage nach einer möglichen allgemeinen Verbindlichkeit von Schönheitsurteilen beschäftigt, erörtert Gurlitt zunächst die Schwierigkeiten in Bezug auf den Umgang mit und der Suche nach Wahrheit. So setzt er zwar voraus, dass es das Ziel jeglicher philosophischer Richtung – auch der Ästhetik – sei, die Wahrheit zu ergründen; diese Wahrheit, so Gurlitts These, ist jedoch nie allgemein gültig und muss nicht einmal allgemein gleich verstanden werden, sondern differiert von Mensch zu Mensch: „Aber noch nie hat diese Wahrheit zweier selbständig wirkender Köpfe sich völlig geglichen. Noch hat kein hervorragender Ästhetiker die von seinem Vordenker erfaßte Wahrheit ungemodelt aus seinem Kopfe wieder entlassen. Es ist […] die Wahrheit ‚plastisch‘, jeder sieht sie von anderem Gesichtspunkt, jeder mit anderem Umriß, jeder unter verstellter Beleuchtung.“ 27
24 Vgl. Medicus 1913, S. 168. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd., S. 170. 27 Gurlitt 1893, S. 184. Sechs Jahre später nimmt Gurlitt diesen Gedanken in seiner Befreiung der Baukunst wieder auf indem er die Kritik Wagners an der hannoverschen Schule nachzeichnet und darlegt, dass beide die Wahrheit durch unterschiedliche Aspekte verkörpert sahen, was jedoch dazu führte, der jeweils anderen Partei Unwahrheit – gemessen an den eigenen Maßstäben – vorzuwerfen. Vgl. Gurlitt 1969, S. 135.
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Diskussionen um die ‚richtige‘ Wahrheit hält Gurlitt daher für nichtig. Ebenso wie die Wahrheit sieht Gurlitt auch die Schönheit subjektiv begründet und erläutert seine Ansicht, „daß das Schöne als solches nicht eigentlich existiere, sondern daß nur das unserem Wesen entsprechende uns als schön erscheine, während es Anderen mit ebenso viel Recht als häßlich erscheinen könne; daß also alle Schönheit nicht eine Eigenschaft der Dinge, sondern unser sympathisches Verhältniß zu ihnen bezeichne.“28
Gurlitt nimmt mit dieser Stellungnahme gegen die von ihm kritisierte zeitgenössische Ästhetik Theodor Alts Position ein, der das Schöne in der Zweckmäßigkeit der Dinge für das jeweilige Subjekt begründet sah.29 Alt stellt ebenso wie Gurlitt das wahrnehmende Subjekt in den Vordergrund, vermittelt dabei aber durch das Festhalten am Gedanken der Zweckmäßigkeit zwischen Objekt- und Wahrnehmungsästhetik. Gurlitt hingegen kommt zu dem Schluss, dass „im letzten Grunde […] das Ich die Grundlage aller Schönheit [ist], ist schön, was mir schön scheint.“ 30 Gurlitt geht also den radikalen Schritt, sowohl Schönheit als auch Wahrheit im jeweiligen Subjekt zu verankern, wodurch auch die Reglements der Harmonie und Zweckmässigkeit letztendlich überholt sind. Gleichzeitig verschwinden jedoch weder die Begriffe der Wahrheit und Schönheit noch die Versuche, diese an objektiven Kriterien festzumachen aus kunst- und denkmaltheoretischen Auseinandersetzungen. Bis in heutige Debatten scheint die Möglichkeit von vielen Wahrheiten anstelle der einen aktuell zu bleiben.31 4.1.2 Schönheit und Wahrheit der Architektur Die Verbindung von Schönheit und Wahrheit in der Architektur soll hier aufgrund der engen Verbindung zwischen Architektur und Denkmalpflege und auch aufgrund der besonderen Ausformung der Diskussion im Vergleich zu der im allgemeinen Kunstdiskurs gesondert behandelt werden. In der Architektur setzten sich vor allem zwei auf formalen Kriterien basierende Vorstellungen von der Wahrhaftigkeit eines Objektes durch. Diese waren in erster Linie die angemessene Verwendung der Ma28 Gurlitt 1893, S. 185. 29 Vgl. ebd. 30 Ebd., S. 185 f. 31 In ihrem Einführungstext zum Band Zeitschichten der Denkmalpflege gehen Ingrid Scheurmann und Hans-Rudolf Meier auf die mit dieser Vielschichtigkeit verbundene oftmals unklare Terminologie in denkmalbezogenen Diskussionen ein, weisen jedoch auch auf das eventuell nicht immer ungewollte verunklärende Potenzial von Begriffen wie Schönheit und Wahrheit hin. Vgl. Scheurmann und Meier 2006, S. 15.
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terialien (was sowohl die Bearbeitung der Materialien selbst betrifft als auch den Einsatz der jeweils für das Objekt am besten geeigneten Materialien) und die optische Nachvollziehbarkeit der technischen Konstruktion des Bauwerkes. Abweichungen von beiden Postulaten bedeuteten nicht nur einen Verlust der Wahrhaftigkeit sondern, durch deren enge Verbindung, auch den der Schönheit. Die These, dass das „technisch und ökonomisch richtig ausgebildete Produkt […] auch das schönste“ sei, verfolgt Schweppenhäuser bis in die Antike zurück, basierend auf dem Gedanken der ästhetischen Trias des Guten, Wahren und Schönen.32 Bereits in dem Plato zugeschriebenen33 antiken philosophischen Dialog zwischen Sokrates und Hippias wird diese Frage erörtert. Dort gibt Sokrates seinem Gesprächspartner Hippias zu bedenken, dass auch die Schönheit des Goldes abhängig von dem jeweiligen Kontext ist, in dem es auftaucht, so dass auch Gold unschicklich wirken kann, wenn sein Gebrauch unangemessen erscheint. 34 Die Schönheit liegt also nicht (nur) im Material begründet, sondern auch in seiner richtigen Anwendung. Bei Vitruv hielt der Gedanke der Angemessenheit durch die aus der antiken Rhetorik übernommene Kategorie des decors Einzug in die Architekturtheorie. Damit bezeichnete Vitruv die angemessene Ausformung von Bauwerken, die dadurch erreicht wird, dass die Form den Inhalt repräsentiert, was sich beispielsweise durch die Verwendung der jeweils passenden (d.h. der Konvention entsprechenden) Säulenordnung äußert. Die Schönheit (venustas) beinhaltet die richtige Anwendung des decors, zeichnet sich also durch die Angemessenheit der Bauweise aus. Die Angemessenheit ist dabei das vermittelnde Element zwischen Form und Inhalt, nur wenn die Form auch der Aufgabe, also der inneren Intention, des Baus entspricht, kann man von einer angemessenen Anwendung der Elemente ausgehen.35 Der Gedanke der angemessenen Verwendung der Materialien wurde, ebenso wie die von Vitruv formulierten Hauptanliegen der Nützlichkeit und Schönheit, zur Konstanten der Architekturtheorie. Dabei rückte der Anspruch auf Angemessenheit in eine enge inhaltliche Nähe zu Vorstellungen von der Wahrheit. In seinem einflussreichen Text Von deutscher Baukunst legt Goethe das Verhältnis von Wahrheit, Angemessenheit und Schönheit am Beispiel der Verwendung der Säule dar. In 32 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 241. 33 Seit dem 19. Jahrhundert wird diskutiert, inwieweit die philosophische Schrift tatsächlich Plato zuzuschreiben ist oder ob es sich nicht um eine – evtl. auch jüngere – Fälschung handelt. In jedem Fall handelt es sich jedoch um ein antikes Schriftstück, das zeitgnössische Lehren widerspiegelt. 34 Sokrates führt zur Veranschaulichung seiner These das Beispiel eines goldenen Quirls an, dessen Materialität durch seinen Gebrauch zum Umrühren von Brei unangemessen wirkt. Vgl. Liessmann 2009, S. 14. 35 Vgl. Kruft 2004, S. 27.
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seiner Auseinandersetzung mit dem Straßburger Münster stellt er dieses einem gedankenlosen, rein nachahmenden Kunstideal gegenüber, am Beispiel der flankierenden Säulengänge auf dem Petersplatz in Rom: „Die herrliche Wirkung der Säulen traf dich, du wolltest auch ihrer brauchen und mauertest sie ein, wolltest auch Säulenreihen haben und umzirkeltest den Vorhof der Peterskirche mit Marmorgängen, die nirgends hin- noch herführen, daß Mutter Natur, die das Ungehörige und Unnötige verachtet und haßt, deinen Pöbel trieb, ihre Herrlichkeit zu öffentlichen Kloaken zu prostituieren, daß ihr die Augen wegwendet und die Nasen zuhaltet vorm Wunder der Welt.“36
Goethe kritisiert weiter die (unreflektierte) Orientierung an klassischen Vorbildern und regt stattdessen an, sich einfühlend auf die Bedürfnisse einzulassen: „Hättest du mehr gefühlt als gemessen, wäre der Geist der Massen über dich gekommen, die du anstauntest, du hättest nicht so nur nachgeahmt, weil sieʼs taten und es schön ist; notwendig und wahr hättest du deine Pläne geschaffen, und lebendige Schönheit wäre bildend aus ihnen gequollen.“37
Die lebendige Schönheit steht also in direktem Zusammenhang mit dem Notwendigen und Wahren. Ist dies nicht der Fall bleibt nur der schöne Schein: „So hast du deinen Bedürfnissen einen Schein von Wahrheit und Schönheit aufgetüncht.“ 38 In der Folge wurde der Gedanke der Wahrheit in der Architektur ausgeweitet auf die Konstruktion. Für Schinkel bestand ein direkter Zusammenhang zwischen der Nachvollziehbarkeit der Konstruktion eines Gebäudes und der Wahrheit – womit auch die Schönheit einhergeht. Das Zweckmäßige schön zu machen, sei die Aufgabe der Architektur. Dabei wird der Konstruktion ein besonderer Stellenwert eingeräumt: „Von der Konstruktion eines Bauwerkes muß alles wesentliche sichtbar bleiben. Man schneidet sich die Gedankenreihe ab, sobald man wesentliche Theile der Konstruktion verdeckt; das überdeckende Mittel führt sogleich auf Lüge […].“39 36 Goethe 1896, S. 141. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Schinkel 1979, S. 58. Kruft führt in diesem Zusammenhang aus, dass es Schinkel dabei in erster Linie um die Veranschaulichung einer Konstruktion geht, und nicht um die tatsächlichen statischen Notwendigkeiten, die damit nicht automatisch an sich zwingend schön sind, sondern teilweise erst der Veranschaulichung und künstlerischen Überarbeitung bedürfen. Er führt dies auf eine Aussage Schinkels zurück, in der er von der Charakteristik
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Die Konstruktion als wichtiges konstituierendes Element des Gebäudes muss für Schinkel ebenso dem Anspruch der Wahrheit genügen wie die Verwendung der Materialien und die Zweckerfüllung. Ziel ist eine vollkommene Entsprechung der einzelnen Teile zu dem Ganzen und seiner Idee, also die vollkommene Angemessenheit: „Das Ideal in der Baukunst ist nur dann völlig erreicht, wenn ein Gebäude seinem Zwecke in allen Theilen und im Ganzen in geistiger und physischer Hinsicht vollkommen entspricht.“40 Der Stellenwert des Zweckmäßigen und der Konstruktion wurde im 19. Jahrhundert vielfach diskutiert.41 Im Zusammenhang mit der Suche nach einer eigenen architektonischen Ausdrucksweise wollte man sich von der als einengend empfundenen klassizistischen Bauweise befreien und konzentrierte sich dazu auch auf die Frage der Ästhetik des Zweckmäßigen und der Konstruktion.42 Teil dieser Entwicklung war auch die 1828 von dem Architekten Heinrich Hübsch verfasste Schrift In welchem Style sollen wir bauen?. Dort kritisiert Hübsch, die Argumente aus Goethes Baukunst-Text bewusst oder unbewusst wieder aufnehmend, die „todte Nachahmung“ der Antike durch die zeitgenössische Architektenschaft und lobt zunächst die wenigen, die eine Zweckmäßigkeit der antiken Bauformen für die damalige Zeit und die geographische Lage in Frage stellen – wobei ihm die daraus gezogenen Schlussfolgerungen und Konsequenzen nicht weit genug gehen. 43 Dagegen möchte er die Architektur von „der Seite des Bedürfnisses“ aus betrachtet wissen, da dieses das hauptsächlich konstituierende Element der Architektur ausmache.44 Verzierungen, die „nur einen Scheinzweck haben“, sind bloßer Schein und als „todte[r] Form“ abzulehnen.45 Die griechische Kunst hingegen zeichne sich durch eine tiefere
des Gebäudes spricht, die gesteigert wird „wenn jeder Theil eines Bauwerkes frei und ungebunden nach den allgemeinen Gesetzen der Statik wirkt (oder zu wirken scheint).“ (Vgl. Kuft 2004, S. 341.) 40 Zit. nach Hellbrügge 1991, S. 18. Hellbrügge sieht darin die Vorstellung von einem vollkommenen Bauwerk ausgedrückt, die er als „wesentliche Grundlage für die Restaurierungsmethodik“ betrachtet, einer Aussage, der im Folgenden noch nachgegangen werden soll. Vgl. ebd. 41 Robin Rehm betont dabei, dass dieser Zweckbegriff nicht mit dem der Ästhetik Kants gleichzusetzen ist. Während für Kant der Zweck als Kategorie des Schönen ebenso wie diese von der Wahrnehmung des betrachtenden Subjektes abhängt, bezeichnet der architektonische Zweckbegriff eine formale Qualität des Gebäudes, das Rehm mit „Utilitarität“ zu übersetzen versucht. Vgl. Rehm 2005, S. 16. 42 Vgl. Rottau 2012, S. 38. 43 Hübsch 1828, S. 1. 44 Ebd., S. 2. 45 Ebd., S. 12.
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Wahrheit aus, die in der sinnvollen Anwendung der einzelnen Elemente begründet sei: „Das Prinzip der früheren griechischen Kunst ist Wahrheit [Hervorhebung im Original] im vollsten Sinne des Wortes. Alle architektonischen Elemente sind so gestaltet und angewendet, wie es ihre wahre Bestimmung mit sich bringt […]“.46
Diese Bestimmung orientierte sich aber am damaligen Kontext. Ein zeitgenössisches, künstlerisch wahres Bauwerk muss sich demnach nicht an den antiken Formen orientieren, sondern an seiner heutigen Bestimmung. Gleichzeitig nimmt Hübsch auch das Thema der Materialität aufs Neue in die architekturtheoretische Diskussion auf, und stellte auch hier die Forderung nach Wahrheit: „Wie der oberste Grundsatz in der Kunst Wahrheit sein soll, so darf man die leeren Wände, welche aus der Bestimmung hervorgehen, nicht durch fingierte Constructionen verblenden. Man muß sich auf den Standpunct des älteren griechischen und des Rundbogen-Styls versetzen, welche die Schönheit und Opulenz der Wände nicht in häufigen Vorsprüngen, sondern in sorgfältiger, dauerhafter Construction und reiner Bearbeitung der Fläche […] suchten.“47
John Ruskin widmet in seinem Werk Seven Lamps of Architecture der Wahrheit ein eigenes Kapitel. Dort führt er die verschiedenen Möglichkeiten eines Wahrheitsverstoßes in der Architektur aus und stellt sie in einen moralisch-ethischen Zusammenhang. Das größte Vergehen sieht er dabei in „a direct falsity of assertion respecting the nature of material, or the quantity of labour. And this is, in the full sense of the word, wrong; it is as truly deserving of reprobation as any other moral delinquency; it is unworthy alike of architects and of nations; and it has been a sign, wherever it has widely and with toleration existed, of a singular debasement of the arts.“ 48
46 Ebd., S. 19. 47 Ebd., S. 47. Dabei nimmt Hübsch explizit das durch Wandmalereien verzierte Innere der Gebäude aus. Diese neue Begeisterung für die Materialsichtigkeit an Gebäuden wirkte sich nicht nur auf die Neubauten der Zeit aus (wie beispielsweise Hübschs Polytechnikum in Karlsruhe oder auch Schinkels Bauakademie), sondern auch auf die zeitgenössische Restaurierungspraxis, die das freigelegte Mauerwerk mit mittelalterlichen Bauweisen verband (vgl. Hassler 2010, S. 180 f). Uta Hassler sieht die Auswirkung dieser Herangehensweise in Form der Abnahme von Putzhäuten in der Denkmalpflege bis in die 1960er Jahre vorhanden. 48 Ruskin 1849, S. 36.
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Neben der falschen Arbeitsweise (s. dazu Kapitel 5) liegt das größte Übel für Ruskin also in der Missachtung des Materials, die für ihn einen Niedergang der Künste bedeutet, und sowohl der Architektenschaft als auch der jeweiligen Nationen unwürdig ist. Der erste Schritt zu wahrer Größe liegt für Ruskin daher in dem Streben nach Wahrheit in der Architektur, was er unter anderem auch durch die relative Einfachheit der Erfüllung dieses Kriteriums begründet, im Gegensatz zu den Zielen von Schönheit oder Güte. Dazu führt er drei Punkte an, die zur Unwahrheit führen und entsprechend vermieden werden sollen: „1st. The suggestion of a mode of structure or support, other than the true one; […] 2nd. The painting of surfaces to represent some other material than that of which they actually consist (as in the marbling of wood), or the deceptive representation of sculptured ornament upon them. 3rd. The use of cast or machine-made ornaments of any kind.“49
Wie schon bei den vorher genannten Theorien spiegelt sich architektonische Wahrheit für Ruskin also in der Konstruktion und der Verwendung und Behandlung von Materialien wider. Der Begriff der Wahrheit verbleibt dabei auf einer formalen Ebene, Ruskin betont sogar die leichte Erreichbarkeit dieses Kriteriums durch das Einhalten formaler Regeln. Als dritten und neuen Punkt führt Ruskin die Vermeidung maschinell gefertigter Ornamente ein. Diese neue Komponente ist im Zusammenhang mit der Industrialisierung und dem Aufkommen neuer Materialien zu verstehen (so war Ruskin beispielsweise der Meinung, dass wahre Architektur die Verwendung von Eisen ausschließe50) und wurde insbesondere auch in Bezug auf das Kunstgewerbe diskutiert, wobei neben Fragen des Materials auch soziale Fragen der modernen Arbeitsteilung kritisch zur Sprache kamen. 51 Sowohl die Arts and Crafts-Bewegung als auch das Bauhaus und der Deutsche Werkbund beziehen sich in diesem Zusammenhang auf Ruskin.52 Hatten Ruskins Gedanken zur Wahrheit des Materials in vielen Punkten großen Einfluss, so konnte sich seine verneinende Einstellung in Bezug auf neue Materialien nicht durchsetzen. 1860 erschien der erste Band von Gottfried Sempers Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, der prägend für den Verlauf weiterer Stil- und Materialdiskussionen werden sollte.53 Dort 49 Ebd., S. 37. 50 Ebd., S. 42. 51 Vgl. Rottau 2012, S. 3 f. 52 Vgl. ebd., S. 17 und Brandt 2003, S. 241. William Morris sah die Materialfrage als die Grundlage der Architektur an und bezeichnet Architektur als „die Kunst des angemessenen Bauens mit angemessenen Materialien“ (the art of building suitably with suitable material, zit. nach Rottau 2012, S. 34). 53 Vgl. Rottau 2012, S. 83 ff.
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spricht sich Semper für eine dem jeweilige Material entsprechende Verarbeitung aus. Dabei nimmt er auch den Werkstoff Eisen in seine Ausführungen mit auf und widmet sich ausführlich der Darstellung seiner Materialeigenschaften und den damit verbundenen Folgen für die Gestaltung.54 1902 wird die Theorie der Materialgerechtigkeit von Hermann Muthesius in seinem Aufsatz Kunst und Maschine weiter den zeitlichen Umständen angepasst. Nachdem Semper schon gegen die von Ruskin formulierte Ablehnung der architektonischen Eisenkonstruktion argumentiert hatte, rehabilitiert Muthesius in seinem Aufsatz das maschinell hergestellte Produkt – aus dem Gedanken der Materialgerechtigkeit heraus. Während Ruskin die Verwendung von Maschinen als mit der Wahrheit des Kunstwerks unvereinbar ansieht, argumentiert Muthesius, dass der Maschinenarbeit nichts im Wege stünde, so lange die entstehenden Objekte zweckmäßig und in ihrer Herstellung materialgemäß seien. 55 Mit der stetigen Ausdifferenzierung der Diskussion um Materialverwendung konzentrierte sich die Diskussion um die Wahrheit der Architektur zunehmend auf formale Aspekte. In einer verkürzenden Zusammenfassung galt die Architektur als wahr, die die Materialien angemessen verwendete, wodurch ein sich daraus ableitender schöner Stil entstand. Gegen eine solche Lesart kam jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts Kritik auf. In seiner Funktion als Kustos der Textilabteilung der Sammlung des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie bezieht sich Alois Riegls 1895 zwar auf Semper, kritisiert jedoch später die Konzentration auf Material, Form und Zweck der Objekte in dessen Nachfolge, da er darin ein Hindernis für eine freie Entwicklung der Künste sah, für deren jeweiligen Stil er nicht in erster Linie materielle Bedingungen, sondern das „Kunstwollen“, also einen geistigen Ursprung, annahm.56 Dabei gesteht er Zweck und Nutzung des Objekts durchaus eine Rolle bei der Entstehung des Kunstwerks zu (in einem erweiterten Sinne also inklusive des Kunsthandwerks und der Architektur). Er möchte es lediglich nicht darauf verkürzt sehen und lehnt den Gedanken der zwangsläufigen Entstehung von Schönheit durch die Einhaltung technischer Vorgaben ab. Stattdessen schlägt er vor, genau zwischen Zweck und Schönheit zu unterscheiden, um zu einem besseren Verständnis des Werks zu gelangen: „denn wenn der Zweck auch nicht, wie die Kunstmaterialisten gemeint hatten, das Schöne mechanisch hervorbringt, so lieferte er doch den äußeren Anstoß, daß das Schöne ins Leben trete und bedingt dadurch wenigstens teilweise seine Erscheinung. Will man nun dasjenige rein erfassen, was am Kunstwerke auf Rechnung des Kunstwollens zu setzen ist, so muß man 54 Vgl. Semper 1863, S. 263 ff. 55 Vgl. Muthesius 1902, S. 147. 56 Vgl. Riegl 1895, S. 388 ff. Zu Riegls Begriff des „Kunstwollens“ vgl. Reichenberger 2003, S. 69-85.
184 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE das durch den praktischen Zweck bedingte daran von der Gesamterscheinung abzuziehen wissen […].“57
Riegl betont hier also wieder die zwei Komponenten des Kunstwerks, die formale und die ideelle, und knüpft damit an ältere ästhetische Theorien an. Er selbst sieht nach einer Zeit, in der die formalen Seiten der Kunst stärker betont wurden, nun wieder eine Zeit anbrechen, die sich stärker mit der ideellen Seite der Kunst auseinandersetze: „denn diesem [dem Kunstmaterialismus] galt ja das Schöne als eine notwendige Folgeerscheinung des Zweckmäßigen, das Kunstwerk als mechanisches Produkt aus Zweck, Rohstoff und Technik. Seit einem Jahrzehnt haben wir jedoch allmählich wieder deutlicher scheiden gelernt zwischen dem Zweckmäßigen, das der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse entspricht, und dem Schönen, das gefällt.“58
In ihrer Untersuchung über Materialgerechtigkeit aus dem Jahr 2012 schließt sich Nadine Rottau teilweise dieser Beobachtung Riegls an, indem sie darauf hinweist, dass sich auch andere Zeitgenossen gegen eine vermeintliche Verkürzung der Kunst auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Zweckmäßigkeit und Schönheit aussprechen.59 Gleichzeitig fand jedoch auch eine semantische und moralische Aufwertung der Materialgerechtigkeit statt. Adolf Vetter führt 1912 auf der Jahrestagung des Deutschen Werkbundes in Wien den Gedanken der Materialgerechtigkeit scheinbar zurück zu seinen Ursprüngen in der klassischen Ästhetik: „In ihrer [der Ausdrucksformen, S. H.] Echtheit, Wahrhaftigkeit, Gediegenheit, d.h. in der Übereinstimmung des Scheins mit dem Sein, sehen wir ihr wichtigstes, kulturbringendes und kulturerhöhendes Element. […] Treue gegen den Stoff, Echtheit, aber nicht nur des kostbaren Stoffes, sondern Echtheit in dem Sinne, dass jeder Stoff so zur Formgebung verwendet wird, wie es seiner Beschaffenheit entspricht, damit er als das erkennbar sei, was er ist […].“ 60
Die Echtheit der jeweiligen Ausdrucksform ergibt sich also als Übereinstimmung des Scheins mit dem Sein, die Dinge sollen als das erkennbar werden (bzw. bleiben), was sie wirklich sind.61
57 Riegl 1995d, S. 96 f. 58 Ebd., S. 92. Vgl. auch Rottau 2012, S. 116 f. 59 Vgl. Rottau 2012, S. 116 f. 60 Zit. nach ebd., S. 163 f. 61 Dabei hebt der Architekt Frederic Schwartz hervor, dass auch die Diskussionen um Materialgerechtigkeit eine über das rein Formale hinausgehende Dimension beinhalteten. Ma-
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Die Diskussion um die angemessene Verwendung von Material und konstruktiver Wahrheit erreichte ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert als emanzipatorische Bewegung gegen als veraltet empfundene Stilvorbilder. Als diese Vorbildfunktion gebrochen war, mussten Versuche unternommen werden, die Diskussion von formalen zurück zu künstlerischen Aspekten zu führen, da die Reduktion auf technische Fragen nicht mit dem Selbstverständnis eines künstlerisch schaffenden Architekten vereinbar war. In diesem Zusammenhang rückten Fragen nach dem Wesen und der Idee des Kunstwerks wieder in den Vordergrund und wurden versucht mit dem Postulat der Zweckmäßigkeit zu verbinden. Otto Wagners Argumente aus dem Jahr 1896 richten sich dabei noch einmal als Kritik gegen künstlerische Stilvorgaben: „Dinge, welche modernen Anschauungen entsprossen sind […], stimmen vollkommen zu unserer Erscheinung; nach alten Vorbildern Kopiertes und Imitiertes nie. […] Alles modern Geschaffene muß dem neuen Materiale und den Anforderungen der Gegenwart entsprechen, es muß unser eigenes besseres, demokratisches, selbstbewußtes, unser scharf denkendes Wesen veranschaulichen und den kolossalen technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften sowie dem durchgehenden praktischen Zuge der Menschheit Rechnung tragen […].“62
Daher gelte es, „daß […] der Architekt trachten muß, Neuformen zu schaffen oder jene Formen, welche sich am leichtesten unseren modernen Konstruktionen und Bedürfnissen fügen, also schon so der Wahrheit am besten entsprechen, anzuwenden.“63 Die Wahrheit des Bauwerkes liegt damit in der Veranschaulichung des modernen Wesens. Die neuen Formen richten sich zweckmäßig nach den modernen Bedürfnissen und veranschaulichen diese, die eigentliche Aufgabe der Kunst erschöpft sich aber nicht in der formalen Ausformung. Weitergeführt wurden diese Gedanken durch Walter Gropiusʼ theoretische Ausführungen zum Funktionalismus. 1925 hielt er dazu unter dem Thema Internationale Architektur fest: „Die Erkenntnis wächst, daß ein lebendiger Gestaltungswille, in der Gesamtheit der Gesellschaft und ihres Lebens wurzelnd, alle Gebiete menschlicher Gestaltung zu einheitlichem Ziel umschließt – im Bau beginnt und endet. Folge dieses veränderten und vertieften Geistes und seiner neuen technischen Mittel ist eine veränderte Baugestalt, die nicht um ihrer selbst willen da ist, sondern aus dem Wesen des Baues entspringt, aus seiner Funktion, die er erfüllen soll.“64
terial wurde demnach nicht nur als Substanz, sondern als Signifikant diskutiert. Vgl. Rottau 2012, S. 170. 62 Wagner 1902, S. 63. 63 Ebd., S. 67. 64 Gropius 1981, S. 6.
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Dieses Wesen setzt sich zusammen aus verschiedenen Faktoren, die sowohl materieller als auch sozialer Art sein können und die zunächst erforscht werden müssen, bevor das Objekt gestaltet werden kann: „Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen. Um es so zu gestalten, daß es richtig funktioniert – ein Gefäß, ein Stuhl, ein Haus – muß sein Wesen zuerst erforscht werden, denn es soll dem Zweck vollendet dienen, das heißt, seine Funktion praktisch erfüllen, haltbar, billig und ‚schön‘ sein.“65
Für Gropius ist der Funktionalismus also keine formalistische Angelegenheit, sondern eine umfassende Herangehensweise an ästhetische Fragen – Funktion und Wesen beinhalten sowohl formale als auch ideelle Komponenten. Das Thema der Wahrheit ist in der Architektur also eng an Material- und Konstruktionsfragen gebunden. Dabei lässt sich ein architektonisches Werk als Kunstwerk nicht auf seine Materialität reduzieren. Es bleibt also die Frage nach der Veranschaulichung des wahren Wesens des Werkes, wofür sich jedoch keine formalen Regeln aufstellen lassen. Der Schluss, dass eine wahrhaftige Materialverwendung nicht automatisch zu einem schönen Gebäude führt, löst nicht die Verbindung von Schönheit und Wahrheit auf, sondern führt nur zu der Erkenntnis, dass sich das Wesen des Kunstwerks nicht auf seine Form reduzieren lässt. 4.1.3 Wahrheit und Schönheit des Denkmals Im Rahmen der Denkmalpflege wurde und wird das Thema des die Wahrheit wiedergebenden Denkmals vor allem unter den Schlagworten der Echtheit, Originalität und Authentizität – Begriffe, auf die später noch eingegangen werden muss – verhandelt und steht dabei implizit meist in einer engen Verbindung zu Aussagen über eine potenzielle Schönheit des Denkmals. Zwar ist es allgemein anerkannt, dass ein Gebäude nicht schön sein muss, um wahr bzw. echt zu sein, die Frage jedoch, inwieweit ein Gebäude, das als unwahr empfunden wird, schön sein kann – es sei denn im Rahmen der oft beschworenen oberflächlichen Schönheit – , scheint bis heute Grund zu Diskussionen geben zu können. Die grundlegende These für alles Folgende lautet also, dass durch die lange enge gedankliche Verbindung von Schönheit und Wahrheit, die Schönheit unterschwellig auch in Diskussionen um die Wahrhaftigkeit von Denkmalen eine Rolle spielt. Dabei existieren jedoch unterschiedliche Vorstellungen davon, worauf sich diese Wahrheit beziehen sollte. Dies knüpft direkt an die beiden vorangegangenen Kapitel an, geht es doch auch hier um die Frage, ob die Wahrhaftigkeit der Form oder der Aussage des Denkmals im Fokus des Interesses steht und, als Erweiterung die65 Gropius 1925, S. 5.
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ser Varianten, ob das Denkmal als Urkunde oder Kunstwerk betrachtet werden sollte, was jeweils unterschiedliche Vorstellungen von Wahrheit mit sich bringt. Diese verschiedenen Varianten stehen nicht in einer zeitlichen Abfolge, sondern existieren über lange Zeiträume in unterschiedlichen Gewichtungen parallel zueinander und sollen daher in den folgenden Kapiteln einzeln untersucht werden. Um einen Überblick über die Problematik zu geben, wird jedoch zunächst kurz eine allgemeine Entwicklung skizziert, um in den darauffolgenden Kapiteln auf einzelne Aspekte genauer einzugehen und sich so der tatsächlichen Vielschichtigkeit des Themas anzunähern. Als Ausgangspunkt dient die Verschiebung der Perspektive innerhalb der Denkmalpflege seit dem Historismus (s. Kapitel 2). Die disziplinären Veränderungen innerhalb der Denkmalpflege, also die stärkere Einbeziehung von Historikern und Kunsthistorikern neben Architekten, führten zwangsläufig zu Veränderungen im Denkmalverständnis.66 Marion Wohlleben weist auf die dadurch entstehenden grundsätzlich unterschiedlichen Ursprünge der Kritik an bisherigen denkmalpflegerischen Praktiken hin. Demnach bezog sich die durch die Architektenschaft geäußerte Kritik an früheren und zeitgenössischen denkmalpflegerischen Praktiken in erster Linie auf die Qualität der An- und Umbauten, wohingegen Historiker und Kunsthistoriker ihre Kritik stärker auf den durch Interventionen am Denkmal entstehenden Verlust des Zeugnischarakters bezogen. 67 Die Kritik der Architekten richtet sich also gegen ein vermeintlich falsches Verständnis vom Kunstwerk, wohingegen die Historiker sich gegen einen vermeintlich falschen Umgang mit der Geschichte einsetzen.68 Achim Hubel sieht hier auch einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Ablehnung des Historismus und einer damit verbundenen Notwendigkeit sich von diesem abzugrenzen. Die Betonung des historischen Quellenwertes des Denkmals als ‚echtes‘ Geschichtsdokument interpretiert Hubel auch als Versuch, eine neue Wertigkeit des Denkmals zu etablieren, damit dieses nicht „in den Sog der Antipathie hineingerissen“ würde.69
66 Gerhard Vinken spricht in diesem Zusammenhang von dem Zerfall der „Allianz zwischen Architektur und Denkmalpflege“ zugunsten der Historiker und der Quellenbedeutung des Denkmals (vgl. Vinken 2008, S. 166). 67 Vgl. Wohlleben 1989, S. 85. 68 Die grobe Trennung zwischen ‚den‘ Architekten einerseits und ‚den‘ (Kunst)Historikern andererseits ist dabei bestimmt einer Verkürzung. Sie wird hier jedoch weitergeführt, da es um die modellhafte Verdeutlichung verschiedener Ansatzpunkte geht und nicht um eine Analyse von Akteurskonstellationen innerhalb der Denkmalpflege dieser Zeit. Entsprechend sprach Willibald Sauerländer schon 1975 vom „Vorstellungsmodell“ der historischen Urkunde, das der kunsthistorisch geprägten Denkmalpflege um 1900 zugrunde lag (vgl. Sauerländer 1975, S. 122). 69 Vgl. Hubel 2005a, S. 233 f.
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In der späteren Wissenschaftsgeschichte wurde diese so postulierte Konzentration der Denkmalpflege auf den Zeugniswert des Denkmals durchaus auch kritisch gesehen, insbesondere seit den 70er Jahren. Willibald Sauerländer kommt in seinem 1975 gehaltenen Vortrag über die Erweiterung des Denkmalbegriffs zu dem Schluss, dass die „Achtung vor der Geschichte als solcher“ nach Dehio und die damit einhergehende Konzentration auf den historischen Zeugniswert für die Denkmalpflege als Aufgabe nicht ausreichend sei und fordert stattdessen eine „neue gesellschaftliche Begründung“ der Denkmalpflege.70 Diese Gedanken werden 1994 von Wilfried Lipp in seinen Ausführungen zu einem postmodernen Denkmalkultus wieder aufgegriffen, wo auch er eine Verstärkung der Sinnstiftung durch die Denkmalpflege fordert und dafür auch die emotionalen Werte des Denkmals berücksichtigt sehen möchte.71 Im Zuge der darauffolgenden durch die Postmoderne geprägten Denkmaldiskussion gewinnt die ideelle Seite des Denkmals stärker an Bedeutung,72 was auch Auswirkungen auf die Fragen nach der Wahrheit und Schönheit des Denkmals mit sich bringt. Schien die Frage nach der Wahrheit des Denkmals durch seinen Status als Urkunde zunächst eindeutig geklärt – und zwar in einem Ausmaß, dass sich die Frage nach der Schönheit gar nicht mehr stellen musste – , so bekam das Thema durch die Auseinandersetzung mit anderen Denkmalbedeutungen wieder neue Relevanz. Zeitgleich gewann auch das Thema der ‚Echtheit‘ in seinen verschiedenen Facetten in der Denkmalpflege erneut an Bedeutung. Bereits 1979, also noch vor der durch Lipp angestoßenen Postmoderne-Diskussion, veranstaltete das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege gemeinsam mit der bayerischen Staatsgemäldesammlung ein zweitägiges Symposion unter dem Titel Echtheitsfetischismus, das sich der Frage widmete, ob und inwieweit die zeitgenössische Beschäftigung mit Kunst (worunter auch die Denkmalpflege gezählt wurde) unter eben diesem Echtheitsfetischismus leide.73 Michael Petzet führt in diesem Zusammenhang in seinem Beitrag zum Echtheitsfetischismus in der Architektur die verschiedenen möglichen Herangehensweisen der Denkmalpflege an das Thema auf, die sich zum einen auf die Echtheit des Bauwerkes als künstlerisches Objekt, also seine echte Form beziehe, zum anderen auf die echte Substanz des Bauwerks als Urkunde: 70 S. dazu auch Kapitel 5. Sauerländer 1975, S. 124 f. 71 Vgl. Lipp 1994, S. 10. 72 Ingrid Scheurmann hebt hier insbesondere Dankwart Guratzschʼ Überlegungen vom Denkmalwert der Idee (1995) hervor (vgl. Scheurmann 2010, S. 64). 73 Am ersten Tag wurden dazu Beiträge zu den Themen Malerei, Plastik und Kunstgewerbe gehört, am zweiten Tag beschäftigte man sich mit Architektur und Städtebau. Die Referenten zu diesen Themen waren Michael Petzet, damals Bayerischer Generalkonservator, und der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege Alfred Schmid (vgl. Schmid und Waetzoldt 1979, S. 5 f).
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„Wenn es so etwas wie ‚Echteitsfetischismus‘ im Bereich der Architektur geben sollte, könnte er vielleicht auch in zwei sehr unterschiedlichen Zielen von ‚Denkmalpflege‘ zum Ausdruck kommen, im Streben nach der ‚ursprünglichen‘ Form, die nach Möglichkeit zu restaurieren, wiederherzustellen ist, wie in dem Bemühen, allein und ausschließlich ‚originale historische Substanz‘ zu konservieren, zu bewahren.“74
Hier wird das Denkmal einmal als in sich geschlossenes Werk dargestellt, das in seiner Vollständigkeit bewahrt oder wiederhergestellt werden sollte, und einmal im Sinne eines erweiterten Werkbegriffs als Zeitspuren in sich aufnehmend, wodurch diese Teil des Denkmals und selbst schützenswert werden. Alfred Schmid führt in seinem Beitrag aus, dass sich beide Zielstellungen unter Umständen durchaus widersprechen können, da „die Suche nach Echtheit und Ursprünglichkeit indessen leider öfters mit einer empfindlichen Einbuße an historischer Substanz verbunden“ sei.75 Außerdem stellt er fest, dass beide Herangehensweisen eine jeweils unterschiedliche Denkmalästhetik mit sich brächten, die sich insbesondere auch bei neuen Hinzufügungen zum Denkmal bemerkbar mache. Die beiden Alternativen zeichnen sich für ihn durch „Schönheit aus dem Kontrast zwischen dem alten, fragmentarischen Bestand und den Hilfskonstruktionen in modernster Formensprache, Konfliktschönheit also, […] oder Schönheit durch Integration, durch möglichst diskrete Einfügung unserer Zutaten“ aus, wobei er sich persönlich für die Schönheit durch Integration ausspricht, nicht jedoch ohne zu betonen, dass in jedem Fall der Substanzerhalt an erster Stelle stehe.76 Insbesondere mit den Bemerkungen zum Substanzverlust zu Gunsten der Herstellung eines vermeintlich ursprünglichen Zustands wirft Schmid hier, wenn auch quasi nebenbei, Licht auf ein weiteres Diskussionsfeld. Die Frage ist nämlich, inwieweit die verschiedenen Positionen zum Denkmal und seiner Wahrhaftigkeit einander und sich gegenseitig ausschließend gegenüberstehen oder inwieweit das Denkmal nicht verschiedene Aspekte in sich vereint, oder, vereinfacht gesagt, ist das Denkmal entweder Kunstwerk oder historische Urkunde, oder beides in unterschiedlicher Ausprägung und mit unterschiedlicher Gewichtung. Christoph Hellbrügge geht in diesem Zusammenhang von einer im Denkmal begründeten Polarität zwischen „Geist“ und „Materie“ aus, wobei sich im Rahmen der Entwicklungen seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die „‚körperliche‘ Seite des Denkmalkultus“ (also die Konzentration auf den Urkundenwert und die historische Substanz) 74 Petzet in Schmid und Waetzoldt 1979, S. 37. 75 Schmid in ebd., S. 45. 76 Ders. ebd., S. 56 f. Wilfried Lipp spricht fast dreißig Jahre später in diesem Zusammenhang vom „Purismus des abstrakten Befunds […] des ‚reinen‘ Präparats, […] des Fragments“, der den Purismus des 19. Jahrhunderts, der sich durch das Streben nach Stilreinheit auszeichnete, ablöste (vgl. Lipp 2008, S. 61 f).
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im Vergleich zum „geistesgeschichtliche[n] Rezeptionsansatz“ (hierzu zählt er Beispielsweise Clemens Symbolwert, auf den an späterer Stelle noch eingegangen wird) als stärker bewies.77 Bernd Euler-Rolle sieht hier jedoch eine „Janusköpfigkeit“, „welche die Ziele der Denkmalpflege immer begleite[n] und zwischen der Wertschätzung des historischen Werks und der Wertschätzung der historisch überlieferten Substanz pendeln.“78 In dem Anspruch einer ausgewogenen Entscheidung zwischen beidem sieht er keine neue Entwicklung, sondern eine Aufgabe der Denkmalpflege, die diese seit ihren Anfängen begleitet: „Sie [die Denkmale] haben durch Zeitspuren an Authentizität im Sinne eines geschichtlich verbürgten Objekts gewonnen, möglicherweise aber dadurch an ursprünglicher Bildwirkung verloren. Daraus entsteht eine Diskrepanz zwischen den heterogenen Geschichtsbildern der wahrhaftig überlieferten Substanz und den letztlich von der Materie ablösbaren Idealbildern von Ursprung und Idee, welche die Geschichte der Denkmalpflege von Anfang an begleiten.“79
Hier kommt gleichzeitig zum Ausdruck, dass, wie schon von Schmid festgestellt, Entscheidungen für die Vorrangstellung von Substanz oder Idee des Denkmals jeweils auch ästhetische Entscheidungen mit sich führen. Beide Herangehensweisen arbeiten dabei auch mit verschiedenen Vorstellungen dessen, was die Wahrheit des Denkmals ausmacht. Thomas Will differenziert deswegen zwischen einer historischen und einer künstlerischen Wahrheit: „Historische Wahrheit und künstlerische Wahrheit stehen in einem Spannungsverhältnis. Künstlerisch Falsches kann historische Wahrheit erlangen, und historisch Falsches kann künstlerische Wahrheit besitzen.“80 Die Problematik liegt für ihn in einer mangelnden Differenzierung des jeweiligen Verständnisses von Wahrheit und er regt daher an, „dass ‚Wahrheit‘ als Wertkategorie nicht nur gesucht und verteidigt, sondern auch definiert werden“ müsse. Für eine bessere Differenzierung führt er als Hilfsbegriffe die Worte „Originalität“ und „Authentizität“ an: „Bei Denkmalen kann ‚Wahrheit‘ sich sowohl auf die Originalität wie auch auf die Authentizität beziehen. Originalität bedeutet dabei, dass ein historisches Objekt identisch ist mit dem Gegenstand, auf den es in seiner Erscheinung und Struktur verweist, Authentizität hingegen meint, dass ein Werk ‚stimmt‘, in sich schlüssig ist, eine gültige Aussage macht.“ 81
77 Vgl. Hellbrügge 1991, S. 214. 78 Euler-Rolle 2013, S. 136. 79 Euler-Rolle 2010, S. 90. 80 Will 2006, S. 82. 81 Ebd.
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Nach dieser Definition wird der Originalitätsbegriff eindeutig dem historischen Werk zugeordnet, der Begriff der Authentizität eröffnet jedoch weitergehende Möglichkeiten der ‚Wahrheitsfindung‘, die zum einen vorhandene Altersspuren mit in sich aufnehmen kann, zum anderen aber auch neuere Veränderungen durch ‚Schlüssigkeit‘ legitimieren. Tatsächlich steht die steigende Popularität des Begriffes der Authentizität (auf den später noch genauer eingegangen werden soll) scheinbar in einem engen Zusammenhang mit einem verstärkten Ringen der Denkmalpflege mit der Wahrheitsfrage, die sich insbesondere an Fragen der Rekonstruktion oder Teilrekonstruktion von Bauwerken entzündet.82 Gleichzeitig wird auch gerade hier die Frage der Ästhetik und Schönheit des Denkmals (oder der Rekonstruktion) diskutiert. Ingrid Scheurmann sieht im Zusammenhang mit einer von ihr festgestellten Polarisierung zwischen der „Bildträchtigkeit“ der Denkmale und ihrer Substanz eine Auflösung der durch Dehio festgestellten Doppelnatur des Denkmals, das sowohl über historische, als auch über ästhetische Komponenten verfüge. Die Verfechter der „Bildträchtigkeit“ der Denkmale akzentuierten dabei „die Schönheit, harmonische Geschlossenheit und Wirkung eines Bauwerks und sind bereit, zugunsten der Denkmalästhetik auch Substanzverluste in Kauf zu nehmen“, wohingegen die andere Gruppe die Substanz als Trägerin des Denkmalwertes sehe und die historische Zeugniskraft des Denkmals sowie die „Aura des Überkommenen“ in den Vordergrund stelle.83 Die Schönheit – beziehungsweise eine bestimmte Aus82 Klaus von Beymes Einschätzung aus dem Jahr 1987, dass die zeitgenössische Rekonstruktionsproblematik „nicht übertrieben werden“ solle, da sich die Rekonstruktionswelle zwangsläufig ihrem Ende zuneigen müsse, hat sich dabei als überholt erwiesen, stellt aber in ihrem Optimismus ein interessantes Zeitdokument dar: „Die Rekonstruktionswelle neigt sich dem Ende zu, schon weil es kaum noch bedeutende Denkmäler gibt, die genügend Expertise und Volk für sich mobilisieren können. […] Die Generation, die sich noch auf das kollektive Gedächtnis berufen kann, tritt demnächst ab. Selbst die wenigen Denkmäler, die eine Rekonstruktionskampagne auslösen sollten, wie die Frauenkirche in Dresden oder das Pellerhaus in Nürnberg, haben wenig Hoffnung auf eine Wiedererstehung.“ (Von Beyme 1987, S. 238) 83 Zu der erstgenannten Gruppe zählt sie als Beispiele Brülls und Donath, der anderen Gruppe ordnet sie stellvertretend Huse und Mörsch zu. Es ist bestimmt kein Zufall, dass sich – zumindest bei dieser Auswahl der Stellvertreter – auch ein Generationenkonflikt innerhalb der Denkmalpflege vermuten ließe. Außerdem wird hier von der Autorin eine „Denkmalästhetik“ mit den Vorstellungen einer formalen, auf das Äußerliche beschränkten Harmonie gleichgesetzt, wohingegen der substanzerhaltenden Seite auch die Wertschätzung für die „Aura des Überkommenen“ zugeteilt wird – ein Wert, der, wie bereits gezeigt wurde, ebenfalls in einer, wenn auch anders ausgerichteten Denkmalästhetik verankert ist. Die festgestellte Polarisierung innerhalb der Denkmalpflege findet also vermutlich doch nicht an so klar umrissenen Linien statt (vgl. Scheurmann 2008, S. 143).
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prägung der Schönheit, nämlich die der formalen Harmonie – bildet in diesem Fall den Gegenpol zum Streben nach historischer Wahrheit, und tatsächlich dient der Wunsch nach dieser Form von Schönheit oft als eines der Hauptargumente für Rekonstruktionsvorhaben.84 Dabei merkt Michael Falser kritisch an, dass es im Zuge der Rekonstruktionsdebatten der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts innerhalb der Denkmalpflege keine „nach außen für das Laienpublikum kohärente und verständliche, ganz zu schweigen überzeugende Gesamtposition“ gab.85 Es ist anzunehmen, dass dieser Mangel einer gemeinsamen Position auch auf die hier ausgeführten unterschiedlichen denkmalpflegerischen Werkvorstellungen und Wahrheitsbegriffe zurückzuführen sind. Diese sind jeweils eng mit ästhetischen Vorstellungen verbunden. Eine Gegenüberstellung von Substanzerhalt auf der einen Seite und Schönheit auf der anderen reicht daher nicht aus, sondern beleuchtet nur eine Facette des Themenfeldes. Vielmehr existieren verschiedene und komplexe Vorstellungen von der ‚Wahrheit‘ des Denkmals, die sich jeweils auch in verschiedenen ästhetischen Konzepten – und Vorstellungen von Schönheit – widerspiegeln. Einige davon sollen im Folgenden dargelegt werden, wobei es sich auch hierbei um eine systematische Vereinfachung zu Gunsten einzelner Kategorien handeln wird. Zunächst wird es jedoch nötig sein, die grundlegenden Begriffe von Original, Kopie, Rekonstruktion und Authentizität genauer zu klären. Dabei sollen diese nicht in ihrer Bedeutung eindeutig festgelegt, sondern in erster Linie in Hinblick auf ihre Verwendung im denkmalpflegerischen Themenfeld untersucht werden.
4.2 D AS ‚O RIGINAL ‘
IN DER
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Die Entstehung des Begriffs ‚Original‘ in seiner heutigen Verwendung wird von unterschiedlichen Autoren zu verschiedenen Zeiten angesetzt. Während Tanehisa Otabe eine Entstehung im Zusammenhang mit der zunehmenden Autonomie des Künstlers und der Loslösung von den ihm vorgegebenen Normen im 18. Jahrhundert sieht,86 erkennt Marcello Barbanera Anfänge dieses Verständnisses vom Original auch schon in der Vorstellung vom Künstler als Genie in der Renaissance.87 Einigkeit besteht also in der engen Verbindung zwischen dem Original- und dem Originalitätsgedanken, nun nicht mehr nur auf die Objekte, sondern auch auf die schaffenden Subjekte bezogen. Die Originalität des (modernen) autonomen Subjektes 84 Vgl. dazu beispielsweise Altrock et al. 2010, S. 167. Als weitere Argumente nennt Altrock das Bedürfnis nach „Heilung“ und „Erinnerung“. 85 Falser 2011a, S. 92. 86 Vgl. Otabe 2005, S. 32 f. Otabe sieht hier auch einen direkten Zusammenhang zur Querelle des anciens et des modernes (S. 42). 87 Vgl. Barbanera 2006, S. 31.
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besteht dabei in der Entdeckung des Neuen und dem Ausdehnen scheinbar vorgegebener Grenzen.88 Dies gipfelte im 19. Jahrhundert in einem wahren Geniekult, der mit einer (pseudo-)Sakralisierung der vom Künstler geschaffenen originalen Werke einherging.89 Das originale Werk ist das Produkt des Genies und seiner künstlerischen Originalität. In Bezug auf die Denkmalpflege gewann aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine aus den Geschichtswissenschaften stammende Vorstellung von Original an Bedeutung. Das sich hier durchsetzende Verständnis von Originalität war begründet in Vorstellungen der historischen Echtheit und Unwiederholbarkeit der Objekte und ließ sich sowohl auf neue als auch auf historische Werke beziehen. 90 Virulent wurde das Thema des Originals in der Denkmalpflege meistens dann, wenn im Zusammenhang mit dem Umgang mit Denkmalen verschiedene Vorstellungen aufeinandertrafen. Dabei ist man sich in Bezug auf die grundsätzliche Notwendigkeit des Erhalts des Denkmals als Original einig, Vorstellungen davon, worin dieses Originale und die damit verbundenen Werte des Denkmals bestünden, driften aber durchaus auseinander. Christoph Hellbrügge stellt für die Denkmalpflege um 1900 verschiedene Vorstellung vom Denkmal als Original dar. Neben der durch die Geschichtswissenschaften beeinflussten Lesart des Denkmals als Original im Sinne einer historischen Urkunde, inklusive aller Veränderungen, spricht er von einem „‚konservativen Originalitätsverständnis“ (hauptsächlich durch die Architekten unter den Denkmalpflegern vertreten), das sich eben nicht zwingend an der überkommenen Substanz orientierte, sondern an einem als original angenommenen Zustand des Bauwerks. In diesem Fall erstreckte sich der Gedanke des Erhalts des Originals entsprechend nicht auf alle Teile des Bauwerks, sondern nur auf solche, die als Teil dieses Originals betrachtet wurden.91 Diesen unterschiedlichen Verständnissen von Original liegen die oben dargelegten unterschiedlichen Vorstellungen vom Werk als vom Künstler geschaffen und in sich geschlossen auf der einen Seite und dem die zeitliche Komponente mit einbeziehenden Werk zugrunde.92 Letzteres ordnet Bernd 88 Vgl. Otabe 2005, S. 35. Otabe setzt diese analog zur Entdeckung der ‚Neuen Welt‘, und Anja Zimmermann weist in diesem Zusammenhang auf die enge Verbindung zwischen dem künstlerischen Geniegedanken und dem zeitgenössischen Leitbild des Naturwissenschaftlers hin (Zimmermann 2009, S. 18). 89 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 19. 90 Vgl. Euler-Rolle 2013, S. 136 ff. Euler-Rolle verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf den Einfluss Droysens (s. dazu auch Scheurmann 2013 und Warnke-De Nobili 2013) und die quellenkundliche Ausbildung der Vertreter der Wiener Schule für Kunstgeschichte am Institut für Österreichische Geschichte. 91 Vgl. Hellbrügge 1991, S. 99 f. 92 Insbesondere wenn es um die Wiederherstellung oder Teilwiederherstellung von Denkmalen nach vorhandenen historischen Plänen geht, wird meist mit ersterem Originalver-
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Euler-Rolle in die zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Strömungen ein und setzt es in Bezug zum Expressionismus und den Schriften Max Sauerlandts, der 1929 im Original Ausdruck einer „geheimnisvolle[n] Verschmelzung von Idee und Materie“ sah.93 Stark rezipiert wurde auch Walter Benjamins Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1935/36, der in der denkmalpflegerischen Diskussion jedoch in erster Linie ab den 60er Jahren an Bedeutung gewann.94 Insbesondere die Vorstellung von der ‚Aura‘ des Originals und die notwendige Verankerung des Werks im „Hier und Jetzt“, das auch seine spezifische Geschichte mit einschließt,95 gaben und geben immer wieder Anlass, sich im denkmalpflegerischen Kontext auf Benjamin zu beziehen. 96 Einen direkten Bezug zu Benjamins Thesen sieht Sigrid Brandt auch in dem 1950 erschienen Text Original und Kopie des Marburger Kunsthistorikers Richard Hamann. Dort grenzt Hamann explizit die technische Reproduktion von der Kopie ab, die durch ihre handwerkliche Herstellungsweise durchaus auch über einen eigenen künstlerischen Wert verfügen könne: „Eine Kopie ist von einem Künstler in derselben Weise hergestellt wie das Original von dem Künstler, der dieses geschaffen hat, und er bedarf dazu künstlerischer Fähigkeiten und künstlerischer Ausbildung. Eine Reproduktion dagegen ist auf mechanischem Wege entstanden, ist keine Kunst. Eine Kopie ist selbst ein Kunstwerk und kann danach beurteilt werden, wieviel Kunst darauf verwandt wurde.“97 ständnis argumentiert. Bereits 1931 argumentierte Cornelius Gurlitt in Bezug auf die Arbeiten am Dresdner Zwinger mit dem seither immer wieder aufgenommenen Vergleich zwischen Plan und Partitur, Gebäude und Musikstück: „Ein Musikstück wird geschrieben, damit andere es aufführen können – also Kopie der Partitur durch einen Dirigenten. Man lobt ihn, wenn er es individuell aufführt, das heißt doch, wenn er damit eine selbständige Kunstleistung gibt.“ (Gurlitt 1931b, S. 33) Sigrid Brandt merkt in diesem Zusammenhang zu recht an, dass der Vergleich durch die Ortsgebundenheit des Denkmals schwer aufrechtzuerhalten ist, ähnlich verhält es sich mit der Zeit- und Materialgebundenheit (vgl. Brandt 2003, S. 197). 93 Zit. nach Euler-Rolle 2013, S. 141 f. 94 Vgl. Falser 2011a, S. 89. 95 Vgl. Benjamin, 1991, S. 437. 96 Auch wenn Mörsch in seinem 1997 erschienen Aufsatz Rekonstruktion zerstört nicht explizit den Namen Benjamins nennt, so scheint er sich doch mit dem Verweis auf die „Aura“ des Denkmals auf ihn zu beziehen: „Die ‚Leistung‘, die das Denkmal erbringt, ist neben allen konkreten Fragen, auf die das Denkmal als Zeuge antworten kann, die Begegnung mit seiner ‚Aura‘, seiner materiellen, freilich so zerbrechlichen Existenz.“ (Mörsch 2005, S. 73.) 97 Hamann 1949/50, S. 136. f.
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Im Gegensatz zum Original verfüge die Kopie jedoch über keinen „Leistungswert“, der auf die schöpferische Leistung des Künstlers zurückzuführen ist und beispielsweise durch die spezifische Motiv- oder Materialwahl zum Ausdruck komme. 98 Hamann versucht also, die Begrifflichkeiten weiter zu differenzieren, was zu einer Aufwertung der handwerklich hergestellten Kopie führt und – auch wenn sich Hamann in seinem Aufsatz nicht auf architektonische Fragestellungen bezieht – in seiner Aussagefähigkeit für die zeitgenössische Denkmalpflege bestimmt auch im zeitlichen Kontext gesehen werden muss. Durch die starken Zerstörungen des zweiten Weltkriegs sahen sich Denkmalpfleger gerade auch in Bezug auf die Frage nach dem – nicht mehr vorhandenen – Original vor neue Herausforderungen gestellt. Auch wenn eine große theoretische Grundsatzdebatte ausblieb,99 so gab es doch immer wieder einzelne Überlegungen zum Verständnis und angemessenen Umgang vom und mit dem verbliebenen Originalen. So erschien 1961 in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Denkmalpflege ein Aufsatz Friedrich Mielkes über das Original und den wissenschaftlichen Denkmalbegriff, den die Herausgeber als wichtig und grundlegend genug empfanden, um seinen wissenschaftlichen Wert für das Fach in einem vorangestellten Kurztext hervorzuheben.100 Mielke stellt zu Beginn seines Texts seine Sichtweise vom Bauwerk als historische Urkunde klar, was für ihn zwangsläufig eine Bindung an die Bausubstanz nach sich zieht (was beispielsweise bei musikalischen Werken nicht der Fall sei). Jedoch fühlt er sich dabei in erster Linie dem „Originalzustand der Bausubstanz“ verpflichtet. Die historische Urkunde Bauwerk umfasst also nicht alle späteren Veränderungen, sondern bezieht sich, wie das künstlerische Original, auf einen ursprünglichen Zustand, was in seinen Ausführungen zum Urkundencharakter des Bauwerks deutlich hervorgeht: „Der Urkundencharakter eines Bauwerkes bleibt selbst bei größeren Erneuerungen und Ergänzungen so lange erhalten, als wesentliche Bestandteile ihre Aussagefähigkeit im konzeptionellen und materiellen Sinne bewahrt haben. Überwiegen die Neubauten, so muß entsprechend dem Grade die Authentizität der Urkunde schwinden. Ergänzungen und Erneuerungen
98
Ebd.
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Sigrid Brandt führt dies darauf zurück, dass die Diskussionen um den Wiederaufbau hauptsächlich von Planern und Architekten geführt wurden, wohingegen die meisten Denkmalpfleger keine Notwendigkeit sahen, ihr theoretisches Gerüst zu überdenken (vgl. Brandt 2003, S. 196).
100 Deutsche Kunst und Denkmalpflege 1961, S. 1. Auch wenn dieser Hinweis auf eine Auseinandersetzung mit dem Thema auch zu jener Zeit schließen lässt, ist mir über größere zusammenhängende Debatten in dem Kontext nichts bekannt.
196 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE können das verlorene Original wohl in der Masse und in der Form, nicht aber in seinem Wert ersetzen.“101
Das Denkmal verfügt also über als wesentlich angenommene Teile, deren Ersetzung zu einer Verringerung seiner Aussagefähigkeit führen würden – und damit zu einer Verminderung seiner Urkundenfunktion. Träger dieser Funktion sind die ursprünglichen – originalen – Teile des Denkmals und nicht spätere Hinzufügungen. Der zweite Satz reflektiert die Potenziale möglicher Teilrekonstruktionen, denen der Autor an anderer Stelle zwar einen Symbolwert zuschreibt, die aber aufgrund der späteren Entstehung und nach der vorangegangenen Argumentation kein Teil der Urkunde Denkmal werden können. Rekonstruktionen können weder die Form (wobei Mielke sich hier auch auf die Form der handwerklichen Ausführung bezieht) noch die Idee eines Originals korrekt wiedergeben, da sie in einem andern geistigen Umfeld und aufgrund einer anderen Motivation entstehen: „Wir kommen damit zu dem Schluß, daß die Rekonstruktion zwar den Phänotypus des verlorenen Originals aufweist, im Genotypus aber der charakterlichen und geistigen Situation der Rekonstruktionszeit ebenso verhaftet ist, wie den zu dieser Zeit üblichen Bedingungen des Bauens und der Materialbehandlung.“102
Dennoch stellen für Mielke Rekonstruktionen (bzw. Kopien, zur Frage der Terminologie s.u.) „keine leeren […] Gebilde“ dar, sondern er sieht in ihnen durch ihre Entstehung aus dem Wunsch der Bevölkerung einen „Ausdruck des Gemeinwesens“. Die so entstandenen Gebäude werden zum Symbol, dessen Wert unabhängig vom Anteil materieller Originalsubstanz ist: „Die charakteristischen Bauwerke sind mit ihrem Erscheinungsbild so stark in dem allgemeinen menschlichen Bewußtsein verankert, daß sie eine vergeistigte Position errungen haben, die auch eine Kopie zum Wertobjekt erhebt“.103 In der Beschäftigung mit diesen Bauwerken bzw. Bauaufgaben sieht er aber kein Arbeitsfeld der Denkmalpflege mehr, sondern das einer „lebendigen Heimatpflege“.104 Die wissenschaftliche – denkmalpflegerische – Be101 Mielke 1961, S. 1 f. Als Abgrenzung zum künstlerischen Originalitätsbegriff, der die Idee des Künstlers in den Vordergrund stellt, bevorzugt Mielke den Begriff der Urkunde, da das Werk auch Aussagen macht, die über die Aspekte der künstlerischen Idee hinaus gehen und sich beispielsweise auf die Verwendung und Bearbeitung der Materialien beziehen. 102 Ebd., S. 3. 103 Ebd., S. 3 f. Auch wenn Mielke sich hier nicht explizit auf Clemens Symbolwert bezieht, kann man hier doch eine Anknüpfung an dessen Gedanken dazu sehen. S. dazu auch Kapitel 4.3.4 und Clemen 1933. 104 Ebd.
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schäftigung mit dem Denkmal hingegen benötige das Original bei dem „weder Bauplan, noch Idee, noch die Ausführung und die materielle Substanz das alleinige Primat besitzen.“105 Überraschenderweise geht Mielke in diesem Artikel also durchaus von einem originalen Urzustand des Denkmals aus, ein Gedanke, der in Hinblick auf die früheren Diskussionen um die Jahrhundertwende erstaunt, zeitgenössisch aber, wie dargestellt, durchaus positiv aufgenommen wurde. Auswirkungen auf die weiterführende Diskussion scheinen die dort ausgeführten Gedanken aber kaum gehabt zu haben. Im Rahmen des Denkmalschutzjahrs 1975 setzt sich Saskia Durian-Ress im Ausstellungskatalog zur Wanderausstellung Eine Zukunft für unsere Vergangenheit grundsätzlich mit der Problematik vom Konservieren und Restaurieren in der „klassischen Denkmalpflege“ auseinander und definiert in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung vom Original in der Disziplin: „Der Begriff des Originalen meint nicht den stilgeschichtlich ersten Zustand eines Baues; ein Zustand der in der Mehrzahl der Fälle ja gar nicht mehr ermittelt werden kann und wissenschaftliche Hypothese bleiben muß. Das Interesse am historischen Bauwerk bezieht sich heute nicht allein auf seine Entstehungsgeschichte, sondern auch auf seine ‚Lebensgeschichte‘.“106
Hier wird explizit wieder nicht vom originalen Ursprungszustand ausgegangen, sondern vom Original, dessen Geschichte Teil seines Zeugnispotenzials geworden ist. 1987 fand die Jahrestagung der Landesdenkmalpfleger unter dem Motto Umgang mit dem Original statt. In seinem einführenden Text zur Publikation der Tagungsbeiträge in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Denkmalpflege betont August Gebeßler die Notwendigkeit einer breiteren Auseinandersetzung mit dem Thema im zeitgenössischen denkmalpflegerischen Kontext. Durch die zunehmende Konzentration auf visuelle Aspekte des Denkmals im Zusammenhang mit Ortsbildpflege und „Stadtaufwertungspolitik“ sieht er neue Gefahren für die Denkmalsubstanz erwachsen, die bereits in den letzten Jahren zu einem neuen Ausmaß an Denkmalverlusten geführt hätten.107 Gebeßler stellt hier das ästhetische Bedürfnis eines Verständnisses „der Denkmalpflege als ‚Pflege des Schönen‘“ aufgrund seiner empirischen Erfahrungen dem Verständnis einer substanzerhaltenden Denkmalpflege gegenüber.108 Ähnlich wie Gebeßler gehen die meisten der folgenden Beitragenden in ihren Texten von einem Urkundencharakter des Denkmals aus, das seine späteren 105 Ebd., S. 4. 106 Durian-Ress 1975, S. 116. 107 Vgl. Gebeßler 1987, S. 143. 108 Vgl. ebd.
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zeitlichen Veränderungen mit einschließt.109 H.P.C. Weidner versucht in dem Zusammenhang eine Lösung für das Problem zu finden, dass der Originalitätsbegriff der Denkmalpflege grundsätzlich die vorangegangenen Änderungen als Teil des Denkmals betrachtet, spätere Änderungen jedoch ablehnt: „Jedes als geschichtliche Urkunde zu wertende Denkmal ist also Original jeweils in dem Zustand, in dem die Erkenntnis des Denkmalseins in unser Bewußtsein dringt. Mit jeder Veränderung an diesem Objekt mindert sich sein Denkmalwert, aber zugleich wächst auch neue Zeugnisfähigkeit zu.“110
Das Original bezeichnet für Weidner kein (unter Umständen fiktives) Ursprungsobjekt, sondern das Objekt als Ergebnis auch eines zeitlichen Prozesses. Dieser Sichtweise widerspricht ein Beitrag Ernst Bachers zu dem Thema, der zwei Jahre später in einem von Georg Mörsch und Richard Strobel herausgegebenem Sammelband erscheint. Ernst Bacher, zu der Zeit österreichischer Generalkonservator, setzt sich dort mit der denkmalpflegerischen Problematik von Original und Rekonstruktion auseinander und definiert zunächst das zeitgenössische Verständnis von Originalität in Abgrenzung zum Nicht-Originalen: „Originalität bezeichnet den Ursprung eines Gegenstandes, die ‚Urfassung‘ eines Kunstwerkes im Sinn einer Qualifikation gegenüber der Nachahmung, der Kopie, Replik, etc.“111 Dieses Verständnis von Originalität leitet er aus der historischen Entwicklung ab, ebenso wie die Weiterentwicklung des Begriffs aus der zunehmenden Historisierung und fachlichen Ausdifferenzierung, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ansetzt: „Erst damit wurde jener Sündenfall vollzogen, der den Begriff ‚Original‘ bis heute zum Problem macht, denn erst seit die Kunstgeschichte ihren Gegenstand […] als historisches Dokument zu begreifen begann, entstand so etwas wie ein Anspruch auf das Original, wurde Originalität ein existenzielles Kriterium des Kunstwerkes.“ 112
109 Eine Ausnahme bildet hier vielleicht der Text (des Kunsthistorikers) Helmut BörschSupan, der vom Schauwert des Denkmals spricht, der unabhängig vom Substanzwert existieren kann. Darauf basierend sieht er die Möglichkeit, Originale zu deren Schutz durch Kopien zu ersetzen, so dass dem durchschnittlichen Betrachter dieser Austausch zwar verborgen bliebe, das Denkmal aber dennoch über seinen Schauwert verfüge. In Bezug auf ganze Baudenkmäler gestaltet sich diese Vorgehensweise jedoch schwierig (vgl. Börsch-Supan 1987, S. 179). 110 Weidener 1987, S. 147. 111 Bacher 1989, S. 1. 112 Ebd.
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In der Folge sei das Original Leitmotiv auch der denkmalpflegerischen Aktivitäten geworden, was sich sowohl in Bestrebungen zum „Vervollständigen“ von Bauten äußerte, als auch in Freilegungen vermeintlicher Urzustände. In der zeitgenössischen Denkmalpflege sieht Bacher dem Original hingegen in Theorie und Praxis keinen verbindlichen Stellenwert mehr eingeräumt, wohl aber in den Augen der Öffentlichkeit, die in der Wiederherstellung eines originalen Zustands nach wie vor das Ziel der Restaurierungen sähen.113 Diese Aussage mag erstaunen, insbesondere in Hinblick darauf, dass nur zwei Jahre zuvor eine Tagung zum Thema Original in Deutschland stattgefunden hatte. Sie erklärt sich jedoch daraus, dass Bacher sich hier ausschließlich auf seinen eingangs definierten Originalitätsbegriff vom Original als dem Ursprünglichen bezieht, und damit andere Begriffe des Originalen, wie beispielsweise den von Weidner formulierten, ausklammert.114 Diese starke inhaltliche Reduzierung des Originalitätsbegriffs führt ihn schließlich auch zu der schlüssigen Erkenntnis, dass diese Form des Originals im denkmalpflegerischen Kontext gar nicht existieren kann: „es ist wahrscheinlich das zentrale Problem der Diskussion um den Begriff Original, daß wir uns schwer mit der Erkenntnis abfinden können, daß es streng genommen kein Original gibt, daß dieser Begriff eine Fiktion ist, weil er die Geschichtlichkeit, der jedes Kunstwerk zwangsläufig unterworfen ist, ausklammert.“115
Diesen engen Originalitätsbegriff kritisiert Achim Hubel 1998 in einem Aufsatz, der sich ebenfalls mit dem Umgang mit dem Original beschäftigt. Statt Bachers Fokussierung auf das Original als das ursprüngliche Objekt, besteht er in Anknüpfung an ältere Stimmen auf eine Integration der zeitlichen Komponente: „Nur in der wechselseitigen Bedingtheit zwischen der materiellen Dimension und dem mit dem Objekt verbundenen Schicksal im Laufe der Zeit, also der historischen Dimension, kann das Denkmal überhaupt verständlich bleiben, nur dann verdient es die Bezeichnung ‚Original‘.“116 In diesem Zusammenhang weist er auf die Doppelbedeutung des Wortes Original hin, das nicht nur ursprünglich, sondern auch echt bedeuten könne. In diesem Sinne bräuchte ein Gegenstand, um ein Original zu sein, nicht zwingend ursprünglich zu sein, was er am Beispiel einer gotischen Figur mit barocker Fassung veranschaulicht, die original im Sinne von echt, wenn auch nicht ur-
113 Vgl. ebd., S 2. 114 Bacher bezieht sich hier auch explizit auf die Charta von Venedig, die zwar vom Authentischen, aber nicht mehr vom Original spricht (vgl. ebd.). 115 Ebd., S. 3. 116 Hubel 2005d, S. 318.
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sprünglich sei.117 Im selben Jahr äußert sich auch Georg Mörsch entsprechend und spricht sich gegen ein zu enges Verständnis vom Original aus, indem er betont, dass „ein bestimmtes Verständnis von ‚Original‘ im blossen Sinne von ‚erster Zustand‘ das Alter des Denkmals, welches auch durch spätere Bauzustände vermittelt wird, zerstören [kann]. So wie der Stausee erst durch langen Zufluss entsteht, so gehört zum Originalbegriff der Denkmalpflege die Gesamtheit aller dieser Zeitschichten.“118
Auch er definiert das Original also breiter als zuvor Ernst Bacher. Dabei kann man jedoch davon ausgehen, dass Bacher bei der Frage nach der Bedeutung der zeitlichen Veränderungen für das Denkmal durchaus mit Hubel und Mörsch einer Meinung gewesen sein wird. Lediglich den Begriff des Originals hält er in dem Zusammenhang nicht für angemessen. Es handelt sich hier also schon nicht mehr um eine fachlich denkmalpflegerische, sondern im Grunde um eine terminologische Diskussion, die auf unterschiedlichen Begriffsdefinitionen beruht. In der Folge kann dies natürlich auch zu fachlichen Problemen führen, wenn ein und derselbe Begriff undefiniert und mit verschiedenen Bedeutungsebenen verwendet wird. Als gelungenen Versuch, mehr terminologische Klarheit in die Auseinandersetzung um die Originalität des Denkmals zu bringen, betrachtet Katrin Janis die italienischen Restaurierungstheorien von Cesare Brandi und Umberto Baldini. Letzterer unterscheidet in seiner 1978-81 erschienenen Teoria del restauro konsequent zwischen dem ‚Original‘, das sich immer auf den Ursprung des Werks bezieht und der ‚Authentizität‘, die in Bezug zum zeitlichen Geschehen am Objekt steht. 119 Tatsächlich kam der Begriff der Authentizität als Ergänzung oder Ersetzung des Begriffs ‚Original‘ (meist letzteres) in der Denkmalpflege anscheinend in den 60er Jahren auf.120 Nach seiner prominenten Verwendung in der Charta von Venedig nahm sei117 Vgl. ebd., S. 305. Auch Hubel leitet den Begriff des Originals dabei historisch her und geht auf das relativ junge Alter dieses (Kunst)verständnisses ein; als Beispiel nennt er den Umgang mit Kopien in Museen des Historismus, die ungeachtet einer mangelnden Originalität als Repräsentanten einer Epoche dienen konnten – und damit eine ähnliche Funktion einnahmen, wie sie Helmut Börsch-Supan auch 1987 noch zur Schonung der Originale anregte (s.o. und Hubel 2005d, S. 296). 118 Mörsch 2005b, S. 49. Dabei stellt er jedoch gleichzeitig fest, dass nicht jede dieser Zeitschichten gleichbedeutend sein muss, was dann wiederum Auswirkungen auf den praktischen Umgang mit diesem vielschichtigen Original hat. 119 Vgl. Janis 2005, S. 34. Mehr dazu s. Kapitel 4.3.2.1. 120 Michael Falser verweist auf sein erstes prominentes Auftreten in der Präambel der Charta von Venedig (vgl. Falser 2011c, S. 2). Seine Feststellung, dass keine weitere Definition des Begriffs notwendig schien, ließe jedoch auch darauf schließen, dass der Begriff durchaus auch schon vorher, wenn vielleicht auch weniger prominent, Verwen-
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ne begriffliche Bedeutung – und Anwendung – innerhalb der Disziplin stetig zu, was jedoch nicht zu einer begrifflichen Klärung im Zusammenhang mit den Vorstellungen vom Original führte, sondern im Gegenteil eher zu einer weiteren Verunklärung, da nun ein zweiter, nicht genau definierter Begriff existierte.121 In der Folge richteten sich die Überlegungen also nicht mehr (nur) darauf, was das Original bedeute, sondern es wurden auch Überlegungen notwendig, was genau mit dem Authentischen in Bezug auf die Denkmalpflege gemeint sein könne. So stellte Michael Petzet auf der Tagung zum postmodernen Denkmalkultus 1993 die These auf, dass sich der Authentizitätsbegriff der Charta von Venedig nicht nur auf „das authentische Material der Denkmäler, sondern auch [auf] ihre authentische Gestalt, ihr authentisches Bild“ beziehe, womit er gegen eine als zu einseitig wahrgenommene Ausrichtung auf die Materialität der Denkmäler Position bezog, da er durch sie eine Verkürzung des Denkmalbegriffs befürchtete.122 Damit eröffnet sich ein wichtiger Aspekt der Idee von Authentizität, der diese klar von der des Originals abgrenzt, nämlich die Kontextbezogenheit. Friedrich Waidacher sieht den Unterschied zwischen Authentizität und Originalität darin begründet, dass die Originalität dem Objekt selbst anhaftet, wohingegen Authentizität abhängt „vom Verhältnis des Objektes zum Vorgang […], den es repräsentieren soll. Authentizität geht nicht, wie Originalität, aus dem Objekt allein hervor, sondern sie muß durch einen eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang nachgewiesen werden.“123 An dieses breitere Verständnis von Authentizität, das eben nicht gleichzusetzen ist mit einer Formel ‚Original plus zeitliche Veränderungen‘ knüpfte 1994 auch die Nara Conference on Authenticity an. In diesem Rahmen sollte, angeregt durch ICOMOS und in Reaktion auf die stetig anwachsende Anzahl von ‚operation guidelines‘ für die Welterbekonvention, in der Authentizität als zentrales Bewertungskriterium geführt wurde, das Konzept der Authentizität in einem internationalen Rahmen genauer geklärt werden.124 Der Erfolg einer international gültigen Klärung des Begriffes kann aber dung fand – eine These, die durch Mielkes Verwendung des Begriffs in seinem Artikel zum Original aus dem Jahr 1961 gestützt wird. Bernd Euler-Rolle sieht die Karriere des Begriffs der Authentizität in engem Zusammenhang mit dem Iconic turn (vgl. EulerRolle 2010, S. 96). Siehe sonst zur weiteren Klärung des Begriffs ‚Authentizität‘ Mager 2016. 121 Dazu trug und trägt beispielsweise auch die häufig ins Historische übertragene Zielstellung einer auf Authentizität abzielenden Restaurierung in Zeiten, zu denen dieser Begriff noch gar nicht existierte (z.B. Hellbrügge 1991, S. 19 in Bezug auf die Arbeit Paul Tornows) oder gänzlich eigenständige Interpretationen des Begriffs (z.B. Guratzsch 1995, S. 518, Rückgewinnung von Authentizität als „unverfälschte[r] Urgestalt“) bei. 122 Petzet 1994, S. 15. 123 Zit. nach Janis 2005, S. 132. 124 Vgl. Falser 2011, S. 3.
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schon bei einer Gegenüberstellung der verschiedenen sprachlichen Fassungen des aus der Tagung hervorgehenden Nara-Dokuments grundsätzlich in Frage gestellt werden. Prinzipiell legt die englischsprachige Version fest, dass – anknüpfend an die Charta von Venedig – Authentizität das maßgebliche Kriterium in Bezug auf den Wert des Denkmals ist: „Authenticity, considered in this way and affirmed in the Charter of Venice, appears as the essential qualifying factor concerning values.“125 In der deutschen Version hingegen ist nicht die Rede von ‚Authentizität‘, sondern von ‚Echtheit‘, ein Begriff, der sich neben dem der Authentizität, etwas unentschlossen zusammengefügt bzw. getrennt durch einen Schrägstrich, auch im Titel des Dokuments wiederfindet (Dokument zur Echtheit/Authentizität). Dies suggeriert eine Äquivalenz beider Begriffe, die prinzipiell zu hinterfragen ist, insbesondere in Hinblick auf die oben angeführte Kontextabhängigkeit des Authentizitätbegriffs.126 Katrin Janis weist außerdem darauf hin, dass auch die englische und französische Variation des Dokuments voneinander abweichen, was die Benennung der möglichen Informationsquellen zur Feststellung der Authentizität betrifft. Im Gegensatz zur englischen (und deutschen) Version nennt die französische hier neben „conception et forme, matériaux et substance, usage et fonction, tradition et techniques, situation et emplacement, esprit et expression“ (für die in den anderen Sprachen jeweils Äquivalente genannt werden) auch „état original et devenir historique“.127 Sowohl in der englischen als auch in der deutschen Version wurde auf dieses Begriffspaar zugunsten einer allgemeineren Formulierung verzichtet („internal and external factors“). Der Begriff des Originals wird also nur in der französischen Variante des Dokuments verwendet und zwar in Form des gegen die historische Entwicklung abgegrenzten Originalzustands. Janis schließt daraus, dass durch diese Verwendung des Originalzustands als möglicher Beurteilungsgrundlage der Authentizität eines Gegenstands letztere als übergeordnetes Konzept zu verstehen
125 The Nara Document on Authenticity, 1994, Absatz 10. http://www.icomos.org/charters/ nara-e.pdf, Zugriff 18.11.2015. 126 Die Tatsache, dass der Begriff der Echtheit in darauffolgenden denkmalpflegerischen Diskussionen auch im Gegensatz zu dem der Authentizität keine größere Rolle spielen sollte, lässt darauf schließen, dass der Begriff in Deutschland nie als gleichbedeutend angesehen wurde. Das Nara-Dokument wird, sofern es wörtlich zitiert wird, meist in seiner englischen Version verwendet, und auch der Titel wird zumindest teilweise inzwischen nur noch als „Dokument zur Authentizität“ weitergegeben. (vgl. beispielsweise Will 2006, S. 91) 127 Document nara sur lʼauthenticité 1994, Absatz 13 (http://www.icomos.org/fr/notrereseau/comites-scientifiques-internationaux/liste-des-comites-scientifiques-internationaux/179-articles-en-francais/ressources/charters-and-standards/186-document-de-narasur-lauthenticite, Zugriff 18.11.2015).
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sei.128 Dies lässt sich als Lesart dann jedoch nur auf die französische Version anwenden, in Bezug auf die deutsche Version, die sich auf Echtheit bezieht, was zuvor als ein möglicher Baustein eines übergeordneten Originalitätskonzepts erläutert wurde, wäre diese Lesart zum Glück sowieso nicht anwendbar. Ohne die Problematik hier weiter vertiefen zu wollen, zeigt dieses kleine Schlaglicht doch recht deutlich, dass die Hinwendung zum Begriff der Authentizität der denkmalpflegerischen Diskussion zu keiner zusätzlichen begrifflichen Schärfe verholfen hat. Der vielschichtige und schwer fassbare Begriff des Originals wurde lediglich ergänzt durch den ebenso vielschichtigen Begriff der Authentizität. Dieser wird in seiner potenziellen Offenheit teilweise auch als Gefahr für eine sich an der originalen Substanz orientierende denkmalpflegerische Herangehensweise empfunden. So kritisiert Adrian von Buttlar 2011 in dem Band Denkmalpflege statt Attrappenkult, der zumindest teilweise als Plädoyer gegen Rekonstruktion in der Denkmalpflege verstanden werden kann, dass durch die Nara-Konferenz auch „das Missverständnis einer aus Asien importierten ‚zyklischen‘ Verjüngungsmethode für Denkmäler in die europäische Diskussion“ eingebracht wurde: „Gefordert wurde dort von den Fachleuten im Namen der Authentizität unter anderem, daß beim nun unter Auflagen legitimierten rekonstruierenden Nachbau des verlorenen Denkmals identische Formen, Materialien und Bearbeitungstechniken angewendet werden müssen. Es soll demnach gerade kein distanziertes künstliches Denkmalbild erzeugt werden, sondern ein alle Sinne ergreifendes, täuschend ähnliches Monument, das in seiner materiellen Präsenz über formale Identität, scheinbares Alter und immanente Geschichtlichkeit das denkbar höchste Echtheits-Versprechen verkörpert, obwohl es als Denkmalsimulation keine dieser Eigenschaften wirklich besitzt. Das Denkmal-Faksimile, so plastisch, wortgetreu und detailliert es sich auch darstellen mag, ist aber stattdessen immer nur verkürztes Abbild, gänzlich zeitgenössisch und – wenn nicht ‚Spolien‘ einen letzten Rest seiner auratischen Bedeutung transportieren – unberührt von den Spuren der fließenden Zeit.“129
Die durch ein vermeintlich falsches Verständnis von Authentizität begründete „Denkmalsimulation“ wird hier implizit wieder einem Original gegenübergestellt, das nicht nur seine Aura, sondern auch seine Bedeutung durch Substanz und die zeitlichen Spuren daran erhält. Der Begriff des Originals hat also seine eigene Geschichte innerhalb der Geschichte der Denkmalpflege. Dabei verfügt er bis heute über einen starken symbolischen Wert, der sich aus seiner engen Verbindung zur ‚Wahrheit‘ ergibt und sich in der dem Original zugeschriebenen Aura manifestiert. Ziel ist immer die Erhaltung dieses Originals, unterschiedlich sind jedoch die Vorstellung, worauf die Originali128 Vgl. Janis 2005, S. 134. 129 Von Buttlar 2011, S. 169.
