Nicht nur Paris: Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839417508

Auch wenn Paris nach wie vor Zentrum des Literaturbetriebs und (Exil-)Wohnsitz vieler Autoren ist, nehmen französischspr

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German Pages 260 Year 2014

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Inhalt
Metropolitane Räume im 21. Jahrhundert
HETEROTOPIEN UND GLOBALISIERUNG
Politiken der Entortung: Rancière und Foucault
Die »Welt als Bild«. Globalisierung, Medien und neue Metropolen
Das Globale und Interkulturelle. Eine neue Phase des kulturellen Imperialismus zwischen Widerstand und Systemperspektive
VON DER METROPOLE ZUR HYPERPOLIS
Topologie der Metropole im Fluss der Migrationen. Alain Mabanckous Black Bazar
Metropolitane Normalität und die Flucht in die transnormale Peripherie. Zu einem Faszinationstyp bei Jean-Gustave Le Clézio
METROPOLEN ALS ORTE DYNAMISCHER KONFRONTATIONEN
Afrikanische Passagen zwischen Gestern und Morgen. Auf den Spuren urbanen Lebens von Mongo Betis La ville cruelle bis Mabanckous Black Bazar
Schwarzamerika. Die neuen Orte der schwarzafrikanischen Frankophonie
Frauen in marokkanischen Metropolen. Palimpsestästhetik, écriture féminine und Körpermetaphorik in Marrakech, lumière dexil und Fracture du désir von Rajae Benchemsi
FILMSTÄDTE / STADTFILME
Von »Urbanomanie« zu Megacities oder: Sinfonische Transformationen
Neuer Beton auf alten Bildern. Geschichte schreiben in den grands ensembles
Autorinnen und Autoren
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Nicht nur Paris: Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839417508

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Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris

Lettre

Ursula Hennigfeld (Hg.)

Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart

Der Druck wurde finanziert vom Frankreich-Zentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: cleeo / photocase.com (Detail) Lektorat & Satz: Ursula Hennigfeld, Angelika Groß Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1750-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Metropolitane Räume im 21. Jahrhundert Ursula Hennigfeld | 7

HETEROTOPIEN UND GLOBALISIERUNG Politiken der Entortung: Rancière und Foucault Tobias Nikolaus Klass | 15 Die »Welt als Bild«. Globalisierung, Medien und neue Metropolen Timo Skrandies | 35 Das Globale und Interkulturelle. Eine neue Phase des kulturellen Imperialismus zwischen Widerstand und Systemperspektive Jörg Bernardy | 61

V ON DER METROPOLE ZUR HYPERPOLIS Topologie der Metropole im Fluss der Migrationen. Alain Mabanckous Black Bazar Vittoria Borsò | 85 Metropolitane Normalität und die Flucht in die transnormale Peripherie. Zu einem Faszinationstyp bei Jean-Gustave Le Clézio Jürgen Link | 107

METROPOLEN ALS O RTE DYNAMISCHER KONFRONTATIONEN Afrikanische Passagen zwischen Gestern und Morgen. Auf den Spuren urbanen Lebens von Mongo Betis La ville cruelle bis Mabanckous Black Bazar Kian-Harald Karimi | 125 Schwarzamerika. Die neuen Orte der schwarzafrikanischen Frankophonie Thorsten Schüller | 153 Frauen in marokkanischen Metropolen. Palimpsestästhetik, écriture féminine und Körpermetaphorik in Marrakech, lumière d‫ ތ‬exil und Fracture du désir von Rajae Benchemsi Marco Thomas Bosshard | 175

FILMSTÄDTE / STADTFILME Von »Urbanomanie« zu Megacities oder: Sinfonische Transformationen Beate Ochsner | 193 Neuer Beton auf alten Bildern. Geschichte schreiben in den grands ensembles Markus Buschhaus | 219

Autorinnen und Autoren | 251

Metropolitane Räume im 21. Jahrhundert U RSULA H ENNIGFELD

Dass maghrebinische Romane noch immer vorwiegend in französischer Sprache geschrieben werden, ist hinreichend bekannt.1 Auch Autoren wie der afghanische Goncourt-Preisträger Atiq Rahimi wählen das Französische als »langue d’adoption«.2 Ähnlich ergeht es jenen Ländern und Autoren, die noch immer zur »Francophonie« gezählt oder als »littérature-monde d’expression française« bezeichnet werden.3 Einerseits ist Paris nach wie vor Zentrum des Literaturbetriebs und (Exil-)Wohnsitz der meisten Autoren, andererseits treten in den Romanen französischsprachiger Autoren zunehmend andere metropolitane und urbane Räume in den Blick.4 Die Schauplätze verlagern sich

1

Vgl. Einfalt, Michael, »Sprache und Feld. Französischsprachige Literatur im Maghreb und das literarische Feld Frankreichs«, in: Joch, Markus/ Wolf, Norbert Christian (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 261-276.

2

Porra, Véronique, Langue française, langue d’adoption: une littérature »invitée« entre création, stratégies et contraintes, Hildesheim 2011.

3

Für den Terminus »littérature-monde« sprechen sich etwa Michel Le Bris und Jean Rouaud aus: Le Bris, Michel/Rouaud, Jean (Hrsg.), Pour une littérature-monde, Paris 2007.

4

»Neu« sind diese Räume natürlich nur aus der Sicht des Zentrums Paris oder gar Europas. Daher wird »neu« hier und im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt.