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tät des Denkmals beruht, ob in der Idee zum Werk, in seiner ursprünglichen Form oder in seiner unter Umständen auch durch die Zeit veränderten oder beeinträchtigten Substanz. Diese verschiedenen Vorstellungen bilden die jeweilige Grundlage für den Umgang mit dem Denkmal. Hanno Rauterberg weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit für den Denkmalpfleger hin, Entscheidungen zu treffen, und macht auf die paradoxe Situation aufmerksam, dass der Denkmalpfleger, wiewohl er gerade „das Einzigartige und Nichtwiederholbare“ (Originale) schützen möchte, doch zwangsläufig durch seine Arbeit auf die Objekte Einfluss nehmen müsse – und sie damit letztendlich verfälsche.130 Ernst Bacher weist in seinem Text zu Original und Kopie darauf hin, wie unsere Ästhetik durch den Originalitätsbegriff geprägt wurde und wird.131 Auch in der Denkmalpflege führten die verschiedenen Originalitätsbegriffe zu jeweils unterschiedlichen Denkmalästhetiken, die sich teilweise chronologisch ablösen und sich teilweise als Konstanten unterschiedlich stark ausgeprägt durch die gesamte Geschichte der Denkmalpflege auffinden lassen.
4.3 D ENKMALVERSTÄNDNIS
UND
D ENKMALÄSTHETIK
Wie bereits oben ausgeführt ist die Ästhetik des Denkmals eng mit der Frage verbunden, als welche Art von Werk das Denkmal verstanden wird. In den folgenden Kapiteln sollen die unterschiedlichen Vorstellungen, die dem Denkmal und seiner Wertigkeit zugrunde liegen, genauer untersucht werden. An die vorhergehenden Kapitel anknüpfend wird hier verkürzend von vier Kategorien ausgegangen: dem Denkmal als Kunstwerk, dem Denkmal als Werk in der Zeit, dem Denkmal als Urkunde und dem Denkmal als Bedeutungsträger. Bei dieser Einteilung kann es sich wie bei jeder Form der Kategorisierung nur um eine Verkürzung der Tatsachen handeln. Es soll daher betont werden, dass es sich hierbei lediglich um die Darstellung eines Denkmodells handelt, das helfen soll, unterschiedliche Aspekte zu verdeutlichen. 4.3.1 Das Denkmal als Kunstwerk Prägend für die Vorstellung vom Denkmal als Kunstwerk war insbesondere das Postulat der anzustrebenden Stileinheit bzw. Stilreinheit. Es beruht auf der Vorstellung des Denkmals als einem in sich geschlossenen und zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem Künstler geschaffenen Objekts. Dieser, durch den Künstler ge130 Vgl. Rauterberg 2002, S. 54 f. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Anknüpfung an Bachers Text. 131 Vgl. Bacher 1989 S. 1.
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schaffene Zustand, ist der ideale Zustand des Objekts (beziehungsweise in dem Fall des Denkmals), den es wieder anzustreben gilt. Im Folgenden sollen die dem Gedanken der Stileinheit zugrundeliegenden Vorstellungen vom Denkmal in ihrer zeitlichen Entwicklung und den jeweiligen Kontexten untersucht werden. Der Gedanke vom Denkmal als Kunstwerk hat dabei in der Praxis direkte Auswirkungen auf den Umgang mit dem Denkmal und die Denkmalästhetik. Je nach Kontext und Blickwinkel werden dabei die Schönheit und die Wahrheit des Denkmals gegeneinander ausgespielt oder aufeinander bezogen. 4.3.1.1 Stileinheit Die theoretische Grundlage des Prinzips der Stileinheit wurde im 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich geprägt und gesamteuropäisch aufgenommen. 132 Nachdem die Purifizierungen von Kirchenbauten im ersten Drittel des Jahrhunderts seit dessen Mitte vermehrt auch Gegenmeinungen hervorriefen, forderte August Reichensperger 1845 in Köln, dass die Restaurierung von Bauwerken „so wenig wie möglich und so unwahrnehmbar wie möglich“ ausfallen solle. 133 Dagegen ging August Voit, seit 1847 Chef der Bayerischen Obersten Baubehörde, noch 1854 davon aus, dass die Wiederherstellung des ursprünglichen Charakters des Werks das Hauptanliegen der Restaurierung sei: „Bei Restaurationen von Baudenkmälern, denen kunsthistorische oder überhaupt geschichtliche Bedeutung zukömmt, wird, wie anerkannt ist, die wesentliche Aufgabe darin bestehen, daß den vorhandenen Hauptteilen ihr ursprünglicher Charakter sowohl in Fundation als in der Gliederung und Ornamentik möglichst erhalten oder wiedergegeben werde.“ 134
Vergleichbare Positionen gab es auch in Frankreich, wo Viollet-le-Duc nicht nur als Architekt und Denkmalpfleger zahlreiche Beispiele für den praktischen Umgang mit Denkmalen lieferte, sondern auch zur theoretischen Fundierung des Fachs beitrug. In Bezug auf die denkmalpflegerische Entwicklung ist seine Rolle besonders 132 Vgl. Lipp 2008, S. 29 f. Lipp zeichnet hier auch die aufkommende Kritik an der Prämisse der Stileinheit von Reichensperger über Scott, Ruskin und Morris sowie der École de chartes und dem Kunsthistorikerkongress 1873 nach. (Vgl. ebd., S. 30f.) Dabei fällt auf, dass die Kritik an der Stileinheit zeitgleich mit ihrer Etablierung stattfindet, sich hier, wie sich auch im Folgenden zeigen wird, unterschiedliche, aber parallel ablaufende Herangehensweisen zeigen. 133 Reichensperger 1845, o. A. Reichensperger bezieht sich hier auf englische Vorbilder, wobei er deren Situation als glücklicher in Bezug auf die Verwirklichung seiner Forderungen betrachtet, da man sich in England mit keinem „Rococoplunder“ auseinandersetzen zu hätte. 134 Zit. nach Dürr 2001, S. 158.
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hervorzuheben, da er durch seine stilprägende Arbeit als einer der Hauptvertreter der stilistischen Vereinheitlichung im Zuge der Restaurierung rezipiert wird. Dazu trug auch der viel zitierte Anfang seines Artikels zum Restaurieren in seinem 1854 bis 1868 erschienenen Dictionnaire raisonné de l‘architecture française du XIe au XVIe siècle bei, in dem er den Vorgang der Restaurierung als interpretativen Vorgang charakterisiert: „Restaurer un édifice, ce n’est pas l’entretenir, le réparer ou le refaire, c’est le rétablir dans un état complet qui peut n’avoir jamais existé à un moment donné.“135 Dieses Zitat wurde in der Folge durch die Forschung als bezeichnend für Viollet-le-Ducs Vorgehensweise angesehen, wobei die heutige Forschung um ein differenzierteres Bild bemüht ist.136 Dennoch liegt der Arbeit Viollet-le-Ducs sowohl in der Theorie als auch in der Praxis ein Denkmalverständnis zugrunde, das von dem Denkmal als Kunstwerk ausgeht, dessen Wesen der fachkundige Restaurator zu ergründen sucht. Norbert Huse erkennt hier die Auswirkungen einer platonisierenden Kunstlehre, die das Kunstwerk mit seiner ihm zugrunde liegenden Idee in den Mittelpunkt rückt, und kritisiert diese Herangehensweise: „Hier wirken nun im höchsten Maße idealistische Vorstellungen, die sich freilich weder erklären noch legitimieren. Zu ihren Grundannahmen gehört, daß ein Gebäude, wo nicht in seinem Bestand, so doch in seinem Wesen, ein Kunstwerk mit einem eigenen Telos sei, einem eigenen Ideal, dem gegenüber seine konkrete Erscheinung und seine reale Geschichte nur Abweichung und Verfälschung bedeuten können. Wer aber, mit welchem Wissen, welcher Legitimation, und aufgrund welcher Kriterien entscheidet, wie dieser Idealzustand beschaffen ist, bleibt unerörtert. Eine platonisierende Kunstlehre paart sich mit einem geradezu naiven Vertrauen in die eigenen technischen Möglichkeiten.“137
Dabei richtete sich Viollet-le-Duc denkmalpflegerischer Ansatz zunächst durchaus gegen zeitgenössische Prämissen, die als denkmalpflegerisches Ziel die Wiederherstellung des Baus in seiner angenommenen stilistischen Einheit sahen. 138 Stattdes135 Viollet-le-Duc 1866 (Bd. VIII) S. 14. 136 Vgl. Schlesinger 2010, S. 66 f. Schlesinger geht dabei von einer Weiterentwicklung seiner Theorie aus, die im Wechselspiel mit seiner praktischen Arbeit stattfindet, was die Autorin am Beispiel seines Umgangs mit der Abteikirche von Vézelay darzustellen versucht. Dort greift Viollet-le-Duc zwar im Laufe der Arbeiten mit voranschreitender Zeit immer stärker stilistisch vereinheitlichend in die Bausubstanz ein, dennoch zeichnet sich seine Arbeit durch ihren hohen wissenschaftlichen Anspruch (Dokumentation aller Eingriffe) aus und zielt außerdem nie auf eine Totalrekonstruktion der Turmfassade ab. 137 Huse 1996, c1984, S. 88. 138 Vgl. Steinhammer 1985, S. 32. Steinhammer sieht hier eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis bei Viollet-le-Duc, der in seiner praktischen Arbeit durchaus einen ein-
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sen betont er bereits 1843 die notwendige Zurückhaltung des Denkmalpflegers und die Gleichberechtigung der verschiedenen Zeitschichten: „Führt eine Restaurierung neue Formen ein, dann kann sie eine Fülle von Spuren verschwinden lassen, deren Seltenheit und Alter das Interesse erhöhen. […] Jede Zufügung, aus welcher Epoche auch immer, muß im Prinzip bewahrt, konsolidiert und in dem Stil restauriert werden, der ihr eigentümlich ist. Dies muß mit religiöser Zurückhaltung und Unterscheidungskraft (discretion) geschehen, unter völligem Verzicht auf jede persönliche Meinung. Der Künstler muß sich vollständig auslöschen. Um seinen Gegenstand zu studieren, muß er seinen Geschmack und seine Instinkte vergessen, um so die Denkweise wiederzufinden, […] die die Ausführung des Werkes, das er restaurieren will, bestimmt hat.“ 139
Dieser Verzicht auf eigene künstlerische Ambitionen und die Offenheit gegenüber den verschiedenen Zeitschichten wird in der Literatur teilweise im Kontrast zu Viollet-le-Ducs späterem Artikel zur Restaurierung gesehen.140 Dabei spricht er sich auch hier nicht für die Stileinheit der Rekonstruktion aus. Stattdessen beschreibt er zwei verschiedene Wege der Restaurierung, die jedoch beide mit spezifischen Gefahren verbunden sind, vor denen er warnt. Sowohl die genaue Restaurierung des Vorgefundenen als auch die Rückführung auf einen früheren Zustand birgt Gefahren in sich: „On pourrait dire qu’il y a autant de danger à restaurer en reproduisant en fac-simile tout ce que l’on trouve dans un édifice, qu’en ayant la prétention de substituer à des formes postérieures celles qui devaient exister primitivement. Dans le premier cas, la bonne foi, la sincérité de l’artiste peuvent produire les plus graves erreurs, en consacrant, pour ainsi dire, une interpolation; dans le second, la substitution d’une forme première à une forme existante, reconnue postérieure, fait également disparaître les traces d’une réparation dont la cause connue aurait peut-être permis de constater la présence d’une disposition exceptionnelle.“ 141
heitlichen Stil beziehungsweise einheitliche Formensprache der Gebäude annahm oder anstrebte. 139 Zit. nach Huse 1996, c1984, S. 86. Huse betont dabei jedoch, dass Viollet-le-Duc dennoch davon ausging, dass es eine ‚richtige‘ Lesart des Denkmals gab, zu der man nach Auswertung aller Quellen und mit dem notwendigen professionellen Wissen gelangen könne. In der Praxis wurden so auch ästhetische ‚Verbesserungen‘ im Sinne der Stileinheit möglich. 140 Vgl. z.B. Hanselmann 1996, S. 12, außerdem teilweise auch die bereits oben genannten Autoren. 141 Viollet-le-Duc 1866, S. 15.
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Während die Beibehaltung der vorgefundenen Form zur Konservierung und Verfestigung eines ‚falschen‘ Zustands führen kann, kann die Rückführung auf einen früheren Zustand im Gegenteil wichtige spätere Spuren verwischen, die eventuell gerade in der Lage gewesen wären, besondere Aspekte des Bauwerks aufzuzeigen. Um diesen Gefahren möglichst aus dem Wege zu gehen, fordert Viollet-le-Duc eine intensive Auseinandersetzung mit dem Bauwerk als Grundlage für die weitere Arbeit, wozu nicht nur eine Untersuchung der Genese des Baus mit seinen verschiedenen Bauabschnitten und Zeitschichten zählt, sondern auch die Berücksichtigung regionaler stilistischer Unterschiede: „Ce programme admet tout d’abord en principe que chaque édifice ou chaque partie d’un édifice doivent être restaurés dans le style qui leur appartient, non-seulement comme apparence, mais comme structure. Il est peu d’édifices qui, pendant le moyen âge surtout, aient été bâtis d’un seul jet, ou, s’ils l’ont été, qui n’aient subi des modifications notables, soit par des adjonctions, des transformations ou des changements partiels. Il est donc essentiel avant tout travail de réparation, de constater exactement l’âge et le caractère de chaque partie, d’en composer une sorte de procès-verbal appuyé sur des documents certains, soit par des notes écrites, soit par des relevés graphiques.“142
Nicht nur das Gebäude als solches, sondern auch jede Partie des Gebäudes soll im jeweils eigenen Stil restauriert werden, der sich nicht nur in der äußerlichen Wirkung, sondern auch in der Struktur ausdrückt. In diesem Sinne orientiert sich die Restaurierung durchaus an einem angenommenen, dem Gebäude quasi als Thema zugrunde liegenden Stils, dieser wird jedoch nicht willkürlich aufgrund einer rein optischen Bewertung festgelegt, sondern offenbart sich erst durch die genaue wissenschaftliche Auseinandersetzung. Dies nimmt seine schon früher geäußerten Gedanken wieder auf, nach denen sich der Künstler auslöschen muss, da es sich beim Rekonstruieren um einen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess handle. Die Legitimation, die damit verbundenen Entscheidungen zu treffen, ergibt sich aus der professionellen Expertise und der intensiven Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen. Dabei betont Viollet-le-Duc verschiedentlich, dass es keine pauschalen Lösungen geben könne, sondern dass es sich beim richtigen Umgang mit den Gebäuden jeweils um Einzelfallentscheidungen handeln müsse.143 Trotz dieser durchaus differenzierten Herangehensweise wurde Viollet-le-Duc bald vorgeworfen, durch die Anwendung seiner Theorie die Denkmale zu verfälschen und sie nach seinen eigenen Vorstellungen künstlerisch zu überprägen. Dass er dies auf Grundlage der Überzeugung einer wissenschaftlichen Legitimation tat und sich dabei selbst gegen oberflächliche, rein stilistische Restaurierungen wandte, 142 Ebd., S. 22 f. 143 Vgl. ebd., S. 23 f.
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wirft ein besonderes Licht auf die Debatten der Zeit. Anscheinend liegt die Intention des als seriös empfundenen Denkmalpflegers eben nicht im Anstreben von Stileinheit und -reinheit, sondern auch schon in frühen Zeiten der Denkmalpflege in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Denkmal. Dass dies rückblickend oft als Restaurierung nach stilistischen und ästhetischen Gesichtspunkten gesehen wurde, sagt dabei mehr über die jeweiligen Kritiker aus als über die kritisierte Methode, die stets nur die anderen praktizierten. So scheint sich Ferdinand von Quast mit seinen Überlegungen zur Restaurierung von Bauwerken gedanklich nicht allzu weit von Viollet-le-Duc entfernt zu haben, wenn er 1844 schreibt: „Bei dem so wenig verbreiteten Sinne für die Würdigung der Alterthümer nach ihrer Eigenthümlichkeit, namentlich auch unter dem Mehrtheile der Baubeamten, ist bei der Anordnung der Restauration, namentlich bei Kirchen, die allergrößte Vorsicht zu beobachten, wenn eine solche Restauration nicht dem Gebäude zum Verderben gereichen soll. Denn gewöhnlich will man das Gebäude nicht nur in integrum herstellen, sondern hat dabei die Absicht, dasselbe noch viel schöner zu machen, als es je vorher gewesen ist. Da nun die Begriffe vom Schönen sehr schwanken und gewöhnlich vom Modegeschmack oder den erlernten Schulregeln abhängen, so können dergleichen Restaurationen natürlich dem Gebäude selbst, namentlich seinem kunsthistorischen Werthe, nur zum allerhöchsten Verderben gereichen.“ 144
Auch Quast warnt hier vor einem Wertverlust des Gebäudes aufgrund der zu weit verbreiteten oberflächlichen Herangehensweise. Diese verbindet er wiederum mit Viollet-le-Duc und der von ihm geprägten Arbeitsweise, nach der in Frankreich „fast alle alten Cathedralen nebst ihren Kirchen niedergerissen [würden], um sie neu zu bauen, eine Barbarei, welche selbst die der Revolutionsperiode übertrifft […].“145 Obwohl von Quast sich aus heutiger Sicht in inhaltlicher Nähe zu Violletle-Duc befindet,146 gab es aus zeitgenössischer Sicht also durchaus gravierende Unterschiede, die darin zum Ausdruck kommen, dass Quast für sich selbst in Anspruch nimmt, historisch verantwortlich gegenüber dem Bauwerk zu handeln, eine Tatsache, die er bei dem aus seiner Sicht aus Beweggründen der stilistischen Vereinheitlichung (also aus ästhetischen Gründen) handelnden französischen Restaurierungsart, nicht gegeben sieht. Dabei findet sich schon hier die Gegenüberstellung zwischen den schwankenden Begriffen vom Schönen und der historischen Aussagefähigkeit. Jedoch kritisiert Ferdinand von Quast nur die Begrifflichkeiten vom Schö144 Zit. nach Mohr de Pèrez 2001, S. 138 f. 145 Von Quast 1858, Zit. nach Buch 1990, S. 225. 146 Gute 150 Jahre später nennt Winfried Nerdinger die restauratorischen Ansätze Violletle-Ducs und Ferdinand von Quasts in einem Atemzug und bezeichnet sie (etwas unglücklich bzw. unhistorisch) als Form der „schöpferischen Denkmalpflege“ (vgl. Nerdinger 2010, S. 11).
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nen, da sie schwankend seien, nicht das Schöne selbst. An anderer Stelle bezeichnet er als Ziel der Restaurierung „das schöne Vorhandene noch schöner hervor[zu]heben, das Häßliche zu verdecken [zu] suchen“.147 Zu diesem Zweck müsse sich der Architekt in das entsprechende Werk hineinfühlen und sich diesem unterordnen. Wie bei Viollet-le-Duc liegt auch hier das Ziel in der größtmöglichen Vermeidung einer eigenen künstlerischen Herangehensweise zu Gunsten der ursprünglichen künstlerischen Intention. Es geht dabei explizit nicht um die Ablehnung der ästhetischen Werte des Denkmals oder deren Ausspielung beziehungsweise Herabstufung gegenüber dem historischen Zeugniswert, es geht lediglich um die Vermeidung der Schaffung einer neuen Ästhetik, womit die Zerstörung des Denkmals als Kunstwerk einherginge. In diesem Zusammenhang geht es weiterhin um Professionalität, um die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Ein aufgrund dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung gefälltes ästhetisches Urteil ist demnach legitim. Vor diesem Hintergrund ist es auch für Wolfgang Maria Schmid in seiner Anleitung zur Denkmalpflege 1897 möglich, einerseits das „Streben nach Stileinheit“ (als eine moderne Modeerscheinung) abzulehnen und gleichzeitig die Aufgabe der Denkmalpflege darin zu sehen „das Denkmal selbst […] zur vollen ursprünglichen Wirkung“ zu bringen.148 Der Stil, als durch den Menschen zugeschriebenes Merkmal, ist also nicht zu berücksichtigen. Der Gedanke an das Ursprüngliche im Denkmal, das notfalls zurückgewonnen werden muss, bleibt aber als Ziel erhalten. Dieses liegt nun nicht mehr in der Form des Denkmals begründet und ist so durch einen zeitlich fixierbaren Stil zu benennen, sondern in ‚Wesen‘ und ‚Wirkung‘. 4.3.1.2 Die „Stilfrage als Prinzipienfrage“ Anfang des 20. Jahrhunderts Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Auseinandersetzung um den ‚Stil‘ in der Denkmalpflege explizit. Auf den seit 1900 regelmäßig stattfindenden Tagen für Denkmalpflege wurde eine sich über mehrere Jahre hinziehende methodische Grundsatzdebatte geführt, in der der praktische Umgang mit Denkmalen diskutiert wurde.150 Insbesondere die Frage, inwieweit Denkmale oder Teile von Denkmalen 147 Zit. nach Mohr de Pèrez 2001, S. 138 f. 148 Vgl. Schmid 1897 S. 8 und S. 16. Die damit einhergehenden Probleme in Bezug auf mögliche Veränderungen im Charakter des Denkmals sind Schmid dabei durchaus bewusst. 149 Wohlleben 1989, S. 40. 150 Christoph Hellbrügge weist darauf hin, dass dieser Methodenstreit jedoch nicht das eigentliche Hauptanliegen der Denkmaltage war, sondern vielmehr die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage und einer öffentlichen Lobby für die Denkmalpflege im Mittelpunkt des Interesses lag. Als charakteristischen Beleg dafür betrachtet er die zeitliche Abfolge des Programms der Tage, auf denen die Methodendiskussionen meist weiter
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wiederhergestellt oder in einen früheren Zustand zurückversetzt werden dürften, wurde hier diskutiert. In seinen 1910 publizierten Auszügen aus den stenographischen Berichten der Tage für Denkmalpflege fasst Adolf von Oechelhaeuser die so stattfindenden Diskussionen unter der Rubrik „Grundsätze für die Wiederherstellung der Baudenkmäler (Stilfragen)“ zusammen.151 Marion Wohlleben analysiert diesen Methodenstreit und die „Stilfrage als Prinzipienfrage“ unter dem Stichwort „konservieren oder restaurieren“ ausführlich in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1989 und stellt dabei fest, dass insbesondere die Zeit zwischen 1900 und 1910 einen Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem Thema darstellte, wohingegen danach andere Themen in den Vordergrund drängten.152 Auch Christoph Hellbrügge setzt sich in seiner zwei Jahre später erschienenen Dissertation unter demselben Fokus mit den Diskussionen auf den Tagen für Denkmalpflege auseinander, verfolgt sie jedoch weiter bis in die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Obwohl mit diesen beiden Arbeiten bereits eine Aufarbeitung der Diskussionen dieser Zeit vorliegt, wird an dieser Stelle dennoch darauf eingegangen. Dies ist notwendig, da es sich um eine grundlegende Auseinandersetzung im Kernbereich der vorliegenden Arbeit handelt – nämlich um eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Komponenten des Denkmals – und sich der Fokus hier unterscheidet. Marion Wohlleben geht beispielsweise intensiv auch auf die politische Komponente der „Stilfrage“ ein,153 ein Gesichtspunkt der, wenn auch untrennbar damit verbunden, an dieser Stelle nicht diskutiert wird. Stattdessen soll hier untersucht werden, welche ästhetischen Vorstellungen der Diskussion zugrunde lagen und ob oder wie diese Vorstellungen die denkmalpflegerische Entwicklung auch weiter prägten bzw. prägen. Ausgangspunkt und zugleich einer der Höhepunkte der Auseinandersetzungen zu dem Thema war der erste Tag für Denkmalpflege 1900 in Dresden,154 auf der Paul Tornow den Versuch der Erstellung eines systematisch fundierten Regelwerks zur fachgerechten Restaurierung von Denkmalen unternimmt, das im Anschluss hinten angesiedelt waren (z.B. in Dresden 1900 erst am 2. und 3. Sitzungstag; vgl. Hellbrügge 1991, S. 14). 151 Oechelhaeuser 1910, S. 46 ff. 152 Vgl. Wohlleben 1989, S. 40. 153 Marion Wohlleben zeigt, dass über die Diskussion der Stilfrage nicht nur ästhetische, sondern durch die Verbindung zu einem gewollten ‚deutschen‘ Stil auch nationale und durch die gedankliche Verbindung zu dem Ideal einer einheitlichen, sich durch einen gemeinsamen Stil ausdrückenden Gesellschaft auch politische und soziale Themen verhandelt wurden (vgl. Wohlleben 1989, S. 40 ff. und S. 48). 154 Hans-Rudolf Meier und Ingrid Scheurmann bezeichneten die dort stattfindende Debatte zwischen Paul Tornow und Cornelius Gurlitt 2010 als „Sternstunde des Faches“ und „grundlegend für die Identitätskonstruktion der jungen Denkmalpflege“ (vgl. Meier und Scheurmann 2010, S. 17).
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durch die Anwesenden – unter anderem Cornelius Gurlitt – diskutiert wurde.155 Nachdem er die Zielstellung einer jeden Restaurierung als das „Wiederherstellen, dann aber auch […] Erweitern und Ausbauen des Denkmals“ benannt hat, stellt Tornow verschiedene Gesichtspunkte zusammen, unter denen dieses geschehen solle.156 Darin betont Tornow die Wichtigkeit der Untersuchung des ursprünglichen Zustands des Bauwerks und die Dokumentation als Grundlage der weiteren Arbeit. Darauf aufbauend könnten dann Maßnahmen unternommen werden, die vom blossen Ausbessern über das Fertigstellen bis hin zur Freilegung gehen könnten. 157 Daran anschließend formuliert Tornow neun dabei zu beachtende Grundregeln, in denen er unter anderem die prinzipielle Gleichwertigkeit der verschiedenen Stile untereinander betont und hervorhebt, dass bei „keiner Art von Restaurierungsarbeiten […] unter dem Vorwande der Verbesserung eines vermeintlichen Verstoßes gegen den guten Geschmack die alte Form irgendwie geändert werden“ dürfe.158 Der Punkt der Gleichberechtigung der Stile bedarf nach Tornows Meinung einer genaueren Erläuterung, da er zwar davon ausgeht, dass „die Zeit der Stil-Unduldsamkeit“ größtenteils überwunden sei, es aber immer noch vielfach Verstöße gegen das Prinzip der gleichberechtigten Behandlung der Stile gäbe. Den Grund dafür sieht Tornow in der Tatsache begründet, „daß nicht alle Werke aus früherer Zeit künstlerisch auf derselben Stufe stehen“, wobei bei der Beurteilung dessen auch persönliche geschmackliche Präferenzen eine Rolle spielten, die nicht als Entscheidungsgrundlage dienen könnten. Stattdessen dürfe auch eine konstatierte künstlerische Minderwertigkeit nicht dazu führen, von der Grundregel der Gleichberechtigung abzuweichen.159 Die verschiedenen Stile sind also gleich zu behandeln, was Tornow auch in seinen den Grundregeln folgenden 16 Grundsätzen weiter ausführt, wobei sich al155 Hellbrügge teil die Protagonisten mit ihren unterschiedlichen Einstellungen verschiedenen Gruppen zu, indem er zwischen Tornows „historisch-wissenschaftlicher“ Richtung, einer „konservativen“, national eingestellten Richtung (z.B. Clemen und Dehio) und einer progressiven Richtung (z.B. Gurlitt), die sich in der Praxis für eine eigene Formsprache beim Weiterbauen einsetzt, unterscheidet. Da sich diese Gruppierungen jedoch nur aus dem Umgang am Bau erklären, wohingegen sie in ihren Motivationen und ihrem Denkmalverständnis durchaus Überschneidungen haben (wie Hellbrügge auch selbst verschiedentlich anmerkt), ist es an dieser Stelle nicht sinnvoll, dieser Einteilung weiter zu folgen (vgl. Hellbrügge 1991, S. 91 ff). 156 Tornow in Oechelhauser 1910, S. 47. Da für die Tagung von 1900 noch kein stenographischer Bericht vorlag, beruft sich Oechelhaeuser hier auf eine schriftliche Zusammenfassung des Gesagten, die er sich jedoch vor der Publikation von den Autoren absegnen ließ. 157 Vgl. ebd. 158 Ebd., S. 47 f. 159 Vgl. ebd., S. 48.
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lerdings hier schon zeigt, dass eine genaue Gleichberechtigung im Einzelfall doch einer abwägenden Entscheidung zu Gunsten einzelner Bauteile in den Hintergrund rücken muss. In seinem ersten Grundsatz hält er als Ziel fest, dass „die ursprüngliche Erscheinung des alten Werkes und dessen eigenartiges Gepräge in seinem ganzen Umfange erhalten bleibt, gleichviel, ob diese Restaurierungsarbeit ein einfaches Ausbessern und Herstellen oder ein Ergänzen oder ein Wiederherstellen und Erneuern oder ein Ausbauen und Erweitern in sich begreift. Es ist alles zu unterlassen, was geeignet ist, die ursprüngliche Erscheinung des Werkes und dessen einzigartiges Gepräge, wie auch den Wert von Urkunden besitzenden Anhaltspunkte für seine Baugeschichte zu verwischen, zu verkümmern oder zu zerstören.“160
Gleichzeitig merkt er in Bezug auf das Weiterbauen am Denkmal an, dass man sich bei einem Bauwerk, das bereits mehrere Stile in sich vereint, an dem dominantesten oder an dem künstlerisch wertvollsten orientieren sollte. Spätere Anbauten, die hingegen eines künstlerischen Werts ermangeln, dürften aufgrund dessen entfernt werden, auch wenn sie baulich eine Einheit mit dem Denkmal bildeten.161 Ähnlich wie vor ihm schon von Quast richtet sich Tornow hier also nicht gegen eine auf ästhetischen Überlegungen basierende Beurteilung des Denkmals, er möchte diese nur nicht statisch an die verschiedenen Stile gekoppelt sehen, da künstlerische Qualität prinzipiell in jedem Stil möglich sei. Ausschlaggebend für die Beurteilung und auch für den praktischen Umgang ist damit nicht der Stil des Denkmals, sondern sein „einzigartiges Gepräge“, das sich scheinbar nicht auf einen Stil reduzieren lässt. Problematisch wird dieses jedoch bei denkmalpflegerischen Interventionen. Die Notwendigkeit, sich bei Eingriffen für eine der vorgefundene Stilrichtungen entschieden zu müssen, ergibt sich bei Tornow aus der Tatsache, dass er ein Schaffen in einem eigenen, zeitgenössischen Stil durch dessen fehlendes Vorhandensein als unmöglich betrachtet.162 Gleichzeitig weist seine Theorie Unklarheiten in Bezug auf das grundlegende Denkmalverständnis auf. Während er auf der einen Seite das Bauwerk als Objekt mit seiner eigenen sich in ihm widerspiegelnden Geschichte versteht (s.o.), fordert er doch an anderer Stelle, notwendige Erweiterungen des Denkmals „genau im Sinne und Geiste des ursprünglichen Erbauers auszuführen“. 163 Ebenso wie Viollet-le160 Ebd., S. 49 f. 161 Vgl. ebd., S. 51. Urkundlich verbürgte Teile eines Bauwerks, die nicht ausgeführt wurden, dürften hingegen im Sinne einer Fertigstellung dem historischen Gebäude bei entsprechender Quellenlage hinzugefügt werden, wenn „das praktische oder ästhetische Bedürfnis“ dazu bestehe. Ebd., S. 50. 162 Vgl. ebd., S. 46. 163 Ebd., S. 51.
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Duc und von Quast fordert er in diesem Zusammenhang auch die volle Zurücknahme jeglicher künstlerischer Individualität seitens des Restaurators. 164 An diesem Punkt setzt Cornelius Gurlitt mit seiner Kritik an Tornow an. Er hält es für unmöglich, „im Sinne der Alten“ zu schaffen, da man doch immer in seiner eigenen Zeit verhaftet sei. Diese Diskrepanz würde im Nachhinein immer dann spürbar, wenn sich die Vorstellung vom „Geist des Mittelalters“ geändert hätte. Das Ergebnis eines solchen Vorgehens sei ein „in seinem Bestande verwischtes Denkmal“, das man „nicht mit jenem freudigen Gefühl betrachten [könne], das allein das feste Bewußtsein der Ehrwürdigkeit gebe […]“.165 Auch wenn Gurlitt im Folgenden auf den Urkundencharakter des Denkmals eingeht, so handelt es sich für ihn doch in erster Linie zunächst um eine ästhetische Beeinträchtigung des Denkmals. Dabei hebt er lobend hervor, dass die Zeit der ‚Stilpuristen‘ überwunden und inzwischen allgemein anerkannt sei, dass sich „Stilverschiedenheit sehr wohl mit einer einheitlichen künstlerischen Wirkung vertrage“, kritisiert jedoch, dass dies noch nicht auf bauliche Zufügungen der eigenen Zeit übertragen würde.166 Auch Gurlitt stellt die Wirkung des Denkmals dem Stil gegenüber. Der Stil wird zunehmend nicht mehr als ausschlaggebend für den künstlerischen Wert angesehen, sondern die wesentlich schwerer fassbaren Vorstellungen von Wesen und Wirkung des Denkmals rücken – analog zu zeitgenössischen ästhetischen Strömungen – in den Vordergrund. So findet zu dieser Zeit nicht nur eine Hinwendung zu einer stärker historisch geprägten Denkmalpflege statt, was Auswirkungen auf die Denkmalästhetik hat (s. Kapitel 2), sondern es ändern sich auch ästhetische Grundvorstellungen und kunstwissenschaftliche Herangehensweisen. Dass dieser Prozess, der sich schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nachvollziehen lässt, um 1900 jedoch keineswegs abgeschlossen ist, zeigt sich in Oechelhaeusers Zusammenfassung des Tags für Denkmalpflege, in der er in Bezug auf Gurlitts Anmerkungen zu Tornows Regelwerk bemerkt: „Gegen Gurlitts Anschauungen […] macht sich mehrfach lauter Widerspruch geltend.“ 167 Noch Jahre später klingt es daher wie eine nochmalige Bestätigung aber auch Rechtfertigung seiner Ansichten, wenn Gurlitt im Rückblick auf die Debatte auf dem Tag für Denkmalpflege in Dresden abermals bekräftigt, dass es nicht möglich sei, im Geiste der Alten zu schaffen und dass „ein Kunstwerk aus den Unzulänglichkeiten einer verkehrten Absicht nicht entstehen könne. Altertümer kann man nicht machen. Nachahmungen alter Werke sind künstlerisch wertlos.“168 Gurlitt betrachtet das Denkmal in diesem Fall in erster Linie als Kunstwerk. Um den künstlerischen Wert 164 Vgl. Hellbrügge 2002, S. 2. 165 Vgl. Oechelhaeuser 1910, S. 54 f. 166 Vgl. ebd. 167 Ebd. 168 Gurlitt 1924, S. 608.
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zu erhalten, ist, wenn ein Weiterschaffen verlangt wird, ein künstlerisches Schaffen notwendig. Dies wiederum ist mit Gurlitt auch mit der Frage nach Wahrhaftigkeit verbunden. Stil definiert er dabei als die innere Zweckmäßigkeit eines Gebäudes: „Stilvoll ist, was dem Wesen des Werkes in seiner ganzen Anlage, Ausbildung, Inhalt künstlerisch entspricht; erste Forderung des Stils ist innere Wahrheit, der echte Künstler hat dabei den Blick nach vorwärts, nicht auf alte Formen zu richten. […] Er ist erfüllt vom Geist seiner Zeit und will diesen durch sein Werk zum Ausdruck bringen.“ 169
So, wie die früheren Künstler im Stile ihrer Zeit schufen, soll dies auch der zeitgenössische Künstler tun und zwar nicht in Hinblick auf eine formale äußerliche Ästhetik, sondern zu Gunsten der tiefer liegenden künstlerischen Wahrheit des Werks. Auch hier tritt das Wesen des Werks als sein eigentlicher Kern in den Vordergrund, der zwar Teil seiner Ästhetik ausmacht, sich aber nicht auf deren formalen Bestandteile reduzieren lässt. Die Reduzierung auf einen formalen Stil und dessen künstliches Nachschaffen zerstöre vielmehr das Kunstwerk. Der einzige Ausweg liegt für Gurlitt in einer künstlerischen Selbstständigkeit, die er den vorangegangenen Zeiten zuschreibt. Der Versuch, ‚im Geist der Erbauer‘ zu schaffen, bleibt für ihn auch bei einer größeren Wissenschaftlichkeit und genaueren Untersuchung der historischen Bauweisen, wie Tornow sie vorschlägt, unmöglich. Vier Jahre nach der Diskussion auf dem Tag für Denkmalpflege stellt er diese Meinung noch einmal mit direktem Bezug auf Tornow klar: „Die Absicht ist bei Tornow noch die gleiche, wie der seiner jetzt als ausser der Pietät stehenden Lehrer: denn er fordert, ‚dass jede Herstellungsarbeit so ausgeführt werden müsse, dass die ursprüngliche Erscheinung des alten Werkes und dessen eigenartiges Gepräge in seinem ganzen Umfange erhalten bleibt‘. […] ‚Wenn es sich als unabwendbare Notwendigkeit herausstellt, das Baudenkmal zu erweitern oder zu vergrößern und ihm Anbauten hinzuzufügen, so sind solche Bauten genau im Sinne und Geist [Hervorhebung im Original] des ursprünglichen Erbauers auszuführen.‘“170
Gurlitt sieht also in der von Tornow als Weiterentwicklung der Denkmalpflege formulierten Grundregeln keine qualitative Weiterentwicklung sondern lediglich eine Weiterführung früherer Herangehensweisen: „Der Beschauer soll nach wie vor getäuscht werden, wenn er ein umgebautes oder erweitertes altes Denkmal sieht! […] In allen sonstigen Gebieten menschlichen Thuns nennt man dies eine Fäl-
169 Gurlitt 1969, S. 138. 170 Gurlitt 1904, S. 7 ff.
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schung.“171 Das im Geiste einer anderen Zeit (weiter)geschaffene Werk wird so nicht nur als Kunstwerk unwahrhaftig, sondern auch als historisches Dokument: „[D]erjenige aber, der sich an den historischen Urkunden in einer Weise vergreift, dass er die Grenze zwischen dem Alten und seiner Ergänzung nicht deutlich erkennbar macht, wird seit einigen Jahrhunderten thatsächlich als Fälscher bezeichnet und verachtet, gleichviel ob er damit eine selbstsüchtige, rechtswidrige Absicht verbindet oder nicht; denn er verschleiert das was das höchste Ziel aller Wissenschaft ist und sein soll: die klare Erkenntnis der Wahrheit!“172
Das Denkmal verkörpert sowohl eine künstlerische als auch eine historische Wahrheit. Beides wird durch ein Weiterschaffen in einem als historisch betrachteten Stil zerstört. Hierin sieht Gurlitt denn auch die größte Gefahr beim Umgang mit dem Denkmal, dem er in seinen Überlegungen den größten Raum widmet. Losgelöst davon erörtert er kurz an anderer Stelle die Problematik der „Restaurierung aus Gründen der Schönheit“. Hier führt er aus, dass man nicht davon ausgehen könne, zuverlässig über die Qualität von Kunstwerken urteilen zu können – auch nicht als Sachverständiger. Dennoch plädiert er dafür, sich in der Praxis mit dem Bedürfnis der Verschönerung durch die Eigentümer auseinanderzusetzen und schlägt Kompromisslösungen vor, bei denen der Architekt beispielsweise „das Anstössige so entfernen [solle], dass es bei Besserung oder Änderung des Geschmackes wieder eingefügt werden kann“ oder zunächst das Denkmal in seinem vorgefundenen Zustand reparieren solle, da der „Verfall […] auf viele abstossend“ wirke.173 Die Frage von Geschmack und Schönheit scheint für Gurlitt im Gegensatz zu der Stilfrage also keine Prinzipienfrage zu sein, sondern eher ein Problem der denkmalpflegerischen Praxis. Die Stilfrage wurde im Gegensatz dazu in erster Linie als methodische Frage verhandelt. Die enge Koppelung des Aspekts der künstlerischen Wahrhaftigkeit an die Schönheit des Objektes in ästhetischen Theorien war kein explizites Thema der Diskussionen. Die Beurteilung einer potenziellen Schönheit des Denkmals gehörte nicht zum professionellen Selbstverständnis. Gurlitts oben dargelegte Meinung legt vielmehr nahe, dass Schönheitsurteile und das Bedürfnis nach Schönheit in erster Linie als Thema für Denkmallaien betrachtet wurde. Fünf Jahre nach Tornows Formulierung von denkmalpflegerischen Grundregeln wurde das Thema der Stileinheit erneut im Rahmen des Tags für Denkmalpflege diskutiert. Ausgangspunkt war diesmal die Frage nach der Rolle der modernen Kunst in der Denkmalpflege, die Georg Hager in einem Vortrag zur Diskussion 171 Ebd. 172 Ebd., S. 10. 173 Vgl. ebd., S. 19 ff. Zum Thema Geschmack s. ausführlich Kapitel 5.
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stellte. Georg Hager tritt dabei für mehr künstlerische Selbstständigkeit und Freiheit bei vorgenommenen Restaurierungen ein und sieht in der auf historischen Forschungen basierenden angestrebten Stileinheit sogar einen künstlerischen Rückschritt gegenüber der „Manier früherer Jahrzehnte, die nicht so stilgetreu war, dafür der künstlerischen Eigenart mehr Spielraum zur Entfaltung bot“. 174 Ähnlich wie für Gurlitt steht für Hager die künstlerische Gesamtwirkung im Vordergrund, die sich nicht auf stilistische Formalien reduzieren lasse: „[N]icht die historischen Stilformen sind es, die die künstlerische Gesamtwirkung eines verschiedene Stile an und in sich vereinenden Baus begründen. Es ist vielmehr der Kunstwert der einzelnen Teile und das künstlerische Verhältnis dieser Teile zum Ganzen, was das einigende Band bildet, was das Geheimnis der Wirkung des Baues und seiner Einrichtung auf den Beschauer erklärt. Die künstlerische Einheit, nicht die Stileinheit und Stilgerechtigkeit, bedingt schließlich den Eindruck des Werkes.“175
Auch Hager geht es um die künstlerische Wirkung des Werks, die zwar in dessen künstlerischer Einheit begründet ist, jedoch nicht zwingend in der stilistischen. Daher plädiert auch er dafür, sich gänzlich von der Stilfrage zu lösen und stattdessen die Kunst in den Vordergrund zu stellen.176 In der auf den Vortrag folgenden Diskussion schließt sich Georg Dehio Hagers Meinung an: „Was sich ganz von selbst versteht, ist die allgemeine Forderung, daß das hinzutretende neue Stück in künstlerischer Harmonie zu dem gegebenen sich hält. Dieses versteht sich ganz von selbst, und der Irrtum, der nun ein Menschenalter und länger geherrscht hat, und dem wir jetzt anfangen entgegenzusetzen, liegt nur darin, daß die wesentlichste Vorbedingung, ja die einzige Bürgschaft für eine solche künstlerische Harmonie in der Stilgleichheit, in der Stileinheit liege. […] Jedes Bauwerk besitzt gewisse grundlegende Eigenschaften, die von der speziellen Fassung in diesem oder jenem historischen Stil unabhängig sind. Der Zusammenklang mit diesen Eigenschaften ist das eigentlich Entscheidende. Wird er erreicht, so hat das Nebeneinander verschiedener Stilformen nichts Verletzendes; wird er verfehlt, so ist auch die korrekteste Stilnachahmung wertlos.“177
Die Ablehnung der stilistisch einheitlichen Wiederherstellung basiert, wie auch dieses Zitat zeigt, in erster Linie nicht auf einem veränderten historischen bzw. wissen174 Zit. nach Oechelhaeuser 1910, S. 65 f. 175 Ebd., S. 66. 176 Vgl. ebd. Dass dieses Plädoyer offensichtlich ungehört verhallte, zeigt sich schon daran, dass Oechelhaeuser auch diesen Vortrag fünf Jahre später dem Kapitel „Stilfragen“ zuordnete. 177 Ebd., S. 77.
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schaftlicheren Verständnis der Denkmalpflege, sondern auf einem denkmalästhetischen Paradigmenwechsel der sich in einer Änderung des Fokus von formalästhetischen zu wirkungsästhetischen Kriterien manifestiert (s. Kapitel 2). Dies zeigt auch der weitere Verlauf der Debatte auf dem Tag für Denkmalpflege 1909.178 Der Architekt Karl Weber setzt sich dort in einem Vortrag über Die Stilfrage bei Wiederherstellung alter Baulichkeiten für den Einsatz historistischer Architektursprache bei baulichen Veränderungen an Denkmalen ein. Dies fordert er jedoch nur noch mit Einschränkung (nämlich auf die Gruppe der „toten Bauwerke“); außerdem vermeidet er in seiner Argumentation zunächst tunlichst den Begriff ‚Stil‘ und baut seine Argumentation stattdessen auf der Vorstellung vom künstlerischen Wert auf: „Wenn ein […] Bauwerk neu unter Dach und Fach zu bringen ist, und man die Möglichkeit und die Personen hat, diese neue Bedachung so zu gestalten, wie sie zu irgend einer vorhergehenden Zeit vorhanden war, und wenn mit dieser Wiederherstellung zugleich künstlerische Werte geschaffen werden, oder hohe künstlerische Werte, die früher vorhanden waren, wieder geschaffen werden, so begrüßen wir das doppelt und freuen uns, daß die romantischen Werte, die selbstverständlich verloren gehen bei Bedachung einer Ruine, ersetzt werden, und zwar, glaube ich, zehnfach ersetzt werden durch künstlerische Werte, […].“179
Das Künstlerische gilt ihm dabei als wichtigstes Kriterium im Umgang mit dem Denkmal (worin er sogar eine Parallele zwischen „historischen“ und „modernen“ Architekten sieht). Dabei stellt er den Betrachter als Adressaten in den Mittelpunkt. Das Denkmal ist für ihn weniger historisches Dokument als historisches Kunstwerk, das als solches auf den Betrachter wirken solle. Das Ziel restauratorischer Maßnahmen sieht er daher darin, dass ein altes Bauwerk die gleiche künstlerische Wirkung entfalte wie ein Neubau: „Das Ziel jeder […] Wiederherstellung muß das sein, daß, […] der Eindruck auf den Laien, auf den es ja doch schließlich ankommt, für den wir ja doch bauen, genau der gleiche ist, als wenn er in eine ganz neue Kirche kommt. Sie muß ihm genau so schön sein, genau einen so
178 Nach der Zusammenfassung Oechelhaeusers wurde das Thema dort auf Wunsch der Vertreter „stilistischer Restaurierungen“ auf die Tagesordnung gesetzt, die damit auf einen Vortrag des vorangegangenen Jahres reagierten, in dem der Architekt Julius Wilhelm Gräbner sich mit der Argumentation Gurlitts aus dem Jahr 1900 auseinandersetzte und sich dieser anschloss. Vgl. ebd., S. 104. 179 Ebd., S. 95. Als Beispiel nennt Weber hier den Ott-Heinrich-Bau vom Heidelberger Schloss, bei dem der künstlerische Wert der Rekonstruktion nach seiner Meinung die „Einbuße an Romantik“ ersetzt hätte.
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unmittelbaren Eindruck machen wie ein Neubau. Wenn sie den Eindruck nicht macht, ist der Bau schlecht, gerade wie ein Neubau schlecht ist, wenn er keinen Eindruck macht.“180
In seiner Replik auf die teilweise heftige Kritik zu seinem Vortrag verteidigt er diesen Gedanken, indem er ihn weiter differenziert. So führt er aus, dass derartige Überlegungen zur Wiederherstellung von Denkmalen in den Zustand einer „vorhergehenden Zeit“ nur auf solche Denkmale mit einem hohen Kunstwert anzuwenden seien. Auf andere hingegen, deren Wert „in der Stimmung“ liege, solle dies nicht angewandt werden.181 Weber plädiert also für eine Betrachtung des Denkmals als Kunstwerk, wobei das Kunstwerk für ihn den statischen Moment nach der Schaffung eines bestimmten Zustands zu umschreiben scheint. Dieser vereint den höchst möglichen Kunstwert in sich, und diesen wieder anzustreben, ist das Ziel der Denkmalpflege aus seiner Sicht. Um diesen Zustand, wenn er verloren ist, wieder zu erreichen, bedient sich der denkmalpflegerisch arbeitende Architekt der jeweiligen historischen Stilformen, da nur durch diese der künstlerische Wert wieder erlangt werden könne. Ein künstlerisch gleichwertiges Ergebnis zu erreichen, durch die Verwendung moderner Bauweise, hält Weber für ausgeschlossen, da er nach wie vor – und hier bedient er sich eines der Hauptargumente historistisch arbeitender Architekten – keinen existierenden zeitgenössischen Stil erkennt.182 Darüber hinaus lassen sich in seiner Argumentation weitere schon vorher genannte Themen finden, wie die Zuordnung der Empfindung des ‚Schönen‘ zur Gruppe der (unreflektierten) Laien (s.o.) und die Gegenüberstellung verschiedener ästhetischer Qualitäten (‚romantisch‘ und ‚künstlerisch‘, s. dazu Kapitel 3). Die Zuhörer auf dem Tag für Denkmalpflege 1909 nahmen den Beitrag Webers größtenteils als anachronistisch wahr, zumindest lässt sich dies aus den Rückfragen und Kommentaren des stenographischen Berichts schließen. So äußerte sich der Berliner Magistratsbaurat
180 Ebd., S. 97. Auch bei seiner Replik im Anschluss an den Vortrag kehren diese Überlegungen zu den Adressaten der Denkmalpflege noch einmal wieder. Gegen den u.a. von Cornelius Gurlitt vorgetragenen Vorwurf, dass historisierende Restaurierungen verunklären würden, was am Bauwerk alt oder neu sei, stellt er fest: „Die alten Bauten sind nicht in erster Linie Studienobjekte für Sammler oder Museumsobjekte, sondern es sind Kunstwerke, die das deutsche Volk genießen soll, und die wir so behandeln, daß sie wieder voll genossen werden können.“ (Ebd., S. 123.) Dieser Ansicht schließt sich auch Gurlitt zwölf Jahre später in Bezug auf den Dresdner Zwinger an (s.u.). 181 Vgl. ebd., S. 123. Als Beispiel nennt Weber die Purifizierung der Münchener Frauenkirche, die er aus künstlerischen Gründen begrüßt, wohingegen er die Übertragung dieses Prinzips auf Dorfkirchen kritisiert. Allerdings formuliert er keine Gegenvorschläge für die in diesem Fall angemessene alternative Verfahrensweise. 182 Vgl. ebd., S. 99.
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Otto Stiehl verärgert darüber, dass überhaupt noch über den angemessenen Stil bei Ergänzungen gesprochen würde, wo man „doch sonst eigentlich zu der Ansicht vorgedrungen [sei] […], daß nicht die Einzelform es ist, auf die es ankommt, um den künstlerischen Wert der Leistung festzustellen, sondern daß die Grundauffassung, das was man den baukünstlerischen Geist des Urhebers nennt, sich aussprechen kann in jeder ganz beliebigen Formenwelt.“183
Trotz dieser Gegenüberstellung von ‚Stil‘ und ‚Geist‘ des Kunstwerks scheinen die beiden Positionen aus heutiger Sicht in ihrer Konsequenz für die denkmalpflegerische Praxis gar nicht so weit auseinander zu liegen. Beide gehen von einem Werk aus, das es wiederherzustellen gilt. Dies wird zum einen durch die Wiederherstellung einer als ursprünglich angenommenen Form versucht, zum anderen durch die Orientierung am Geist des ursprünglichen Werks. Cornelius Gurlitts 1900 formulierte Meinung, dass auch das Schaffen im Geiste einer vergangenen Zeit nicht möglich sei, scheint sich also nicht durchgesetzt zu haben. Lediglich das Schaffen in einem bestimmten Stil wird abgelehnt, jedoch weniger aufgrund einer angenommenen Geschichtsfälschung, sondern wegen einer damit verbundenen formalistischen Pedanterie, die zum einen einer künstlerischen Herangehensweise widerspräche und durch die sich außerdem das angenommene Eigentliche des Werkes nicht fassen lasse. Acht Jahre nach Webers Ausführungen äußert sich auf der Tagung für Denkmalpflege in Augsburg nochmals Georg Hager zu der Wiederherstellung von Denkmalen. Wie bereits 1905 ist es auch diesmal insbesondere das „Geheimnis der Wirkung“ (1905) des Gebäudes, das ihn interessiert – diesmal jedoch unabhängig von einer bereits abgeschlossenen Stildebatte, dafür in Weiterführung des Gedankens vom ‚Geist‘ des Kunstwerks. In Bezug auf den Erhalt barocker Kirchen in ihrem vorgefundenen Zustand führt er aus, dass dies nur sinnvoll sei, sofern diese nicht „verrestauriert“ seien. Wenn dies jedoch der Fall sei, so plädiere er für deren „Wiederherstellung […] in ihrem alten künstlerischen Geiste“, in den sich der Denkmalpfleger einfühlen müsse.184 Den Schutz des Denkmals vor Veränderung begründet er nicht durch seinen historischen Zeugniswert, sondern aus seinem Status als Kunstwerk heraus: „Es wird eben immer wieder bei Restaurationen der alte Fehler gemacht, daß man das überlieferte Werk korrigieren und verbessern zu können glaubt. Das nennt man dann Verschönern. An alten Originalwerken gibt es nichts zu verschönern. Die Ehrfurcht vor dem künstlerischen Genius, die Ehrfurcht vor der geistigen Eigenart einer Kunstschöpfung verlangt, daß 183 Ebd., S. 112. 184 Hager in Dreizehnter Tag für Denkmalpflege 1917, S. 88.
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wir das Werk hinnehmen, wie es ist, mit seinen Vorzügen, aber auch mit seinen Schwächen und selbst Fehlern, wenn es auch wirklich solche haben sollte. Die mit so vielen Restaurierungen verbundene Verschönerungssucht ist ein unerträgliches Schulmeistern der alten Künstler. [Hervorhebungen im Original]“185
Die von ihm hier beschriebene „Verschönerungssucht“ sieht er vor allem im Bereich der „früheren Vorgehensweise“ als Problem an. Dabei ist jedoch auffällig, dass zu allen Zeiten in den seltensten Fällen von einer „Verschönerung“ des Denkmals als konkretem Restaurierungsziel gesprochen wird. Vielmehr versucht jede Epoche, das Vorgehen am Denkmal argumentativ nachvollziehbar zu begründen, meist mit dem Ziel der Einfühlung in die alte Zeit oder mit der Nachbildung historischer Formen nach dem jeweiligen wissenschaftlichen Kenntnisstand. Das Denkmal soll immer mehr Funktionen erfüllen als die des reinen „schön Seins“. Ein bloßes Verschönern existiert meist nur als Vorwurf, nicht als Ziel. Die Ehrfurcht vor dem Kunstwerk gebietet für Hager seinen Schutz vor Veränderung. Ist das Werk jedoch bereits beeinträchtigt, so soll es in seinem Geiste wiederhergestellt werden. In Bezug auf die konkrete Form bleibt dem als Künstler daran Weiterschaffenden jegliche Freiheit. Dabei wird von dem Ideal eines sensiblen Künstlers ausgegangen, das Cornelius Gurlitt 1931 in seinem Text über die Erneuerung des Dresdener Zwingers dem des Historikers gegenüberstellt. Im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Restaurierungs- und Wiederherstellungsarbeiten am Dresdner Zwinger stellt sich Gurlitt klar auf die Seite der Befürworter, reflektiert jedoch zuvor die verschiedenen denkmalpflegerischen Positionen. So gibt es nach seinem Dafürhalten unterschiedliche Aufgaben, die der Denkmalpfleger berücksichtigen müsse, nämlich auf der einen Seite die Erhaltung des Baustoffs, was für ihn in erster Linie eine technische Frage darstelle, zum anderen die Erhaltung des „geschichtlichen und künstlerischen Werks“, was eine künstlerische Frage sei. Auf die rhetorische Frage nach der „rechte[n] Form des Erhaltens“ führt er verschiedene Möglichkeiten, je nach fachlicher Ausrichtung aus: „Der Historiker wird wünschen, daß man ihm ablesen kann, wie die einzelnen Zeiten sich zum Bau stellten, d.h. wie sie ihn entstellten. Der Künstler wird meinen, daß er dort, wo der alte Zustand deutlich erkennbar ist, diesen selbst unter einzelnen von ihm zu schaffenden Ergänzungen wieder herstellen soll. Er fühlt sich gebunden durch das Alte und dessen künstlerische Absicht und will dieses wieder zur Geltung bringen.“ 186
185 Ebd., S. 89. 186 Gurlitt 1931b, S. 26.
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Da es sich bei dem Denkmal um ein Kunstwerk handle, müsse auch der Vorgang der Restaurierung, um diesem gerecht zu werden, ein künstlerischer sein. Auch wenn Gurlitt sich zu Beginn des Jahrhunderts gegen das enge Korsett der stilistischen Vorgaben zu Gunsten der künstlerischen Freiheit aussprach, so geht er doch von einem Einfühlungsvermögen des Künstlers aus, der sich auf das Werk einstellt und sich in seiner künstlerischen Freiheit diesem unterordnet. Im Fall des Zwingers rechtfertigt für Gurlitt der künstlerische Wert des Gebäudes die durch die Zwingerbauhütte vorgenommenen Eingriffe, die er gegen die Kritiker verteidigt: „Laut tönt der Tadel gegen die Bauhütte hinsichtlich des bildhauerischen Schmuckes des Zwingers. Da sei ein großer Fehler begangen worden: Der Bildhauer der Hütte habe eine große Zahl von Figuren neu geschaffen, andere ausgebessert, doch alles so, daß der Forscher nicht erkennen könne, was alt und was neu sei. […] Die Bauhütte hat dies bedacht und Verzeichnisse über jede verwendete Figur mit Darstellungen ihres bei Beginn der Arbeiten vorgefundenen Zustandes angelegt und wird dieses dem Fachmann gern zur Verfügung stellen. Es fragt sich nur, was entscheidend ist, ob der Gelehrte oder ob der Kunstfreund durch die Erneuerung befriedigt werden soll?“187
Wie schon vor ihm Karl Weber argumentiert Gurlitt hier also nicht nur mit dem künstlerischen Wert des Denkmals sondern auch mit seiner Wirkung auf den – durchschnittlich gebildeten – Betrachter. Insbesondere diese Aspekte gewannen in den denkmalpflegerischen Diskussionen der Zeit zunehmend an Bedeutung. 188 Sigrid Brandt merkt in diesem Zusammenhang an, dass es Cornelius Gurlitt bei der Zwingererneuerung nicht um die Legitimierung einer historistischen Form der Denkmalpflege ging, sondern um künstlerische Aspekte. Dadurch gibt es in seiner Einstellung auch keinen Bruch von einer modernistischen Sehweise zu einer historistischen sondern eine Konstanz in der Betrachtung des Denkmals als Kunstwerk.189 Dass diese Betrachtungsweise insgesamt an Bedeutung gewann, lässt sich auch in der Einstellung der sogenannten Künstlerkonservatoren als denkmalpflegerische Fachkräfte erkennen, die sich vor allem künstlerisch mit dem Denkmal auseinandersetzten und so historische Kenntnisse mit der Einfühlung in das Denkmal ver187 Gurlitt 1931, S. 90. 188 Da diese Aspekte auch oft unter der Prämisse der Volksbildung verhandelt wurden, wird darauf in Kapitel 5 genauer eingegangen. 189 Vgl. Brandt 2003, S. 165. Brandt bemerkt außerdem, dass Gurlitt auch schon früher den Begriff ‚modern‘ gemieden hatte, dass es ihm also nicht in erster Linie um das Ausspielen verschiedener Kunstformen gegeneinander ging, sondern um eine Verteidigung des künstlerischen Ansatzes im Gegensatz zur „Verleugnung künstlerischer Individualität“ durch Tornow.
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binden sollten.190 Dabei sollten sie „nicht nur das Alte konservierend und restaurierend […] erhalten, sondern auch, wo sich die Gelegenheit bot, wertvolle neuzeitliche Schöpfungen dem Alten harmonisch einfügen.“191 Auf dem Denkmalpflegetag 1930 in Köln wurde schließlich sogar die „künstlerische, neuschöpferische Tätigkeit des Denkmalpflegers als die wichtigste Aufgabe“ hervorgehoben.192 Die entsprechend als schöpferisch bezeichnete Richtung der Denkmalpflege gewann insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus an Bedeutung und behielt diese aufgrund der personellen Konstanz innerhalb der Institutionen auch noch bis in die 50er Jahre.193 Dabei zeigen sowohl Christoph Hellbrügge als auch Susanne Fleischner, dass die schöpferische Denkmalpflege stark ideologisch vereinnahmt wurde. Der Fokus wurde weniger auf den freien künstlerischen Umgang mit einem historischen Kunstwerk gelegt, sondern das Werk sollte in seiner Funktion als Identifikationsobjekt für das Volk gestärkt werden.194 Das Denkmal wird zunehmend als Symbol (im Sinne Paul Clemens) wahrgenommen, was sich auch in seiner Behandlung widerspiegelt. Einher geht dieser Trend mit einer stärkeren Fokussierung auf die (volks)erzieherische Funktion des Denkmals. Auch wenn die Betonung künstleri-
190 Achim Hubel sieht erste Tendenzen dazu bereits in den 20er Jahren, wobei die ersten Künstler-Konservatoren wohl erst in den 30ern eingestellt wurden (vgl. Hubel und Bock 2011, S. 117 und Hubel 2005c, S. 260). 191 Zit. von Georg Lill 1948. Lill war 1929-1950 Direktor des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, wo während dieses Zeitraumes verschiedene Künstlerkonservatoren arbeiteten (zit. nach Körner 2000, S. 53). 192 Zit. nach Hubel und Bock 2011, S. 117. 193 Vgl. Körner 2000, S. 14 f. und Euler-Rolle 2010, S. 95. Entsprechend geht Bernhard Körner in seiner Arbeit über die Denkmalpflege nach 1945 der Frage nach, „ob die Denkmalpflege im zeitgenössischen Verständnis eine künstlerisch-kreative oder eine wissenschaftliche Aufgabe darstellt“, also ob sie als Reaktion auf die Ideologisierungen der 30er Jahre sich auf eine größtmögliche, historische Objektivität besann oder die vor dem Krieg praktizierte künstlerische, auf Einfühlung basierende Vorgehensweise weiter praktizierte (ebd., S. 9). 194 Vgl. Hellbrügge 1991 und Fleischner 1999. Zwar weist Bernd Euler-Rolle darauf hin, dass die schöpferische Denkmalpflege auch Gedanken aus der Gestaltpsychologie und Gestalttheorie aufnahm, diese lassen sich in ihren Anfängen jedoch auch schon für die Zeit davor nachweisen, beispielsweise, wenn Hager bereits 1905 von einer ‚künstlerischen Gesamtwirkung‘ des Denkmals spricht und diese gegen die Bewertung der stilistisch unterschiedlichen Einzelteile stellt. Auch wenn dies noch vor der Formulierung einer gestaltpsychologischen Theorie durch Max Wertheimer war, so lassen sich hier doch in der Betonung des Ganzheitlichen im Gegensatz zu den einzelnen Elementen ähnliche Gedanken wie dort wiederfinden (vgl. Euler-Rolle 2010 und Bode 2007).
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scher Denkmalaspekte zu dieser Zeit erhalten bleibt, so treten doch andere in den Vordergrund, die an anderer Stelle behandelt werden.195 4.3.1.3 Wiederaufbau und Rekonstruktion Nach dem zweiten Weltkrieg war auch im Bereich der Denkmalpflege zunächst die Frage nach dem Wiederaufbau virulent. In Bezug auf die Vorstellung vom Denkmal als Kunstwerk soll in diesem Kapitel hauptsächlich ein Diskussionsstrang untersucht werden, der sich mit den Fragen der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Wiederherstellung eines Kunstwerks beschäftigt, der sich bis in die Gegenwart hinein zieht. Darüber hinaus wird das Thema der Rekonstruktion später nochmals in Kontext des Denkmals als Symbol untersucht werden, wo ein weiterer Schwerpunkt der Debatten um Rekonstruktionen liegt.197 Dieses Vorgehen macht unter der zugrundeliegenden Fragestellung insofern Sinn, als sich sowohl die Argumentation der Beteiligten, als auch zumindest in einzelnen Aspekten die damit verbundene bzw. angestrebte Ästhetik des Denkmals unterscheidet. Diese hatte sich durch die Ereignisse des zweiten Weltkrieges kaum geändert. Aufgrund der schon erwähnten hohen personellen Konstanz gab es trotz der völlig veränderten baulichen (und politischen) Lage auch eine große Konstanz in Bezug auf die denkmalpflegerische Herangehensweise. Die „heterogenen Positionen“, 198 die Körner in seiner Arbeit über die Denkmalpflege nach 1945 konstatiert, sind dabei wohl weniger als zeittypisch, sondern vielmehr als disziplintypisch anzusehen. Körner sieht dabei, wie er bereits durch den Titel seiner Dissertation kenntlich 195 S. dazu die Kapitel 4.3.4 und 5. 196 Auch wenn gerade im Zusammenhang mit der heiklen Rekonstrutkionsdebatte in der Denkmalpflege immer wieder die mangelnde Klarheit der Terminologie kritisiert wird (z.B. Falser 2011b, S. 206 f.; Falser spricht hier insbesondere die Problematik der Abgrenzung von Begriffen wie Rekonstruktion, Teilrekonstruktion und Wiederherstellung an), soll hier keine ausführliche Begriffsklärung zu dem Thema vorgenommen, sondern die jeweils von den Autoren verwendeten Begriffe übernommen und in ihrer Intention erläutert werden. Für eine versuchte Begriffsklärung s. beispielsweise Hubel und Bock 2011, S. 133 ff. 197 Unter diesem Aspekt hat sich unter anderem und insbesondere Michael Falser schon ausführlich in seiner Dissertation zur politischen Geschichte in Deutschland beschäftigt (Falser 2008). 198 Vgl. Körner 2000, S. 36. Auch Körner betont in diesem Zusammenhang wieder die schlechte Quellenlage der Zeit, was denkmaltheoretische Texte angeht, weswegen er sich in seiner Arbeit ausführlich mit Beispielen aus der Praxis auseinandersetzt. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen sollen hier am Rande übernommen werden, der Schwerpunkt wird jedoch weiterhin auf den vorhandenen textlichen Dokumenten liegen.
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macht, die Arbeit der Denkmalpflege nach 1945 in einem Spannungsfeld zwischen „Bewahren und Gestalten“ angesiedelt. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass insbesondere der Wiederaufbau meist auch ein „künstlerisch-gestalterischer Prozeß“ gewesen sei, da er aufgrund seiner Untersuchungen davon ausgeht, dass sich kein Beispiel einer „Wiederherstellung eines jüngst vergangenen Zustandes, also die Wiederherstellung eines Denkmals mit all seinen Veränderungen der Geschichte“ finden lasse, sondern immer auch in irgend einer Weise gestalterisch eingegriffen wurde.199 Georg Mörsch bemerkt in diesem Zusammenhang, dass einige Denkmalpfleger „den Wiederaufbau der Monumente zum willkommenen Anlaß für kunsthistorische Rekonstruktionen mißbrauchten, die nicht etwa den überlieferten Zustand wiedergewinnen sollten, sondern alle wissenschaftlichen Träume von Ur- und Idealzustand erfüllten“.200 Nicht selten sei das Ziel des Wiederaufbaus dabei gewesen „stilistisch zu korrigieren, ihn [den Bau, S.H.] zu vereinheitlichen und häufig in einen Zustand vermeintlich grösserer kunsthistorischer Bedeutung oder Schönheit zu versetzen“, wobei Mörsch in diesem Zusammenhang auch auf die Verbindung zwischen zeitgenössischer Ästhetik und den in der Denkmalpflege bevorzugten Baustilen eingeht.201 Aus eben diesen Gründen, die auch Körner in seiner Untersuchung feststellt, kommt dieser zu der These, dass während der Zeit des Wiederaufbaus die in der „Grundsatzdebatte“ um 1900 entwickelten Prinzipien der Denkmalpflege außer Kraft gesetzt wurden, was sich wiederum in der Folge auch auf andere denkmalpflegerische Projekte übertragen hätte.202 Ernst Bacher zieht 1989 daraus den Schluss, dass durch den zweiten Weltkrieg und die damit verbundenen Folgen die Rekonstruktion von Gebäuden eine „quasi legitime Methode der Denkmalpflege“ wurde und durch erfolgreiche Großprojekte wie den Wiederaufbau Warschaus „zur umfassendsten und höchsten denkmalpflegerischen Maßnahme und Leistung“
199 Körner knüpft hierbei an die 1988 von Hartwig Beseler formulierten vier „Grundmuster des Wiederaufbaus“ an, die neben der „naiven“ Wiederherstellung des Vorzustandes die archäologische Rekonstruktion (Wiederherstellung eines älteren Zustandes auf Grundlage von Befunden), Purismus (Wiederaufbau unter Auslassung oder Entfernung störender Elemente) und die architektonische Einbeziehung der Moderne umfassen. Vgl. Körner 2000, S. 34. 200 Mörsch 1989b, S. 47. Als Beispiele nennt Mörsch hier die Kirchen St. Maria im Kapitol in Köln und St. Michael in Hildesheim. 201 Mörsch 2005d, S. 65. Mörsch stellt vor allem die zeitgenössische Vorliebe für die klare Formensprache der Romanik fest, wohingegen es barocke Bauten ungleich schwerer hatten. 202 Vgl. Körner 2000, S. 35. Dabei kommt schon Hellbrügge zu dem Schluss, dass die dort formulierten theoretischen Grundsätze auch damals schon in der Praxis so nicht übernommen wurden. Vgl. Hellbrügge 1991, S. 213.
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stilisiert worden wäre.203 Beide Autoren gehen von einem durch die Folgen des zweiten Weltkriegs verursachten denkmalpflegerischen Paradigmenwechsel aus. Die chronologische Untersuchung der denkmalpflegerischen Diskussionen lässt jedoch vielmehr auf eine inhaltliche Weiterführung vorhandener Ideen schließen, was auch Sigrid Brandt in ihrer Arbeit über die Denkmalpflege in der SBZ/DDR feststellt, wo sie bemerkt, dass nicht die denkmalpflegerische Diskussion der Zeit um 1900 für die Denkmalpflege von Bedeutung war, sondern später entstandene Gedanken von einem ‚lebendigen‘ Denkmal. 204 Auch in Bezug auf die Betrachtung des Denkmals als Kunstwerk kann man eher von einer Kontinuität ausgehen. Georg Lill, Direktor des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege von 1929-1950, betrachtet 1946 im Zusammenhang mit grundlegenden Reflexionen zum Wiederaufbau historische Stadtstrukturen als „seelisches Monument“ und „Gesamtkunstwerk“205 und regt an, einzelne Baudenkmale zu erhalten, um „von diesen Kristallisationspunkten aus die Lücken zu füllen, in denen alles zermalmt wurde, und zwar so, dass das Neue zum Alten gestimmt wird in Maßstab und Materialechtheit, in Handwerkstüchtigkeit und architektonischem Können, nicht äußerlich, sondern im Geiste des Wesentlichen.“206
Lill führt hier also den Gedanken der Orientierung am Geist des Kunstwerks weiter, wie er schon Anfang des 20. Jahrhunderts in der Gegenüberstellung zu einem formalistischen Stilverständnis aufkam und betont zudem nochmals, dass dieser Geist nicht auf Äußerlichkeiten und formaler Ähnlichkeit beruhe. Dass diese Herangehensweise an das Denkmal kein einfaches Unterfangen darstellt, ist ihm dabei durchaus bewusst, wie er zwei Jahre später darlegt, ebenfalls im Rückgriff auf die Stildiskussion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Grundvoraussetzung für den Umgang mit dem Denkmal betrachtet er die „rein historisch-ästhetische Erkenntnis und Liebe zu den Werken jeglicher alter Kunst, die eine so starke Ehrfurcht in uns erweckt hat, daß wir nur mit stärksten Hemmungen an eine Änderung zu denken wagen, weil wir nicht wie der Barockmensch die naive Sicherheit besitzen, es besser machen zu können“.207
203 Vgl. Bacher 1989, S. 4. 204 Vgl. Brandt 2003, S. 198. Auch hier lässt sich feststellen, dass die angenommene Verbindlichkeit der Diskussion um 1900 eine spätere Zuschreibung ist. 205 Lill 1946, S. 28. 206 Ebd., S. 29 f. 207 Lill 1996, S. 205.
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Als positiv sieht er deswegen eine Entwicklung zu Fallentscheidungen, in deren Rahmen jeweils kontextabhängig entschieden werden müsse, ob „das noch Bestehende in vorsichtigem Einfühlen im alten Sinn ergänzt werden kann, oder ob ein schöpferischer Architekt das Neue dem Alten im Äußeren wie im Inneren in einer höheren Harmonie angleichen kann.“208 Entsprechend geht er von einer inneren Harmonie des Kunstwerks Denkmal aus, die es durch eine künstlerische Herangehensweise wieder herzustellen gilt. Ähnlich äußert sich auch Paul Clemen in seinem Geleitwort zu Lills 1946 erschienenem Werk Die Kunstpflege. Auch er geht dort von „einer selbstständigen künstlerischen Weiterführung des Baugedankens“ als möglicher Vorgehensweise beim Wiederaufbau aus, wobei diese jedoch im „Anschluss an den Baueindruck, die Gestalt der einzelnen Denkmäler, des Gesamtortsbildes von gestern“ stattfinden solle.209 Ziel war also eine Anknüpfung an die künstlerischen Gedanken oder an den Geist der Denkmale. Dies stellt auch Niels Gutschow bei einer exemplarischen Untersuchung zum Wiederaufbau von Städten in Ost- und Westdeutschland fest, in deren Rahmen er zeigen konnte, dass bei „‚Wiederherstellung‘ von städtebaulichen Räumen […] ausnahmslos von einer Gestaltung im ‚Geiste der Landschaft‘ die Rede“ war, was er klar gegen den Gedanken eines kopierenden Wiederaufbaus setzt210 und sich im hier verfolgten Diskurs auch klar als Fortführung der künstlerischen Herangehensweise während der Phase des Wiederaufbaus interpretieren lässt. Trotz dieser verschiedenen Äußerungen zu dem Thema kommt Körner in seiner Arbeit zur Denkmalpflege der Nachkriegszeit zu dem Schluss, dass deren Kernthemen auf anderem Gebiet lagen und es kaum Ansätze einer theoretischen Grundsatzdebatte gab. Anfänge dazu gab es demnach noch auf der ersten Tagung der Denkmalpfleger nach dem Krieg 1948 in München, auf der neben Fragen des Wiederaufbaus, der Denkmalschutzgesetze, der Zeitgrenze des Denkmalbegriffs auch über prinzipielle Vorstellungen zu Sinn und Aufgaben der Denkmalpflege diskutiert wurde. Während die darauffolgende Tagung 1951 keine Beiträge zu einer Grundsatzdebatte lieferte, kristallisierte sich auf der Tagung 1953 eine Diskussion zum Thema ‚konservieren – nicht restaurieren‘ heraus, vor allem angeregt durch den damaligen Direktor des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, Josef Maria Ritz.211 Von diesem stammt auch ein Artikel unter der gleichlautenden Überschrift aus demselben Jahr. Dort positioniert er sich gegen eine zeitgenössische, vom Kunstkritiker und Journalisten Oskar Jatho geäußerte Kritik an der Denkmalpflege, 208 Ebd. 209 Clemen 1946, S. 10 f. 210 Vgl. Gutschow 1998, S. 30. Da es Gutschow in dem zitierten Text um die Gegenüberstellung und Abgrenzung der Begrifflichkeiten geht, betont er insbesondere, dass es sich bei diesen Wiederherstellungen eben eindeutig nicht um Kopien handele. 211 Vgl. Körner 2000, S. 39 f.
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in der dieser deren Vorgehen in die Tradition des ‚vandalisme restaurateur‘ des 19. Jahrhunderts stellt und an die denkmalpflegerischen Grundsätze zum Erhalt und zur Konservierung erinnern möchte. Diese, so Ritzʼ Verteidigung, seien jedoch „für jeden echten Denkmalpfleger seit langem Grundgesetz“. Die Schwierigkeit läge nicht in den Grundsätzen der Denkmalpflege, „sondern in der Auslegung derselben in jedem praktischen Fall“. Da es keine „Ausführungsbestimmungen“ gebe, müsse die „lebendige, wissenschaftlich fundierte und künstlerisch bestimmte Persönlichkeit des Denkmalpflegers“ daher ständig prüfend tätig sein.212 Die denkmalpflegerische Tätigkeit ist für Ritz also keine rein wissenschaftliche, sondern auch eine künstlerische Aufgabe. Der Denkmalcharakter leitet sich dabei aus dem künstlerischen Wesen des Objektes her.213 Seine Gedanken vom Künstlerischen in der Denkmalpflege führt Ritz in einem Aufsatz aus dem Jahr 1955 noch weiter aus. Dort bezeichnet er die Denkmalpflege als „eminent künstlerische“ Aufgabe, beispielsweise, wenn es darum ginge, „alten Räumen ihren geistigen Sinn mit Hilfe der originalen Farbigkeit zu erhalten und wieder zu geben“.214 Wie sein Vorgänger Lill betont er in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer Kombination aus beidem, nämlich historischem Wissen und künstlerischer Fähigkeit. Im Gegensatz zu diesem hält er es jedoch durchaus für möglich und unter Umständen für angebracht, auch in „Formen der eigenen Zeit [zu] sprechen“, nämlich dann, wenn keine Anhaltspunkte für den ursprünglichen Bestand mehr zu finden seien oder wenn eine Hinzufügung oder Restaurierung „im schlechten eigenen Zeitstil“ des 19. Jahrhunderts „die künstlerische Einheit“ störe.215 Das Künstlerische am Denkmal kommt also durch dessen Harmonie zum Ausdruck, die prinzipiell unabhängig von der jeweiligen Zeit ist, sich also nicht an bestimmten Stilen orientiert, sondern abhängig ist von der künstlerischen Qualität. Dass es bei der Beurteilung dieser Qualität dennoch (ganz offensichtlich) zu auf Stilpräferenzen aufbauenden Urteilen kommt, wird von Ritz theoretisch nicht weiter ausgeführt. Das künstlerische Eingreifen in das Denkmal stellt für ihn keine Verfremdung dar, da es auf einer künstlerischen Auseinandersetzung beruht. In diesem Sinne orientiert sich der Denkmalpfleger weniger an der historischen (wo diese nicht nachvollziehbar) als vielmehr an der künstlerischen Wahrheit des Objektes. Drei Jahre später positioniert sich der Nachfolger Josef Maria Ritzʼ, Heinrich Kreisel, gegen die Herangehensweise seines Vorgängers. In dem ersten Tätigkeits212 Ritz 1953, S. 1. 213 Vgl. Huber 1996, S. 65 ff. Huber sieht in dieser Konzentration auf das Wesenhafte des Denkmals eine Reaktion auf die großen substanziellen Verluste durch den zweiten Weltkrieg. In einem weiteren historischen und denkmaltheoretischen Kontext zeigt sich jedoch, dass Ritz hier lediglich schon früher formulierte Gedanken weiter ausführt. 214 Ritz 1955, S. 2. 215 Ebd., S. 3.
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bericht seiner Amtszeit betont er quasi programmatisch das „Primat des Historischen“ für die Denkmalpflege. Demnach sei es die Pflicht des Denkmalpflegers, sich „streng an die historischen Gegebenheiten [zu] halten und seine eigene künstlerische Auffassung der des früheren Meisters unter[zu]ordnen.“ 216 Dabei bleibt das historische Primat „das einzig Feste in der praktischen Denkmalpflege. Sowie seine Gegebenheiten mißachtet werden, tritt die eigenwillig künstlerische Auffassung des einzelnen in den Vordergrund und sein unbewußter Stil als Vertreter seiner Zeit.“ 217 Im Gegensatz dazu sei die Erhaltung des Denkmals die Aufgabe der Denkmalpflege oder auch die „Wiederherstellung seiner ursprünglichen Gegebenheiten, wenn es verfälscht wurde.“218 Wie Ritz betrachtet auch Kreisel das Denkmal in erster Linie als Kunstwerk. Während Ritz jedoch ein künstlerisches Weiterschaffen im Geiste des Werks für möglich hält, schließt Kreisels Herangehensweise dieses aus. Das Denkmal wird so zu einem bereits abgeschlossenen Kunstwerk, das durch spätere Hinzufügungen nur verfälscht werden kann. Kreisel scheint außerdem in seinen Ausführungen von einem stilgerechten Weiterschaffen am Kunstwerk auszugehen. Während Ritz noch von einer Offenheit auch zeitgenössischen Stilen gegenüber spricht, so lange der Künstler Geist und Harmonie des Werkes berücksichtige, stellt es für Kreisel einen Makel dar, dass der Stil des Künstlers das Werk als zeitgenössisch erkennbar werden lässt – wobei davon auszugehen ist, dass sich Kreisel hier auf Fälle bezieht, in denen versucht wurde, in einem historischen Stil nachzuschaffen. Im Grunde steht Kreisels Argumentation in der Tradition Paul Tornows, wenn er an anderer Stelle betont, dass der Unterschied der modernen Herangehensweise im Gegensatz zur romantischen in der historischen Genauigkeit läge, da nach ihr „jede Ergänzung oder Wiederherstellung die einwandfreie genaue Kenntnis des ursprünglichen Zustandes zur Voraussetzung haben muß und andererseits nie die Grenze des historische Gesicherten überschreiten darf. Wir restaurieren, wir stellen ‚wieder‘ her, aber nur das, was wirklich war, und so, wie es war.“219
Durch diese starke Konzentration auf das historisch Verifizierbare kam es unter Kreisel in der Folge auch zu keiner weiteren Einstellungen von Künstlerkonservatoren am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege. 220 Körner sieht dadurch in 216 Kreisel 1958, S. 7. 217 Ebd. 218 Ebd. 219 Ebd. S. 26. Dass dieses Pochen auf die historische Wahrheit schon in früheren Generationen nicht zum Ziel einer unumstößlichen Objektivität führte, sondern in den Ergebnissen von darauffolgenden Denkmalpflegern immer wieder in Frage gestellt wurde, verdeutlicht der Bezug auf das Beispiel Tornows. 220 Vgl. Huber 1996, S. 68.
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Kreisel einen Gegenpol zu seinem Vorgänger Ritz und durch das ‚Primat des Historischen‘ einen Schritt zur „Anerkennung der Einzigartigkeit des überlieferten Bestandes“ und damit zu den Grundsätzen der Charta von Venedig.221 Dem stellt Körner die durch Ritz vertretene gestaltende Auffassung der 50er Jahre entgegen, die nicht nur erhaltend tätig war, sondern ihre Aufgabe auch darin sah, „die Denkmäler zeitgemäß aufzubereiten“. Die sachliche Ästhetik der damaligen Restaurierungen, die auch von anderen Autoren immer wieder festgestellt wurde, erklärt Körner damit nicht durch eine quasi unbewusste, zeittypische Formensprache und Stilpräferenz, sondern durch den bewussten Versuch der zuständigen Denkmalpfleger, „die Denkmäler in einer Phase, in der man dem Erhalt des historischen Erbes überwiegend ablehnend gegenüberstand, in ihrem Bestand zu sichern“. 222 Für diesen sehr zielorientierten Einsatz einer modernen Formensprache lässt sich so jedoch kein Beleg finden. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass es in impliziter Fortführung der Stildebatte vom Beginn des Jahrhunderts als ‚ehrlicher‘ galt, unter Einbeziehung des ‚Geistes‘ eines Werks in der Formensprache der eigenen Zeit zu gestalten. Dass Kreisel bei allen Unterschieden zu seinem Vorgänger Ritz und trotz der Betonung der historischen Komponente genau wie dieser das Denkmal als Kunstwerk verstanden wissen wollte, lässt sich aus einem Vortrag schließen, den er ein Jahr vor seinem Amtsantritt an der Universität in Würzburg hielt. Scheinbar zunächst entgegen seinem später formulierten Postulat vom historischen Primat erklärt er den dort Anwesenden, dass er angesichts der historischen Tatsachen den denkmalpflegerischen Grundsatz ‚konservieren – nicht restaurieren‘ für überholt halte: „Wie sehr sich durch die Not unserer Zeit und ihre Bedürfnisse die doktrinären Auffassungen von gestern gewandelt haben, sehen wir an der veränderten Beurteilung denkmalpflegerischer Probleme, so der alten, nicht kriegszerstörten Ruinen. Vor 50 Jahren wandte sich die gelehrte Welt Deutschlands leidenschaftlich gegen den Wiederaufbau des Heidelberger Schlosses. In dem inzwischen unmerklich überdachten Ott-Heinrich-Bau fanden in den letzten Jahren aber Ausstellungen statt, die gerade auch insofern besondere Beachtung finden, als sie in dafür geschaffenen ‚Räumen‘ einer Ruine stattfanden.“223
Zerstörungen, so führt Kreisel weiter und zur Begründung aus, könne man nicht konservieren. Die Berechtigung für einen Wiederaufbau sei vorhanden, da „das architektonische Kunstwerk und Kunstdenkmal nicht das Alter des Steins […], sondern seine Gestaltung“ ausmachte, „die geistige Konzeption in Plänen, nicht in der 221 Vgl. Körner 2000, S. 54 und 58. 222 Körner 2000, S. 115. 223 Zit. nach Körner 2000, S. 51 f.
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Materie des Werkstoffs“.224 Bringt man diese Äußerungen mit dem zuvor zitierten Postulat des Historischen zusammen, so würde dieses demnach nicht nur die historische Substanz umfassen, sondern auch die dieser zugrunde liegende geistige Konzeption des Werks. Bei entsprechend guter Quellenlage zum historisch Gewollten wäre demnach eine Wiederherstellung durchaus möglich. Im Grunde macht dieses Zitat deutlich, dass auch Kreisels Primat des Historischen den jeweiligen Denkmalpfleger nicht vor einer in das Werk eingreifenden Entscheidung bewahrt. Beiden oben beschriebenen Herangehensweisen ist das Ziel gemeinsam, das Denkmal so gut wie möglich zu erhalten, sei es in seiner Substanz oder in seinem Geiste. Eingriffe, die verfälschen und dem Denkmal so seine Wahrhaftigkeit rauben, sollen stets tunlichst vermieden werden. Lediglich die Grundlage für diese Entscheidung hat sich geändert. Während die künstlerische Herangehensweise, wie sie durch Lill und Ritz vertreten wurde, von einer künstlerischen Wahrheit des Werkes ausgeht, die durch ein Weiterschaffen im Geiste nicht gestört, sondern erweitert wird, steht für Kreisel die historische Wahrheit im Vordergrund, die möglichst nicht verfälscht werden soll durch davon abweichende Eingriffe. Dass dadurch eben nicht immer der reine Substanzerhalt gemeint ist, sondern durchaus auch eine künstlerische Abwägung verschiedener Zustände, lässt sich als Gedanke auch in der Charta von Venedig finden. Dort wird zwar gefordert, dass die Beiträge aller Epochen zum Denkmal respektiert werden müssten – und hier wird sogar die alte Diskussion um die Stileinheit nochmals aufgegriffen, indem betont wird, dass diese keinesfalls Restaurierungsziel sein könne – , dennoch findet sich auch hier die Möglichkeit zur „Aufdeckung verdeckter Zustände […], wenn das zu Entfernende von geringer Bedeutung ist, wenn der aufzudeckende Bestand von hervorragendem historischem, wissenschaftlichem oder ästhetischem Wert ist und wenn sein Erhaltungszustand die Maßnahme rechtfertigt“.225 Hier wie an anderer Stelle spricht die Charta explizit von einem ästhetischen Wert („aesthetic value“) des Denkmals, der neben seinem historischen Wert besteht. Auch in der deutschen Übersetzung wird diese Formulierung nicht durch den Begriff des künstlerischen Werts ersetzt, wie er in den späteren Denkmalschutzgesetzen zu finden ist. Während der künstlerische Wert im Sinne einer wissenschaftlichen kunsthistorischen Einschätzung verstehbar ist, hat der Begriff des ästhetischen Werts das Potential, darüber hinaus zu gehen, umfasst er doch im weiteren Sinne die Erscheinung des Denkmals und seine Wir224 Ebd. 225 Charta von Venedig, 1964, Artikel 11. Dabei war den Autoren die Schwierigkeit dieser Formulierung und die Folgen daraus wohl durchaus bewusst, wenn sie gleich darauf einräumen, dass „das Urteil über den Wert der zur Diskussion stehenden Zustände und die Entscheidung darüber, was beseitigt werden kann, […] nicht allein von dem für das Projekt Verantwortlichen abhängen“ dürfe, ohne sich jedoch darüber auszulassen, wie dieser Wertfindungsprozess dann stattfinden solle.
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kung auf den Betrachter. Die Beziehung zwischen dem ästhetischen Wert und einer potentiellen Schönheit des Denkmals bleibt jedoch unklar, der Begriff der Schönheit bleibt in der Charta unerwähnt. Die Berücksichtigung des Ästhetischen neben dem Historischen greift die schon seit der Jahrhundertwende immer wieder beschworene „Doppelnatur“ des Denkmals auf.226 Dabei gewann die Vorstellung vom Denkmal als Urkunde jedoch zunehmend an Bedeutung und wurde prägend für die Diskussion der folgenden Jahre, was auch Einfluss auf die Denkmalästhetik hatte. 227 Erst im Zuge der Postmoderne und auch als Reaktion auf eine im Zusammenhang mit dem Urkundengedanken etablierte und als zu stark substanzorientiert empfundene Denkmalpflege, nahmen die Gedanken über die künstlerischen Komponenten der Denkmalpflege (nicht der Denkmale) wieder zu.228 So stellte Heinrich Magirius in Bezug auf Denkmalpflege an Kirchenbauten in einem Artikel aus dem Jahr 1979 die künstlerische Wirkung des Werks in den Vordergrund: „Die beste denkmalpflegerische Methode darf letzten Endes der Wirkung des Künstlerischen am Kunstwerk nicht im Wege stehen, sondern soll ihr dienstbar sein.“229 Damit sprach er sich auch gegen eine fragmentierende Ästhetik des Substanzerhaltes aus. Die hier implizit anklingende Kritik an einer als übertrieben empfundenen Orientierung an der baulichen Substanz zu Ungunsten einer künstlerischen Integrität des Denkmals kam seit Mitte/Ende der siebziger Jahre vermehrt auf. Bereits in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog Eine Zukunft für unsere Vergangenheit aus dem Jahr 1975 spricht sich Michael Petzet gegen einen von ihm konstatierten „Ehrlichkeitsfetischismus“ aus. Eine Rekonstruktion könne unter Umständen besser sein als ein musealer Torso, der in zeitgenössischer Sprache ergänzt wurde, so argumentiert er und führt weiter aus: „Auch die Angst vor der bloßen ‚Fassade‘, vor der ‚funktionslosen Hülle‘, die angeblich ‚unehrlich‘ ist, kann man heute ruhig über Bord werfen, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, z.B. das Ensemble eines Platzes zu erhalten.“ 230 Während Magirius die künstlerische Wirkung des einzelnen Denkmals in den Vordergrund gerückt sehen will, bezieht sich Petzet hier auf ein städtisches Ensemble dessen Erhalt bzw. Wiederherstellung (im Sinne einer Gestaltung als ‚Gesamtkunstwerk‘, s.u.) auch 226 Einen historischen Abriss dieser Debatte von Dehio bis zum ‚postmodernen‘ Denkmalpflege (Alfred Wyss) zeichnet Bernd Euler-Rolle 2010 in einem Aufsatz nach. Vgl. Euler-Rolle 2010, S. 91. 227 Dies lässt sich auch an dem am Urkundencharakter des Werkes orientierten Authentizitätsbegriff der Charta von Venedig ablesen; mehr dazu s. Kapitel 4.3.3. 228 Dies soll nicht bedeuten, dass es in der Zwischenzeit keine Denkmale gegeben hätten, die in erster Linie wegen ihres künstlerischen Wertes geschützt wurden. 229 Magirius 1979, S. 205. 230 Petzet 1975, S. 22. Diese Gedanken führt Petzet auch in der vier Jahre später unter dem Titel Echtheitsfetischismus stattfindenden Tagung weiter aus.
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rekonstruierende Maßnahmen rechtfertigt. Dabei richtet er seine Hauptkritik gegen die für ihn nicht haltbare, aber, wie gezeigt wurde, in der Architekturtheorie tief verwurzelte Argumentation der ‚Unwahrheit‘ – sei es aufgrund mangelnder Übereinstimmung von Form und Funktion oder aufgrund des Einsatzes einer als zeitlich falsch empfundenen Formensprache. Damit werden hier zwei Punkte angesprochen, die in der weiteren Diskussion an Bedeutung gewinnen sollten, nämlich zum einen die Verlagerung der Debatte um Wiederherstellungen vom einzelnen Denkmal hin zum städtebaulichen Ensemble und zum anderen eine moralische Zuspitzung der Debatte um die Begriffe ‚Ehrlichkeit‘, ‚Echtheit‘, ‚Fälschung‘ und ‚Kopie‘. Genau dieser moralischen Aufladung der Begriffe widmet sich Wolfgang Götz in seinem Beitrag zum Tag der Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz und dem Saarland 1983, der unter dem Motto Kopie, Rekonstruktion, historisierende Erneuerung stattfand. Götz beleuchtet in seinem Beitrag die Geschichte von Rekonstruktion und Kopie vor 1800. Durch seine Feststellung, dass historisch gesehen weder Kopien noch Rekonstruktionen als moralisch verwerflich betrachtet wurden, versucht er auch die zeitgenössische Debatte zu entschärfen: „Natürlich ist auch im 20. Jh. die Anwendung des Begriffes ‚Fälschung‘ auf Rekonstruktion und Kopie durch nichts sachlich zu rechtfertigen. Es ist mir kein Fall von Kopie, Rekonstruktion und Anpassung in der Denkmalpflege bekannt, der mit der Absicht der Fälschung, d.h. der bewußten Täuschung, erfolgt wäre.“231
In der Folge stellt er grundsätzlich in Frage, inwieweit Rekonstruktionen tatsächlich als falsch zu beurteilen seien: „Bis heute jedenfalls hat noch niemand, so weit ich sehe, wirklich sachlich begründet, wieso Rekonstruktion und Kopie ‚an sich fragwürdig‘ seien;“232 stattdessen plädiert er dafür, nach der (künstlerischen) Qualität der Vorgehensweise zu urteilen, da es sowohl unter Rekonstruktionen und Kopien als auch im zeitgenössischen Bauen gute und schlechte Ergebnisse gäbe: „Natürlich wird es auch unter den Rekonstruktionen und Kopien und Anpassungen ‚unschöpferische‘, ‚schwächliche‘ und ‚qualitätslose‘ Leistungen geben. Dies kann aber kein Anlaß sein, sie grundsätzlich abzulehnen. [Hervorhebung im Original] Denn es hieße ja, auch ‚zeitgemäß-modernes‘ Bauen ablehnen: Wer wollte wohl leugnen, daß es auch unter den in den letzten 40 Jahren errichteten Bauten einige ‚unschöpferische‘, ‚schwächliche‘, ‚qualitätslose‘ gibt?“233
231 Götz 1984, S. 69. 232 Ebd., S. 70. 233 Ebd.
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Während sich Götz hier und in weiten Teilen seines Artikels einer künstlerisch ausgerichteten Denkmalpflege anzunähern scheint, ändert sich dieser Eindruck im Fazit seines Textes abrupt, indem er stattdessen eine stärkere Trennung zwischen dem Denkmal- und dem Kunstbegriff fordert. Die Aufgaben der Denkmalpflege dürften nicht mit denen der Architektur verwechselt werden, das Ziel der Denkmalpflege sei der „Dienst am Bestand“ und der Erhalt der „Lesbarkeit von Geschichte“ während die Argumentationen für und wider Rekonstruktionen sich im Bereich des Ästhetischen abspielten, den er explizit nicht der Denkmalpflege zuordnet. 234 Dennoch spricht er sich verhältnismäßig inkonsequent dafür aus, rekonstruierende Maßnahmen auch als denkmalpflegerische Methode zu legitimieren: „Kopie, Rekonstruktion (und auch ‚Anpassung‘) sind nicht die einzig möglichen Methoden der Denkmalpflege. Aber sie sind seit Jahrhunderten von bedeutenden Architekten an bedeutenden Bauten mit bedeutendem Erfolg praktiziert worden. Wir sollten ihrer Verketzerung ein Ende bereiten und sie – von Fall zu Fall – wieder, nein: weiter anwenden dürfen.“235
Götzʼ Hauptmotivation liegt unter anderem in einer Entschärfung der zeitgenössischen Auseinandersetzung, wozu er den Versuch unternimmt, den Vorgang der Rekonstruktion historisch nachzuvollziehen. Dabei wird jedoch keine neue Theorie über mögliche Vorteile einer Rekonstruktion entwickelt, sondern diese wird lediglich anhand von Fallbeispielen in verschiedenen Nuancen aufgezeigt und abschließend auf einer allgemeineren Ebene gegen pauschale Kritik verteidigt. Die Frage nach dem ‚Warum‘ der Rekonstruktion stellt sich bei Götz demnach gar nicht. Dennoch orientieren sich seine Beispiele alle an der Idee des zerstörten Werks, das aufgrund der Quellenlage wieder aufgebaut werden kann – und dessen Wert sich, wie schon seine Vorgänger formulierten, nicht auf seine Substanz beschränkt, sondern auf einer künstlerischen Konzeption und Form beruht. Auch wenn sich Götz mit seiner Forderung nach Legitimation der Rekonstruktion als denkmalpflegerischer Methode nicht durchsetzen konnte (ebenso wenig wie Petzet mit seinen Forderungen, Vorstellungen einer ‚unehrlichen‘ Fassade über Bord zu werfen), so nahmen in der Folge sowohl Rekonstruktionen als auch – zwangsläufig – die denkmalpflegerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema zu. Dabei werden auch die Begrifflichkeiten des Falschen, der Fälschung, der Kopie und also der Unwahrheit weiter verwendet. Diese beziehen sich jedoch zunehmend auf die Fälschung historischer Aspekte, und weniger auf die Zerstörung einer künstlerischen Integrität des Werkes und damit einer künstlerischen Wahrheit.
234 Vgl. ebd., S. 70 f. 235 Ebd. Bei seiner Forderung nach der Trennung zwischen Kunst- und Denkmalbegriff bezieht sich Götz auf Sauerländer.
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Obwohl die starke Zunahme von Rekonstruktionen nach der politische Wende in Deutschland auch im Kontext politischer Motivationen zu betrachten ist (s. dazu auch Kapitel 4.3.4),236 so bleibt doch auch die ästhetische Komponente ein prägender Bestandteil der Diskussion. Insbesondere von Seiten der Befürworter von Rekonstruktionen wird dabei weiter mit einer Vorstellung vom Denkmal als statischem (Kunst)Werk argumentiert. Als Präzedenzfall kann dabei Dresden gelten, wo die Rekonstruktion der Frauenkirche zu einer Kettenreaktion führte, die quasi Vorbildcharakter auch für andere Fälle entfaltete. Im Jahr 2000 widmete sich die Zeitschrift Die Denkmalpflege ausführlich und in mehreren Artikeln dem Thema der geplanten Rekonstruktion des Dresdener Neumarkts. Der damalige sächsische Oberkonservator erläutert darin die Einstellung seines Amts zu den Planungen. Das sächsische Landesdenkmalamt hatte sich 1995 für „die Rekonstruktion von ‚Leitbauten‘ ausgesprochen – auf den Parzellen, wo sie vor der Zerstörung standen oder als Ruinen noch stehen und der Neu- oder Wiederaufbau in der gegebenen städtebaulichen Situation möglich ist“. 237 Als Begründung dafür nennt Hähle unter anderem auch die städtebaulich ästhetische Herausforderung, die durch den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche entstünde: „Die fertiggestellte Frauenkirche wird eine so gewaltige Herausforderung für jedwedes Bauen in ihrer Umgebung, daß so mancher erschreckt aus seinen Träumen erwachen wird. Die Qualität von Neubauten wie die von Rekonstruktionen wird im Vergleich meßbar.“238 Um zu verhindern, dass der Dresdner Neumarkt architektonisch und qualitativ auf „provinzielles Mittelmaß“ reduziert würde, spricht sich Hähle daher gegen Gestaltungssatzungen aus. Stattdessen regt er an, „Raumbilder wiederherzustellen, die nicht bewusst verändert wurden, sondern eher zufällig verloren gingen“.239 Die Frage, wer darüber urteilt, welche geschichtlichen Ereignisse als ‚bewusst‘ und welche als ‚zufällig‘ zu kategorisieren sind, wird dabei nicht weiter thematisiert.240 Ungeachtet dieser Tatsache geht es Hähle jedoch in erster Linie um die ästhetische Erscheinung des Neumarkts mit seinem historischen ‚Raumbild‘.241 236 Vgl. hierzu insbesondere Falser 2008. 237 Hähle 2000, S. 14. Den Begriff ‚Leitbauten‘ führt Hähle auf den ehemaligen Landeskonservator Hans Nadler zurück, der diesen mit dem Ziel geprägt hatte, städtebauliche Maßstäbe zu setzen, wo diese verloren gegangen waren, und zwar nicht nur in Bezug auf die Proportionen sondern auch in Bezug auf die Qualität der Bauten. Als Voraussetzung dafür nennt Hähle eine vorhandene gute Quellenlage. 238 Ebd., S. 17. 239 Ebd., S. 16. 240 Hähle geht hierbei lediglich als Beispiel auf das 1791 (‚zufällig‘) abgerissene alte Gewandhaus Dresdens ein, das sich einst auf dem Neumarkt befand. 241 Zum Thema des Bildhaften im Städtebau vgl. auch Kapitel 3.5.
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Darin stimmt er mit Stefan Hertzig überein, der als Gründungsmitglied der 1999 gegründeten Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden e.V. in derselben Ausgabe der Zeitschrift zu Wort kommt. Wie Hähle spricht sich auch Hertzig für die Wiederherstellung von Bauten aufgrund ihres „künstlerischen Erscheinungsbildes“ aus und betont dabei die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Fundierung durch Quellen: „Auf der Grundlage einer ausreichenden Dokumentation sind befähigte Architekten, Bildhauer und Kunsthandwerker in der Lage, eine sehr gute Kopie des künstlerischen Erscheinungsbildes [Hervorhebung im Original] des verlorenen Originals wieder erstehen zu lassen. Und eben diese, für das verlorene Denkmal übrigens nicht gerade unwichtige Dimension ist es, die der Nachwelt in Form einer Rekonstruktion zurückgegeben werden kann. Die materiell konkret greifbare Geschichtlichkeit ging zwar unwiederbringlich verloren, doch können auch durch das als Kopie überlieferte Erscheinungsbild geschichtliche Vorgänge und Werte eine bildhafte Vergegenwärtigung erfahren.“242
Hertzig beruft sich also explizit auf die künstlerischen Aspekte der Bauten und geht damit über die eher vagen „Raumbilder“ Hähles hinaus. Durch die Betonung einer wissenschaftlich fundierten Vorgehensweise möchte er sich gleichzeitig gegen Kritiker verwahren, die die Rekonstruktion als „überzogen, als unehrliche, neohistorische ‚Maskerade‘ oder – nach wie vor das häufigste Schlagwort – als ‚Disneyland‘“ ablehnten.243 Diese Ablehnung gegenüber Rekonstruktionen führt er so auch nicht auf den Verdacht einer prinzipiellen, der Rekonstruktion per se innewohnenden Verfälschung der Realität zurück, sondern auf schlecht ausgeführte Vorbilder, die durch ihre mangelnde Qualität die Rekonstruktion als solche in Verruf brachten. So seien insbesondere in den 80ern Rekonstruktionen „puppenstubenartig“ in die nicht mehr als befriedigend empfundenen Siedlungsstrukturen eingefügt worden. „Dieses [Hervorhebung im Original] Vorgehen und nicht die Tatsache, daß es sich um Rekonstruktionen handelte, ließ – und läßt nach wie vor – ein Gefühl von Peinlichkeit angesichts des künstlichen und unpassenden Charakters aufkommen.“ 244 Wenn jedoch, so seine These weiter, die Rekonstruktion mit dem schon Vorhandenen ein harmonisches Ganzes bilden würde, wie er es bei der Warschauer Innenstadt und auch bei dem von ihm angestrebten Projekt erfüllt sieht, könnten „Rekonstruktionen also durchaus auch im Sinne der Denkmalpflege sein, weil durch sie – ähnlich wie durch Retuschen an einem Gemälde – wichtige historische Zusammenhänge wiederhergestellt und begreifbar gemacht werden [Hervorhebungen im Original].“ 245 242 Hertzig 2000, S. 8. 243 Ebd., S. 5. 244 Ebd., S. 9 f. 245 Ebd.
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Hertzig betrachtet also das gesamte städtische Ensemble als Kunstwerk, dessen Charakter als künstlerisch Gesamtes eine Wiederherstellung für ihn rechtfertigt. Dem zugrunde liegt wiederum der oben dargelegte statische, geschlossene Werkbegriff, der nun auch auf städtische Ensembles angewendet wird. Den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit bzw. der Verfälschung bezieht er dabei nicht – wie die Rekonstruktionskritiker – auf den Akt der Rekonstruktion selbst, sondern auf die Qualität der Rekonstruktion. Während Kritiker im Vorgehen der Rekonstruktion in erster Linie eine Fälschung der Geschichte sehen und das Denkmal auch in seinem künstlerischen Wert untrennbar verbunden mit der Historizität seiner Materialität, argumentiert Hertzig mit einem als zeitlos angenommenen künstlerischen Wert und ist daher auch in Bezug auf Fälschungsfragen lediglich einer möglichst genauen Wiedergabe des Kunstwerks verpflichtet. Eine Parallele zu der frühen Stildiskussion findet sich in der zusätzlichen Legitimierung der Rekonstruktion durch das Gefühl der Unfähigkeit der eigenen Zeit, qualitativ ähnlich Hochwertiges zu schaffen.246 Eine ähnliche Entwicklung wie die um den Dresdner Neumarkt lässt sich auch im Bereich um das Potsdamer Stadtschloss nachvollziehen. Die Parallele liegt neben dem steigenden Wunsch nach Wiederherstellung eines städtebaulichen Ensembles in der steten Betonung seines hohen künstlerischen Werts, wofür im Falle Potsdams auch der Begriff des Gesamtkunstwerks bemüht wurde. Dort wurde nach der politischen (und damit auch baupolitischen) Wende das neue städtebauliche Leitbild der „Wiedergewinnung des historischen Stadtgrundrisses“ entwickelt. 247 Gleichzeitig fand ein gesellschaftlicher Prozess statt, der, gefördert durch öffentliche Akteure, sich zunehmend für eine Bebauung der Innenstadt nach historischem Vorbild aussprach.248 Saskia Hüneke, Kustodin bei der Stiftung Preußische Schlös246 Dies und die schon zuvor beschrieben Unzufriedenheit stellt denn auch laut Satzungstext eine der Hauptmotivationen für die Gesellschaft Historischer Neumarkt dar, sich für dessen Rekonstruktion wieder einzusetzen: „Angesichts vieler gesichtsloser funktionaler Neubauten im Dresdner Zentrum sehen wir die einzigartige und letzte Chance, dieser Stadt ein bürgerfreundliches architektonisches Zentrum zurückzugewinnen und der Gefahr städtebaulicher Bedeutungslosigkeit zu begegnen“ darin, den „Neumarkt in seinem historischen Bild als städtebauliche Einheit soweit wie möglich, d.h. mit seinen kunst- und kulturgeschichtlich bedeutenden Bauten wiederherzustellen.“ Zit. nach Zimmermann 2000, S. 10. 247 Vgl. Hüneke 2008, S. 90. 248 Hüneke führt als Beleg eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 1997 heran, die damals zu dem Ergebnis kam, dass sich die meisten Potsdamer anstelle des Stadtschlosses und der Garnisonskirche eine moderne Bebauung wünschten – ein Ergebnis, das unter anderem durch die Arbeit des 2006 gegründeten Vereins Mitteschön als nicht mehr aktuell gilt. Vgl. ebd., S. 91.
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ser und Gärten und für die Grünen Mitglied im Ausschuss für Stadtentwicklung und Bauen in Potsdam, versucht in einem 2008 erschienen Band über Rekonstruktionen von Stadtschlössern in Europa, diesem scheinbaren Bedürfnis eine (kunst)wissenschaftliche Basis zu geben. Auch sie tut dies, ähnlich wie bereits im Falle Dresdens zu beobachten war, indem sie das Augenmerk weg führt von der Totalrekonstruktion des jeweils einzelnen Gebäudes und hinlenkt auf ein größeres künstlerisches Ensemble, bei dem lediglich Fehlstellen ergänzt werden müssten. Den Bogen spannt sie dabei bis zu den preußischen Schlössern und Gärten und dem Schloss und Park von Sanssouci, wodurch quasi ganz Potsdam zu einem einzigen Kunstwerk mit Fehlstellen uminterpretiert wird: „Die preußischen Schlösser und Gärten sind exemplarische Gesamtkunstwerke, so dass bei Restaurierungsentscheidungen das ästhetische Zusammenwirken von Garten, Baukunst und Bildwerken […] in den jeweiligen und oft mehrschichtigen Zeitbezügen beachtet werden muss. […] Innerhalb eines Gesamtkunstwerks von so umfassendem Charakter wie dem Park Sanssouci kann ein einzelnes Kunstwerk oder sogar ein ganzes Gebäude quasi als Teilrekonstruktion aufgefasst werden […]. Nun endet dieses Gesamtkunstwerk nicht an den Parktoren der Schlösserstiftung, denn die UNESCO-geschützte Kulturlandschaft rahmt weite Teile des Stadtgebietes, so dass die Überlegungen auch auf bestimmte Orte in der Stadt Potsdam angewendet werden können. […] Diesem ‚Gesamtkunstwerk Potsdam‘ ist durch Krieg und ideologiegesteuerten Stadtumbau ausgerechnet die Mitte und in ihr das strukturell und ästhetisch prägende Potsdamer Stadtschloss abhanden gekommen.“ 249
Der Denkmalwert dieses als Kunstwerk definierten Raums liegt für Hüneke dabei ganz klar in seinen ästhetischen Eigenschaften, die in diesem Fall durch den „als harmonisch und schön erlebte[n] Gesamteindruck“ zum Ausdruck kommen, als Ergebnis von Proportionen und Maßverhältnissen zwischen dem Stadtschloss und seiner Umgebung.250 Die Ästhetik, die dieser Forderung zugrunde liegt, ist also der Wunsch nach einer auf formalen Kriterien beruhenden Harmonie im klassischen Sinne. Nicht nur Denkmal sondern auch Kunstwerk werden hier auf ihre äußere Form reduziert, die sich anhand eines Regelwerks reproduzieren lässt. Der Harmoniebegriff wird in seiner verkürzten, allein auf die äußere Form bezogenen Variante angewandt. Dadurch löst sich auch die auf dem Gedanken eines tieferen künstlerischen Gehalts beruhende Vorstellung der Verbindung von Schönheit und Wahrheit 249 Ebd., S. 93 f. Dass die Idee des Gesamtkunstwerks dabei eine Zuschreibung der modernen Kunstgeschichte an ein historisches (barockes) Kuntschaffen ist und in seiner unhistorischen Anwendung bereits ein Werturteil an sich darstellt, führt Bernd-Euler Rolle in einem Artikel zu dem Thema ausführlich aus. Vgl. Euler-Rolle 1993, insbes. S. 365 und 371. 250 Ebd.
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auf. Durch diese Reduzierung auf die Form entfernt sich die Rekonstruktion damit letzten Endes auch von der Idee eines Kunstwerks, das immer mehr beinhaltet als die reine Form. Die Vorstellung vom Denkmal als Kunstwerk hat sich somit im Laufe der Zeit gewandelt und pendelt zwischen der Wertschätzung der künstlerischen Form und eines angenommenen künstlerischen Gehalts. Während die künstlerische Form von einem einzigartigen und idealen Zustand des Werks ausgeht, der einmal verkörpert wurde und den es wieder anzustreben gilt, öffnet die Vorstellung vom künstlerischen Gehalt Möglichkeiten zur kreativen und weiterschaffenden Auseinandersetzung mit dem Werk. Eine Konstante innerhalb der denkmalpflegerischen Diskussionen über das Denkmal als Kunstwerk stellt dabei der Wunsch nach größtmöglicher Wahrheit dar – nur dass diese Wahrheit sich je nach Blickwinkel unterschiedlich manifestiert, sei es als künstlerische oder historische Wahrheit. Die damit einhergehenden ästhetischen Ideale präferieren entsprechend die Komplettierung eines als harmonisch angenommenen Ur- oder Idealzustand oder die Verdeutlichung der künstlerischen Intention bzw. des Geistes des Werks. Auch wenn in keinem der genannten Fälle die Schönheit Ziel der Intervention am Denkmal ist, knüpfen die dazugehörigen Diskussionen implizit doch immer an den klassischen Diskurs zu Schönheit und Wahrheit an. 4.3.2 Das Denkmal als Werk in der Zeit Während im vorangegangenen Kapitel ästhetische Vorstellungen und Herangehensweisen untersucht wurden, die auf einer Vorstellung des Denkmals als Kunstwerk beruhen, sollen im Folgenden ästhetische Herangehensweisen an das Denkmal untersucht werden, die auf einem anderen Verständnis des Werkbegriffs beruhen. Thomas Will führt diese Differenzierungen zwischen verschiedenen Werkbegriffen 2010 in einem Aufsatz zur Werktreue genauer aus. Dort unterscheidet er zwischen dem Begriff des Kunstwerks und dem „(Werk-)begriff des Kulturdenkmals“. Beide Vorstellungen entwickelten sich parallel zu einander, wobei der Werkbegriff des Kulturdenkmals insbesondere auf Baudenkmale anzuwenden sei und „weniger […] objekthaft abgeschlossene Werke als […] werkartig materialisierte Ergebnisse von Prozessen“ umschreibt.251 Eine Parallele zwischen beiden Werkbegriffen sieht Will in der auratischen Aufladung der Werke: „In Übertragung und zugleich Unterscheidung vom Kunstwerkbegriff könnte man formulieren: Denkmale – auch solche ohne Kunstwert – besitzen den Status von auratischen Werken, gleich Kunstwerken. Da jedoch die bleibenden Spuren der Geschichte, darunter auch performative und inszenatorische Aktualisierungsprozesse, in das Werk eingehen, entspricht jedem 251 Vgl. Will 2010, S. 102.
240 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE Denkmal einerseits eine ideale künstlerische und technische Urfassung (oder eine bewusste Abfolge solcher Urfassungen) und andererseits eine reale, historisch gewordene Fassung.“ 252
Insbesondere der auratische Effekt dieser, dem Werkbegriff des Kulturdenkmals entsprechenden Objekte, spielte und spielt in der Auseinandersetzung mit ihnen eine ausschlaggebende Rolle, was sich bis in die Anfänge der Denkmalpflege zurückverfolgen lässt. Wie bereits zuvor ausgeführt (s. Kapitel 2) sind in diesem Fall nicht der künstlerische Wert und auch nicht ein konkreter historischer Wert, die das Kulturdenkmal als wertvoll erscheinen lassen, sondern ein unbestimmtes, vages Gefühl von Zeitlichkeit, das durch das Denkmal zum Ausdruck kommt. In der denkmalpflegerischen Praxis werden dadurch auch die konkreten, in der Materialität des Objekts verhafteten Spuren dieser Zeitlichkeit erhaltens- und schützenswert.253 Dass man, um die durch die Spuren des Zeitlichen hervorgerufenen auratischen Eigenschaften des Denkmals zu erhalten, bei seiner Restaurierung besonders behutsam vorgehen – und es eben nicht in einen potenziellen Urzustand zurückversetzen müsse – war der praktischen Denkmalpflege schon früh als Herausforderung bekannt. Bereits 1853 sprach sich Ferdinand von Quast für die Erhaltung von „Unregelmäßigkeiten“ an Gebäuden aus und begründete dies neben einem möglichen historischen Zeugniswert auch mit deren ästhetischen Wert: „Sind daher Unregelmäßigkeiten vorhanden, die meist aus historischen oder Local-Ursachen entstanden und daher zur Erkenntniß (beider) so wichtig sind und dem Bauwerke besonderes Interesse verleihen, so sucht man sie zu beseitigen und Alles nach einer einzigen, oft selbst erfundenen Schablone umzuformen wodurch nur zu häufig eine langweilige moderne Regelmäßigkeit anstatt der historisch gewordenen und deshalb so anziehenden alten Abwechslung 252 Ebd., S. 103. Will geht außerdem darauf ein, dass die meisten Denkmale beide Lesarten gleichzeitig ermöglichen (Ebd., S. 104); die hier vorgenommene Trennung zwischen beidem ist demnach eine rein analytische zur Verdeutlichung verschiedener Aspekte, die sich in der Praxis in dieser Klarheit so nicht aufrechterhalten lässt. Wilfried Lipp stellt fest, dass die Hinwendung zu diesem Werkverständnis zwangsläufig in Verbindung steht mit einer Erweiterung des Denkmalbegriffs, da auf dieser Grundlage auch Werke als Denkmal aufgefasst werden können, die einer Vorstellung eines in sich geschlossenen (Kunst)werks nicht entsprechen. Lipp stellt dies im Zusammenhang von einer Entwicklung von der „Stileinheit“ zum „Stilpluralismus“ dar, wobei der von Lipp beschriebene Stilpluralismus inhaltlich mit Wills Vorstellungen vom Werkbegriff des Kulturdenkmals übereinstimmt (Vgl. Lipp 1993, S. 14). 253 Bernd Euler-Rolle setzt dies in direkten Zusammenhang mit der Vorstellung von Authentizität und historischer Verlässlichkeit, die durch die Oberfläche des Denkmals als „Sedimentationsfläche der Zeit- und Schicksalsspuren“ vermittelt wird (Vgl. EulerRolle 2013, S. 135 f).
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entsteht. Die verschiedenen Farbentöne des alten Mauerwerks, welche das Alter hervorgebracht hat, und die so malerisch sind, an denen man die Einwirkung so vieler Jahrhunderte wahrnimmt, werden durch Ueberweißeln der ganzen Fläche oder durch neuen Anstrich, entfernt und giebt man dem sonst so ehrwürdigen Gebäude das Ansehen eines geschminkten Greises. [...] Auf diese Weise sind eine große menge unserer vorzüglichsten Kirchen pp. ein Opfer der leidigen modernen Verschönerungssucht geworden […]. Es ist oft zum verzweifeln, in welcher weise überall die Wahrheit mit der Lüge vermischt worden ist.“ 254
Die durch von Quast beschriebene ‚Verschönerungssucht‘ bezieht sich also auf eine bestimmte Form von Schönheit, die die ästhetische Komponente einer als malerisch empfundenen Historizität nicht mit einschließt. Diese hingegen sieht von Quast durchaus als schützenswerte ästhetischen Aspekt des Denkmals an, neben dessen historischem Zeugniswert. Es handelt sich hier also nicht um die Ablehnung einer ästhetischen Herangehensweise an das Denkmal, sondern lediglich um die Ablehnung einer bestimmten Form der Denkmalästhetik, nämlich die der Harmonisierung der äußeren Form, die gleichzeitig einhergeht mit der Zerstörung der „Wahrheit“. In Bezug auf die Restaurierung des Lübecker Holstentors 1863 führt von Quast diese Gedanken weiter aus: „Die Herstellung wird sich […] umsomehr auf die einzelnen beschädigten Theile zu beschränken haben, als das Äussere glücklicherweise noch im ganzen mit jenem alterthümlichen Dufte übergossen ist, welchen erst die Zeit den Monumenten verleiht, welcher Schmuck durch unvorsichtige Restaurationen nur zu leicht zerstört werden kann. Aus diesem Grunde muss die Herstellung sich auch darauf beschränken, nur das wirklich Störende zu beseitigen und das in roher Weise Verderbte wieder herzustellen, dagegen kleinere Schäden und Unregelmäßigkeiten zu dulden, und so dem Monumente im Ganzen sein alterthümliches Gepräge zu wahren.“255
Das Ziel der Erhaltung des „alterthümlichen Duftes“ wird klar formuliert, die Beurteilung, welche Bauteile störend seien und entsprechend entfernt werden sollten, steht jedem zuständigen Denkmalpfelger jedoch zu, so dass auch nach diesen Grundsätzen arbeitende Denkmalpfleger sich stets dem Vorwurf der subjektiven (und ‚unwahren‘) Werturteile und der „Verschönerungssucht“ aussetzten. Eine „falsche[n] Verschönerungssucht“ ist es denn auch, die Max Dvořák in seinem Katechismus anprangert, da ihr „viele alte Denkmäler zum Opfer [fallen], und zwar sowohl in der kirchlichen als auch in der profanen Kunst.“ 256 Zwar hebt Dvořák auch die Zerstörung des künstlerischen Werts des Denkmals durch diese 254 v. Quast, Restauration von Kunstdenkmälern, 1853, zit. nach Buch 1990, S. 239. 255 Zit. nach Mörsch 2005b, S. 40. 256 Vgl. Dvořák 1918, S. 17 f.
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Verschönerungssucht hervor, gleichzeitig verliert es aber auch seinen spezifischen Charakter und die emotionale Wirkung auf den Betrachter: „Ein alter gotischer Altar büßt zwei Drittel seines künstlerischen Wertes ein, wenn man die Statuen, die ihn schmücken, überarbeitet und in bunten Farben neu polychromiert, da eine solche radikale Herstellung von dem individuellen Charakter, den jedes echte alte Kunstwerk hat und durch den es sich von Nachahmungen unterscheidet, fast nichts übrig läßt. Vernichtet man aber diesen ursprünglichen Charakter, vernichtet man in den meisten Fällen auch jede andere Wirkung, die ein unberührtes Denkmal auf den Beschauer ausübt.“257
Diese „andere Wirkung“ auf den Betrachter existiert für Dvořák losgelöst vom künstlerischen Wert des Denkmals und zusätzlich zu diesem. Als Alterswert bildet sie Riegl folgend eine zusätzliche Wertkategorie, die es zu berücksichtigen gilt, neben dem künstlerischen und historischen Wert. Sie drückt sich aus durch „die Poesie, die Stimmung, de[n] malerische[n] Reiz“258 des Denkmals. Konsequenterweise spricht sich Dvořák auch dagegen aus, Denkmale so zu restaurieren, „dass sie funkelnagelneu“ aussähen – also mit neu verputzen und gestrichenen Wänden und neuer Eindeckung des Dachs.259 In welcher Form eine die Poesie erhaltende Restaurierung vonstatten gehen sollte, führt Dvořak jedoch nicht weiter aus. In der Übertragung der Vorstellung vom Denkmal als Werk mit einer zeitlichen Dimension auf die Restaurierungspraxis liegt schließlich die spezifische Problematik. Wenn man von einer besonderen ‚Aura‘ des Werks ausgeht, die sich ästhetisch vermittelt und durch Eingriffe von außen zerstörbar ist, diese Eingriffe jedoch aus technischen Gründen unvermeidbar sind, wie kann man dann trotzdem auch diese wichtige Komponente im praktischen Umgang mit den Denkmalen berücksichtigen? 4.3.2.1 Die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Die umfangreichste Auseinandersetzung mit diesem Thema lieferte ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts Cesare Brandi. In seiner Teoria del restauro, die 1963 erstmalig erschien, setzt er sich vor allem auf einer philosophischen Ebene mit spezifischen Problematiken der Restaurierung auseinander. 260 Mit einem Schwerpunkt 257 Ebd., S. 31 f. 258 Ebd. 259 Ebd., Als Beispiel führt er hier „eine altersgraue Kirche“ an, wobei sich aus dem Kontext schließen lässt, dass es sich hier scheinbar um ein Gebäude handelt, dessen Wert in erster Linie durch jene „Poesie“ begründet wird. Inwiefern Dvořák diese Herangehensweise auf alle Denkmale übertragen möchte, wird von ihm nicht genauer ausgeführt. 260 Seit ihrem Erscheinen 1963 wurde Brandis Theoria in Italien als Lehrbuch an Hochschulen und zur Ausbildung von Restauratoren eingesetzt. Außerdem flossen ihre
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auf der Restaurierung von Gemälden entwickelt er praktische Lösungsansätze (z. B. Techniken zur Retusche von Fehlstellen), versucht aber gleichzeitig, eine wissenschaftliche Grundlage für Restaurierungsentscheidungen zu erarbeiten. Ziel Brandis war es „ein definiertes Restaurierungskonzept zu erstellen, welches im Prinzip für alle künftigen Restaurierungen von Kunstwerken gültig ist, unabhängig vom Zeitgeschmack des Restaurators als auch von Gattung und Epoche, aus der das Kunstwerk hervorgeht“.261 Als Restaurierung bezeichnet Brandi so auch keinen im weitesten Sinne handwerklichen Vorgang, sondern „das methodische Moment des Erkennens eines Kunstwerkes [...], in seiner materiellen Beschaffenheit und in seiner ästhetischen und historischen Bipolarität, in Hinsicht auf seine Vermittlung an die Zukunft.“ [Hervorhebung im Original]262 Brandi möchte in seinem Umgang mit dem Werk sowohl die historischen als auch die ästhetischen Momente berücksichtigen. Da ihm die Problematik der Vereinbarkeit beider Aspekte durchaus bewusst ist, betont er die Wichtigkeit der kritischen Auseinandersetzung als grundlegend für jede Restaurierung. Paul Philippot, der Brandis Schriften ins Französische übersetzte, bezeichnet die Restaurierung daher in Anknüpfung an Brandis Theorie weniger als praktische, denn als kritische Tätigkeit, da vor der praktischen Arbeit zunächst der geistige Vorgang der Identifikation der zu bewahrenden Werte stattfinden müsse.263 Aufgrund dieser Fokussierung auf eine kritisch-theoretische AuseinandersetGrundsätze 1971 direkt in die Carta del restauro ein. (vgl. Schädler-Saub 2006, S. 32.) Auch die Differenzierung in ästhetische und historische Werte in der Charta von Venedig lässt evtl. auf einen indirekten Einfluss Brandis schließen. Dass hier explizit von ästhetischen und nicht von künstlerischen Werten die Rede ist, öffnet das Feld theoretisch auch für Ästhetiken, die jenseits eines kanonisierten künstlerischen Werts liegen, wie beispielsweise der Alterswert (s.o). Leitet man diese Begrifflichkeiten jedoch von Brandi her und seinem eng an das Künstlerische gebundenen Begriff des Ästhetischen, nähert sich der formulierte ästhetische Wert dem deutschen künstlerischen Wert an. In Deutschland gewann Brandis Theorie durch ihre späte Übersetzung 2006 nur indirekt an Einfluss. 261 Janis 2005, S. 25. Janis weist darauf hin, dass Brandi damit gleichzeitig Kritik an der bis dahin verbreiteten Restaurierungspraxis übt (vgl. ebd., S. 24). 262 Brandi 2006, S. 44. Die Hervorhebung dieses Vermittlungsaspekts bringt Brandi dazu, in der Restaurierung auch eine Form der angewandten Kunstkritik zu sehen, die er mit der Aufstellung von Werken in Museen oder anderen Formen der Präsentation vergleicht, was er in seinem 1945 erschienen Werk Carmine o della Pittura ausführt (vgl. Schädler-Saub 2006, S. 22). 263 Im Fehlen dieser kritischen Auseinandersetzung sieht er denn auch die größte Gefahr für die Authentizität des Denkmals (vgl. Philippot 1989, nach Janis 2005, S. 9). Den Glauben an die Möglichkeit, einen originalen Zustand wieder herstellen zu können, bezeichnet Philippot als Illusion, da der „originale Zustand […] eine mythische, unhistori-
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zung mit dem Objekt plädiert Paolo DʼAngelo dafür, die Theorie Brandis in erster Linie als philosophische Schrift zu verstehen, die die Restaurierung als Teil einer fundierten Ästhetik begreift.264 Die Vorstellung Brandis von der Kunst als eigenständiger Quelle der Erkenntnis neben der Wissenschaft sieht er dabei in der philosophischen Tradition Kants.265 Wie DʼAngelo hebt auch Katrin Janis außerdem die Bedeutung von Benedetto Croces Estetica für Brandis Theorie hervor, insbesondere in Bezug auf seine Differenzierung zwischen Kunstwerken und NichtKunstwerken.266 Bei der Restaurierung von nicht-künstlerischen Objekten gehe es nach Brandi in erster Linie um die Wiederherstellung ihrer Funktionalität, wohingegen die Funktionalität bei Werken der angewandten Kunst, wozu Brandi auch architektonische Werke zählt, die Funktionalität nur von sekundärer Bedeutung sei. 267 In seiner Theorie widmet sich Brandi in erster Linie der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk, das er besonders unter zwei Aspekten analysiert, einmal in Bezug auf den Zusammenhang von Werk und Materie und zum anderen in Bezug auf seine Historizität. Eine Klammer stellt für Brandi dabei die Betrachtung und kritische Auseinandersetzung mit dem Werk dar. Der erste und grundlegende Schritt einer jeden Restaurierung liege daher auch im Erkennen des Kunstwerks als Werk, wobei er in diesem Prozess des Erkennens und der damit verbundenen ästhetischen Erfahrung gleichzeitig ein Weiterschaffen am Werk sieht: „Solange dieses […] Erkennen nicht erfolgt, ist das Kunstwerk also nur potenziell ein Kunstwerk. Man kann sagen, es existiert nur, weil es materiell besteht, d.h., weil es […] ein Stück Pergament, Marmor oder Leinwand ist. [Hervorhebungen im Original]“268 Erst diese Materialität ermöglicht es dem Kunstwerk, Gestalt anzunehmen. Daraus leitet sich für Brandi beim Umgang mit dem Kunstwerk eine Vorrangstellung seiner materiellen Substanz ab, da „das Bild [das Brandi als Beispielobjekt wählt, S. H.] durch die Materie Gestalt annimmt und diese Materie die Vermittlung des Bildes an die Zukunft sichert und damit seine Wahrnehmung durch das menschliche Bewusstsein.“ 269 Die Aufgabe der Materie sieht Brandi damit in ihrer „Vermittlerrolle“, die in der Weische Vorstellung [sei], die dazu geeignet ist, Kunstwerke einer abstrakten Konzeption zu opfern […]“. (Philippot 1976, zit. nach Janis 2005, S. 139 f.) 264 Vgl. DʼAngelo 2006, S. 17. 265 Vgl. ebd., S. 18. 266 Janis sieht in der Trennung Brandis zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Restaurierungsobjekten eine Anknüpfung an Croces Trennung zwischen dem künstlerisch Gelungenen (Poesia) und dem Nicht-Künstlerischen (Non-Poesia) (vgl. Janis 2005, S. 25). 267 Vgl. Brandi 2006, S. 43. 268 Ebd., S. 44. 269 Ebd.
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tergabe einer bildnerischen Idee an das betrachtende Subjekt besteht.270 Dabei bleibt sie als vermittelndes Element dem Künstlerischen jedoch untergeordnet: „Die Materie wird also gegenüber dem Bild niemals den Vortritt haben, vielmehr muss sie als Materie verschwinden und nur das Bild zur Geltung bringen.“ 271 Obwohl der Materie also beim Umgang mit dem Werk die erste Priorität eingeräumt werden muss, bleibt sie dennoch untergeordnet, da das eigentliche Interesse in der Erhaltung des Werks liegt, das jedoch abhängig von der Materie ist. Entsprechend betont Brandi auch, dass es keine Polarität zwischen Materie und Werk geben kann, da beides eine untrennbare Einheit bilde: „Es gibt nicht die Materie auf der einen und das Bild auf der anderen Seite.“272 Diese angenommene Einheit von Bild und Materie spiegelt einen Teilaspekt von Brandis Postulat der Einheit des Werkes wider, das grundlegend für seine gesamte Theorie ist. Die Restaurierung soll „der Wiederherstellung der potenziellen Einheit des Kunstwerkes dienen, wenn dies, ohne eine artistische oder historische Fälschung zu begehen möglich ist, und ohne jegliche Spur vom Gang des Kunstwerkes durch die Zeit zu verleugnen.“273 Innerhalb dieser Einheit weist das Werk zwei verschiedene Instanzen auf, die Brandi als „ästhetische[n] und historische[n] Bipolarität“ bezeichnete (s.o.) und deren Komponenten er wie folgt beschreibt: „Als Produkt menschlicher Tätigkeit weist das Kunstwerk […] eine zweifache Instanz auf: einmal die ästhetische Instanz, die auf rein Künstlerischem beruht, was das Werk zum Kunstwerk macht; dann die historische Instanz, die zu einem Kunstwerk als Produkt menschlicher Tätigkeit gehört, weil es zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entstanden ist und sich momentan in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort befindet.“274 270 Unter diesem Vermittlungsaspekt möchte Brandi auch weitere „physische Mittel“ berücksichtigt wissen, die „der Vermittlung des Kunstwerkes“ dienen, wozu er auch „Atmosphäre“ und örtliche Lichtverhältnisse zählt. Daraus leitet er auch die Forderung ab, Kunstwerke möglichst nicht von ihrem Standort zu entfernen (vgl. ebd., S. 49 f.). 271 Ebd., S. 80. 272 Ebd., S. 45. 273 Zit. nach Janis 2005, S. 26. 274 Brandi 2006, S. 44. Karin Janis führt aus, dass es in der Rezeption von Brandis Schriften in der Folge zu einem ‚Prinzipienkonflikt‘ kam, der sich um die Frage dreht, welche der beiden Instanzen als wichtiger anzusehen sei, bzw. von Brandi angesehen wurde. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass Brandi selbst in diesem Zusammenhang zwar die Möglichkeit von konfliktuierenden Zielstellungen aufgrund unterschiedlicher Gewichtung der Instanzen bei der Restaurierung erwähnt, diese jedoch nicht in einem prinzipiellen Konflikt zueinander sieht. Vielmehr liegt sein Fokus auf der prinzipiellen Einheit und Harmonie des Werkes, die Schädler-Saub in diesem Zusammenhang auch als
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Beide Instanzen werden bei der Betrachtung des Werkes ästhetisch wahrgenommen. Dabei ist es wichtig, zu Gunsten der Wahrhaftigkeit des Objektes zeitliche Spuren zu erhalten bzw. neue Ergänzungen kenntlich zu machen. Dies darf jedoch nicht die Einheit des Werks zerstören.275 Insbesondere die Patina solle erhalten werden, „da sie Zeugnis von dem Weg ablege[n], den das Kunstwerk durch die Zeit gegangen ist“.276 Auch wenn Brandi in seiner Theorie nicht vom auratischen Wert der zeitlichen Dimension des Werks spricht, so lassen sich in dieser Formulierung vom Gang durch die Zeit doch Aspekte des Gedankens wiederfinden, da es sich hier nicht um konkrete, bestimmten historischen Gegebenheiten zuzuordnende Zeugnisse handelt, sondern um Spuren, die den Verlauf der Zeit verbildlichen. Die Fundierung des Vorgangs der Restaurierung im Ästhetischen (was die historische Komponente mit umschließt), geht für Brandi einher mit der Notwendigkeit einer theoretischen Auseinandersetzung „um der Herrschaft von Geschmack und subjektiver Meinung den Boden zu entziehen“.277 Die Problematik liegt damit nicht in der ästhetischen Bewertung des Objekts, sondern in einem Mangel an einer reflektierten, kritischen Auseinandersetzung mit dem Werk. Die Erkenntnis der Bipolarität eines jeden Werks und die damit verbundene Abwägbarkeit verschiedener Werte gegeneinander stellen für ihn den ersten Schritt der Annäherung an das zu restaurierende Objekt dar: „Wenn ich mich nun frage, ob die Erhaltung oder die Abnahme von Hinzufügungen und Wiederherstellungen rechtmäßig sei, so habe ich damit ganz klar schon ein Hindernis überwunden, das diejenigen aufstellen, welche die Rechtmäßigkeit der Konservierung einzig und allein im historischen Zeugniswert begründet sehen. Aber wenn dem so wäre, dann müsste man die barbarische Beschädigung eines Vandalen genauso bedingungslos akzeptieren wie eine Hinzufügung künstlerischer und nicht restauratorischer Art, die ein Kunstwerk im Lauf der Jahrhunderte erfahren hat. Dabei lässt sich nicht ausschließen, dass sowohl die Beschädigung als auch die Hinzufügung Respekt verdienen können. Weil sich das Kunstwerk jedoch im Spannungsfeld von Geschichtlichkeit und künstlerischer Aussage präsentiert, kann man die Konservierung bzw. die Abnahme von Hinzufügungen und Wiederherstellungen weder auf Kosten der Ästhetik noch ohne Kenntnis der Geschichte durchführen.“ 278
Die Gewichtung, welche der beiden von Brandi identifizierten Instanzen des Historischen und des Ästhetischen bei der Behandlung des Werks der Vorzug zu geben Harmonie zwischen den verschiedenen Instanzen interpretiert (vgl. Schädler-Saub 1986 und Janis 2005, S. 26). 275 Vgl. Brandi 2006, S. 56. 276 Ebd., S. 64. 277 Ebd. 278 Ebd., S. 71.
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sei, lässt sich so nur im Einzelfall und für das jeweilige Werk entscheiden. Dabei bleibt es für Brandi erste Priorität, die Einheitlichkeit des Werkes zu erhalten, was er anhand des Umgangs mit späteren Hinzufügungen zu erläutern versucht. Auch wenn diese Hinzufügung als Zeugnis menschlicher Tätigkeit ein Geschichtszeugnis darstelle, so spricht er sich doch für deren Abnahme zu Gunsten des Werks aus – es sei denn, das Werk habe durch diese Hinzufügung zu einer neuen Einheit gefunden, was zunehmend der Fall sein kann, „je mehr diese Überformung der künstlerischen Sphäre angehört“. Dieser künstlerische Aspekt führt gleichzeitig aber auch zu einer Erhöhung seines historischen Werts, denn, so führt Brandi den Satz weiter, „je mehr diese Überformung der künstlerischen Sphäre angehört, desto mehr wird sie Gegenstand der Geschichte sein und Zeugnis von ihr ablegen.“ 279 Der wahllose Erhalt aller historischen Hinzufügungen handle hingegen nicht nur der ästhetischen Instanz zuwider, sondern verleihe „dem ganzen Werk einen Eindruck von fehlender Authentizität und Falschheit.“280 Obwohl die beiden Instanzen des Historischen und des Ästhetischen von Brandi analytisch getrennt werden, befinden sie sich doch in einer Wechselbeziehung zueinander, da sie beide zusammen erst die Einheit des Werks bilden. Dieses Werk bezeichnet Brandi an anderer Stelle als „lebenden Organismus“, was wiederum die zeitliche Komponente hervorhebt, auch wenn er in dieser Passage seiner Theorie sich verstärkt der ästhetischen Instanz widmet: „Weil das Wesen eines Kunstwerkes daran zu erkennen ist, dass es ein Kunstwerk ist und erst in zweiter Instanz ein geschichtliches Faktum, ist es klar, dass eine Hinzufügung entfernt werden muss, wenn sie das Werk verunstaltet, beeinträchtigt und verunklärt bzw. wenn ein Teil des Werkes für den Betrachter nicht zu sehen ist. Man wird sich dann allerdings darum kümmern müssen, diese abgenommene Hinzufügung soweit wie möglich zu konservieren, zu dokumentieren und die Erinnerung an diese historische Phase zu bewahren, die aus dem lebenden Organismus des Kunstwerkes herausgenommen und damit zerstört wurde.“ 281
Brandi kommt schließlich zu dem Schluss, dass die jeweilige Restaurierungsentscheidung auf einem Werturteil beruhe, das entweder die historische oder die ästhetische Dimension als wertvoller betrachtet. Obwohl er mit seiner Metapher des Werks als lebenden Organismus an denkmalpflegerische Gedanken der Jahrhundertwende anschließt, die sich aufgrund dieser Feststellung für die weitestmögliche Konservierung des vorgefundenen Zustands aussprachen (wie beispielsweise Dvořák), ist es Brandi durch die Vorstellung von analytischen und begründbaren Werturteilen möglich, diesen als zwar vorhanden aber nicht zwingend als grundlegend für den Umgang mit dem Werk zu betrachten. Das Urteil über die Verunstalt279 Ebd., S. 73. 280 Ebd. 281 Ebd., S. 79.
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ung oder Beeinträchtigung eines Werks beruht für Brandi dabei nicht auf subjektiven Geschmacksurteilen, sondern lässt sich aus dem Verständnis des jeweiligen Werks ableiten.282 In diesem Sinne kann auch die Entscheidung, welcher Instanz bei der Restaurierung eines Kunstwerks der Vorrang gegeben werden sollte nicht „von oben diktier[en]t [werden], sie muss vielmehr von der Instanz empfohlen werden, die im jeweiligen Fall mehr Gewicht hat.“ [Hervorhebung im Original] 283 Ebenso wie Cesare Brandi ging auch Umberto Baldini in seiner fünfzehn Jahre später erschienen Teoria del restauro e unità di metodologia von der wissenschaftlichen Begründbarkeit restauratorischer Urteile aus. Dazu sei es notwendig, bei einer Restaurierung alle verfügbaren Informationen zu einem Objekt kritisch zu würdigen. Diese kritische Würdigung aller Aspekte stellt Baldini dem Vorgehen einer scheinbar neutralen ‚archäologischen Restaurierung‘ gegenüber, die nach seiner Ansicht durch die erzeugte Ästhetik des Fragments eine eigene Interpretation darstellt, die die eigentliche Aussage des Werks verfälschen kann. 284 Auch Baldini beschäftigt sich in seiner Theorie hauptsächlich mit der Restaurierung von Kunstwerken, wobei auch er deren zeitliche Komponente hervorhebt. Für ihn bedeutet Restaurierung, dass man die „gewachsene, Jahrhunderte überdauernde, historische Realität des Kunstwerkes, die gleichzusetzen ist mit der Lebensdauer desselben, und das Wesen des vorhandenen Werkes ausmacht“ respektiere. 285 Stärker noch als Brandi betont Baldini damit den Gedanken des Organischen und Wesenhaften des Werks, was sich auch in seiner Kategorisierung der möglichen Zustände des Kunstwerks ausdrückt. Dort unterschiedet er zwischen der Zerstörung des Werks durch negative Umwelteinflüsse (Brand, Erdbeben) oder mangelhafte, falsche Restaurierung (Thánatos/Tod), dem lebendigen Werk (Bíos) und der aktiven Sorge um das Werk (Èros). Entsprechend dieser biologistischen Herangehensweise unterscheidet Baldini in seiner Theorie auch zwischen natürlicher Alterung des Objekts und Eingriffen durch Menschenhand.286 Es stellt dies einen Versuch dar, das Auratische des zeitlichen Werks, das sich in der Vorstellung seines Lebensprozesses widerspiegelt, zu erhalten und gleichzeitig eine Grundlage für einen begründeten Eingriff in das Vorhandene anzubieten. Ziel der Restaurierung ist für Baldini dabei, „das Kunstwerk in seiner schönsten Erscheinungsform der Nachwelt zu überliefern, 282 Auch hier findet sich der seit dem Historismus herrschende Glaube wieder, dass größtmögliches Wissen auf künstlerischem Gebiet eine Form der ästhetischen Objektivität mit sich bringen würde – ein Glaube, der stets von der folgenden Generation widerlegt bzw. anders wahrgenommen wurde. Auch hier werden Geschmacksurteile also nur von den jeweils anderen gefällt. 283 Ebd., S. 78. 284 Vgl. Janis 2005, S. 29 und 33. 285 Zit. nach ebd., S. 30. 286 Vgl. ebd.
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einen ‚éros‘-Zustand zu bewahren“.287 Auch er hebt allerdings hervor, dass der Restaurator dabei „weder vom Geschmack noch von persönlichen Beweggründen geleitet“ sein dürfe, sondern dass die Restaurierung vielmehr auf philosophischen Überlegungen und einer Analyse des Werkes basieren müsse. 288 Beiden Autoren legten in ihren Schriften sowohl die hohe Priorität der ästhetischen Komponente der Werke dar, als auch deren untrennbare Verbindung mit einer historischen Dimension. Die sich darin widerspiegelnde Einheit des Werks gilt es zu erhalten. Die historische Wahrhaftigkeit stellt dabei einen Teilaspekt dar, ihre einseitige Beachtung führt aber unter Umständen zu einer Verminderung der künstlerischen Wahrhaftigkeit (bzw. „Authentizität“, s.o.). Die theoretische Einheit beider Dimensionen – der ästhetischen und der historischen – im Objekt ist jedoch nur schwer auf die Praxis zu übertragen, sondern äußert sich dort meist in einer Abwägung zwischen beidem.289 4.3.3 Das Denkmal als Urkunde Die Gegenüberstellung von ästhetischen und historischen Werten hat – ungeachtet der oben behandelten ästhetischen Komponenten des Historischen und der historischen Komponenten des Ästhetischen – eine lange Tradition innerhalb der Denkmalpflege. Im Folgenden wird aus analytischen Gründen zwischen der oben geschilderten Geschichtlichkeit des Denkmals, die sich in erster Linie ästhetisch (bzw. durch die Aura des Werks) vermittelt und einem historischen Zeugniswert, der zur Erkenntnis bestimmter, konkreter Aspekte vergangener Zeiten beitragen soll. Während die Geschichtlichkeit des Denkmals im weitesten Sinne einen Teil seiner Ästhetik darstellt und durch diese vermittelt wird, wird das Verhältnis zwischen künstlerischem und zeugnishaftem Wert in den denkmalpflegerischen Diskussionen eher als einander gegenübergestellt betrachtet. Dabei ist der Zeugniswert der Denkmale seit der Entwicklung des Schutzgedankens eine der Hauptmotivationen zum Erhalt historischer Bauten. Bereits 1813 wandte sich die Akademie der Bildenden Künste in Bayern an König Max I., um
287 Zit. nach ebd., S. 30. Baldinis Theorie wurde 1981 von Gabriele Kristin Rahmen einer Seminararbeit ins Deutsche übersetzt jedoch nicht veröffentlicht. Das Zitat hat Janis dieser Übersetzung entnommen. 288 Vgl. ebd. 289 Schädler-Saub weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in Deutschland die historische Komponente meist in den Vordergrund gestellt würde und künstlerische Belange häufig zugunsten einer ‚reinen‘ Konservierung vernachlässigt. Das ließe jedoch außer Acht, dass auch ‚reine‘ Konservierungen (z.B. festigen oder reinigen) ästhetische Auswirkungen hätten (vgl. Schädler-Saub 2006, S. 34 f).
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gegen die Entfernung der bemalten gotischen Fenster der Kirche St. Sebald in Nürnberg zu protestieren. Dort wird hervorgehoben, dass man zwar „über den Werth der gothischen Architektur hier keyne Meinung äußern [möchte], aber wenn ein herrschender Geschmack sich ganz unerträglich für unsere Zeit fände, so müßte er ihre Werke wenigstens als geschichtliche Monumente geltenlassen und dafür sorgen, daß auch künftigen Zeitaltern noch ein Urteil über sie möglich bleibe, welches aber nur dann der Fall ist, wenn sie in der Integrität ihrer Zusammensetzung, wie sie von den Alten auf uns gekommen sind, auch wieder dieser überliefert werden.“290
August Reichensperger argumentierte 1845 gegen die zeitgenössische Restaurierungspraxis der Purifizierung mit dem Vorwurf der Geschichtsfälschung: „Dieser Kampf gegen die Wahrheit und die Geschichte ist nicht bloss unnatürlich und widersinnig, er wird auch für das nur einiger Maßen geübte Auge niemals das bezweckte Resultat herbeiführen. Im Gegentheil wird der Widerstreit zwischen dem Alten und dem Neuen nur um so verletzender hervortreten, je mehr das Bemühen sichtbar ist, denselben zu beseitigen und zu vertuschen.“291
Die Zerstörung der historischen Wahrheit zerstört gleichzeitig auch die harmonische Wirkung des Denkmals, hat also auch ästhetische Konsequenzen. Die größten „Mißgriffe“292 würden so geschehen, weil die Leute versuchten, das Alte wie neu aussehen zu lassen. Das Zeugnishafte stellt damit gleichzeitig auch die Grundlage für ein ästhetisch befriedigendes Denkmalerleben dar, da ein historisch unwahres Denkmal durch diesen Verstoß gegen die Wahrheit auch einer auf Wahrhaftigkeit basierenden Ästhetik zuwider läuft. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen aber auch Neuerungen aus der zeitgenössischen Geschichtsforschung an Einfluss auf die Denkmalpflege. 1863 schrieb Johann Gustav Droysen mit seiner Historik die erste grundlegende Methodenlehre der Geschichtswissenschaften, in der er insbesondere den Stellen290 Zit. nach Dürr 2001, S. 55 ff. Sybille Dürr weist darauf hin, dass es sich hier um ein frühes Beispiel von historischer Wertschätzung handelt, das den Erhalt eines Objekts aufgrund seiner historischen Zeugnishaftigkeit fordert. Dennoch zeigt sich bei einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Schreiben der Akademie, dass diese durchaus auch ästhetisch argumentiert, indem sie hervorhebt, dass durch die Purifizierungen der „harmonische Gesamteindruck jener Werke althertümlicher Baukunst“ verloren ginge und im Sinne der Integrität des Kunstwerks sich für einen Erhalt des gotischen Zustands als dem geringeren Übel ausspricht. 291 Reichensperger 1996, S. 96. 292 Ebd.
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wert der historischen Quellen hervorhebt. Dabei unterschiedet er zwischen „Überresten“ als noch erhaltenes historisches Material (wobei hierunter nicht nur „Werke menschlicher Formgebung“ zählen, sondern auch „Zustände sittlicher Gemeinsamkeiten“ wie Gesetze und staatliche Ordnungen) und Quellen als das, was aus der Vergangenheit „in die Vorstellungen der Menschen übergegangen und zum Zweck der Erinnerung überliefert ist“.293 In den Denkmälern sieht Droysen „eine Verbindung beider Formen“ und führt dies genauer aus: „Ueberreste, bei deren Hervorbringung zu andern Zwecken die Absicht der Erinnerung mitwirkte, sind Denkmäler. So die Urkunden, die den Abschluss eines Geschäftes für die Zukunft bezeugen. Dann Kunstwerke aller Art, Inschriften, Medaillen, in gewissem Sinn die Münzen u.s.w. Endlich jede monumentale Bezeichnung bis zum Grenzstein, bis zu den Titeln, Wappen und Namen herab.“294
Diese Definition des Denkmals orientiert sich stark an dessen früherer Bedeutung als memoriales Objekt, was sich auch in den angeführten Beispielen widerspiegelt. Gleichzeitig setzt Droysen das Denkmal aber auch in Bezug zur historischen Urkunde, indem er diese der Kategorie des Denkmals zuordnet und bei beiden die intendierte Erinnerungsfunktion hervorhebt. Damit überträgt sich auch der wissenschaftliche Anspruch im Umgang mit der Urkunde auf das Denkmal.295 Auch Jacob Burckhardt (der zeitweise in Berlin, unter anderem auch bei Droysen, studiert hatte), betont in seiner Vorlesung Über das Studium der Geschichte, die er in verschiedenen Varianten regelmäßig zwischen 1868 und 1873 an der Universität Basel hielt, die grundsätzliche Quellenfähigkeit jeglicher historischer Überreste, wozu er explizit auch Denkmäler zählt. Daraus erwachse für den Historiker die Schwierigkeit, dass, „sobald es sich aber um die Nachweisung der Wandelungen des Geistes in den verschiedenen Gebieten handelt, […] schlechtweg die ganze Literatur und Denkmälerwelt zur Quelle [wird] und dem zur Darstellung verpflichteten Historiker erwüchse die furchtbare Aufgabe: Alles zu studiren; […].“296 293 Droysen 1868, S. 14. 294 Ebd. 295 Vgl. Scheurmann 2013b, S. 230. 296 Burckhardt 1982, S. 251. Burckhardts Aufzeichnungen wurden erstmals 1905 posthum von seinem Neffen Jacob Oeri veröffentlicht. In der von Peter Ganz 1982 herausgegebenen Ausgabe von Burckhardts Schriften gingen auch von Oeri nicht publizierte Teile der Vorlesung mit ein um die über die Jahre vorgenommenen Modifikationen Burckhardts nachvollziehbar macht. Bei dem hier verwendeten Zitat handelt es sich um eine frühere Version des 1905 erschienenen Textes.
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Ähnlich wie Droysen hebt Burckhardt außerdem die besondere Bedeutung des „Baulich-Monumentale[n]“ für die Geschichtsschreibung in Bezug auf ihre gewollte Memorialfunktion hervor. Insbesondere durch große Repräsentationsbauten „spricht der Charakter ganzer Nationen, Kulturen und Zeiten aus ihrem Gesamtbauwesen als der äußeren Hülle ihres Daseins“.297 Auch hier lässt sich wieder beobachten, dass das Denkmal zwar als Quelle gesehen wird, dass sich damit aber eine ganz bestimmte zeitgenössische Vorstellung vom Denkmal verbindet. Bei Burckhardt handelt es sich dabei in erster Linie um Bauten der ‚Hochkultur‘, auf die Zeugnisfähigkeit nicht monumentaler Bauten geht er nicht ein, da entsprechende Fragestellungen auch nicht im Fokus seiner Geschichtsschreibung liegen. Die frühe Kunstgeschichte orientierte sich methodisch an der Geschichtsschreibung, die Objekte der Kunstgeschichte bekamen in diesem Zusammenhang den Status historischer Quellen und wurden entsprechend analysiert. Im Rahmen dieser Entwicklung wurden wie bereits in Kapitel 2.2.1 dargestellt, ältere Methoden des Erkenntnisgewinns abgelöst durch das moderne Quellenstudium. Insbesondere die Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte hatten während ihrer Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichte ein quellenkundliches Studium genossen.298 Rudolf von Eitelberger, seit 1864 erster Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wien, hob bereits 1872 auf dem 1. Internationalen Kongress für Kunstgeschichte in Wien den Quellenwert des Originals im Zusammenhang mit der Restaurierung von Gemälden hervor.299 Dabei spielte vor allem die Objektivität der Quellen eine Rolle bei ihrer Wertschätzung, insbesondere, da man sich der Subjektivität ihrer Interpretation bewusst war. So hielt Ernst Bernheim in seinem Lehrbuch der Historischen Methode aus dem Jahr 1889 fest: „Die Tradition stellt […] die Vorgänge, von denen sie uns Zeugnis gibt, in der Auffassung eines menschlichen Geistes, eines Subjektes dar und ist mancherlei dadurch bedingten Trübungen ausgesetzt. Die Tradition hat daher im Gegensatz zu den Überresten, welche uns die Spuren, die Objekte des Geschehens selbst darbieten, einen subjektiven Charakter [Hervorhebung im Original].“300
Im Zuge einer gewollten Verwissenschaftlichung der Denkmalpflege um 1900 nahm die Bedeutung von Objektivität, der sich die Geschichtswissenschaften durch ein kritisches Quellenstudium annähern wollten, zu. Der Umgang mit den Objekten wurde so angenähert an den Umgang mit historischen Quellen, das Denkmal rückte 297 Vgl. Burckhardt 1905, S. 79. 298 Vgl. Euler-Rolle 2013, S. 136. 299 Vgl. ebd. 300 Bernheim 1894, S. 368. In seiner Terminologie scheint sich Bernheim dabei an Droysen orientiert zu haben.
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in die Nähe der historischen Urkunde.301 In diesem Zusammenhang entstand aber auch ein Konflikt der Professionen bzw. ihrer Blickwinkel, die bis zu diesem Zeitpunkt Akteure im Bereich der Denkmalpflege waren, nämlich zwischen Architekten und (Kunst-)Historikern. Am prägnantesten äußert sich dieser wohl in einem geradezu vernichtenden Urteil Georg Dehios über die professionelle Tauglichkeit von Architekten als Denkmalpfleger: „Der Architekt ist seiner Natur nach Künstler. Er braucht zu seiner Tätigkeit verschiedenartiges gelehrtes Wissen, aber nach der ganzen Richtung seines Denkens und Fühlens ist er nicht Gelehrter [Hervorhebung im Original], sondern das Gegenteil davon. Sein erster und letzter Wunsch ist, zu bauen, seine eigenen Gedanken schaffend auszudrücken. Dazu aber gibt ihm die Denkmalpflege nicht die geringste Gelegenheit, soll sie nicht geben, grundsätzlich nicht. Das Verhältnis des richtigen Architekten zu den Denkmälern alter Kunst ist ein lediglich ästhetisches; es speist ihm seine Phantasie; sie sind ihm in letzter Linie nur Mittel. […] Architektur ist Kunst und Denkmalpflege gehört nach allen Voraussetzungen und Zielen zur Wissenschaft.“302
Dehio trennt also klar zwischen einem wissenschaftlichen und einem ästhetischen Verhältnis zu den Denkmalen, wobei er die Denkmalpflege der Wissenschaft verpflichtet sieht. Darauf basiert schließlich auch Dehios professionelle Herangehensweise an die Denkmale, die er in der Folge entwickelt und in der die „historische Pietät“ den Denkmalen gegenüber im Vordergrund steht.303 Obwohl er sich der ästhetischen Aspekte des Denkmals und deren Rolle beim Denkmalerhalt durchaus bewusst ist gibt Dehio einer stärker historisch ausgerichteten Arbeit den Vorzug, da er sich von ihr einen höheren Erkenntnisgewinn auf der Basis einer größeren wissenschaftlichen Objektivität verspricht.304 Damit knüpft Dehio direkt an die Gedanken Droysens und Burckhardts zum Umgang mit historischen Quellen an, deren Interpretationen sich zwar verändern, die aber selbst unverändert bleiben. Wenn man die von Dehio festgestellten Vorteile einer historisch orientierten Denkmalpflege bedenkt, ist es nicht erstaunlich, wenn er mit hörbarer Erleichterung feststellt, dass die Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts durch ihre Ausrichtung am Historischen eine unumkehrbare positive Entwicklung vollzogen habe: 301 Als Beispiele dafür nennt Ingrid Scheurmann Paul Clemens „steinerne Urkunde“ oder Georg Hagers „Urkunden der Kunst und Kultur“. Gleichzeitig merkt sie an, dass Clemen diesen Urkundenbegriff nur auf die ‚monuments morts‘ anwendet (vgl. Scheurmann 2013b, S. 230). 302 Dehio 1903/04, S. 38. 303 Vgl. Dehio 1914, S. 253. Diese Pietät verbietet es beispielsweise, „den Raub der Zeit durch Trugbilder ersetzen zu wollen.“ 304 S. dazu auch Kapitel 2.2.2.2.
254 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Nach langen Erfahrungen und schweren Mißgriffen ist die Denkmalpflege nun zu dem Grundsatze gelangt, den sie nie mehr verlassen kann: erhalten und nur erhalten! ergänzen erst dann, wenn die Erhaltung materiell unmöglich geworden ist; Untergegangenes wiederherstellen nur unter bestimmten, beschränkten Bedingungen.“ 305
Dass diese wohlwollende Perspektive auf die Arbeit der Denkmalpflege im ausgehenden 19. Jahrhundert so nur teilweise zu halten ist, stellt Jan Friedrich Hanselmann in seiner Arbeit zu diesem Zeitabschnitt der Denkmalpflege ausführlich dar, wo er insbesondere in Bezug auf die Praxis die Weiterführung einer historistischen (d.h. ästhetisch motivierten und nicht rein konservierenden) Vorgehensweise feststellt.306 Auch Hanselmann bemerkt in diesem Zusammenhang dass Dehio bei seiner Kritik an Rekonstruktionen durchaus ästhetisch argumentierte und weist dies auch für Oechelhäuser nach, der sich 1909 der Meinung Dehios anschloss: „Die Frage, ob ein Denkmal schön oder häßlich ist, kommt für den Begriff der Denkmalpflege zunächst gar nicht in Betracht“. 307 In diesem Zusammenhang sollte man jedoch bedenken, dass beide Autoren den Begriff ‚schön‘ nicht gleichbedeutend mit einer künstlerischen Bewertung des Werks verwendeten, die beim Umgang mit dem Kunstwerk unumgänglich bleibt. Wenn Dehio darlegt, dass „an der realen Existenz des Kunstwerkes auch noch andere als ästhetische Kräfte mitarbeiten“ 308, so negiert er damit nicht die Ästhetik des Werks, sondern relativiert sie lediglich im Verhältnis zu einem parallel existierenden historischen Wert. Dem ‚Schönen‘ hingegen wird in der Tradition der stets kritisierten ‚Verschönerungen‘ implizit eine Ober305 Dehio 1914, S. 525. 306 Vgl. Hanselmann 1996, S. 364 f. Diese verfolgt Hanselmann bis zur Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Dass diese Form der Praxis auch danach noch eine Rolle spielte, hängt mit einem anderen Denkmalverständnis zusammen, was bereits im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde. Gleichzeitig merkt er an, dass die Devise „Konservieren, nicht restaurieren“ schon Jahrzehnte vor Dehio „Ideal denkmalpflegerischen Handelns“ war (ebd., S. 353). Volker Osteneck weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass schon 1882 der Architekt (!) Hermann Grotefend den Ausspruch „Conservieren, nicht Restaurieren“ als Forderung auf der Generalversammlung des Gesammtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Kassel aussprach (vgl. Osteneck 2005, S. 110). 307 Oechelhaeuser 1909, S. 19. Dasselbe gilt auch für Clemen, wobei Hanselmann darstellt, dass die ästhetischen Erwartungen an das Denkmal variierten. Während Clemen dafür plädierte, dass sich neuere Zutaten dem Alten unterordnen sollten zugunsten eines harmonischen Gesamteindrucks, war Oechelhaeuser der Meinung, dass man das Neue „getrost vor oder neben das Alte stellen“ dürfe (ebd. S. 32.; vgl. auch Hanselmann 1996, S. 359). 308 Dehio 1914d, S. 68.
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flächlichkeit vorgeworfen, die dem Umgang mit dem Denkmal nicht gerecht werde. Die ‚Schönheit‘ des Denkmals wird zur Gegenspielerin der historischen Wahrheit und so auch aus dem Bereich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Denkmal verdrängt in den Bereich der populären Denkmalwahrnehmung. Dieses ambivalente Verhältnis zur Ästhetik des Denkmals bleibt zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bestehen. Auch Max Dvořák betont in seinem Katechismus der Denkmalpflege den Wert des Echten und Ursprünglichen, also der historischen Wahrheit des Denkmals, und stellt ihn dem Streben nach oberflächlicher Schönheit gegenüber: „Man kann noch so überzeugt sein, daß dort oder da ursprünglich eine Säule, ein Pfeiler, ein Maßwerk sich befunden habe, die neue Säule, der neue Pfeiler, das neue Maßwerk wird in dem alten Baue doch stets als ein fremdes Element erscheinen, weil die Ursprünglichkeit fehlt, die sich, wie bei einer Handschrift, in jeder Linie zeigt und die auch der gelehrtesten Rekonstruktion nicht verliehen werden kann. Man opfert das Echte Ursprüngliche, was spätere Zeiten geschaffen haben, ohne etwas anderes dafür zu erhalten als eine mehr oder weniger plumpe Nachahmung, die, wie jeder Antiquitätenhändler weiß, wertlos ist und die in Verbindung mit alten Kunstwerken in jedem künstlerisch fühlenden Menschen den Eindruck eines unerlaubten Schwindels und einer unerträglichen und abstoßenden Profanation hervorruft.“309
Den direkten Vergleich mit der historischen Handschrift nimmt Dvořák später noch einmal auf, indem er unsachgemäß restaurierte Denkmäler mit gefälschten Urkunden vergleicht.310 Bei möglichen Teilrekonstruktionen handelt es sich für Dvořák ungeachtet ihrer künstlerischen Qualität damit zwangsläufig um Fälschungen. Diese sind jedoch nicht nur ‚unwahr‘ in Bezug auf ihre historische Aussage, sie sind gleichzeitig auch ästhetisch unbefriedigend, da der Betrachter (zumindest der „künstlerisch fühlende“) diese mangelnde Wahrhaftigkeit des Denkmals auch ästhetisch nachempfindet. Die ‚Fälschung‘ zerstört somit auch den ästhetischen Wert des Denkmals, ein Gedanke, in dem sich die alte Verbindung von Schönheit und Wahrheit widerspiegelt. Auch Cornelius Gurlitt, der einem künstlerischen Zugang – und Umgang – mit dem Denkmal durchaus offen gegenüberstand, kritisierte die Restaurierungspraktiken des 19. Jahrhunderts als Geschichtsfälscherei. Dabei richtet er sich jedoch nicht gegen den generellen Eingriff in die Urkunde Denkmal, sondern dagegen, dass dabei die Grenze zwischen Altem und Neuem verwischt würde. 311 Auch er bemüht zur Untermauerung seiner Argumente einen direkten Vergleich mit der Geschichtsschreibung: 309 Dvořák 1918, S. 29 f. 310 Vgl. ebd., S. 31. 311 Vgl. Hellbrügge 2002, S. 2.
256 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „In der Wissenschaft wird der verhöhnt, der nach den Grundsätzen des Restaurators Geschichte schreibt [er vergleicht das mit historischen Romanen, S.H.]; derjenige aber, der sich an den historischen Urkunden in einer Weise vergreift, dass er die Grenze zwischen dem Alten und seiner Ergänzung nicht deutlich erkennbar macht, wird seit einigen Jahrhunderten thatsächlich als Fälscher bezeichnet und verachtet, gleichviel ob er damit eine selbstsüchtige, rechtswidrige Absicht verbindet oder nicht; denn er verschleiert das was das höchste Ziel aller Wissenschaft ist und sein soll: die klare Erkenntnis der Wahrheit!“312
Die Wahrheit hat für Gurlitt die höchste Priorität und diese strebt er sowohl auf künstlerischem als auch auf historischem Gebiet an. Ein Verlust an Wahrheit führt nicht nur zu einer Geschichtsfälschung, sie macht auch die Einfühlung unmöglich da „das Wesen der Vergangenheit“ nicht mehr auf den Betrachter wirke. 313 So wird durch eine falsche Form der Restaurierung auch der direkte ästhetische und emotionale Zugang zum Denkmal zerstört. Nachdem in der Zwischenkriegszeit die künstlerischen und symbolischen Komponenten des Denkmals an Bedeutung gewannen, spielten die in Bezug auf den Urkundencharakter des Denkmals diskutierten Argumente von Echtheit und Wahrheit nach dem zweiten Weltkrieg eine dominante Rolle. Dies lag bestimmt im Wunsch nach einer möglichst neutralen Geschichtsschreibung begründet (im Gegensatz zu der Inszenierung von Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus), deckte sich aber gleichzeitig auch mit ästhetischen Idealen dieser Zeit, weswegen auch im Umgang mit den Denkmalen das scheinbar Unverfälschte und Fragmentarische an Popularität gewann.314 Michael Petzet sieht 1979 in der Entwicklung der Architektur seit dem Neuen Bauen einen Grund für eine zunehmende Polarisierung zwischen künstlerischer Herangehensweise und historischer: „Gleichzeitig mit der hier nur angedeuteten Entwicklung dessen, was man heute als ‚klassische Denkmalpflege‘ bezeichnen könnte, wirft das Neue Bauen allen historischen Ballast ab: Also die selbst vom einfachsten Ornament ‚gereinigte‘ neue Form als ‚echter‘ Ausdruck der jeweiligen modernen Funktion gegenüber der konservierten alten Form als ‚echtes‘ Dokument der Geschichte. Unter diesen Umständen können ‚reine‘ Architektur und ‚reine‘ Denkmalpflege einander eigentlich nur noch im Kontrast gegenüberstehen, schon aus Gründen der ‚Ehrlichkeit‘ und ‚Materialgerechtigkeit‘ […]“.315
312 Gurlitt 1904, S. 10. 313 Ebd., S. 15. 314 Vgl. Euler-Rolle 2013, S. 144. 315 Petzet in Schmid und Waetzoldt 1979, S. 38.