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z.B. nach Kabul, Bagdad, Tel Aviv, Afghanistan oder Palästina.5 Globalisierung, Krieg und Terror scheinen die Themen zu sein, die mit den »neuen« Metropolen vornehmlich verbunden werden. Pascale Casanova hat im Anschluss an Bourdieu die Theorie einer République mondiale des Lettres entwickelt.6 Sie nennt die Situation frankophoner Schriftsteller paradox, gar tragisch, da sie der »capitale de la littérature« Paris nicht entkommen können und einer dreifachen Beherrschung in Politik, Sprache und Literatur ausgesetzt sind. Dennoch stellt Casanova mehrere Modelle vor, dieser Beherrschung entgegenzutreten: Ahmadou Kourouma erprobt in Les soleils des indépendances (1995) eine »malinkisation« des Französischen. JeanJoseph Rabearivelo überschreitet in seiner Lyrik immer wieder die Grenze zwischen Französisch und Madagassisch. Der algerische Autor Rachid Boudjedra schafft ein »digraphisches« Werk.7 Ottmar Ette hingegen, der für Literaturen ohne festen Wohnsitz plädiert8, nennt Casanovas Perspektive »eher unbekümmert frankozentrisch«.9 Kann man die Texte aktueller französischsprachiger Autoren besser als »nomadisch«10 oder »transkulturell«11 beschreiben? Wenn neue Metropolen wie Bagdad, Kabul, Tel Aviv usw. thematisiert werden, haben wir es mit einer hochpolitischen Literatur zu tun. Wie kann man das Verhältnis von Literatur und Politik in diesen Romanen beschreiben? Kann man mit Jacques Rancière sagen, dass Literatur als Literatur Politik betreibt, da sie in die Einteilung der Räume (und der Zeiten) eingreift?12 Zeugen die oben genannten Romane von einer Krise im Denken des Raumes, wie Marc Augé vorgeschlagen hat? Wie kann Augés Differenzierung zwischen Ereignis-

5

Z.B. Khadra, Yasmina, Les hirondelles de Kaboul, Paris 2002; L’attentat, Paris 2005; Les sirènes de Bagdad, Paris 2006; Haddad, Hubert, Palestine, Paris 2007; Rahimi, Atiq, Syngué sabour. Pierre de patience, Paris 2008.

6

Vgl. Casanova, Pascale, République mondiale des Lettres, Paris 1999.

7

Casanova 1999, S. 364.

8

Ette, Ottmar, Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005.

9

Ebd., S. 281.

10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Welsch, Wolfgang, »Transculturality – the Puzzling Form of Cultures Today«, in: Featherstone, Mike/Lash, Scott (Hrsg.), Spaces of Culture: City, Nation, World, London 1999, S. 194-213. 12 Rancière, Jacques, Politique de la littérature, Paris 2007.

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raum, Raum der Gewalt, Raum des Handels und des Konsums und Darstellungsraum für die Analyse literarischer Texte fruchtbar gemacht werden? Inwiefern sind die »neuen« Metropolen in der französischsprachigen Literatur Orte der dynamischen Konfrontation? Welche neuen Stadtmythen entstehen? Welche lieux, non-lieux oder espaces beschreiben aktuelle französischsprachige Romane, die neue Metropolen in den Blick nehmen? Diesen und ähnlichen Fragen geht der vorliegende Band nach. In einem theoretischen Einstieg aus philosophischer bzw. medienwissenschaftlicher Sicht werden zunächst für die Textanalysen zentrale Termini wie ›Heterotopie‹, ›Globalisierung‹, ›Metropole‹ und ›Welt als Bild‹ konturiert: Tobias Nikolaus Klass legt zunächst den Begriff der ›Heterotopie‹ bei Michel Foucault und Jacques Rancière dar. Foucault versteht ›Heterotopien‹ als real existierende Orte, an denen ein »Jenseits der gegebenen Ordnungen« als Grenze erfahrbar wird und die die Wirklichkeit fiktionalisieren, also »Reservoirs des Möglichen im Wirklichen« sind. Rancière geht jedoch nicht von real existierenden Räumen, sondern von Funktionen aus: Für ihn sind ›Heterotopien‹ Orte des »als ob«, d.h. Konfigurationen des Sinnlichen, die zwei nicht zu vereinbarende Logiken des Realen zusammenbringen. Eine philosophische Bestimmung dessen, was wir heute als ›Globalisierung‹ bezeichnen, nennt Heidegger »Universalität der Weltzivilisation«. Davon ausgehend stellt Timo Skrandies die Frage, wie die Welt als Bild (i.S. eines Vor- und Hergestellten) erobert wird. Wie wird ein Blickfeld begrenzt und stabilisiert? Welcher Ordnung und welchem Regime des Sehens unterliegt die sogenannte Globalisierung? Wie wird in Metropolen kulturelles, ökonomisches und politisches Wissen verdichtet, produziert, getauscht und umgeschrieben? Im Anschluss an Arjun Appadurai untersucht Timo Skrandies die »neue«, antagonistische Bildhaftigkeit des Metropolitanen und Globalen, die heutigen Globalisierungsprozessen Rechnung trägt und ein dynamisches Modell von cultural flows entwickelt. Der Beitrag von Jörg Bernardy deutet die kreolische Literatur als Form der »résistance«. Die antillanischen Autoren Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant seien die »Widerständigen aus der Peripherie«, die die Sprache der Imperialmacht lernen, um ihre eigenen Sprache zur Geltung zu bringen. Affirmation werde so zur Bedingung für Subversion. Auch das Andere, Fremde funktioniere innerhalb der Auf-