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In der Konzentration auf die Vorstellung dessen, was echt ist, sieht Petzet also einen Konflikt erwachsen, der Architektur und Denkmalpflege einander weiter entfremdet. Dabei betont Petzet in Tradition Dehios den „Geschichtswert“ des Denkmals als seine tragfähigste Grundlage, da die künstlerische Bewertung stets an die Vorstellungen der Gegenwart gebunden sei. Die wissenschaftliche Denkmalpflege versuche dagegen, „die Vergangenheit nicht in der einen oder anderen Weise [zu] manipulieren, sondern für die Zukunft unverfälscht [zu] bewahren“, weswegen sie „immer von den ‚historischen Fakten‘ auszugehen“ habe.316 Gleichzeitig sieht er jedoch auch eine Gefahr für die Denkmalpflege darin, sich „ausschließlich auf wissenschaftliche Gesichtspunkte“ zurückzuziehen, da auch diese sich wandeln und zu einer Isolierung der Denkmalpflege führen könnten. Hierin folgt er den Gedanken Dvořáks, der zwar die Rolle des Denkmals als Urkunde betont, die Qualitäten des Denkmals aber auch in seiner ästhetischen Ansprache sieht und diese daher ebenso als schutz- und diskussionswürdig betrachtet. Der Wert des Denkmals ist wiederum eng an seine Wahrhaftigkeit gekoppelt, die hier ausschließlich auf dem historischen Gebiet angesiedelt wird. Das Denkmal als Urkunde und Geschichtsdokument geht damit nicht von einer künstlerischen Wahrheit des Werkes aus, zu deren Gunsten Eingriffe in das Denkmal möglich wären ohne dessen Wahrhaftigkeit zu zerstören (s. vorheriges Kapitel). Gleichzeitig zerstört der Mangel an historischer Wahrheit aber, wie gezeigt wurde, auch den ästhetischen Wert des Denkmals. Dieser spielt damit jedoch nur noch eine sekundäre Rolle. Sein Fehlen bzw. seine Zerstörung durch historisch verfälschende Eingriffe wird zwar kritisiert, es bildet jedoch selbst nicht den Ausgangspunkt für die Denkmalbetrachtung. Im selben Band, in dem auch Petzets oben zitierter Text zu finden ist, diskutiert Saskia Durian-Ress die Auswirkungen einer zu einseitigen Ausrichtung auf historische Komponenten des Denkmals. Dabei kommt sie – ähnlich wie Brandi, jedoch ohne sich direkt auf ihn zu beziehen – zu dem Schluss, dass eine zu einseitige Darstellung historischer Aspekte bzw. eine einseitige Visualisierung des Zeugnischarakters sich unter Umständen negativ auf andere Komponenten auswirken könne: „Bei einer bedingungslosen Freilegung aller historischen Schichtenfragmente aber kann der Vorwurf nur allzu berechtigt sein, daß um einer musealen Bereitstellung wissenschaftlicher ‚Präparate‘ willen ein manchmal schwerwiegender Verlust an formaler und inhaltlicher Geschlossenheit in Kauf genommen wird.“317
316 Petzet 1975, S. 21. 317 Durian-Ress 1975, S. 116.
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Obwohl in der Folge die Vorreiterstellung der geschichtlichen und damit zeugnishaften Aspekte des Denkmals nie in Frage gestellt wird,318 werden doch immer wieder die ästhetischen Auswirkungen auf das Denkmal diskutiert, die diese Herangehensweise mit sich bringt, wofür das oben aufgeführte Zitat von Saskia DurianRess als beispielhaft anzusehen ist. Einen weiteren Aspekt dieser Diskussionen stellt eine wahrgenommene oder befürchteten Entfernung der wissenschaftlichen Denkmalpflege von gesellschaftlichen Wünschen dar, denen, so die These, größtenteils eine andere Denkmalästhetik zugrunde läge, was zu Gunsten einer direkten Ansprache der Bevölkerung berücksichtigt werden müsse. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit sich der auf der Vorstellung vom Quellenwert der Urkunde basierende theoretische Anspruch des unverfälschten Erhalts überhaupt in der Praxis verwirklichen lässt. In einem Aufsatz analysiert Andrzej Tomaszewski 1984 diese komplexe Problemstellung unter dem Titel Denkmalpflege zwischen „Ästhetik“ und Authentizität. Dort geht er von verschiedenen ästhetischen Leitbildern aus, die dem Umgang mit dem Denkmal zugrunde lägen. Als Quellen dieser Leitbilder nennt er unter anderem die Archäologie und das Museums- und Ausstellungswesen.319 Die verschiedenen ästhetischen Praxen werden von Tomaszewski unterschiedlich bewertet. So hält er beispielsweise die „archäologische Ästhetik“ mit ihrem Ziel des Aufzeigens von Brüchen und Zeitschichten für akzeptabel, „wo sie der Erhaltung und dem Aufzeigen neuer Werte eines Denkmals dient“.320 Sie wird in seinen Augen jedoch dort unannehmbar, „wo sie zum Bau von Pseudo-Denkmälern oder zur Schaffung aggressiver Präparate führt“.321 Der Einfluss der „Museums- und ExpositionsÄsthetik“ drückt sich nach Meinung Tomaszewskis in einer zunehmenden Fokussierung auf die Präsentation des Denkmals aus: „Das Denkmal ist zu einem Exponat geworden, das den Gesetzen des Ausstellungswesens unterliegt.“ 322 Diese Präsenta318 Georg Mörsch spricht in diesem Zusammenhang 1980 von einem „Grundrecht[s] auf Geschichte“, das durch die Denkmalpflege vertreten würde (Mörsch 1980, S. 127), und bezeichnet 1981 die „Geschichtlichkeit“ des Denkmals daher als unverzichtbare Dimension des zeitgenössischen Denkmalbegriffs (Mörsch 1981, S. 99). 319 Als weitere Quellen nennt er die moderne Architektur und das Theater bzw. den Film. In Bezug auf die ästhetischen Einflüsse der Architektur hebt er die Schwierigkeiten einer auf Kontrasten basierenden Ästhetik für das Denkmal hervor (vgl. Tomaszewski 1984, S. 234). Unter den Einflüssen von Film und Theater geht er lediglich auf die Beleuchtung historischer Bauten ein, wo er eine Parallele zu Lichtinszenierungen aus dem Filmischen sieht (vgl. ebd., S. 236). 320 Ebd., S. 231. 321 Ebd. Die Problematik wie und von wem die Beurteilung stattfinden kann und sollte, wann diese Grenze überschritten wird, bleibt jedoch offen. 322 Ebd., S. 232.
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tionsästhetik wirke sich nicht nur auf das Denkmal aus, sondern auch auf den Umgang mit seiner direkten Umgebung, worin Tomaszewski eines der Hauptprobleme sieht: „Es wurden zwar auf diesem Wege viele neue expressive Werte der Denkmäler sichtbar gemacht, dafür haben sie ihre natürlichen Daseinsbedingungen und ihre Umgebung eingebüßt. Ein Bauwerk ist immer mit seiner Umgebung eng verbunden. In einer künstlichen Umgebung kann es an Attraktivität gewinnen, es verliert aber seine Authentizität.“323
Dieser Verlust von Authentizität geht für Tomaszewski mit jeder der von ihm vorgestellten Denkmalästhetiken einher. Gleichzeitig sieht er die Denkmalpflege in dem Dilemma, dass gerade die Hervorhebung der ästhetischen Aspekte des Denkmals für breite Bereiche der Bevölkerung einen Zugang zum Denkmal darstellen könne: „Einerseits kam durch sie [die verschiedenen ästhetischen Praxen, S. H.] viel neue und unerwartete Schönheit der Denkmäler zum Vorschein, von der die Gesellschaft fasziniert wurde, andererseits aber ist die Substanz der Denkmäler und ihre Authentizität im großen Maßstab verloren gegangen. Die künstlichen Präparate werden als echte angeboten und die Gesellschaft irregeführt.“324
Stellt die Schönheit der Denkmäler also durchaus ein Potenzial dar, so liegt die Problematik doch wieder in der damit verbundenen mangelnden historischen Wahrhaftigkeit. Wieder werden (oberflächliche) Schönheit und historische Wahrheit (in diesem Fall als Authentizität) einander gegenüber gestellt. Gleichzeitig möchte Tomaszewski das Potenzial der Schönheit für das Interesse der Bevölkerung am Denkmal erhalten: „Besonders wichtig ist es, die Elemente zu entwickeln, die unsere Kenntnis und Liebe zum historischen architektonischen Erbe vertiefen. Sie sollten uns die Denkmäler in ihrer neuentdeckten Schönheit zeigen, ihre Substanz dabei jedoch nicht beeinträchtigen, sie nicht verfälschen und sie ihrer natürlichen Umgebung und der Patina der Jahrhunderte nicht berauben.“325
Diese Formulierung stellt jedoch eher ein Ideal der Denkmalpflege als einen konkreten Lösungsvorschlag dar. Dies zeigt sich auch in den folgenden Ratschlägen für die denkmalpflegerische Praxis, die sich im Grunde auf einen noch bewussteren 323 Ebd., S. 233 f. 324 Ebd., S. 238. 325 Ebd.
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und vorsichtigeren Umgang mit der Substanz beschränken. 326 Falls es eine ‚Schönheit‘ des Denkmals gibt, so scheint diese deckungsgleich mit dessen Substanz und Authentizität zu sein und in dieser aufzugehen – oder sie verschwindet in Bezug auf die praktische Anwendung doch wieder in einem vagen und unausgesprochenen Subtext. In einem Rückzug auf die Forderung des reinen Substanzerhaltes sah auch Norbert Huse die Lösung der wahrgenommenen Probleme der Denkmalpflege hinsichtlich der Auseinandersetzung (bzw. mangelnde Auseinandersetzung) mit ästhetischen Denkmaleigenschaften. Mitte der 80er Jahre kritisierte er die von ihm konstatierte Konzentration einiger Denkmalpfleger auf ästhetische Aspekte und forderte eine Rückbesinnung auf die historischen Werte des Denkmals: „Ohne es recht zu bemerken, waren [in Folge des Denkmaljahres 1975, S. H.] viele Denkmalpfleger auf dem Wege, hinter die schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gewonnene fundamentale Einsicht zurückzufallen, daß nicht Ästhetik Denkmaleigenschaften dauerhaft begründen kann, sondern allein die Geschichte, und daß diese Werte unabdingbar an den realen materiellen Bestand des je einzelnen Denkmals gebunden sind.“ 327
Diese Argumentation geht wie die Tomaszewskis davon aus, dass, wenn es ästhetische Aspekte am Denkmal gibt, diese doch auch wieder an die Substanz gebunden sind. Da neue ästhetische Eigenschaften nicht angestrebt werden, beinhaltet der unbedingte Schutz der vorhandenen Substanz automatisch auch den der damit verbundenen ästhetischen Eigenschaften. Die Diskussion um ästhetische Aspekte bekam nach der Wende 1989 im Zuge der darauf folgenden Rekonstruktionsdebatten neuen Auftrieb. In diesem Kontext sah sich die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger auf ihrem Jahrestreffen 1991 in Potsdam „zu einer Stellungnahme herausgefordert“, in der sie abermals den grundlegenden Wert der Geschichtlichkeit des Denkmals hervorhob. Dem Wunsch nach dem Wiederaufbau historischer Gebäude wird der Zeugnischarakter von Denkmalen entgegengehalten: „Die Bedeutung der Baudenkmale als Zeugnisse großer Leistungen der Vergangenheit liegt nicht allein in den künstlerischen Ideen, die diese verkörperten, sondern wesentlich in ihrer zeitbedingten materiellen baulichen und künstlerischen Gestalt mit allen Schicksalsspuren.
326 Vgl. ebd., S. 239. Ergänzt werden soll dieser durch eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit. 327 Huse 1986, S. 53.
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Die überlieferte materielle Gestalt ist als Geschichtszeugnis unwiederholbar wie die Geschichte selbst.“328
Die Betonung der Geschichtlichkeit des Denkmals war somit eine direkte Reaktion auf die wahrgenommene Vernachlässigung dieser Komponente. Die Denkmalpflege selbst verstand sich als Akteur in einer Ästhetisierungsdebatte, die auch als gesellschaftliches Problem betrachtet wurde (vgl. dazu Kapitel 4.4) und versuchte in diesem Zusammenhang sich auf ihre Kernkompetenz des Erhalts des Historischen zu konzentrieren. Da man sich der damit verbundenen Schwierigkeiten in der Praxis durchaus bewusst war, wurde das Spannungsverhältnis zwischen ästhetischen (und damit auch substanziellen) Veränderungen und dem Erhalt der Substanz immer wieder diskutiert. In den 90er Jahren setzte sich Achim Hubel in mehreren Aufsätzen damit auseinander. Auch das Auseinanderdriften von theoretischem Anspruch und denkmalpflegerischer Praxis wurde hier immer wieder zum Thema. So in einem Aufsatz zu Restaurierung und Rekonstruktion aus dem Jahr 1993, in dem er in Bezug auf die Praxis feststellt, dass sich „immer noch viel zu viele Restaurierungsmaßnahmen ziemlich unschlüssig zwischen der Forderung nach Geschichte und Authentizität einerseits, sowie nach glanzvoller Erneuerung andererseits durch[manövrieren]“. 329 Diesen Gedanken nimmt Hubel auch später wieder auf. In einem 1997 erschienen Aufsatz widmet er sich abermals und mit verschärfter Kritik dem Thema der Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Dort weist er für die Denkmalpflege eine gewisse Tradition des Auseinanderdriftens von theoretischem Anspruch und praktischer Ausführung nach: „Ein Blick in die Geschichte der Denkmalpflege zeigt […], daß – entgegen vielen offiziellen Beteuerungen – für die denkmalpflegerische Praxis schon längst und immer wieder ganz andere Vorgehensweisen [als die des reinen Erhalts, S. H.] gewählt worden sind.“330 Und auch in der aktuellen Denkmalpflege, so stellt Hubel fest, fand man bei „der Mehrzahl der herausragenden Baudenkmale, die in den letzten beiden Jahrzehnten restauriert worden sind, […] letztlich doch immer Gründe, um eine mehr oder weniger durchgreifende Erneuerung zu rechtfertigen und auszuführen.“331 Als Grund dafür vermutet Hubel unter anderem auch „ein ästhetisches Unbehagen über den vorgefundenen Zustand des Baudenkmals“.332 Da man gleichzeitig oft nicht dazu bereit sei, restauratorische Maßnahmen 328 Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland 1991, http://www.dnk.de/_uploads/media/206_1991_VdL_Rekonstruktion.pdf, Zugriff 22.05. 2014. 329 Hubel 2005a, S. 249. 330 Hubel 2005c, S. 259. 331 Ebd., S. 262. 332 Ebd., S. 263.
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der 30er oder 50er Jahre als „damals ernsthaft vertretenen künstlerischen Anspruch“ und damit als eigene Zeitschicht des Denkmals ernstzunehmen, käme es auch heute noch zu Rückführungen auf einen ‚originalen‘ Zustand des Denkmals. 333 Nicht ohne Sinn für die Ironie der Geschichte stellt Hubel dazu fest: „Die übernächste Denkmalpflegergeneration wird dann um 2050 möglicherweise wieder feststellen, daß das Konzept der 1990er Jahre doch nur eine pseudobarocke Neufassung gebracht habe und daß man – mit nochmal verbesserten Befunden und einem Höchstmaß an Restauratoren-Technologie – endgültig die wahrhaft ‚echte‘ Originalfassung des 18. Jahrhunderts herstellen könne.“334
Durch dieses Verhalten in der Praxis mache die Denkmalpflege selbst ihre theoretische Grundlage (nämlich den Gedanken des Erhalts) unglaubwürdig, was wiederum zu einem Teufelskreis führe: „Solange man die Denkmalpflege weiterhin als eine vorrangig ästhetische Aufgabe betrachtet, wird man auch der Verlockung erliegen, das Denkmal zu verschönern, zu verbessern, ja ‚schöpferisch‘ einzugreifen.“335 Stattdessen plädiert Hubel für ein Verständnis des Denkmals als historisches Dokument und fordert deswegen auch eine an den Umgang mit Urkunden angepasste Behandlung: „Wenn man in Denkmälern Dokumente vergangener Epochen sieht, dann müssen sie auch wie Dokumente, wie Urkunden behandelt werden. Der Wert jeder Urkunde hängt jedoch an ihrer Originalität, an ihrer möglichst unveränderten Erhaltung, jetzt und für die Zukunft.“336 Dabei schließt die Betrachtung des Denkmals als Urkunde für Hubel auch künstlerische und wirkungsästhetische Aspekte mit ein, da es sich bei ihnen auch um historisch gewollte oder zumindest gewachsene Teilaspekte des Denkmals handelt: „Der Wert eines Denkmals mißt sich an der Informationsdichte im weitesten Sinn, die der originalen Substanz abgelesen werden kann. Dazu gehören der Raumeindruck, die künstlerische Bewältigung der vom Bauherrn gestellten Aufgaben, die Erscheinungsform der Umgebung, das Baumaterial, die Bautechnik, die Bauabfolge, mögliche Planänderungen und Umgestaltungen während des Baus wie in späteren Zeiten, die Restaurierungsgeschichte, Farbig-
333 Vgl. ebd. Als Beispiel dafür nennt Hubel die Stiftskirche Unserer Lieben Frau zur Alten Kapelle in Regensburg. Diese wurde 1886/87, 1936/38 und 1992 restauriert, wobei die letzten beiden Restaurierungen beide die Rückführung auf den Originalzustand zum Ziel hatten. 334 Ebd., S. 264. 335 Hubel 2005a, S. 255. 336 Hubel 2005d, S. 297.
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keit und Raumdekor, die Ausstattung, die ursprüngliche Funktion, spätere Nutzungsänderungen usw.“337
Diese Definition Hubels war und ist sicherlich in weiten Kreisen der Denkmalpflege konsensfähig. Auf praktischer Ebene scheint das Zusammendenken ästhetischer und historischer Aspekte des Denkmals eine stete Herausforderung zu bleiben. An Stelle eines integrativen Verständnisses vom Denkmal werden Substanzerhalt und ästhetische Qualitäten des Denkmals nach wie vor einander gegenübergestellt. So spricht sich Michael Petzet 1995 in einem Aufsatz unter dem Schlagwort des „neuen Denkmalkultus am Ende des 20. Jahrhunderts“ gegen eine einseitige Konzentration auf die Substanz der Denkmale aus. Die Fokussierung auf den urkundlichen Charakter der Denkmale betrachtet er dabei als wichtige und notwendige historische Entwicklung, plädiert aber für die zeitgenössische denkmalpflegerische Praxis für einen „‚postmodernen‘ Pluralismus aller verantwortbaren Möglichkeiten“. 338 Ein „auf ‚historische Substanz‘ fixierter Denkmalkultus“ ist für Petzet demnach nicht mehr ausreichend.339 Stattdessen plädiert er dafür, sich die von ihm wie auch zuvor von Hubel wahrgenommene unterschwellige Ästhetik denkmalpflegerischer Entscheidungen bewusst zu machen. Diese findet er trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten unter Umständen legitim, wenn sie zum Erhalt der „Botschaft“ des Denkmals beitragen: „Schließlich wird man auch die Möglichkeit nicht ausschließen können, daß hinter manchen denkmalpflegerischen Entscheidungen, zum Beispiel hinter der Gretchenfrage, ob ich nun konserviere oder ob ich auch restauriere, vielleicht sogar zurückrestauriere und damit das Denkmal in einen früheren Zustand versetze, zumindest unbewußt auch ästhetische Überlegungen stehen, etwa die – im übrigen immer noch höchst moderne – Ästhetik des reinen Alterswerts. Das gilt gerade auch für die Versuche, ein im Sinn älterer ästhetischer Vorstellungen verunstaltetes Denkmal wieder zu ‚befreien‘ und in einen mehr oder weniger ‚originalen‘ Zustand zurückzuversetzen, ein Wechselspiel, bei dem zwar immer wieder ‚Substanz‘ verloren zu gehen droht, das aber bei einem Denkmal, das gewissermaßen ‚im Leben steht‘, das weiterhin seine ‚Botschaft‘ vermitteln soll, ganz abgesehen von den Fragen neuer Nutzungen, oft gar nicht zu vermeiden ist.“340
Während es bei Hubel die Substanz des Denkmals ist, die nicht nur Träger seiner Bedeutung sondern auch seiner Ästhetik ist, geht Petzet von einer Bedeutung des 337 Hubel 2005a, S. 251 f. 338 Vgl. Petzet 1995, S. 544. Dazu gehören für Petzet sowohl Dehios Postulat vom reinen Konservieren als auch Viollet-le-Ducs vielzitiertes Statement zur Restaurierung. 339 Vgl. ebd., S. 544. 340 Ebd., S. 545.
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Denkmals aus, die sich unabhängig von seiner Substanz vermittelt bzw. vermitteln lässt. Im Gegenteil sei es möglich, dass diese Bedeutung bei einer reinen Konzentration auf die Substanz nicht mehr lesbar sei, was den Wert des Denkmals mindern würde. Petzet geht hier von einem gänzlich anderen Denkmalverständnis aus, dass das Denkmal in erster Linie eben nicht als Urkunde begreift, sondern als Bedeutungsträger und auf das im folgenden Kapitel noch genauer eingegangen wird. Einig sind sich jedoch beide Autoren in der Feststellung der Verbreitung ästhetischer Urteile und Herangehensweisen in der denkmalpflegerischen Praxis. Dieser Gedanke, dass jeder Umgang mit dem Denkmal auch eine ästhetische Dimension beinhaltet, wurde seit Mitte der 90er Jahre verschiedentlich aufgegriffen. Christian Baur geht 1994 davon aus, dass die Konzentration auf die Wissenschaftlichkeit und Geschichtlichkeit unter Umständen zu bewusst ‚antiästhetischen‘ Entscheidungen führe: „Oft stand und steht der Verzicht auf jeden Eingriff in das historische Gewordensein des Originals, d.h. seine Geschichtlichkeit so sehr im Vordergrund, daß jedes ästhetische Interesse daran geleugnet und durch antiästhetische Entscheidungen scheinbar ausgeschlossen wird. […] Geschichte, wissenschaftliche, damit dokumentarische Gesichtspunkte ließen und lassen bisweilen vergessen, daß es bei Instandsetzungen von Denkmälern zwangsläufig auch um ästhetische Entscheidungen ging und geht.“341
Dass ‚antiästhetische‘ Entscheidungen im Grunde nicht existieren (da auch die Ablehnung von Ästhetik eine ästhetisch begründete Entscheidung darstellt), erörtert sechs Jahre später Peter Findeisen, indem er unterschiedlichen Herangehensweisen jeweils andere ‚Bilder‘ vom Denkmal zuordnet. Die Belassung der Sichtigkeit verschiedener Bauphasen wird dabei zur „Abbildung“ verschiedener Umbauten und damit nicht nur zu einer auf einem wissenschaftlichen Ideal beruhenden Entscheidung, sondern auch zu einer ästhetischen.342 Ein Jahr später nimmt Holger Brülls diese Gedanken auf dem zweiten Symposium Nachdenken über Denkmalpflege wieder auf und führt sie weiter aus. Unter dem provokanten Titel Was passiert, wenn Geschichte Architektur unsichtbar macht?, stellt er die These auf, dass die Konzentration der zeitgenössischen Denkmalpflege auf die bauliche Substanz des Denkmals negative Auswirkungen auf seine Ästhetik mit sich bringe: „Das Denken in den Kategorien der ‚historischen Substanz‘ liefert in vielen Fällen Veranlassung für tiefgreifende, höchst fragwürdige Eingriffe in die Gestalt der Denkmale, in ihre ästhetische Substanz. [Hervorhebung im Original] Eine gestalterische Motivation solcher Ein341 Baur 1994, S. 21. Baur sieht insbesondere die 70er Jahre als Hochzeit dieser Herangehensweise. 342 Vgl. Findeisen 2002, S. 29.
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griffe wird meist abgestritten, obschon niemand die objektiv gegebenen ästhetischen Konsequenzen oder gar Beschädigungen bestreiten kann. Es ist daher nötig, die Frage nach den formalen Risiken und ästhetisch-normativen Implikationen substanz- und geschichtsorientierter Denkmalpflege zu stellen, Implikationen, die sie nach ihrem eigenen Selbstverständnis gar nicht hat.“343
Brülls greift also zum einen die Gegenüberstellung von Geschichte und Ästhetik wieder auf und treibt diese weiter voran, indem er den Begriff der ‚ästhetischen Substanz‘ ins Feld führt – wohl mit der Intention einer Aufwertung der ästhetischen Komponente. Was genau mit diesem Begriff der ästhetischen Substanz gemeint ist, lässt sich nur implizit aus dem Text schließen. Brülls hebt in der Folge die Wichtigkeit der architektonischen – also künstlerischen – Werte der Bauten hervor, die durch die Sichtbarmachung von Geschichtsspuren gestört würden: „Die kontrastive Materialästhetik heutiger Denkmalpflege scheint mir ein Symbolproblem für unsere gegenwärtige Situation zu sein, da nämlich, wo sie eine Dominanz des Neuen gegenüber dem Alten hervorbringt und die historische Perspektive von heute den Blick auf die Architektur von gestern verzerrt. Ein an Reliquienkult erinnernder, im Grunde architekturfremder Inszenierungsstil ist die Folge.“344
Vorbilder für diese Herangehensweise identifiziert Brülls in „der Ideologie der Materialechtheit des 19. und funktionalistischen Dogmen des 20. Jahrhunderts, vermengt mit einem ungezügelten Historizismus, der sich um die eigenen Voraussetzungen und Folgen keine Gedanken mehr macht.“ 345 Abermals ist es also in erster Linie die konstatierte unreflektierte Herangehensweise der Denkmalpflege, die Brülls bemängelt. So richtet er sich nicht gegen die Bewahrung historischer Substanz, sondern gegen die „Totalisierung der historischen Perspektive“. 346 Stattdessen geht er davon aus, dass jeder Umgang mit dem Denkmal auch ästhetische Aspekte beinhalte, derer man sich bewusst werden müsse. Ein Rückzug auf den reinen Substanzerhalt ist demnach nicht möglich. Da dies nicht möglich ist, wird ein bewusstes Abwägen zwischen verschiedenen Möglichkeiten notwendig, das nur im Zusammenhang mit der Betrachtung der historischen und ästhetischen Werte des Denkmals möglich ist. Weiter ausgeführt und analysiert wird dieser Gedanke von Uta Hassler, die am Beispiel des Neuen Museums in Ber343 Brülls 2003, S. 2. 344 Ebd., S. 6. 345 Ebd. Außerdem sieht er eine Verbindung zwischen der Ästhetik von Fotogrammetrien und Aufmaßzeichnungen, deren Befunde nunmehr nicht nur auf dem Papier sondern am Gebäude selbst sichtbar gemacht würden. Ebd., S. 5. 346 Ebd., S. 6.
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lin die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Fragment thematisiert. Auch sie bringt diese Ästhetik mit dem Wunsch nach „Materialwahrheit“ in Verbindung und zeichnet den Weg einer an Materialsichtigkeit, Schlichtheit und dem „ästhetische[n] Ideal des kraftvoll-ursprünglichen monumentalen Rohbaus“ orientierten Ästhetik bis in die Zeit des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg nach.347 Diese Ästhetik prägt nach Hassler bis heute den Umgang mit historischen Bauwerken, was sie am Beispiel des Wiederaufbaus des Neuen Museums darzulegen versucht. Dort bemerkt sie in Hinblick auf die den Wiederaufbau begleitenden Diskussionen, dass es „bemerkenswert [sei], dass in den Argumentationslinien, die den Verzicht auf Wiederholungen im Einzelnen begründen, doch stets Argumente aufscheinen, die vor allem den ästhetischen Reiz des Ruinenhaften beschwören und das Fragment als ideale und authentische Geschichtsspur wertschätzen.“348 Die in diesem Satz anklingende Irritation beruht auf der inzwischen traditionellen Gegenüberstellung von historischen und ästhetischen Aspekten des Denkmals. Tatsächlich wurde der Wiederaufbau des Neuen Museums insgesamt als ein ästhetisch positives Beispiel rezipiert, das es schafft, eine eigene (Denkmal)ästhetik zu entwickeln, die sich in ihrer Form weder auf ein als ursprünglich angenommenes Original bezieht, noch auf einen als technokratisch wahrgenommenen Zeugnischarakter reduziert. Der an dem Projekt beteiligte Architekt Michael Freytag sprach in diesem Zusammenhang von der „Aura des Originals“, die durch den Wiederaufbau erneut zum Ausdruck käme, unabhängig von der veränderten Form: „Nach Kriegszerstörung und sechzigjährigem Ruinendasein ist der Rohbau in Teilbereichen heute nicht nur sichtbar, sondern raum- beziehungsweise bauteilprägend. Er ist damit integraler Bestandteil des Wiederaufbaukonzeptes, dessen Verständnis mehr von der Aura des Originals, des Vorhandenen mit seinen geschichtlichen Altersspuren als vom Kunst- und Bildwert des Gewesenen, des Verlorenen bestimmt wird.“349
Insofern handelt es sich hier um eine bewusste Denkmalästhetik, die sich jedoch nicht auf die formalen Aspekte des Denkmals beruft sondern auf seine „Aura“. Durch die Betonung des Fragmentarischen und den explizit künstlerischen Anspruch der Ergänzungen wird die Wirkung beider Elemente noch erhöht. Johannes Cramer beschreibt den Effekt so, dass das „erhaltene und sichtbare Schöne […] 347 Vgl. Hassler 2010, S. 178-183. Auch Achim Hubel stellte 1997 anhand des Wiederaufbaus der Stiftskirche St. Aposteln in Köln einen Zusammenhang zwischen der neu entstandenen Raumfassung und den Charakteristika avantgardistischer Sakralarchitektur fest, was Sigrid Brandt auch für die denkmalpflegerische Praxis im östlichen Nachkriegsdeutschland zeigt (z.B. die Oberkirche in Cottbus, vgl. Brandt 2003, S. 259). 348 Ebd., S. 186. 349 Michael Freytag 2009, zit. nach Hassler 2010, S. 187.
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durch das Gestörte komplementiert“ wird.350 Damit wird jedoch deutlich, dass es sich bei dem Beispiel des Neuen Museums um einen bewusst künstlerischen Umgang mit dem Denkmal handelt, der den Gedanken des Urkundenwertes integriert, jedoch nicht in den Vordergrund stellt. Gerade dieses Beispiel zeigt demnach, dass eine Gegenüberstellung historischer und ästhetischer Aspekte des Denkmals nicht zwingend notwendig sein muss, so lange man die ästhetischen Aspekte nicht auf formale Harmonie begrenzt, sondern als Ergebnis einer bewussten Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Bestand, wie er beispielsweise von Brülls angeregt wurde. Insgesamt lässt sich feststellen, dass es sich bei Forderungen nach mehr Substanz bzw. mehr Ästhetik scheinbar immer um zeitlich bedingte Reaktionen auf ‚etwas‘ (allgemeine Strömungen oder auch konkrete zeitgenössische denkmalpflegerische Projekte) handelt. Die Betonung des Urkundencharakters des Denkmals zur letzten Jahrhundertwende positionierte sich gegen ganz bestimmte, als unprofessionell betrachtete Herangehensweisen, beinhaltete aber keineswegs die Verneinung ästhetischer Denkmalwerte. Die erneute Betonung des Werts der Denkmalsubstanz vor allem in den späten 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts fand statt als Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Ästhetisierungsdebatte und war dadurch zu einem großen Teil nicht nur ästhetisch sondern vor allem auch gesellschaftlich motiviert (s. folgendes Kapitel). Als Reaktion hierauf sind wiederum die formulierten Vorwürfe der Reduzierung auf die Substanz zu verstehen, wie sie insbesondere in den späten 90ern formuliert wurden. Auffallend ist dabei jedoch, dass in der Ablehnung anderer Herangehensweisen immer die (abgelehnte) Konzentration auf die eine oder andere Herangehensweise kritisiert wird, wobei sich bei genauer Lektüre der Gegenseiten zeigt, dass eine Trennung niemals positiv formuliert wurde. Vielmehr wird bei jeder positiv formulierten Überlegung zum Umgang mit dem Denkmal klar, dass stets die Beachtung beider Aspekte notwendig ist. Die Gegenüberstellung von Substanz und Ästhetik ist damit eine stets weiter tradierte Formel, die jedoch immer nur auf die Meinung des jeweils anderen angewendet wird. 4.3.4 Das Denkmal als Bedeutungsträger In seinem vielbeachteten Text zur Erweiterung des Denkmalbegriffs aus dem Jahr 1975 versucht Willibald Sauerländer den Ursprung der Vorstellung vom Denkmal zu ergründen und führt diese auf zwei Wurzeln zurück, die nach seiner Ansicht weder miteinander verschmolzen seien, noch gänzlich voneinander getrennt werden könnten. Neben dem neueren Kunstwert sieht er die Vorstellung des „Monumentums“ im Sinne von „Erinnerungsmal“ als die älteste Wurzel des Denkmalbe350 Cramer 2009, S. 48.
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griffs.351 Obwohl es sich hier um eine konstruierte Trennung zwischen beidem handelt, widmet sich das nächste Kapitel dem Denkmal unter dem Blickwinkel seiner Bedeutung als „Monument“ in Sauerländers Sinn, hier unter dem Begriff des ‚Bedeutungsträgers‘. Im Vordergrund steht bei dieser Betrachtungsweise eine bestimmte Bedeutung, die dem Denkmal zugeordnet wird bzw. die durch das Denkmal verkörpert wird. Dies bringt Auswirkungen auf den (ästhetischen) Umgang mit dem Denkmal mit sich, da die erste Priorität nun die Sichtbarmachung (oder –bewahrung) dieser Bedeutung ist. Um zu verdeutlichen, dass diese Bedeutungen jedoch nicht unverrückbar sind, sondern den Denkmalen jeweils von Akteuren zugeordnet werden, wurde hier der neutralere Begriff Bedeutungsträger gewählt. Wenn unterschiedliche Vorstellungen von der Bedeutung eines Denkmals bestehen, kann es unter Umständen auch zu Konflikten oder Kollisionen kommen. Beispiele für diese Bedeutungsträgerfunktionen lassen sich, wie Willibald Sauerländer schon feststellte, bis in die frühe Geschichte der Denkmalpflege (und auch davor) zurückverfolgen. So war die Hauptmotivation Boisserées zum Wiederaufbau des Kölner Doms dessen Potenzial „ein Sinnbild der gesammten Geschichte des deutschen Vaterlandes zu sein“.352 Durch diese Fokussierung auf das Sinnbild wird auch eine um Jahrhunderte verspätete Komplettierung des Doms möglich, da diese der angenommenen Bedeutung des Baus entspricht. Die verschiedenen zeitlichen Zuordnungen verlieren an Relevanz, da die Bedeutung des Denkmals als überzeitlich angenommen wird. Auch wenn der Aspekt des Denkmals als Bedeutungsträger, wie Sauerländer schon ausführt, also seit Beginn der Denkmalpflege eine Rolle beim Denkmalerhalt spielt, findet eine theoretische Auseinandersetzung mit diesem Aspekt doch erst sehr viel später statt. Vor allem Paul Clemen widmet sich in seiner 1933 erschienenen denkmaltheoretischen Auseinandersetzung Die deutsche Kunst und die Denkmalpflege. Ein Bekenntnis dieser Facette des Denkmals. Dort führt er aus, dass sich Denkmalpflege nicht auf den Schutz der Substanz beschränken ließe, sondern dass es auch ihre Aufgabe sei, „die Denkmäler lebendig zu erhalten und sie wieder zum Leben zu erwecken, sie als greifbare und sichtbare sprechende Zeugen und Mahner in den Fluß der Gegenwart zu stellen und sie zum Reden zu zwingen […]. In diesem Sinne ist die Idee, der geistige Gehalt, die Bedeutung des Denkmals das Wesentliche – und dann erst die überlieferte materielle Form, das Gewand [Hervorhebungen im Original].“353 351 Vgl. Sauerländer 1975, S. 119. 352 Vgl. Boisserée 1823, S. 16. Auch Schinkel plädierte für den Erhalt der Schlosskirche in Wittenberg in erster Linie aufgrund ihrer „Bedeutung als erste Kirche der Reformation“ (vgl. Schinkel 1815, S. 271). 353 Clemen 1933, S. 26 f.
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Diese Aussage bezieht er jedoch nur auf die „lebenden Denkmäler“, „die noch ihrer ursprünglichen oder einer gewandelten entsprechenden Bestimmung dienen“ und die er gegen die „toten Denkmäler“ abgrenzt, bei „denen diese Funktion gestorben und ausgelöscht ist, wo nur das leere Gewand, der Mantel des Propheten noch erhalten ist, aus dem der Geist ausgefahren ist.“354 Aus dieser Trennung ergeben sich für Clemen zwei unterschiedliche Aufgabenstellungen für die Denkmalpflege, je nachdem, um welche Form des Denkmals es sich handelt: „Bei einem ‚lebendigen Denkmal‘ handelt es sich um das allseitig Lebendigerhalten eines Bauwerks […], das noch Träger seiner fließenden Zweckbestimmung ist – und hier geht es eben um den bleibenden geistigen Gehalt vor der Form, die sich wandeln kann. Bei einem ‚toten Denkmal‘ ist jene Funktion erloschen, sie lebt nur noch als Erinnerung, als ferne Tradition, als ein Symbol – die Form ist hier alles, ist unveränderlich, geheiligt.“355
Clemen vergleicht das Denkmal mit einem Organismus. Das Ziel der Denkmalpflege ist analog dazu der Erhalt der Seele dieses Organismus, was nur möglich ist, indem man ihn am Leben erhält: „Und gerade wenn wir bei einem lebendigen Organismus uns klar machen, daß das Wesentliche eben die Seele des Kunstwerks ist, die Form nur das Gewand – ist es dann nicht wichtiger, die Seele zu erhalten, wenn das zerrissene Gewand geflickt oder erneuert werden muß [Hervorhebung im Original]?“356
Falls das Denkmal jedoch schon ‚tot‘ ist, bleibt die äußere Form als einzige Spur der ursprünglichen Seele als absolut erhaltenswertes Relikt bestehen, das mit neuen Sinnzusammenhängen versehen wird: „Bei einem Objekt, das in ein Museum eingegangen ist, ist das alte Leben, das an seinen Sitz gebunden war und seine kultische und seine damit zusammenhängende symbolische Funktion getötet – ein neues, ganz anderes Leben wird ihm eingehaucht, der Lehre, des Vorbildes, der ästhetischen Beglückung – und weil [Hervorhebung im Original] das alte Leben abgeschlossen ist, ist jedes Rühren an dem Werk, das über das reine Konservieren hinaus geht, verpönt. Es ist hier eigentlich gleichgültig, ob es sich um eine Plastik in einem Museum oder um eine Ruine handelt, die gewissermaßen in einem unsichtbaren Freiluftmuseum steht.“ 357
354 Vgl. ebd., S. 9. Clemen bezieht sich hierbei explizit auf Cloquet und Buls, die sich bereits vor ihm dieser Unterscheidung in tote und lebende Denkmale bedienten. 355 Ebd. 356 Ebd., S. 36. 357 Ebd., S. 26 f.
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In Bezug auf die praktische Anwendung seiner Theorie kommt Clemen schließlich auch zu ästhetischen Überlegungen, die die Beziehung zwischen der Echtheit des Denkmals und der Frage nach der ästhetischen Befriedigung (Schönheit) diskutieren. In diesem Zusammenhang kritisiert Clemen zunächst die ausschließliche Konzentration auf die Echtheit des Objekts seitens der durch Kunsthistoriker geprägten Denkmalpflege und spricht sich dagegen für die Fokussierung auf eine durch das Denkmal verkörperte „Gesamtstimmung“ aus: „Dies Überwiegen der transzendentalen Werte, der über dem Bekmessertum der kunsthistorischen Zensoren stehende symbolischen Welt, wird man auch in einer ganzen Reihe der Burgenerneuerungen und Burgenausbauten als Wertmesser zubilligen dürfen. Es ist nicht der Begriff der ‚Echtheit‘, der hier als letztes Kriterium anzurufen ist, sondern der Maßstab der Gesamtstimmung, die eben Trägerin des Mythos eines uns teuren historischen Bauwerkes ist.“358
Gleichzeitig erkennt Clemen an, dass das Unechte auch das Potential hat, den ästhetischen Genuss des Werkes zu schmälern oder zu zerstören: „[J]e mehr die neue Zutat auf Täuschung berechnet ist, je mehr sie als höchstes Ziel sich setzt, als alt eingeschätzt zu werden, um so peinlicher ist unsere Empfindung der Beschämung bei der Entdeckung – wie wenn wir uns eine lang unserem Auge entgangene Fälschung zugestehen müssen.“359
Daher spricht sich Clemen, ähnlich wie Gurlitt, für ein „freie[s] künstlerische[s] Weiterbilden“ aus.360 Susanne Fleischner sieht hier eine gedankliche Nähe Clemens zur zeitgenössischen sogenannten ‚schöpferischen Denkmalpflege‘.361 Clemens Vorstellung von einer „Gesamtstimmung“ des Denkmals findet sich demnach auch in der Herangehensweise der schöpferischen Denkmalpflege wieder. Fleischner hebt hier insbesondere die Verbindung zwischen dem hervorzuhebenden ‚Mythos‘ des Denkmals und einer ästhetischen Bevorzugung verschiedener Baustile hervor. Dieser Einschätzung schließt sich auch Ingrid Scheurmann an, die die gestaltende Herausbildung der Sinnschichten des Denkmals als typisch für die Denkmalpflege der Weimarer Zeit mit Vertretern wie Rudolf Schwarz oder Rudolf Esterer betrach-
358 Ebd., S. 39. 359 Ebd., S. 40. 360 Vgl. ebd. 361 Vgl. Fleischner 1999, S. 4. Gleichzeitig weist Fleischner darauf hin, dass der Begriff der ‚schöpferischen Denkmalpflege‘ keinesfalls fest umrissen ist, sondern zeitgenössisch generell im Sinne einer gestaltenden Denkmalpflege verwendet wurde.
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tet.362 Diese Hervorhebung des Symbolwertes der Denkmale war durchaus auch im Sinne der NS-Kulturideologie,363 die in den Denkmalen ein Mittel zur Volksbildung sah. Wichtig war dabei nicht die historische Substanz der Denkmale sondern ihre symbolische Aussagekraft. Rudolf Esterer, seit 1924 leitender Architekt der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen und 1945-1952 deren Präsident, war einer der Hauptbefürworter einer ‚schöpferischen Denkmalpflege‘ und formulierte die Aufgaben der Denkmalpflege entsprechend mit einer Fokussierung auf deren gestalterischen Aspekte: „Oft mußte erst aus Trümmern verfallener und verdorbener Bauwerke wieder der große einheitliche Baugedanke herausgearbeitet und ihm jede Einzelmaßnahme, gleichgültig ob erhaltender oder gestaltender Art, organisch eingeordnet werden.“364 Der denkmalpflegerischen Entscheidung liegt also zunächst eine Bewertung des Denkmals in Bezug auf seine Hauptaussage zugrunde, die Grundlage für ein weiteres Vorgehen wird. Dieses Vorgehen kann, wenn es der Herausstellung dieser Bedeutung dient, auch gestaltend sein. Susanne Fleischner sieht diese Herangehensweise bis heute nachwirken, „wenn aus einer ästhetischen Wertung des Denkmals heraus, gestalterisch motivierte Entscheidungen getroffen werden“.365 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Entscheidungen der schöpferischen Denkmalpflege keineswegs auf rein ästhetischen Urteilen beruhten, sondern ihre Grundlage in der Herausarbeitung der dem Denkmal zugeschriebenen Bedeutung hatten. Dabei wurde zwar eine spezifische Ästhetik verfolgt (meist im Sinne einer formalen Harmonie), diese war aber nicht die Grundlage der Bewertung des Denkmals. Die ‚Schönheit‘ des Denkmals war also auch für die schöpferische Denkmalpflege nie ein explizit angestrebtes Ziel, wohl wurden aber bei der Auseinandersetzung mit dem Denkmal auch ästhetische Entscheidungen getroffen. In der direkten Nachkriegszeit rückte das Denkmal in seiner Eigenschaft als Symbol (bzw. Bedeutungsträger) wegen seiner Anfälligkeit zur (politischen) Vereinnahmung stark in den Hintergrund. Dennoch gab es trotz der oben beschriebenen starken Betonung des substanzorientierten und Urkundencharakters des Denkmals auch zu dieser Zeit Fälle, in denen Wiederherstellungen von Bauten als unumgänglich angesehen wurden. Der damalige Generalkonservator des Instituts für Denkmalpflege der DDR, Ludwig Deiters, unterscheidet in diesem Zusammenhang 1962 zwischen zwei verschiedenen Anliegen der Denkmalpflege, der Konservierung und der Wiederherstellung. Während die Konservierung vor allem der Erhaltung diene, gehe es bei der Wiederherstellung „im allgemeinen um die künstlerische Wirkung in seltenen Fällen auch um die Anschaulichkeit historischer Situationen.“366 Dabei 362 Vgl. Scheurmann 2013a, S. 212. 363 Vgl. Fleischner 1999, S. 4. S. außerdem Kapitel 5.2.2.1. 364 Esterer 1941, S. 193. 365 Vgl. Fleischner 1999, S. 4. 366 Deiters 1962, o.A.
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hebt er auch die „nationale Repräsentation vor der Welt“ hervor, die durch die Denkmale über sprachliche Barrieren hinweg geleistet würde und damit einen Beitrag zur Völkerverständigung leiste.367 Die nationalen Aspekte, die durch das Denkmal vermittelt würden, setzt er dabei explizit einem chauvinistischen Nationalismus entgegen, vielmehr solle durch die Denkmale „der Stolz auf die künstlerischen und technischen Leistungen“ der Vorfahren geweckt werden. In diesem Sinne kann unter Umständen auch die Veranschaulichung bestimmter historischer Situationen durch Wiederherstellung sinnvoll werden. Insbesondere, wenn „historische[n] Bauten, die zu einem denkmalwerten Ensemble gehören, zugunsten egoistischer Interessen der Besitzer in den vergangenen kapitalistischen Jahrzehnten verschandelt und verdorben“ wurden.368 Zu diesen Verschandelungen zählen für Deiters (verhältnismäßig klassisch) Ladeneinbauten, „protziger Fassadenschmuck“ und die Überbauung von Höfen. Obwohl Deiters mit der Betonung des internationalen Anspruches einerseits und der Kapitalismuskritik andererseits hier eindeutig auch in seinem zeitgenössischen politischen Kontext argumentiert, kann man davon ausgehen, dass eine ähnliche Vermischung historischer, bzw. auf der Bedeutung der Denkmale beruhender, und ästhetischer Werturteile auch in der BRD, wenn auch weniger explizit formuliert, existierten.369 Zwanzig Jahre später finden sich Deiters Gedanken in der Erklärung von Dresden wieder, die das Resultat einer ICOMOS-Tagung in Dresden im November 1982 war, womit zumindest von einer Akzeptanz im internationalen Rahmen ausgegangen werden kann.370 Die Erklärung von Dresden beschäftigt sich mit dem Wiederaufbau kriegszerstörter Städte und Denkmäler und betont in diesem Zusammenhang vor allem die „geistigen Werte“ („spiritual values“) der Denkmale, die zu dem Wunsch nach ihrer Rekonstruktion führten. Obwohl gerade auch in Hinsicht auf die starken Verluste durch kriegerische Auseinandersetzung die besondere Rolle der originalen Substanz hervorgehoben wird, stellt die Erklärung die positive gesellschaftliche Wirkung auch rekonstruierter Gebäude heraus, die wiederum auf der ihnen zugeschriebenen positiven Bedeutung beruht: 367 Vgl. ebd. 368 Ebd. 369 Als Vergleich ließen sich beispielsweise die Altstadtsanierungen der Nachkriegszeit heranziehen. 370 Da Deiters zu der Zeit Präsident des Nationalkomitees der DDR für ICOMOS war, kann davon ausgegangen werden, dass er maßgeblich an den Inhalten der Erklärung von Dresden beteiligt war. Dennoch wurde sie zumindest von den Anwesenden (die nach Angaben ICOMOSʼ aus elf verschiedenen Nationen stammten) akzeptiert und mitgezeichnet. Wolfgang Hähle sieht in der Erklärung von Dresden eine Anerkennung und Legitimierung der sächsischen Denkmalpflege und ihrem Einsatz für die Rekonstruktion (teil)zerstörter Denkmale (vgl. Hähle 2000, S. 13).
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„The objective and the practical efforts of governments and peoples in the restoration of monuments and the preservation of the character of towns and villages […] have been, and will remain to be of great importance for the bond between peoples and their native lands […]. A great cultural effect has been and will be achieved in such places where protection and meticulous preservation of monuments go hand in hand with efforts to restore their impact and to promote the understanding of them […].“ 371
Die hohe Wertschätzung, die einem Denkmal aufgrund seiner Bedeutung zuteil wird, kann unter Umständen auch zu dem Wunsch nach seiner Rekonstruktion führen. Die Erklärung spricht in diesem Zusammenhang explizit von dem „symbolischen Wert“ („symbolic value“)372 und knüpft damit wörtlich (und inhaltlich) an die durch Paul Clemen formulierten Gedanken an. Die Bedeutung des Denkmals legitimiere dabei den Wunsch nach seiner möglichst vollkommenen Wiederherstellung.373 Der in der Erklärung von Dresden formulierten positiven Bewertung einer unter Umständen auch gestalterisch eingreifenden Denkmalpflege, die in Ausnahmefällen auch die Rekonstruktion eines zerstörten Denkmals unterstützt, widerspricht neun Jahre später und in einem veränderten politischen und gesellschaftlichen Kontext die Potsdamer Erklärung zur Rekonstruktion von Baudenkmalen der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger (s.o.). Dort wird betont, dass Errichten von Nachbildungen und die entstandenen Bauten ihre Bedeutung allein aus dem Handeln der Gegenwart zögen. Die Denkmalpflege hingegen sei ausschließlich Geschichtszeugnissen verpflichtet, die diese Nachbildungen (zunächst) nicht seien, und sähe sich darüber hinausgehend in der Pflicht, vor einer damit einhergehenden Aufhebung der Erinnerung im öffentlichen Raum zu warnen. 374 Bedeutung kann hier ein Denkmal nur als historisches Zeugnis erlangen, wozu seine materielle Authentizität notwendig ist. Eine davon losgelöste symbolische Bedeutung spielt in der Potsdamer Erklärung keine weitere Rolle. Sie ist zwar innerhalb der Vorstellung vom Denkmal als Geschichtszeugnis durchaus möglich, jedoch lediglich als zusätzlicher, nicht als grundlegender und konstituierender Wert. Heinrich Magirius als damaliger sächsischer Landeskonservator sah in der Potsdamer Erklärung, die im Rahmen der ersten gemeinsamen Tagung der Landesdenkmalpfleger verabschiedet wurde, eine klare „Verurteilung der Absicht der Dresdner Denkmalpfleger […], am Wiederaufbau 371 http://www.icomos.org/en/charters-and-texts/179-articles-en-francais/ressources/charters-and-standards/184-the-declaration-of-dresden (27.06.2014). Hier äußert sich wieder der Gedanke der positiven Volksbildung durch die Anschauung der Denkmäler, die in Kapitel 5 noch genauer untersucht werden soll. 372 Ebd. 373 Vgl. ebd. 374 http://www.dnk.de/_uploads/media/206_1991_VdL_Rekonstruktion.pdf (27.06.2014).
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der Dresdner Frauenkirche mitzuwirken“. 375 Sein Hinweis darauf, dass die Erklärung maßgeblich von drei westdeutschen Protagonisten geprägt wurde (Tilmann Breuer, August Gebeßler und Johannes Habich), verführt außerdem dazu, einen denkmalpflegerischen Ost-West-Konflikt zu konstatieren. Diese Frage müsste vertiefend untersucht werden, um hier zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen. Wahrscheinlicher ist jedoch ein differenzierteres Bild. Durch eine engere Verbindung zwischen Politik, Denkmalpflege und der den Denkmalen zugeschriebenen kulturellen und gesellschaftlichen Funktion lässt sich vermuten, dass wie oben dargestellt, die Funktion des Denkmals als Bedeutungsträger in der DDR eine größere Rolle spielte. Gleichzeitig folgte die anschließende (und andauernde) Diskussion um die Positionierung der Denkmalpflege zu Rekonstruktionsvorhaben (die eng verbunden ist mit der Vorstellung vom Denkmal als Bedeutungsträger) keinen geographischen oder politischen Grenzverläufen, sondern fand Befürworte und Gegner auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze. Insbesondere unter den Befürwortern meldeten sich dabei hauptsächlich auch Interessierte anderer (teilweise benachbarter) Professionen zu Wort, wie beispielsweise Architekten, Kunsthistoriker oder Journalisten. In ihrer Reaktion auf denkmalpflegerische Aktionen und durch ihre Rezeption auch innerhalb der Denkmalpflege wurden sie gleichwohl Teil eines denkmalpflegerischen Diskurses. Der (westdeutsche) Kunsthistoriker Jörg Traeger beispielsweise nahm mit seinen 1992 formulierten 10 Thesen zum Wiederaufbau zerstörter Architektur explizit Bezug auf die oben zitierte Potsdamer Erklärung. Diese sieht Traeger (als erklärter Befürworter eines Wiederaufbaus der Frauenkirche) durchaus kritisch. Für ihn zeigt sich in der Erklärung der Landesdenkmalpfleger „eine theoretisch begründete Veränderung im Denkmalverständnis“, die „den Akzent von der Idee zum Material, von der Form zur Erscheinung, vom Werk an sich zur Wirkung an ihm, von der Kunst zur Geschichte“ verschiebt.376 Diesem Verständnis liegt nach Traeger ein positivistisches Wissenschaftsverständnis zugrunde, das auf ein Höchstmaß historischer Objektivität abziele. Dem stellt er die provokante These entgegen, dass es sich bei Denkmalpflege immer auch um Reproduktion von Geschichte handle, wodurch die Rekonstruktion nur eines von verschiedenen Instrumenten dazu wäre. 377 Als genau375 Magirius 2010, S. 154. 376 Traeger 1992, S. 630. Inwiefern es sich dabei tatsächlich um eine Akzentverschiebung handelt, sei dahingestellt, da in der Geschichte der Denkmalpflege, wie gezeigt werden konnte, immer verschiedenen Vorstellungen parallel zueinander existierten und die Gewichtung der unterschiedlichen Kriterien stets ein wandelbarer Prozess war und wahrscheinlich auch bleiben wird. 377 Vgl. ebd. Dennoch betont auch Traeger den besonderen Wert und Vorrang „der Rettung und Sicherung authentischer Denkmalsubstanz“. Außerdem müsse bei Wiederaufbauten eine möglichst genaue Ähnlichkeit (basierend auf Plänen und Dokumentationen) mit
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ere Erläuterung dieser Überlegung kann seine zweite These zum Wiederaufbau betrachtet werden, in der er ausführt, dass das „Denkmal der Geschichte […] den Stempel stornierter Vergänglichkeit [trägt], d.h. den Stempel der Gegenwart. Der Widerspruch liegt auf derselben Ebene wie die Rekonstruktion eines zerstörten Bauwerks.“378 Bereits ein Jahr früher hatte Reinhard Bentmann, Konservator am Hessischen Landesamt für Denkmalpflege, ähnliche Gedanken formuliert. In seinem 1991 erschienenen Text unter dem Titel Geschichtsdesign setzt er sich kritisch mit dem Stichwort „Geschichtsfälschung“ (für ihn immer gleichzeitig auch „Zukunftsfäschung“) auseinander.379 Dass auch ein restaurierender Eingriff Geschichtsfälschung sein kann, versucht er am Beispiel hessischer Landsynagogen darzulegen, deren makellos restaurierte Form keineswegs die historische Tatsache des verbreiteten Antisemitismus transportiere: „Hier fälschen wir, indem wir restaurieren.“ 380 Dieses Beispiel verdeutlicht auch die enge Verbindung zwischen der Vermittlung einer festgestellten Denkmalbedeutung und der ästhetischen Komponente. Bedeutung (als Relikt einer gewaltsam zerstörten Kultur) und ästhetische Denkmalgestaltung (in diesem Fall die Restaurierung auf „Hochglanz“381) fallen in diesem Fall auseinander, was von dem Autor als störend angesehen und als Fälschung betitelt wird. Neben diesen ‚Fälschungen‘ am Objekt geht es Bentmann jedoch in erster Linie um einen bewussteren Umgang der Denkmalpflege mit diesem Thema. Als falsch (und Fälschung) betrachtet er nämlich auch die Vorstellung der Möglichkeit einer objektiven Historiographie und spricht damit denselben Kritikpunkt an, den Traeger später in seinem Aufsatz aufnimmt: „Die umfassendste Fälschung aber, verstanden als bewußte Täuschung oder idealistische Illusion oder als unbewußte Selbsttäuschung, ist die Vorstellung von der Möglichkeit einer objektiven Historiographie.“382 Dadurch wird die Denkmalpflege und jede konservatorische und restaurierende Tätigkeit für ihn zur „schrittweise Annäherung der Originale an ihre eigene Fälschung, das heißt: an das Bild, die Vorstellung, die wir uns von ihnen gemacht haben“.383 Einen Ausweg aus diesem Dilemma weist Bentmann nicht, ihm scheint es in erster Linie um die Reflexion dieses Themas zu gehen. Grundlegend ist die Vorstellung, die man sich vorher vom Denkmal gemacht hat, die einhergeht mit einer Bedeutungszuweisung. dem Original erreicht werden, da es in diesem Zusammenhang um „historische Wahrhaftigkeit“ gehe. Vgl. ebd., S. 631. 378 Ebd., S. 631. 379 Vgl. Bentmann 1991, S. 46. 380 Ebd., S. 48. 381 Ebd. 382 Ebd. 383 Ebd., S. 49.
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Expliziter wird der Gedanke vom Denkmal als Bedeutungsträger – erneut unter dem Begriff „Symbolwert“ – wenige Jahre später von Dankwart Guratzsch formuliert. Anknüpfend an Traegers Thesen betont er zum einen die Zeitgebundenheit denkmalpflegerischer Grundsätze (beispielsweise als Reaktion auf den Historismus bei Dehio und Riegl) und zum anderen, dass neben dem Historischen auch die symbolischen Aspekte des Denkmals auf eine lange Geschichte in der Denkmaltheorie zurückblicken können. Dabei geht er über die bereits durch Sauerländer formulierten Gedanken hinaus, da er für die Feststellung eines historischen Wertes von einer vorherigen bzw. damit einhergehenden symbolischen Aufwertung des Objektes ausgeht: „In all den Zeugnissen aus der Aufbruchszeit des Denkmalschutzes gilt die Begeisterung nicht einer materiellen Eigenschaft, sondern der immateriellen Wesenheit des geschichtlichen Bauwerks als Symbol. Durch diese erst spricht Geschichte, mit ihr erst beginnt die Aussonderung von Bauwerken aus der Masse des Gebauten und Trümmerhaften, denen eine höhere Bestimmung zuerkannt wird und die darum dem Schicksal allen Menschenwerks entzogen werden sollen.“384
Guratzsch setzt den Symbolwert dabei mit Riegls „gewolltem Erinnerungswert“ gleich und definiert ihn: „Symbolwert ist, was einem Bauwerk als ideelle ‚Aussage‘ abgelesen werden kann – aber dieses ‚Ablesen‘ geschieht nicht wertfrei, sondern im Dienst von Idealen und Interessen, die das Bauwerk vermeintlich oder nach dem Willen seiner Interpreten propagiert.“385 Dass die Zuschreibung eines Symbolwerts von den jeweiligen Idealen und sogar Interessen des interpretierenden Beschauers ausgeht, ist Guratzsch also durchaus bewusst. Er diskutiert allerdings nicht die sich daraus ergebenden Probleme der jeweiligen Deutungshoheit und der Schwankungen, denen auch Ideen und Interessen unterworfen sind – und die Auswirkungen, die dies wieder in Hinblick auf das Denkmal mit sich bringt. Stattdessen spricht er sich in seiner Polarisierung zwischen einer „‚materialistischen Schule‘ Dehios und Riegls“ und einer „‚idealistisch‘ gesinnten Denkmalpflege“386 klar für letztere aus. Als Ziel einer idealistischen Denkmalpflege benennt er dabei die „Rückgewinnung der Authentizität – also der unverfälschten Urgestalt – des Symbols“.387 Dieser Gedanke einer ‚Urgestalt‘ schließt gleichzeitig auch einen Wandel in der Vorstellung vom Symbol aus. Das Symbol ist also – obwohl abhängig von Idealen und Interessen – etwas Überzeitliches, das zwar auf Geschichte verweist, sich ihr aber über384 Guratzsch 1995, S. 517. 385 Vgl. ebd., S. 517 und 518. 386 Vgl. ebd., S. 518. 387 Ebd. Auf die ungewöhnliche Gleichsetzung der Begriffe „Authentizität“ und „Urgestalt“ kann hier nur am Rande verwiesen werden.
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ordnet. Die (historische) Materialität spielt für Guratzsch dennoch eine Rolle, insofern die „Idee des Kunstwerks […] nur greifbar [ist], soweit und wo sie sich in Materie fassen lässt“.388 Darin, „das Material als einzig wichtiges Kriterium in den Vordergrund“ zu stellen, sieht er jedoch eine Fehlentwicklung: „Eine immer mehr entartende Denkmalpflege hat daraus [aus der Greifbarkeit der Idee im Material] zuletzt den Umkehrschluß gezogen: also ist ‚wahr‘ und ideeller Gehalt an einem Werk nur das, was in Materie kristallisiert ist; nicht das Eigentliche, sondern das Gewordene. Wahr ist nur der Stoff, nicht die Idee.“389
Hier wird deutlich, dass Guratzsch mit dem Symbolwert des Denkmals nicht eine später zugeschriebene Bedeutung meint, sondern dass er – im Gegensatz zu Clemen – damit eine angenommene ursprüngliche Intention bezeichnet, die er mit der künstlerischen Idee gleichsetzt. In der Tradition der künstlerischen Denkmalpflege geht er denn auch davon aus, dass das Denkmal einen eigenen Charakter habe, der durch spätere Zutaten oft nur verunklärt würde. Diese späteren Hinzufügungen seien an sich nicht originär, sondern „nur zufällig mit dem jeweiligen Objekt verbunden“.390 Das Denkmal wird so eher als Kunstwerk denn als Symbol betrachtet, das seinen Wert aus dem „Ewigkeitsanspruch der Kunst“ begründet. 391 In den folgenden und fortwährenden Debatten um den Wiederaufbau von Gebäuden spielt neben ästhetischen Fragen insbesondere deren symbolische Bedeutung eine ausschlaggebende Rolle. Dabei ist auffällig, dass meist symbolische Faktoren zur Rechtfertigung solcher Vorhaben in den Vordergrund gerückt wurden, wohingegen sich die geäußerte Kritik oft auf eine als oberflächlich empfundene Schönheitssehnsucht bezieht. Auch hier wird das Streben nach Schönheit – zumindest über eine lange Zeit – nicht als positives Argument herangezogen sondern tritt hauptsächlich in der Kritik auf. Der Aspekt der ‚Schönheit‘ als bauliches Ziel in diesem Zusammenhang bleibt negativ besetzt, so dass er, wenn auch als implizites Ziel anzunehmen, selten als solches explizit genannt wird. Vor diesem Hintergrund kann man die von der Gesellschaft Berliner Schloss e.V. 2007 veranstaltete Tagung zum Thema Wiederaufbau und Rekonstruktion zerstörter Residenzschlösser in Europa durchaus als Versuch werten, das eigene Ziel (des Schloss-Wiederaufbaus) zu rehablitieren. Dies wird versucht, indem man sich in einem dezidiert wissenschaftlichen Kontext mit Schlosswiederaufbauten auseinandersetzt und indem man sich wiederholt gegen Vorwürfe der bloßen Verschönerung wehrt um statt dessen ideelle und symbolische Werte von Schlosswiederaufbauten in den Mittelpunkt zu stellen, 388 Ebd., S. 520. 389 Ebd. 390 Vgl. ebd. 391 Vgl. ebd., S. 533.
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womit ihnen ein gesellschaftlicher Wert zugeschrieben wird. In diesem Rahmen setzt sich der Kunsthistoriker Helmut-Eberhard Paulus, seit 1994 Direktor der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, mit dem Phänomen der Schlosswiederaufbauten auseinander, deren Unterscheidung vom Original er hervorhebt, deren ideellen Grundlagen und Werte er jedoch als ausschlaggebend für die Diskussion betrachtet. Die „Reparatur am geschädigten höfischen Erbe“ nach dem zweiten Weltkrieg vergleicht er daher mit einer „Gesundheitsmaßnahme am menschlichen Individuum“392, da es sich dabei auch um eine Auseinandersetzung mit den damit verbundenen höfischen Idealen handelte, die er mit den Worten „Treue, Verlässlichkeit, Standhaftigkeit, Menschlichkeit, Verständlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Wahrheit“393 umschreibt. Dadurch stellt für ihn der Wiederaufbau auch „nicht die Bewegung von Kubikmetern Beton und Stein, nicht das Spiel der Formen, nicht die Konkurrenz der Planungen und die Selbstverwirklichung architektonischer Kreativität zur Förderung der Geschmackskultur [dar], sondern Wiederaufbau sollte Reparatur am abendländischen Kulturerbe sein, mit der Absicht, dem Edelstein der europäischen Geistesgeschichte die sichtbare, ihrer Individualität angemessene Fassung zurückzugeben“.394
Die Betonung dieses ideellen Wertes ist für ihn die Grundlage eines jeden entsprechenden Eingriffs. Dieser, und nicht die Schönheit des verlorenen Baus, ist denn auch die allein gültige Begründung. Ästhetische Argumentationen werden auch von Paulus aufgrund einer postulierten Oberflächlichkeit abgelehnt: „Nur als […] Bestandteil [des höfischen Erbes] können Schlösser in ihrem Sinn richtig verstanden werden, denn als Hollywood-Kulisse wären sie ein Frevel an der architektonischen Kultur, als Kaufhauswerbung eine gezielte Irreführung der Bevölkerung, als rein städtebauliches Thema zumindest in der Gegenwart ein Anachronismus.“ 395
Eine Fassade, die ihre Ästhetik allein in der Form findet und diese nicht mit den richtigen Inhalten verbindet, wird unwahr und ist dadurch auch ästhetisch nicht mehr tragbar. In der Form drückt sich das Ideal aus, die Form ohne das Ideal wird zur sinnentleerten „protzende[n] Fassade“.396 Im Vorwort des die Tagung dokumentierenden Bandes hatte der Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft Berliner Schloss e.V. explizit vor der Gefahr des Fassa-
392 Vgl. Paulus 2008, S. 26 f. 393 Vgl. ebd., S. 33 f. 394 Ebd., S. 27. 395 Ebd., S. 30. 396 Vgl. ebd., 34 f.
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dismus gewarnt, da so „die äußere Gestalt der Fassade zur bloßen Kulisse“ verkomme.397 Um dies zu vermeiden, möchte er jedoch nicht nur die historische (bzw. symbolische) Bedeutung des Gebäudes hervorheben, sondern auch die Rekonstruktion der Innenräume forcieren.398 Fassadismus wird hier also auch zu einem ganz konkreten formalen Phänomen, das auch auf formalem Wege – nämlich einer Rekonstrutktion, die über die Fassade hinaus geht – gelöst werden kann. Auch der Kunsthistoriker Guido Hinterkeuser setzt sich in seinem Beitrag mit dem „Vorwurf des ‚Fassadismus‘“ auseinander, der seiner Meinung nach „zu Recht im Raum“ stehe.399 Dabei betont er, dass es sich bei einem Wiederaufbau nicht um ein Denkmal handeln könne, sondern um „eine materielle Hervorbringung unserer Zeit“400, die ihren Sinn lediglich durch eine Zuschreibung unserer heutigen Zeit erhält. Um dem Vorwurf des Fassadismus zu entkommen, hält es Hinterkeuser für ausschlaggebend, sich mit inhaltlichen – damit ideellen – Aspekten des Schlossbaus zu beschäftigen: „Diese inhaltliche Zuführung auf das Schloss – mithin auf das Eigentliche, auf das, was seit Jahrhunderten mit diesem Platz verbunden ist – kann in unterschiedlicher Form und Gestalt erfolgen.“401 Es gibt also ein ‚Eigentliches‘, mithin eine symbolische/ideelle Komponente, die durch den Schlossbau verkörpert werden soll. Dies kann sich (muss jedoch nicht) schließlich auch in einer möglichst genauen Rekonstruktion des Gewesenen äußern.402 Die äußere Form alleine ist also keine legitime Motivation für den Wiederaufbau eines Gebäudes, mithin auch nicht dessen empfundene Schönheit. Diese steht auch hier viel zu sehr unter dem Verdacht der oberflächlichen Ästhetisierung. Der Sinn des Wiederaufbaus speist sich stattdessen aus seiner Symbolhaftigkeit. Diesen Gedanken vertritt im selben Band auch Heinrich Magirius, der sich zwar für die Anerkennung gesellschaftlicher Wünsche nach Rekonstruktion ausspricht, jedoch davor warnt, sich dabei lediglich auf Äußerlichkeiten zu beschränken: „Sind die Anforderungen, die man heute an eine solche Imitation stellt, auf das äußere Bild beschränkt, sollte man auf diese besser ganz verzichten.“ 403 Der von ihm in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Imitation beschränkt sich für ihn, wie er davor ausführt, eben nicht nur auf die Äußerlichkeit des Gebäudes, sondern auch auf eine Wiedergabe des als wesentlich Identifizierten, ist also bereits das Ergebnis einer Interpretation:
397 Ebd., S. 9. 398 Vgl. ebd., S. 8 f. 399 Hinterkeuser 2008, S. 14. 400 Ebd., S. 13. 401 Ebd., S. 16. 402 Ebd., S. 17 f. 403 Magirius 2008, S. 60.
280 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Imitatio ist mit dem Stamm des Wortes Imago verwandt. Imitatio setzt den Glauben an ein Urbild und dessen Darstellbarkeit voraus. Ohne ein gewisses Maß von Idealismus können Nachbildungen nicht gelingen. Die anzustrebende Exaktheit ist durch keine Vorlage voll gedeckt. Es handelt sich weder um eine Replik noch Kopie, sondern um eine Schau von wesentlichen, als wichtig erkannten Grundzügen eines ehemals vorhandenen Bauwerks [Hervorhebungen im Original].“404
Diese Imitation kann sich demnach auch an der Form des gewesenen Objektes orientieren, geht aber in ihrer Konzentration auf das als wesentlich Empfundene darüber hinaus. Die „Symbolhafitgkeit ihrer Erscheinung“ stellte für Magirius rückblickend eine der stärksten Motivationen der Denkmalpflege dar, weswegen er dafür plädiert, dies auch weiter zu akzeptieren, auch wenn es sich auf den Wunsch nach der Imitation des Verlorenen bezieht.405 Dabei betont Magirius, dass dieser Wunsch demokratisch verankert sein müsse und dabei weder dem Willen Einzelner noch politischen Zwecken untergeordnet werden dürfe: „In einer demokratisch verfassten Öffentlichkeit ist das [die Wiedererrichtung eines Bauwerks] nicht die Verwirklichung eines Traums eines Einzelnen oder auf Diktat einer Regierung zu beziehen. Authentisch sind solche Rekonstruktionen nur, wenn größere Gruppen in der Gesellschaft vom Sinn ihres Ziels zu überzeugen vermögen.“ 406
Gefahr sieht er auch in einer zu starken finanziellen Abhängigkeit von einzelnen Geldgebern für solche Projekte, die eine potenziellen Vermarktung mit sich bringen kann und so die moralische Integrität der Vorhaben in Frage stellen: „Ohne negative Auswirkungen aber wäre es nicht, wenn das Image-Geschäft von Geldgebern die treibende Kraft für derartige Aktivitäten wäre. Der moralische, letzten Endes gesellschaftliche Ernst des Anliegens, seine Integrität würde beschädigt.“407 Tatsächlich ist dieser Vorwurf der Instrumentalisierung und Vermarktung einer der häufigsten innerhalb der Diskussionen um Rekonstruktionen und Wiederaufbau seit den 1990er Jahren und wird meist im Zusammenhang mit der Kritik an einer durch sie angestrebten oberflächlichen (und vermarktbaren), formalen Schönheit geäußert. Denn schließlich stellt sich die Frage, welche Ästhetik die Annahme eines symbolischen Werts mit sich bringt. Auch wenn sich die Protagonisten diesbezüglich bedeckt halten und lieber von der Sichtbarmachung des Symbolischen sprechen, so kann man doch davon ausgehen, dass diese Sichtbarmachung eine dem Symbol angemessene Form mit sich bringen sollte. Demnach würde das geistige 404 Ebd., S. 59. 405 Vgl. ebd., S. 56. 406 Ebd., S. 57. 407 Ebd., S. 63.
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Ideal auch nach einer idealen Form verlangen, womit wir uns einem klassischen Schönheitsideal annähern, dass sich zwar nicht auf die reine Form reduzieren lässt, wohl aber an Vorstellungen einer harmonischen Geschlossenheit und Ganzheit gebunden ist. Selbst wenn es sich um ein Symbol der Brüche und Unvollkommenheiten handeln sollte, so müssten doch auch diese, um ihre Symbolkraft voll entfalten zu können, möglichst in ihrer Reinform präsentiert werden. Die Hervorhebung des symbolischen Werts des Bauwerks – die sich wie dargestellt im Extremfall auch in der Totalrekonstruktion eines Bauwerks äußert – und die damit verbundene Denkmalästhetik der angestrebten Ganzheit stößt vor allem aus zwei Gründen auf starke Kritik. Da es sich bei dem symbolischen Wert immer um eine Zuschreibung handelt, stellt sich die Frage, wer und mit welcher Legitimation die Deutungshoheit über das Denkmal hat. Während Magirius hier von einem demokratischen und dadurch legitimierten Vorgang ausgeht, sehen andere Autoren diese Prozesse komplexer und auch kritischer. Insbesondere Instrumentalisierungen politischer und marktorientierter Art (Stichwort Stadtmarketing) spielen hier eine Rolle. Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auch auf die mit dem symbolischen Wert verbundene Ästhetik. Das Symbol, obwohl faktisch wandelnden Interpretationen unterworfen, wird dennoch von dem jeweils Interpretierenden als überzeitlich empfunden und bezieht daraus seinen Wert. Der damit einhergehende Wunsch nach Ganzheitlichkeit verwischt historische Spuren und stellt so das in Frage, was die Denkmalpflege als konstituierendes Element betrachtet, nämlich die Bewahrung des Historischen, das gerade nicht in der Zeitlosigkeit des Symbolischen zu finden ist, sondern seinen besonderen Wert aus seiner zeitlichen Gebundenheit bezieht. Eine Ästhetik, die die Visualisierung des Symbolischen zum Ziel hat, zerstört damit zwangsläufig Aspekte des Historischen und aus dieser Perspektive auch die auf dem Historischen basierende Wahrhaftigkeit des Denkmals. Innerhalb der Vorstellung vom Denkmal als Symbol ist die Wiederherstellung einer angenommenen Ganzheitlichkeit des Denkmals jedoch legitim. Diese wird jedoch meist nicht durch das Streben nach Schönheit begründet, sondern beruht auf dem Wunsch nach Wiederherstellung des intakten Symbols. Die Schönheit des Denkmals spielt also in den Argumentationen höchstens eine sekundäre Rolle, meist tritt sie aber tatsächlich lediglich als Kritik an der oberflächlichen Schönheit auf.
4.4 W AHRE W ÜNSCHE
UND FALSCHE
S CHÖNHEIT
In der jüngeren Geschichte der Denkmalpflege ist das Thema der Schönheit in diesem Sinne meist negativ besetzt. Der (angenommene) Wunsch nach Schönheit wird zum einen als gefährdend für das Denkmal in seiner historischen Substanz angesehen. Darüber hinaus wird der Wunsch nach Schönheit auch mit dem Wunsch nach
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Geschichtsschönung in Verbindung gebracht und im Zusammenhang mit zeitgenössischen Ästhetisierungsdebatten mit der Flucht vor der Wahrheit in eine schöne Scheinwelt.408 1975 verband der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Roland Günter den wahrgenommenen Wunsch nach Schönheit noch mit einer Kritik an der zeitgenössischen Stadt und sprach ihm so, wenn auch mit Einschränkungen, implizit eine gewisse Berechtigung zu: „Die Prunksucht des 19. Jahrhunderts hat den reinigenden Rigorismus der Zweckideologen herausgefordert, bis die Architektur keine Kunst mehr, sondern nur noch Technik war. Die Bautechnik hat die Städte von all jenem Überflüssigen leergefegt, von dem wir sprechen, wenn wir meinen, daß eine Stadt ‚schön‘ sei. Angesichts der Öde wird die Baukunst, die so heftig mit Zierat um sich warf, werden die überladenen Fassaden des 19. Jahrhunderts wieder ‚attraktiv‘. Denn oft haben die Städte außer diesen und ein paar reliquienhaften Baudenkmälern nichts anderes aufzuweisen. Öde macht selbst Kitsch zum Charakter; angesichts des Neutralen wird sogar das Häßliche schön, weil es sonst nichts gibt, was vom Zweckrigorismus befreien könnte.“409
Knappe zehn Jahre später betont Norbert Huse hingegen mögliche gesellschaftliche und politische Auswirkungen der Konzentration auf die Schönheit: „Sicherlich ist die schwärmerisch positive und meist nur ästhetisch begründete Bewertung alter Stadtstrukturen eine moderne Rückprojektion eigener Wünsche. Wenn dann die erst heute erfahrene ästhetische Harmonie auch noch als Resultat einer früher angeblich einmal existierenden sozialen Harmonie postuliert wird, ist der Weg von der rückwärts gewandten Utopie zum ideologischen Theorem nicht weit.“410
Hierbei handelt es sich also nicht mehr um die wertneutrale Feststellung eines Bedürfnisses nach Schönheit, sondern um dessen Ablehnung aufgrund befürchteter, damit einhergehender Tendenzen und aufgrund einer damit einhergehenden Verkürzung historischer Zusammenhänge. Diese Argumentation führt bereits in Richtung einer mit der Postmoderne einhergehenden Ästhetisierungskritik, wie sie sich seit den 90er Jahren durchsetzte. Wilfried Lipp zeichnet die Entwicklung der Denkmalpflege von den Einflüssen der Funktionalismuskritik über die Zeit der „Alleinherrschaft der historischen ‚Materia-
408 Über die der Ablehnung der Schönheit ebenfalls zugrunde liegenden Abgrenzungsmechanismen s. Kapitel 5.2.1.2. 409 Günter et al. 1975, S. 45. 410 Huse 1996, S. 213.
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lität‘“411, die er noch Anfang der 90er Jahre gegeben sieht, und versucht, die Denkmalpflege in Beziehung zu aktuellen, postmodernen Vorstellungen in (teilweise kritischen) Bezug zu setzen, wobei er auch den Punkt der „Ästhetisierung“ hervorhebt.412 Dabei untersucht er die Rolle der Denkmalpflege in einer zunehmend auf Bildlichkeit zielenden Gesellschaft. Während die Denkmalpflege in den 60er und 70er Jahren auch über ein ästhetisches Gegenbild verfügte, das „alles Historische aus ihrem Kanon ausschloß, und so zum Reservoir gerade dessen“ wurde, „was der (damaligen) Gegenwart nicht glich“, führe die „gesellschaftliche Apperzion des Geschichtlichen vielfach in ein Puzzle von ‚ironisch‘ oder ‚mythisch‘, ‚simulativ‘ oder ‚kreativ‘, ‚geschönt, ‚gestylt‘, oder sonstwie ‚designed‘ geladene[n] Bilder[n]“.413 In diesem Kontext interpretiert Lipp auch restauratorische Methoden die beispielsweise verschiedene Zeitschichten nebeneinander konservieren. Der Gewohnheit oder auch dem daraus resultierenden Verlangen nach ständig wechselnden Bildern entspricht demnach eine Ästhetik die verschiedene historische Zustände nebeneinander sichtbar macht und so die „Diskontinuität eines Wandels, der zwischen den verschiedenen Positionen hin und her ‚springt‘“ verdeutlicht. 414 Gleichzeitig sieht er im „‚artistische[n]‘ Umgang mit Historie […] auch de[r]n Versuch, dem ‚Zeitdruck‘ von Vergangenheit und Zukunft zu entkommen“, wodurch er innerhalb der Theorie der Ästhetisierung in die Nähe von anderen alltagsästhetischen Phänomenen wie Werbung oder Mode rückt.415 Neben diesen auf Zerstreuung abzielenden Komponenten beobachtet Lipp zu Beginn der 90er Jahre jedoch auch ein Zurück zu den „alten Fragen“ der Denkmalpflege, in dem, wie oben beschrieben, im Zusammenhang mit den politischen Umbrüchen auch das Denkmal als Symbolträger, als nationales Symbol oder als „Brutstätte des Mythos“ wieder stärker hervortritt. 416 Zusammenfassend stellt er daher die Ambivalenz der Denkmalpflege Anfang der 90er fest: „Denkmalbegriff und gesellschaftliche Denkmalauffassung rotieren gewissermaßen zwischen einer ‚Poetik der Leichtigkeit‘ [Stierle, 1991] und der
411 Vgl. Lipp 1993, S. 19. 412 Ebd., S. 19 f. 413 Ebd., S. 22. 414 Vgl. ebd., S. 22 f. Interessanterweise kritisiert Georg Mörsch in einem vier Jahre früher entstandenen Text gerade die Harmonisierung der Gesellschaft durch eine harmonische Ästehtik – und stellt damit im Grunde das Gegenteil der von Lipp geschilderten Beobachtungen fest. Ästhetische Fragmentierung und Harmonisierung gingen demnach Hand in Hand und wären evtl. als zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten (vgl. Mörsch 1989b, S. 107). 415 Vgl. ebd., S. 23. 416 Vgl. ebd.
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‚Schwere des Mythos‘, zwischen der Beliebigkeit des Accessoires und der Unverzichtbarkeit grundlegender Werte […]“.417 Wenn man diesen Gedanken Lipps folgen möchte, so ließe sich die These aufstellen, dass die ‚Schwere des Mythos‘ in der weiteren Entwicklung gegenüber der ‚Poetik der Leichtigkeit‘ an Bedeutung gewann, was sich auch in den ästhetischen Leitbildern widerspiegelt (Geschlossenheit statt Fragmentierung). Dies lässt sich am Beispiel der öffentlichen Debatte um die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses exemplarisch nachvollziehen. Im Gegensatz zum oben dargestellten fachlichen Diskurs spielt das Thema der Schönheit hier in der öffentlichen Debatte durchaus eine Rolle. Werner Sewing fasst 2006 rückblickend die Debatte um die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses als ‚Schönheitsdebatte‘ zusammen, die Anfang der 2000er Jahre ihren Ausgang nahm. 2002 sprach sich auch der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Klaus-Dieter Lehmann für eine Rekonstruktion aus, „da er erkannt habe, dass es sich um eine ästhetische Entscheidung handele“.418 Auch der damalige Kanzler Gerhard Schröder befürwortete die Rekonstruktion des Schlosses 1999 in einem Interview „einfach, weil es schön ist“.419 Der Journalist Florian Illies sprach sich für eine Rekonstruktion der Fassaden aus, da er darin eine „Befreiung der Ästhetik aus der Umklammerung der Moral“ sah.420 Dieser „Sehnsucht nach Schönheit“ steht Sewing jedoch kritisch gegenüber, da er sie für lediglich vordergründig hält. Dies sieht er durch die sich anschließenden Debatten um ein Bundesland Preußen und die Erneuerung preußischer Werte und Moral belegt.421 Im Grunde ging es nach seiner These also auch um den symbolischen Wert des Objekts, der jedoch stellvertretend über ästhetische Wege kommuniziert wurde. Dieser Meinung schließt sich Florian Illies in einem Artikel aus dem Jahr 2010 an, in dem er die Debatte rückblickend noch einmal bewertet und sich auch kritisch mit seiner eigenen Position auseinandersetzt: „Wir Befürworter des Stadtschlosses haben uns geirrt. Wir verwechselten die Notwendigkeit der Debatte über eine zeitgemäße Verankerung der Berliner Republik in der Geschichte mit der Notwendigkeit, das gesprengte Stadtschloss von Schlüter wieder aufzubauen. […] Und es ging in den neunziger Jahren um eine Befreiung der Ästhetik aus der Umklammerung der Moral – er fände es ‚schön‘, auf das Schloss zu blicken, sagte Gerhard Schröder seinerzeit. Das war mentalitätsgeschichtlich ebenso gewagt wie die Agenda 2010. Gemeinsam mit Michael Naumann stand Schröder dafür, dass das Schloss ‚ein Sieg der Schönheit über die Tristesse‘ sei und ‚die manifeste Sehnsucht nach einem historischen Identifikationspunkt‘. So 417 Ebd. 418 Vgl. Sewing 2006, S. 50 f. 419 Zit. nach Holfelder 2008, S. 89. 420 Illies in einem Artikel der FAZ 2002, zit. nach Sewing 2006, S. 50 f. 421 Vgl. ebd.
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richtig diese Symbolpolitik zur Zeit der Jahrhundertwende war, als es darum ging, ein durcheinandergewirbeltes Land neu zu verwurzeln, so überflüssig erscheint sie heute.“ 422
Die Suche nach Schönheit und die Suche nach einem neuen Identifikationspunkt, der sich in dem Symbol des Schlosses manifestieren sollte, verliefen also parallel zueinander, stellen für Illies rückblickend aber zwei unterschiedliche Aspekte dar, die voneinander getrennt hätten werden sollen. Stattdessen vermischten sich symbolische und ästhetische Aspekte, wie auch Werner Sewing rückblickend feststellt: „Auch wenn das Strohfeuer im Feuilleton schnell wieder erstickte, scheint nun die Kategorie der Schönheit die alte schillernde Rolle in einem konservativen Werteund Tugendkanon wiederzugewinnen.“423 Sewing sieht hier auch für öffentliche Debatten einen Wendepunkt erreicht was den Umgang mit dem Thema ‚Schönheit‘ angeht. Die damit verbundene Einstellung, die den „traditionellen Schönheitsbegriff“ als „antimodernen Kampfbegriff“ nutzt, vermische dabei populäre Schönheitsvorstellungen mit „einer neuerlichen fundamentalistischen Tendenz, für die das Schöne, Wahre und Gute wieder das einheitliche Weltbild begründen, das im Rückgriff auf die Klassiklegende sich den Zersetzungen einer reflexiven Moderne entgegenstellt.“424 Die wahrgenommene neue Popularität des Schönen wird also kritisch beobachtet – und zwar diesmal nicht aufgrund einer angenommenen falschen Oberflächlichkeit, sondern aufgrund der Verbindung dieser Schönheit mit den falschen Werten. Diese neue – potenziell ideologische – Thematisierung von Schönheit hatte auch Auswirkungen auf den denkmalpflegerischen Diskurs zu dem Thema. Ingrid Scheurmann macht Anfang des neuen Jahrtausends die Beobachtung, dass das Schöne gegenüber der Geschichte an Bedeutung gewinne, was sie mit der Virtualisierung und Kommerzialisierung der Welt in Verbindung bringt. Dabei charakterisiert sie das Schöne als das „technisch Perfekte und Glatte, das Harmonische und Kostbare“, das sich „vor die Wahrnehmung des Wahren und Echten [drängt] – ein Rezeptionsprozess, der es Differenzierungen und Zwischentönen, dem Mängelbehafteten und Sperrigen, aber auch den Bauten der Moderne schwer macht, die nöti422 Illies, Zeit-online, 10.06.2010, http://www.zeit.de/2010/24/Berliner-Stadtschloss (Zugriff 09.07.2014) 423 Sewing 2006, S. 51. Sewing bringt dies auch mit Schillers Gedanken zur ästhetischen Erziehung des Menschen zusammen, indem der „klassizistische Gedanke einer inneren Versittlichung des Menschen durch die Schönheit an die Konvention der baulichen Ordnung gebunden werde[n]. Geschmack, so Friedrich Schiller 1795, bringt Harmonie in die Gesellschaft, indem er Harmonie in den Individuen stiftet.“ Es scheint mir jedoch den Schillerschen Gedanken nicht gerecht zu werden, wenn man seine Ansichten auf Betrachtungen zur äußeren Form reduziert (s. ausführlich dazu Kapitel 5.1). 424 Vgl. ebd., S. 50.
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ge Aufmerksamkeit zu finden.“425 Scheurmann sieht in dieser Ablehnung der Disharmonie und in der damit verbundenen „harmonieträchtige[r]n Selektion der Geschichte“ ähnlich wie Huse zuvor eine gesellschaftliche Flucht in eine vermeintlich harmonische Geschichte, die insbesondere in Umbruchszeiten zu beobachten sei: „Als Balsam für die Seele offeriert das inszenierte Historische seinen kostspieligen Trost. Denkmale fungieren dabei von Fall zu Fall als Vermittler, oft genug aber stört an ihnen das Nicht-Angepasste, Nicht-Kommensurabel, das Nicht-Schöne.“426 Die Vorstellungen vom historisch Echten würden in diesem Zusammenhang (stadt)kommerziellen Interessen geopfert. Diese „Realität nüchterner kommerzieller Strategien“ stehe dabei in Kontrast zu den „bildhafte[n] Assoziation von Gemeinschaftlichkeit und Harmonie“.427 Für die Denkmalpflege werden solche Entwicklungen als gefährdend angesehen, da sie im Verdacht stehen, ästhetische Ansprüche zu schüren, die Denkmale oft nicht in der Lage zu erfüllen sind. Die Existenz des Wunsches nach harmonischer Schönheit ist allgemeiner Konsens. Für die (fachliche) Reaktion und den Umgang mit diesem Wunsch stellt sich jedoch die grundlegende Frage, ob es sich hierbei um ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen handelt, dass als solches ernst zu nehmen ist, oder ob es um die Verwirklichung (kommerzieller, ideologischer) Interessen Einzelner oder bestimmter Gruppen geht, die zwar einen Teil der Gesellschaft ausmachen, jedoch nicht als repräsentativ zu betrachten sind. Wolfgang Pehnt geht von ersterem aus und plädiert in diesem Zusammenhang für eine kritische Auseinandersetzung mit den Wünschen der Bevölkerung: „Zweifellos würde sich bei entsprechender Fragestellung eine große Mehrheit der Bevölkerung für fast jede Wieder-Holung des Vergangenen aussprechen. Diese Ausflüge ins Vergangenheitsland muss man ernst nehmen. Die Mehrheit muß nicht recht haben, nur weil sie die Mehrheit ist; Kunstfragen sind nicht abstimmungsfähig. Aber gewiss gibt es Gründe, auch in der Architektur manchmal nicht alles zu wollen, was eine fachkundige Minderheit der Mehrheit empfiehlt.“428
Es geht bei der ‚Flucht‘ in eine harmonische Geschichte also nicht nur um Ästhetik, sondern auch um gesellschaftliche Sehnsüchte. Dabei spricht Pehnt bewusst von „Vergangenheitsland“, geht es doch nicht um tatsächlich stattgefundene Geschichte sondern um Vorstellungen von Vergangenheit. Diese müssen nicht zwangsläufig 425 Scheurmann 2006, S. 97 f. 426 Ebd., S. 99. 427 Vgl. Scheurmann 2008, S. 147. 428 Pehnt 2009, S. 56. Dennoch ist auch Pehnt dafür, bei bestimmten Phänomenen, wie beispielsweise Rekonstruktionen, als Denkmalpfleger eine klare, fachliche Position zu vertreten – was sich nicht ausschließt.
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mit historischen Fakten übereinstimmen. Diese Entfernung von historischen Fakten hin zu einer Interpretation von Geschichte stellt schließlich einen der Hauptkritikpunkte seitens der Denkmalpfleger dar. 429 Insbesondere in den Konsequenzen für den praktischen Umgang mit Gebäuden – der im Extremfall auch die Rekonstruktion beinhalten kann – werden durch die Konzentration auf einzelne, hervorzuhebende Elemente, interpretierende Schwerpunkte in der Geschichtsrezeption gesetzt, bei denen es sich um mehr oder weniger bewusste oder gezielte Konstruktionen von Geschichte handelt. Dies führt zu einer sowohl moralischen als auch ästhetischen Ablehnung solcher Eingriffe. Winfried Nerdinger plädiert in seiner Einführung zur Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte, die 2010 in München stattfand, für eine Differenzierung moralischer Bewertungen von „Wiederherstellungen“ 430: „Eine moralische Wertung von ‚Nachahmung‘ ist nur dann sinnvoll, wenn jemand mit Absicht getäuscht werden soll, um einen Vorteil zu erreichen, und wenn dem jeweiligen Original eine Wahrheit zugeschrieben wird, die nur ihm zukommen soll und deshalb jede Form von wiederholender Nachahmung geradezu als unmoralischer Vorgang abgewertet wird; […].“431
In diesem Zusammenhang war es das erklärte Ziel der erwähnten Ausstellung und der begleitenden Publikation, „das umstrittene Thema der Rekonstruktion aus oftmals fixierten Denkmustern in einen offenen, differenzierten Diskurs zu führen“, damit „Leitbilder und Prämissen wie auch Dogmen und Feindbilder der aktuellen Diskussionen im Kontext der geschichtlichen Zusammenhänge erneut reflektiert werden können“.432 Einen ersten Schritt dazu sieht Nerdinger in einer sprachlichen 429 Vgl. dazu beispielsweise Falser 2011b, S. 218. 430 In ihrem Vorwort äußern sich die beiden Herausgeber des Bandes, Uta Hassler und Winfried Nerdinger, zu der von ihnen verwendeten Terminologie. Um das Themenfeld möglichst offen und neutral zu halten, entschieden sie sich dabei bewusst für den weitgefassten Begriff der „Wiederherstellung“ (vgl. Hassler und Nerdinger 2010, S. 6). Diese Terminologie wird von Michael Falser in seiner 2011 im Band Denkmalpflege statt Attrappenkult abgedruckten Ausstellungskritik negativ hervorgehoben, da sie dazu führe, unterschiedliche Phänomene wie die Totalrekonstruktion eines völlig verlorenen Bauwerks und „alle anderen Arten von denkbaren Wiederherstellungen“ undifferenziert nebeneinander zu stellen und so den jeweiligen Sachverhalt zu verkürzen (Falser 2011, S. 206 f.). 431 Nerdinger 2010, S. 10. 432 Hassler und Nerdinger 2010, S. 6. Die nicht geringe Kritik an der Ausstellung wurd teilweise bereits erwähnt. Michael Falsers oben zitierte Besprechung bemängelte unter anderem auch die einseitige Selektion und Darstellung der gezeigten Projekte, die dazu führe, dass dem Besucher eine bestimmte Meinung oktroyiert würde, nämlich die Mei-
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Differenzierung: „Eine Kopie ist kein Betrug, ein Faksimile keine Fälschung, ein Abguss kein Verbrechen und eine Rekonstruktion keine Lüge.“ 433 Vorrangig sieht er den Wunsch nach Wiederaufbauten in einem Bedürfnis nach Erinnerung begründet. Die Wahrhaftigkeit und Originalität der Substanz sei dafür nicht zwingend notwendig.434 Um dem Vorwurf der Lüge und bewussten Täuschung dabei aus dem Weg zu gehen, setzt er auf Kommunikation: „Wer die Hinweise nicht sieht oder wer glaubt, die Altstädte von Warschau […], Danzig, Breslau und Posen seien ‚historisch‘, der wird nicht getäuscht, sondern ist zu wenig informiert.“ 435 Dagegen legt Aleida Assmann jedoch im gleichen Band dar, wie schwierig es ist, diese Informationen durch ständigen Austausch präsent zu halten: „Nicht selten verwandeln sich Rekonstruktionen im Bewusstsein der Bevölkerung zurück in ‚Originale‘, wie es etwa mit der Münchner Innenstadt oder der Semper-Oper in Dresden […] geschehen ist. Die Generationen, die darum wussten, sterben aus; die Gebäude authentifizieren sich durch die Zeit von selbst.“436
Dieser Frage nach den sozialen Mechanismen widmet sich auch Gabi DolffBonekämper in ihrem Beitrag zum bereits erwähnten Band Denkmalpflege und Attrappenkult. Dort führt sie aus, dass schon der Begriff der Rekonstruktion auf die „gesellschaftliche Sinnzuweisung, die soziale ‚Bedeutungs-Konstruktion‘, die ihm zuteil wird“, verweise.437 Diese Sinnzuweisung wird dabei immer von der zuvor dagewesenen abweichen und zwar unabhängig vom Grad der formalen Ähnlichkeit. Genauso verhält es sich andersherum: „Die soziale Identifikation des Ersatzes mit dem Ersetzten hängt zwar mit dem erreichten Grad formaler Gleichheit zusammen,
nung, dass Rekonstruktionen ein normaler Bestandteil der Baukultur seien und dass überdies eine „Tradition namens Rekonstruktion“ erfunden würde, die so nicht existiere (vgl. Falser 2011, S. 206 und 218). Die hohe Anteilnahme, mit der diese Position, ebenso wie die darauf antwortende und im Rahmen der Buchpräsentation öffentlich verlesene Stellungnahme Nerdingers, aufgenommen wurde, unterstreicht den starken emotionalen Aspekt, der in diesem Kontext nach wie vor eine große Rolle spielt. 433 Ebd., S. 10. 434 Vgl. Ebd., S. 11. 435 Ebd., S. 10. 436 Assmann 2010, S. 16. Diese Beobachtung machte auch Gerhard Vinken in seiner schon erwähnten Arbeit zur Altstadt. Dort stellt er fest, dass auch die vielen Rekonstruktionen die dem Konzept der Altstadt inhärente Authentizitätsbehauptung nicht stören können (vgl. Vinken 2010, S. 10). 437 Dolff-Bonekämper 2011, S. 136.
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aber sie hängt nicht ausschließlich von ihm ab.“ 438 Die neue soziale Bedeutung kann alle Facetten der ursprünglichen Bedeutung des Gebäudes selbst, des Verlustes und des Wiederaufbaus beinhalten: „In die neue soziale Bedeutungskonstruktion werden also nicht nur die sozial überlieferten mannigfaltigen Werte des Alten sowie die Umstände seines Verlorengehens eingehen, sondern auch die erhofften oder versprochenen sozialen und ästhetischen Werte des neuen Alten und die Umstände seiner Beschaffung. Man hat also bei der Rekonstruktion eines verlorenen Baudenkmals nicht nur mit formalen Differenzen, sondern auch mit Bedeutungsdifferenzen zu rechnen.“439
Dabei hält sie es für wenig sinnvoll, dem Wunsch nach der Wiederbeschaffung des (ehemals) Wertgeschätzten „durch fachliche Hinweise der Unwiederbringlichkeit des historischen Originals und auf zu erwartende formale Differenzen zwischen dem letzteren und dem angestrebten ‚Wieder‘-Aufbau, der doch materiell unbedingt ein Neubau sein wird“ zu begegnen.440 Stattdessen regt sie an, „gewissermaßen in umgekehrter Perspektive die ohnehin unvermeidliche formale und semantische Abweichung als Herausforderung zu betrachten und kulturell produktiv zu machen.“441 Für Dolff-Bonekämper bilden also soziale Wünsche und Bedürfnisse die Grundlage für Rekonstruktionsbestrebungen. Damit setzt sie sich von den um Rekonstruktionen kreisenden Ästhetisierungsdebatten ab. Im Mittelpunkt steht die Annahme eines – oder verschiedener – Sinnzuschreibungen, die zwar variabel und divergierend, jedoch nicht willkürlich austauschbar sind. Dies kann jedoch nur funktionieren, wenn sie auch als solche diskutiert werden und eben nicht auf formalästhetische Aspekte verkürzt werden: „Denn Formgleichheit als solche gibt noch keinen Sinn.“442 Gerade die starke Konzentration auf äußere formale Aspekte und die mangelnde Auseinandersetzung mit möglichen Bedeutungsebenen kritisiert Adrian von Buttlar in der gleichen Publikation scharf. Dort bezeichnet er die „Totalsurrogate“ der Rekonstruktionen als „geschichts-, kunst- und denkmalfeindlich“ und geht dabei insbesondere auch auf den Aspekt der Kunstfeindlichkeit ein: „Kunstfeindlich, weil sie ohne zwingenden Konnex zwischen Form und Bedeutung, Funktion und Gestalt, Konstruktion und Materialität, Innen und Außen, Anspruch und Nutzung nur 438 Ebd. Als Beispiele nennt sie hier den Prinzipalmarkt in Münster und die Pinakothek in München. 439 Ebd., S. 136 f. 440 Ebd., S. 136. 441 Ebd., S. 137. 442 Ebd., S. 146.
290 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE schöne Oberfläche reproduzieren und dadurch ihre historischen Vorbilder nicht ehren sondern ad absurdum führen.“443
Das Künstlerische definiert sich für von Buttlar also in der Verbindung von äußerer Form, Funktion und Bedeutung. Damit nähern wir uns auch wieder dem klassischen Schönheitsideal an, dass sich eben nicht auf rein formale Aspekte reduzieren lässt, sondern für das eine darüber hinausgehende Bedeutung (Idee) konstituierend ist. Obwohl die Rekonstruktion mit ihrer Fassadengestaltung durchaus nach Schönheit strebt, kann sie diese doch nicht erreichen, solange sie diese nicht mit inhaltlichen, sinnstiftenden Aspekten zu füllen vermag. Neben dem Aspekt der Kunstfeindlichkeit geht von Buttlar auch auf die negativen Auswirkungen von Rekonstruktionen auf das Geschichtsbewusstsein und Denkmalverständnis ein. Ähnliches hatte Georg Mörsch schon 1997 in seinem Aufsatz Rekonstruktion zerstört festgehalten, in dem er darlegt, dass das der Rekonstruktion zugrunde liegende „optische Harmoniebedürfnis“ in der Praxis negative Auswirkungen auf den Umgang mit der vorhandenen Denkmalsubstanz habe. 444 Dahinter stünde als Motivation „meistens […] dünne Nostalgie, hohles Pathos, Wahltaktik und Geschichtsklitterung.“445 Hier ist also nicht von divergierenden Sinnzuschreibungen die Rede, sondern abwertend von mangelnder Tiefe der Auseinandersetzung bis hin zum Vorwurf der Instrumentalisierung. Insbesondere letzteres kommt im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Ästhetisierung des Lebensraums häufig zu tragen. Udo Mainzer klagt in diesem Zusammenhang 2010 über eine zunehmende Kommerzialisierung der Innenstädte, die sich dabei ästhetisch alter Formensprache bediene.446 Die Form diene nur noch als kaschierendes Kostüm für die manipulativen Interessen des Marktes. Johannes Habich geht in dieser Betrachtungsweise noch weiter, indem er darin das Ergebnis eines ganzen gesellschaftlichen Systems sieht, dass sich den Gesetzen des liberalen Marktes verschrieben hat:
443 von Buttlar 2011, S. 170. 444 Vgl. Mörsch 2005d, S. 71. 445 Ebd., S. 74. In seinem Beitrag zum Band Denkmalpflege und Attrappenkult knüpft er an diese Gedanken an und differenziert sie weiter. Rekonstruktion zerstört demnach nicht nur ganz direkt das gebaute Denkmal sondern auch allgemein die Wirkung von Denkmalen in ihrer Vielschichtigkeit, „weil es das potenzielle Gegenüber des Denkmals, seine konstituierende, sinnstiftende Öffentlichkeit, mit dem vordergründigen Erfolg einer Rekonstruktion davon abbringt, sich dem Denkmal in seiner ganzen Wirklichkeit zu widmen.“ Mörsch 2011, S. 20. 446 Mainzer 2010, S. 195.
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„Systemimmanent werden städtebauliche und kulturelle Opfer, die der neoliberale Marktglaube nun einmal fordert, kompensiert und das in einer Weise, die gnadenlos marktstrategisch genutzt wird, so lange wie sich die Nachfrage nach nostalgischem Augentrost aufrecht erhalten lässt.“447
Die „Rekonstruktionswelle“ hängt demnach mit „einer von neubürgerlichen Interessen gelenkten gesellschaftlichen Weichenstellung zusammen […], die sich zugleich marginalisierend auf die staatlichen und kommunalen Institutionen der Denkmalpflege auswirkt […].“448 Durch diese Marginalisierung der staatlichen Denkmalpflege sieht er gleichzeitig die Gefahr der Manipulierbarkeit von Erinnerungskultur, insbesondere da er „die Herstellung von Symbolen kultureller und nationalpolitischer Identität“ als weitere Antriebskraft hinter Rekonstruktionsvorhaben identifiziert.449 Als Initiatoren bzw. Hauptakteure auf diesem Gebiet sieht er vor allem „nicht wenige Vertreter der ‚politischen und geistigen Elite‘“ und ruft zu einem „intellektuellen Widerstand“ auf.450 Was Habich hier beschreibt, ist eine Ästhetisierung des Stadtraums durch Rekonstruktion unter Verwendung all der Argumente die klassischerweise im Rahmen der Ästhetisierungskritik verwendet werden. Dabei spielt insbesondere der Gedanke der Zielgerichtetheit bzw. Instrumentalisierung eine Rolle. Ute Kösser versteht unter Ästhetisierung, „dass mit ästhetischen Strategien in Bereichen gearbeitet wird – Politik, Wirtschaft, Geschichte, Wissenschaft, Leben – , die sonst primär [Hervorhebung im Original] nicht ästhetischer Gestaltung unterliegen, dass ästhetische Strategien des Schönen, Erhabenen, Hässlichen, Komischen usw. in diesen Bereichen um einer bestimmten Wirkung willen angewandt werden.“451 Stadtgestaltung als solche ist natürlich keine unästhetische, ungestalterische Aufgabe. Wenn die Motivation zur Gestaltung jedoch, wie von Habich festgestellt, über diese hinaus andere gesellschaftliche Interessen verfolgt, handelt es sich dabei demnach um einen ästhetisierenden Eingriff. Ästhetisierung wird dabei als Kompensationsangebot zu gegenwärtigen Zuständen verstanden452, ebenso wie die Rekonstruktion als Kompensation von (unerfüllten) Wünschen nach Harmonie und Ordnung betrachtet wird. Der Sinn von Ästhetisierungsvorgängen ist dabei das Wecken angenehmer Empfindungen beim Subjekt, was jedoch nicht zweckfrei stattfindet, sondern mit dem Ziel, die über die positive Emotionalisierung erreichte Identifikation des Subjekts mit dem ästhetisierten Objekt zu
447 Habich 2011, S. 14. 448 Ebd., S. 12. 449 Vgl. ebd., S. 12 ff. 450 Vgl. ebd. 451 Kösser 2006, S. 454. 452 Vgl. ebd., S. 463. f.
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nutzen.453 Damit handelt es sich bei der Ästhetisierung um einen bewussten Vorgang, die Ästhetisierung braucht quasi einen ‚Ästhetisierer‘, der ein bestimmtes Ziel vor Augen hat. Eben dieser wird von Habich durch den Markt bzw. Teile der politischen Elite verkörpert. Michael Falser spricht in diesem Zusammenhang von einer „Rekonstruktionslobby“, die sich aus „finanz- und medienstarker Industrie und Wirtschaft“ zusammensetzt und die sich, obwohl sie sich volksnah gibt, längst vom sich beteiligenden Bürgertum entfernt habe.454 Die staatliche Denkmalpflege ermutigt er, sich stärker als Gegenpol zu diesem Phänomen zu etablieren und verweist dabei auf ihre Geschichte: „Als Denkmalpfleger mit handfester Verweigerungshaltung vom ‚Establishment‘ noch in ein und denselben ideologischen Sack mit Hausbesetzern und Demonstranten gesteckt wurden, ging es ihnen nicht nur um Fassadenkosmetik, sondern um die integrale Verteidigung des sozialverträglichen Innenlebens jener Architekturen […].“455
Der Denkmalpfleger wird so – ganz im Sinne Habichs – zum intellektuellen Widerständler gegen ein politisches und gesellschaftliches Establishment. Als Hintergrund dieser Zustandsbeschreibung dient Falser der von Adorno und Horckheimer 1947 in ihrer Dialektik der Aufklärung geprägte Begriff der Kulturindustrie, den diese damals bewusst als Gegenkonzept zur ‚Massenkultur‘ etablierten, um zu verdeutlichen, dass es sich dabei eben um kein sich von unten nach oben bewegendes, also vom Volk, von der Masse ausgehendes Phänomen handle, sondern im Gegenteil um ein von oben gesteuertes.456 Falser sieht darin eine direkte Parallele zu heutigen Rekonstruktionsvorgängen: „Dieser damals bewußt vollzogene Begriffswechsel paßt geradezu ideal zum Problem der Rekonstruktion: Auch die Befürworter von Rekonstruktionen aus dem höchst konservativen Bürgertum mit oftmals sehr guten Verbindungen zu Politik und Wirtschaft versuchen ihre eigenen handfesten Interessen als aus der breiten Bevölkerung selbst formuliertes Anliegen auszugeben. Tatsächlich ist bisher kaum ein Rekonstruktionsvorhaben auf demokratischem Wege entstanden.“457
453 Vgl. ebd. 454 Vgl. Falser 2011a, S. 94 f. Falser stellt hier die (nicht weiter belegte) These auf, dass die heutigen Rekonstruktionsvereine „längst keine realen Bürgerinitiativen mehr“ seien und spricht ihnen damit auch jegliche bürgerschaftliche Legitimation ab. 455 Ebd., S. 93. Falser verweist in diesem Zusammenhang auf die behutsame Stadterneuerung Bolognas in den 70er Jahren. 456 Vgl. Falser im Einleitungstext zu Adorno 2011, S. 102. 457 Ebd.
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Da das kulturindustrielle System die Massen umstellt 458, ist der auf Individualität bauende Mensch bemüht, seine Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen. Darin sieht der Soziologe Frank Illing vor allem die Strategie begründet, „nach Anzeichen und Resten des Besseren oder ‚Subversiven‘“ zu suchen, „das sich der kulturindustriellen Zurichtung erfolgreich entziehen konnte. Maßgeblich sind die von Adorno selbst geprägten Kriterien: Authentizität, Eigensinn – all das also, was sich nicht auf vorgeprägte Formeln bringen lässt […]“.459 Adornos Thesen werden von Illing als Zustandsdiagnosen betrachtet, denen gegenüber verschiedene Verhaltensmuster entwickelt werden können: „Aus konservativ-elitärer Sicht lässt sich das Publikum der Kulturindustrie einfach als dumm und ungebildet erklären, mit der Konsequenz, dass auf kulturellem Gebiet dieselbe Hierarchie entsteht, die die soziale Ordnung kennzeichnet und diese so zugleich legitimiert wird. Aus pädagogisch-reformerischen Motiven heraus liegt es nahe, das Publikum der Kulturindustrie zu erziehen, um es zu einem anderen Umgang mit Kultur zu befähigen […]. Aus marktliberaler Sicht werden die beschriebenen Tendenzen nicht negativ gesehen, sondern die Kulturindustrie wird so akzeptiert, wie sie ist, weil die Mehrheit deren Produkte eben ‚gewählt‘ habe.“460
Die Theorie der Kulturindustrie geht von einem relativ statischen und hierarchisch geprägten Gesellschaftssystem aus, in dem Inhalte wie Wissen, Werte und Geschmack linear (und zwar meist von oben nach unten) verbreitet werden. Alternativ dazu kann man das System der Kulturindustrie jedoch auch als eine viel umfassendere „fugendichte Verblendung“ verstehen, 461 die es versteht, auch ihre Kritiker zu absorbieren und unabhängig von einzelnen Akteuren sich in einer Art folgeschwerem Perpetuum Mobile ständig fortschreibt und dadurch auch ständig weiter verfestigt. In diesem Zusammenhang wird auch die Systemkritik Teil des kritisierten Systems.462 Als Indikator für eine Unabhängigkeit vom System der Kulturindustrie lässt Adorno lediglich das Scheitern gelten, Rebellion ist damit nur außerhalb dessen möglich, was als Gesellschaft empfunden wird, da die Kulturindustrie die gesamte Gesellschaft betrifft: „Wer sich nicht ruinieren will, muß dafür sorgen, daß er, nach der Skala dieses Apparats gewogen, nicht zu leicht befunden wird. Sonst kommt er im Leben zurück und muß schließlich zu Grunde gehen. Daß in jeder Laufbahn […] fachliche Kenntnisse mit vorschriftsmäßiger 458 Vgl. Adorno 2011, S. 103. 459 Illing 2006, S. 114. 460 Ebd., S. 112. 461 Vgl. Henning 2011, S. 284. 462 Vgl. Adorno und Horkheimer 1969 S.128 f.
294 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE Gesinnung in der Regel verbunden sind, läßt leicht die Täuschung aufkommen, die fachlichen Kenntnisse täten es allein. In Wahrheit gehört es zur irrationalen Planmäßigkeit dieser Gesellschaft, daß sie nur das Leben ihrer Getreuen einigermaßen reproduziert. Die Stufenleiter des Lebensstandards entspricht recht genau der inneren Verbundenheit der Schichten und Individuen mit dem System.“463
In Anwendung auf Rekonstruktionsdebatten wäre also auch die Denkmalpflege mit ihrer ausgeübten Kritik ein kalkulierter Bestandteil der Kulturindustrie, die dem System durch ihre „realitätsgerechte Empörung“ zuarbeitet. Insgesamt stellt die Theorie der Kulturindustrie somit aber auch eine gedankliche Sackgasse für denkmalpflegerische Überlegungen im Kontext der Rekonstruktions- und Ästhetisierungsdebatte dar. Der Rückzug in ein hierarchisch geprägtes Weltbild, in dem der Denkmalpfleger als aufklärende Instanz im Dienste der Wahrheit agiert, scheint zumindest schwierig. Gerade in einer Differenzierung des Weltbildes sieht Uta Kösser gleichzeitig auch einen der Gründe für den Verlust der Schönheit als Wertkategorie: „Wenn das Schöne von der Ordnung der Welt, von Harmonie, von Übereinstimmung, von Vollkommenheit oder Ausgewogenheit kündet, dann muss das Schöne in einer sich differenzierenden Welt, die nur noch kontingent erfahren wird, als zentrale Kategorie verloren gehen.“464 Stattdessen wird das Schöne nicht mehr als Ausdruck von Werten wie Moral und Wahrheit gesehen, sondern wird bewusst von diesen abgegrenzt465 und teilweise, im Rahmen der Ästhetisierung, auch als deren Negativbild gesehen. Wie gezeigt wurde hatte diese Entwicklung auch Auswirkungen auf den Umgang mit dem Schönen innerhalb der Denkmalpflege. Die Kritik bezieht sich dabei meist auf ein ganz konkretes Schönheitsideal – dem der harmonischen Schönheit und Ganzheitlichkeit – und stellt dieses in Frage. Dabei wird häufig die Befürchtung geäußert, dass in dem Wunsch nach harmonischer Schönheit auch Bestrebungen zum Ausdruck gebracht werden, Geschichte und damit soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit zu schönen. Damit schließt sich die denkmalpflegerische Diskussion in ihrer Kritik Ästhetisierungstheorien an, die von einer Verlagerung inhaltlicher und sozialer Probleme in die ästhetische Sphäre ausgehen. Gleichzeitig wird jedoch durch die in diesem Rahmen stattfindenden Debatten nicht die alte traditionell angenommene Einheit von Schönheit und Wahrheit aufgelöst. Vielmehr ist es gerade der Vorwurf der Unwahrheit, der auch die ästhetische Wertschätzung verbietet. Die Trias des Wahren, Schönen und Guten scheint also entgegen der oben aufgestellten These nicht vollkommen aufgelöst, Schönheit und 463 Ebd., S. 135. 464 Kösser 2006, S. 578. 465 Vgl. ebd., S. 298.
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Wahrheit werden – zumindest im Kontext der Denkmalpflege – stets in engem Zusammenhang diskutiert. Diese Konstanz legt die Frage nahe, inwieweit das Schöne dort auch mit seinem Potenzial zum Guten – sei es in Form einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung oder in Form des subjektiven Glücks oder in Schnittmengen aus beidem – diskutiert wurde oder wird. Dabei stellt sich auch die Frage, ob das Schöne abseits der Ästhetisierung positive Potenziale in sich birgt, die nutzbar gemacht werden können.
5 Erziehung zur Schönheit – Erziehung durch Schönheit Der Gedanke der positiven Auswirkungen von Architektur und Umgebung auf ihre Bewohner verfügt über eine lange Tradition. Hanno Walter Kruft führt diese zumindest bis zur Architektur der Aufklärung zurück und erwähnt hierbei insbesondere Ledouxs utopischen Stadtentwürfe.1 Dabei spiegeln die Entwürfe der Zeit in erster Linie Bestrebungen zur Schaffung gesellschaftlicher Ordnungssysteme nach entsprechenden Idealvorstellungen wider, wie beispielsweise die Pläne der Saline Royale d’Arc-et-Senans (1775-1778), und thematisieren weniger (volks)erzieherische Aspekte der baulichen und räumlichen Schönheit. Die positiven Auswirkungen von Schönheit auf den Menschen wurden Ende des 18. Jahrhunderts intensiv von Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen erörtert. Dabei sind Schillers Begriffe des Schönen und der Erziehung differenzierter als in der späteren Rezeption der Texte. Das Schöne stellt für Schiller nicht die Eigenschaft eines Objekts dar, sondern „ein[en] Zustand unseres Subjekts“.2 Erziehung bedeutet für Schiller in erster Linie die Aussöhnung des Subjekts mit sich selbst durch das Schöne. Die von Schiller formulierten Gedanken konnten sich in ihrer Reinform jedoch nicht durchsetzen (s. u.). Der Glaube an das Potenzial der Kunst, Menschen positiv verändern zu können und dadurch auch positiv auf die Gesellschaft einzuwirken, konnte sich jedoch über lange Zeiträume halten. Uta Kösser stellt dabei eine Tendenz fest, gerade in Umbruchzeiten auf dieses idealistisch geprägte Konzept zurückzugreifen, oft mit dem expliziten Verweis auf Schillers Theorie.3 Das Schöne soll dabei als Ausgleich für eine als auf die verschiedenste Art defizitär wahrgenommene Gegenwart dienen. Dieses Phänomen lässt sich nach Kösser insbesondere im Zusammenhang mit der zuneh-
1
Vgl. Kruft 2004, S. 460.
2
Schiller 2006, S. 105.
3
Vgl. Kösser 2006, S. 156.
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menden Modernisierung und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen und Verunsicherungen in Verbindung bringen.4 Der Rückzug in die Ästhetik wird somit zum gesellschaftlichen Ventil. Auch die Denkmalpflege positionierte sich insbesondere in ihrer frühen Phase immer wieder gegen wahrgenommene Negativfolgen der Modernisierung. Winfried Speitkamp bezeichnet die Denkmalpflege in diesem Zusammenhang auch als „praktizierte Zivilisationskritik“.5 Wie bereits in Kapitel 3 dargelegt, kam es im Zuge einer auch auf ästhetischem Gebiet geäußerten Zivilisationskritik gleichzeitig zu einer Idealisierung der Vergangenheit. Beides zusammen führte nicht nur zu einer ideellen, sondern auch ästhetischen Aufwertung des Vergangenen. Gerade den ästhetischen Komponenten wurde dabei das Potential zugesprochen, Menschen auf direktem Wege, unabhängig von Bildungshorizont und sozialer Zugehörigkeit anzusprechen. Dieser Gedanke ging einher mit Vorstellungen zur Volkserziehung, die Silke Haps im Kontext der Denkmalpflege auf zweierlei Arten verwirklicht sieht: zum einen in der politischen oder moralischen Erziehung durch Denkmale und zum anderen in der Erziehung zum Erkennen von Denkmalen, also der Schulung des Sehens und des Geschmacks. Ziel war dabei eine ganzheitliche kulturelle Bildung, die sich im Zusammenhang mit den Reformbewegungen rund um die Jahrhundertwende auch gegen eine Verwissenschaftlichung und für einen ganzheitlichen Ansatz einsetzte.6 Dieser erzieherische Aspekt kommt in unterschiedlichen Zeiten jeweils unterschiedlich zum Ausdruck. Während es insbesondere in den 1930er-Jahren eine klare Vorstellung der Erziehung des Volkes durch Führung gab, finden sich vereinzelt Ansätze dieser Idee auch im heutigen Gedanken der Kulturvermittlung im Rahmen der Denkmalpflege.7 Welche Rolle dabei ästhetische Aspekte und insbesondere die zugeschriebene Schönheit der Objekte und ihre potenzielle Wirkung spielte, soll in den folgenden Kapiteln untersucht werden.
4
Ebd., S. 532. Weiter weist Kösser darauf hin, dass diese Vorstellung im 20. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung verlor, da „man zumindest im 20. Jahrhundert die Ambivalenz des Ästhetischen erfahren hat: Kunst ist nutzbar für Machtinteressen, Ästhetisierung verdeckt politische oder gesellschaftliche Missstände und fesselt die Wahrnehmung des Subjekts, Schönheit dient als schöner Schein, Erhabenheit unterstützt Herrschaft usw.“ Ebd., S. 532 f.
5
Speitkamp 1996, S. 25.
6
Vgl. Haps 2013a, S. 88f.
7
Vgl. ebd.
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E RZIEHUNG
ZUR
S CHÖNHEIT – E RZIEHUNG
5.1 „ÄSTHETISCHE E RZIEHUNG
DES
DURCH
S CHÖNHEIT
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M ENSCHEN “
Die Entwicklung einer Bildungskonzeption mit utopischen Dimensionen als Reaktion auf die gesellschaftlichen Umbrüche in der frühen Modernisierung betrachtet Carsten Zelle als eine der wirkungsmächtigsten Entwicklungen der klassischromantischen Periode.8 In diesem Zusammenhang ist auch die klassischidealistische Theorie der ästhetischen Erziehung zu betrachten, die auf die empfundenen Umstürze mit dem Konzept der inneren Bildung des Einzelnen reagiert. 9 Der Gedanke, dass das Schöne in Natur und Kunst dabei zur moralischen Verbesserung des Menschen beitragen könne, lässt sich über die klassische Ästhetik Baumgartens und die englischen Moralisten zurückverfolgen bis zu frühchristlichen theologischen Schriften.10 Insbesondere ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewann eine vorher nicht dagewesene enge Verbindung zwischen künstlerisch-ästhetischen Vorstellungen und einer neuen Bildungsidee an Bedeutung. Dies spiegelt sich in einem Wandel sowohl der Kunstauffassungen als auch der Bildungsvorstellung in der Zeit zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts wider. 11 Im Zuge der Aufklärung verschoben sich die Prioritäten in Bezug auf die Kunst von formalen Kriterien hin zu inhaltlichen Komponenten, die in erster Linie auf Aspekte der Moral oder des gesteigerten historischen Bewusstseins abzielten. Die in diesem Zusammenhang zunehmende Tendenz, Bildungswissen durch Kunst zu vermitteln, erreichte im 19. Jahrhundert schließlich einen Höhepunkt, was auch darauf zurückzuführen ist, dass die Staaten im Zusammenhang mit Nationalbildungsprozessen die Kunst als Propagandamittel entdeckten.12 Als repräsentativ für diese Entwicklung kann Johann Georg Sulzers zwischen 1771 und 1774 formulierte Allgemeine Theorie der Schönen Künste betrachtet werden, die als erste umfassende Abhandlung im Sinne einer Enzyklopädie alle Gebiete 8
Vgl. Zelle 1995, S. 150 f.
9
Vgl. ebd.
10 Vgl. u.a. Botton 2010, S. 117. S. außerdem Kapitel 4. 11 Vgl. Büttner 1990, S. 259. Die engen wechselseitigen Beziehungen zwischen zeitgenössischen Bildungstheorien und dem praktischen Kunstschaffen sind dabei laut Büttner noch nicht hinreichend untersucht worden. 12 Vgl. ebd., S. 267. Büttner hebt allerdings auch hervor, dass es zumindest anfangs eine große Differenz zwischen der Kunsttheorie und dem allgemeinen Publikumsgeschmack gegeben habe, der sich nach wie vor stärker an klassischen, formalästhetischen Kunstidealen orientierte. Dass sich die Orientierung am klassischen Kunstideal jedoch nicht mit einem bildungspädagogischen Ansatz ausschließt, zeigen Winckelmanns 1755 formulierten Gedanken über die Nachahmung der griechischen Kunst, wo er die Doppelfunktion der Kunst zu „vergnügen und zugleich [zu] unterrichten“ hervorhebt (vgl. Winckelmann 1885, S. 43).
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der Ästhetik in deutscher Sprache behandelte. Dort widmet sich Sulzer ausführlich der positiven Wirkung des Schönen. Sulzer hält zwar an den alten ästhetischen Kategorien fest, vertieft bei seinen Betrachtungen jedoch die wirkungsästhetische Komponente, wodurch er einen Zusammenhang zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen schafft.13 Insbesondere in Bezug auf die Architektur hebt er den „Nutzen [der Kunst, S. H.] zur Cultur des Geistes“ hervor, ein Gedanke, der später unter anderem von Hirt und von Gilly wieder aufgenommen wird.14 Darüber hinaus geht Sulzer auf den Beitrag ein, den die Kunst seiner Einschätzung nach bei der Nationalerziehung spielen kann und sollte.15 Der Mensch, so hält Sulzer fest, besitze zwei unterschiedliche „Vermögen“, nämlich den Verstand und das „sittliche Gefühl“, die die Grundlage für „die Glückseligkeit des gesellschaftlichen Lebens“ bilden. 16 Um glücklich zu sein, müsse insbesondere das Gefühl für sittliche Ordnung gestärkt werden. Dieses Gefühl ist gleichbedeutend mit einem Sinn „für das Schöne und Gute“, der zwar jedem Menschen von Natur aus eigen ist, jedoch auch gefördert werden muss, um zur vollen Entfaltung kommen zu können. 17 Dazu sei es ratsam, den Menschen mit dem Schönen und Guten zu umgeben, da aus „einem öfters wiederholten Genuß des Vergnügens an dem Schönen und Guten […] die Begierde nach demselben [erwächst]; und aus dem widrigen Eindruck, den das Häßliche und Böse auf uns macht, entsteht der Widerwille gegen alles, was der sittlichen Ordnung entgegen ist.“18
Hier nun sieht Sulzer die Aufgabe aller schönen Künste, die durch ihren positiven Einfluss auf den Menschen zu dessen Verbesserung und damit schließlich zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen könnten: „Diese heilsamen Wirkungen können die schönen Künste haben, deren eigentliches Geschäft es ist, ein lebhaftes Gefühl für das Schöne und Gute, und eine starke Abneigung gegen das Häßliche und Böse zu erwecken.“19 Sulzer beschreibt in seinem grundlegenden Werk zur Ästhetik also 13 Vgl. Büttner 1990, S. 263 f. 14 Sulzer 1792, S. 315. 15 Vgl. Büttner 1990, S. 266. Büttner hebt in diesem Zusammenhang auch den Einfluss Sulzers auf den französischen Raum hervor, wo man sich in den ab 1777 erscheinenden Nachtragsbänden explizit auf Sulzers Gedanken zu dem Thema bezieht. Während der französischen Revolution gewannen nationale Tendenzen in Kunst und Kunsttheorie weiter an Bedeutung (z.B. Davids Reden vor dem Nationalkonvent und Ledouxs Verständnis vom Architekten als Erzieher). Vgl. dazu auch Kruft 2004, S. 182. 16 Sulzer 1792, S. XII. 17 Ebd., S. XIII. 18 Ebd. 19 Ebd.
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nicht nur die erzieherische Funktion des Schönen und insbesondere auch der Kunst, sondern begründet dies auch in der grundlegenden Funktion, die das Schöne für ein gelungenes und glückliches Zusammenleben der Gesellschaft hat. Der Ausgangspunkt für Sulzer liegt dabei in jedem einzelnen Individuum. Grundlegend ist das Gefühl eines jeden Einzelnen, das im Zusammenspiel schließlich zu einer Verbesserung der Gesellschaft im Allgemeinen führt. Gleichzeitig sieht Sulzer im Schönen eine Voraussetzung für Glück – wohlgemerkt nicht für persönliches Glück, sondern für eine glückliche Gesellschaft. Auch die Ästhetik der Weimarer Klassik greift die Gedanken der erzieherischen Funktion von Architektur auf. In den Schriften Über den Dilettantismus – 1799 von Goethe und Schiller gemeinsam verfasst, jedoch erst nach deren Tod veröffentlicht – wird das Thema der Erziehung durch Kunst unter anderem auf Aspekte der Architektur angewandt. Diese Passagen werden Goethe zugeschrieben und weisen eine große Nähe zu dessen zweitem Baukunst-Aufsatz auf, knüpfen aber auch an Gedanken aus Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen an. 20 Goethe führt aus, dass der Dilettantismus21, wenn auch der wahren Kunst untergeordnet, dennoch durch seine gestalterischen Absichten positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann: „Der allgemeine Nutzen des Dilettantismus, dass er gesitteter macht, und im Fall der Rohheit einen gewissen Kunstsinn anregt und ihn da verbreitet, wo der Künstler nicht hinkommen würde, gilt besonders auch von der Baukunst.“
22
Noch stärker muss dieser Effekt bei der wahren Kunst auftreten, wie beispielsweise bei Schinkels Schauspielhaus in Berlin, dessen positiven Einfluss auf den Besucher Goethe im Rahmen der Eröffnung poetisch hervorhebt: „Denn euretwegen hat der Architekt, / mit hohem Geist, so edlen Raum bezweckt, / Das Ebenmaß bedächtig abgezollt, / Daß ihr euch selbst geregelt fühlen sollt; […]“.23 Neben diesem Potenzial zur ethischen Erziehung des Menschen schreibt Goethe der Architektur wie der Kunst im Allgemeinen auch Qualitäten zu, die auf einer empathischen Einfühlung beruhen: 20 Vgl. Büchsenschuß 2010, S. 261. In diesem Sinne macht es also tatsächlich Sinn, von gemeinsamen Vorstellungen eines ästhetischen Erziehungsbegriffs der Weimarer Klassik auszugehen. 21 Einen Dilettanten definiert Goethe als einen „Liebhaber der Künste, der nicht allein betrachten und genießen, sondern auch an ihrer Ausübung Theil nehmen will.“ Goethe 1887, S. 321. 22 Goethe 1833, S. 274. 23 Goethe bei der Eröffnung des Schauspielhauses 1821; zit. nach Büchsenschuß 2010, S. 157.
302 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „ […] jedes künstlerisch Hervorgebrachte versetzt uns in die Stimmung, in welcher sich der Verfasser befand. War sie heiter und leicht, so werden wir uns frei fühlen; war sie beschränkt, sorglich und bedenklich, so zieht sie uns gleichmäßig in die Enge.“
24
Hieraus ergibt sich eine direkte Konsequenz für das Schaffen von Kunst, nämlich diesen Einfluss stets zu bedenken und bei der Kunstproduktion zu berücksichtigen. Der Kunst kommt so neben der Erbauung auch eine gesellschaftliche Funktion zu. Hierin treffen sich Goethes Ansichten zur Rolle der Ästhetik mit denen Schillers. Dieser ging in seinen Gedanken jedoch entschieden weiter als sein älterer Zeitgenosse und entwickelte ein komplexes Theorem zur Rolle von Kunst und Schönheit in und für die Gesellschaft, die in einer in Briefform verfassten Abhandlung unter dem Titel Über die ästhetische Erziehung des Menschen 1801 erstmals erschien.25 Darin entwickelt Schiller ein Konzept zur Bildung des Menschen durch Schönheit, das schließlich in der Vorstellung vom Ideal des ‚ästhetischen Staates‘ der Zukunft gipfelt.26 Obwohl es Schiller also durchaus um politische und gesellschaftliche Strukturen geht, liegt der Ausgangspunkt doch bei der ästhetischen Erziehung des Individuums. So gelten die Französische Revolution und ihre Folgen zwar als einer der möglichen Auslöser für Schillers Gedanken zur ästhetischen Erziehung, der Grund dafür lag aber wohl weniger in der empfundenen Entfremdung durch die gesellschaftlichen Umbrüche, als vielmehr im Schrecken über das jeweils individuelle menschliche Naturell, das in den mit der französische Revolution verbundenen 24 Goethe 1818, S. 149. Goethe kann hier an Vorstellungen zum Einfluss der Umgebung auf den Menschen anknüpfen, wie sie insbesondere im Bereich der frühen Landschaftsgestaltung (z.B. Hirschfeld) eine Rolle spielten und die auf Philosophen wie Henry Home Kames zurückgingen. Hirschfeld entwickelte 1779 ein Schema von fünf Grundtypen der landschaftlichen Wirkung als Grundlage für die praktische Gartenkunst (vgl. Krepelin und Thränert 2011, S. 81 f). 25 Die Schriften gehen zurück auf Briefe an den Augustenburger Prinzen, die Schiller bereits 1793 verfasst hatte, die jedoch einem Brand im Schloss Christiansborg zum Opfer fielen. Bei den veröffentlichten Briefen handelt es sich jedoch nicht um Abschriften, sondern um eine überarbeitete Version. Einzelne Briefe wurden bereits 1795 in den Horen veröffentlicht. Später wurde den Briefen noch die Schrift Über das Erhabene vorangestellt, um das in den Briefen vertretene Konzept zu vervollständigen. (Vgl. Zelle 1995, S. 179 und 183.) Dabei hatte sich Schiller schon früher mit ästhetischen Konzepten auseinandergesetzt. Vorläufer sieht Koch beispielsweise in Schillers Über Anmut und Würde (1793), wo er die Idee der „schönen Seele“ erläutert (vgl. Koch 2006, S. 14). MeyerDrewe weist außerdem darauf hin, dass Schiller die Vorstellung vom Menschen als einem Mischwesen aus Sinnlichkeit und Geist bereits in seiner medizinischen Dissertation vertrat (vgl. Meyer-Drewe 2006, S. 38). 26 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 30.
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Ausschreitungen zum Ausdruck kam. 27 Die menschliche Seele des Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes betrachtet Schiller dabei als analog zueinander. Dadurch ergibt sich für Schiller in der Konsequenz, dass die unfreie Gesellschaft und der unfreie Mensch als das gleiche Phänomen zu betrachten sind. Die politische Freiheit kann also erst durch die Überwindung der Unfreiheit des einzelnen Menschen entstehen, die in dessen gespaltenem Naturell begründet ist. 28 Der Mensch ist für Schiller sowohl ein Vernunft- als auch ein Sinneswesen. Allein im Zwischenbereich zwischen beiden Polen ist es dem Menschen möglich, zur Freiheit zu gelangen, da er hier weder seine vernünftige, noch seine sinnliche Seite verleugnen müsse. Die Möglichkeit zur Überwindung der Gegensätze sieht er in der Idee der Schönheit gegeben, die sowohl den Geist als auch die Sinne anspricht. 29 Lutz Koch fasst diesen Gedanken Schillers in seinen Überlegungen zum ästhetisch-politischen Humanismus zusammen: „Sie [die Schönheit, S. H.] befreit die sinnliche Seite des Menschen von der Naturabhängigkeit, d.h. von dem Bedürfnis, und sie nimmt der intellektuellen Seite den zwingenden Charakter. Beides zusammen ist ausgedrückt im Begriff der ästhetischen Freiheit. Wo sie wirklich ist, ist der Mensch, wie Schiller sagt, veredelt. […] Ästhetische Bildung ist daher Veredlung des Menschen, ein Bildungsprogramm, das so noch nie gedacht wurde, weder vor noch nach 30
Schiller.“
Schlussendlich geht es Schiller nicht um eine Verschönerung der Umwelt, sondern das Ziel ist die Befreiung des Menschen. Da diese im Ästhetischen gründet, führt der Weg dahin auch über die Kunst. In Auseinandersetzung mit anderen Kunsttheorien zur Bestimmung des Schönen – und in Weiterführung seines Gedankens vom Menschen als dualem Wesen – entwickelt Schiller den Vorschlag einer ‚sinnlichobjektiven‘ Begründung der Schönheit, das heißt, er sieht sie sowohl in der Qualität der Wahrnehmung, als auch in der des Objektes begründet.31 Kunst, die nur auf die 27 Vgl. Zeller 1995, S. 173. Auch Kösser betrachtet Schillers Nachdenken über Ästhetik im Kontext der französischen Revolution, die ihm vor Augen hielt, dass die Gesellschaft „trotz aller Aufklärung – deutliche Züge von Barbarei“ trüge (vgl. Kösser 2006, S. 140). 28 Vgl. Koch 2006, S. 15. 29 Vgl. Dörpinghaus 2006, S. 50 f. und Schrader 2005, S. 131. Um den Dualismus zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen aufzubrechen, führt Schiller auch die Kategorie des ‚Spiels‘ in seine Überlegungen ein, durch das dem Menschen ermöglicht werde, seine doppelte Natur zu entfalten (vgl. Dörpinghaus 2006, S. 51). 30 Koch 2006, S. 18. 31 Vgl. Kösser 2006, 144. In den Kallias-Briefen leitet Schiller diese Bestimmung her und grenzt sie gegen andere ab, nämlich gegen die sinnlich-subjektive Burkes (d.h. Schönheit als Qualität von Empfindung oder Wahrnehmung), die subjektiv-rationale Kants (Analy-
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Affekte des Menschen abzielt, kann für Schiller entsprechend keine Qualität haben, da sie den geforderten vermittelnden Effekt nicht ausüben könne. Vielmehr hat Kunst immer über den sinnlichen Affekt hinaus zu gehen.32 Weiter führt er in den Kallias-Briefen über die Schönheit aus, dass „Zweckmäßigkeit, Ordnung, Proportion, Vollkommenheit – Eigenschaften, in denen man die Schönheit so lange gefunden zu haben glaubte – […] mit derselben ganz und gar nichts zu tun“ hätten.33 Das Schönheitskonzept Schillers stellt stattdessen die ideellen Aspekte in den Vordergrund. Der Schwerpunkt liegt nicht mehr auf der Frage, wie das Schöne aussieht, sondern welchem Zweck das Schöne dienen kann. Die Schönheit mit ihrem Potenzial zur Verbesserung der Gesellschaft wird zum Werkzeug und kann dadurch nicht auf der Ebene der subjektiven Wahrnehmung verharren.34 Über das Subjektive in der Kunstwahrnehmung soll vielmehr ein objektives Ideal vermittelt werden. Schillers Briefe wurden schon von Zeitgenossen stark beachtet und diskutiert, jedoch immer wieder auch kritisiert. So beklagte Fichte beispielsweise, dass man die Briefe erst mühsam „übersetzen“ müsse, bevor man sie eigentlich verstehen könne.35 Aber nicht nur sprachlich sondern auch inhaltlich kam es in der Folge zu Missverständnissen bzw. zu einer Verflachung der Schillerschen Theorie, was vermutlich gerade in ihrer großen Popularität und schnellen Verbreitung begründet lag. Der eigentliche Grundgedanke einer Versöhnung des Individuums mit sich selbst durch die ästhetische Erfahrung trat zurück zu Gunsten der Vorstellung vom Versöhnungspotenzial der Kunst, die es ermöglicht, aus der banalen Alltagswelt hinaus in eine ideale Sphäre zu treten.36 Wilhelm von Humboldt schrieb in diesem Zusammenhang 1831: „Und in der That ist die Kunst vorzugsweise geeignet, nicht nur (denn dies wäre bloß eine Täuschung gewährende Unterbrechung) von zu ernsten Begebenheiten zerstreuend abzuziehen, sondern auch dem Geist gerade die Ruhe und Stärke zu verleihen, deren beider zugleich das glückliche und wirksame Leben bedürfen. In ihren, der Wirklichkeit fremden Regionen bietet sie dem Gemüth in jedem Augenblick eine sichere Freistätte dar, sie führt dasselbe in die Höhe, wo das Zufällige sich scheidet von dem Wesentlichen und Ewigen in dem Daseyn se eines subjektiven Vermögens) und die rational objektive Baumgartens (Schönheit als Werkeigenschaft). Vgl. dazu auch Schrader 2005, S. 127. 32 Vgl. Schrader 2005, S. 143. Gleichzeitig eröffnet Schiller mit der ‚schmelzenden‘ und der ‚energischen‘ unterschiedliche Kategorien der Schönheit, wodurch er nach Kösser bereits die spätere Trennung in hohe und unterhaltende Kunst vorweg nimmt (vgl. Kösser 2006, S. 148). 33 Schiller 1962, S. 418. 34 Vgl. Kösser 2006, S. 140 u. 144. 35 Zit. nach Meyer-Drawe 2006, S. 35. 36 Vgl. Büttner 1990, S. 280.
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der Menschheit, und obgleich ihr Geist nur ein Gebiet der Phantasie ist, strömt der Seele daraus doch nicht minder, auch für das äußere und thätige Leben Erhebung, Heiterkeit und Kraft zu.“
37
Ähnlich wie bei Goethe sind es die positiven Auswirkungen des Schönen (in Form der Kunst) auf den Menschen, die im Mittelpunkt stehen, jedoch unter Vernachlässigung der prinzipiellen inneren Bipolarität eines jeden Individuums. Das Augenmerk lag entsprechend verstärkt auf der rationalen Erziehungsfunktion der Kunst, 38 die in der Folge auch für die Nationalerziehung fruchtbar gemacht werden konnte. Als angemessene Haltung gegenüber den Kunstwerken kam nur die kontemplative Versenkung in Frage, unter der man einen Zugang zu den durch die Kunstwerke verkörperten Idealen fand.39 Das eigentliche Anliegen der Ästhetik lag dabei durch die enge Verbindung mit moralischen Fragen meist in einem Bereich, der heute als nicht genuin ästhetisch wahrgenommen würde.40 Auf mehreren Gebieten wurde versucht, diese Gedanken zu einer praktischen Anwendung zu bringen. Neben der bildenden Kunst spielten dabei auch der Städtebau und vor allem die Gartenkunst eine Rolle. Die Forderung nach der Verbesserung der Lebensumstände auf dem Land war bereits ein zentrales Themenfeld der Aufklärung. Für Hirschfeld gehörte dazu im 18. Jahrhundert nicht nur die „gartenmäßige Verschönerung einzelner Theile eines Landsitzes“, sondern er diskutierte in diesem Zusammenhang auch die Abschaffung der Leibeigenschaft zur Steigerung des geistigen und materiellen Wohls der gesamten Gesellschaft.41 Anfang des 19. Jahrhunderts wurde, diese Gedanken weiterführend, von dem bayerischen Architekten Gustav Vorherr der Begriff der Landesverschönerung geprägt. Diese hatte durch ein flächendeckendes Zusammenwirken von Agrikultur, Architektur und Gartenkunst eine umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen zum Ziel. So sollte die Landesverschönerung „wesentlich zur Veredelung der Menschheit 37 Humboldt 1907, S. 555 f. Iwan-Michelangelo DʼAprile sieht in dieser Einstellung jedoch auch einen eigenständigen, dritten Weg der Ästhetik der frühen Moderne, den er als spezifischen Berliner Weg ausmacht. Dieser Weg, zu dessen Vertretern er neben Humboldt auch Karl Philipp Moritz, Johann Friedrich Reichardt und Daniel Jenisch zählt, zeichnet sich nicht durch theoretische Geschlossenheit aus. Gemeinsamkeiten zeigen sich aber in Ansätzen der Demokratisierung des Konzepts, die sich am Vorbild des antiken Rom als ‚Mittelpunkt des Schönen‘ orientierten und durch die Etablierung von pädagogischen Instituten wie Handwerksschulen eine Integration des Schönen in den städtischen Alltag anstrebten (vgl. DʼAprile 2006, S. 3. f). 38 Vgl. ebd., S. 271 f. 39 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 196. 40 Vgl. Illing 2006, S. 48. 41 Vgl. Butenschön 2014, S. 59.
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bei[tragen]; [sie] webt ein hochfreundliches Band, wodurch künftig alle gesitteten Völker zu einer großen Familie vereinigt werden […]“.42 Die angestrebte ästhetische Verbesserung der direkten Umwelt sollte auch hier einen direkten positiven Einfluss auf ihre Bewohner ausüben. Obwohl der Gedanke der Landesverschönerung weite Verbreitung fand und beispielsweise auch in Preußen zeitgleich ähnliche Bestrebungen seitens Thaers und Lennés stattfanden, konnte sie sich in der Praxis jedoch kaum etablieren, sondern blieben meist theoretische Überlegung.43 Als an die Gedanken der Landesverschönerung anknüpfend kann man jedoch die sich im 19. Jahrhundert vermehrt gründenden Verschönerungsvereine betrachten. In den Vereinsgründungen spiegelt sich auch wider, dass der Gedanke der Bildung bzw. Verbesserung der Gesellschaft durch Kunst und Schönheit fester Bestandteil des bildungsbürgerlichen Weltbilds geworden war. So gab es im Brockhaus von 1824 einen eigenen Artikel zum Thema „Bildung durch Kunst“. Neben Vereinen wurden auch Zeitschriften ins Leben gerufen, die sich der Erziehung durch Kunst widmeten, wie die seit 1887 von Ferdinand Avenarius herausgegebene Zeitschrift Der Kunstwart.44 Nicht nur die zu dem Zeitpunkt entstehenden reformpädagogischen Bewegungen, sondern eine breite Gruppe des Bildungsbürgertums zeigte Interesse am Thema der Kunsterziehung und erhoffte sich davon eine gesellschaftliche Erneuerung, die sich auch auf nationale und politische Zielstellungen bezog.45 Die Kunsterziehung bekam so zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer größere Schnittmengen mit der Nationalerziehung. Der Fokus lag nicht mehr auf der Verbesserung des einzelnen Subjekts mit Hilfe des Schönen, was indirekt zu 42 Zit. nach ebd., S. 60. 1821 wurde zu diesem Zweck eine Deputation für Verbesserung des Landbauwesens und für zweckmäßige Verschönerung des baierischen Landes gegründet, die aus Abgesandten des polytechnischen und des landwirtschaftlichen Vereins bestand, sich als Beratungsgremium für ländliche Gemeinden verstand und von König Maximilian I. Joseph unterstützt wurde (vgl. ebd. S. 61). 43 Die Gründe dafür lagen wohl auch in dem Fehlen der richtigen Planungsinstrumente, die eine Anwendung überhaupt erst möglich gemacht hätten. Thaer und Lenné gründeten 1822 den Verein zur Beförderung des Gartenbaus in den königlich-preußischen Staaten, der in seiner Zielstellung dem bayerischen Pendant ähnelte. In der Vorstellung dessen was unter einer verschönerten Landschaft zu verstehen sei, entfernten sich die beiden Vereine jedoch voneinander. Während die von Vorherr überlieferten Entwürfe einen Fokus auf klare (d.h. rastermäßige) Ordnungsstrukturen wiedergeben, bevorzugt Lenné (beispielsweise bei seinem Bepflanzungsplan des Guts Reichenbach) geschwungene Formen und Wege, die er analog zur Parkgestaltung entwickelt (vgl. Butenschön 2014, S. 75 f). 44 Die Zahl der Abonnenten des Kunstwarts stieg von 600 1894 auf 23.000 1907, was das steigende Interesse an dem Thema widerspiegelt (vgl. Rottau 2012, S. 137 ff). 45 Vgl. Richter 2009, S. 52.
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einer Verbesserung der Gesellschaft führen sollte, sondern auf einer allgemeinen, politisch-moralischen Erziehung der Gesellschaft – in eine bestimmte, als ideal betrachtet Richtung.
5.2 I DYLLE
UND
U TOPIE
Die in Folge der Aufklärung entstandenen Theorien zur ästhetischen Erziehung können im Kontext eines neuen Nachdenkens über Möglichkeiten und Formen des – persönlichen und gesellschaftlichen – Glücks betrachtet werden, das ebenfalls zur Zeit der Aufklärung verstärkt in den Fokus rückte. 46 Durch die beginnende Auflösung der hierarchischen und paternalistischen Systeme in Europa schien das Glück in den Bereich der menschlichen Machbarkeit gerückt, 47 was zum Entstehen verschiedener Konzepte zum Erreichen dieses Glücks führte. Die Frage, ob bei dem Streben nach Glück das individuelle oder das gemeinschaftliche Glück im Vordergrund stehen solle, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Nachdem Platon dem Streben nach dem Glück im Kollektiv den Vorrang gegeben hatte, versuchte Aristoteles, individuelles und gemeinschaftliches Glück gedanklich zu vereinen. Dabei ging er von bestimmten Glücksgütern aus, die sowohl dem Glück der Individuen als auch dem der Gesellschaft dienlich seien, wozu er neben ausreichender Versorgung, Selbstregierung und Freizeit auch die Bildung zählte.48 In dem Bewusstsein, dass dieses erstrebte Glück in der Realität noch nicht oder nicht mehr erreicht ist, entstehen Vorstellungen eines glücklichen Orts, der als Gegenposition zu den existierenden Verhältnissen und je nach Intention vorwärts- oder rückwärtsgewandt als Utopie oder Idylle formuliert wird. Im Folgenden verwende ich die Konzepte von Idylle und Utopie als zwei unterschiedliche Analysemodelle, die sich vor allem in zwei Punkten unterscheiden. Die Idylle steht hier für einen oft rückwärtsgewandten Versuch, einen Ort der möglichen persönlichen Glückserfüllung zu imaginieren, wobei Utopien als gesellschaftliche Gegenwelten zur Jetztzeit konzipiert werden und damit in erster Linie als gesellschaftliche Ordnungssysteme fungieren. Wilfried Lipp beschrieb 1987 die (arkadische) Idylle als „Ort des Glücks“, die ihre Begründung in erster Linie in dem Gedanken der individuellen Glückserfüllung hat und grenzt diesen gegen die Utopie ab:
46 Henning zitiert in diesem Zusammenhang Saint-Just, der 1794 auf dem Pariser Konvent die These aufstellte, dass „das Glück […] eine neue Idee in Europa“ sei (vgl. Henning 2011b, S. 97). 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. ebd., S. 95 f.
308 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Wenn Utopien und Arkadien in einer tiefen Gemeinsamkeit auch beide ihre Motivation aus der Abkehr zur bestehenden Ordnung beziehen, so ist ihre Zielvorstellung doch grundverschieden. Die Utopie stellt der gegebenen Realität eine ideale Ordnung gegenüber, ist also primär gesellschaftlicher Ordnungsentwurf, der, einmal als ideal normiert, keiner Veränderung mehr unterliegen sollte.“
49
Die Idylle hingegen fungiert bei dieser Gegenüberstellung „weder als ernstlicher Gegenentwurf zu bestehenden Ordnungen […] noch als Ideologie seinskongruenten Zuschnitts, sondern als Erinnerung möglicher individueller Glückserfüllung.“50 In diesem Zusammenhang betont Lipp auch die Rolle, die die Idylle als Thema für die frühe Denkmalpflege spielte.51 Dagegen weist Dieter Thomä auf die (politische) Radikalität der Utopie hin, die „ihre Attraktion aus dem Bewusstsein zur Möglichkeit der radikalen Änderung der Verhältnisse“ speist.52 Diese Kategorisierung in Idylle auf der einen und Utopie auf der anderen Seite soll dazu dienen, mit der Schönheit verbundene Glücksvorstellungen zu differenzieren in Vorstellungen, die sich in erster Linie an der persönlichen Verbesserung und damit Steigerung der Glücksfähigkeit des einzelnen Individuums ausrichten, und in solche, die die Verbesserung der Gesellschaft in der Vordergrund stellen. Beidem liegt nicht nur eine unterschiedliche Vorstellung von Form und möglicher Erreichung des ‚Glücks‘ zugrunde, sondern diese unterschiedlichen Vorstellungen spiegeln sich auch in den unterschiedlichen gedachten Verbindungen zwischen Glück und Schönheit wider. Christoph Henning glaubt an eine chronologische Entwicklung des Zusammendenkens von Glück und Gesellschaft, die er in drei verschiedenen historischen Phasen zusammenzufassen versucht. Demnach ordnete sich in der ersten Phase das Individuum der Gemeinschaft unter und zieht dabei sein Glück aus dem Glück der Gemeinschaft – eine Phase, die er der frühen Menschheitsgeschichte zuordnet. In einer zweiten Phase entwickelt das Individuum einen eigenen Glücksanspruch, ist darin jedoch auf das Funktionieren der Gemeinschaft als Bedingung für das persönliche Glück angewiesen. In einer dritten Phase wird eine Diskrepanz zwischen kollektivem und privatem Glück festgestellt. Privates Glück wird demnach nur unter der Vernachlässigung kollektiver Bemühungen und der Konzentration auf das Selbst möglich.53 Teilt man die gesamte Menschheitsgeschichte in diese drei Phasen auf, so dürfte wohl deren Großteil in die zweite Phase fallen, nämlich in eine Zeit, 49 Lipp 1987, S. 90 f. 50 Ebd. 51 Vgl. ebd., S. 76. 52 Thomä 2011, S. 111. 53 Vgl. Henning 2011b, S. 92 f. Dabei meint Henning eine „gegenwärtige Renaissance politischer Konzeptionen des Glücks“ festzustellen, die sich wieder verstärkt mit der Idee der Vereinbarung von individuellem und gemeinschaftlichem Glück beschäftigen.
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in der der Zusammenhang zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Glück ständig neu verhandelt und überdacht wurde – was, wie bereits gezeigt wurde, bis in die griechische Antike zurückzuführen ist. Dabei spielte insbesondere während der Aufklärung die Überlegung über Möglichkeiten des individuellen und gesellschaftlichen Glücks eine große Rolle. Henning bezeichnet entsprechend „das Glück als Klammer […], die den normativen Aufgabenkatalog der Aufklärung zusammenhält“.54 In diesem Kontext sind auch die im vorherigen Kapitel beschriebenen Überlegungen zur ästhetischen Erziehung zu betrachten, die in einem ganzheitlich gedachten System auf dem Weg der Ästhetik zur Verbesserung der Gesellschaft und des einzelnen Individuums beitragen wollte. Die Idylle als Ort individueller Glückserfüllung hatte zu diesem Zeitpunkt als Sehnsuchtsort ihre Berechtigung. Die ‚Klammer‘, die das Streben nach Glück in der Philosophie der Aufklärung bildete, sieht Henning im 19. Jahrhundert jedoch aufgelöst, wo im Zuge der zunehmenden Industrialisierung Werte wie Freiheit und Eigentum denen der sozialen Gleichheit nicht mehr an die Seite gestellt, sondern entgegengesetzt wurden. 55 Laut Nehamas läuft diese Entwicklung zusammen mit dem Auseinanderfallen des Zusammenspiels zwischen Ästhetik und Moral.56 Stattdessen nahm im Zuge der Kapitalismuskritik die Vorstellung eines vorgegaukelten, illusorischen Glücks zu, das mit dem wahren Glück nicht gleichzusetzen ist, sondern vielmehr von der herrschenden Klasse bewusst als Mechansimus der Unterdrückung angewendet wird. 57 Ein Zurückziehen auf persönliche Glücksvorstellungen wird in diesem Zusammenhang als Flucht vor der Realität oder Zufriedengeben mit dem falschen Glück identifiziert. Parallel dazu beobachtet Wilfried Lipp eine Veränderung in Bezug auf gesellschaftliche Utopien, die er auf einen zunehmenden Transzendentalitätsverlust zurückführt. Während in vormodernen Lebenswelten Orientierung bietende Glücksversprechen der Transzendenz zugeordnet wurden, führt der Verlust dieser Transzendenz in der Neuzeit zu einem „Verdiesseitigungsprozess“ der klassischen Utopien. Waren diese zunächst als ideale Gegenkonzepte zur Wirklichkeit in einem „Nirgendwo und Nirgendwann“ angesiedelt, „schrumpft dieser ferne Zeithorizont, konkretisiert sich der Ort: von Nirgendwo und Nirgendwann zum Irgendwo und Ir-
54 Ebd., S. 99. 55 Vgl. ebd., S. 99. 56 Vgl. Nehamas 2007, S. 3. Er führt die Voraussetzungen dazu bis zu Kant zurück, der ausdrücklich das Schöne vom Guten und Angenehmen unterscheidet. Darin sieht er außerdem die Grundlage für eine zunehmende Autarkisierung der Kunst, die schließlich dazu führte, dass das Kunst-Schöne und das Alltags-Schöne sich in ihrer Bedeutung voneinander entfernten. 57 Vgl. Barboza 2011, S. 251.
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gendwann, zum Wo und Wann, und schließlich zum Hier und Jetzt.“58 Für Armin Nassehi ist dies bezeichnend für das Selbstverständnis der Moderne, die sich selbst als Teil einer historischen Entwicklung versteht, die frühere und unvollkommenere gesellschaftliche Zustände hinter sich gelassen hat und dabei selbst gestaltend auf die Zukunft einwirkt.59 Dadurch bekommt die Auseinandersetzung mit der Utopie Aspekte, die sich in der praktischen Gestaltung der Gegenwart äußern. Diese „utopischen Gehalte“60 zeigen sich auch in der jeweiligen Gestaltung der Umwelt. Gerade im Bereich der Architektur und des Städtebaus spielen utopische Aspekte in der Moderne eine Rolle.61 Im 20. Jahrhundert wandelte sich die Vorstellung von der Utopie zur Angst vor der Dystopie. Thomä führt dies auf die der Utopie inhärenten Ordnungsaspekte zurück. Diese Ordnungen werden als von außen vorgegeben wahrgenommen, das Individuum muss sich damit in eine von oben geregelte Struktur einfügen, was zunehmend als negativ bewertet wird.62 Die Angst vor der Dystopie wurde durch die diktatorischen Systeme des 20. Jahrhunderts und den traumatisierenden Erfahrungen der Weltkriege als berechtigt empfunden. Das 21. Jahrhundert gilt in der Folge als Konsequenz aus den vorangegangenen dystopischen Erfahrungen als „postutopisches Zeitalter“.63 Gleichzeitig kommt es zu einer Wiederkehr der Idylle, jedoch ohne diese positiv zu bewerten. So wird vielerorts insbesondere in Bezug auf städtische Planungen ein gestiegenes Verlangen nach ‚Idylle‘ konstatiert, wobei dieses jedoch meist mit der Flucht in ein oberflächliches Glück in Verbindung gebracht wird.64 Christoph Menke weist dabei jedoch auf die bleibende Ambivalenz in der Beziehung zwischen Schönheit und Glück hin. Das Schöne, so führt er aus, besteht 58 Vgl. Lipp 2008, S. 204. Lipp spricht von einer „Temporalisierung der Utopien“ ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (z.B. Louis Sebastian Merciers Lʼan deux mille quatre cent quarante, 1770). 59 Vgl. Nassehi 1996, S. 242. 60 Ebd., S. 242. 61 Holger Brülls weist darauf hin, dass es gerade diese utopischen Aspekte sind, die bei der Beurteilung moderner Architektur berücksichtigt werden müssen – abgesehen von der Tatsache, dass diese „nicht selten bestechend schön“ seien (vgl. Brülls 2005, S. 299). 62 Vgl. Thomä 2011, S. 111. 63 Eickelpasch und Nassehi weisen jedoch darauf hin, dass das Sprechen von einem „postutopischen Zeitalter“ einen eindeutigen Utopiebegriff voraussetzen würde, den beide nicht als gegeben sehen. Stattdessen betonen sie, dass Utopie und Utopiekritik immer in einem engen Zusammenhang standen um darauf hinzuweisen, dass allein die Kritik an der Utopie noch nicht deren Ende bedeuten muss (vgl. Eickelpasch und Nassehi 1996, S. 7). 64 Vgl. dazu beispielsweise Bentmann 1991, S. 34 f., Findeisen 2002, S. 23 und JessenKlingenberg 2006, S. 10 f.
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in Folge aus einem ewigen und unveränderlichen Element und einem relativen Element. Durch diese doppelte Konnotation des Schönen ist beides möglich, eine Verbindung von Schönheit und Glück und eine sich ausschließende Gegenüberstellung: „Die Schönheit entzweit sich in das Schöne in Einheit mit dem Glück des Lebens und das Schöne im Gegensatz zum Glück des Lebens.“65 Die Vorstellung dessen, was Glück ist, hängt demnach stark vom jeweiligen historischen und politischen Kontext ab und hat gleichzeitig Auswirkungen auf die gebauten Formen. Diesen liegen immer auch sich wandelnde Vorstellungen von Schönheit zugrunde, die sich in Abhängigkeit zu den verschiedenen geltenden Glücksvorstellungen wandeln. Insbesondere das Changieren zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Glück als Zielvorstellung spielt hier eine Rolle. So wurde das „progressive Pathos des architektonischen und urbanistischen Glücksdiskurses“66 der klassischen Moderne in der Postmoderne eher skeptisch betrachtet und ironisiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine kritische Distanzierung zur Vorstellung der Glücksvermittlung durch Architektur stattfand, vielmehr änderten sich lediglich die gesellschaftlichen Glücksvorstellungen. Im Vergleich zum gesellschaftlichen Glück gewinnt das individuelle Glück und seine Entfaltung an Stellenwert. Die gleichzeitige Ungewissheit, woraus dieses Glück bestehen solle, führt zwar zu einem ironisierenden Spiel mit den möglichen Ansätzen, stellt die Verbindung von Glück und gestalteter Umwelt jedoch nicht grundsätzlich in Frage. Und auch der in engem Zusammenhang mit Ästhetisierungsdebatten stehende Vorwurf eines vorgegaukelten falschen Glücks stellt nicht das prinzipielle Potenzial der Glückserzeugung in Frage, sondern kritisiert lediglich die vermittelten Inhalte. 67 Die Vorstellung der Koppelung von Schönheit und Glück bleibt also unterschwellig erhalten. Was sich wandelt sind die Vorstellung dessen, was das Glück ausmacht, und die in den Vordergrund gestellte Bezugsgröße des Glücks: bezieht sich das Glücksstreben auf das glückliche Individuum oder auf die glückliche Gesellschaft? Zugespitzt möchte ich hier zwei Vorstellungen der Verwirklichung von Glück einander gegenüberstellen: eine, die das individuelle Glück des Individuums als Voraussetzung für eine glückliche Gesellschaft betrachtet, und eine, die ihren Ausgangspunkt in einer Idealvorstellung der glücklichen Gesellschaft begründet
65 Vgl. Menke 2011, S. 51. Menke bezieht sich hier auf Baudelaire und dessen Interpretation von Standhals Aussage: „Das Schöne ist nur ein Versprechen des Glückes“ (Von der Liebe, 1822), die durch das Wort „nur“ die Verbindung zwischen dem Schönen und dem Glück auflöst, diese aber gleichzeitig beschwört. 66 Dauss 2011, S. 426. Die Kritik an moderner Betonarchitektur richtet sich nach Dauss daher „nicht nur gegen ein falsches Bild des Zusammenlebens, sondern auch gegen ein ganz konkret ‚verbautes‘ Glück.“ Ebd., S. 424. 67 Zu Ästhetisierung s. ausführlich Kapitel 4.4.
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und diese zu verwirklichen sucht.68 Die folgenden Kapitel sollen untersuchen, inwieweit der Wunsch nach Idylle oder Utopie, also der Wunsch nach individuellem oder gesellschaftlichem Glück, in Verbindung steht mit Vorstellungen von der angemessenen Gestaltung unseres Lebensraums. Untersucht soll dazu werden, wie unsere Vorstellungen dessen, was schön ist, mit Glückskonzepten in Verbindung stehen und wie sich die Vorstellung vom Erreichen eines glücklichen Zustands in unseren Idealen von Schönheit widerspiegeln. Die Rolle der Denkmale, die oft auf verschiedenen Gebieten eine Vorbildfunktion für die Gesellschaft spielen sollten, wird dabei besonders berücksichtigt. 5.2.1 Schönheit und individuelles Glück Die folgenden Kapitel untersuchen, welche Rolle das Schöne in Bezug auf eine im einzelnen Subjekt begründete Verbesserung der Gesellschaft spielt. Dazu ist zunächst die ästhetische Bildung des Individuums notwendig. Dieser Ansatz war auch prägend für die unterschiedlichen denkmalpflegerischen und -pädagogischen Herangehensweisen. Die Ziele der ästhetischen Erziehung variieren dabei in den verschiedenen zeitlichen Kontexten. Zeigen sich zu Beginn der institutionalisierten Denkmalpflege insbesondere die Ansätze einer idealistisch geprägten ästhetischen Erziehung in der Nachfolge Schillers als prägend, gewannen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter englischem Einfluss soziale und politische Aspekte an Bedeutung. Grundlegend blieb jedoch der Gedanke eines positiven ästhetischen Potenzials, das gewinnbringend genutzt werden sollte, sowohl für das persönliche Glück des Individuums, als auch für ein gelungenes gesellschaftliches Zusammenleben. Um dieses Potenzial ausschöpfen zu können, muss das Individuum in einer als defizitär empfundenen Gegenwart jedoch zunächst im Sinne einer ästhetischen Sensibilisierung gebildet werden. Dieser Gedanke einer umfassenden ästhetischen Bildung verliert jedoch im 20. Jahrhundert an Bedeutung und wird schließlich reduziert auf den Versuch, die ästhetische Ansprache durch das Denkmal für dessen Inwertsetzung fruchtbar zu machen.
68 Damit knüpfe ich im weitesten Sinne an die oben geschilderten Überlegungen Christoph Hennings an, auch wenn ich die von ihm vorgeschlagene Dreiteilung insbesondere in ihrer chronologischen Abfolge durchaus auch kritisch sehe. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die verschiedenen Ideale von individuellem und gesellschaftlichem Glück immer auch parallel zu einander existierten, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen (vgl. Henning 2011, S. 92 f).
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5.2.1.1 Erziehung zur Kunst – Erziehung durch Kunst Wie in Kapitel 5.1 dargelegt, sind viele Gedanken zur Erziehung des Menschen durch das Schöne und die Kunst im deutschen Idealismus begründet. Insbesondere Wilhelm von Humboldt hat versucht, Schillers philosophisches Konzept in Bezug auf seine praktische Anwendung weiterzuentwickeln. Humboldt betont so immer wieder den moralischen Wert der Kunst für die Gesellschaft und ihren bildenden Charakter. Dabei geht es ihm explizit nicht um die rational fassbaren Inhalte der jeweiligen Kunstwerke, sondern um die Vermittlung einer „Idee des Schönen“ durch den Künstler: „Ausbildung und Verfeinerung muß das bloß sinnliche Gefühl erhalten durch das Ästhetische. Hier beginnt das Gebiet der Kunst und ihr Einfluß auf Bildung und Moralität. […] So ist der Zweck aller Kunst moralisch im höchsten Verstande des Worts. Oft hat man diesen Satz misverstanden, geglaubt, jedes Produkt der Kunst müsse darum irgend eine Lehre einschärfen, irgend eine Empfindung rege machen, die unmittelbar auf tugendhafte Handlungen führte; […]. Allein das heißt die Kunst in zu enge Gränzen einschränken, und dennoch den Zweck der wahren sittlichen Bildung verfehlen. Der Grund dieses Irrthums liegt darin, daß man zu unmittelbar wirken, unmittelbar gute Gesinnungen, gute Handlungen hervorbringen, nicht bloß zur eignen Hervorbringung vorbereiten will. Diess thut der Künstler, wenn er die Idee des Schönen überall verbreitet, und sie allein bestimmt daher auch ihre Gränzen.“
69
Die positive Wirkungsweise des Schönen auf den Menschen beruht also nicht auf der Vermittlung konkreter, bildender Inhalte, sondern auf einer Wirkung auf den Geist, dem sie „Ruhe und Stärke“ verleiht um dem Menschen so „auch für das äußere und thätige Leben Erhebung, Heiterkeit und Kraft“ zu spenden. 70 Humboldt geht es also in erster Linie um ein Gefühl der sittlichen Erhebung, das unabhängig vom jeweiligen betrachteten Gegenstand positive Auswirkungen auf den Betrachter hat. Gleichzeitig macht er an anderer Stelle deutlich, dass diese positiven Auswirkungen der Kunstbetrachtung wiederum die Grundlage für gutes neues Kunstschaffen lieferten. In diesem Zusammenhang äußert er sich auch konkret über die positive Wirkung der Betrachtung alter Denkmale – wobei er sich hier auf griechische Altertümer bezieht: „Denn durch dieses wird der Aufsuchende selbst auf eine ähnliche Weise gestimmt; griechischer Geist geht in ihn über; und bringt durch die Art, wie er sich mit seinem eigenen vermischt, schöne Gestalten hervor.“71 Bei Humboldt lassen sich also drei Aspekte der positiven Wirkung des Kunstschönen auf den Menschen ausmachen: erstens eine allgemein positive Wirkung auf den Menschen, die auf dessen Versetzung in eine höhere (ästhetische) 69 Humboldt 2010a, S. 12. 70 Wilhelm v. Humboldt, Kunstvereinsbericht, 15.01.1831, zit. nach Büttner 1990, S. 281 f. 71 Humboldt 2010b, S. 21.
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Sphäre beruht und eine moralische Läuterung des Menschen mit sich bringt; zweitens das Einfühlen in die Vergangenheit durch die Auseinandersetzung mit historischen Kunstwerken, was gleichzeitig die erneute Entfaltung der mit dieser Zeit verbundenen Werte erlaubt; und drittens den positiven Einfluss der Auseinandersetzung mit der alten Kunst auf die Schaffung neuer Kunst. Dabei geht Humboldt auch in Bezug auf die alte Kunst in erster Linie von einer positiven Wirkung aus, die sich nicht auf einen konkreten Stil oder eine Epoche bezieht, sondern auf eine als ideal – und damit zeitlos – angenommene Schönheit. Alle drei Aspekte lassen sich auch im weiteren Verlauf der Gedanken über das positive Potenzial des Schönen weiterverfolgen, wobei in Bezug auf die Denkmalpflege insbesondere Gedanken zur Wirkung des Historischen eine Rolle spielen. Hinzu tritt außerdem der in Zusammenhang mit der Denkmalpflege immer wieder bedeutsame Aspekt einer nationalen Erziehung (s. dazu ausführlich Kapitel 5.2.2.1). Die Anfang des 19. Jahrhunderts herrschende enge Verbindung all dieser Aspekte spiegelt auch Altensteins Entwurf72 für die Rigaer Denkschrift zur Reorganisation des preußischen Staates aus dem Jahr 1807 wider, in der die Verbindung zwischen ästhetischer Erziehung und Patriotismus an prominenter Stelle herausgestellt wird: „Sie [die Wissenschaften und schönen Künste, S.H.] sind in ihrer Blüte das Produkt und der Ausdruck des höchsten Zustandes der Menschheit. Was von ihnen ergriffen wird, geht diesem höheren Zustand entgegen. […] Mit ihrer Verbreitung und ihrem Gedeihen im Staate erhöht sich im allgemeinen der Zustand der Menschheit in solchem. Ist es Zweck des Staates, die Menschheit der höchsten Güter teilhaftig zu machen, so kann es nur durch die schönen Künste und Wissenschaften geschehen. […] Es läßt sich begreifen, […] wie die schönen Künste die Sinnlichkeit ergreifen, sie zu höheren Gefühlen zu veredeln und diese selbst dadurch aufs höchste gebracht werden. Es bedarf keiner Ausführung, wie hierdurch das, was man Patriotismus nennt, und alle die wichtigsten geistigen Kräfte erhöht und belebt werden.“
73
Interessanterweise geht es hier nicht um eine nationale Erziehung im Sinne einer Erziehung zu einem gemeinsamen Volksgefühl, sondern um die Bildung des Menschen als Aufgabe des Staates. Der Patriotismus ist lediglich die natürliche Folge dieser Bildung.