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merksamkeitsökonomie des Literatursystems als konstitutiver Faktor des metropolitanen Systems. Der zweite Teil widmet sich metropolitanen und urbanen Räumen in aktueller französischsprachiger Literatur. Die Romanautoren stammen beispielsweise von den Antillen (Patrick Chamoiseau, Raphaël Confiant), aus dem Kongo (Alain Mabanckou, Sony Labou Tansi), aus Kamerun (Mongo Beti), Togo (Sami Tchak) oder Marokko (Rajae Benchemsi). Ebenso wie auch der Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio beschäftigen sie sich mit Metropolen und ihren Bewohnern und werden daher in exemplarischen Analysen vorgestellt. In ihrer Interpretation des Romans Black Bazar (2009) von Alain Mabanckou präsentiert Vittoria Borsò einen Protagonisten, der in der Metropole Paris eine Mimikry europäischer Lebensstile vollzieht und in einem assimilierten Autokolonialismus lebt. Die Konflikte in den ehemaligen Kolonien werden inzwischen in Paris ausgetragen; das urbane Leben ist vom Trauma der Kolonialgeschichte durchzogen und hat sich in den Körper der Subjekte eingeschrieben. Paris steht für eine Verbindung von Metropole und ehemaligen Kolonien, die neue Ausschlüsse produziert. Der Roman zeige – so Vittoria Borsò – dass die Körper der Migranten, die im 21. Jahrhundert in Paris leben, nicht frei sind, sondern im »Netz der kolonialistischen Ausrichtungen des Körpers« gefangen seien. Die Ästhetik des Romans erzeuge jedoch ein Regime des Sinnlichen jenseits kolonialistischer Biomacht. Anhand von J.-M. G. Le Clézios Romanen Le déluge (1966) und Le livre des fuites (1969) definiert Jürgen Link die Metropole als modernen »Faszinationstyp«. Globalisierung wird bei Le Clézio zum Flipperspiel und katastrophischen Prozess, der die Metropolenbewohner, die als isolierte »Normalmonaden« leben, in die Flucht schlägt. Mongo Betis La ville cruelle und Alain Mabanckous Black Bazar ist der Artikel von Kian-Harald Karimi gewidmet. Ausgehend von Walter Benjamins Passagenkonzept betrachtet Karimi die Metropole als Sitz einer postkolonialen Macht. Während Ville cruelle die Initiation eines kolonialen Subjekts markiere, laute Mabanckous düstere Diagnose, dass der »schwarze Kontinent« zwar eine Herkunft, aber keine Zukunft mehr habe. Gleichwohl versuche Mabanckou die unterschwellige Orientierung an »Weißheitsidealen« offenzulegen und den diffus rassistischen Diskurs in seine Bestandteile zu zerlegen und damit zu exorzieren.

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Afrikanische Autoren wie Sony Labou Tansi, Sami Tchak und Alain Mabanckou versuchen in ihren Romanen, das bipolare, postkoloniale Spannungsverhältnis aufzubrechen und einen neuen Umgang mit Orten zu finden. Thorsten Schüller extrapoliert ihre Schreibstrategien, die gerade nicht auf Negation, sondern vielmehr auf Affirmation von Klischees setzen. Südamerika erscheint in afrikanischen Romanen dieser Autoren als Modell des Hybriden, Heterogenen. Marco Thomas Bosshard untersucht zwei Romane der marokkanischen Schriftstellerin und Journalistin Rajae Benchemsi, in denen zwar die Metropole Paris – als Kopf eines imaginären Körpers – weiterhin präsent ist, es aber vor allem um die »Rumpfstücke« Marrakesch und Rabat geht. Die Einzelteile dieses imaginären Frauenkörpers werden zu mentalen Palimpsesten zusammengefügt, in denen sich Orient und Okzident überlagern. Die letzten beiden Beiträge greifen noch einmal die Metropole als Bild auf: Beate Ochsner untersucht in ihrem Beitrag »Stadtsinfonien«, d.h. musikalisch rhythmisierte Filme über städtisches Leben. Anhand von exemplarischen Filmen wie Walter Ruttmanns Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927) bis hin zu Michael Glawoggers Megacities (1998) betrachtet sie die Wechselwirkung von kulturell fundierten Räumen einerseits und filmischen Räumen andererseits. Die Analyse kinematographischer Raumkonstruktionen macht kulturelle, soziale und mediale Lagebeziehungen beschreibbar, die Räume konstituieren. Markus Buschhaus präsentiert in seinem Artikel eine historiographische Analyse und Bildgeschichte der grands ensembles. Fotografien von Sarcelles aus den 1950er und 1960er Jahren belegen, dass das, was heute als veraltet oder rückständig erscheint, vor nicht allzu langer Zeit Verheißung einer besseren Zukunft war. Diese »Archäologie der Blicke« ermöglicht es, das Verhältnis von Antike und Moderne, Fleisch und Beton, Erhabenem und Belanglosem, Körper und städtischem Raum zu historisieren und in ihrer Wechselbeziehung zu beschreiben. Die in diesem Band versammelten Beiträge entstammen der Sektion »Neue Metropolen in französischsprachigen Romanen«, die 2009 auf dem Frankoromanistentag in Essen tagte. Dem Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg danke ich für die Finanzierung der Druckkosten. Angelika Groß, Irina Belikow und Franziska Eickhoff gilt mein besonderer Dank für ihre Unterstützung bei der Drucklegung.

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L ITERATUR Bronger, Dirk, Metropole, Megastädte, Global Cities: die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004. Casanova, Pascale, République mondiale des Lettres, Paris 1999. Einfalt, Michael, »Sprache und Feld. Französischsprachige Literatur im Maghreb und das literarische Feld Frankreichs«, in: Joch, Markus/Wolf, Norbert Christian (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 261-276. Ette, Ottmar, Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005. Haddad, Hubert, Palestine, Paris 2007. Khadra, Yasmina, Les hirondelles de Kaboul, Paris 2002. Khadra, Yasmina, L’attentat, Paris 2005. Khadra, Yasmina, Les sirènes de Bagdad, Paris 2006. Le Bris, Michel/Rouaud, Jean (Hrsg.), Pour une littérature-monde, Paris 2007. Porra, Véronique, Langue française, langue d’adoption: une littérature »invitée« entre création, stratégies et contraintes, Hildesheim 2011. Rahimi, Atiq, Syngué sabour. Pierre de patience, Paris 2008. Rancière, Jacques, Politique de la littérature, Paris 2007. Welsch, Wolfgang, »Transculturality – the Puzzling Form of Cultures Today«, in: Featherstone, Mike/Lash, Scott (Hrsg.), Spaces of Culture: City, Nation, World, London 1999, S. 194-213.