72 Karl Sigismund Franz Freiherr von Stein zum Altenstein verfasste als Mitarbeiter von Hardenbergs den Entwurf, der diesem später als Grundlage für seine Denkschrift diente (vgl. Volker et al. 1999, S. 65). Die hier zitierten Gedanken von Altensteins werden dort nicht mehr ausgeführt, allerdings verweist von Hardenberg mehrmals auf die grundlegenden Gedanken von Altensteins zu dem Thema und schließt sich dessen Ausführungen an. (http://www.staatskanzler-hardenberg.de/quellentexte_riga.html) 73 Von Altenstein, Rigaer Denkschrift, 11.9.1807, in Müsebeck 1918, S. 241 f.
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Auch Schinkel sieht die Bedeutung der Kunst in erster Linie in deren positiver Wirkung auf den betrachtenden Menschen begründet. Dass er sich dabei bewusst gegen die Reduzierung des Schönen auf formalästhetische Kriterien positioniert und das Schöne statt dessen erst in der Vorstellung des Betrachters an Gestalt gewinnen lässt, fügt sich in den Kontext der Auflösung formalästhetischer Regeln zu jener Zeit ein: „Das Schöne liegt in der Vorstellung und wird lediglich in derselben erst zum Schönen; daß man es an den Dingen außerhalb zu finden glaubt, liegt darin, daß gewisse Gegenstände so allgemeine Wirksamkeit haben, um auch bei dem rohesten Menschen Vorstellungen vom Schönen zu erzeugen, oder vielmehr die Seele in diejenige Thätigkeit zu versetzen, deren Bewußtsein das Gefühl des Schönen erzeugt. Das Schöne ist also erzeugt durch das Behagen an eigener Thätigkeit in harmonisch-sittlichem Gefühl der Weltanschauung und in dem Gefühl des Göttlichen in der Welt.“
74
Gleichzeitig ermöglicht diese Betonung des subjektiven Charakters des Schönen auch die Anwendung neuer Bewertungskriterien außerhalb des klassischen Kanons, die insbesondere im Bereich der denkmalpflegerischen Arbeit Schinkels eine Rolle gespielt haben dürften.75 Der Stellenwert ästhetischer Aspekte in der staatlichen Denkmalpflege geht auch aus Schinkels Rolle innerhalb der preußischen Oberbaudeputation hervor. Theodor von Schön legt in seiner Instruktion der Oberbaudeputation 1809 fest, dass „ein Rath insbesondere den ästhetischen Theil der Baukunst bearbeitet, Gutachten über öffentliche Prachtgebäude und Monumente und über die Erhaltung der öffentlichen Denkmäler und Überreste alter Kunst ertheilt, in den Prüfungen vorzüglich das Examen in Beziehung auf sein Reßort übernimmt, und endlich die Hofbau-Angelegenheiten, welche zur Ober Bau Deputation gelangen, als sein Special-Department, bearbeitet.“
76
Die Pflege der Denkmale war also ein Aspekt des ästhetischen Teils der Baukunst. Als künstlerischen Werken wurde ihnen auch aufgrund ihrer Ästhetik eine positive gesellschaftliche Wirkung zugeschrieben. 74 Schinkel 1979, S. 35. 75 Gerhard Vinken zeigt darüber hinausgehend am Beispiel Schinkels Arbeit an der Klosterkirche Chorin, wie eng auch bei ihm – ähnlich wie bei Altenstein – Ästhetik und (nationale) Ethik mit einander verbunden waren. Das Kloster galt ihm nicht nur als Zeuge deutscher Baukunst der Vergangenheit, sondern erhielt einen besonderen Wert auch durch seine ästhetischen Eigenschaften, als Schmuck des Vaterlandes (vgl. Vinken 2008, S. 165). 76 Zit. nach Mohr de Pèrez, S. 258.
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Durch die schon bei Schinkel anklingende Bedeutung des subjektiven Aspektes in der Ästhetik wurde eine Ausweitung des Denkmalbegriffs möglich, der weitere Gruppen umfassen konnte, die auch außerhalb der klassischen ästhetischen Vorstellungen lagen. Grundlegend war nun nicht mehr zwangsläufig ihre Schönheit, sondern die direkte emotionale Ansprache durch ihre ästhetische Wirkung. Ab Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich diese Vorstellung in dem Konzept der Einfühlung noch weiter (s. Kapitel 2.2.1). Die emotionale, nicht rational, sondern ästhetisch begründete Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eröffnet Möglichkeiten, positive Aspekte dieser Zeit nachvollziehbar und damit wieder lebendig werden zu lassen. Der Philosoph Theobald Ziegler setzt 1894 die Einfühlung und die Möglichkeit des Interesses an etwas in Bezug zu einander. Einfühlung bezeichne „[J]ene[n] seelische[n] Akt, vermöge dessen die Phantasie bei der ästhetischen Betrachtung […] in alles den Menschen hineinschaut, in der Weise, dass wir uns, unsere Seele, unser Eigenstes in die äußeren Erscheinungen hineinlegen oder besser: hineinfühlen und sie dadurch beleben und beseelen. Dadurch unterscheidet sich diese Einfühlung von der Assoziation, der gegenüber sie ein viel Innerlicheres, Tieferes, Intimeres ist: jene bleibt in der Zweiheit und Äußerlichkeit stecken, hier dagegen ist Einheit und Innerlichkeit, Vermittlung durch das Ich, durch das eigenen Lebensgefühl, ein persönliches Mitdabeisein, ein von innerstem Herzensgrunde aus Interessiertsein.“
77
Einfühlung und Interesse sind hier als Konzepte eng mit einander verbunden und stehen beide für ein neues Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Matthias Noell zieht in Bezug auf den Begriff des Interesses den entsprechenden Artikel in Millins Dictionnaire des beaux-arts von 1806 heran, der etwas dann als interessant bezeichnet, wenn es beim Betrachter eine nicht nur vorübergehende Freude hinterlässt.78 Eben diesen Aspekt der ‚nachhaltigen‘ positiven Wirkung der Denkmale meint wohl auch Schmid, wenn er 1897 in seiner Anleitung zur Denkmalspflege von dem „echten Genusse[s]“ spricht, den die Denkmale bereithalten, und den er losgelöst 77 Ziegler 1894, S. 113 f. 78 Vgl. Noell 2013, S. 49 f. Des Weiteren bildet das Interesse nach Millin die Grundlage für die Einfühlung – was die Komplexität der Verbindung zwischen beidem unterstreicht. Noell sieht in dem späteren „historischen Interesse“ eine Weiterentwicklung dieses künstlerischen Interesses, das „die Verbindung zwischen der im Gegenstand verkörperten Geschichte und dem Betrachter“ darstellen solle und damit ein Versuch gewesen sei, die ausschließlich auf affektiven Aspekten beruhende Wirkung der Denkmale zu überwinden, da diese den Ansprüchen an eine neue Wissenschaftlichkeit nicht mehr genügten (vgl. ebd. S. 50).
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sowohl von ihrer äußeren Form (die dem „wechselnde[n] Geschmack der künstlerischen Mode“ unterworfen sei) als auch von ihrem unbestreitbaren und prioritären Wert für das historische Bewusstsein sieht.79 Gleichzeitig betont er den Wert der Denkmale als „gute Vorbilder für solides künstlerisches Neuschaffen“. 80 Speitkamp stellt entsprechend für die deutsche Denkmalpflege Ende des 19. Jahrhunderts eine dreifache Aufgabe der Denkmalinventarisation fest: als Beitrag zur wissenschaftlichen Kunstgeschichte, als Objektverzeichnis für den Behördengebrauch und als Mittel der Geschmacksbildung für Künstler und Handwerker. 81 Der von Schmid erwähnte „echte Genuss“ der Denkmale fehlt in diesen Aufzählungen als positive Denkmaleigenschaft. Möglich ist, dass diese aufgrund ihrer angenommenen Verankerung im betrachtenden Subjekt zunächst keinen Eingang in (behördliche) Instrumente zur Denkmalerfassung fand. Auch bei Schmid erscheint der echte Genuss lediglich in einem Nebensatz ohne genauer definiert zu werden. Es scheint sich hier um einen Aspekt der Denkmale zu handeln, der zwar als gegeben angenommen wird, allerdings bereits früh keinen Teil der fachlichen Auseinandersetzung mehr darstellt. Speitkamp beobachtet jedoch in seiner exemplarischen Untersuchung der Oldenburger Denkmalinventare um die Jahrhundertwende eine Entwicklung hin zu einer Fokussierung auf die ästhetische Erziehung des Lesers. Während das erste, 1896 erschienene Inventar vom Charakter her historisch-deskriptiv sei und fast vollständig auf ästhetische Wertungen verzichte, ändere sich dies bereits im darauffolgenden 2. Band, der nur vier Jahre später, jedoch unter Beteiligung anderer Inventarisatoren erschien. Nicht nur die Spannbreite der erfassten Objekte hatte sich geweitet, sondern auch der Umgang mit ästhetischen Wertungen und die Bildsprache der begleitenden Abbildungen. Eine bewusste Betonung ästhetischer Denkmaleigenschaften sowohl im Text- als auch im Bildmaterial diente nach Speitkamp einer direkteren Ansprache des Lesers und sollte die Texte – und damit die Denkmale – leichter einer breiteren Bevölkerung zugänglich machen. 82 Tatsächlich gewannen in dem beschriebenen Zeitraum Gedanken zur ästhetischen Erziehung des Volks bzw. zur Erziehung des Volks durch Kunst an Bedeutung. Was zur Zeit des Idealismus eher als abstrakt-philosophisches Bildungskonzept betrachtet wurde, kam nun vermehrt auch zur praktischen Anwendung – zumindest wurden dahingehende Versuche gestartet. In Deutschland kann in diesem Zusammenhang das von Julius Langbehn 1890 verfasste Buch Rembrandt als Erzieher als grundlegend gelten (das wegen seiner starken nationalen Prägung vertieft 79 Vgl. Schmid 1897, S. 5. 80 Vgl. ebd. 81 Vgl. Speitkamp 1996, S. 207 f. 82 Vgl. ebd., S. 211 ff. Den angesprochenen Trend der im 2. Band des Inventars seinen Anfang findet, sieht Speitkamp in den darauffolgenden Bänden drei und vier, die bis 1907 erschienen, noch verstärkt.
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an anderer Stelle behandelt werden soll). In England hatten John Ruskin und darauf aufbauend William Morris bereits seit Mitte des Jahrhunderts die positiven Kräfte der Künste hervorgehoben und versucht, zur Anwendung zu bringen. 1900 erschienen Ruskins Seven Lamps of Architecture beim Leipziger Verlag Hermann Seemann erstmals in deutscher Übersetzung, ein Jahr später folgten die ersten Übersetzungen einiger Texte von Morris im selben Verlag. 83 Bereits vorher hatte Hermann Muthesius, der 1896-1903 als Botschaftsattaché in London tätig war und dort auf die Ideen Ruskins und Morrisʼ aufmerksam wurde, sich bemüht, die Gedanken der beiden Engländer in Deutschland populär zu machen. 1897 veröffentlichte er im Zentralblatt der Bauverwaltung einen Aufsatz über Die Kathedrale von Peterborough und die Denkmalpflege in England.84 Man kann also davon ausgehen, dass es zu dieser Zeit international eine neue Auseinandersetzung mit Aspekten der ästhetischen Erziehung gab, die sich auch in der Denkmalpflege und Denkmalvermittlung niederschlug. Einer der wichtigsten Protagonisten dieser Bewegung war John Ruskin, der sich nicht nur im Bereich der Denkmalpflege engagierte, sondern sich insbesondere der Erziehung zur und durch Kunst widmete. Beide Aspekte treffen sich hier also in einem Akteur, was beide in einen gemeinsamen gedanklichen Kontext einordnet. Dabei lassen sich einige Punkte im Denken Ruskins der oben dargelegten Vorstellung von der Einfühlung in das Werk zuordnen. 1843 schrieb er in Modern Painters über die positiven Auswirkungen der Kunst auf ihren Betrachter: „[The artist] leaves him more than delighted, – ennobled and instructed, under the sense of having not only beheld a new scene, but of having held communion with a new mind, and having been endowed for a time with the keen perception and the impetuous emotions of a nobler and more penetrating intelligence.“
85
Es geht also um eine nachhaltige positive Wirkung, die durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk hervorgerufen wird. Gerade diese „Kommunikation mit einem anderen Geist“ – oder auch Einfühlung – führt für Ruskin aber auch zu gesteigerten Anforderungen an die Kunstproduktion. Insbesondere in Bezug auf Architektur und Kunstgewerbe führt er diese Gedanken in seinen Seven Lamps of Architecture weiter aus. Die Erzeugung von künstlerischer Qualität ist für ihn eng verbunden mit der Freude des Schaffenden:
83 Vgl. Hanselmann 1996, S. 18 und Braesel 2011, S. 66. 84 Vgl. Hanselmann 1996, S. 18. 85 Ruskin 1903a, S. 134.
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„I believe the right question to ask, respecting all ornament, is simply this: Was it done with enjoyment – was the carver happy while he was about it? It may be the hardest work possible, and the harder because so much pleasure was taken in it; but it must have been happy too, or it will not be living.“
86
Weiter betont er an anderer Stelle „things […] are noble or ignoble in proportion to the fulness of the life which either they themselves enjoy, or of whose action they bear the evidence“.87 Dadurch, dass in den Dingen die Spur der „Lebensfülle“ erhalten und nachfühlbar bleibt, entsteht ihr spezifischer Wert. Fehlt diese Möglichkeit der positiven Einfühlung, verringert sich auch der ästhetische Wert für den Betrachter, denn um „jeden Wesenzug des Betrachters […] in Bewegung [zu] setzen“ muss auch bei der Hervorbringung des Gegenstandes „jeder Wesenszug des Menschen beteiligt“ gewesen sein.88 Über den Aspekt der Einfühlung mischen sich hier für Ruskin Kunstreform und Sozialreform. Nur eine in einem positiven Kontext entstandene Kunst kann eine positive Wirkung auf den Betrachter entwickeln. Da das Problem den Produzenten und den Rezipienten gleichermaßen betrifft, beziehen sich Ruskins Gedanken immer auf die ganze Gesellschaft und nicht isoliert auf die Klasse der Arbeiter. Entsprechend gestaltete sich Ruskins praktische Arbeit als Kunstpädagoge. In den 1850er-Jahren war er als Zeichenlehrer für Arbeiter am Londoner Working Menʼs College tätig und außerdem als Vortragsreisender für Industrielle und kunstsinnige Bürger, zu denen er über die Anwendung der Ästhetik auf allgemeine Probleme sprach.89 Insgesamt fielen seine Gedanken in beiden Kreisen auf fruchtbaren Boden. Das Kapitel The Nature of Gothic aus seinem Buch The Stones of Venice wurde als Sonderdruck publiziert und kursierte als solcher auch in der Arbeiterschaft.90 Bis in die 1870er-Jahre hatte sich die Vorstellung vom positiven Nutzen der Kunsterziehung in England so weit verbreitet, dass es landesweit an die 500 Abendkurse in Zeichnen für Handwerker und Arbeiter gab. Außerdem wurden elementare Zeichenkurse an den Schulen eingeführt.91 Zur Erziehung durch Kunst (im Sinne einer innerlichen Bildung durch eine höhere ästhetische Sphäre) kommt die Erziehung zur Kunst. Darin liegt ein weiteres wichtiges Anliegen Ruskins, der sich auch mit der Frage nach den Bedingungen zur Entstehung neuer Kunst auseinander setzt. Bleibt für ihn die Freude an der Arbeit 86 Ruskin 1903b, S. 218. 87 Ebd., S. 190. 88 Zit. nach Kemp 1987, S. 177. 89 Vgl. ebd., S. 204 f. 90 Vgl. ebd., S. 183. 91 Vgl. ebd., S. 206. Kemp spricht in diesem Zusammenhang von der Kunstpädagogik als „nationale[r] Schicksalsfrage“ (ebd. S. 205).
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eine der Voraussetzungen, so ist für ihn des Weiteren die Konfrontation mit dem Schönen notwendig. Hiermit knüpft er an bereits dargelegte Vorstellungen ganz praktischer positiver Auswirkungen der Kunstbetrachtung auf das neue Kunstschaffen an. Ruskin weitet den Gedanken der Auseinandersetzung mit dem Schönen jedoch aus, indem er ihn nicht auf das Kunstschöne anwendet, sondern auf die allgemeinen Lebensumstände und die Umgebung bezieht: „To men surrounded by the depressing and monotonous circumstances of English manufacturing life, depend upon it, design is simply impossible. […] It is impossible for them to have right ideas about colour, unless they see the lovely colours of nature unspoiled; impossible for them to supply beautiful incident and action in their ornament, unless they see beautiful incident and action in the world about them.“
92
Ruskin richtete sich so auch gegen die zunehmende Zersiedlung der Landschaft und die Industrialisierung der Städte, weil für ihn beides Milieus zur Folge hatte, in denen ein positives Kunstschaffen nicht möglich schien. Kunst hatte für Ruskin eine positive gesellschaftliche Funktion, indem sie dem Individuum die Möglichkeit bot, den eigenen Geist weiter zu formen. Um diese Funktion zu erhalten, musste die Gesellschaft jedoch zunächst auf ganz praktischer Ebene verändert werden. Dies stellte für Ruskin kein Ziel, sondern nur die Voraussetzung zur Verwirklichung seines Ziels einer umfassenden ästhetischen Bildung dar. In direkter Bezugnahme auf Ruskin entwickelte William Morris seine Gedanken zur ästhetischen Erziehung. Dabei knüpfte er sowohl an die Mittelalterbegeisterung seiner Zeit als auch an die wachsende Sozialkritik an – beides Aspekte, in denen er sich auf Ruskin berufen konnte und wo er sich in dessen Schriften wiederfand.93 Insbesondere Ruskins Nature of Gothic prägte Morrisʼ Auffassungen vom Verhältnis zwischen Kunst und Handwerk, zwischen Kunst und Gesellschaft und künstlerischer Produktion.94 In der Folge diente das Mittelalter Morris als positives Gegenbild zur Jetztzeit, insbesondere in Bezug auf die Produktionsstrukturen. Dabei ging es ihm jedoch nicht um eine Rückkehr zu Strukturen oder Stilen der Vergangenheit, sondern um deren Nutzbarmachung für die Gegenwart. 95 Trotz der auch von ihm wahrgenommenen negativen Aspekte des mittelalterlichen Gesellschaftssystems, dessen Machtstrukturen er ablehnte, sah er in ihm ein großes Potenzial durch die Trennung zwischen Arbeitsverpflichtung und freier Tätigkeitsentfaltung und die dadurch entstehende Muße als Grundlage allen Kunstschaffens. Die ursprüngliche „control over […] materials, tools and time“ des einzelnen Arbeiters 92 Ruskin 1905, S. 340 f. 93 Vgl. Braesel 2011, S. 17 f. und Rottau 2012, S. 33. 94 Vgl. ebd., S. 24. 95 Vgl. ebd., S. 33.
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wurde nach seiner Theorie durch die zunehmende Arbeitsteilung vernichtet. 96 In The Lesser Arts führt Morris diese Gedanken weiter aus: „What other blessings are there in life save these two, fearless rest and hopeful work? Troublous as life is, it has surely given to each one of us here some times and seasons when, surrounded by simple and beautyful things, we have really felt at rest; […] Still oftener belike it has given us those other times, when at last, after many a struggle with incongruous hindrances, our own chosen work has lain before us disentangled from all encumbrances and unrealities, and we have felt nothing that could withhold us, not even ourselves, from doing the work we were born to do, and that we were men and worthy of life. Such rest, and such work, I earnestly wish for myself and for you, and for all men: to have such space and freedom to gain such rest and such work is the end of politics; to learn how best to gain it is the end of education; to learn its inmost meaning is the end of religion.“
97
Für Morris ist das Streben nach Schönheit in Umgebung und Arbeit ein Weg zur Vervollkommnung der Welt auf allen Gebieten, angefangen bei der persönlichen Vervollkommnung des Menschen durch das Glück der eigenen Arbeit. In diesem ganzheitlichen Ansatz vermischen sich gestalterische und soziale Anliegen in einer umfassenden Ästhetik. Um das Ziel einer ästhetischen und gesellschaftlichen Besserung zu erreichen, müssen jedoch zunächst die richtigen Voraussetzungen geschaffen werden. Hier setzt Morrisʼ erzieherisches Konzept an. Er wendet sich explizit gegen eine elitäre Kunstauffassung und formuliert als Ziel 1879 The Art of the People, „an art which is to be made by the people and for the people, as a happiness to the maker and the user“.98 Das Ziel dieses umfassenden Konzeptes von Kunst ist das Glück der Menschen, wie es Morris in seinem Aufsatz The Aims of Art 1887 ausführt: „[…] to increase the happiness of men, by giving them beauty and interest of incident to amuse their leisure, and prevent them wearying even of rest, and by giving them hope and bodily pleasure in their work; or shortly, make man‘s work happy and his rest fruitful.“
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96 Morris 1915, Useful Work versus Useless Toil, S. 106. 97 Morris 1914, S. 269. Michaela Braesel betont hier den fundamentalen Unterschied zu Marx, dessen Kapital Morris 1883 in französischer Übersetzung gelesen hatte und auf das er daraufhin viele seiner theoretischen Gedanken begründete. Durch Gedanken von der Freude an der Arbeit und dem Glück des Arbeiters durch die Produktion eines Objekts unterscheidet er sich jedoch maßgeblich von Marx (vgl. ebd., S. 55 und S. 57 f). 98 Ebd., S. 47. 99 Morris 1915, S. 84.
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Um dieses Ziel zu erreichen, ist es jedoch auch nötig, vorhandene Klassenstrukturen zu überwinden. Das gesellschaftliche Glück, wie Morris es versteht, soll für alle zugänglich sein und nur so lässt es sich in seiner Vollkommenheit realisieren. Dazu ist es einerseits nötig, das Kunstverständnis allgemein zu verbessern. Der erste Schritt zur Verwirklichung seines Ideals besteht für Morris daher in klassischer Kunsterziehung, in der Erziehung zum künstlerischen Sehen: „If you have a population which cannot see beauty, you will have a population which cannot produce beauty: a population which, even if a small amount of beauty is produced by the élite, will not generally acknowledge that beauty [Hervorhebungen im Original].“
100
Das Gegenbild zeichnet er 1882 in seinem Aufsatz The Lesser Arts.101 Falls nicht für eine allgemeine Zugänglichkeit der Kunst und des Schönen gesorgt würde, so verharre diese in einem Stadium, in dem sie lediglich als privates Vergnügen für eine privilegierte Minderheit diene. In diesem Fall entfaltet die so verstandene Kunst nicht ihr Potenzial zur gesellschaftlichen Verbesserung, sondern trägt im Gegenteil zur Ablenkung von gesellschaftlichen Missständen bei. Die wahre Kunst jedoch zeichnet sich für Morris dadurch aus, dass sie allen zugänglich und verständlich ist. Auf dieser Basis entwickelt sie das Potenzial zur gesamtgesellschaftlichen Heilung: „No, be sure, if the people is sick its leaders also have need of healing. Art will not grow and flourish, nay, it will not long exist, unless it be shared by all people; […] it must be part of our daily lives, and the daily life of every man. It will be with us wherever we go, […] no place shall be without it. […] It shall be no respector of persons, but be shared by gentle and simple, learned und unlearned, and be as a language that all can understand. It will not hinder any work that is necessary to the life of man at the best, but it will destroy all degrading toil, all enervating luxury, all foppish frivolity. It will be the deadly foe of ignorance, dishonesty, and tyranny, and will foster good-will, fair ealing, and confidence between man and man.“
102
Künstlerische Erziehung, das heißt Erziehung zur Kunst und Erziehung durch Kunst, gehen für Morris also Hand in Hand und bilden für ihn die Grundlage für eine gesellschaftliche Erneuerung. Kunst, Gesellschaftskritik, Moral und Politik treffen sich hier in einem übergeordneten ästhetischen Konzept. Wie schon gezeigt wurde, fielen die von Ruskin und Morris entwickelten Gedanken auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden und wurde verschiedentlich weiterentwickelt. Insbesondere das Thema der ästhetischen Bildung wurde disku100 Morris 1966, S. 148. 101 Der Aufsatz geht zurück auf einen bereits 1877 vor der Tradesʼ Guild of Learning gehaltenen Vortrag. 102 Morris 1914, Art and the Beauty of Earth, S. 163 ff.
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tiert, wobei sich in der Berufung auf eine ursprüngliche Kunst und der Kritik an einem intellektuellen Kunstverständnis Gedanken ähnlich wie Morrisʼ Idee von der „Kunst des Volkes“ („Art of the People“) wiederfinden. Andrea Richter spricht von einer „Kunsterziehungsbewegung“ Anfang des 20. Jahrhunderts, deren erklärtes Ziel eine gesellschaftliche Erneuerung durch die Kunst war (freilich unter ganz unterschiedlichen politischen Schwerpunktsetzungen) und gleichzeitig eine Erneuerung der bildenden Kunst aus der Kultur des Volks. 103 1901 fand in Dresden der erste Kunsterziehungstag statt, in dessen Rahmen Carl Goetze die Zielstellung formulierte „die empfindenden und schaffenden Kräfte zu bilden, an dem, was Natur und Menschenhand Großes, Schönes und Starkes in die Umgebung des werdenden Menschen gerückt hat.“104 Alfred Lichtwark, dessen Mitarbeiter Goetze war, formuliert das positive Potenzial der Kunst in seinen 1911 erschienenen Studien zur Malerei Böcklins: „Das Kunstwerk hat die Eigenschaft, die Empfindung, aus der es entsprungen ist, in andere Seelen, die sie nicht selbständig haben oder ausdrücken können, wieder zu erwecken.“105 Hier zeigt sich der starke Einfluss des Einfühlungsgedankens, der nicht nur ein Kunstverständnis befördert, sondern gleichzeitig den Menschen weiterentwickelt. In Anknüpfung an diese Gedanken hebt Lichtwark an gleicher Stelle hervor, dass „der blossen Intelligenz […] vom weiten Reich der Kunst nur eine enge Vorhalle offen“ stehe.106 Es stellt sich die Frage, inwieweit Lichtwark (stellvertretend für die zeitgenössische Kunsterziehung) hier im Sinne eines „Kampf[s] gegen Intellektualismus“107 zu verstehen ist. Immerhin lehnt er einen intellektuellen Zugang nicht ab, sondern fordert lediglich dessen Erweiterung zu Gunsten eines ganzheitlichen Verständnisses – womit er sich eher einer klassischen, auf Erkenntnis zielenden Ästhetik zuordnen lässt, als einer antiintellektuellen Strömung. Der Gedanke eines positiven, jedem offenstehenden und dadurch quasi ‚ursprünglichen‘ Potenzials der Kunst geht also nicht zwangsläufig, wie bei Morris, mit der Ablehnung einer intellektuellen Auseinandersetzung mit Kunst einher. Dies zeigt sich auch in den Überlegungen, die Paul Clemen fast zeitgleich zu dem Thema formuliert. Clemen regt 1907 in seinem Aufsatz Was wir wollen eine Rückkehr zu einem angenommenen Idealzustand an, in dem er fordert, dass eine „Sanierung […] bei den Bauhandwerkern selbst“ beginnen müsse, die „verbildet“ seien und so un103 Vgl. Richter 2009, S. 49. 104 Zit. nach ebd. 105 Lichtwark 1911, S. 9. 106 Ebd., S. 6. 107 Richter 2009, S. 49. Richter bezieht sich bei diesem Ausdruck jedoch nicht nur auf Lichtwark, sondern in erster Linie auf Langbehns Rembrandt als Erzieher, der in seiner Intention sicher besser zur Formulierung passt und dessen starker Einfluss auf die ganze Bewegung schon erwähnt wurde.
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fähig zu wahrem Kunstschaffen. Stattdessen regt er – ganz im Sinne Morrisʼ – einen Wiederanschluss an die vorbarocke Zeit an, in der er den Ursprung des Verfalls ausmacht.108 Dass Clemen sich auch sonst für die Verbindung ästhetischer und sozialer Aspekte interessierte, kann man auch seinem 1900 erschienenen Aufsatz über John Ruskin entnehmen. Dort hebt er besonders positiv dessen Engagement in der Erziehung der Arbeiter hervor. Allerdings hinterfragt er Teile dessen Ästhetik auch. So scheint er Ruskins Vermengung von Ethik und Ästhetik in Teilen durchaus wertzuschätzen, kritisiert jedoch, dass er dabei „die Stimmungen, die ein Kunstwerk erzeugt, mit denen, aus denen heraus es geboren ist“ verwechsle. Dies führe ihn zu falschen kunsthistorischen Schlussfolgerungen.109 Im Grunde trennt Clemen hier zwischen Kunst als Wissenschaft einerseits und einer angewandten Ästhetik andererseits – wodurch er den ganzheitlichen Ansatz Morrisʼ, der die Ästhetik als verbindendes Element über allem etablieren möchte, negiert. Innerhalb der Kunsterziehungsbewegung gab es also unterschiedliche Vorstellungen, worin das Potenzial der Kunst und damit der Sinn der künstlerischen Erziehung liege, und vor allem auch, worin das angestrebte gesellschaftliche Ideal bestehe. Hier soll es nicht das Ziel sein, diese unterschiedlichen Strömungen im Detail darzulegen. Wichtig bleibt jedoch, sich die Virulenz des Themas zur Zeit der letzten Jahrhundertwende bewusst zu machen – gerade auch in ihren Auswirkungen auf die Denkmalpflege. Konzepte wie die von Ruskin und Morris hatten dabei Einfluss, daneben jedoch auch ältere Konzepte wie das der Einfühlung oder Weiterentwicklungen von Schillers ästhetischer Erziehung des Menschen. Andrea Richter betont in diesem Zusammenhang die Koinzidenz zwischen der Begründung der Kulturpädagogik als geisteswissenschaftlicher Disziplin um 1900 und der zeitgleich stattfindenden zunehmenden Institutionalisierung der Denkmalpflege. 110 Dabei sieht sie als thematische Schnittmenge zwischen beiden das gemeinsame Anliegen der „Volkserziehung und Gemütsbildung“.111 Auch Norbert Huse stuft die Denkmalpflege dieser Zeit mit ihren Zielen der Erhaltung des Überkommenen als Teil einer allgemeineren gesellschaftlichen Strömung ein. Als Merkmal dieser auf der Kritik an den Folgeerscheinungen der Industrialisierung fußenden Geisteshaltung sieht er ihre in erster Linie ästhetisch-moralische und damit nicht politisch-gesellschaftliche Ausrichtung:
108 Clemen 1907, S. 13. 109 Vgl. Clemen 1900, S. 189 und 193. Als Beispiel nennt Clemen hier Ruskins Vorstellung der Entstehung der Gotik. 110 Vgl. Richter 2009, S. 6. 111 Vgl. ebd., S. 107. In diesem Kontext siedelt sie beispielsweise auch Schmids Anleitung zur Denkmalspflege an, der sie einen „deutlich volkserzieherischen Charakter“ zuschreibt (vgl. ebd., S. 99 f).
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„Wie die meisten ihrer Mitstreiter begründeten auch die Denkmalpfleger ihre Kritik [an der Industrialisierung und ihren Folgeerscheinungen, S.H.] im wesentlichen nicht gesellschaftlich oder politisch, sondern ästhetisch und moralisch. Nicht selten ist die behauptete Häßlichkeit des Neuen das wichtigste und oft auch das einzige Argument für die Erhaltung des Alten. Die Ursachen werden, wie schon von Pugin und Ruskin, im Moralischen gesucht und damit mehr bei den Symptomen als bei den Ursachen.“
112
Durch die Fokussierung auf die Ästhetik als vereinender Klammer bleibt zwangsläufig das einzelne ästhetisch empfindende Subjekt Ausgangspunkt und Ziel der Überlegungen. Ausgehend von der moralischen Verbesserung des einzelnen Menschen werden jedoch gesamtgesellschaftliche Verbesserungen angestrebt, die teilweise in der diffusen Sehnsucht nach der Idylle verbleiben, teilweise aber auch politische Konsequenzen mitzudenken versuchten. Auch die schon erwähnte und der Denkmalpflege eng verbundene Heimatschutzbewegung empfand sich als pädagogische Bewegung, die in ihrem Programm sowohl nach ästhetischer Verbesserung strebte als auch durch Ästhetik den Menschen erreichen wollte.113 Ernst Rudorff, der Gründer der Bewegung, beruft sich bei dem erklärten Ziel der ästhetischen Bildung auf niemand geringeren als Schiller. In seinem Grundsatzwerk Heimatschutz aus dem Jahr 1897 zitiert er dessen Gedanken zu „moralischer Naturerfahrung“: „Der Anblick unbegrenzter Formen und unabsehbarer Höhen, der weite Ozean zu seinen Füßen und der größere Ozean über ihm entreißen seinen [des Menschen] Geist der engen Sphäre des wirklichen und der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens. Ein größerer Maßstab der Schätzung wird ihm von der simplen Majestät der Natur vorgehalten, und von ihren großen Gestalten umgeben, erträgt er das Kleine in seiner Denkart nicht mehr. Wer weiß, wie manchen Lichtgedanken oder Heldenentschluß, den kein Studienkerker und kein Gesellschaftssaal zur Welt gebracht haben möchte, nicht schon dieser mutige Streit des Gemüts mit dem großen Naturgeist auf einem Spaziergang gebar; wer weiß, ob es nicht dem seltenen Verkehr mit diesem Genius zum Teil zuzuschreiben ist, daß der Charakter der Städter sich so gerne zum Kleinlichen wendet, verkrüppelt und welkt, wenn der Sinn des Nomaden offen und frei bleibt wie das Firmament, unter dem er sich lagert!“
114
112 Huse 1996, S. 152. Dass das Moralische dabei durchaus auch politisch gemeint war, wurde bereits ausreichend dargelegt. 113 Vgl. Speitkamp 1996, S. 310. Aufgrund ihres Fokusʼ auf die ästhetische Empfindung eines vage gefassten Heimatbegriffs möchte ich sie hier losgelöst vom Aspekt der nationalen Erziehung betrachten, die in ihren Zielstellungen meist konkreter ist. Vgl. Kapitel 5.2.2.1. 114 Schiller, 1801, Über das Erhabene, zit. nach Rudorff 1994, S. 75.
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Rudorff selbst nutzt diesen Gedanken als Grundlage für seine weitere Argumentation. Aus der positiven, ästhetischen Ansprache der Natur an den Menschen leitet er deren Potenzial für eine moralische Verbesserung ab, denn wo „das Gemüt spricht, schweigen die niederen Triebe; es liegt in der Naturfreude eine sittlich reinigende Macht.“115 Bereits fünf Jahre vorher hatte Rudorff dargelegt, dass diese Kraft zur moralischen Verbesserung nicht nur von der Natur, sondern im weitesten Sinne von der Kulturlandschaft – der Heimat – ausgehe, in ihrer spezifischen und gewachsenen Ästhetik. Das „Schöne“ sollte so zum „Schirmwall“ gegen die „zerstörenden Fluthen der Zeitströmung“ werden.116 Dieses Schöne wird von ihm außer in der Landschaft auch im historisch Überkommenen lokalisiert. Beides vermittelt sich für ihn in erster Linie ästhetisch. Das fließt auch in seine Argumentation zur Beantragung einer gesetzlichen Verankerung des Landschaftsschutzes beim Gesammtverein der Deutschen Alterthumsvereine ein. Grundlage für ein Gesetz zur Unterschutzstellung von Kulturgütern ist für ihn der Gedanke von „der Wichtigkeit des ästhetischen Moments auch für das sittliche Gedeihen des Volks“. 117 Neben diesem allgemeinen Aspekt des „sittlichen Gedeihens“ führt Rudorff noch weitere Gründe für eine ästhetsiche Auseinandersetzung mit historischen Objekten auf. So sieht er einen Vorteil nicht nur in der allgemeinen ästhetischen Erziehung, sondern wiederum in einer ganz konkreten, praktisch-künstlerischen Bildung: „als Schöpfungen der Kunstübung unserer Väter sind sie [die Denkmale, S.H.] uns nicht bloß Quellen des Genusses, sondern auch vielfach Vorbilder für das eigene Schaffen.“118 Dieser Vorbildcharakter bezieht sich jedoch nicht nur, wie seine weiteren Ausführungen zeigen, auf formalästhetische Aspekte. Er umschließt durch die Versinnbildlichung eines Ideals durch die Form auch gesellschaftliche Komponenten, was seine Charakterisierung historischer und zeitgenössischer Wohnbebauung verdeutlicht, die er folgendermaßen gegenüberstellt: „Dort Familiensinn, bürgerliche Tüchtigkeit, Gemütlichkeit, Schlichtheit, Friede und Freude, Genügsamkeit und Genügen, Humor und Gottesfurcht; hier Strebertum, Scheinwesen und Aufgeblasenheit, elegante Rennomisterei, vollkommenste Nüchternheit, Kälte und Blasiertheit. Dort Ausleben aller menschlichen Kräfte, hier kahler Verstand.“
119
Die Gegenüberstellung von „kahlem Verstand“ einerseits und dem „Ausleben aller menschlichen Kräfte“ andererseits lässt abermals an die schon erwähnte Bezeichnung Richters der Kulturerziehung als anti-intellektueller Bewegung denken. Und 115 Ebd., S. 51. 116 Rudorff 1892, S. 29. 117 Ebd., S. 21. 118 Rudorff 1994, S. 24. 119 Ebd., S. 25.
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in der Tat lassen sich bei Rudorff in seiner Verklärung der Einfachheit entsprechende Züge finden. Sauerländer ging, einer ähnlichen These folgend, 1975 daher vom Rückzug der Gedanken zur ästhetischen Bildung aus der sich stärker wissenschaftlich orientierenden Denkmalpflege um 1900 aus.120 Dies lässt sich bei genauer Betrachtung jedoch nur teilweise verifizieren. Das lag zum großen Teil daran, dass Überlegungen zur ästhetischen Erziehung auch innerhalb der Kunstwissenschaft diskutiert wurden (bzw., was Richter zeigt, eine zeitgleiche Verwissenschaftlichung der Kunst- und Kulturerziehung stattfand), die durch die Denkmalpflege durchaus wahrgenommen wurde. Darauf aufbauend gab es zunehmend Überlegungen zur Denkmalvermittlung, die ihrerseits wieder an Konzepte der ästhetischen Bildung anknüpften, wie sie beispielsweise von Morris innerhalb seines umfassenderen Systems zur ästhetischen Erziehung konzipiert wurden. In seinem 1918 erschienenen Katechismus der Denkmalpflege bezeichnet Max Dvořák den Schutz der Kunstwerke als „vom Standpunkte der allgemeinen Volksbedürfnisse so notwendig, wie etwa die Fürsorge für das Schulwesen.“ 121 Der Vergleich mit dem Schulwesen kommt dabei nicht von ungefähr, sieht Dvořák in der Verpflichtung zur Erhaltung der historischen Kunstwerke doch einen Bildungsauftrag. Dass es sich dabei um einen Auftrag zur ästhetischen Erziehung handelt, verdeutlicht seine Ausführung über die positive Wirkung der Denkmale auf den Betrachter: „Niemand wird leugnen, daß elektrische Straßenbahnen, breite Automobilstraßen, Lift und Telephon, Banken und Fabriksanlagen sehr nützliche Dinge sind und überall eingeführt zu werden verdienen, man wird sich jedoch heute auch immer mehr dessen bewußt, daß, da der Mensch keine Maschine ist, nicht darin allein sein Wohl beruht, und wer aufmerksam zu beobachten weiß, dem wird nicht entgehen, daß neben den materiellen Errungenschaften all das, was nicht nur mit dem Maßstabe der technischen Leistungen oder des materiellen Nutzens bemessen werden kann: von den allgemein verständlichen Schönheiten der Natur bis zu den Tiefen einer neuen ernsten und idealen Lebensauffassung, von Tag zu Tag immer mehr an Bedeutung gewinnt. Zu den neuen Idealgütern gehört aber auch als eines der wichtigsten der alte Kunstbesitz, als Quelle solcher Eindrücke, welche ähnlich wie Naturschönheiten im Beschauer eine über den Alltag und dessen materielle Sorgen und Bestrebungen sich erhebende Stimmung auszulösen vermögen.“
122
Die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Alten und die damit verbundene erhebende Stimmung beinhalten für Dvořák einen gesellschaftlichen Mehrwert, den er argumentativ für den Erhalt der Denkmale nutzt. Durch ihr ästhetisches Potenzial – 120 Sauerländer 1975, S. 122. 121 Dvořák 1918, S. 24. 122 Ebd., S. 22.
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bzw. ihr Potenzial zur ästhetischen Erziehung – wird Denkmalpflege zur sozialen Aufgabe. War in England mit Ruskin und Morris die Frage der ästhetischen Erziehung auch immer eine politische, so wurden dieselben Aspekte in Deutschland meist eher unpolitisch auf einer abstrakt-moralischen Ebene formuliert. Die Ausweitung des Gedankens der ästhetischen Erziehung von moralischen auf soziale Aspekte, wie sie unterschwellig im Begriff der Fürsorge auch bei Dvořák zu finden ist, kommt im deutschsprachigen Raum erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur Diskussion. Gurlitt sieht die Denkmalpflege 1908 als Beitrag zum „sozialen Wohlstand“ des Landes, von dem jeder Bewohner profitieren sollte: „Wir wollen Schönheit und wir wollen Kunst, nicht nur für unsere Museen, sondern wir wollen sie so über das ganze Land verbreiten, daß ein jeder an ihnen Anteil nehmen kann, auch der Ärmste. Somit wollen wir, indem wir das Schöne erhalten, ein konservatives Werk, wir wollen, indem wir mit liberaler Hand über das ganze Land Schönheit zu verbreiten suchen, dem Lande dienen, und wir wollen, indem wir die Gedanken, die seit etwa zehn Jahren viele der besten der deutschen Nation beschäftigen, zum Allgemeingut machen, den Fortschritt im Lande. Vor allem wollen wir aber eines, worin wir uns mit allen ernst Denkenden in Übereinstimmung wissen, nämlich den sozialen Wohlstand.“
123
Deutlich spürt man hier die Gedanken Morrisʼ nachklingen und deutlich wird auch eine Veränderung der ästhetischen Erziehung von der moralischen hin zur sozialen Frage. Der Schwerpunkt liegt nicht mehr auf der persönlichen Verbesserung jeden Individuums durch ein ästhetisches Erlebnis, sondern um den Zugang zu ästhetischen Erlebnissen für alle Klassen. Erst in diesem ästhetischen Klassenbewusstsein macht nun auch die Ablehnung einer als zu intellektuell empfundenen Kunstauffassung Sinn.124 Gurlitt stellt denn auch indirekt kunstwissenschaftliche Betrachtungsweisen in Frage, indem er den Genuss am Kunstwerk als neues Ziel formuliert: „Es heißt dann, sich in das Werk zu vertiefen, um seine Gunst zu werben, den schaffenden Geist des Künstlers verstehen zu lernen, nicht um ihn nach den Regeln dieser oder jener Ästhetik einzuschätzen, sondern um die Freude mit zu genießen, die den Künstler zum Vollen-
123 Gurlitt 1908, S. 15. 124 Sigrid Brandt stellt die These auf, dass Gurlitt seine Vorstellung einer auf „Genuss“ (bzw. Einfühlung) basierenden ästhetischen Erfahrung in Opposition zu einer „Gelehrtheit des 19. Jahrhunderts, die zu wenig naiv, zu geistreich daherkam“ entwickelte (vgl. Brandt 2003, S. 160).
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den seines Werkes führte, und womöglich andere an dieser Freude teilnehmend zu machen.“125
Gurlitt stellt also die subjektive, ästhetische und auf Einfühlung basierende Betrachtungsweise einer kunsthistorischen Analyse gegenüber. Die Formulierungen von der Freude des produzierenden Künstlers und der daran anknüpfenden Freude des Betrachters lassen abermals an Morris denken. So wie dieser das Glück als das Ziel der Kunst betrachtete, stellt für Gurlitt die Freude wenn nicht das Ziel so doch eine spezifische Qualität von Kunst und Kunstbetrachtung dar.126 Wie in England bei Ruskin und Morris setzte man sich auch in Deutschland mit Ideen der künstlerischen Vermittlung auseinander. Dies wurde auch versucht für den speziellen Teilbereich der Denkmalvermittlung nutzbar zu machen. Bereits 1905 stellte der damalige brandenburgische Provinzialkonservator Georg Büttner in einem Vortrag die Frage, wie „die öffentliche Meinung zugunsten der Denkmalpflege zu beeinflussen“ sei. Als Mittel schlägt er die „Heranziehung des Volkes zur Mitarbeit bei ihrer Erhaltung“ vor, da dies „das beste Mittel zur Gewinnung der öffentlichen Meinung, und zu diesem Zweck die Erziehung des Volkes zum Verständnis der Denkmäler die vornehmste Aufgabe der Denkmalpflege“ sei. 127 Wohlgemerkt spricht Büttner hier von einer Erziehung zur Denkmalpflege und nicht von einer Erziehung durch das Denkmal. Dieser Gedanke – der Erziehung durch das Denkmal – gewann gerade in Folge einer wahrgenommenen „allgemeine[n] Verro125 Gurlitt 1931b, S. 6 f. Auch wenn der hier zitierte Text erst aus dem Jahr 1931 stammt, kann man davon ausgehen, dass Gurlitt seine Vorstellung vom Kunstgenuss schon früher entwickelte. Bereits in seinem 1919 erschienenen Werk zur sächsischen Denkmalpflege stellt er den ästhetischen Genuss am Denkmal über die Frage nach dessen Echtheit (vgl. Gurlitt 1919, S. 52). Sigrid Brandt sieht in Gurlitts Einstellung, Kunst als Anleitung zum Genuss zu betrachten, den Einfluss Jacob Burckhardts, den sie auch als wichtigsten geistigen Vater Gurlitts bezeichnet (vgl. Brandt 2003, S. 160 und dies. 2006, S. 5). Hellbrügge legt dar, dass auch Langbehn Einfluss auf Gurlitt hatte. Bezeichnend ist jedoch, was Gurlitt (bei aller Wertschätzung für Langbehns Werk) an diesem kritisierte. Dessen Defizite bestanden für Gurlitt zum einen in einem Mangel an „moralischer Kraft“ und in dem Fehlen einer „auf Liebe beruhende[n] Einschätzung der Handlungen anderer“ (Gurlitt 1927, zit. nach Hellbrügge 1991, S. 25). Insbesondere letzteres stellt quasi eine Voraussetzung für eine einfühlsame Kunstberachtung dar, so dass deren Mangel mit Gurlitts konzeptionellen Ansatz der Kunstbetrachtung nicht vereinbar ist. 126 Sigrid Brandt stellt fest, dass es sich bei dem von Gurlitt mit dem Begriff Genuss umschriebenen Gefühl keineswegs um eine oberflächliche Erfahrung handelt (vgl. Brandt 2006, S. 5) – was man wahrscheinlich auf den Begriff der Freude übertragen kann. 127 Zit. nach Weiss 2010, S. 17.
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hung“128 der Gesellschaft in Folge des ersten Weltkriegs auch für die denkmalpflegerische Praxis an Bedeutung. War man, wie bereits gezeigt wurde, schon lange Zeit vorher von der positiven (ästhetisch fundierten) Wirkung der Denkmale ausgegangen, so wurde nun überlegt, wie man diesen Effekt gezielt verstärken könnte. So fanden unter dem bayerischen Landeskonservator Georg Hager Anfang des 20. Jahrhunderts regelmäßig „Denkmalkurse“ statt, die zum Ziel hatten, die „Augen für das Schöne zu öffnen“.129 Das Ziel lag in der emotionalen und ästhetischen Ansprache der Massen. Der Grund für eine Fokussierung auf ästhetische und emotionale Zugänge lag jedoch nicht mehr im Glauben an deren spezifischen moralischen Mehrwert, sondern schlicht in der Annahme, dass die ansonsten zur Wertschätzung des Denkmals notwendige wissenschaftliche Bildung bei weiten Teilen der Bevölkerung nicht vorhanden sei. Otto Stiehl, Architekt und Professor an der Technischen Hochschule Charlottenburg, formuliert das Ziel auf dem Tag für Denkmalpflege 1920 daher folgendermaßen: „Das Volk kann nicht auf geschichtliche Gedanken, kann nicht auf große Voraussetzungen wissenschaftlicher Bildung eingehen. Es kann aber sehr wohl in seinem instinktiven Gefühl für künstlerische Werte, in seinem instinktiven Streben nach Schönheit dadurch gestärkt werden, daß man ihm die Wege zeigt, auf denen es sich in diese Wirkungen mehr hineinfühlen, hineinvertiefen kann.“130
Das ästhetisch basierte Einfühlen in das Werk wird also reduziert auf die Kompensation mangelnder Bildung. Die ästhetische Herangehensweise dient nicht mehr einer Komplettierung des durch den Verstand Aufgenommenen und auch nicht als Instrument zur möglichen Selbstverbesserung durch die Möglichkeit zur Einfühlung. Im Fokus steht nun ein dezidiert volkserzieherischer Aspekt, wodurch aus der ästhetischen Erziehung ein bildungspolitisches Programm für die Unterschicht wurde. 5.2.1.2 Schönheit und Geschmack Um zum Schönen und durch das Schöne erziehen zu können, ist es notwendig, ästhetische Qualitäten zunächst beurteilen zu können. Dies wurde jedoch, wie bereits gezeigt, durch die zunehmende Subjektivierung ästhetischer Fragen seit dem 19. Jahrhundert erschwert. Eine Mittlerfunktion nahm in diesem Zusammenhang der ‚gute Geschmack‘ ein. Insbesondere bildungsbürgerliche Kreise nutzten das Postulat des – durch Bildung erworbenen – guten Geschmacks als ästhetisches Quali-
128 Hofrat Beyerle auf dem Tag für Denkmalpflege in Eisenach, 1920. (Dritte gemeinsame Tagung 1920, S. 27). 129 Zit. nach Huber 1996, S. 45. 130 Dritte gemeinsame Tagung 1920, S 45.
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tätsmerkmal und beanspruchten seine objektive Gültigkeit. 131 Der Begriff des Geschmacks war dabei schon früher als Verbindungspunkt zwischen Bildung und Kunst aufgetreten, indem er im höfischen Kontext die Fähigkeit, das Schöne zu beurteilen bezeichnete und somit auch gleichzeitig als Merkmal einer gesellschaftlich privilegierten Gruppe fungierte.132 Ursprünglich bezog sich der Begriff ‚Geschmack‘ in den moralischen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts auf Maximen der Lebensführung und beschrieb die Fähigkeit des angemessenen Handelns (in einem höfischen Kontext), wobei die richtige Beurteilung von Kunst eine Art Unterkategorie bildete.133 Damit ist die Verbindung zum Elitären dem Begriff des Geschmacks von Anfang an inhärent. Guter Geschmack wird somit auch zum Ausdruck einer sozialen Stellung.134 Entsprechend ist die Beurteilung dessen, was als geschmackvoll gilt, an jene gebunden, die diesen Geschmack für sich beanspruchen können. Die Académie française äußerte sich 1672 zu der Frage, was den bon gôut ausmache. Sie kam zu dem Schluss, dass alle Dinge, die mit bon gôut geschaffen seien, notwendigerweise gefallen, wohingegen aber nicht alle Dinge, die gefallen, auch dem guten Geschmack entsprechen müssten. Die Lösung stellte sich für die Académie deshalb wie folgt dar: geschmackvoll sei, was intelligenten Menschen („personnes intelligentes“) gefalle.135 Auch hier wird die Frage des Geschmacks eher an die Fähigkeiten des Urteilenden gebunden als an das geschmackvoll gestaltete Objekt. In der Folge kristallisieren sich in der Diskussion um den guten Geschmack zwei Richtungen heraus. Die erste beschäftigt sich mit dem Verhältnis von subjektivem Eindruck und Objekteigenschaften und versucht diese miteinander in Einklang zu bringen.136 In diesem Kontext interessiert jedoch mehr die zweite Richtung, die sich mit der Fähigkeit zur Beurteilung beschäftigt. Hier dreht es sich meist um die Frage, inwieweit es sich bei der Fähigkeit zum Geschmack um eine angeborene oder eine durch Bildung erworbene Fähigkeit handelt, ein Punkt, der auch
131 Vgl. Illing 2006, S. 72. 132 Vgl. Büttner 1990, S. 260. 133 Vgl. Illing 2006, S. 35. 134 Die gleiche These vertritt Bourdieu in seinem 1979 erschienen und auf einer empirischen Studie aus dem Jahr 1963 basierenden Werk La Distinction. Hier legt er seine These dar, dass kulturelle (und ästhetische) Präferenzen, also der jeweilige Geschmack, abhängig sind von der jeweiligen sozialen Lage, bestimmt durch Einkommen, Bildung und soziale Herkunft. Bourdieu stellt den Geschmack darüber hinaus als sozialen Mechanismus dar, mit dessen Hilfe sich unterschiedliche Gruppen aktiv voneinander abgrenzen. Dabei kann man Geschmack im Sinne Bourdieus als kulturelle oder ästhetische Kompetenz erwerben, Geschmack ist also weiterhin eine Frage der Bildung. 135 Vgl. Kruft 2004, S. 146. 136 Beispielsweise Hume in Über die Regel des Geschmacks (vgl. Eco 2004, S. 277).
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durch die Ausführungen der Académie zu den „personnes intelligentes“ aufgeworfen wird. In Deutschland setzte sich Johann Ulrich König 1727 mit dieser Frage auseinander in seiner Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und Redekunst. Dort geht er von einer Kompromisslösung aus, indem er den Geschmack als natürliche Anlage betrachtet, die jedoch erst durch sozialen Umgang geschult werden müsse. Dabei ist Geschmack für ihn eindeutig eine „Fertigkeit des Verstandes“, die auf einer scharfen Urteilskraft beruhe.137 Auch Baumgarten verwendet in der Folge den Begriff des Geschmacks in seiner Ästhetik entsprechend. Hier treten jedoch schon erste gedankliche Probleme auf, da er die Erkenntnis des Schönen ansonsten dem Sinnlichen zuordnet, das Urteilsvermögen des Geschmacks jedoch auf dem Verstand beruht.138 Auch Kant definiert den Geschmack als „das Vermögen der Beurteilung des Schönen“.139 In der Folge verschwand der Begriff des Geschmacks jedoch aus der wissenschaftlichen Diskussion um die Ästhetik, 140 eventuell gerade wegen dieser traditionellen Zuordnung zum Verstand im Gegensatz zur Ästhetik als sinnlicher Erkenntnis. Auch im kunsttheoretischen Kontext spielten Überlegungen zur Rolle des Geschmacks bei der Kunstbetrachtung- und Beurteilung eine Rolle. Dabei war insbesondere die angenommene Doppelfunktion des Geschmacks als subjektive Fähigkeit einerseits und künstlerische Norm (im Sinne des geschmackvoll gestalteten Objekts) von Interesse für die Kunsttheoretiker. Durch den Glauben an die Möglichkeit der Geschmacksbildung – auf Grundlage einer vorgefundenen Fähigkeit – bekam das Thema auch eine gesellschaftliche Dimension. Johann Georg Sulzer erklärte die Geschmacksbildung zur „große[n] Nationalangelegenheit“ und damit zur politischen Aufgabe.141 Grundlage blieb also auch hier die Vorstellung der Lernbarkeit von Geschmack und damit seine Zugehörigkeit zum verstandesmäßig erworbenen Bildungswissen.142 137 König 1727, S. 292. 138 Vgl. ebd. 139 Kant 1900 (AA V), S. 203. Dabei bringt Kant an anderer Stelle auch die sozialen Komponenten der Geschmacksfrage zum Ausdruck: „Nur in Gesellschaft wird es interessant, Geschmack zu haben […]. Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen, oder Blumen aufsuchen, noch weniger sie pflanzen, um sich damit auszuschmücken; sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein […].“ (Ebd., S. 205 und 297.) 140 Vgl. Illing 2006, S. 11. 141 Sulzer 1793, S. 376. 142 Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang stellt in gewissem Sinne Winckelmann dar, der den Geschmack als die „Fähigkeit das Schöne in der Kunst zu empfinden“ definiert
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Dieser Begriffsgebrauch des Geschmacks im Sinne von ästhetischem Bildungswissen scheint in der Folge weite Verbreitung gefunden zu haben. So findet er sich auch in dem vom preußischen Innenministerium verfassten Pro Memoria zur Einstellung Schinkels wieder. Demnach war es bei der Besetzung besonders wichtig nach einer Person zu suchen, die „in dem fache des Prachtbaus oder der so genannten schönen Baukunst ausgezeichnet und von vorzüglich gebildetem Geschmack“ sei – eine Beschreibung, die laut Schreiben auf niemanden so gut zutreffe, wie auf Schinkel.143 Schinkel wurde also unter anderem wegen seines guten Geschmacks engagiert, wobei zu beachten ist, dass damit nach heutigem Sprachgebrauch wohl so etwas wie fachliche Kompetenz und kunsthistorische Expertise gemeint war. Denn dieser Geschmack, das macht Schinkel in einem Brief aus dem August 1814 deutlich, ist dabei ein Privileg des Gebildeten: „Außerdem hatte ich auf meiner Reise Gelegenheit so manches schöne Alterthum zu betrachten, dem die beiden letzten Jahrhunderte ganz und besonders durch eine in wandalischer Blindheit ausgeübte Zerstörungssucht so entsetzlich mitgespielt hatte, daß es für einen jeden gebildeten Menschen einen Schauer erregen muß und ihn zu dringender Hilfe für die Rettung des wenigen, was aus unserer frühesten Vorzeit noch übrig geblieben, anmahnt. […] Unsere Rheinischen Länder sind voll von den vollendeten Werken unserer blühenden deutschen Vorzeit, die bisher in ihrer Herrlichkeit verkannt, und jetzt noch nicht einmal wieder allgemein gekannt, dem Unwissenden preisgegeben sind und täglich noch hört man von Zerstörungen.“144
Den Ungebildeten und Unwissenden ist es also gar nicht möglich, die schönen Altertümer zu erkennen. Ihre Zerstörungswut kann folglich nur durch (Geschmacks)bildung gebremst werden. Dennoch scheint auch zu Schinkels Zeiten die Vorstellung dessen, was guten Geschmack ausmache, eher vage gewesen zu sein. Schinkel selbst kritisiert beispielsweise in Bezug auf den Umgang mit der Liegnitzer Frauenkirche die Beurteilung des Gebäudes „nach einseitigen Geschmacksansichten und Einfällen einzelner Individuen“ und fordert stattdessen, dass die „in der Kunst gültigen Gesetze[n]“ angewandt werden sollten.145 Im Gegensatz zum preußischen Innenministerium scheint Schinkel sein eigenes künstlerisches Wissen also außerhalb des Ge(zit. nach Friedrich 2003, S. 19). Mit dieser Vorstellung setzt er sich aber einerseits von der zeitgenössischen Geschmacksdebatte ab (vgl. ebd.), andererseits stimmt er mit ihr insofern überein, als er davon ausgeht, dass diese Empfindung gelernt werden könne (vgl. Käfer 1986, S. 66). 143 Zit. nach Mohr de Pèrez 2001, S. 84. 144 Zit. nach Mohr de Pèrez 2001, S. 86 f. 145 Zit. nach Wolff 1992, S. 140.
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schmacksdiskurses anzusiedeln, womit er sich von einem gebildeten Amateur abgrenzt. Gleichzeitig stellt es Schinkels Versuch einer Suche nach überzeitlich und generell geltenden Regeln für eine ästhetische Beurteilung und Behandlung dar, die auf Basis des Geschmacksbegriffes nicht geleistet werden konnte. Denn schon zu Schinkels Zeit war man sich der Abhängigkeit von Geschmacksvorstellungen von zumindest zeitlichen Komponenten bewusst. Die Auswirkungen der Veränderlichkeit des Geschmacks auf Denkmale stellte Johann Friedrich Engelschall bereits 1782 fest: „Die Produkte aller Jahrhunderte haben insgemein das Schicksal gehabt, daß entweder die Unwissenheit oder die Verfeinerung und der zunehmende Geschmack nachfolgender Zeiten ihren Werth auf mehr als eine Art verkannt haben. Dies bestätigen unter andern nicht wenige schätzbare Überreste der Kunst aus dem mittleren Zeitalter. Werke, die durch ihre Größe, Kostbarkeit, und darauf gewandte Mühe in Erstaunen setzen, aber aus dem Grunde verachtet werden, weil sie ihr Daseyn zu einer Zeit erhielten, wo der sogenannte gothische Geschmack herrschte.“146
Interessanterweise rügt er die vergangenen Zeitalter aber nicht ihrer mangelhaften Geschmacksurteile wegen, sondern erkennt vielmehr an, dass die Kunstwerke der Vergangenheit „unmöglich einem feinen Geschmack schmeicheln“ können.147 Den Erhalt der Denkmale fordert er trotz deren Verstoß gegen den guten Geschmack, da sie „uns mit dem Geist der damaligen Zeit bekannt“ machen. 148 Auch der damalige Kultusminister Friedrich Eichhorn nimmt 1844 in einer Verfügung auf die zeitliche Wandelbarkeit von Geschmäckern Bezug, indem er die zeitliche Gebundenheit des jeweils eigenen Geschmacks zum Thema macht und auf dieser Grundlage Zurückhaltung empfiehlt: „Bei einer Erneuerung des inneren Zustands der alten Kirchen ist aber auch deshalb mit Schonung gegen die alten Denkmäler zu verfahren, weil dabei jedesmal die Geschmacksrichtung des Augenblicks zu entscheiden pflegt, deren Billigung seitens künftiger Generationen nicht immer vorauszusetzen ist.“149
Zu bedenken ist, dass es sich bei dem Zitierten um eine Verfügung handelte, die sich in erster Linie an die Kirche als Eigentümerin der Gebäude richtete und damit nicht an Experten der Beurteilung von Kunst. Dass die Vorstellung von den Vortei146 Engelschall 1782, S. 67. In Erweiterung zu den oben beschriebenen Facetten des Begriffs, wird hier Geschmack im Sinne von Stil verwendet. 147 Ebd., S. 78. 148 Ebd., S. 80. 149 Zit. nach Mohr de Pèrez 2001, S. 139. Vgl. auch Speitkamp 1996, S. 343 f.
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len eines professionell gebildeten Geschmacks auch zu dieser Zeit noch existierte, zeigen August Reichenspergers Andeutungen in Bezug auf die Restauration geschichtlicher Baudenkmäler aus dem Jahr 1845, der wiederum eine „allgemeine Geschmacksbildung“ als Voraussetzung für den richtigen Umgang mit dem Denkmal sieht.150 Teil dieser Bildung war eventuell auch das Bewusstsein der zeitlichen Wandelbarkeit des jeweiligen Geschmacks. Ende des 19. Jahrhunderts zieht der Generalkonservator der Kunstdenkmäler Bayerns Jakob Heinrich von Hefner-Alteneck in seinen Lebens-Erinnerungen ein Resumée seiner Arbeit als Denkmalpfleger. Auch er setzt sich hier mit dem Thema des Geschmacks auseinander, wobei jedoch neue Aspekte zutage treten. HefnerAlteneck bezieht sich zunächst auf eine Geschmacksvorstellung im Sinne einer ästhetischen Bildung, wobei er diese (im Gegensatz zu Engelschall und Eichhorn) nicht in Bezug auf seine eigene Zeit kritisch hinterfragt. Vielmehr geht er von einer niedrigen „Geschmacksrichtung und Kunstverkommenheit“ der Zeit von ca. 17601830 aus, „erst danach begann man wohl allmählich das Schöne in einer jeden Kunstrichtung zu schätzen.“151 Im Folgenden stellt Hefner-Alteneck jedoch fest, dass es nicht die Bildung allein ist, die das Kunstverständnis zu heben vermag: „Schon auf meinen Untersuchungsreisen mit dem Jahre 1840 beginnend bis zur neueren Zeit machte ich oft die traurige Beobachtung, wie wenig Menschen für die Kunst und das Schöne Sinn besitzen, und zwar selbst gebildete Kreise, bei denen es doch zum guten Ton gehört, über Kunst zu sprechen. Ja, wie oft sah ich, dass Freunde der Geschichte und Forscher, die ihr Wissen nur aus Büchern und Urkunden schöpften, gleichgültig vor einem Denkmal standen, welches der Repräsentant einer ganzen Zeitperiode ist, und auf welchem eine Persönlichkeit gewissermassen wie aus ihrem Jahrhundert heraufgestiegen vor unseren Augen steht.“ 152
Die Einfühlung in das Werk gewinnt hier gegenüber den erlernten Kenntnissen des Geschmacks an Bedeutung. Als emotionale Kompetenz – im Gegensatz zur verstandesmäßigen des Geschmacks – ist sie dabei theoretisch bildungsunabhängig. Dass Hefner-Alteneck von diesem emotionalen Zugang zum Denkmal ausgeht, zeigt auch eine andere Passage aus seinen Erinnerungen, in denen er von einem Maurer berichtet, „der mir bei meinen Arbeiten mehrmals zur Seite stand und der Gefühl wie Verständnis für alles Schöne zeigte, wie mir es bei einem Manne dieser Klasse noch nie vorkam“ und auf dessen Initiative hin das gotische Seitenschiff der Münsterkirche des Klosters Heilsbronn erhalten werden konnte. 153 Auch wenn Hef150 Vgl. Reichensperger 1996, S. 97. 151 Hefner-Alteneck 1899, S. 47. Ausgenommen werden bei dieser Wertschätzung selbstverständlich alle Richtungen der Kunst zwischen 1760 und 1830. 152 Ebd., S. 207. 153 Ebd., S. 174.
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ner-Alteneck ausdrücklich das besondere Gefühl des Mannes als spezielle Qualifikation hervorhebt, so kommt hier doch auch das Erstaunen zum Ausdruck, dieses Gefühl und Verständnis in einer ungebildeten Klasse anzutreffen. Ein emotionaler Zugang zum Denkmal ist dabei zwar möglich und notwendig, die Bildung bleibt jedoch der natürliche Weg zu einer Wertschätzung des Denkmals. Im Allgemeinen werden dem Laien und den Ungebildeten wenig Kompetenzen in Bezug auf die Denkmalbeurteilung zugesprochen, wobei der Begriff Laie hier als Gegensatz zum „Gebildeten“ verstanden werden muss, wie ein Zitat von Theodor Fischer aus dem Jahr 1902 zeigt: „Der Laie, könnte einer sagen, […] ist glücklich im Genuß des sauber wiederhergestellten Ganzen; so genau kommtʼs ihm nicht darauf an. Da muß ich freilich verstummen, denn dieser Mann hat vielleicht Recht und unsere zärtliche Sorge um das Altertum ist schon etwas schwächlich Dekadentes. Vorläufig aber ist doch wohl noch die Mehrzahl der Gebildeten in der Meinung befangen, daß die Kunstdenkmäler […] köstliche Werte seien, die nicht ersetzt werden können, und die unberührt und ungefälscht, soweit es naturmöglich ist, erhalten bleiben sollen.“154
Der Gegenpart zum Laien ist nicht der Architekt oder Kunsthistoriker, sondern „die Mehrzahl der Gebildeten“. Zur richtigen Beurteilung eines Denkmals reicht es damit immer noch aus, über eine gewisse ästhetische Bildung zu verfügen. Leider, so stellt Fischer weiter fest, fände man diese Gebildeten jedoch selten in den zuständigen Gemeindevertretungen und Kirchenräten.155 Diese Problematik der mangelnden Urteilskompetenz wurde auch von anderen Seiten erkannt, die Bildung des Urteilsvermögens wurde damit zur Aufgabe der Denkmalpflege. 1897 verfasste Wolfgang Maria Schmid vor diesem Hintergrund seine Anleitung zur Denkmalspflege, um „allen Vorständen von staatlichen und kommunalen Behörden, von kirchlichen Gemeinden und Stiftungen, unter deren Verwaltung Kunstdenkmale stehen, ein bequem zu handhabendes Hilfsmittel [zu] bieten, um zu erkennen, ob in einem gegebenem Fall ein Kunstdenkmal vorliegt und wie dasselbe als Gegenstand der öffentlichen Denkmalspflege weiter zu behandeln ist.“156
154 Fischer 1996, S. 117. 155 Vgl. ebd. Diese vergleicht Fischer mit einem Bauern, der seinen alten Schrank gegen „polierten Fabrikschund“ eintauscht; damit bringt er mangelnden Geschmack auch wieder in direkten Bezug zur sozialen Stellung. 156 Schmid 1897, S. 4.
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Die von ihm zitierte Stelle aus den Vollzugsvorschriften von 1837 orientiert sich jedoch noch an einem älteren Geschmacksverständnis, in dem der gute Geschmack als gültiges Bewertungskriterium verstanden wird: „Bei Reparaturen ist die ursprüngliche Farbe des Gebäudes, sofern sie dem guten Geschmack entspricht, beizubehalten und durchzuführen“.157 Wiederum wird die Frage, was denn nun dem guten Geschmack entspreche, offen gehalten. Dem geschmacklich gebildeten Betrachter erschließt sie sich schließlich im Einzelfall von selbst. Diese kurze Zusammenstellung verschiedener Positionen zum Thema Geschmack im Bereich der Denkmalpflege Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende zeigt also keine einheitliche Position. Der Begriff Geschmack steht sowohl für künstlerische Expertise, als auch für subjektives ästhetisches Urteil, für zeitliche Mode und für Bildung – oder, wo er fehlt, für mangelnde Bildung und damit auch Zugehörigkeit zu einer unteren sozialen Schicht. Diese Feststellung deckt sich mit den Beobachtungen Nadine Rottaus, die in Bezug auf den Begriff Geschmack in Debatten des 19. Jahrhunderts eine prinzipielle Relativierung wegen der zunehmenden Akzeptanz unterschiedlicher Stilformen feststellt, während der Begriff dennoch weiterhin wichtiger Bestandteil ästhetischer Auseinandersetzungen blieb, insbesondere im Bildungsbürgertum: „Geschmack wurde nicht nur als Ausdruck subjektiven Schönheitsempfindens verstanden, sondern als System gesellschaftlicher Konventionen aufgefasst, welches die Angemessenheit des Aussehens einer Sache oder des Verhaltens einer Person bestimmten und als objektives Ergebnis einer zivilisatorischen Leistung erlern- und vermittelbar erschienen.“ 158
Obwohl der Begriff Geschmack auch von Zeitgenossen schon als problematisch empfunden wurde, spielte er dennoch in den Debatten der Zeit weiterhin eine Rolle, wobei teilweise versucht wurde, den Begriff selbst zu vermeiden. Immer mehr kristallisiert sich in diesem Zusammenhang jedoch die Frage nach der beurteilenden Instanz und deren Legitimierung heraus.
157 Ebd., S. 75. 158 Rottau 2012, S. 64. In diesem Zusammenhang zitiert Rottau als weitere Meinung zu dem Thema Gustav Edmund Pazaurek, den damaligen Direktor des Stuttgarter Landesgewerbemuseums, der 1912 von der Möglichkeit „absoluter Geschmacksurteile“ im Bereich des Kunstgewerbes ausgeht, da gerade dieses sich durch seine Kombination von Kunst und technischen Fragen in der Beurteilung eher an den Verstand richte (vgl. ebd.). Das geschmackliche Urteil wird also immer noch dem Verstand und damit auch der verstandesmäßigen Bildung zugeordnet.
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Als Beispiel können die zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstehenden Verunstaltungsgesetze herangezogen werden.159 Verfügten die meisten Länder auch schon davor über entsprechende, Verunstaltungen verbietende Passagen in ihren jeweiligen Landesrechten, schufen diese neuen Gesetze eine neue rechtliche Handhabe für den Umgang mit Verschandelungen. Dabei stießen die Gesetze, die sich „gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich hervorragender Gegenden“ (Preußen) richteten, auf Kritik aufgrund der Frage, was denn als Verunstaltung betrachtet würde und wer darüber kompetent entscheiden könne. In Sachsen gründete sich 1907 eine Initiative (hauptsächlich getragen von Industriellen, in erster Linie Dachpappenfabrikanten, die Angst vor dem Verbot von Flachdächern hatten) gegen den Entwurf zu einem Verunstaltungsgesetz. In einem Zeitungsartikel beanstandeten die Kritiker, „daß das ästhetische Gefühl, der Geschmack, über den sich bekanntlich streiten lässt, im Gegensatze zu allen redlichen [Hervorhebung im Original] Erwerbsinteressen nach Schema F in eine allgemein gültige Uniform hineingepreßt wird.“160
Ungeachtet der Tatsache, dass die Initiative keinen Hehl daraus machte, dass sie auch wirtschaftliche Ziele verfolgte, betont man hier die Subjektivität der ästhetischen Beurteilung, stellt also den guten Geschmack als erwerbbares und definierbares Bildungsgut in Frage.161 Neben dieser Kritik einzelner Bevölkerungsteile gab es jedoch auch Kritik von städtebaulicher Seite und insbesondere auch aus juristischen Kreisen. Letztere drehte sich meist um die Frage, was denn genau eine ‚Verunstaltung‘ sei, bzw. wer das beurteilen könne.162 Cornelius Gurlitt begrüßte das Gesetz zwar grundsätzlich, da es der Denkmalpflege eine Handhabe bot, Bauten oder bauliche Veränderungen zu verbieten, wenn dadurch ein Denkmal oder seine Umge-
159 Das erste Verunstaltungsgesetz wurde 1907 in Preußen verabschiedet, es folgten Sachsen und Sachsen-Coburg 1909, Sachsen-Gotha, Oldenburg und Elsaß-Lothringen 1910, Braunschweig und Schaumburg-Lippe 1911 und 1912 Hamburg 1912. In den süddeutschen Ländern Bayern, Baden, Württemberg, Hessen wurden ähnliche Vorschriften in die Landesbauordnungen und Polizeistrafgesetzbüchen aufgenommen (vgl. Leidinger 1993, S. 32 ff). 160 Zit. nach Speitkamp 1996, S. 370. 161 Inwieweit es dabei eine Rolle spielt, dass die noch vergleichsweise junge bürgerliche Schicht der Industriellen sich hier gegen ein elitäres Bildungsbürgertum emanzipiert durch Infragestellung eben dieser Bildung als Statussymbol, soll hier nur als Frage in den Raum gestellt werden. Hier können jedoch zumindest hintergründig auch soziale Aspekte bei der Argumentation eine Rolle gespielt haben. 162 Vgl. Speitkamp 1996, S. 306.
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bung verunstaltet würde.163 1908, also noch vor Verabschiedung des sächsischen Verunstaltungsgesetzes, setzt er sich jedoch auch kritisch mit dem entsprechenden Paragraphen des Baugesetzes auseinander. Die dort gewählte Formulierung verbietet Bauten, die dem betreffenden Orte „zu offenbaren Unzierde“ gereichen. 164 Der Kern des Gesetzes liegt für Gurlitt in dem Wort offenbar, das er dahingehend interpretiert, dass die Unzierde für jedermann sichtbar sein müsse und dabei nicht nur das beinhalte, was „dem ästhetisch gebildeten Auge missfällt“. 165 Mit diesem „jedermann“ bezieht sich Gurlitt auf eine Fromulierung des sächsischen Oberverwaltungsgerichts. In einer Befragung zum neuen Verunstaltungsgesetz vor der 11. Kammer weist Gurlitt daran anknüpfend auf die damit einhergehende Problematik hin: „In meiner Rede […] wies ich darauf hin, daß der Begriff des ‚Jedermann‘ unklar sei. Denn unter der bisher bestehenden Ansicht beziehe es sich auf den Durchschnittsmenschen, also auf eine Person, die erst zu konstruieren ist. Wer ist Durchschnittsmensch?“ 166
Gurlitt schlägt daher eine differenziertere und fallspezifische Betrachtungsweise vor. Da die Handlungsgrundlage der Gesetze die Wahrung des öffentlichen Interesses ist, ist es in diesem Fall nicht möglich, eine Verunstaltung durch eine ästhetisch gebildete Elite feststellen zu lassen. Vielmehr muss die ästhetische Verunstaltung von einer breiten gesellschaftlichen Schicht als solche wahrgenommen werden. Dies deckt sich jedoch keinesfalls mit den zeitgenössischen Vorstellungen von ästhetischen Geschmacksurteilen, die aufgrund einer Bildung gefällt wurden, die nicht jedermann zugänglich war. Trotz dieser grundlegenden Problematik wurden die Verunstaltungsgesetze 1936 im Rahmen der reichseinheitlichen Baugestaltungsverordnung weitergeführt.167 Nach dem zweiten Weltkrieg lassen sich Passagen und Gedanken der Ver-
163 Vgl. Gurlitt 1919, S. 25. 164 Vgl. Gurlitt 1908, S. 10. 165 Vgl. ebd.; „Dieses „jedermann“, auf das sich Gurlitt bezieht, wurde auch andernorts als Maßstab zur Beurteilung von Verunstaltungen herangezogen. Bereits 1882 stellte das preußische Oberverwaltungsgericht fest, dass eine Verunstaltung „nicht schon dann vor[liege], wenn nur eine vorhandenen Formschönheit vermindert wird oder auch ganz verloren geht“ oder wenn eine „Störung der architektonischen Harmonie“ drohe, sondern nur die „Herbeiführung eines positiv häßlichen, jedes offene Auge verletzenden Zustandes“ stelle eine Verunstaltung dar (zit. nach Speitkamp 1996, S. 292). 166 Gurlitt 1919, S. 25 f. 167 Vgl. Leidinger 1993, S. 35 f.
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unstaltungsgesetze in den neuen Denkmalschutzgesetzen wiederfinden.168 Interessanterweise zitiert Paschke in diesem Zusammenhang ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1955, in dem sich dieses abermals mit der Frage beschäftigt, was eine Verunstaltung ausmache, und wer dazu imstande sei, diese zu beurteilen. Dabei schließt sich das Bundesverwaltungsgericht der Meinung seiner sächsischen und preußischen Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert an. Verunstaltung sei demnach nicht gleichbedeutend mit jeder Beeinträchtigung der architektonischen Harmonie; der hervorgerufene Zustand müsse vielmehr als „häßlich“, also nicht nur als ästhetisch störend, sondern als „verletzend“ empfunden werden. Der so empfindende Betrachter wiederum sollte weder ästhetisch besonders geschult oder sensibel, oder, im Gegenteil, völlig gleichgültig sein, sondern „den ästhetischem Erleben offenen, den gebildeten Durchschnittsmenschen“ entsprechen. 169 In der Praxis, so hält Paschke lakonisch fest, handele es sich dabei üblicherweise um das zuständige Verwaltungsgericht. Der Begriff des Geschmacks ist aus dieser Herangehensweise vollkommen getilgt, dennoch finden sich in dem Gedanken an den gebildeten Durchschnittsmenschen Anklänge an die mit dem Bildungsbegriff gekoppelten Geschmacksvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert. Silke Haps sieht im gesetzlich verordneten Zwang einen der Wege, mit denen im 19. Jahrhundert versucht wurde, dem allgemein empfundenen „Sinken des Geschmacks“ entgegenzuwirken.170 Da Geschmack aber auch eine Frage der Bildung war, wurde daneben versucht, die ästhetische Bildung des Volks zu verbessern. Auch Georg Dehio vertrat in diesem Sinne pädagogische Ansätze und hoffte auf deren Breitenwirkung. Da er das kunsthistorische Wissen und das ästhetische Urteilsvermögen seiner Zeitgenossen auf einem Tiefpunkt angekommen sah, wollte er dessen „Genußfähigkeit“ und „Sehtüchtigkeit“ steigern.171 Dehios pädagogischer Ansatz richtet sich dabei jedoch stets an ein schon prinzipiell interessiertes Publikum, es scheint ihm weniger um Volksbildung (wie etwa Morris) gegangen zu sein. Seine Idee der „Sehertüchtigung“ formulierte er in seiner Funktion als Dozent für Kunstgeschichte 1887,172 also in einem universitären Bildungskontext. Und auch das von ihm ins Leben gerufene Handbuch – der Dehio – verfolgte zwar einen pä168 Sigrid Brandt weist darauf hin, dass der gesetzlich verankerte Umgebungsschutz in der DDR keine tiefgreifende Neuerung darstellte, sondern dass der betreffende Passus lediglich aus älteren Verunstaltungsgesetzen übernommen wurde (vgl. Brandt 2003, S. 96). Auch Paschke sieht im Umgebungsschutz in westdeutschen Denkmalschutzgesetzen eine inhaltliche Anknüpfung an die vorherigen Verunstaltungsgesetze (vgl. Paschke 1972, S. 24). 169 Vgl. Paschke 1972, S. 75. 170 Vgl. Haps 2013b, S. 79. 171 Vgl. Scheurmann 2005, S. 54. 172 Vgl. Haps 2013b, S. 76.
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dagogischen Anspruch, indem es sich explizit nicht an ein Fachpublikum richtete, sah aber als Zielpublikum einen „weiteren Kreis der Gebildeten“ 173 an, womit es sich nicht um ein reformatorisches Instrument zur Volksbildung handelt, sondern um ein Produkt für das bereits vorgebildete Bürgertum. Alois Riegls Arbeiten werden in der Regel ‚bildungsferner‘ interpretiert. So setzt Wilfried Lipp Riegls Alterswert 1994 in direkten Bezug zu Schillers „ästhetischer Erziehung“: „Riegls Hoffnung war durchaus im Sinne der ‚ästhetischen Erziehung‘ Schillers, durch die Stimmungswirkung des Alterswerts, allein auf ästhetischem Weg, ohne konnotativen Bildungsballast, das Lebensprinzip schlechthin, den ‚Kreislauf von Werden und Vergehen‘ gewissermaßen als Ausdruck des (göttlichen) Plans anschaulich werden zu lassen“.174
Tatsächlich betont Riegl immer wieder den Vorteil des Alterswerts, für jedermann erfahrbar zu sein, und „keine wissenschaftliche Erfahrung“ vorauszusetzen, sondern „alle Menschen ohne Unterschied der Verstandsbildung“ anzusprechen. 175 Diese Tatsache ist daher so wichtig, weil Riegl daraus einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit ableitet. Diese Allgemeingültigkeit kann schließlich die Grundlage für ein allgemeines Interesse bilden. So wird der Alterswert schließlich als Konstrukt die legitimierende Grundlage für eine denkmalschützende Gesetzgebung. Was die Verunstaltungsgesetze durch den Rückgriff auf einen imaginären Durchschnittsmenschen zu lösen versuchten, löst Riegl durch die Einführung eines universellen Wertes. Dabei weist Bernd Euler-Rolle darauf hin, dass auch Riegls Alterswert, bei aller Universalität, seinen Ausgangspunkt zunächst bei den „gebildeten Klassen“ hatte. 176 Auch in seinem modernen Denkmalkultus räumt Riegl ein, dass der Alterswert seine Wurzel zunächst im historischen Wert hatte, nun aber die Errungenschaften der Wissenschaft für alle darstelle.177 Dadurch wird der Alterswert für ihn zu einer „Erscheinungsform der allgemeinen sozialen Bewegung“.178 Angesprochen werden sollten dabei die Gefühle und nicht der Verstand. Jedoch lassen sich bei aller Eu173 Dehio in Zweiter Tag für Denkmalpflege 1901, S. 124. 174 Lipp 1994, S. 7. 175 Riegl 1903, S. 9. 176 Vgl. Euler-Rolle 2010b, S. 52. Euler-Rolle zitiert hier Riegls Entwurf einer gesetzlichen Organisation der Denkmalpflege in Österreich von 1903, der zeitgleich mit dessen ‚modernen Denkmalkultus‘ entstand. Zur inhaltlichen Verbindung der beiden Texte vgl. Bacher 1995. 177 Vgl. Riegl 1903, S. 28. 178 Riegl, Entwurf einer gesetzlichen Organisation der Denkmalpflege, zit. nach Höhle 2010, S. 43.