H ETEROTOPIEN UND G LOBALISIERUNG

Politiken der Entortung: Rancière und Foucault T OBIAS N IKOLAUS K LASS

V ORBEMERKUNG Die Frage, in wie weit Kunst, vor allem aber Literatur einen politischen Einsatz hat, ist eine Frage, die gerade das 20. Jahrhundert immer und immer wieder in neuen Konstellationen beschäftigt hat. Natürlich hat eine solche Frage dabei ihre Konjunkturen: Es gibt politischere und weniger politischere Zeiten, in denen dann auch die Frage nach der Politizität von Kunst je anders gehandhabt wird; mal scheint Kunst aus ihrer Politizität überhaupt erst ihre Legitimation zu erhalten, mal ist es gerade ihr Abstand zu aller Politik, der ihr Sein rechtfertigt. Angesichts dieser komplexen, historisch viele verschiedene Variationen kennende Gemengelage haben die folgenden Zeilen ein sehr bescheidenes Ziel: Sie wollen der Frage nachgehen, was es heißen kann, wenn behauptet wird, dass Literatur mit ihrer Art des Schreibens ›Politik‹ im Sinne Jacques Rancières betreibt. Dreh- und Angelpunkt meiner Überlegungen soll dabei der Begriff der ›Heterotopie‹ sein, da es der von Rancière selbst für seine Idee von Politik in Anschlag gebrachte Begriff ist, der am deutlichsten räumlich denkt, d.h. raumtheoretische Konnotationen mit sich trägt und mir von daher am ehesten dazu angetan scheint, Aufmerksamkeit in einem insgesamt raumtheoretisch ausgerichteten Kontext für sich beanspruchen zu können. Da der Begriff ›Heterotopie‹ selbst nicht von Rancière, sondern von Michel Foucault stammt, werde ich im ersten Teil meines Textes auf eben dessen Bestimmung des Begriffes eingehen – und zwar bereits zugespitzt auf die Frage nach der Beziehung des Begriffs

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zur Idee der Fiktion bzw. der Fiktionalität (die ja gemeinhin als wichtigstes Moment von Literatur gedacht wird). Erst danach wende ich mich dann im zweiten Teil Jacques Rancière zu und versuche zu bestimmen, wie sein Denken der Heterotopie (bzw. sein heterotopes Denken) Politik und Fiktion miteinander in Beziehung setzt. Um so, wie eingangs in Aussicht gestellt, einen Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage zu haben, ob und in wie fern Literatur Politik im Sinne Rancières betreiben kann.

1. DER BEGRIFF ›HETEROTOPIE‹ BEI MICHEL FOUCAULT Begonnen sei – aus argumentationsstrategischen Gründen – mit einer holzschnittartigen systematischen Darstellung des Begriffs, bevor dann ein Blick auf seine Genese geworfen sei.1 Generell kann man behaupten, dass Foucault ›Heterotopien‹ als eine Art Untergruppe der Gruppe der »anderen Räume« bestimmt. Die Grundzüge dieser »anderen Räume« wiederum lauten im Aufsatz »Des espaces autres« von 1967 und in dessen Vorgänger »Les Heterotopies« von 1966 wie folgt: Andere Räume seien solche Räume, die »absolument différents« seien, da sie Orte seien, »qui s’opposent à tous les autres, qui sont destinés en quelque sorte à les effacer, à les compenser, à les neutraliser ou à les purifier. Ce sont en quelque sorte des contre-espaces.«2 Die Alterität der »anderen Räume« ergibt sich demnach daraus, dass sie sich allen anderen Räumen entgegensetzen, wobei durch dieses Entgegensetzen nicht einfach nur Differenzen markiert werden, sondern eine Opposition im stärkeren Sinne bezeichnet werden soll, insofern die »anderen Räume« alle anderen ihnen entgegenstehenden Räume durch ihr Erscheinen affizieren: mit dem Effekt, dieses Gegenüber »auszulöschen«, zu »ersetzen«, zu »neutralisieren« oder zu

1

Für eine ausführlichere Analyse der Texte von Foucault siehe vom Verfasser: »Von anderen Räumen. Zur Neubestimmung eines weit verbreiteten Konzepts«, in: Bedorf, Thomas/Unterthurner, Gerhard (Hrsg.), Zugänge. Ausgänge.

Übergänge.

Konstitutionsformen

des

sozialen

Raumes,

Würzburg 2009, S. 141-155. 2

Foucault, Michel, Die Heterotopien/Les hétérotopies. Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M. 2005, S. 40.

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»reinigen«. Womit aus einem schlichten Gegenüber – »en quelque sorte«, wie Foucault relativierend einfügt – eine Alternative wird, aus einem einfach nur anderen Raum ein »Gegen-Raum« (»contreespace«). Diese ›contre-espaces‹ unterteilt Foucault nun in zwei Varianten: Utopien und eben Heterotopien. Als ›Utopien‹ werden dabei zuerst solche Gegen-Räume bezeichnet, die ganz und gar von Irrealität bestimmt sind, während ›Heterotopien‹ reale Gegen-Räume sein sollen, d.h. Räume, die als im Gegebenen lokalisierbar vorgestellt werden. Dabei ist hier sehr genau zu lesen. Denn wenn sich Foucault tatsächlich in den genannten Texten im Folgenden nur noch mit den Heterotopien beschäftigt, so spielen die ihnen entgegengesetzten Utopien doch weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Heterotopien. Eine Heterotopie, schreibt er, sei anders als eine Utopie, »un lieu précis et réel, un lieu qu’on peut situer sur une carte.«3 Was aus ihr aber nicht einfach das Gegenteil einer Utopie macht, sondern, im Gegenteil, eine Spielart von ihr: denn Heterotopien sind für Foucault »des utopies, qui ont un lieu précis et réel« (weshalb er sie an anderer Stelle auch »utopies réalisées«4 nennt). D.h. Heterotopien sind, bei aller Differenz zu ihr, doch eine Art Utopie. Ich werde auf diesen – schwierigen, weil in eine Aporie führenden – Punkt später noch einmal zurückkommen. Zuvor aber versuche ich weiter zu klären, was genau unter ›contreespace‹, d.h. unter der damit beschriebenen starken Form von Opposition zu verstehen ist. Dazu mag ein Blick auf die Beispiele helfen, die Foucault als mögliche Kandidaten für Heterotopien nennt (wobei ich mich auf die wichtigsten beschränke): das »große Bett der Eltern«, in dem die Kinder andere Welten entdecken, der orientalische Garten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, die Dörfer des Club Méditerranée, das Theater, Bibliotheken, Kolonien, Schiffe.5 Das Heterotopie-Sein dieser Orte versucht Foucault anhand von fünf »Grundsätzen« (»principes«) zu bestimmen: Heterotopien betreffen (1.) in verschiedenen Kulturen verschiedene Orte; dabei können sie (2.) je neu entstehen, sich wandeln und auch wieder verschwinden; zudem

3

Foucault 2005, S. 39.

4

Foucault, Michel, »Des espaces autres«, in: ders., Dits et Écrits II (1976-

5

Vgl. Foucault 2005, S. 41.

1988), hg. v. Daniel Defert, Paris 2001, S. 1571-1581, hier: S. 1574.

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(3.) versammeln sie oft mehrere, auch miteinander inkompatible Räume an einem Ort; darüber hinaus sind sie (4.) nicht selten auch Urchronien und zudem (5.) Räume mit besonderen Ein- und Zugängen.6 Aus diesen Prinzipien lässt sich vor allem ableiten, was es mit der »absoluten« Alterität der Heterotopien auf sich hat: Die absolute Alterität dieser anderen Räume ist demnach nicht auf den Raum als solchen bezogen, jenseits aller Historie und kulturellen Differenz, sondern auf bestimmte Raumordnungen oder Raumgefüge in bestimmen Kulturen und zu einer bestimmten Zeit. Die Räume und Orte – Foucault macht zwischen den wahlweise von ihm verwendeten Termini »lieu«, »espace«, bisweilen auch »région« oder »endroit«, keinen systematischen Unterschied – sind somit zu verstehen als Punkte einer aktuell symbolisch bestimmten Topologie, die sich vor allem über ihre Relationen definiert, und nicht über die den einzelnen Entitäten selbst eignenden physikalischen Qualitäten (wie ihre Ausdehnung, Größe o.ä.).7 Damit ist freilich noch immer nicht die Frage danach geklärt, was die genannten Räume zu Gegen-Räumen in einem starken Sinn macht. Die geläufigste Antwort auf die Frage ist eine machttheoretische gewesen. Dafür mag es eine Reihe von Gründen geben, deren wichtigster wohl in der Geschichte des Begriffs und seiner Rezeption zu suchen ist. Nachdem Foucault nämlich den Begriff Ende der sechziger Jahre kurz aufbringt, eine Zeit mit ihm spielt und dann gleich wieder fallen lässt, wandert er zur selben Zeit in die architekturtheoretische Diskussion ab und wird dann vor allem zur Zeit des Erscheinens von Surveiller et Punir wieder aufgegriffen, d.h. zu der Zeit, in der Foucault mit dem Panoptikon eines seiner eindrucksvollsten Bilder für die räumliche Ausfaltung der Macht entworfen hat.8 Dieses Bild hat dann, getragen vom »Widerstands«-Ethos der Zeit, sofort die Suche nach einem möglichen Gegen-Ort auf den Plan gerufen, vor allem in Kreisen der politisch aktiven Foucault-Rezipienten. Im Sog dieser Re-

6 7

Vgl. ebd., S. 41ff. Womit er sich ganz im strukturalistischen Fahrwasser bewegt; vgl. Deleuze, Gilles, Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992, vor allem S. 15ff.

8

Zur komplexen Geschichte der Texte zum Thema »Heterotopie« vgl. Defert, Daniel: »Raum zum Hören«, in: Foucault 2005, S. 67-92.

P OLITIKEN DER E NTORTUNG : R ANCIÈRE UND FOUCAULT

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zeptionsgeschichte – im Anschluss zumeist an Edward Sojas einflussreiches Buch Thirdspace9 – wurden Heterotopien in der jüngeren Wiederentdeckung des Begriffs zum wichtigen Kandidaten für einen Ort des Widerstands, eine Art Gegenmodell zum Panoptikum. So spricht Marwin Chlada in seinem Buch Heterotopie und Erfahrung etwa davon, dass Heterotopien dazu angetan seien, den »Kampf gegen die herrschende Ordnung« zu unterstützen als Teil einer »Ethik des Widerstands« in Form einer »gelebten Utopie«.10 Derartige machttheoretische Interpretationen der Heterotopien sind nun ebenso nachvollziehbar wie fragwürdig. Und dies aus einer ganzen Reihe von an dieser Stelle leider nicht weiter vertiefbaren Gründen (wie schon allein der machttheoretischen Unhaltbarkeit des Widerstandsbegriffs11). Einen Grund meiner Zweifel aber möchte ich doch nennen, denn er eröffnet den Weg zu einer anderen Lesart. Dieser Grund betrifft die Frage nach dem ontologischen Status der Heterotopien, leicht zu illustrieren an der oben dargelegten Rolle des Utopischen in Heterotopien. Heterotopien, hieß es zu Beginn, seien dadurch bestimmt, dass sie eine Art Utopien seien: eben solche, die nicht »irreal« seien (wie Utopien selbst), sondern solche, die »real« seien. Eine solche Redeweise freilich – und das übergehen diejenigen, die Heterotopien machttheoretisch als »gelebte Utopien« vorstellen, meines Erachtens allzu schnell – macht auf der Grundlage einer einfachen

9

Vgl. Soja, Edward W., Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other real-and-imagined places, Cambridge/Mass. u.a. 1996.

10 Vgl. Chlada, Marwin: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault, Aschaffenburg 2005, S. 99ff. Chalda bezieht sich hier u.a. auf die Heterotopie-Interpretation von Thomas Ballhausen, in: ders. »Das trunkene Kirchenschiff. Zu Foucaults Raumkonzept der Heterotopologie«, in: Chlada, Marwin/Dembowski, Gerd (Hrsg.), Das Foucaultsche Labyrinth. Eine Einführung, Aschaffenburg 2002, S. 163176. Eine ähnliche machttheoretische Interpretation der Heterotopien findet sich bei Schroer, Markus, »Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne Utopie der Lebenskunst«, in: Eickelpasch, Rolf/Nassehi, Armin (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 136-169. 11 Vgl. dazu vom Verfasser: »Foucault und der Widerstand. Anmerkungen zu einem Missverständnis«, in: Hechter, Daniel/Philipps, Axel (Hrsg.), Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld 2008, S. 149-168.