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phorie auch bei Riegl hier gewisse Einschränkungen finden, wenn auch nicht in seinem programmatischen Denkmalkultus, so doch in seinen 1905 formulierten Strömungen in der Denkmalpflege. In Bezug auf einen allgemeinen Denkmalwert (also nicht der spezifische Alterswert) setzt er das Ziel, dass er eine „Gefühlssache der breiten Masse“ werde – und schränkt dies gleichzeitig ein: „wenigstens der Gebildeten“.179 Euler-Rolle schließt hieraus, dass sich auch die zeitgenössischen Autoren – inklusive Riegl – darüber im Klaren waren, dass alle Denkmalwerte, inklusive des Alterswerts von der jeweiligen Bildung des Betrachters abhängig seien. Konrad Lange führt diesen Gedanken auf dem Tag für Denkmalpflege 1910 aus, indem er betont, dass der Alterswert auf den durch das Denkmal hervorgerufenen historischen Assoziationen beruhe. Diese würden umso stärker empfunden, „je tiefer die historische Bildung“ sei.180 Auch für den emotionalen Zugang ist damit eine Form der Bildung notwendig.181 Während Riegl den Begriff des Geschmacks geflissentlich vermeidet, setzt sich sein Schüler Dvořák explizit damit auseinander. Seiner Zeit entsprechend – wie bereits gezeigt wurde, war der Begriff des Geschmacks Anfang des 20. Jahrhunderts längst als Grundlage zur Festlegung von Qualitäten umstritten – wehrt sich Dvořák dagegen, dass Denkmalpflege eine Frage des Geschmacks sei. Stattdessen führt er den Begriff der „Pietät“ ein.182 Diese Pietät ist für ihn keine „Frage der Kenntnisse, […] sondern eine Frage der allgemeinen Bildung des Geistes und des Charakters“.183 Euler-Rolle setzt diesen Ansatz mit einem anderen Verständnis von Bildung in Zusammenhang, das sich nicht auf Wissen beschränke, sondern sich vielmehr auf eine Charakterbildung beziehe.184 Gleichzeitig zeigt sich hier die traditionelle Grundvoraussetzung des guten Geschmacks, die sowohl auf einer natürlichen Anlage beruht, als auch das Ergebnis einer entsprechenden Bildung ist. Dvořák
179 Riegl 1905, S. 92. 180 Lange in Oechelhaeusr 1913, S. 212. 181 Dabei muss bedacht werden, dass die Einstellungen der Denkmalpflege in diesen Belangen scheinbar keineswegs einheitlich waren. Ein Jahr nach Konrad Lange betonte Georg Hager auf einem Vortrag in Graz die besondere Rolle der Denkmalpflege in Bezug auf die Lösung der sozialen Frage, die er dadurch begründete, dass die Denkmale und ihre „ideale Welt“ jedermann zugänglich seinen, auch den „breitesten Massen“, da es dazu keiner „besonderen Vorbildung bedürfe“ (zit. nach Euler-Rolle 2010b, S. 51). 182 Vgl. Dvořák 1918, S. 36 f. 183 Ebd., S. 8. 184 Euler-Rolle zitiert in diesem Zusammenhang Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in der dieser die „eigentliche und lebensvolle Bildung“ dem „Wissen um Bildung“ gegenüberstellt (vgl. ebd).
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selbst spricht von „eine[r] künstlerische[n] Disposition und Erziehung“. 185 Dabei legt Dvořák – wohl im Bewusstsein der sozialen Gesichtspunkte in der Geschmacksdebatte – Wert darauf zu betonen, dass die von ihm vorgestellte Ausprägung der Bildung nicht zwingend von der jeweiligen sozialen Schicht abhängig ist: „Wer in Denkmälern nichts anderes sieht als altes ‚Gerümpel‘, das je nach Umständen so bald als nur möglich zu beseitigen oder „nutzbringend“ in der Kalkgrube, bei Neubauten, im Ofen oder beim Trödler zu verwerten sei, ist, welcher sozialen Schicht auch immer er angehören mag, ein roher Mensch ohne Bildung und Erziehung, der nicht anders zu beurteilen und zu behandeln ist, als wenn er sonst irgendwie die elementarsten Rücksichten, die jeder zivilisierte Mensch den idealen Gemeingütern gegenüber haben muß, verletzt würden.“ 186
Es stellt sich jedoch die Frage, ob er mit dieser Aussage tatsächlich die Urteilsfähigkeit auch niederer sozialer Klassen rehabilitieren möchte – oder nicht vielmehr die Möglichkeit zum Ausdruck bringen will, dass auch Menschen aus gebildeten Klassen pietätlos handeln können. Dass er dem ästhetischen Urteil der „Bevölkerung“ doch eher skeptisch gegenübersteht, zeigt sich an anderer Stelle: „Die Bevölkerung hat zumeist kein selbständiges Kunsturteil, ihr gefällt das Neue, weil es neu ist, und selbst wenn tatsächlich die neuen wertlosen Machwerke bei ungebildeten Leuten einen gewissen Anklang finden sollten, ist es doch offenkundig falsch, daß man nur auf sie Rücksicht nimmt, indem man das zerstört, was kunstsinnigen und gebildeten Menschen teuer war.“187
Es gibt also einerseits die „Bevölkerung“ und andererseits die „gebildeten Menschen“. Dass die Grundlage der Bildung nicht allein das Wissen, sondern auch die Fähigkeit zur Empfindung ist, lässt die Sache dabei nicht weniger elitär werden. Empfindungsfähigkeit im Sinne einer Disposition ist dabei nicht das allgemein zugängliche Pendant zur historisch-wissenschaftlichen Herangehensweise, sondern ist selber wieder von einer Form der Bildung abhängig und erhält somit auch Exklusivität. Neben der Rolle der Bildung und des Bildungsbürgertums bei der Beurteilung von Kunst und Ästhetik kam jedoch spätestens ab der Jahrhundertwende eine dem entgegengesetzte Entwicklung auf, die das ästhetische Empfinden ‚des Volkes‘ als neuen Maßstab betrachtete. Dies war Folge einer Rückbesinnung auf das vermeintlich Ursprüngliche und Einfache als Gegenkonzept zu einer als überentwickelt 185 Dvořák, Denkmalkultus und Kunstentwicklung, 1910, zit. nach Euler-Rolle 2010b, S. 52. 186 Dvořák 1918, S. 33. 187 Ebd., S. 19.
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wahrgenommenen, großstädtischen und industrialisierten Welt. Dadurch kam auch Kritik an der Denkmalpflege und den durch sie vertretenen ästhetischen Werturteilen auf. Wilfried Speitkamp zitiert in diesem Kontext verschiedene bayerische Zeitungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts die „patentierte großstädtische Kunstmeinung“ kritisieren und darüber hinaus bemängeln, dass die „Kunstbuerokraten“ bei ihrer Arbeit nicht „auf die Kunstpsyche des Volkes“ eingingen. 188 Aus diesen Zitaten spricht nicht nur der Unmut über die Arbeits- und Beurteilunsgweise einer Institution. Dem ‚Volk‘ wird im Zusammenhang mit der Kritik an Großstadt und zunehmender Industrialisierung ein neuer Platz in der Gesellschaft zugeteilt, indem es die Vorstellungen vom Ursprünglichen und moralisch Guten auf sich vereint. Innerhalb dieses Denkkonzepts ist auch das ästhetische Urteil des Volks das eigentlich wahre, weil unverfälschte Urteil. Das Wesen des Volks drückt sich auch in dessen Ästhetik aus.189 In der folgenden Zeit setzte sich auch die Denkmalpflege mit diesem Ideal des Antiakademischen auseinander. Auf dem Denkmaltag in Berlin 1919 geschah dies unter der Fragestellung nach einer Einschränkung der Nutzung von Denkmalen. Die dort formulierten Meinungen, alle in Bezug auf die Nachnutzung von Schlossanlagen getätigt, reflektieren die Vermittlungsaufgaben der Denkmalpflege an das Volk im Sinne einer ästhetischen Bildung, treten diesem ‚Volk‘ aber aus ganz unterschiedlichen Perspektiven gegenüber. Georg Hager, der in seinem Wirken am Bayerischen Landesdenkmalamt die antiakademischen Aspekte der Denkmalerfahrung stärken wollte190, forderte den möglichst freien Eintritt zu allen Schlössern und kostengünstige oder unentgeltliche Führer, die den Besuchern leicht verständlich „Gedanken zum künstlerischen Verständnis“ vermittelten, daneben öffentliche Veranstaltungen und Vorträge.191 Das Denkmal ist für ihn also sowohl Ort des unmittelbaren ästhetischen Erlebens als auch Bildungsort. Schließlich stellt auch das Sehenund Genießenkönnen bereits ein Lernziel dar, das mit Hilfe einer Verbesserung des „künstlerischen Verständnisses“ gehoben werden kann. Nicht alle Teilnehmer des Tags für Denkmalpflege sahen die Öffnung der Denkmäler als vollkommen unproblematisch an. So sprach sich Walter Mackowsky 188 Donau Zeitung, 27.08.1909 bzw. Bayerisches Vaterland, 31.8.1909; zit. nach Speitkamp 1996, S. 357. 189 Die Denkmäler selbst wurden in diesem Zusammenhang ebenfalls als Teil und Ausdruck des „nationalen Daseins“ (Georg Hager, 1905) gesehen, die als solche in ihrer Vorbildfunktion für das Volk erhalten bleiben sollten (vgl. Hellbrügge 1991, S. 68). 190 Vor diesem Hintergrund veranstaltete er beispielsweise regelmäßige Exkursionen und Führungen, um „die einheimische Bevölkerung auf die Bedeutung und den Wert ihrer Bau-, Kunst- und Naturdenkmäler“ hinzuweisen (Sch. 1919, S. 95). Vgl. dazu auch Haps 2013b, S. 82. 191 Erweiterte Ausschuss-Sitzung 1919, S. 26.
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zwar für die öffentliche Zugänglichkeit der Anlagen in Kassel Wilhelmshöhe aus, wollte dabei aber sicherstellen, dass sie dadurch nicht „im üblen Sinn zu Stätten allgemeiner Volkserholung […] mißbraucht werden.“192 Das ‚Volk‘ in dieser ‚Volkserhohlung‘ ist nicht mehr das unverfälschte gesellschaftliche Idealbild, sondern in seinem Mangel an Bildung eine potenzielle Gefahr für das Denkmal. Eine dritte Meinung auf derselben Tagung wird von Edmund Renard vertreten, der sich zwar ebenfalls dem emotionalen Zugang zum Denkmal widmet, beim Zielpublikum jedoch offensichtlich eine gewisse Bildung voraussetzt: „Das Klarinettenquartett von Mozart im Gartensaal des Brühler Schlosses, im verdunkelten Raum, nur bei Kerzenlicht der Notenpulte, das zitternd über den reichen Stuckmarmor huschte und sich in einzelnen Strahlen in dem schönsten Treppenhaus verlor, ist für mich wohl die höchste Offenbarung der weltumspannenden Kultur des 18. Jahrhunderts gewesen. Von diesem hohen Kulturerbe der Vergangenheit in unser armes, trübes Zeitalter hinüberzuretten, was nur eben möglich ist – zu unserer Aufrichtung, Erbauung und Bildung – alles Häßliche von ihm fernzuhalten […] ist unsere Aufgabe.“193
Renard geht von der Denkmalerfahrung eines gebildeten Besuchers aus, bei dem sich ästhetisches Erleben mit historischem Wissen zu einem neuen Gesamteindruck des Denkmals verdichten. Dieser Zugang ist jedoch nur möglich durch eine historische und ästhetische Vorbildung. Die Beispiele zeigen, dass Bildung nach wie vor als Hauptvoraussetzung für die Möglichkeit zum Erkennen auch ästhetischer Denkmalkriterien betrachtet wurde. Eine verstärkte Fokussierung auf ästhetische und emotionale Komponenten in der Denkmalwahrnehmung führten in diesem Zusammenhang nicht zu einer breiteren Zugänglichkeit im Sinne von subjektiven ästhetischen Urteilen. Durch die Fokussierung auf ästhetische Zugangsweisen und die gleichzeitige Auflösung des formalästhetischen Kanons steht die ästhetische Beurteilung von Denkmalen in der Tradition älterer Geschmacksvorstellungen. Die zur ästhetischen Beurteilung notwendige Bildung ist dabei eine umfassende Bildung, die nicht auf Fachwissen zu beschränken ist. In diesem Sinne spielte der Geschmack weiterhin eine Rolle, auch wenn er begrifflich seit Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwindet. Außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses bleibt die Frage nach dem Geschmack jedoch virulent. Frank Illing führt dies darauf zurück, dass die Wirkungsästhetik idealistische Regelästhetiken eben nicht ablöste, sondern bis heute mit ihnen in einem Spannungsverhältnis steht. 194 Dabei ist Geschmack bis heute
192 Ebd. S, 18. 193 Ebd. 154.. 194 Illing 2006, S. 56.
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vor allem zeitlich und sozial bedingt.195 Und bis heute werden über die Frage nach dem Geschmack außerdem auch Aspekte des angemessenen Verhaltens mitdiskutiert. In diesem Sinne können nach Illing Konflikte über unterschiedliche ästhetische Bewertungen auch als „Indizien für umkämpfte Fragen der ‚richtigen‘ Lebensführung“ gesehen werden, „die auf der Ebene des Sichtbaren […] verhandelt werden.“196 Im Bereich der Denkmalpflege kann man Spuren ähnlicher Konflikte besonders dann bemerken, wenn es um die Frage nach der Legitimation ästhetischer Präferenzen geht. Die Frage nach künstlerischen und ästhetischen Urteilen ist dabei zwangsläufig verbunden mit den verschiedenen Positionen von Laien und Experten und deren Verhalten zueinander – und mit ästhetischer Bildung. Noch 1948 sah Georg Lill auf einer Tagung zu den Aufgaben der Denkmalpflege in München für die Denkmalpflege als Entscheidungsinstanz keinen Rechtfertigungsgrund: „Wir müssen in geistigen Dingen führend sein, diese Entscheidung können wir nicht dem Volk überlassen. Es kann über politische und wirtschaftliche Dinge abstimmen, nicht aber über geistige und künstlerische.“197
Ihre Legitimation erhält die Denkmalpflege durch ihr Amt bzw. durch die jeweilige professionelle Expertise des Denkmalpflegers. Diese Expertise möchte Gerhard Strauß auf der gleichen Tagung nicht in Frage stellen, richtet sich aber gleichzeitig gegen eine „Diktatur“ der Denkmalpflege: „Verpflichtende Aufgabe des Denkmalpflegers muß es sein, eine über das allgemeine Niveau hinausgehende Kenntnis unbedingt durchzusetzen. Der letzten Bemerkung von Prof. Lill [s.o., S. H.] ist nicht in vollem Maße zuzustimmen, dem Volk steht die letzte Entscheidung zu. Der Denkmalpfleger hat die Aufgabe, erzieherische Situationen auszunützen und sich in der Bevölkerung durchzusetzen.“198
Im Vergleich zu den Diskussionen vor dem zweiten Weltkrieg hat hier eine grundlegende Veränderung stattgefunden. Das Volk wird nicht mehr nur als Adressat der Denkmalpflege gesehen, sondern soll auch die Möglichkeit der Einflussnahme auf deren Entscheidungen erhalten. Straußʼ Ideal ist dabei ein so weit gebildetes Volk,
195 Vgl. ebd., S. 7. 196 Ebd., S. 14. 197 Zit. nach Körner 2000, S. 45. 198 Zit. nach ebd., S. 45 f. Die unterschiedlichen Herangehensweisen spiegeln eventuell auch die unterschiedlichen politischen Verhältnisse, in denen die beiden Protagonisten agieren, und deren Einfluss auf die Legitimation der Denkmalpflege wider.
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dass es einer Reglementierung gar nicht mehr bedarf. Dies bezieht sich sowohl auf ästhetische als auch auf andere Kriterien. Diese Frage nach der Beteiligung des Volks (bzw. später des Bürgers) an der Denkmalpflege stellt seitdem ein wiederkehrendes Thema der Denkmalpflege dar (vgl. dazu auch Kapitel 5.3). Gerade im Zusammenhang mit ästhetischen Präferenzen werden dabei immer wieder Diskrepanzen zwischen den Experten der Denkmalpflege und dem Urteil der Denkmallaien sichtbar. Hanno Rauterberg versucht 2002 dieses Problem und seine möglichen Ursachen zu schildern: „Mein Verdacht ist, dass sich die Interessen und Bedürfnisse von Denkmalprofis und Denkmallaien in vielen Fällen fundamental unterscheiden und deswegen die beschriebenen Zerrbilder entstehen. Beiden gemeinsam ist zwar die Suche nach dem Eigentlichen, nach dem Wesentlichen und Authentischen, beide mögen darauf hoffen, im Denkmal der Geschichte möglichst unmittelbar zu begegnen. Der Profi hält für eine solche Begegnung das Original in all seiner Komplexität für unabdingbar. Der Laie hingegen keineswegs. Ihn interessiert weniger das Objekt, als dessen Anschein, weniger die Substanz als dessen Bild. Mit anderen und pauschalisierenden Worten: Es genügt ihm der Eindruck, er verlässt sich auf die Atmosphäre, den Anschein, auf sein Gespür für Stimmungen. Und für diese Stimmung, in die er vom Denkmal versetzt werden möchte, ist dieses Original hinreichend, doch nicht zwingend.“ 199
Rauterberg sieht ein Teil des Problems also darin begründet, dass der Laie ein Denkmal in erster Linie ästhetisch (also sinnlich) wahrnimmt, wohingegen der Profi sich ihm in seiner Komplexität – also tendenziell eher verstandesmäßig – nähert. Dabei geht Rauterberg offensichtlich von einer ästhetischen Wahrnehmung aus, die keiner ästhetischen Bildung bedarf. Es geht hier also nicht mehr um verschiedene ästhetische Urteile, sondern das ästhetische Urteilen wird gänzlichem dem Laien zugeordnet und dem wissenschaftlich-professionellen Urteil konträr entgegengesetzt. Die französische Soziologin Nathalie Heinich ging der Frage der Gegenüberstellung von ästhetisch-laienhaft und wissenschaftlich-professionell im Rahmen einer Studie nach, in der sie über einen längeren Zeitraum Denkmalpfleger bei ihrer Arbeit in der Inventarisation begleitete und dabei ihre Bewertungsstrategien untersuchte. Dort machte sie die Beobachtung, dass die von ihr begleiteten Denkmalpfleger ebenso wie Laien („gens ordinaires“) zwar einen emotionalen, ästhetisch begründeten Zugang zum Denkmal haben, diesen aber bei ihrer professionellen Beurteilung versuchen auszuklammern.200 Sie trennt daher zwischen einer „beauté esthetique“, basierend auf einem sinnlich-emotionalen Zugang und der „beauté scienti-
199 Rauterberg 2002, S. 53 f. 200 Vgl. Heinich 2006, S. 28.
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fique“, die auf einem intellektuellen Zugang beruht und anhand wissenschaftlicher Kriterien wie kunsthistorisch fassbarer Qualitäten erklärbar ist. 201 Ästhetik wird sowohl bei Rauterberg als auch bei den von Heinich untersuchten Inventarisierern als rein sinnliches Phänomen verstanden. Damit fehlt eine wichtige Komponente im Vergleich zum Geschmack, der, obwohl ästhetisches Urteil, bildungsbasiert ist. Gleichzeitig zeigen beide Autoren eine Abgrenzung des Wissenschaftlichen vom Nicht-Wissenschaftlichen.202 Das Wissenschaftliche wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass es möglichst außerhalb ästhetischer Aspekte verbleibt. Der Geschmack scheint also nicht nur begrifflich sondern auch in all seinen inhaltlichen Facetten aus denkmalpflegerischen Diskursen verschwunden zu sein. Lediglich in Form einer Kritik am schlechten Geschmack scheint er in einigen Randbereichen implizit eine Rolle zu spielen. Insbesondere in den oft emotional geführten Diskussionen um Rekonstruktionen und ‚Disneyfizierung‘ 203, die, wie schon gezeigt wurde, auch eng verbunden sind mit dem Thema der Ästhetisierung, lassen sich einige Aspekte, insbesondere die der Abgrenzung, finden. Die vorgebrachten Argumente greifen eine ästhetische Verflachung auf, in der eine als wahrhaftig betrachtete Kunst durch oberflächliche Pseudo-Kunst, durch Kitsch, ersetzt wird. Kitsch bezeichnet in diesem Sinne Machwerke, die nicht auf innovativen künstlerischen Leistungen beruhen, sondern auf bekannte Klischees zurückgreifen, um gewollte Effekte zu erzielen.204 Dabei ist es meist derjenige mit weniger Bildung, der den Kitsch nicht als solchen erkennt. Frank Illing sieht den Grund dafür in der Schnelligkeit künstlerischer Innovation, die nur noch von Experten verfolgt werden kann: „Aus deren Sicht ist dann alles ästhetisch Formelhafte, das an einem Punkt der Entwicklung stehengeblieben ist, kitschig. Darunter fällt dann fast stets der Geschmack derjenigen, die mit weniger kulturellem Kapital ausgestattet sind und so Teile jener Entwicklung versäumten. Was dem einen noch als neue, authentische ästhetische Erfahrung erscheint, weil er weder die hochkulturellen Vorläufer kennt, noch deren geschichtlichen Stellenwert einordnen kann, ist für den Experten schon Kitsch, weil er die risikolose Übernahme einst neuer ästhetischer Verfahren erkennt.“205
201 Vgl. ebd., S. 23. 202 Hoffmann-Axthelm macht in diesem Zusammenhang das Vergleichspaar „fachlichobjektivierend“ und „subjektiv-erlebnisbezogen“ auf (Hoffmann-Axthelm 2000, S. 15). 203 Der Bezug auf Disneyland ist gängig, stellvertretend sei hier lediglich auf Lipp und seinen Text zum postmodernen Denkmalkultus verwiesen (vgl. Lipp 1994, S. 9). 204 Vgl. Schweppenhäuser 2007, S. 54 f. 205 Illing 2006, S. 223. Der Begriff vom kulturellen Kapital ist Bourdieu entlehnt, für den sich das jeweilige kulturelle Kapital, mit dessen Hilfe sich der einzelne Mensch in der
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Auch Norbert Elias sah daher in der Auseinandersetzung um Kunst und Kitsch einen Ausdruck der „Spannung zwischen dem reich durchbildeten Geschmack der Spezialisten und dem unentwickelten, unsicheren Geschmack der Massengesellschaft.“206 Die Kritik am denkmalunsensiblen Umgang mit städtischen Ensembles oder auch in Rekonstruktionsdebatten knüpft mitunter an solche Motive an. In dem schon erwähnten Band Denkmalpflege statt Attrappenkult schildert Michael Falser die Herausforderungen, die sich der Denkmalpflege auf diesem Gebiet stellen: „Seit der Postmoderne ist das Angebot immer perfekter simulierter Erlebniswelten unmittelbar neben überkommenen Baudenkmälern auch im realen Stadtraum angestiegen. Damit ist aber auch der Betrachter mit der Unterscheidung der gebauten Umwelt in alt-neu, jünger-älter oder gar echt-falsch zunehmend überfordert. […] Die Folge ist, daß sich die breite Bevölkerung immer mehr dem erlebnisorientierten, kulturellen ‚window-shopping‘ hingeben kann und heute durch die schnelle Reizabnutzung der jetzt auch virtuellen Schönbilder schnell desinteressiert und gelangweilt, aber in immer neuer Gier von Angebot zu Angebot hetzt.“ 207
Falser hebt in diesem Zusammenhang auch die Verantwortung der Denkmalpflege hervor. Es stellt sich jedoch die Frage nach den geeigneten Mitteln. Galt zur Jahrhundertwende die Erziehung zum guten Geschmack als bestes Mittel gegen den verbreiteten schlechten Geschmack, ist dies heute nicht mehr möglich, da eine normative Vorstellung des ‚guten Geschmacks‘ nicht mehr formuliert werden kann. Die Denkmalpflege hat sich damit auch aus dem Bereich der ästhetischen Bildung zurückgezogen. Ein Einwirken gegen einen empfundenen schlechten Geschmack kann also lediglich in politischer und historischer Aufklärung gesucht werden. Die ästhetische Erziehung weicht somit einer auf Fakten basierenden Wissensbildung. 5.2.2 Schönheit und gesellschaftliche Ordnung Neben der auf das Subjekt zielenden ästhetischen Erziehung und dem auf subjektivem Vermögen beruhenden guten Geschmack gab es immer wieder auch Versuche, das Ästhetische gezielt gemeinschaftsbildend zu nutzen. Die Denkmalpflege und auch die Denkmalästhetik werden somit in den Dienst der Etablierung gesellschaftGesellschaft positioniert, abhängig ist von Aspekten wie Bildung und sozialer Herkunft (vgl. Bourdieu 1987, S. 143 f.). 206 Elias 2004 (1934), S. 25. 207 Falser 2011, S. 96. Ute Frevert merkt an, dass Formulierungen wie „das breite Publikum“ u.ä. meist implizit darauf schließen lassen, dass mit den Genannten, die jeweils anderen und meist die nicht akademisch gebildeten Bevölkerungsschichten gemeint sind. Auch hier klingen also wieder die Abgrenzungsmechanismen der Geschmacksurteile nach (vgl. Frevert 2011, S. 19).
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licher Ordnungen gestellt. Die entsprechenden Mechanismen sollen im Folgenden anhand der als gesellschaftliche Ordnungssysteme begriffenen Konzepte der Nation und der Stadt erörtert werden. 5.2.2.1 Erziehung zur Nation In seinem Vortrag aus dem Jahr 1975 hebt Willibald Sauerländer die Verankerung der Denkmalpflege im Historismus hervor und betont gleichzeitig, dass es zum Selbstverständnis dieser historistischen Denkmalpflege gehörte, in den Denkmalen nicht nur Urkunden des Vergangenen zu sehen, sondern auch Vorbilder für zukünftiges – patriotisches oder künstlerisches – Schaffen. Dieser „Erbteil der alten idealistischen Ästhetik“ wurde so Teil der Denkmalpflege, die Denkmalpflege Teil einer „bürgerlich-patriotischen Bildungsaufgabe“.208 Diese Bildungsaufgabe beinhaltete nicht nur die bereits oben geschilderte ästhetische Bildung, sondern auch eine patriotische Bildung. Die Erhaltung der historischen Denkmale diente dabei auch der Sichtbarmachung einer gemeinschaftsstiftenden Vergangenheit. Im Zuge dieser Sichtbarmachung spielten wiederum ästhetische Komponenten eine Rolle. So stellt die nationale Erziehung im Rahmen der Denkmalpflege zwar keine ästhetische Erziehung im oben beschriebenen Sinne dar, da sie andere Ziele verfolgt, enthält aber dennoch ästhetische Aspekte. Dies äußert sich vor allem in Bereichen, in denen einer bestimmten ästhetischen Ausdrucksweise nationale Attribute zugeteilt werden und in einer ästhetischen (also auf die sinnliche Wahrnehmung fokussierenden) Herangehensweise an das Denkmal von nationalem Wert. Die Rolle der Denkmalpflege bei der deutschen Nationalbildung wurde schon von verschiedenen Autoren behandelt,209 weshalb hier nur auf einige thematisch relevante Aspekte eingegangen werden soll, die die Rolle der Ästhetik in diesem Prozess beleuchten. Ausschlaggebend für die steigende Bedeutung der Denkmale seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist ein Wandel in ihrer Funktion. Wurden sie zunächst als materielle Geschichtszeugnisse betrachtet, entwickelten sie sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu patriotischen Identifikationsobjekten. 210 Wichtig war es, sich als Nation nicht nur auf eine gemeinsame Vergangenheit berufen zu können, diese sollte sich auch in einem gemeinsamen Kunstschaffen, einer Bautradition und gemeinsamen ästhetischen Grundlagen äußern.211 In diesem Zusammenhang spielte die ästhetische Aufwertung der gotischen Architektur eine wichtige Rolle.212 Der Wandel 208 Vgl. Sauerländer 1975, S. 121. 209 Vgl. beispielsweise Speitkamp 1996, außerdem Mohr de Pèrez 2001, Buch 1990, Dürr 2001, Huse 1996. 210 Vgl. Dolff-Bonekämper 1984, S. 3. 211 Vgl. Mohr de Pèrez 2001, S. 42. 212 Mohr de Pèrez zitiert als ausschlaggebendes Literaturwerk Wackenroders Herzensergießungen (vgl. ebd., S. 34).
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in der ästhetischen Architekturbewertung ging hier Hand in Hand mit deren zunehmenden nationalen Konnotation. Kruft stellt dazu fest, dass sich die nationale Konnotation der Gotik im Laufe der Zeit steigerte, bis auf dem Höhepunkt der Gotikbegeisterung zur Mitte des 19. Jahrhunderts die gotischen Formen im Sinne der Neugotik „zur politischen Kampfparole eines restaurativen, politisch-militanten Katholizismus“ wurden.213 Dabei handelte es sich bei dem Einsatz historischer Artefakte und Denkmäler im Dienste einer nationalen Erziehung keineswegs um ein unterschwelliges Nebenprodukt einzelner, privater Initiativen, sondern um gezielte Kulturpolitik. Felicitas Buch kommt in ihren Untersuchungen zur preußischen Denkmalpflege zu dem Schluss, die Instruktionen der Oberbaudeputation zum Denkmalschutz als Teil der preußischen Reformen zu betrachten, deren Ziel in der Erziehung des Volkes zu Staatsbürgern bestünde.214 In der Tat hebt Schinkel in seinem Memorandum zur Denkmalpflege 1815 insbesondere diesen positiven Aspekt der Denkmäler hervor: „Nachdem man durch diese Verzeichnisse eine Übersicht erlangt, ließe sich nun ein Plan machen, wie diese Monumente gehalten werden könnten um das Volk anzusprechen, nationale Bildung und Interesse in das frühere Schicksal des Vaterlandes zu befördern.“ 215
Durch dieses Interesse an seinem früheren Schicksal sollte gleichzeitig auch die „Liebe zum gemeinsam Vaterland“ geweckt bzw. gefördert werden, wie der Freiherr vom Stein es zeitgleich formulierte.216 Nicht nur in Preußen war man sich der Potenziale einer Erziehung in und durch die Künste in Bezug auf eine Stärkung der Bindung zum Vaterland bewusst. Bereits 1801 verfasste der Architekt Christian von Mannlich für die Bayerische Akademie der Wissenschaften einen Bericht über den Kunstunterricht in Bayern, in dem er insbesondere die Rolle der baulichen Denkmäler für diese Form der Bildung betont:
213 Vgl. Kruft 2004, S. 361. Tatsächlich kann man wohl zu keiner Zeit von einer einheitlichen Ausprägung des nationalen Empfindens ausgehen. So kritisiert Sulpiz Boisserée, der in seiner Arbeit am Kölner Dom durchaus ein nationales Werk sah, andererseits die „dummen Uebertreibungen der Teutonisten“ (Boisserée 1862, S. 397). 214 Vgl. Buch 1990, S. 12. Zur Unterstützung ihrer These führt sie ein Zitat des Freiherrn vom Stein aus dem Jahr 1816 an, in dem er den Nutzen einer Anknüpfung an das Vergangene durch die Gegenwart betont: „Verfassungen bilden heißt bei einem alten Volk den vorhandenen Zustand der Dinge untersuchen, um eine Regel aufzufinden, die ihn ordnet; und allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickelt, kann man ihm Dauer in der Zukunft sichern.“ (Zit. nach ebd.) 215 Zit. nach Wolff 1992, S. 131. 216 Zit. nach Dürr 2001, S. 111.
352 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Daß die bildenden Künste nicht bloß zum Vergnügen, sondern auch zur Bildung unseres sittlichen Gefühls vorzüglich vieles beitragen, ist gegenwärtig unter allen Kunstrichtern eine entschiedene Sache. Nichts kann die Kultur einer Nation geschwinder und sichtbarer darstellen, als ihre öffentlichen Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke aller Art, so wie der Barbarismus derselben beim Abgange dieser Werke augenblicklich sichtbar wird. […] Ohne Nachfolge bleiben große und tugendhafte Thaten, wenn sie nicht durch die Hand des bildenden Künstlers in Marmor und Erz verewigt dem künftigen Betrachter lebhaft dargestellt werden.“217
Von Mannlich bezieht sich hier offenbar nicht nur auf die historischen, bereits vorhandenen Gebäude und Denkmale sondern auch auf zukünftig neu zu schaffende. Dem Selbstverständnis nach sah man sich als Weiterführer einer Tradition, das Bewusstsein für eine große Vergangenheit wurde zur Grundlage für ein ebenbürtiges Weiterschaffen. Dieses Schaffen sollte die Größe der Nation widerspiegeln und gleichzeitig dem Volk als Vorbild dienen. Entsprechend begründete Ludwig I. in seinem Kabinettsbefehl vom 29.5.1827 die Notwendigkeit zum Erhalt historischer Denkmale nicht nur durch deren Beitrag „zum Studium der vaterländischen Geschichte“, sondern auch durch ihr Potenzial „zur Belebung des Nationalgeistes“. 218 Das große volkserzieherische Potenzial, das den Denkmalen zugesprochen wurde, spiegelt sich auch darin wieder, dass das Amt des Bayerischen Generalinspektors der historischen und plastischen Denkmäler ab 1848 nicht mehr der Obersten Baubehörde sondern dem Ministerium für Kirchen- und Schulangelegenheiten zugeordnet war.219 Neben diesen staatlichen Bemühungen entstand zeitgleich ein reges Vereinswesen, das inhaltlich ganz ähnliche Ziele verfolgte. Die Vereine wurden zumindest in der Anfangsphase seitens der Monarchen und der Staatspolitik unterstützt, da in ihnen ein Mittel gesehen wurde, die Auseinandersetzung mit der Geschichte im eigenen Sinne – also in erster Linie traditionalistisch, national und auch monarchistisch – zu fördern und so zur Bildung nationaler Identitäten beizutragen. 220 Die Aufgaben der Geschichtsvereine in deren Selbstverständnis beschrieb der Sekretär des Hamburger Geschichtsvereins 1884: „Die Aufgaben des Hamburger Geschichtsvereins, der eine Gelehrtengesellschaft weder sein kann noch sein will, gehen im Allgemeinen nach drei Richtungen hin: er will sammeln und
217 Zit. nach Büttner 1990, S. 267 f. 218 Zit. nach Huber 1996, S. 7. 219 Vgl. Dürr 2001, S. 0. 220 Vgl. Clemens 2004, S. 20. Die ersten Geschichtsvereine in Deutschland entstanden in den 1820er Jahren, bis 1840 existierten bereits 60 Vereine (vgl. ebd.).
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erhalten, will veröffentlichen, erforschen und darstellen, will Liebe zur Geschichte der Heimat und damit zur Heimat selbst wecken, nähren und pflegen.“ 221
Dass viele der so entstandenen Vereine auch Fragen der Denkmalpflege mit zu ihrem Aufgabenbereichen zählten, verwundert demnach nicht.222 1852 wurde in Dresden als Dachverband der Gesammtverein der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine gegründet. Die Organisation in einem sich als gesamtdeutsch verstehenden Verein ging jedoch schleppend voran – zu keinem Zeitpunkt war mehr als ein Drittel aller Geschichtsvereine in ihm vertreten.223 Gabriele Clemens schließt in ihrer umfassenden Studie zu deutschen Geschichtsvereinen daraus, dass die damaligen Vereine nur bedingt als Ausdruck und Teil eines allgemein deutschen Nationalbildungsprozesses gesehen werden können, da sie in erster Linie auf lokale Bezüge setzten und somit auch lokale Identitäten stützten, zumindest in ihren Gründungsphasen.224 Auch der österreichische Staat sah im Erhalt und in der Vermittlung von Denkmalen einen Weg, das nationale Bewusstsein zu stärken. Im Gegensatz zu den deutschen Staaten sollte dieses Nationalgefühl die verschiedenen Gruppen des Vielvölkerstaates zueinander führen und das Verständnis für die gemeinsame Geschichte fördern. Bereits 1853 erschien zu diesem Zweck die sprachnationale Grenzen überwindende Gesamtgeschichte des österreichischen Staates von Joseph Alexander von Helfert. Helfert war von 1848 bis 1860 Unterstaatssekretär im Ministerium für Kultus und Unterricht und außerdem von 1863 bis 1910 Präsident der k. k. Central-Commission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale.225 Der erste Tätigkeitsbericht dieser Komission hebt 1856 die Wichtigkeit der Denkmale als „wichtigste Factoren der Bildung und Gesittung“ hervor. Die Schaffung eines Gefühls der Einheit, basierend auf einer gemeinsamen Einstellung gegenüber der Geschichte spielte dabei im Vielvölkerstaat eine besondere Rolle. 226 Michael Falser stellt die These auf, dass auch der von Riegl später formulierte Gedanke vom Alterswert in diesem Kontext zu betrachten ist. Demnach stellt der Alterswert durch seine Betonung des subjektiv-emotionalen Zugangs einen Weg dar, nationalhistorische Lesarten des Denkmals zu überwinden durch die Schaffung ei221 Zit. nach ebd., S. 128. 222 Clemens hebt insbesondere den 1824 gegründeten Dresdener Verein als denkmalpflegerisch aktiv hervor (vgl. ebd., S. 152 ff.). 223 Vgl. ebd., S. 208 und 212. 224 Vgl. ebd., S. 393-400. 225 Vgl. Falser 2006, S. 2. 226 Vgl. Euler-Rolle 2010, S. 49. Euler-Rolle merkt an, dass die verantwortlichen Institutionen ganz offensichtlich davon ausgingen, dass das angestrebte Gemeinschaftsgefühl durch gezielte Bildungsmaßnahmen erst konstituiert werden müsse.
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nes übergreifenden Gefühls für das allen gemeinsame Zeitlich-Vergängliche. Zur Untermauerung dieser These zitiert er Riegls 1905 formulierte Gedanken zu einem neuen Denkmalschutzgesetz: „Denn der Kultus der Vergangenheit, der uns das Leben verschönt, die Liebe zur Heimat stärkt, die edelsten altruistischen Gefühle erweckt, steht nicht allein mit keinem nationalen oder religiösen Kultus in Widerspruch, sondern vermag diese in mancher Hinsicht eindringlich zu fördern. Im Zustandebringen eines solchen Werkes könnten sich alle Parteien unseres Reichsrats einträchtig vereinigen und damit den Beweis liefern, daß sie, so vieles sie auch trennen mag, doch nicht dieses Trennende als solches suchen, und vielmehr mit Freuden die Gelegenheit ergreifen, um eine im unbestrittenen Interesse des gemeinen Wohl gelegene Aufgabe zu lösen.“227
Der „Kultus der Vergangenheit“ existiert für Riegl also neben dem Nationalen (und Nationalhistorischen) und ist mit diesem nicht deckungsgleich, sondern allgemeiner zu verstehen. In diesem Sinne stellt es für Riegl auch eine Verkürzung des Denkmalverständnisses dar, wenn man es als „Stück des nationalen Daseins“ versteht, wie Riegl in einer seinen Neuen Strömungen in der Denkmalpflege als Replik auf Dehios Kaiserrede zum Ausdruck bringt.228 Um Dehios dort vertretenen Ansatz gerecht zu werden, muss man jedoch auch seine Aussage in ihrem Entstehungskontext betrachten. Zum Zeitpunkt der Kaiserrede lebte und lehrte Dehio bereits dreizehn Jahre in Straßburg. Eines seiner Hauptanliegen dieser Zeit war die wissenschaftliche Ausrichtung der Denkmalpflege. Bereits 1903/04 hatte Dehio in einem Aufsatz mit dem Titel Vorbildung zur Denkmalpflege klargestellt, dass die Denkmalpflege in seinen Augen eine (historische) Wissenschaft darstelle und keine Kunstrichtung. 229 Damit positionierte er sich in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Ausrichtungen und Professionen innerhalb der Denkmalpflege (s. auch Kapitel 2.2). Darüber hinaus hielt Dehio die Rede zu Ehren des deutschen Kaisers. In dem bereits erwähnten Aufsatz von 1903/04 spricht Dehio lediglich von „historischer Pietät“, der nationale Gedanke spielt hier keine Rolle.230 Dies soll nicht heißen, dass die Nation für Dehio eine unwichtige Größe gewesen wäre. Eine Reduzierung seiner Position darauf entspricht seinen Gedanken jedoch nicht. So spricht er auch in der Kaiserrede in den folgenden Ausführungen zu seinen Vorstellungen einer Denkmalerziehung nicht von einem Nationalgefühl als Erziehungsziel, sondern von einem breiter angelegten Heimatgefühl: 227 Zit. nach Falser 2006, S. 3. 228 Vgl. Riegl 1905, S. 90. 229 Vgl. Dehio 1903/04, S. 38. 230 Vgl. ebd., S. 35.
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„Unsere ruhelose Zeit hat nichts nötiger, als dass der Jugend ein örtliches Heimatgefühl in klaren, unvergesslichen Bildern ins Leben mitgegeben werde, zumal in den höheren Ständen, deren Leben nichts als ewiger Ortswechsel ist. Ich denke […] an Erziehung zur Denkmalsfreundschaft mit allen jenen Mitteln von Wort, Schrift und Bilddruck, die uns heute in so mannigfaltiger Anwendbarkeit zur Verfügung stehen.“ 231
In einem stärkeren historischen Bewusstsein, vermittelt durch die Denkmale, sah Dehio einen möglichen Weg, empfundene gesellschaftliche Umbrüche zu kompensieren. Im Mittelpunkt stand für ihn dabei die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die durch die Denkmale verkörpert wird. Die Nation bildet den Bezugsrahmen, in dem diese Auseinandersetzung stattfindet. Denkmalpflege wurde demnach zwar als nationale Aufgabe empfunden, daneben jedoch als wissenschaftliche Disziplin betrachtet. In Zusammenhang mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vor und während des ersten Weltkriegs kam es zunehmend zu nationalistischen Tendenzen. Winfried Speitkamp führt hierzu aus, dass fast alle Denkmaltheoretiker der Zeit in ihren Publikationen die deutsche Politik verteidigten und Angriffe auf die Gegner formulierten, wodurch sie mehr oder weniger explizit Teil der deutschen Propaganda werden konnten.232 Im Gegensatz zu Dehios Ansatz, der durch seine Auseinandersetzung mit der historischen Quelle als historisch-kritisch bezeichnet werden kann, sieht Hellbrügge in dieser Entwicklung eine zunehmende inhaltliche Verflachung der Denkmalpflege.233 Diese Tendenz hielt nach dem ersten Weltkrieg an. Kunst (und historische Kunst in Form von Denkmalen) wurde nun als Mittel gesehen, das Selbstwertgefühl der Nation zu heben und dem Volk ein neues Selbstbewusstsein zu geben. Erziehung mit und durch Kunst wurde so nicht nur zur nationalen, sondern im weitesten Sinne auch zur sozialen Aufgabe.234 Vor diesem Hintergrund stellt Cornelius Gurlitt 1915 seine Gedanken Von deutscher Art und deutscher Kunst an, wo er sich mit der Frage auseinandersetzt, ob es eine deutsche Kunst gäbe und wie diese auszusehen habe. Bereits 1899 hatte er sich in seinem Buch Zur Befreiung der Baukunst zu dem Thema geäußert. Damals betrachtete er rückblickend die Zeit nach den Befreiungskriegen und die damaligen künstlerischen Tendenzen, die bemüht waren, „einen deutschen Geschmack zu schaffen, den es bisher nicht gab“, was schließlich zu einer Wiederentdeckung des Barocks geführt habe.235 In den folgenden Ausführungen zur Entwicklung der Baukunst in Deutschland kommt er zu dem Schluss, dass eine (nationale) Erziehung 231 Dehio 1914c, S. 273 f. 232 Vgl. Speitkamp 1996, S. 169. 233 Vgl. Hellbrügge 1991, S. 160. 234 Vgl. Speitkamp 1996, S. 171. 235 Vgl. Gurlitt 1969, S. 74.
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durch Kunst nicht möglich sei: „Schwerlich aber wird die Kunst das Volk zu erziehen vermögen. Sie ist die Frucht des Volksgeistes, nicht sein Nährboden. Wie das Volk ist, wird die Kunst sein.“236 Sechzehn Jahre später setzt er sich während des ersten Weltkriegs nochmals mit der Frage der nationalen Kunst auseinander. Entgegen zunehmend nationalistischer Strömungen fällt seine Antwort zwar national, nicht jedoch nationalistisch aus. Eine Abschottung der Kunst auf nationaler Ebene hält er für unmöglich (und wohl auch nicht sinnvoll),237 und auch einem künstlerischen Patriotismus erteilt er eine Absage: „Gute Kunst wird nicht dadurch deutsch, daß sie patriotisch ist, sondern dadurch, daß sie gut ist und daß sie dadurch auf die deutsche Kultur belebend einwirkt.“238 Seine anknüpfenden Gedanken suchen dennoch nach dem spezifisch Deutschen in der deutschen Kunst. Wie bereits 1899 formuliert, möchte er diese Kunst abgeleitet wissen aus typisch deutschen Eigenschaften, wie der „Einbildungskraft“ oder dem „bedeutungsvolle[n] Sehen in den tatsächlichen Dingen“.239 Gurlitt geht also von einem Wesen des deutschen Volkes aus, das durch die Kunst zum Ausdruck gebracht werden soll, was er beispielsweise im Jugendstil verwirklicht sieht.240 Dabei bewegt sich seine Argumentation eher in Anknüpfung an die Historismusdebatte des 19. Jahrhunderts als dass sie sich durch explizit nationalistische Töne auszeichnet. Da die Kunst also nicht das Volk erzieht, sondern im Gegenteil durch das Volk geschaffen wird und dessen Wesen widerspiegelt, muss eine Kunsterziehung für Gurlitt auch nicht bei der Kunst sondern beim Volk ansetzen: „Eine verjüngte deutsche Kultur, eine deutsche Kunst kann nur daraus entstehen, wenn sie dem ganzen Volk gemeinsam ist: Wahrheit wie Schönheit sind einfach, leicht verständlich. Was Wahrheit, was Schönheit sei, wissen wir im tiefsten Sinn nicht. An ihre Stelle treten Überzeugungen, Glaube, Neigungen. Daß diese im ganzen Volke sich untereinander nähern, das muß das Ziel der Führer des Volkes sein.“ 241
Dieser Gedanke der einheitlichen Volksgemeinschaft, die sich durch die geteilten Werte und Überzeugungen auszeichnet, ist bei Gurlitt Voraussetzung für ein nationales Kunstschaffen. Gleichzeitig stellt sie anderenorts auch ein gewünschtes Ziel der Denkmalpflege – im Sinne eines Beitrags zur nationalen Erziehung – dar. 1922 begründet das preußische Kultusministerium den Wert von Denkmalpflege und Heimatschutz damit, 236 Vgl. ebd., S. 149. 237 Vgl. Gurlitt 1915, S. 17. 238 Ebd., S. 19. 239 Ebd., S. 19f. 240 Vgl. ebd., S. 30. 241 Ebd., S. 45.
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„dass es sich bei den ihrem Schutze anvertrauten Kulturgütern um den sichtbaren Ausdruck dessen handelt, was im Gefühlsleben und in der Phantasie den Einzelnen nicht nur mit der Vergangenheit schlechthin, sondern im höheren Sinne mit den nationalen und religiösen Gemeinschaften verbindet, auf denen sich der Staat aufbaut.“242
Es geht hier in erster Linie also um Volkserziehung und die Erziehung zum Volk. Vergleicht man Gurlitts Gedanken zur deutschen Kunst mit den 1933 von Paul Clemen in dessen Werk Die deutsche Kunst und die Denkmalpflege, so stellt sich die Frage nach der Grenze zwischen einer nationalen und einer nationalistischen Denkmalpflege. Paul Clemen lässt sein Vorwort mit einem Zitat Adolf Hitlers enden: „Wir wollen wahren die ewigen Fundamente unseres Lebens, unser Volkstum und die ihm gegebenen Kräfte und Werte, wir wollen die große Tradition unseres Volkes, seiner Geschichte und seiner Kultur in demütiger Ehrfurcht pflegen als unversiegbare Quellen einer wirklichen inneren Stärke und einer möglichen Erneuerung in trüben Zeiten.“ 243
Dieser Wunsch kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Bereits 1896 betonte Clemen die von ihm angenommenen volkserziehenden Qualitäten der Denkmalpflege: „Die stete Erinnerung an die grosse Vergangenheit, die in steinernen Denkzeichen eine Verkörperung ihrer Kraft gesucht, soll den historischen Sinn und das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem heimischen Boden und den Geschlechtern, die vor uns hier gesessen, wach erhalten. Es ist nicht nur dankbare Pietät gegen die Schöpfungen der Vorfahren, die die Erhaltung jener Denkzeichen verlangt – es ist ebenso sehr eine volkserziehliche Absicht, die hier waltet.“244
Diese Aufgabe der Denkmale, gezielt an eine große Vergangenheit zu erinnern, muss sich zwangsläufig auf die Auswahl und die ästhetische Beurteilung von Denkmalen auswirken. Das historische Bewusstsein, das erzeugt werden soll, ist explizit dahin gerichtet, ein positives Geschichtsbild zu vermitteln, in dem sich die durch die Geschichte fortsetzenden Qualitäten des Volks darstellen. Zwar betont Clemen später, in seinem 1933 erschienenen Werk, dass sich diese positiven As242 Zit. nach Speitkamp 1996, S. 214. 243 Clemen 1933, Vorwort, S. VII f. 244 Clemen 1896, S. 4. In diesem Zusammenhang betont Clemen die Wichtigkeit der Vermittlung als denkmalpflegerische Aufgabe. Denn nur durch stetige Vermittlung könne das Interesse an den Denkmalen und damit an der gemeinsame Geschichte wach gehalten werden (vgl. ebd.).
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pekte auch „im Bescheidenen“245 wiederfinden, grundlegende Qualität der Denkmale bleibt jedoch auch hier das prinzipiell positive Bild von Volk und Vaterland, das durch die Denkmale vermittelt werden soll. Dabei liegt für Clemen gerade im Ästhetischen ein wichtiger Zugang zum Denkmal, wobei er diese ästhetischen Qualitäten explizit von einem möglichen wissenschaftlichen Kunstwert abgrenzt. Als Denkmal definiert er so alles, „was uns an Werken von Menschenhand Träger einer hohen Symbolik, einer übernatürlichen Magie, einer geheimnisvollen Vorstellungswelt, Verkörperung geheiligter religiöser Empfindungen, ehrwürdiger geschichtlicher Erinnerungen, Wecker von uns teuren Stimmungsmomenten ist, was endlich durch die künstlerische Gestaltung schon […] Bezauberung, Erhebung, Beglückung irgend welcher Art auszulösen vermag.“246
Der Wert der künstlerischen Gestaltung ist dabei nicht in erster Linie zu messen durch kunsthistorische Kriterien, sondern anhand seiner emotionalen Ansprache und der Verkörperung und Vermittlung des symbolhaften Gehalts des Denkmals: „Nicht die hohe oder niedere kunsthistorische Zensur, die wir irgend einem Kunstwerk aus genetischen und formalen Gründen in der Entwicklung seiner Gattung geben zu sollen glauben, ist hier das Entscheidende, sondern die Fülle der assoziativen Vorstellungen, der Erinnerungen und Gedanken, die im Bereich des Bewußten wie des Unbewußten unlösbar mit einem Werk verknüpft sind, die seine geheime Musik in unserer Seele bestimmen, die Welt des Symbolischen, des Mythos.“247
Die Qualität der Ästhetik des Denkmals misst sich in dessen Kraft, den Betrachter anzusprechen. Diese Ansprache findet – quasi in Weiterentwicklung von Riegls Gedanken zum Alterswert – in erster Linie auf einer emotionalen Ebene statt und ist damit weitgehend unabhängig von wissenschaftlichem Vorwissen. Ziel ist weniger historisches Wissen, sondern allgemeiner „das Bewußtsein der inneren Verbundenheit mit der heimischen Geschichte, die Erweckung all der in ihr lebenden geheimen Kräfte“,248 also das historische Empfinden. Zu diesem historischen Empfinden soll die stete Betrachtung und Auseinandersetzung mit den Denkmalen beitragen. Die Denkmalbetrachtung solle, so Clemens Forderung, fester Bestandteil der Erzie-
245 Vgl. Clemen 1933, S. 3. 246 Ebd. 247 Ebd., S. 5. 248 Ebd., S. 23.
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hung der Jugend und in den schulischen Unterricht integriert werden, wodurch „zugleich die jungen Menschen stärker zur Augensinnlichkeit“ erzogen würden. 249 Das Ziel der denkmalpflegerischen Erziehung der damaligen Zeit war das durch historische Selbstvergewisserung erzeugte Selbstbewusstsein des Volks als Einheit. In diesen Gedanken trifft sich Clemen mit zeitgenössischen nationalsozialistisch geprägten Kulturvorstellungen.250 Dort wurde versucht, Kultur und Kunst zu nutzen, um eine einheitliche „Volksgemeinschaft“ zu begründen. In einer Rede auf der Kulturtagung des Reichsparteitags 1936 sah Hitler den Zweck der Kunst vornehmlich in ihrem Beitrag zur „Gemeinschaftsentwicklung“.251 Der somit formulierte erzieherische Anspruch bezog sich auf alle Gebiete des kulturellen Schaffens. 252 In diesem Sinne konstatiert Susanne Fleischner in den Zielen der nationalsozialistischen Kulturideologie eine Übereinstimmung mit Einstellungen der zeitgenössischen Denkmalpflege. Beide trafen sich in der grundsätzlichen Annahme, dass erzieherische Aufgaben grundlegender Bestandteil des Faches seien.253 Nicht nur Clemen spricht dies in seinem 1933 erschienen Werk an, auch der Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz desselben Jahres (der im Rahmen des Reichstreffens des Reichsbundes Volkstum und Heimat stattfand) machte sich die Denkmalerziehung zum Thema. Den Fachvorträgen vorangestellt wurde zunächst der Themenkomplex „Erziehung zu Denkmalpflege und Heimatschutz“ als eigener Programmpunkt. Als Ziel wurde die Verankerung der Grundideen von Denkmalpflege und
249 Ebd. Hier knüpft Clemen an Gedanken an, die in der Denkmalpflege schon früher formuliert wurden. Bereits 1903 fordert Dehio auf dem Tag für Denkmalpflege eine verstärkte Anleitung und „Übung im gründlichen Sehen“. 1919 sieht Hager die „Erziehung des Volkes zum Sehen und Genießen seiner überlieferten und durch die Natur veredelten Schönheitswerte“ als Aufgabe der Denkmalpflege an und setzt diese – ganz ähnlich wie Clemen – von den „gelehrten Auseinandersetzungen“ ab, die die Freude am Schönen und die Wirkung der Gesamtstimmung des Denkmals eher trübten (zit. nach Haps 2013, S. 77 und 82). 250 Susanne Fleischner sieht darin jedoch eher eine Koexistenz als eine Beeinflussung Clemens durch nationalsozialistische Propaganda (vgl. Fleischner 1999, S. 16). Die Untersuchung der denkmalpflegerischen Entwicklung gibt ihr inhaltlich Recht. Clemen entwickelte seine Gedanken im gesellschaftlichen Kontext der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, der gleiche Kontext, in dem auch die national(sozial)istischen Tendenzen sich entwickelten bzw. verschärften. 251 Vgl. ebd., S. 9. 252 Vgl. ebd. 253 Vgl. ebd., S. 11. Fleischner geht jedoch auch hier von einem eher diffusen und unterschwelligen Zusammenhang aus, womit sie begründet, dass eine Affinität zwischen beiden sich nicht an konkreten Beispielen festmachen lasse.
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Heimatschutz in alle Bereiche des Lebens formuliert. 254 Unter der Fragestellung „Welche Pflichten und Aufgaben haben Denkmalpflege und Heimatschutz beim kulturellen Neuaufbau der Nation?“, wurde zum Ende der Tagung im Rahmen einer „Hauptentschließung“ die Wichtigkeit einer umfassenden kulturellen Erziehung festgehalten: „Solche Gesinnung schöpferischen Heimatschutzes muß alles Schaffen, alle Zweige der Erziehung, alle gesetzlichen und verwaltlichen Maßnahmen der Behörden, nicht nur der fachlich zuständigen, aufs innigste durchdringen.“ 255 Im selben Jahr kam es auch zu behördlichen Umstrukturierungen, die das angenommene erzieherische Potenzial der Denkmalpflege und dessen Unterstützung auch von politischer Seite weiter unterstrichen. Die Zuständigkeit für den Bereich Denkmäler lag nun nicht mehr beim Innenministerium, sondern wurde dem Amt für Volksbildung im Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zugeordnet, gemeinsam mit den Bereichen Heimatschutz, Musik, Theater, Volkshochschulen, Volksbüchereien und Unterrichtsfilm.256 Auch am medialen Erscheinungsbild der Denkmalpflege wurde gearbeitet. Die Zeitschrift Deutsche Kunst und Denkmalpflege erschien ab 1934 nicht nur in einem neuen Layout (wobei Titel, Format und Schriftsatz in ihrem Aussehen modernisiert wurden), gleichzeitig wurde auch der Preis um ein Drittel gesenkt. Ziel war es, wie im Vorwort der ersten Ausgabe festgehalten, durch diese Änderungen ein breiteres Publikum zu erreichen und so die Verbindung zur „gesamten Volksgemeinschaft“ zu bewahren.257 Diese Volksgemeinschaft war sowohl Adressat als auch angestrebtes gesellschaftliches Ideal, das durch Vermittlung kultureller Werte erreicht werden sollte. Der angenommene konkrete Wert der kulturellen Leistungen als stärkendes Potenzial der Volksgemeinschaft wirkte sich auch auf die Bewertung konkreter Objekte aus. Walter Stangl begründete den jeweiligen Wert einzelner kulturellen Leistungen 1935 durch ihre Eignung zur „Stärkung des Volkes“: „Darum sind auch alle kulturellen Leistungen erst insoweit ‚wertvoll‘, als sie der Art dieses Volkes charaktervollen Ausdruck geben und dadurch wieder geeignet sind, zur Lebenssteigerung des Volkes, zur Stärkung seines Lebensglaubens, seiner Selbstachtung beizutragen.“ 258
254 Vgl. Scheck 1995, S. 47. Der Frankfurter Professor für Kunstgeschichte Hans Jantzen regte in diesem Zusammenhang beispielsweise die Erziehung aller Studiereden „zur Denkmalpflege“ im weitesten Sinne an, was er durch Vorlesungen über deutsche Kunst an allen Fakultäten erreichen wollte (vgl. Fleischner 1999, S. 15). 255 Denkmalpflege und Heimatschutz 1934, S. 196. 256 Vgl. Fleischner 1999, S. 31. 257 Deutsche Kunst und Denkmalpflege 1934, S. 1. 258 Zit. Fleischner 1999, S. 10.
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Hier werden Qualitäten kultureller Objekte an ihrer Aussagekraft und Rezipierbarkeit gemessen, die sich ästhetisch an das Volk vermitteln lassen. Dabei konnte das Bauwerk seinen Erziehungsauftrag nur in seiner „baulich wertvollsten Form“ erfüllen.259 In der denkmalpflegerischen Praxis der 30er Jahre spielten daher ästhetische Aspekte, oft einhergehend mit moralisch-symbolischen Interpretationen, eine grundlegende Rolle.260 Auch die Zunahme von denkmalpflegerischen Wiederherstellungen steht damit in Verbindung.261 Thomas Scheck setzt daher den Wiederaufbau als politisches Programm zum Gedanken an einen kulturellen Wiederaufbau in Bezug, was sich im konkreten Umgang mit kulturellen Objekten widerspiegelt. Dazu zitiert er den Danziger Denkmalpfleger Peter Jakobus aus dem Jahr 1939: „Unsere Augen sind noch verbildet - verbildet durch eine romantische Vorliebe für gebrochene, verblaßte Farben, für Patina und malerische Verwitterung, für Ruinen, für jederlei ‚altertümliche‘ Wirkung - kurzum für den Verfall. Wir müssen uns aber hier wie überall bewußt werden, daß wir in einem Aufbau stehen und daß Klarheit und Entschiedenheit der Haltung von uns gefordert sind.“262
Die propagierte Idealvorstellung von Kultur verband sich also mit ästhetischen Vorstellungen, die diese entweder unterstreichen oder befördern sollte. Beide Aspekte, die Bewahrung (bzw. Betonung) und die Vermittlung und Förderung gehen dabei Hand in Hand. Die propagandistisch klare Formulierung eines Zieles führt indes auch zu einer Verengung auf ein bestimmtes ästhetisches Ideal, das variierende Ästhetiken ausschließt. Die angestrebte Volkseinheit soll auch in einer ästhetischen Einheitlichkeit zum Ausdruck kommen. 5.2.2.2 Die Stadt als erzieherischer Ort und erziehendes Objekt Im Zusammenhang mit der gebauten Stadt sollen diese Wechselwirkungen zwischen ästhetischen und gesellschaftlichen Zielstellungen, wie sie zur Zeit des Nationalsozialismus einen Höhepunkt fanden, noch einmal beleuchtet werden. Die enge Verflechtung zwischen Stadtästhetik und der damit verbundenen oder sich durch sie ausdrückenden gesellschaftlichen Ordnung ist städtebaulichen Theorien von Beginn an inhärent. Konzepte von der idealen, der guten oder auch der schönen Stadt beinhalten gleichermaßen ästhetische wie gesellschaftlich-moralische Vorstellungen. Die Stadt als civitas ist seit der Antike mit Vorstellungen von politi259 Ebd., S. 20. 260 Vgl. ebd., S. 30. 261 Vgl. Scheck 1995, S. 66. 262 Zit. nach Scheck 1995, S. 66 f. Auch in Bezug auf den Städtebau bzw. die städtische Denkmalpflege der Zeit spielten ähnliche Gedanken eine Rolle, was im folgenden Kapitel noch verdeutlicht werden soll.
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scher und gesellschaftlicher Ordnung verknüpft.263 Die Gestaltung der Stadt wurde nicht nur als ästhetische oder formale Aufgabe verstanden, sondern richtete sich nach den zugrunde gelegten gesellschaftlichen Idealen. So vermischen sich hier traditionell Aspekte des Ästhetischen und des Moralischen.264 Dabei hat die gebaute Stadt immer zwei ästhetische Funktionen: zum einen soll sie ein Spiegel der idealen städtischen Gesellschaft sein, zum anderen soll sie die Bewohner zu eben dieser erziehen. Entsprechende Tendenzen finden sich in unterschiedlichen Ausformungen sowohl im absolutistischen Städtebau265 als auch in den Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, in denen sich soziale und ästhetische Motive durchdringen.266 Insbesondere die Großstadtkritik der Jahrhundertwende beinhaltet explizit pädagogische Momente. Grundlegend für die Großstadtkritik sind neben gesundheitlichen auch moralische Bedenken, da das Leben in der Großstadt, so die These, auch mit der Gefahr des moralischen und sittlichen Verfalls einhergehe. 267 Auch das Thema der Altstadtsanierungen lässt sich in diesem Kontext betrachten, handelt es sich dabei doch sowohl um ein ästhetisches als auch um ein politisches Programm. Gerhard Vinken weist in diesem Zusammenhang auf die pseudobiologische Konnotation des Begriffes ‚Sanierung‘ hin: „Sanierung ist ein Neu-Machen als ein Zurückführen, ein Wiederherstellen des von Krankheit, Verfall und Entartung entstellten Richtigen, Schönen und Wertvollen. Darum zielt die Sanierung im Kern nicht auf Schutz oder Erhaltung, sondern neben der hygienischen Modernisierung vor allem auf eine ästhetische Verbesserung der entsprechenden Viertel.“ 268
Insofern fanden schon frühe Sanierungsmaßnahmen wie die im Hamburger Gängeviertel Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur aufgrund baulicher Mängel statt (die sowohl hygienisch als auch ästhetisch als nachteilig empfunden wurden), sondern auch als gesellschaftliche Maßnahme zur politischen Befriedung. 269 In den 30er Jahren kam es vermehrt zu Sanierungsprojekten, die sich zum Ziel setzten, die – 263 Vgl. Frey, 2008, S. 7. 264 Ausführliche Ausführungen dazu vgl. Herold 2017. 265 Ulrich Reinisch erläutert dies am Beispiel des Städtebaus des 18. Jahrhunderts, in dem die ordentliche Einförmigkeit der Straßenfluchten als visuelle Strategie einer befriedenden Staatsgewalt diente (vgl. Reinisch 2008, S. 59 f.). 266 Beispielsweise die Gartenstadtbewegung; auch Camillo Sitte ging davon aus, dass eine ästhetisch ansprechend gestaltete Umwelt sich positiv auf den Menschen auswirke (vgl. Wilhelm 2006, S. 56 f. und Hartmann 1985, S. 100). 267 Vgl. Richter 2009, S. 65. 268 Vinken 2010, S. 91. 269 Vgl. Brichetti 2009, S. 64 f. Neben dem Streik der Hafenarbeiter 1896/97 spielte hier auch die Choleraepidemie 1892 eine Rolle.
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tatsächlich häufig baulich in einem sehr schlechten Zustand sich befindenden – Altstadtquartiere wieder ‚gesünder’ zu gestalten. Dazu gehörte jedoch nicht nur eine Verbesserung der baulichen und hygienischen Zustände, sondern auch die „Ausmerzung der Brutstätten“ für „Kommunisten“, „Asoziale“ und „Juden“. 270 Prominentes Beispiel ist abermals Hamburg, wo erneut das Gängeviertel und auch Hamburg Altona in den Fokus der Sanierungen rückte.271 Des mit den Sanierungen unter Umständen verbundenen ästhetischen Verlusts war man sich durchaus bewusst, jedoch wurde das Festhalten an dieser (malerischen) Ästhetik als wirklichkeitsfremd und romantisierend dargestellt. Die Hamburger Nordische Rundschau hielt dazu 1934 fest, dass „die einzigen, die Alt-Hamburg nachtrauern, […] die Maler und Photographen sein [werden]“.272 Die Altstadt als Zeuge einer historischen Vergangenheit spielte zu dieser Zeit hingegen kaum eine Rolle. Zwar galt die Altstadt den Nationalsozialisten als „Volkstumsausdruck“ und „Träger deutschen Wesens, deutscher Eigenart“273, dabei handelte es sich aber um eine symbolische Verkörperung, die nicht zwingend an historische Substanz gebunden sein musste, sondern auch durch idealtypische Nachbildungen erreicht werden konnte.274 Zuständig für Entschandelungen und Altstadtsanierungen waren die jeweiligen Stadtbauräte. Der Denkmalschutz stellte für die Verantwortlichen nur einen von vielen zu berücksichtigenden Faktoren dar und stand nicht zwingend im Fokus des Interesses.275 Da die „Gesundungsmaßnahmen“ jedoch den Interessen der zeitgenössischen Denkmalpflege nicht zwingend entgegenliefen, stellten sie meistens kein Problem für die Denkmalpfleger dar.276 Der Anteil der Denkmalpflege an den Altstadtsanierungen variierte. In Hamburg beschränkten sich Erhaltungsbestrebungen lediglich auf einzelne, als historisch bedeutend betrachtete Gebäude, wie das 270 Vgl. Vinken 2010, S. 148 f. 271 Die Sanierungen in Altona gelten als direkte Reaktion auf den Altonaer Blutsonntag an dem es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anwohnern und SAMitgliedern gekommen war, in deren Folge mehrere Bewohner durch die herbeigerufene Polizei erschossen wurden. Die dortige Sanierung diente auch der Befriedung und war somit in erster Linie eine ordnungspolitische Maßnahme (vgl. Scheck 1995, S. 116 f.). 272 Hamburger Nordische Rundschau vom 21.2.1934, zit. nach Scheck 1995, S. 116 f. 273 Vinken 2010, S. 148. 274 Auch die Neuschaffung „altdeutscher“ Ortsbilder in den sogenannten „Ostgebieten“, die eine deutsche Siedlungskontinuität verbürgen sollten, zeigt den in erster Linie symbolischen Wert, der den Altstädten zugeschrieben wurde (vgl. Vinken 2010, S. 150). 275 Vgl. Scheck 1995, S. 115 f. 276 Nach Scheck kam es zu Befürchtungen erst nach dem Erlass des Gesetzes „über die Neugestaltung der deutschen Städte“ am 4.10.1937, das keinerlei Pflichten zur Berücksichtigung denkmalpflegerischer Belange beinhaltete (vgl. Scheck 1995, S. 142 ff.).
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Geburtshaus Brahmsʼ.277 Die Forderung des Erhalts der Altstadt als Ensemble spielte eine untergeordnete Rolle, wurde doch das Ensemble zeitgenössisch in erster Linie aufgrund seiner visuellen und nicht seiner historisch-urkundlichen Qualitäten geschätzt. Diese Qualtitäten wurden jedoch zur Zeit des Nationalsozialismus neu interpretiert, wodurch neue ästhetische Leitbilder an Bedeutung gewannen. Stellvertretend kann dafür die Rede Wilhelm Pinders zur Rettung der deutschen Altstadt herangezogen werden, die er 1933 auf dem Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz in Kassel hielt. Dort legt er als Grundideen der damaligen Zeit die Begriffe „Ganzheit“ und „Gestalt“ fest, die sich folglich auch in der baulichen Ästhetik wiederfinden sollten. Die malerische Zersplitterung hingegen galt als Ausdruck des Liberalistischen, das es zu bekämpfen galt. Dies äußerte sich vor allem in der gründerzeitlichen Architektur. Die „ganzheitliche Einheit“ hingegen stelle den Quell der Schönheit dar. Ziel war die Schaffung eines „neuen großen Stil[s]“, der fähig sein sollte, die neuen Ideale zu verkörpern.278 Die Ästhetik der Stadt galt damit als Spiegel der dort lebenden Gesellschaft. Zur Neuformung der Gesellschaft war auch eine entsprechende Neuformung der Stadt notwendig. Die Denkmalpflege, die sich, wie bereits gezeigt wurde, auch für volkserzieherische Aspekte verantwortlich fühlte, konnte hier durchaus Anknüpfungspunkte finden. Dieses Gefühl einer gesellschaftlichen Verantwortung war es wohl auch, die den ostpreußischen Provinzialkonservator Richard Dethlefsen im selben Jahr dazu veranlasste, insbesondere diese Komponente im Umgang mit der Altstadt in den Vordergrund zu stellen: „Die Fragen, die die deutsche ‚Altstadt‘ dem Denkmalpfleger stellt, sollen nicht nach der historischen und formalen Stellung der Einzelgebäude, sondern auch nach der soziologischen Seite behandelt werden, die nach Zahl, Alter und sozialer Stellung der Bewohner fragt.“ 279
Das Aufräumen von Ansammlungen „asozialer Elemente“ gehört für ihn demnach zu den vorrangigen Zielen beim Umgang mit Altstädten.280 Eine ähnliche Position vertritt zwei Jahre später der Kölner Stadtkonservator Hans Vogts. Auch er stellt die positiven Aspekte der „Gesundungsmaßnahmen“ an erste Stelle, darunter auch die „Säuberung von asozialen und wertmindernden Elementen“. Einziges Erhaltungsziel stellt für ihn darüber hinausgehend die „Erhaltung des alten Charakters der Bauweise und des Straßenbildes“ dar.281 Was heute erstaunlich scheinen mag, erklärt sich aus Theorie und Selbstverständnis der zeitgenössischen Denkmalpflege: 277 Vgl. Scheck 1995, S. 116 f. 278 Pinder 1934, S. 133. 279 Zit. nach Scheck 1995, S. 115. 280 Vgl. ebd. 281 Vogts 1935, S. 106.
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die Hervorhebung erzieherische Funktionen und damit eng verbunden die Bedeutung symbolischer Aspekte der Denkmale, sowie der ästhetisch fundierte Wert des Ensembles. Neben dem Begriff der Sanierung bzw. Altstadtgesundung etablierte sich ab den 30er Jahren auch der Begriff der Entschandelung, der, inhaltlich gleichbedeutend mit den vorangegangenen, stärker die ästhetische Seite der Handlungen in den Vordergrund stellt. Dabei kann der Begriff der Entschandelung sich sowohl auf die Beseitigung einzelner baulicher Details als auch auf die ganzer Bauten (auch Denkmale) beziehen.282 Der Gedanke der Entschandelung knüpft direkt an die schon durch den Heimatschutz angeprangerten Verunstaltungen an, eine Tradition, die zu seinem Erfolg beitrug.283 Auch rechtlich konnte man sich in diesem Zusammenhang auf die bereits etablierten Verunstaltungsgesetze beziehen.284 Gleichzeitig verstanden sich die Programme zur Entschandelung von Altstädten immer als „pädagogisches Programm“.285 Im März 1934 fand, initiiert von der Reichsstelle für Heimatschutz im RVH, eine reichsweite „Kampfwoche gegen die Verschandelung der Heimat“ statt. Diese richtete sich zwar in erster Linie gegen die Verunstaltung durch Reklame, verstand sich aber selbst „vor allem [als] ein Mittel zur Erziehung des gesamten Volkes zu einer neuen Lebensauffassung aus nationalsozialisischem Geiste“.286 Daneben richteten sich die Entschandelungen meist, ganz im Sinne der 1933 von Pinder gehaltenen Rede, gegen die Verschandelung durch gründerzeitliche Architektur und den dadurch angeblich verkörperten „liberalistischen Individualismus“.287 Stattdessen versuchte man an ältere ästhetische und gesellschaftliche
282 Vgl. Lübbeke 2007, S. 135. Definitorisch bedeutet Entschandelung im damaligen Sprachgebrauch – wie der Duden 1941 ausführt – „die Verschandelung wiedergutmachen“ (zit. nach ebd. S. 146). 283 Gleichzeitig lässt sich der Kampf gegen Verschandelungen, beispielsweise durch gründerzeitliche Architektur, nicht nur in Deutschland finden. Lübbeke weist ihn für die gleiche Zeit auch für die Schweiz nach, wo der Historismus als „Zerfallskunst“ bezeichnet wurde und man sich auch einer ähnlichen Kankheitsbilder-Metaphorik bediente wie zeitgleich in Deutschland (vgl. ebd). 284 Vgl. ebd., S. 146. 285 Ebd., S. 147. 286 Zit. nach Scheck 1995, S. 131. 287 Vgl. Lübbeke 2007, S. 147. Auch zeitgenössische avantgardistische Kunst wurde als verschandelnd betrachtet. Lübbeke bezieht sich hier auf das von Julius Schulte-Frohlind 1940 verfasste Werk Die landschaftlichen Grundlagen des deutschen Bauschaffens.
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Ideale anzuknüpfen, was sich zum Beispiel in der Freilegung von Fachwerk äußerte.288 1939 konzipierte der Deutsche Heimatbund eine Wanderausstellung mit dem Titel Die Schöne Stadt, ihre Entschandelung und Gestaltung, die Anfang Januar 1939 erstmals in Berlin gezeigt wurde und dann durch verschiedene deutsche Städten reiste.289 Für kleine Städte wurden hier auch Lösungen präsentiert, die sich eher an der Ästhetik der Dorferneuerung als der Stadtsanierung orientierten. Diese hatte inhaltlich zwar eine hohe Schnittmenge mit der Stadtsanierung – als Grundprinzipien galten auch hier in erster Linie Ordnung und ‚Schönheit‘ (bzw. Schönheit durch Ordnung) – da aber insbesondere das Dorf als Spiegel der Seele des deutschen Volks galt, wurden Abweichungen von der Ordnung im Sinne eines starken Volkswillens akzeptiert. In der Publikation Das Dorf, seine Pflege und Gestaltung aus dem Jahr 1938 wird dies zum Ausdruck gebracht: „Das ‚traulich Krumme‘, das lebhafte Spiel von Winkeln und vorspringenden und zurückweichenden Giebeln und die kurvenreichen Straßen […] sind das Spiegelbild bäuerlichen Eigenwillens und Lebens.“290 Verpönt war lediglich das, was als spätere Hinzugabe einer zunehmend verstädterten und liberalistischen Gesellschaft gesehen wurde.291 Die Identifizierung des Erhaltungswürdigen (bzw. des angestrebten Idealzustands) war also weniger in der Form begründet, als vielmehr in den mit der Form assoziierten Inhalten. So konnten auch ‚unordentliche‘ Aspekte, wenn im richtigen Kontext gelesen, ästhetisch und ideologisch vertretbar sein. Fritz Wächtler, damals Reichwalter des NS-Lehrerbundes, versucht in seinem 1940 erschienen Buch Die neue Heimat die unterschiedlichen Ziele der Entschandelung auf die gesamte Kulturlandschaft zu beziehen.292 Auch Wächtlers Feindbild ist in erster Linie der „steingewordene Liberalismus“, der „in schrillem Mißklang zu unserem volkischen Kulturempfinden“ stehe.293 Ziel ist die schrittweise Beseitigung der Spuren dieses Liberalismus. In den 288 Gerhard Vinken führt dies am Beispiel der Entschandelung der Kölner Altstadt aus. Dabei zeigt er, dass ästhetische Argumente von weit höherer Bedeutung waren, als Fragen der historischen Authentizität (vgl. Vinken 2010, S. 142 ff.). 289 Vgl. Scheck 1995, S. 184 f. Die Ausstellung bestand aus einem unveränderten Hauptteil mit Beispielen aus ganz Deutschland und jeweils einem, die spezifische Region thematisierenden, Teil (vgl. Lübbeke 2007, S. 148). 290 Das Dorf 1938, S. 20. 291 Vgl. ebd., S. 181 f. 292 Daneben gab es zu der Zeit noch verschiedene andere Publikationen, die hauptsächlich unterschiedliche Beispiele gelungener Entschandelungen dokumentierten, wie die 1940 erschienene Publikation zur Entschandelung der Semlower Straße in Stralsund oder das 1939 von Werner Lindner und Erich Böckler verfasste Werk Die Stadt. Ihre Pflege und Gestaltung (vgl. Lübbeke 2007, S. 148 und Hubel und Bock 2011, S. 125). 293 Wächtler 1940, S. 16 f.
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Städten soll dies durch die Schaffung neuer, durch Großbauten gegliederter Straßenzüge geschehen: „Neue Straßenzüge bringen Ordnung in das willkürliche Durcheinander der einstmals führungslosen Baugestaltung. Ungesunde Stadtviertel fallen unter die Spitzhacke. An ihrer Stelle entstehen neue, schöne, ebenmäßige Wohnbauten voll Licht und Sonne.“ 294
Darüber hinaus möchte er den „liberalistischen Geist“ aus der gesamten Kulturlandschaft entfernen. Dazu müsse man „das Antlitz der Heimat wieder unserem arteigenen Formwillen angleichen“.295 In der Stadt sah man diesen Formwillen lediglich in der Altstadt verkörpert, die dadurch einen symbolischen Wert erhielt. Altstadt und Dorf trafen sich in ihrer Rolle als „Traditionsinseln“296, die als Zeugen einer noch als unverdorben betrachteten Volkskultur galten – und entsprechend inszeniert wurden. Nach Beendigung des zweiten Weltkriegs kam es zwar zu einem abrupten terminologischen Wandel was die Begriffe ‚Gesundung‘ und ‚Entschandelung‘ betrifft – nicht jedoch den der ‚Sanierung‘ – , es gab aber auch Aspekte, die eine gewisse Kontinuität zeigen. Dies ist zum einen begründet in der personellen Konstanz, zum anderen aber auch in der sehr viel weiter zurückreichenden ideengeschichtlichen Verankerung einiger Aspekte der geschilderten Vorstellungen. Als Beispiel für eine fachliche und inhaltliche Konstanz führt Gerhard Vinken stellvertretend den Denkmalpfleger Andreas Hupperts an, der die Kriegszerstörungen als „kaum jemals wiederkehrende Möglichkeit“ begrüßt, die Kölner Altstadt von den „Geschmacklosigkeiten“ der Gründerzeit zu befreien.297 Ähnliche Beispiele ließen sich gewiss auch andernorts finden. Relevanter an dieser Stelle ist jedoch der zweite Punkt, das Fortlaufen der ideengeschichtlichen Entwicklung, wobei hier in erster Linie die Vorstellung von der Stadt als Spiegel der Gesellschaft und gesellschaftsbildend zugleich zu nennen ist. Diese Vorstellung existiert weiter und wird als Spiegel gesellschaftlicher Ideale auch Grundlage für neue ästhetische Ideale. In der DDR entsteht als
294 Ebd., S. 104. 295 Ebd., S. 114. Wächtler kritisiert auch die Denkmalpflege, die sich seiner Meinung nach zu viel um Einzelbauten und zu wenig um „Werke der breiten Volkskultur“ und das „Gesamtbild der Landschaft“ kümmere. Diese Kritik lässt darauf schließen, dass die Denkmalpflege insgesamt eher weniger an den seinerzeit stattfindenden Gesundungsund Entschandelungsmaßnahmen beteiligt war. 296 Vgl. Vinken 2010, S. 152 f. Dabei weist Vinken darauf hin, dass auch schon während der NS-Zeit die Altstadtgesundungen nicht unumstritten waren, da sie teilweise als zu rückwärtsgewandt empfunden wurden. 297 Vgl. Vinken 2010, S. 162.
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neues Leitbild die sozialistische Stadt, deren ideale Form in den Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus von 1950 dargelegt wird.298 Die Denkmalpflege der DDR knüpfte mit ihren theoretischen Grundlagen die erzieherische Funktion der Bauten betreffend an die Vorkriegszeit an, wenn auch das angestrebte Ideal sich verändert hatte. Gerhard Strauss, damals Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für Kunstgeschichte beim Staatssekretariat für Hochund Fachschulwesen, betonte 1946 die enge Verknüpfung zwischen Wiederaufbau und geistiger Erneuerung, da nicht nur die Trümmer, sondern auch ihre geistigen Ursachen überwunden werden müssten.299 Dabei hat für ihn auch der Denkmalpfleger selbst Anteil an diesem gesellschaftlichen Lernprozess: „Der Denkmalpfleger muß lernen, Einsichten zu verbreiten und Beschlüsse in der Öffentlichkeit heranreifen zu lassen, so daß er sich nur als Initiator und als Vollzugsorgan der Öffentlichkeit zu betrachten braucht. Er wird damit nicht nur die Bevölkerung für ein neues Gebiet kultureller Arbeit interessieren, er wird sie auch die Handhabung demokratischen Lebens lehren und, wie gesagt, das gleiche lernen!“300
Denkmalpflege sah er dabei als Teil einer allgemeinen Geschichtspolitik, die dazu beitragen sollte, „das Wissen um die der Geschichte innewohnende Gesetzmäßigkeit ständig zu heben und die Würdigung solcher Gedanken aller Zeiten zu fördern, die vorbildhafte Achtung vor menschlicher Gesittung an[zu]regen und heutige, wie kommende Generationen dazu erziehen [zu] können, in konsequenter aktiver Ablehnung aller humanitätsfeindlichen Bestrebungen wahrhaft geschichtsfördernden Ideen zu dienen.“301
Sigrid Brandt fasst die Ziele der frühen Denkmalpflege in der SBZ/DDR zusammen:
298 An prominenter Stelle wird dort gleich als erster Grundsatz der Anspruch formuliert, dass die Stadt „in Struktur und architektonischer Gestaltung Ausdruck des politischen Lebens und des nationalen Bewußtseins des Volkes“ sein solle, was die enge Verbindung zwischen politischen Zielstellungen und ästhetischer Gestaltung verdeutlicht (vgl. http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/wiederaufbau-der-staedte/64346/ die-16-grundsaetze-des-staedtebaus, Zugriff 11.02.2016). 299 Vgl. Brandt 2003, S. 81. 300 Strauss auf einem Vortrag im Kulturbund Berlin, 3.3.1948, zit. nach ebd., S. 87. 301 Strauss in der Präambel zum Entwurfstext für das Denkmalschutzgesetz, 1948; zit. nach ebd., S. 88.
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„Dienst für eine neue Ordnung und Erziehung zur Demokratie, Entwicklung eines neuen Geschichtsbewußtseins, Erhaltung einer einheitlichen deutschen Kultur, Sicherung und Fortentwicklung der nationalen Existenz des deutschen Volkes und seines charakteristischen Heimatbildes, damit verbunden Entstehung eines neuen Heimat- und Nationalgefühls, Überwindung des Kosmopolitismus, Überwindung der idealistischen Kunstwissenschaft – mit diesen Funktionen sollte die ‚erneuerte Denkmalpflege‘, die ‚Kulturdenkmalpflege‘ der frühen fünfziger Jahre gesellschaftsfähig gemacht und ihr breite Akzeptanz verschafft werden.“302
Spielte anfangs die politische Bildung im Zusammenhang mit der Überwindung des Nationalsozialismus und der Neuschaffung des Staates eine hervorgehobene Rolle, gewannen später auch Aspekte der ästhetischen Bildung, die „Schönheit der Denkmäler“ und ihr positiver Einfluss, an Bedeutung.303 In dem 1962 vom Deutschen Kulturbund herausgegebenem Sammelband Denkmalpflege in unserer Zeit rückt der Präsident des Kulturbundes, Max Burghardt, die ästhetischen Qualitäten der Denkmale denn auch explizit in den Vordergrund: „Die Denkmale sind wesentliches Zeugnis dieses Erbes und durch ihre Anschaulichkeit geradezu prädestiniert, Verständnis und Achtung für die Werke der Kultur zu schaffen. Als Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwärtigem, als Künder des großartigen kulturellen Vermächtnisses bilden sie einen festen Bestandteil unserer schönen sozialistischen Heimat. Deshalb ist Denkmalpflege ein echtes Anliegen aller Menschen und eine wertvolle, gemeinnützige Tätigkeit, die Werte erhält und neu zur Geltung bringen vermag. Dieser sichtbare Ausdruck kultureller Tätigkeit steht im Dienst der Wissensvermittlung und Volksbildung, festigt das Schönheitsempfinden unserer Menschen und gibt der Deutschen Demokratischen Republik auch in internationaler Beziehung das Gepräge einer beispielhaften sozialistischen Kultur.“304
Im gleichen Band betont der damalige Generalkonservator des Instituts für Denkmalpflege der DDR Ludwig Deiters den Einfluss der Denkmale auf die ästhetische Bildung des Menschen, insbesondere auf dem Land und in kleinen Städten und darüber hinaus als Medien zur „nationalen Repräsentation vor der Welt“. 305 In der Forderung nach Befreiung „von Verschandelungen und Überbauungen der letzten kapitalistischen Jahrzehnte“, von „brutale[n] Ladeneinbauten“ und „protzige[m] Fassadenschmuck“306 trifft er sich dabei inhaltlich, vereint durch ein ähnliches Feindbild (nun kapitalistisch, vorher liberalistisch), mit seinen Kollegen der Vorkriegszeit. 302 Ebd., S. 88 f. 303 Vgl. ebd. 304 Burghardt in Deutscher Kulturbund 1962, S. o. A. 305 Vgl. Deiters 1962, S. o. A. 306 Vgl. ebd.