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Opposition von real und irreal wenig Sinn. Denn wären Utopien tatsächlich dadurch bestimmt, dass sie zuerst »irreal«, Heterotopien dagegen dadurch, dass sie »real« sind, dann könnten Heterotopien keine verwirklichten Utopien sein, denn dann wäre in Heterotopien etwas »real« geworden, was sich gerade durch Irrealität definiert und damit durch seine Real-Werdung auflöst. Wenn Utopien zuerst dadurch bestimmt sind, dass sie »unwirklich« sind, kann es per definitionem keine »wirklichen« Utopien geben. Das Auftauchen dieses Paradoxes soll eine Wendung des Blicks weg von der Rezeptionsgeschichte hin zum Entstehungskontext des Begriffs rechtfertigen. Zum ersten Mal nämlich taucht der Begriff der Heterotopie bei Foucault nicht in den genannten Texten, sondern in Les mots et les choses12 auf. Dort aber nimmt er eine ganz andere Färbung an, denn dort bezeichnet er nicht zuerst einen Raum- als vielmehr einen Diskurstyp, der, wie die berühmte, zu Beginn des Vorworts zitierte Einteilung der Tiere in der von Borges entdeckten »chinesischen Enzyklopädie«, die geltende Ordnung der Diskurse dadurch unterminiert, dass er der Ordnung der herrschenden Klassifikationen eine Ordnung entgegenstellt, die zwar als Ordnung erkennbar ist, mit den Mitteln der herrschenden Diskurse aber nicht begriffen werden kann. Das lässt natürlich fragen, warum Foucault diesen Diskurstyp Heterotopie und nicht Heterologie nennt, d.h. ihn trotz aller Diskursorientierung zuerst in Bezug auf Räumlichkeit zu positionieren versucht. Dies ist wohl nur dann wirklich zu verstehen, wenn man sieht, was Foucault – neben anderem – in der ersten Hälfte der 1960er Jahre beschäftigt hat, und zwar vor allem in seiner Auseinandersetzung mit Autoren wie Bataille, dessen Projekt der Heterologie für Foucaults Heterotopie offensichtlich Pate gestanden hat, aber auch Blanchot, Sollers, Klossowski, Robbe-Grillet u.a. Stellvertretend für viele andere in diesem Kontext zu nennende Texte sei nur auf zwei Schriften aus dieser Phase verwiesen. Im »Distance, aspect, origine« betitelten Text über die neusten Werke der Autoren des Nouveau Roman behauptet Foucault über Robbe-Grillet, bei diesem bewegten sich die Menschen stets »en des régions un peu

12 Vgl. Foucault, Michel, Les mots et les choses: une archéologie des sciences humaines, Paris 1966.

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décrochées de l’espace, comme suspendues.«13 Die Abgetrenntheit besagter Räume, so fährt er fort, entstehe durch eine »Distanz« oder »Leere« im Inneren der Räume selbst, durch eine sie selbst durchlaufende Grenze, die freilich nicht einfach ein Subjekt und ein Objekt voneinander trenne, sondern, wie er schreibt, »[qui] est plutôt l’universel rapport, le muet, laborieux [...] rapport par lequel tout se noue et dénoue, […] par lequel dans le même mouvement les choses se donnent et échappent.«14 Was Foucault hier beschrieben sieht, sind einerseits die Qualitäten eines besonderen Typs des Grenz-Raums (der ihn von Bataille her interessiert): den er einen Raum »en perpétuelle désinsertion«15 nennt und zum ersten Mal mit dem Spiegel vergleicht, »qui donne aux choses un espace hors d’elles et transplanté, qui multiplie les identités et mêle les différences en un lieu impalpable que nul ne peut dénouer.«16 Andererseits kommt für Foucault hier die besondere Qualität des »Seins« zur Sprache, die der beschriebene Raum den in ihm erscheinenden Dingen und Figuren verleiht: das Sein nämlich eines »simulacre«. Ein solches »Simulakrum« sei nicht zu verstehen als ein aus seiner Substanz identifizierbares Etwas, sondern nur als »l’image (la vaine image), le spectre inconsistant«, d.h. eine sich selbst zugleich gebende und sich entziehende, von sich abrückende, selbstdifferierende Erscheinung: denn, fragt Foucault, »simuler n’est-il pas ›venir ensemble‹, être en même temps que soi, et décalé de soi? Être soi-même en cet autre lieu […], être hors de soi, avec soi, dans un avec où se croisent les lointains.«17 Der Frage, wie diese Grenzraumerfahrung und die Erfahrung der in ihm erscheinenden selbstdifferierenden Simulakra überhaupt benannt oder gesagt werden können, dieser Frage geht Foucault drei Jahre später in seinem Aufsatz »La pensée du dehors« bei der Lektüre der Texte Maurice Blanchots näher nach. Dessen Sprache, entdeckt er dabei, schaffe es besagte Erfahrung zu »verkörpern« vor allem durch eine »conversion […] au langage de la fiction. Celle-ci ne doit plus

13 Vgl. Foucault, Michel, »Distance, aspect, origine«, in: ders., Dits et Écrits I (1954-1975), hg. v. Daniel Defert, Paris 2001a, S. 300-313, hier: S. 303. 14 Ebd., S. 303f. 15 Ebd., S. 302. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 303.

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être le pouvoir qui inlassablement produit et fait briller les images, mais la puissance qui au contraire les dénoue.«18 In dieser Art der Fiktion nämlich ist »le fictif […] jamais dans les choses ni dans les hommes, mais dans l’impossible vraisemblance de ce qui est entre eux : rencontres, proximité du plus lointain, absolue dissimulation là où nous sommes. […] Tel est sans doute le rôle que jouent, dans presques tous les récits de Blanchot, les maisons, les couloirs, les portes et les chambres : lieux sans lieu, seuils attirants, espaces clos, défendus et cependant ouverts à tous vents.«19

Ohne diese Spur hier so differenziert wie eigentlich nötig weiter verfolgen zu können, kann man doch festhalten, dass diese allgemeinen Reflexionen zu Sprache, Raum und Fiktion auch Eingang in seine Überlegungen zur Idee der Heterotopie finden. Und die Figur, die dabei als Vermittler fungiert, ist die Figur des Spiegels. »Je crois«, schreibt Foucault an einer zentralen Stelle von »Des espaces autres«, »qu’entre les utopies et […] ces hétérotopies, il y aurait sans doute une sorte d’expérience mixte, mitoyenne, qui serait le miroir.«20 Denn einerseits, so Foucault, sei der Spiegel »une utopie, puisque c’est un lieu sans lieu. Dans le miroir, je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel.«21 Doch das ist eben nicht alles, da es eine zweite Seite eben derselben Erfahrung gibt, die den Spiegel zu einer Heterotopie mache, »dans la mesure, où le miroir existe réellement, et où il a, sur la place que j’occupe, une sorte d’effet en retour«. Dieser »effet en retour« ist der folgende: »C’est à partir du miroir que je me découvre absent à la place où je suis puisque je me vois là-bas. À partir de ce regard qui en quelque sorte se porte sur moi, du fond de cet espace virtuel qui est de l’autre coté de la glace, je reviens vers moi et je recommence à […] me reconstituer là où je suis.«22

18 Vgl. Foucault, Michel, »La pensée du dehors«, in: Foucault 2001a, S. 546567, hier: S. 552. 19 Ebd. 20 Foucault 2001, S. 1575. 21 Ebd. 22 Ebd.

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Das also ist die Erfahrung, die der Spiegel eröffnet: mich mir selbst zu geben (mich an dem Ort zu rekonstituieren, an dem ich mich vorher schon immer wähnte) als ein Irrealer, d.h. als einer, der nur da und nur dann ist, als einer ist, wo er eben nicht ist: im Bild seiner selbst außer sich. Was, umgekehrt, zugleich bedeutet: meine mich konstituierende Irrealität real zu erfahren, d.h. mich real zu erfahren als »au coeur du monde ce petit noyau utopique«, wie Foucault es in einem zweiten Radiovortrag dieser Zeit mit dem Titel Le corps utopique beschreibt.23 Aus dieser Perspektive erscheinen Heterotopien insofern als »andere Räume«, als sie sich den sonstigen Räumen einer gegebenen Ordnung in einem starken Sinn entgegensetzen, nicht dadurch, dass sie – wie alle machttheoretisch denkenden Interpretationen behaupten – reale Orte der Befreiung schaffen, die es, wie Foucault 1982 unzweideutig feststellt, nicht geben kann24, sondern weil sie »Grenzen« sind, Orte der Überschreitung, d.h. Orte, an denen man die Erfahrung einer Selbstdifferenz, der Konstitution gar von Differenz überhaupt machen kann. Die Netze der Macht sind an solchen Orten suspendiert, da es dort kein eindeutiges Etwas mehr gibt, das sich einem anderen Etwas entgegensetzt, mit dem sich messen kann, sondern nur noch unendliche Spiegelungen von Etwas, das zugleich ist und nicht ist, »Simulakra«: lebendig gewordene Tote auf dem Friedhof, Gespenster im Bett der Eltern, das sich erst im Nicht-Ort des Spiegels »rekonstituierende« Ich. Heterotopien, das zumindest scheint mir Foucaults Hoffnung, sind Orte, die insofern wirklich sind, als dass an ihnen das erfahren werden kann, was nicht eigentlich erfahrbar ist: ein Jenseits der gegebenen Ordnungen, das freilich nicht als Jenseits erfahren wird, d.h. als das Etwas, das das ganz Andere des Gegebenen ist, sondern nur als Grenze des Gegebenen, eine Grenze, in der das Gegebene sich selbst noch einmal als gegeben und damit zugleich als möglicherweise auch anders erweist. Fasst man Heterotopien derart, dann wird auch klarer, wieso sie »eine Art Utopie« sind. Wie Utopien nämlich so sind auch Heterotopien zuerst dadurch bestimmt, dass sie sich einer gegebenen Ordnung entgegensetzen, und wie Utopien tun sie dies mit der Kraft der Fiktion. Freilich tun Heterotopien letzteres – im Gegensatz zu Utopien

23 Vgl. Foucault 2005, S. 63. 24 Vgl. Foucault, Michel, »Espace, savoir et pouvoir«, in: Foucault 2001, S. 1089-1104, vor allem S. 1096ff.

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– nicht derart, dass Fiktionen der Wirklichkeit als ihr anderes, ihr Spiegelbild schlicht entgegen gesetzt werden, sondern indem in ihnen versucht wird, Fiktionalität in die Wirklichkeit selbst, d.h. das, was als Wirklichkeit gilt, eindringen zu lassen. Heterotopien fiktionalisieren Wirklichkeiten, oder, um mit Foucault zu sprechen: »fiktionieren« Wirklichkeiten, indem sie der Wirklichkeit nicht mehr einfach andere, bessere Möglichkeiten entgegenstellen, sondern Orte schaffen, die in der Wirklichkeit selbst die ihr inhärenten Möglichkeiten erfahrbar machen, im Moment der Überschreitung der eine Wirklichkeit bestimmenden Grenzziehungen.