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Darüber hinaus wurde Denkmalpflege als gesellschaftliche Aufgabe empfunden, die im Idealfall durch die Bevölkerung selbst praktiziert werden sollte, da sie in derem ureigensten Interesse läge.307 Auch im Westen Deutschlands wurden neue städtebauliche Ideale formuliert, zwischen denen sich die Denkmalpflege neu verortete. 1957 regt der Architekt und Denkmalpfleger W. Zimmer die Suche nach neuen städtischen Formen auf Grundlage einer „freien Gemeinschaftsordnung“ an, die er in einer Zeit, in der es nur entweder eine „egoistische Gesellschaft“ oder eine „kollektive Gesellschaft“ gäbe, herbeiwünscht. Diese neue gesellschaftliche Ordnung, deren Vorbild er in der Antike sieht, würde sich wiederum nach seiner Vorstellung in der ästhetischen Gestaltung der Städte widerspiegeln.308 Ziel ist das, was Zimmer die „funktionale Stadt“ nennt, worin der Autor eine „brauchbare Großform“ sieht, die dynamisch ist und in der sich „zukünftige Geschlechter […] wohlfühlen“: „Sowohl der Mensch und die Natur als auch die Technik werden genug Raum zu ihrer optimalen Entfaltung haben. Alle Stadt- und Landschaftsinhalte müssen nach der Wertordnung der freien Gemeinschaft sinnvoll geordnet, verteilt und umgrenzt sein. […] Die Erziehung zum bewußten Menschen, zum Heimatdenken und zur sittlichen Handlungsweise, ist die Voraussetzung dazu. Sonst sind die schönsten Pläne Fragmente.“309
Hier fließen verschiedene Vorstellungen von Stadt, ihrer Funktion und Wirkung, traditionellem Heimatschutz und erzieherische Aspekte zusammen und vermischen sich mit der Suche nach neuen, zeitgemäßen und zukunftstauglichen Gestaltungsmöglichkeiten. Über die Entwicklung verschiedener städtischer Ästhetiken in der Nachkriegszeit wurde bereits in Kapitel 3.5.3 im Zusammenhang mit der malerischen und funktionalen Stadt eingegangen. An dieser Stelle sei daher nur noch einmal betont, dass die Entwicklung dieser verschiedenen ästhetischen Idealvorstellungen auch immer eng mit dem Gedanken der Wechselwirkung zwischen der Stadt und ihren Bewohnern zusammenhängt. 1965 formuliert Alexander Mitscherlich diese Gedanken in seinem prägenden stadtsoziologischen Werk über Die Unwirtlichkeit unserer Städte: „Es geht um einen im Wortsinn fatalen, einen schicksalsbildenden Zirkel: Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit.“ 310 307 Vgl. ebd. 308 Vgl. Zimmer 1957, S. 3 f. 309 Ebd., S. 7 f. 310 Mitscherlich 2008, S. 9.
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Mitscherlichs Thesen entstanden im Kontext einer stadtsoziologischen Bewegung, die die Bedürfnisse des Individuums bei der Stadtplanung stärker in den Vordergrund stellen wollte. Marianne Rodenstein stellt hier eine Verbindung zum Deutschen Städtetag 1960 her, der unter dem Motto „Erneuerung unserer Städte“ stattfand, und auf dem der Baseler Ökonom und Philosoph Edgar Salin einen aufsehenerregenden Vortrag unter dem Titel der Urbanität hielt. Salin hebt hier die enge Verbindung zwischen Urbanität und bürgerlichem Engagement hervor, womit die Stadt in ihrer Funktion als sozialer Raum in den Mittelpunkt rückt. 311 Ein Jahr später erschien Hans Paul Bahrdts Die moderne Großstadt und Jane Jacobs prägendes Werk The Death and Life of Great American Cities.312 Mitscherlich knüpft in seinem Buch, wie oben dargelegt wurde, an die alte Vorstellung der wechselseitigen Beeinflussung von Mensch und (städtischer) Umwelt an. Grundlage für seine Überlegungen bildet dabei die Feststellung einer grundsätzlichen These: die „Unwirtlichkeit“ der modernen Städte wirkt sich negativ auf den Charakter ihrer Bewohner aus. Das durch die Anonymität der Großstadtquartiere geförderte „unsoziale Verhalten“ tritt insbesondere bei Jugendlichen zutage, die auf die Umstände besonders sensibel reagieren. Als Grund dafür wird von Mitscherlich unter anderem auch die bauliche Form der Stadt ausgemacht: „Das [die Jugendkriminalität, S.H.] ist gewiß das Ergebnis vieler Faktoren; aber auch dieses einen, daß dem jungen Menschen zu wenig Bewegungsspielraum angeboten, daß er in einer überbevölkerten Umwelt allein gelassen wird. Wut auf das Bestehende bricht in großer Wildheit durch.“313
Als Pendant zu den hier geschilderten Lebensverhältnissen in anonymen Großsiedlungen existiert für Mitscherlich ein weiteres Schreckensszenario, das sich in erster Linie ästhetisch zu manifestieren scheint – die Einfamilienhaussiedlung: „Durchstreift man diese oft reichen Einfamilienweiden, so ist man überwältigt von dem Komfortgreuel, den unsere technischen Mittel hervorzubringen erlauben. Deutschland und Italien bilden dabei eine echte ‚Achse‘ der rücksichtsfreien Demonstration von pekuniärer Potenz und dem Geschmacksniveau von Devotionalienhändlern. Von Sanssouci-Assoziationen über Alpenchalets zu Breekerʼscher Versicherungspracht ist alles zu haben: eine Anhäufung von
311 Vgl. Rodenstein 2008, S. 174. 312 Rodenstein sieht Mitscherlich von beiden beeinflusst, hebt jedoch hervor, dass keiner so breit rezipiert wurde wie Mitscherlich, dessen Publikation, die bis 1983 200.000 mal verkauft wurde, bis heute als Grundlagenwerk gilt (vgl. ebd., S. 176). 313 Mitscherlich 2008, S. 110.
372 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE Zufälligkeiten des Gestaltungswillens, ob er nun unter einer stolzen Pineta unterkriecht, wie in der Umgebung Roms, oder die Apfelwiesen des südlichen Taunus überzieht.“ 314
Unklar bleibt an dieser Stelle, welche negativen Auswirkungen – außer der des „Geschmackverfalls“ – das Leben in einer solchen Siedlung mit sich führt. In erster Linie scheint Mitscherlich hier die Manifestation einer Fehlentwicklung zu sehen, einer „Verprovinzialisierung“315, die er aber im Gegensatz zu den Großsiedlungen auf ästhetischer Ebene kritisiert. Dadurch wird deutlich, wie eng Moral und Ästhetik weiterhin verbunden bleiben. Beides stellt für Mitscherlich zwei Seiten einer Medaille dar, da er das Grundübel in der Raumverteilung bzw. der Verteilung der Besitzverhältnisse in der Stadt sieht. Daher möchte er seine Kritik auch explizit nicht rückwärtsgewandt verstehen,316 sondern regt stattdessen als Grundlage für ein besseres Leben in der Stadt eine Neuordnung der Besitzverhältnisse von Grund und Boden an: „Denn bleiben die Siedlungsbedingungen in den Fesseln bestehender Besitzverhältnisse, dann wird es keine zuträgliche Stadtumwelt, dafür aber asoziale Jugendliche in Mengen geben.“317 Bei aller Konstanz des Gedankens der wechselseitigen Beeinflussung hatte sich doch das angestrebte Menschenbild geändert. Ziel war nicht mehr die Schaffung eines einheitlichen Volks sondern die der besten Entwicklungsmöglichkeiten für einen mündigen städtischen Bürger, der sich selbst als Teil einer städtischen Gesellschaft versteht. Hielt Mitscherlich zur Schaffung dieses Menschen noch eine einschneidende ordnungspolitische Geste für notwendig, so setzte sich mittelfristig in erster Linie die Vorstellung einer sozialen Form von Stadt durch soziale Beteiligung durch. Ab 1969 wurde in Bologna unter Pier Luigi Cervellati die erste behutsame Stadterneuerung umgesetzt. Dabei wurden auch die vorhandenen sozialen Strukturen als Teil der Stadt angesehen. Ziel war nicht mehr eine Neuordnung, sondern eine behutsame Verbesserung der vorhandenen Verhältnisse. 318 Grundlage für diese Veränderung ist ein neues Gesellschaftsbild, das gesellschaftliche Hierarchien hinterfragt und damit auch die hoheitliche Erziehungsfunktion der planenden Behörden und sonstigen Verantwortlichen. Der Gedanke der wechselseitigen Beziehung zwischen Stadt und Mensch bleibt zwar weiterhin bestehen, die Vorstellung von ‚Erziehung‘ hat sich jedoch grundsätzlich geändert.319 314 Ebd., S. 11. 315 Ebd., S. 21. 316 Vgl. ebd., S. 15. 317 Ebd., S. 110. Vgl. außerdem S. 7, wo er diesen Punkt als Hauptthese seines Buches hervorhebt. 318 Vgl. Brichetti 2009, S. 150 f. 319 Im folgenden Kapitel soll dies daher eigenständig unter dem zu Abgrenzungszwecken gewählten Begriff der „kulturellen Bildung“ erörtert werden.
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Dies äußert sich auch im Selbstverständnis der zeitgenössischen Denkmalpflege, die soziale Belange zunehmend mit diskutiert. 1975 bezieht sich Michael Petzet im Rahmen des Denkmaljahrs explizit auf Mitscherlich wenn er feststellt, dass sich der Bürger mit seiner Stadt, die Gefahr laufe, zu einem bloßen Ballungsraum zu werden und jede Individualität zu verlieren, nicht mehr identifizieren könne.320 Auch bei seiner Beschreibung der städtebaulichen Situation ist der Einfluss Mitscherlichs spürbar: „Alle jene Ideale, mit denen moderne Städteplaner den Altstädten unter Schlagworten wie ‚Durchgrünung‘, ‚Entballung‘, ‚Auslichtung‘, ‚Funktionsentmischung‘ zu Leibe rückten, sind dagegen in den neuen Wohnvierteln von vornherein verwirklicht: Lockere Solitärbebauung aus freistehenden Hochhäusern, im Winkel gegeneinander versetzte Reihenhäuser, Terrassenhäuser – das ganze Musterbuch moderner Architektur auf viel gepflegtem Rasen, aber kaum Kontakt zur Umwelt, wenig Gegenüber und wenig Miteinander im architektonischen und damit auch im menschlichen Bereich, ein großes Einkaufszentrum, tote Straßen. In diesen gettoartigen Wohn- und Schlafstätten, die man am Wochenende mit dem Auto so schnell wie möglich verläßt, wahrend am Abend der Fernseher den Kontakt zur Außenwelt ersetzt, vollziehen sich auch alle sozialen und kulturellen ‚Pflichtübungen‘ irgendwie im luftleeren Raum, während in den durch die wirtschaftliche Entwicklung und den Verkehr bedrohten und zum Teil auch schon fast zerstörten alten Stadtbereichen nur an bereits bestehende soziale und kulturelle Strukturen angeknüpft werden müßte. Die Bewahrung von historischen Stadtvierteln bedeutet also weit mehr als Bewahrung von historisch interessanten und für die Originalität eines Stadtbildes wesentlichen Bauten – sie bedeutet die Bewahrung städtischen Lebens und städtischer Kultur.“321
Bei dem Erhalt des historischen Erbes gehe es daher um weit mehr als um Geschichtswissenschaft, er beinhaltet für Petzet auch soziale, psychologische und sogar medizinische Aspekte.322 1980 unterstreicht der Jurist und Kunsthistoriker Michael Kummer diese als notwendig erachtete Ausrichtung der Denkmalpflege an sozialen Belangen: „Es kann der Denkmalpflege nicht nur darum gehen, das äußere Bild zu erhalten; sie muß trotz aller Schwierigkeiten darauf bedacht bleiben, die der historischen Bedeutung der Siedlung entsprechende Sozialstruktur zu bewahren.“323 Die Denkmalpflege steht für ihn daher in engem Verhältnis zum zeitgenössischen „sozialwissenschaftlichen Selbstverständnis“.324 Die städtische Umgebung sollte zukünftig nicht länger erziehen, sondern stattdessen „Anhaltspunkte für Identifika320 Vgl. Petzet 1975, S. 13. 321 Ebd. 322 Vgl. ebd., S. 7. 323 Kummer 1980, S. 26. 324 Ebd., S. 24.
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tion“325 liefern. Dies, so führt Hermann Glaser 1985 aus, geschehe in erster Linie über ästhetische Aspekte, da die Ästhetik das Denken in Gang setze, wohingegen sture Architektur die Menschen abstumpfe.326 Daher kommt Glaser auch am Ende des hier zitierten Textes zu dem Schluss, dass die Stadt „über ästhetische Gestaltung moralische Prinzipien verwirklichen helfen“ müsse.327 Zwei Dinge lassen sich aus diesen Zitaten entnehmen. Zum einen bleibt die Gestaltung ein wichtiger Aspekt, der direkte Auswirkungen auf die Bewohner der Stadt hat. Eine gute – ästhetische – Gestaltung führt auch zu einem guten Menschen. Darüber hinaus sind die geforderten identitätsstiftenden Elemente nicht aus sich selbst heraus positiv, sie werden positiv, da die Identifikation mit der Stadt einen besseren Stadtbewohner zur Folge hat. Ähnliche Gedanken lagen wohl auch der fast zeitgleich entstandenen Charta von Washington zur Denkmalpflege in historischen Städten zugrunde, deren Zielsetzung gesellschaftliche und denkmalpflegerische Ziele miteinander zu verbinden sucht: „Die neue Charta definiert Grundsätze, Ziele und Methoden zur Denkmalpflege in historischen Städten und städtischen Bereichen. Damit soll auch die Harmonie des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens in diesen Bereichen begünstigt und der gesamte kulturelle Besitz, selbst in seinen bescheidensten Formen, als historisches Erbe der Menschheit auf Dauer gesichert werden.“328
Die Kritik an diesem idealistischen Bild einer harmonischen Gesellschaft in einer historischen, ästhetischen und identitätsstiftenden Stadt häufte sich, als diese harmonische Gesellschaft sich nicht einstellte. Als Aufhänger für die Kritiker dient dabei oft die zu starke Ausrichtung an formalästhetischen Kriterien. Bereits 1993 verweist Georg Mörsch (zwar in Bezug auf Camillo Sitte, inhaltlich aber durchaus übertragbar) darauf, dass die bloße Anwendung einer Form noch nicht zwangsläufig die gewünschten gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen mit sich bringe.329 Im Zusammenhang mit der bereits ausführlich beschriebenen Kritik an der Ästhetisierung der Stadt wurde auch die positive gesellschaftliche Beeinflussung durch einen ästhetischen Stadtraum in Frage gestellt. Genauer gesagt stellte sich erneut die Frage, welche Art von Ästhetik für welche Gesellschaft gewählt werden müsse. Zugespitzt könnte man hier auch eine Vermischung der Gedanken vom Schönen, Wahren und Guten mit denen einer idealen Gesellschaft sehen. Eine un325 Vgl. Glaser 1985, S. 13. 326 Vgl. ebd. 327 Ebd., S. 21. 328 ICOMOS 1987, S. 1. 329 Vgl. Mörsch 2005, S. 131.
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wahre (und damit unschöne) Umgebung kann auch nicht gut für die Gesellschaft sein. Ingrid Scheurmann zieht 2006 eine ernüchternde Bilanz für die „neuen Altstädte“: „Die unwirtlichen Städte von einst – so die realistische Bilanz – haben sich zwar gehäutet, lebensvoll sind sie aber dennoch nicht geworden.“ 330 Stattdessen rangierten sie zwischen Musealisierung und Freizeitpark. Hier schließt sich also der Kreis mit der zeitgleich stattfindenden Ästhetisierungsdebatte.331 Die seit einigen Jahren wieder verstärkt geführten Diskussionen über die Schönheit der Stadt sollen hier nicht weiter vertieft werden. Es bleibt jedoch zu erwähnen, dass nach den Ästhetisierungsdebatten der 90er Jahre die Suche nach einer positiv zu wertenden Schönheit auf diesem Gebiet stetig zunimmt. Stellvertretend sei hier das 2010 von Christoph Mäckler und Wolfgang Sonne gegründete Institut für Stadtbaukunst erwähnt, dass sich das Thema der Schönheit explizit auf die Fahnen geschrieben hat und sich in dieser Rolle als Vorreiter sieht. Die Auftakttagung 2010 unter dem Motto Die Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt332 wurde in Kooperation mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe durchgeführt und außerdem von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und Europa Nostra unterstützt. Ausgangspunkt war die von Christoph Mäckler eingangs aufgestellte These, dass Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt planbar seien.333 Die Denkmalpflege zeigte durch ihre Beteiligung prinzipiell Interesse an dem Thema, hielt sich innerhalb der Tagung jedoch eher zurück und war lediglich durch einen differenzierten Vortrag zur Frage Wie kann Denkmalpflege zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt beitragen von Ulrike Wendland vertreten. Im Gegensatz zu vielen anderen Vorträgen verzichtet Wendland hier auf normative Setzungen und stellt stattdessen den Vermittlungscharakter der Denkmalpflege in den Vordergrund.334 In dieser Vermittlerrolle sieht sich die Denkmalpflege, wie gezeigt wurde, insbesondere seit Mitte der 70er Jahre. Gleichzeitig ist dieses Selbstverständnis nicht ungebrochen, und es stellt sich bei genauer Betrachtung wiederholt die Frage, ob es tatsächlich nur eine Vermittlerrolle ist, die die Denkmalpflege einnimmt. Was geschieht, wenn das Vermittelte nicht angenommen wird? Welche Legitimation verleiht die fachliche Expertise gegenüber dem Laien? Die Denkmalpflege ist sowohl die (be)wertende als auch die vermittelnde Institution. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten im Kommunikations- und Arbeitsprozess. Entsprechend der oben 330 Scheurmann 2006, S. 104. 331 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.7. 332 Vgl. Mäckler und Sonne 2011. 333 Vgl. ebd., S. 19. 334 Vgl. Wendland 2011, S. 156. Es bleibt zu erwähnen, dass bei den sonst häufig formalästhetischen Argumentationen das Bild einer ‚Alten Stadt‘ meist als Vorbild diente. Bezeichnend ist, dass es gerade ein Denkmalpfleger war, der gegen Ende der Tagung kritisch anmerkte, dass der Tenor insgesamt doch sehr retrospektiv gewesen sei.
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hergeleiteten Feststellung, dass der hierarchisch strukturierte Erziehungsgedanke seit den 70er Jahren durch den der ‚Vermittlung‘ abgelöst wurde, sollen die durch diese differenzierte Herangehensweise neu aufkommenden Fragen im folgenden Kapitel unter dem Begriff der ‚Kulturellen Bildung‘ – mit einem Fokus auf Fragen der Ästhetik – behandelt werden.335
5.3 D ENKMALPFLEGE
UND KULTURELLE
B ILDUNG
Wie bereits erwähnt, wird von verschiedenen Seiten der Einfluss der Sozialwissenschaften auf die Denkmalpflege ab den 60er Jahren betont, was auch oben grob skizziert wurde. Als Folge davon wird in erster Linie die Erweiterung des Denkmalbegriffs angesehen, die auf geänderten Deutungsmustern in Bezug auf Geschichte und Gesellschaft basiert. In diesem Zusammenhang änderten sich auch die Bewertungskriterien der Denkmalpflege, indem die bereits existierenden historischen und ästhetischen Ansätze um soziale und gesellschaftliche Kriterien ergänzt wurden.336 Daneben hatte diese Entwicklung jedoch auch Einflüsse auf Struktur, Methodik und Selbstverständnis der Denkmalpflege, insbesondere in Bezug auf ihre gesellschaftliche Rolle als kulturelle Bildungsinstanz. Neben den Forderungen nach einer Denkmalpflege, die „einen die gesamte Gesellschaft umfassenden Querschnitt“337 erforschen, und sich nicht länger einem tradierten hochkulturellen Kanon verpflichten solle, wurde die Rolle der Denkmalpflege im Rahmen einer den Lebensraum prägenden Planung bedeutungsvoller. 338 Die dort immer wichtiger werdende Berücksichtigung sozialer Faktoren, die sich zunächst in der Forderung nach und schließlich in Formen der direkten Beteiligung der ‚Betroffenen‘ an Planungsprozessen äußerte, wirkte sich auch auf die Denkmalpflege aus. Die Grundlage dafür bildete die Annahme, dass niemand die Bedürfnisse des Bewohners besser einschätzen könne, als dieser selbst. Die Denkmalpflege, die das Bedürfnis nach kultureller und historischer Identität vertrat, suchte in diesem Zusammenhang nach neuen Vermittlungsstrategien, die es ermöglichten, die Bevölkerung stärker in Inwertsetzungsprozesse einzubeziehen. Die Vereinbarung dieser partizipativen Bestre335 Hier möchte ich mich auf eine Definition des Begriffs der ‚kulturellen Bildung‘ von Karl Ermert beziehen, dem langjährigen Direktor der Bundesakademie für kulturelle Bildung. Er definiert kulturelle Bildung als „Bildung zur kulturellen Teilhabe“, wobei kulturelle Teilhabe die „Partizipation am künstlerisch kulturellen Geschehen einer Gesellschaft im Besonderen und an ihren Lebens- und Handlungsvollzügen im Allgemeinen“ bedeutet (vgl. Ermert 2009). 336 Vgl. Lipp 2008, S. 272. 337 Günter 1970, S. 111. 338 Vgl. ebd.
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bungen mit dem traditionellen, hierarchisch geprägten Bildungsverständnis der Denkmalpflege bildet seither ein immer wieder neu diskutiertes Arbeitsfeld. Anfang der 70er Jahre macht Uwe Paschke den Vorschlag, den Bürger nicht länger zu einem „ästhetischen Bewusstsein“ erziehen zu wollen – das es seiner Meinung nach nicht mehr gäbe – sondern die Gesellschaft statt dessen dort abzuholen, wo sie steht: „Die technisch-funktionelle Ausrichtung im Zuge des Vordringens des technischen Bewußtseins zerstörte in der modernen Subjektivität weitestgehend das, was als Voraussetzung historischen und ästhetischen Erlebens und damit in bestimmter Hinsicht der herkömmlichen Denkmalpflege angeführt wurde: die Empfindungsfähigkeit für die den Dingen denkmalartigen Charakters immanenten historischen und ästhetischen Momente. Dieser Verlust soll nun 339
keineswegs wieder ausgeglichen werden durch entsprechende Bildungsbestrebungen“ .
Stattdessen solle man der Entemotionalisierung und Technisierung mit einer Betonung des Dokumentencharakters der Denkmale entgegenkommen. Zur Vermittlung dieser auch dem modernen Menschen nachvollziehbaren Werte regt Paschke an, sich moderner Kommunikationsmedien bedienen.340 Paschke schlägt hier einen Zwischenweg vor. Zwar bleibt die Denkmalvermittlung ein hierarchisch geprägter Prozess von oben nach unten, die bewertende Instanz berücksichtigt dabei aber vorhandene (bzw. vermeintlich vorhandene) Wertemodelle der Gesellschaft anstatt diese beeinflussen zu wollen. Der Bildungsauftrag wird in diesem Sinne auf eine Wissensvermittlung beschränkt. Dies geht jedoch zu Lasten aller sinnstiftender Elemente, die für die Denkmalpflege im Grunde konstituierend sind. Auch der Erhalt des Historischen ist nur dann sinnvoll, wenn man dem Historischen einen Sinn zuordnet. Insofern handelt es sich bei diesem Beispiel auch um einen eher folgelosen Versuch, der jedoch einen Einblick in das zeitgenössische Denken – und eventuell auch in die Schwierigkeiten der Denkmalpflege, sich neu zu positionieren – erlaubt. Weitreichender in seinen Forderungen und näher am planerischen Alltag war zeitgleich der Denkmalpfleger Roland Günter, der versuchte, planerische Beteiligungspraktiken auf die Denkmalpflege zu übertragen. Ziel und gleichzeitig Grundlage seiner Arbeit war eine Neudefinition des Verhältnisses von Bürger und Experte. Entsprechend den Ansätzen in der zeitgenössischen Planung sollte der Bürger als Experte seiner Belange und in diesem Sinne als gleichberechtigter Partner verstanden werden. Dem fachlichen Experten steht in dem Planungsprozess die Rolle des Beraters zu, der sein fachliches Wissen – verständlich vorgebracht – in den Prozess
339 Paschke 1972, S. 52 f. 340 Ebd., S. 57.
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einbringt.341 Denkmalpflege wurde in diesem Zusammenhang als ‚Sozialarbeit‘ verstanden. Günter berief sich dabei auf das Vorbild Bologna, wo, gleichzeitig mit der Bausubstanz, auch die „schichtspezifischen Lebensweisen“ der Arbeiter bewahrt blieben, die diese über Jahrhunderte kultivierten. 342 Da gewachsene Sozialstrukturen stets auch an konkrete Baulichkeiten gebunden seien, würde der Erhalt der Baulichkeiten gleichzeitig zum Erhalt der sozialen Strukturen beitragen, statt diese zu zerstören.343 Aufgabe und Sinn der Denkmalpflege definieren sich aus den hieraus resultierenden positiven sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Diesem Gedanken der Verknüpfung von Denkmal und sozialem Lebensraum schließt sich 1975 auch Willibald Sauerländer in seinem Vortrag vor der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in Goslar an. Dort thematisiert er unter dem Schlagwort des „erweiterten Denkmalbegriffs“ die oben beschriebene „qualitative Veränderung“ der Denkmalpflege, die für ihn das grundsätzlich Neue ausmacht (im Gegensatz zu einer rein quantitativen Erweiterung von Denkmalobjekten und -kategorien).344 Demnach gehe es der Denkmalpflege nicht länger um den Erhalt einzelner Bauten oder Strukturen, „sondern weit vitaler und umfassender [um den Erhalt] des ganzen überkommenen Lebensraumes, seines Angebots an Orientierungen, Zeichen, Erinnerungen.“345 Der Denkmalbegriff sei also nicht länger an Begriffe wie Geschichte oder Kunst geknüpft, sondern beziehe sich auf die gesamte soziale Lebenswelt. Dies bedeutet für ihn jedoch nicht nur eine Feststellung des status quo, sondern das sei gleichzeitig der einzige Weg, den eine modern ausgerichtete Denkmalpflege gehen könne. Grundlegend dafür sei eine Rückbesinnung auf die sinnstiftende gesellschaftliche Funktion der Denkmalpflege. Hier zieht Sauerländer den Bogen zur oben beschriebenen, humanistisch begründeten, erzieherischen Funktion der Denkmalpflege, die Kunstwerke und historische Denkmale nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihres gesellschaftlichen Werts als Vorbild oder Zeugnis für die Gesellschaft schützt, was die Denkmalpflege zu einer „bürgerlich-
341 Vgl. Ingrid Scheurmanns Artikel zu Roland Günter auf www.denkmaldebatten.de (http://denkmald-ebatten.de/protagonisten/roland-guenter/roland-guenterdenkmalpflege-ist-sozial-politik, Zugriff 11.02.2016). Günter war in diesem Zusammenhang konsequent und unterstützte verschiedene Bürgerinitiativen und machte sich insbesondere für den Erhalt von Arbeitersiedlungen verdient. 1976 publizierte er gemeinsam mit Rolf Hasse ein Handbuch für Bürgerinitiativen als Ratgeber für den Umgang mit verschiedenen Planungsinstanzen und Medien (vgl. ebd.). 342 Vgl. Günter et al. 1975, S. 100. 343 Vgl. ebd., S. 103. Neben dieser sozialen Komponente betont Günter außerdem auch die Rolle des Ästhetischen für die Lebensqualität. Vgl. ebd. S. 113 f. 344 Vgl. Sauerländer 1975, S. 118. 345 Ebd.
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patriotischen Bildungsaufgabe erster Ordnung“ werden ließ. 346 Sauerländer geht in seiner weiteren Argumentation davon aus, dass dieses „Band zwischen der ästhetischen Erziehung und den alten Kunstdenkmälern“ um 1900 mit der Entstehung der modernen Denkmalpflege als Wissenschaft zerrissen sei.347 Auch wenn dem, wie oben gezeigt werden konnte, nicht so war, so sind doch Sauerländers Schlussfolgerungen für die damalige (und heutige) Denkmalpflege von unverkennbarem Wert. Durch den konstatierten Verlust der Bildungsaufgabe als konstituierendem Merkmal der Denkmalpflege stellt Sauerländer Überlegungen zu einer neuen gesellschaftlichen Begründung der Denkmalpflege an: „Müssen wir nicht die Bewahrung von Erinnerungen überhaupt neu begründen und zwar nicht allein für unsere Wissenschaft, nicht allein für unser Geschichtsbild, sondern für Menschen und Bürger, welche die Bewahrung von Erinnerungen, die sie begreifen können, vielleicht dankbar annehmen werden, wohingegen sie vor Denkmälern als dokumentierter Kunstgeschichte ratlos bleiben und wahrscheinlich in die Verweigerung flüchten müssen.“
348
Es geht Sauerländer also nicht in erster Linie um die Vermittlung festgestellter Werte, sondern um die Suche nach neuen, gesellschaftsrelevanten Werten und Sinnstiftungen. Dabei kommt für ihn weder ein Rückzug auf den historischen Charakter des Objekts in Frage – da die Gefahr bestehe, dass sich der Mensch so nur noch als Statist in einem „Antiquarium“ fühle – , noch die einseitige Fokussierung auf das Ästhetische, da diese allzu oft zu denkmalpflegerisch fragwürdigen Ergebnissen führe.349 Stattdessen sollten die Denkmale als „Gesamterfahrung“ dienen können: „Erst wenn das Stadtquartier als ein umfassendes System gestalteter Sozialbezüge erfaßt wird, ein gegliedertes Gefüge von zwar temporär verdeckten, aber latent doch fortwirkenden Anweisungen und Zeichen, in dem bestimmte, nicht austauschbare soziale Erfahrungen entweder bewahrt oder relativiert werden können – Nachbarschaft, Anwurzeln, zu Hause Fühlen mit der Kneipe nebenan und dem Laden an der nächsten Ecke, dann in Spannung dazu der große Platz, die Öffentlichkeit der profanen Monumentalbauten und Kirchen – kann sich das sogenannte Stadtdenkmal aus der dokumentarischen Erstarrung lösen und in aktivierende, urbane Erinnerung verwandeln. […] Die Alternative: eine Wohnwelt unter der kunsthistorischen Käseglocke, lohnt eigentlich nicht einmal den Kommentar, denn sie kann die Erinne-
346 Vgl. ebd., S. 121. 347 Vgl. ebd., S. 122. 348 Ebd., S. 124. 349 Vgl. ebd., S. 124 f.
380 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE rung in unseren Städten deswegen nicht bewahren, weil sie sie mit keiner Botschaft für mor350
gen erfüllt.“
Sauerländer sieht also in der Hinterfragung des klassischen Bildungsauftrages der Denkmalpflege nicht nur ein Vermittlungsproblem, sondern ein grundsätzliches Problem der inhaltlichen Orientierung. Die Lösung dafür kann deswegen nicht in einer Neuorganisation von Kommunikations- und Vermittlungsstrukturen liegen, sondern muss in einer neuen Selbstdefinition der Denkmalpflege, in einem neuen denkmalpflegerischen Selbstverständnis begründet sein. Der Sinn und die Notwendigkeit der Denkmalpflege erklärte sich in der Folge nicht mehr durch den gesellschaftlichen Auftrag zur Bildung eines besseren Menschen oder einer besseren Gesellschaft, sondern es wurde versucht, ihn in dem menschlichen Bedürfnis nach Geschichte im Sinne von Selbstvergewisserung und sozialem Zusammenhalt zu fundieren. Entsprechend begründet die Europäische Denkmalschutzcharta aus dem Jahr 1975 die Notwendigkeit zum Erhalt von Denkmalen in erster Linie anthropologisch und sozial. Die im architektonischen Erbe überlieferte Vergangenheit bilde den unverzichtbare[n] Rahmen für die ausgewogene Entwicklung des Menschen“. Darüber hinaus wird nicht nur der hohe Bildungswert des architektonischen Erbes im traditionellen Sinne einer Erziehung zur Kunst hervorgehoben, sondern auch der Wert historischer Ensembles für „ein harmonisches soziales Gleichgewicht“.351 Damit wird Denkmalpflege von einer erzieherischen und bildenden Maßnahme zu einer unterstützenden Tätigkeit, die dem betroffenen Menschen hilft, das zu erhalten, was für ihn notwendig ist. Durch neue Strategien der denkmalpflegerischen Sinngebung wird also versucht, sich von der traditionell hierarchischen Denkweise einer im weitesten Sinne bildungspolitischen Denkmalpflege zu trennen. Dass dieser Schritt der Denkmalpflege nicht leicht fiel, zeigt bereits der weitere Wortlaut derselben Charta, die neben dem Vorangestellten schließlich auch explizit den hohen Bildungswert der Denkmale hervorhebt, „die durch ihren Formenreichtum vielfältiges Anschauungs- und Vergleichsmaterial und dadurch eine Fülle von Anregungen für die unterrichtliche Praxis bieten.“ 352 – ein Gedanke, den bereits Wilhelm von Humboldt so hätte formulieren können. Im Rückblick zeigt sich, dass sich eine auf Beteiligungsprozessen basierende Denkmalpflege nicht etablieren ließ. Dies ist eventuell darauf zurückzuführen, dass das von Günter geforderte Neudenken des Verhältnisses zwischen Experte und Laie nicht vollständig verwirklicht werden konnte. Das lässt sich höchstwahrscheinlich auf mehrere Faktoren zurückführen. Der eine liegt in der grundsätzlichen Schwie350 Ebd. Auch der Rückgriff auf die „historische Existenz als solcher“ (Dehio) reiche in diesem Zusammenhang nicht aus, da dadurch allein noch kein Sinn entstehe. 351 Europarat 1975. 352 Ebd.
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rigkeit des Modells (bzw. der gedachten Doppelfunktion des Denkmalpflegers als sowohl Experte als auch Vermittler, was zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen muss), als auch an der Schwierigkeit seitens der Denkmalpflege, sich von der Wertungshoheit und dem damit verbundenen Bildungsauftrag loszusagen. Probleme für die Denkmalpflege als vermittelnde Instanz treten immer dann auf, wenn es zu Konflikten mit denkmalpflegerischen Institutionen als (be)wertenden Experten kommt. Ende der 80er Jahre, als Georg Mörsch den oben zitierten Text schrieb, war die Denkmalpflege aufgrund der historischen Entwicklung um die Erfahrung reicher, dass sich die Wünsche der Gesellschaft nicht zwangsläufig mit denen der Denkmalpflege decken müssen – und diesen teilweise sogar diametral entgegenstehen. Der Beteiligungsgedanke, der in den 70ern zu einer Zeit von großem Konsens zwischen allgemein gesellschaftlichen Bestrebungen und der Denkmalpflege entstand353, konnte sich bei einem Abklingen dieses Konsenses nicht langfristig halten. Zurück blieb eine prinzipielle Dialogbereitschaft der Denkmalpflege. Georg Mörsch sieht in dieser Dialogbereitschaft 1989 nicht nur ein Potenzial der Denkmalpflege, sondern darüber hinaus auch ein gesellschaftliches Potenzial, indem das – unter Umständen kontroverse – Diskutieren über Denkmalwerte auch einen eigenen gesellschaftlichen Wert entwickeln kann: „Zu den wichtigen Werten der Denkmalerhaltung, sieht man sie nicht isoliert, gehört die generelle Aktivierung von Schutzverhalten angesichts vordergründig überzeugender, aber Grundlagen vieler Art zerstörender Interessen. Wirklich grundsätzliche Denkmalpflege wird so immer auch zur Diskussion über Wertsetzungen und Wertehierarchien einer Gesellschaft führen. Aus solcher Diskussion nährt sich der Anspruch zu generellen gesellschaftlichen Korrekturen.“
354
Dieser existiert auf einer abstrakten Ebene, unabhängig vom jeweils diskutierten, konkreten Denkmal. Neben diesen diskursiven Qualitäten hebt Mörsch an gleicher Stelle aber auch wiederum die bildenden Aspekte der konkreten Denkmale in den Vordergrund, indem er diese an die scheinbaren Bedürfnisse der Zeit anpasst: „Zur vielfältigen Verweigerungshaltung vor Verfalls-, Alters- und Todesspuren in unserer Gesellschaft und zur Eliminierung ihrer optischen Präsenz zählt es ja längst auch, dem Denkmal mit den fragwürdigen Mitteln von Rekonstruktion und Imitation den Untergang vorzuenthalten. […] Nicht resignierter, sondern auch in dieser letzten Hinsicht tapferer Um353 Von Beyme sieht die Sensibilisierung für denkmalpflegerische Belange mit dem europäischen Denkmalschutzjahr 1975 auf einem Höhepunkt, wohingegen die Unterstützung für die Denkmalpflege bereits in den Folgejahren wieder abnahm (vgl. von Beyme 1987, S. 232). 354 Mörsch 1989, S. 139.
382 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE gang mit der Vergänglichkeit des Denkmals könnte eine Hilfe sein, dem zeitgenössischen Zwang zu ewiger Jugend zu entrinnen und auch in solcher Natürlichkeit des Alternkönnens ein Stück Freiheit zu finden.“
355
Hier geht es nicht um Wissensvermittlung, sondern um die Vorstellung, den Menschen durch Denkmalanschauung im weitesten Sinne weiter bilden zu können, indem negativen gesellschaftlichen Tendenzen – hier dem Jugendwahn – entgegengewirkt wird. Grundlegend dafür ist der Gedanke eines gesellschaftlichen Mehrwerts der Denkmalpflege, der – im Grunde ganz im Sinne Sauerländers – über die bloße Vermittlung von Wissen hinaus geht und dadurch eine neue gesellschaftliche Relevanz entwickelt. Mörsch selbst formuliert dies als „Arbeitshypothese“, die davon ausgeht, dass „im Umgang mit dem Denkmal zusätzlich solche unmittelbar einsichtigen Haltungen und Gefühle als Möglichkeiten auszumachen und zu aktivieren [sind], die für die integrale Erhaltung des Denkmals und für die Selbstfindung seiner Partner wirksam werden. […] Welche Gegenstände könnten demgegenüber wertvoller sein als solche, die bei ihrem Schutz Einsichten und Haltungen anerziehen und zwingend voraussetzen, die in sich selbst umfassend notwendig, kostbar, ja zum Teil sogar im ethischen Sinne gut sind! Die angedeuteten Grundhaltungen, Einsichten und die Ergebnisse daraus dienen nicht nur der Erhaltung von wissenschaftlich begründeten Denkmälern, sondern erheben den Anspruch, den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt insgesamt klüger, schonender, richtiger zu gestalten.“
356
Was bei Sauerländer und seiner Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Sinn der Denkmalpflege unter den Tisch fällt, kommt hier bei Mörsch deutlich zum Ausdruck: auch ein neu gesetzter Sinn führt wieder zu einer gewollten Beeinflussung der Menschen im Sinne dieses Sinns. Die gedachte gesellschaftliche Verankerung der Denkmalpflege löst keineswegs zwangsläufig einen an sie gestellten Bildungsauftrag. So kann Mörsch sich hier gleichzeitig in der Tradition einer idealistischen ästhetischen Erziehung und Sauerländers Suche nach einer neuen Begründung der Denkmalpflege sehen. Insgesamt gesehen scheint der Gedanke der Denkmalpflege als sozialer Aufgabe seit Mitte der 70er Jahre jedoch rapide abzunehmen. Stattdessen spielt die Vermittlung historischen Wissens anhand von Denkmalen als Quellen im Bereich der Denkmalvermittlung eine Hauptrolle, gerade auch in Hinblick auf eine scheinbar rückläufige Denkmalakzeptanz. So fordert Marion Wohlleben 1989 eine „Denkmadidaktik“, die einen „differenzierte[n] Teil der Aufklärung über die Objekte und
355 Ebd. S. 140. 356 Vgl. Mörsch 1989, S. 140.
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ihre historischen Zusammenhänge“ gewährleisten soll. 357 Hier geht es nicht um einen idealistischen, ganzheitlichen Erziehungsansatz, sondern um die Vermittlung von historischem Wissen anhand der Denkmale und zu deren Nutzen. In diesem Zusammenhang, nämlich in Bezug auf das Selbstverständnis der Denkmalpflege als geschichtsvermittelnder Wissenschaft, sieht Wilfried Lipp den Einfluss der Postmoderne als Verunsicherungsfaktor. Das Ende der Meta-Erzählung bedeute auch das Ende des „ideologischen ‚mikrototalitären‘ Anspruchs“ der Denkmalpflege. 358 Stattdessen sei die Denkmalpflege nur noch „ein Modell unter vielen, die der Gegenwart Historie vermitteln.“359 Darüber hinaus stellt er ein durch die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft entstehendes „‚common sense‘ Defizit“ fest, das die Arbeit der Denkmalpfleger zusätzlich erschwere.360 Entsprechend dieser Problemanalyse fand 1993 die vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege veranstaltete Tagung zum „postmodernen Denkmalkultus“ statt.361 Als Résumé der Tagung stellte der schweizer Denkmalpfleger Alfred Wyss einen „kleinen Katechismus“ in fünf Punkten auf, in dem er Wege zur zeitgemäßen Umsetzung der moralischen Verantwortung der Denkmalpflege vorschlägt. Wichtigste Voraussetzung dafür bleibt, dem Titel seines Beitrags entsprechend, die Annahme, dass die Denkmalpflege nach wie vor eine gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen hat, das heißt, dass ihre sinnstiftende Funktion auch in der scheinbar so fragmentierten und werterelativen Postmoderne bestehen bleibt. Der Denkmalpfleger, selbst Teil der postmodernen Gesellschaft, müsse sich in jedem Einzelfall zu diesem Dilemma positionieren. Wyss schlägt dazu eine pragmatische Lösung vor: „Reflektiere die Relativität der Denkmalpflege – handle jedoch, wenn Du ein Denkmal restaurierst mit der Überzeugung, daß Du richtig handelst – sonst verlierst Du Deine Ausstrahlung und Deine Argumente wirken unglaubwürdig.“
362
357 Vgl. Wohlleben 1989, S. 87. 358 Vgl. Lipp 1993, S. 20. 359 Vgl. Lipp 2008, S. 41 ff. In seinem Text von 1993 führt er diesen Gedanken detailliert aus, indem er die Konkurrenten aufführt: „In den musealen Inszenierungen, den Geschichtsallusionen vermittelnden Ausstellungen, in den Disneylands, Freizeitparks und Medienspektakeln, in Kaufhaus und Gaststube hat der Denkmalbegriff Konkurrenz bekommen […].“ Lipp 1993, S. 20. 360 Vgl. Lipp 2008, S. 41 ff. 361 Dass im Rahmen eines angenommenen postmodernen Einflusses auf die Denkmalpflege auf der Tagung auch eine Zunahme der Bedeutung ästhetischer Faktoren diskutiert wurde, wurde bereits in Kapitel 3.7 ausführlich dargestellt. 362 Wyss 1994, S. 85.
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Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass eine Relativierung der Werte nicht deren Aufhebung bedeutet. Nicht keine Werte sind die Folge, sondern eventuell eine größere Vielfalt. In diesem Fall bleibt es legitim, für wahrgenommene Werte einzutreten, sofern sie der eigenen Überzeugung entsprechen. Auch die Möglichkeit zur Vermittlung dieser Werte bleibt grundsätzlich bestehen. Diesen Punkt hebt Manfred Mosel in seinem Beitrag Ensemble- und Gesellschaftspflege hervor. Dort betont er die Notwendigkeit der Verankerung der Denkmalpflege in der Gesellschaft. Dabei sei nicht die Zustimmung in Randbereichen oder Einzelfällen das Ziel, sondern die Vermittlung des „Kern[s] der denkmalpflegerischen Aufgabe, der Sicherung des Zeugniswertes und der Erscheinungsbilder der originalen historischen Überlieferung.“363 Dabei zeigt bereits sein Titel, dass er Denkmalpflege und Gesellschaft – womit höchstwahrscheinlich die Masse der denkmalpflegerischen Laien gemeint ist – voneinander getrennt denkt. Im Grunde handelt es sich hier also um eine Rückkehr wenn nicht zu einem hierarchisch geprägten, so doch zumindest zu einem stark getrennten Gruppendenken. Die Formulierung der Gesellschaftspflege, die das Bild des denkmalpflegerischen Experten auf eine scheinbar passive Gesellschaft impliziert, deutet dabei durchaus auch auf ein hierarchisches Verständnis des unterlegten Kommunikationsmodells hin. Damit wäre der um die 70er Jahre gestartete Versuch eines Neudenkens des Verhältnisses zwischen Bürger und Experte gescheitert. Eventuell ist es gerade die im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Postmoderne festgestellte zunehmende gesellschaftliche Differenzierung, die diesen Punkt begründet. Während das Modell der 70er Jahre die gemeinsame Fundierung der verschiedenen Gruppen als Teile derselben Gesellschaft nimmt und daraus eine mögliche Kommunikationsgrundlage schaffen möchte, betont die Postmoderne die Uneinheitlichkeit der Gesellschaft und wertet damit die verschiedenen Gruppenidentitäten auf – auch die der Denkmalpfleger. 363 Mosel 1994, S. 136 f. Mosel stellt diese Form der denkmalpflegerischen Bildung explizit der „Denkmalpflege in der Gesellschaft“ gegenüber, die davon ausgehe, „daß der Umgang mit Geschichte gesellschaftsformend, zumindest in weiten Bereichen das Verhalten beeinflussend wirkt und daß so die Rahmenbedingungen für die Fachaufgabe der Denkmalpflege verbessert werden.“ (ebd.) Darüber hinaus scheint es aber gerade diese „Denkmalpflege in der Gesellschaft“ zu sein, deren mögliches Verschwinden er in seiner anschließenden kritischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Ensemblebegriff zur Disposition stellt: „Ist im Gegenteil das Ensemble vielleicht der den Denkmalpflegern abgeforderte Beitrag zur Erlebnisgesellschaft, die gar nicht wissen will, gar nicht wissen kann, was Denkmalbedeutung soll, und die deshalb auf das assoziationsfähige, informationsfreie Ensemble als Psychotop angewiesen ist?“ (Mosel 1994b, S. 60) Die Denkmalpflege erscheint hier als gesellschaftlich angepasst, was ihr andererseits implizit die eigentliche Aufgabe eines gesellschaftlich bildenden Korrektivs entzieht.
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Auch wenn die oben genannte These nicht stimmen muss, so geht der Trend in der Denkmalpflege doch seit den 90ern stärker in Richtung Denkmalvermittlung. Dies geschieht gewiss auch vor dem Hintergrund einer wahrgenommenen zunehmenden Diskrepanz zwischen den eigenen und allgemein gesellschaftlichen Vorstellungen über den Umgang mit historischem Erbe, wie beispielsweise die in der Nachwendezeit an Bedeutung zunehmenden Diskussionen um Rekonstruktionen. Seit Mitte der 2000er wird das Thema der Denkmalvermittlung und das damit verbundene Nachdenken über die Rolle des Denkmalpflegers in der Gesellschaft wieder vermehrt zum Thema. In diesem Zusammenhang sollen vor allem die beiden großen Tagungen zu dem Thema 2010 (Bildung und Denkmalpflege, Jahrestagung der Landesdenkmalpfleger) und 2011 (Kommunizieren – partizipieren. Neue Wege der Denkmalvermittlung, veranstaltet vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz) Erwähnung finden. Dass das Thema der Denkmalvermittlung dabei immer ein bewusst wahrgenommener Teil der Denkmalpflege war, sei hier nur am Rande nochmals erwähnt. Stellvertretend dafür steht der Gedanke der „kulturellen Bildung“ der in den als programmatisch zu verstehenden 10 Thesen zur Denkmalpflege im Band zur Ausstellung Zeitschichten der Denkmalpflege unter der Nummer sieben aufgeführt wird. Dort wird unter dem Titel „Denkmalschutz und kulturelle Bildung - Wie die Defizite der kulturellen Bildung ausgleichen?“ in erster Linie über Wissensvermittlung nachgedacht. Da fehlende Bildung eine Gefahr für Kultur und Baukunst darstellten, sei deren Vermittlung an Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten, usw.) unerlässlich, da das Wissen um die Bedeutung von Denkmalen diese besser schützen könne als Gesetze.364 Während hier von einem eng gefassten Verständnis von kultureller Bildung ausgegangen wird, wollte die erwähnte Tagung aus dem Jahr 2010 das Thema von verschiedenen Standpunkten aus beleuchten. Dabei wurde auch versucht, sich unabhängig von Fallbeispielen auf einer grundsätzlich-theoretischen Ebene dem Thema zu nähern. Gerd Weiss stellt die grundlegende Frage, was sich von Denkmalen und was von der Denkmalpflege lernen lasse. Unter diesen beiden Punkten stellt er die beiden Seiten der Bildung durch Denkmalpflege dar, die bereits oben immer wieder parallel zu einander und in jeweils unterschiedlicher Gewichtung auftraten: 364 Vgl. 10 Thesen zur Denkmalpflege der Gegenwart 2006, S. 234. Mit eben dieser Aufgabenstellung, das heißt der Verankerung denkmalpflegerischer Inhalte im (schulischen) Bildungsalltag beschäftigte sich 2009 Andrea Richter im Rahmen ihrer Dissertation Kulturpädagogik und Denkmalpflege. Dort hält sie unter anderem fest, dass bereits in den 70er Jahren die Verankerung denkmalpflegerischer Inhalte in den Lehrplänen durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz empfohlen wurde. (vgl. Richter 2009, S. 139 ff.) Dass bereits Dehio Ähnliches zumindest für den universitären Bereich forderte, wurde an anderer Stelle bereits erwähnt.
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zum einen das Denkmal als Objekt zur historischen Wissensvermittlung, zum anderen Denkmal und Denkmalpflege als moralisch-gesellschaftlich bildende Institution. So bezeichnet er Denkmale zum einen als „Lernorte“ anhand derer sich Geschichte vermitteln lasse: „Das Besondere am Denkmal ist die Begegnung mit der originalen Überlieferung, die sich an der Substanz festmacht und die nur am historischen Lernort möglich ist.“365 Auch der Ästhetik der Denkmale räumt er in diesem Zusammenhang einen besonderen Raum ein. Dabei präferiert er Denkmale mit einer „gebrochenen Ästhetik“ (als Beispiele nennt er ländliche Synagogenbauten), da diese sich gegen eine „ästhetische Vereinnahmung“ wehren würden. Das Denkmal sei so nicht Ort eines beschaulichen Erlebnisses, sondern provoziere die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen – und dadurch mit der Geschichte.366 Die Ästhetik erhält ihren Wert durch ihr Potenzial, den Betrachter anzusprechen und dann zu einer kritischen Auseinandersetzung – die schließlich den Bildungsvorgang ausmacht – anzuregen. Sie stellt in diesem Zusammenhang also eher einen sekundären Wert dar. Zwar erwähnt Weiss im Folgenden, dass auch die Denkmalpflege „Entscheidendes zum Genuss und zur Freude an schönen Stadträumen und Bauten beitragen“367 könne, es bleibt jedoch unklar, ob und wie er den schönen Stadtraum mit einer positiven gesellschaftlichen Zielstellung zusammendenkt – sei es im Sinne einer ästhetischen Bildung oder einer positiven Beeinflussung durch das schöne Objekt. In Bezug auf das Denkmal als Lernort steht für ihn die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte an erster Stelle, was er durch die Hervorhebung der Rolle der „unbequemen […] Denkmale“ abschließend nochmals betont.368 Auch der über das einzelne Objekt hinausgehende bildende Wert der Denkmalpflege besteht für Weiss in erster Linie in der Schulung der Fähigkeit zum kritischen Denken und zur damit verbundenen inhaltlichen Auseinandersetzung. So sieht er den übergeordneten gesellschaftlichen Wert der Denkmalpflege vor allem im Wecken von Verantwortungsbewusstsein und im Schaffen und Unterstützen einer Streitkultur, wodurch die Denkmalpflege auch Teil der politischen Bildung werde. 369 Insgesamt sieht er die Denkmalpflege hier auf einem guten Weg, was er durch die Aufzählung verschiedener Maßnahmen der „Bewusstseinsbildung im Bereich der Denkmalpflege“ aufführt.370
365 Weiss 2010, S. 18. 366 Vgl. ebd. 367 Vgl. ebd. 368 Vgl. ebd. 369 Vgl. ebd. 370 Vgl. ebd., S. 19. Dazu zählt er die Jugendbauhütten und das 2002 gestartete Projekt denkmal aktiv – Kulturerbe macht Schule, das sich darum bemüht, das Thema der Denkmalpflege in den schulischen Unterricht zu integrieren. Darüber hinaus erwähnt er
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Karl Emert lenkt in seinem Beitrag den Blick auf das Bildungspotenzial von Kunst als Teil der kulturellen Bildung und stellt dieses in Bezug zur Denkmalpflege. Entgegen Weissʼ positivem Résumé sieht er die Rolle der Denkmalpflege in Bezug auf die kulturelle Bildung generell unterrepräsentiert. Dies versucht er anhand des Schlussberichts der Enquetekommission des Deutschen Bundestages Kultur in Deutschland aus dem Jahr 2007 zu belegen, in dem nur drei von insgesamt 509 Seiten den Denkmalschutz betreffen.371 Darüber hinaus kritisiert er, dass das momentane Bildungssystem sich immer stärker an Ausbildung zur Berufsfähigkeit orientiere, wohingegen „Persönlichkeitsbildung und Bildung zur Gesellschaftsfähigkeit“ in den Hintergrund rücke. 372 Gerade in diesem weiteren Zweck liegt für Emert der Wert der kulturellen Bildung begründet, die für ihn „zu den Voraussetzungen für ein geglücktes Leben in seiner personalen wie in seiner gesellschaftlichen Dimension, aber auch für die Berufsfähigkeit“ gehört und damit einen konstituierenden Teil der allgemeinen Bildung ausmacht.373 Dabei unterschiedet er zwischen zwei verschiedenen Herangehensweisen an den gesellschaftlichen Wert der kulturellen Bildung, die er wortspielerisch als „wahren Wert“ und „Warenwert“ tituliert: „Die Begründungen für kulturelle Bildung, die wir wahrnehmen, lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: Die einen argumentieren in der bildungsbürgerlichen Tradition mit der Kenntnis vom ‚Guten, Wahren und Schönen‘, mit dem kulturellen Erbe, das selbstverständlich zur allgemeinen Bildung gehört. Sie werden mir zustimmen, dass das wohl traditionell als der ‚wahre Wert‘ kultureller Bildung anzusehen ist. Die anderen argumentieren mit der Nützlichkeit, die kulturelle Bildung für den Erhalt und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft bis hin zur wirtschaftlichen Entwicklung darstellt, wenn man so will also mit dem Warenwert. Für die nicht genuin Kulturnahen (und das ist die Mehrheit) wiegt im Zweifelsfall der Warenwert noch mehr als der wahre Wert.“
374
Bei aller analytischen Trennschärfe in Bezug auf die verschiedenen Aspekte des Verständnisses von kultureller Bildung,375 bleibt die hier implizit praktizierte Trennung zwischen einer kulturnahen Elite, die das Wahre erkennt und der Masse, die in die 2010 geschaffene halbe Stelle für Denkmalpädagogik am Landesamt für Denkmalpflege in Baden-Württemberg. 371 Vgl. Emert 2010, S. 38. 372 Vgl. ebd. 373 Vgl. ebd., S. 41. 374 Ebd., S. 42. 375 Diese ist auch der Denkmalpflege nicht fremd, wenn sie einerseits von den positiven Auswirkungen denkmalbasierter Werte auf die Gesellschaft spricht und andererseits von der Erleichterung des Denkmalerhalts durch Wissensvermittlung.
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der bloßen Reduzierung auf die Ware verharrt doch problematisch. Diese stark hierarchische Trennung wird von Emert scheinbar konsequent weitergedacht in Bezug auf sein System der kulturellen Bildung, betrachtet man seine Beschreibung der Situation des Denkmalpflegers: „Seine [des Denkmalpflegers] Aktivitäten werden vom Normalmenschen im Allgemeinen und von denjenigen, die auf dem schlichten ökonomiegetriebenen Fortschrittstrip laufen, im Besonderen ja nicht nur mit Enthusiasmus wahrgenommen, sondern oft genug als Hindernis auf dem Weg zu einer von Rücksichten möglichst freien Selbstverwirklichung gesehen.“
376
Kulturelle Bildung und auch Denkmalvermittlung ist hier weit entfernt von jedem gesellschaftlichen Dialog, sondern scheinen in erster Linie der Verbreitung vorher festgesetzter Werte zu dienen.377 Einer dieser Werte liegt in dem von Emert zuvor geschilderten „wahren Wert“ der kulturellen Bildung, nämlich dem einer allgemeinen Verbesserung des Menschen in der Tradition eines idealistisch-humanistischen Bildungsideals. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die ästhetische Erziehung in ihrem klassischen Verständnis für Emert wieder an Bedeutung. Dabei kann er sich auf eine Studie der UNESCO zur kulturellen Bildung aus dem Jahr 2006 berufen, in der die Autorin Anne Bamford zwischen „Education in the arts“ und „Education through the arts“ unterschiedet.378 Ganz im Sinne des oben geschilderten klassischen Diskurses um die ästhetische Erziehung stellt die Autorin die zwei Ebenen der ästhetischen Erziehung fest, die Erziehung zur Kunst und die Erziehung durch Kunst. Entsprechend fasst Emert anschließend die „Kulturfunktionen“ der Künste und ihr positives Potenzial für die Gesellschaft zusammen: „Unterhaltung, Bereitstellung von Kommunikationsmedien, philosophische Erkenntnis (Sinnproduktion), Entwicklung der Sinnlichkeit (Ästhetik), Entwicklung der Ausdrucksfähigkeit, individuelle und soziale Identitätsentwicklung (wozu auch die Ausbildung eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses gehört), […] Beeinflussung der Umwelt mit den Mitteln der Künste.“
379
376 Ebd., S. 39. 377 So betont Emert an anderer Stelle, dass es ein allgemeingesellschaftliches Interesse sei, sich darüber bewusst zu werden, „mit welchen Augen die Menschen durch die Welt gehen und die gebaute Umwelt und ihre Werte wahrnehmen und wahrnehmen sollen.“ (ebd. S. 39) Dabei lässt er zwar offen, wer diese Werte bestimmt, die die Menschen „wahrnehmen sollen“, es lässt sich jedoch vermuten, dass dies wunschgemäß eher die „Kulturnahen“ tun sollen. 378 Vgl. ebd., S. 40. 379 Ebd.
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In diesen breit gefächerten Möglichkeiten, die weit über die Vermittlung von Wissen hinausgehen, sieht Emert also das Potenzial der Kunst – und des Denkmals als Kunstwerk – für die Gesellschaft. Gleichzeitig zeigt der Text von Emert jedoch auch die Schwierigkeiten dieses Ansatzes auf, der tief im elitär-erzieherischen Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet bleibt und sich daher nur schwer mit weniger hierarchischen Denkmodellen vereinen lässt, basiert er doch im Grunde auf der Vorstellung von einer Gruppe weniger, die wissen, was für alle am besten ist. Dieses Besserwissen ist natürlich umso fragwürdiger und angreifbarer, sobald es sich nicht mehr nur auf den Umgang mit einzelnen Objekten bezieht, sondern gleich auf ganze gesellschaftliche Wertsysteme. Dennoch bleibt die Denkmalpflege nicht nur eine bewertende Wissenschaft, sondern auch eine Wissenschaft der Werte, handelt es sich bei den durch die Denkmalpflege festgestellten Denkmalwerten doch um Werte, die von gesellschaftlicher Relevanz sein sollen. Das Urteil darüber, was für die Gesellschaft von Wert ist und damit auch zwangsläufig über gesellschaftliche Werte, gehört also zum Aufgabenbereich der Denkmalpflege. Die Schwierigkeit, diese Aufgabe mit einem modernen Gesellschaftsverständnis in Einklang zu bringen, ist das heutige Problem der ‚kulturellen Bildung‘ in der Denkmalpflege. Diese Aufgabe stellt sich, wie Ingrid Scheurmann auf der erwähnten Tagung 2011 feststellt, auch auf der Grundlage der notwendigen Legitimation der Denkmalpflege durch die Öffentlichkeit. 380 Als Ziel der Tagung – die bezeichnenderweise den Begriff des „Partizipierens“ im Titel trägt – stellt sie daher explizit den Anspruch der modernen Denkmalpflege im Sinne des oben gestellten Problems in den Vordergrund: „Denkmalvermittlung […] ist nicht (oder besser: nicht länger) als eine Einbahnstraße einer wie auch immer zu konkretisierenden Denkmalbildung zu verstehen, sie setzt aktuell vielmehr den Austausch ‚auf Augenhöhe‘ voraus, die konsequente Übersetzung der fachlichen Inhalte in die Öffentlichkeit und gleichermaßen den fachlichen Rekurs auf die öffentlich artikulierten Belange.“
381
Dass es sich dabei eher um die Beschreibung einer Idealvorstellung von Denkmalpflege handelt als um eine Zustandsbeschreibung, zeigt die Analyse des vorangegangen Artikels wohl ausreichend und bildete wohl auch den Ausgangspunkt für die Tagung. Dies thematisiert auch der Beitrag Hans-Georg Lipperts, der sich in seinem Text mit dem „Problem der Denkmalvermittlung“ beschäftigt. Auch er leitet die Schwierigkeiten der Denkmalpflege in Bezug auf Vermittlung und Partizipation aus der Geschichte des Fachs her:
380 Vgl. Scheurmann 2012, S. 14. 381 Ebd., S. 16.
390 | ZUR ROLLE DES S CHÖNEN IN DER D ENKMALPFLEGE „Die Denkmalpflege versteht sich aus ihrer Eigengeschichte heraus als Kulturbringerin mit einem entsprechenden Bildungsauftrag. Denkmalvermittlung wird deshalb meist mit Wissensvermittlung gleichgesetzt, und diese Wissensvermittlung geschieht in der Praxis häufig nicht auf Augenhöhe mit der Mehrheit der Adressaten, sondern aus einer spürbar erzieherischen Haltung heraus. Das stößt beim Gegenüber mitunter auf kommunikative Vorbehalte und kann durchaus Akzeptanzprobleme erzeugen.“
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Lippert sieht den Bildungsauftrag der Denkmalpflege in der Vermittlung von historischem Wissen begründet. Alles darüber hinausgehende betrachtet er als mögliche „politisch-historisch-symbolisch[e]“ Instrumentalisierung der Denkmalpflege oder als eine Reduktion auf „subjektive Gefühlswerte“, weswegen er grundsätzlich den Ausweg in die Wissenschaftlichkeit als den richtigen betrachtet. 383 In diesem Feld der Vermittlung von historischem Wissen wünscht er sich jedoch eine größere Ausschöpfung von kommunikativen Möglichkeiten. So regt er an, das „narrative Potenzial“ von Denkmalen zu erschließen und außerdem die „Angst vor dem Bild“ zu überwinden, da damit in einer zunehmend visualisierten und medialen Gesellschaft die „schrittweise Preisgabe der Kommunikationsfähigkeit“ einhergehe.384 Insgesamt zeigen sich hier jedoch keine Möglichkeiten, den von Scheurmann eingeforderten Dialog auf Augenhöhe zu begründen. Vielmehr handelt es sich um Überlegungen, den Monolog für den Zuhörer attraktiver zu gestalten. Dabei erkennt der Autor den Nutzen ästhetischer Aspekte des Denkmals an, diese stellen jedoch keinen eigenen Wert im Sinne einer ästhetischen Bildung dar. Das Ästhetische wird so zu einem lediglich sekundären Wert, der als Anknüpfungspunkt des Laien an das Denkmal dient, wogegen der eigentliche Wert und damit auch der Bildungsschwerpunkt auf anderen Aspekten des Denkmals gründet.
382 Lippert 2012, S. 20. 383 Vgl. ebd., S. 20 f. 384 Vgl. ebd., S. 21.
6 Schönheit als Wert oder der Wert des Schönen – ein Fazit Die vorliegende Arbeit hat das Schöne im denkmaltheoretischen Diskurs von verschiedenen Seiten beleuchtet. Dabei zeigt sich zunächst, dass es von grundlegender Bedeutung ist, zwischen der Schönheit des Objektes und dem ideell verankerten Schönen zu unterscheiden. Schon zur Zeit erster denkmalpflegerischer Überlegungen und der frühen Institutionalisierung des Faches wurde in Frage gestellt, dass sich die Schönheit eines Objektes objektivierbar feststellen ließe. Die Wahrnehmung des Schönen spielte jedoch implizit von Beginn an eine Rolle, wie in Kapitel 2 dargestellt wird. Dies wird insbesondere anhand der Diskussionen um vermeintliche äußerliche Beeinträchtigungen des Denkmals deutlich. Denn als solche empfundene ästhetische ‚Störungen‘ am Denkmal sind nur vor dem Hintergrund einer ästhetischen Idealvorstellung möglich. Entsprechend widmete sich Kapitel 3 intensiver der Auseinandersetzung mit wahrnehmungsästhetischen Aspekten im denkmaltheoretischen Diskurs. In den Auseinandersetzungen um den Wert der wahrnehmungsästhetischen Kategorie des Malerischen zeigt sich die moralische Komponente, die die Diskussionen um das Schöne begleitet. Gerade das Malerische, das über die Stimmung und den ihm inhärenten zeitlichen Aspekt insbesondere um die letzte Jahrhundertwende in Bezug auf Denkmalbewertungen eine Rolle spielte, wird dabei im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts als oberflächlich, kompensierend oder gar bewusst manipulativ abgewertet. Die gleiche Entwicklung zeigt sich in Bezug auf das Schöne, das traditionell als Einheit mit dem Wahren und Guten gedacht wird. In Kapitel 4 wird deutlich gemacht, dass Spuren dieser Trias im Diskurs zwar unterschwellig weiter tradiert werden (beispielsweise in der auch ästhetischen Ablehnung des als unwahrhaftig wahrgenommenen Objektes), vordergründig jedoch auch das Schöne wegen des ihm zugeschriebenen manipulativen Potenzials an Bedeutung verliert. Damit löst sich jedoch nicht seine Bindung an moralische Idealvorstellungen, das Verhältnis wird lediglich ins Negative gewendet. Das Ideal bleibt zwar bestehen, erfüllt sich jedoch nicht mehr im Schönen, sondern wird durch dieses verschleiert. Diese Entwicklung ist nicht auf den denkmaltheoretischen Diskurs beschränkt, sondern spie-
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gelt eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz wider. Die Diskussionen innerhalb der Disziplin zeigen sich insbesondere hier als gesellschaftlich verankert. Gleichzeitig versteht sich die Denkmalpflege als Wissenschaft im Dienste der Gesellschaft. Denkmale werden aufgrund ihres potenziellen Wertes für diese Gesellschaft als schützenswert angesehen. Vor diesem Hintergrund untersucht Kapitel 5 das Schöne in Bezug auf seinen potenziellen gesellschaftlichen Wert und dessen Diskussion im denkmaltheoretischen Diskurs. Dabei finden sich unterschiedliche Konzepte, das Schöne als gesellschaftliches Potenzial zu denken. Wiederum ist bei der Betrachtung dieser Konzepte eine Trennung zwischen dem Schönen als Idee und Empfindung und der Schönheit als Objekteigenschaft sinnvoll. Während das Schöne in Nachfolge einer idealistischen Philosophie als Potenzial zur Vervollkommnung des Individuums betrachtet wird, zielt die Schönheit auf eine positive Beeinflussung der Gesellschaft durch ästhetische Qualitäten des Lebensraums. Insbesondere Letzteres setzte sich als Lesart durch, kann jedoch gleichzeitig außerhalb einer als normativ verstandenen Objektschönheit nur schwer existieren. Zwangsläufig stellt sich hier, wie allgemein in Bezug auf Schönheitsurteile, die Frage nach der wertenden Instanz und deren Legitimation. In jüngster Zeit zeigen sich jedoch auch neue Tendenzen eines Nachdenkens über das Schöne, wobei insbesondere auf einen notwendigen diskursiven Ansatz verwiesen wird, indem das akzeptierende Sprechen über das Schöne am Denkmal als niedrigschwelliger Zugang zu dessen Wertschätzung betrachtet wird. Das Schöne in diesem Kontext ist jedoch mehr Werkzeug als Wert und steht somit außerhalb einer professionellen Denkmalbewertung. Dennoch ist es gerade dieser letzte Aspekt der Arbeit, der zur Kernfrage nach der Rolle des Schönen in der Denkmalpflege führt, nämlich der nach dem gesellschaftlichen Wert des Schönen. Gleichzeitig ist dies eng mit der Frage nach den gesellschaftlichen Akteuren verbunden, die Teil des Inwertsetzungsrozesses sind. Es bleibt zu diskutieren, wer die wertende Instanz ist und welche Rolle gesellschaftliche Konstellationen für das Schönen in der Denkmalpflege spielen. Entsprechend sollen zum Ende dieser Arbeit verschiedene Punkte des denkmaltheoretischen Diskurses über das Schöne noch einmal zur Sprache gebracht werden, um so auch die Frage nach einem potenziellen Wert des Schönen zu diskutieren – oder zumindest eine Grundlage für eine Diskussion zu schaffen. Hans-Rudolf Meier konstatiert in dem 2013 erschienen Sammelband Werte eine neue Wertediskussion, deren Einsetzen er in den Zusammenhang mit der politischen Wende 1989/90 bringt. Durch die damit einhergehenden allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen, entstünden neue Identifikationsbedürfnisse, die wiederum neue Werte artikulierten. Gleichzeitig betont er, dass es sich, wie die Verankerung dieser Feststellung im politischen und gesellschaftlichen Rahmen bereits zeigt, bei dieser Wertediskussion nicht um ein disziplinäres Phänomen handelt, sondern
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um einen allgemeinen gesellschaftlichen Prozess.1 Daher ist es explizit eines der Anliegen der Publikation, auch solche Werte zur Sprache zu bringen, „deren gesellschaftliche Relevanz zwar unstrittig, deren Stellenwert für Denkmalbewertungen aber nach wie vor unklar ist“. 2 Unter diese Umschreibung fällt wohl auch das Schöne, das im Rahmen der Beiträge zu ästhetischen Werten mit behandelt wird. Es zeigt sich jedoch, dass die gesellschaftliche Relevanz des Schönen eben durchaus strittig ist, auch außerhalb der Denkmalpflege. Zwar ist das Schöne als persönliche Bewertungsinstanz von Bedeutung und wird von bestimmten Akteuren 3 auch offensiv ins Feld geführt, ein allgemeiner Konsens über eine über das Persönliche hinausgehende gesellschaftliche Relevanz oder eine breite Diskussion darüber, worauf diese Relevanz begründet sein soll, existieren jedoch nicht. Dazu müssten mit dem Schönen allgemein positive Aspekte und gesellschaftliche Vorteile in Verbindung gebracht werden. Eine breite Diskussion über Vorzüge oder gesellschaftliche Potenziale des Schönen findet jedoch kaum statt. 4 Das Schöne, so zeigte sich auch in dieser Arbeit immer wieder, wird auch gesellschaftlich nach wie vor eher als potenziell gefährlich im Zusammenhang mit der Ästhetisierung von Gesellschaft und Lebensraum thematisiert. Da die Denkmalpflege jedoch Teil der Gesellschaft und in ihren Bewertungen und Wertediskussionen abhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen ist, müsste dem Schönen zunächst ein neuer, gesellschaftlicher Wert zugeschrieben werden, bevor es relevant für die Denkmalpflege werden kann. So gibt es zwar einen gesellschaftlichen Konsens über den Wert des historischen Bewusstseins (und damit auch der dieses Bewusstsein stützenden Objekte), jedoch nicht über die Wichtigkeit und den daraus abgeleiteten Wert des Schönen für die Gesellschaft. So lange dem Schönen jedoch kein gesellschaftlicher Wert zugeschrieben wird, kann es auch für die Denkmalpflege als in ihren Urteilen im Dienste der Gesellschaft stehend, nicht von Wert sein, womit sich im Grunde tatsächlich jede Diskussion über die Rolle des Schönen in der Denkmalpflege erübrigen würde. Der Mangel an einer grundlegenden Diskussion über einen möglichen gesellschaftlichen Wert des Schönen spiegelt sich in den Auseinandersetzungen zu dem Thema wider, die meist nicht die Rolle des Schönen, sondern die vermeintlich vor1
Vgl. Meier et al. 2013, S. 8. Die Publikation, die gleichzeitig das Ergebnis eines mehrjährigen Forschungsprojektes unter dem Titel Denkmal-Werte-Dialog ist, zeugt gleichzeitig von der hohen Aktualität des Themas.
2
Ebd., S. 9.
3
Hier wäre beispielsweise der Potsdamer Verein Mitteschön zu nennen.
4
Als einen Versuch in dieser Richtung könnte man die Initiativen des oben genannten Instituts für Stadtbaukunst betrachten. Dass es sich dabei aber um einen fachlichen Beitrag handelt, dessen Anliegen auch durchaus kontrovers diskutiert wird (s. Kapitel 5.2.2.2) unterstützt die These, dass es eben keinen gesellschaftlichen Konsens über die Wichtigkeit des Themas gibt.
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handene bzw. nicht vorhandene Schönheit des Objektes verhandeln. In einer Gesellschaft, in der normative Vorstellungen von Schönheit ihre Verbindlichkeit verloren haben, sind solche Diskussionen jedoch größtenteils müßig und zeugen höchstens von unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten und den damit einhergehenden ästhetischen Vorlieben. Auseinandersetzungen über die Schönheit des Objektes beinhalten so immer auch andere gesellschaftliche, moralische und soziale Aspekte. Ein abschließendes Urteil über die Schönheit eines Objektes ist zwar auf persönlicher, nicht jedoch auf gesellschaftlicher Ebene denkbar. Eine Möglichkeit, das Thema von einer anderen Seite zu betrachten, wäre die Verlagerung des Fokus von der Schönheit des Objektes auf das Erleben des Schönen durch das betrachtende Subjekt. Dieses Erleben des Schönen wird zwar durch bestimmte Objekte hervorgerufen, ist aber nicht zwingend abhängig von formalästhetischen Aspekten, sondern kann auf ganz unterschiedlichen Komponenten, persönlichen (wie auch gesellschaftlichen) Sehnsüchten, positiven Assoziationen usw. beruhen. Das wahrgenommene Schöne stellt somit auch nicht einen Wert dar, sondern eine Melange ganz verschiedener positiver, meist unreflektierter Wertzuschreibungen und bildet somit eine Art emotionale Metaebene. Diese Wahrnehmung des Schönen und die damit verbundenen Wertzuschreibungen stehen in engem Zusammenhang mit den auslösenden Objekten. Die Frage nach dem Schönen lässt sich jedoch nicht durch die Betrachtung und Analyse des Objektes beantworten, sondern nur in Auseinandersetzung mit dem wahrnehmenden Subjekt. Dies stellt die Denkmalpflege vor neue Herausforderungen. Die Denkmalpflege ist etabliert und sieht sich selbst als wertende Instanz, in der Experten aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und fachlichen Kompetenz legitimiert werden, Werturteile zu fällen.5 Als solche Experten nehmen sie im Rahmen der Denkmalvermittlung auch Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Objekten. Dies kann sich durchaus auch auf ästhetische Aspekte beziehen. So fordert Adrian von Buttlar 2010 die positive Herausstellung der Schönheit moderner Architektur, um ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern.6 Dabei stellt die Schönheit selbst keinen Denkmalwert dar, über das Erkennen ihrer Schönheit soll aber das Verständnis für die Denkmale geweckt oder gestärkt werden. Den Hintergrund für diese Forderung bildet die Feststellung, dass insbesondere moderne Bauten oft aufgrund ihrer vermeintlich mangelnden Schönheit kritisiert werden. Von Buttlar sieht die Denkmalpflege hier ganz in ihrem traditionellen Selbstverständnis als wertende
5
Heiner Treinen spricht in diesem Zusammenhang von „ausdifferenzierte[n] Instanzen wissensbezogener und professionalisierter Art“ (vgl. Treinen 2011 [1987], S. 112) und Hermann Wirth spricht von einer „gesellschaftlich axiologisch autorisierten Instanz“, die die Urteile zu fällen hat (vgl. Wirth 1994, S. 86 f.).
6
Vgl. von Buttlar 2010, S. 129.
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Instanz, deren Aufgabe darin besteht, das bereits gefällte Urteil zu vermitteln. 7 Dem widersprechend betont Matthias Donath 2006 die gesellschaftliche Verankerung der Denkmalpflege. Aus der prinzipiellen Bindung des Denkmals an den jeweiligen Betrachter leitet er den demokratischen Charakter der Denkmalpflege ab und fordert entsprechend, dass auch ästhetische Urteile demokratische Urteile sein müssten. 8 Die beiden Ansätze bezeichnen die Pole, zwischen denen sich die Denkmalpflege gesellschaftlich verorten kann und die auch in Bezug auf den Umgang mit dem Schönen von Bedeutung sind. Dabei scheint in Anbetracht der Komplexität gesellschaftlicher Prozesse weder das Verständnis einer einseitigen Vermittlung, noch der Rückzug in ein basisdemokratisches Denkmalpflegeverständnis sinnvoll. Im Grunde stellt sich in diesem Zusammenhang nicht nur die Frage nach der Herangehensweise an das Schöne, sondern nach der gesellschaftlichen Ausrichtung der Denkmalpflege im Allgemeinen, die sich hier, durch die subjektive Verankerung des Schönen, besonders deutlich artikuliert. Aktuell finden denkmalpflegerische Überlegungen statt, in deren Rahmen versucht wird, unterschiedliche Erinnerungskulturen mit ihren unterschiedlichen Wertzuweisungen in einer pluralen Gesellschaft zu berücksichtigen und so den Prozess der Einstufung von Objekten als Kulturdenkmal weniger hierarchisch und linear zu gestalten. Methodisch stehen solche Überlegungen noch am Anfang, sie zeugen jedoch von einem sehr viel differenzierteren Verständnis von Gesellschaft und auch von einem stärker diskursiv geprägten Denkmalverständnis.9 In diesem Kontext eines diskursiven Denkmalverständnisses, der sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem Objekt, sondern auch mit den verschiedenen, das Objekt wahrnehmenden und bewertenden Gruppen konstituiert, ließe sich auch 7
Dabei kann davon ausgegangen werden, dass ästhetische Urteile durchaus in dem hier auftretenden Sinne vermittelt werden können und Objekte mit zunehmender Vertrautheit auch ästhetisch akzeptiert werden (vgl. Leder 2003, S. 299; Leder bezieht sich hier auf eine Arbeit Holger Höges aus dem Jahr 1984.).
8
Vgl. Donath 2006, S. 3.
9
In diesem Zusammenhang ist als Ankerpunkt die Europaratskonvention von Faro aus dem Jahr 2005 zu nennen. Dort wird in Artikel 1 unter Bezugnahme auf das Recht auf kulturelle Teilhabe, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 festhält, das persönliche Recht auf Kulturerbe hervorgehoben. (http://www.dnk.de/ _uploads/media/184_2005_Europarat_Rahmenkonvention.pdf, Zugriff 12.02.2016) Das Konzept der Teilhabe generiert die Notwendigkeit neuer Bewertungs- bzw. Inwertsetzungsstrukturen. Diese Problematik wurde schon in Kapitel 5.3 im Zusammenhang mit dem ebenfalls auf Teilhabe beruhenden Gedanken der kulturellen Bildung ausgeführt. Hier sei auch auf das seit 2016 von der DFG geförderte Gruduiertenkolleg Identität und Erbe verwiesen, das sich ebenfalls mit gesellschaftlichen Dimensionen von Inwertsetzungsprozessen auseinandersetzt.
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das Schöne diskutieren. Dies ist jedoch nur sinnvoll, wenn man das Schöne als ideellen Bewertungsvorgang begreift und sich von der Verhandlung der vermeintlichen Schönheit oder Nicht-Schönheit einzelner Objekte löst. Die Auseinandersetzung mit der Frage, was von wem und warum als schön wahrgenommen wird, kann in dem Zusammenhang insbesondere durch die oben dargelegte Vielschichtigkeit des Begriffs als die verschiedensten Wertzuschreibungen in sich vereinend durchaus zu Erkenntnissen führen. Damit ist aber auch nicht mehr von Belang, wer die Schönheit von Objekten bewertet. Stattdessen bietet das Schöne so, ungeachtet der Frage, ob es einen eigenen gesellschaftlichen Wert hat, die Grundlage für eine mögliche analytische Auseinandersetzung. Dies kann nur auf der Basis der Akzeptanz abweichender Urteile geschehen – was nicht gleichbedeutend mit einem Einverständnis ist. In einem solchen Analyseprozess würde die Denkmalpflege eine gleichzeitig moderierende und analysierende Rolle einnehmen, bei der die einzelnen Akteure auch ihre eigenen Wahrnehmungen kritisch mit reflektieren müssten. Das Schöne wird zu einem Überbegriff positiver Wertzuschreibungen, es stellt somit nicht einen Wert dar, sondern viele. Die Analyse dessen, was von den verschiedenen Gruppen als schön empfunden wird, kann in einem solchen Szenario ein Schlüssel zu den vielschichtigen Bedeutungsebenen sein, die dem Denkmal zugeordnet werden.
Dank Viele Menschen haben mich während der Arbeit an diesem Text begleitet und unterstützt. Allen voran danke ich meiner Doktormutter Gabi Dolff-Bonekämper, die sich von Anfang an für das Thema dieser Arbeit begeistern konnte und meine Arbeit kritisch und stets mit großem Vertrauen verfolgte. Der Austausch mit ihr war und ist immer eine Bereicherung für mich (und ein Vergnügen) und ihr Denken prägt meine wissenschaftliche Arbeit weit über den hier vorliegenden Band hinaus. Meiner zweiten Betreuerin Kerstin Wittmann-Englert danke ich für die kongeniale Ergänzung der Begleitung meiner Arbeit, die sich dadurch auszeichnete im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen und so einiges zur ‚Erdung‘ der Arbeit beizutragen. Hans-Rudolf Meier danke ich für seine spontane Bereitschaft dieses nicht gerade griffige Werk mit zu begutachten und die konstruktiven Hinweise, die daraus für diese Publikation hervorgingen. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Form und Inhalt der Arbeit übte Sylvia Butenschön aus, die geduldig viele Gedanken, Thesen und Ideen kommen und gehen sah und dabei nicht müde wurde, sich auf jedes Gedankenspiel wieder aufs Neue einzulassen. Besonderer Dank gilt auch Andreas Salgo, der die lange Entwicklung dieser Arbeit in vielen Gesprächen mitverfolgte und sie mit seinem breiten Wissen zu allen möglichen und unmöglichen Themen bereicherte. Darüber hinaus danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums an der TU Berlin für die Diskussionen während und im Anschluss an das Kolloquium, neben den genannten allen voran Gunnar Klack, Karen Grunow, Tanja Seeböck und Torben Kiepke. Die so verbrachte Zeit war nicht nur inhaltlich sondern auch menschlich ein Gewinn! Für die Arbeit am Manuskript danke ich Sylvia Butenschön und ganz besonders Alexandra Zettel, die in knapper Zeit einen chaotischern Text in ein ansprechendes Layout brachte. Besonderer Dank gilt auch Albert Koncsek, der meine Arbeit nie einfach nur tolerierte, sondern immer mit großem Engagement begleitete – nicht nur in Form eines peniblen Lektorats. Viele Gedanken verdanke ich nicht zuletzt unseren gemeinsamen Balkongesprächen. Abschließend gilt besonderer Dank meiner Tochter Charlotte, die durch ihr ausgiebiges Schlafverhalten während ihres ersten Lebensjahres diese Arbeit erst ermöglichte.
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Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.)
Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-2274-4
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören — Strukturen wissen — Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Jelena Jazo
Postnazismus und Populärkultur Das Nachleben faschistoider Ästhetik in Bildern der Gegenwart Januar 2017, 284 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3752-6 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3752-0
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Kunst- und Bildwissenschaft Michael Bockemühl
Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3656-7 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1
Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.)
Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken 2016, 218 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3452-5 E-Book PDF: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9
Werner Fitzner (Hg.)
Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3598-0 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4
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