2. DER BEGRIFF ›HETEROTOPIE‹ IM WERK JACQUES RANCIÈRES In einem mittlerweile berühmten Interview mit Muriel Combe und Bernard Aspe hat Jacques Rancière 1999 auf die Frage, ob sein Begriff von Geschichte nicht darauf hinauslaufe, dass Geschichte nicht mehr sei als bloße Fiktion, und ob nicht demzufolge seine stets historisierende Bestimmung des Politischen recht eigentlich auf eine »redéfinition de l’utopie« hinauslaufe, insofern seine Fiktionen des Politischen auf Verwirklichung drängten, geantwortet, dass es ihm in der Politik in der Tat um Fiktionen bestellt sei, dass diese aber nicht in dem – utopischen – Sinne auf Verwirklichung drängten, dass sie sich dem Tatsächlichen als Alternative entgegenstellen wollten, sondern in dem Sinne, dass sie im Gegenteil der Utopie ihren »caractère irréel« zurückzugeben suchten, »[pour] reconfigurer le territoire du visible, du pensable et du possible.« Eben deshalb, schließt er diese Bemerkungen, seien »les fictions de l’art et de la politique […] des hétérotopies plutôt que des utopies.«25 Diese Selbstbestimmung des eigenen Arbeitens als ein heterotopisches, bzw. die Bestimmung dessen, was für ihn überhaupt Heterotopie bedeutet, bleibt Rancière freilich leider in diesem Interview schuldig – wie auch in allen Schriften der nachfolgenden Zeit. Erst im Jahre 2009 nimmt er diesen Faden wieder

25 Vgl. Rancière, Jacques, Le partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000, S. 65.

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auf und bestimmt in einem bislang unveröffentlichten Vortrag26 sein Denken abermals mit Hilfe der Idee der Heterotopie, diesmal freilich nicht in Absetzung von einer möglichen Utopie, sonern einer möglichen Heteronomie. Wie ist diese Selbsteinschätzung zu verstehen? Rancières Ausgangspunkt ist anders als Foucaults nicht der Blick auf ein Set real existierender Orte; das heterotope Moment ist nicht eines, das er etwa in Bordellen, Friedhöfen, dem Club Mediterranée oder Schiffen findet. Von daher unterscheidet sich seine Verwendung des Begriffs ›Heterotopie‹ deutlich von der Foucault’schen. Und doch gibt es Überschneidungen, und zwar solche, die mir wesentlicher scheinen als die Frage danach, welcher reale Ort verdient, ›Heterotopie‹ genannt zu werden und welcher nicht (solche Bezeichnungspraktiken tragen ohnehin stets des Stempel des Arbiträren). Dabei spielt die Verbindung der Heterotopie mit der Utopie, bzw. einem utopischen Moment eine zentrale Rolle, und dieses utopische Moment ist auch hier gebunden an die Idee der Fiktion bzw. eine bestimmte Form von Fiktionalität. Zur Erläuterung dieser Behauptung zuerst ein Blick auf einige Grundintuitionen des Rancière’schen Denkens, dann in den schon genannten Vortrag von 2009, in dem Rancière dieses Denken explizit an die Idee der Heterotopie bindet. Ausgangspunk der Rancière’schen Überlegungen ist eine besondere Art zu bestimmen, was überhaupt ›Politik‹ ist.27 Anders als in den meisten klassischen politischen Philosophien fragt Rancière dabei nicht danach, wie die nur knapp vorhandenen Güter bestmöglich zu verteilen sind oder aber ein gleiches Recht für alle möglichst effektiv zu installieren ist, sondern sein Ausgangspunkt ist das, was er den »tort fondemental« der Politik nennt: das unaufhebbare Unrecht, dass sich Politik konstituiert aus dem Zugleich zweier einander diametral entgegenstehender, miteinander unversöhnbarer und doch unabdingbar zueinander gehörender Logiken. Die eine Logik – er nennt sie im Anklang an Foucault

26 Der Vortrag kann als podcast abgerufen werden unter: www.jacquesranciere.uni-wuppertal.de [28/09/2011]. 27 Die meisten der im Folgenden dargelegten Ideen finden sich vor allem in Rancières heute so genanntem »Hauptwerk« La Mésentente. Philosophie et politique, Paris 1995.

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»police«28 – sorgt dabei dafür, dass in einer gegebenen politischen Ordnung jedem sein Platz, seine Funktion und sein Status zugewiesen und so bestimmt wird, wer mit welchem Titel an welchem Ort was zu sagen oder zu tun autorisiert ist (oder eben nicht). Dagegen stellt Rancière die Logik der »politique«, die mit eben dieser Logik bricht im Namen einer Gleichheit, auf der alle Verteilung von Titeln und Plätzen je schon ruht, die aber durch die Verteilung je schon aufgehoben ist. Und zwar weniger durch die Tatsache, dass es innerhalb einer gegebenen Ordnung je ein Oben und ein Unten gibt; als vielmehr dadurch, dass es durch jede Verteilung solche gibt, die in der Verteilung selbst gar nicht mehr vorkommen, per se ohne Titel, ohne Ort und ohne Stimme sind. Jedem »compte« der »police« liegt so für Rancière je schon ein konstitutiver »mécompte« zugrunde, der nur deshalb überhaupt Teile eines Ganzen zu berechnen oder zu zählen imstande ist, weil er andere Teile, auf die diese Berechnung beruht, gar nicht erst zur Erscheinung kommen lässt. »Politique« nennt Rancière genau den Moment (oder das Ereignis), wenn sich eben diese Stimme des Verrechnens erhebt, der »tort fondemental« des Politischen in die Sichtbarkeit gelangt. Die wohl bekannteste Form eines solchen In-die-ErscheinungTretens der »politique« ist für Rancière die der »subjectivation«: wenn ein Subjekt des Politischen in einem politischen Raum seine Stimme erhebt, in dem diese Stimme bis dato keinen Platz hatte: Wir, das Volk; wir, die Proletarier; wir, die Frauen. Entscheidend ist für Rancière dabei, dass sich mit diesem Zu-Wort-Melden nicht jemand oder etwas zu Wort meldet, d.h. eine aus sich existierende Substanz, die, bisher ausgeschlossen, vor den Toren der »police« steht und schlicht um Einlass bittet. Sondern »das Volk«, »die Frau«, »der Proletarierer« sind für Rancière nicht mehr als Operatoren, Streitnamen, die etwas, von dem man je schon zu wissen meint, was es ist, derart in den Diskurs einführen, dass dieses »Wissen« unterminiert wird, und damit, das zumindest ist die Hoffnung, die ganze herrschende Ordnung des Wissens (und damit der Dinge). Eben darauf zielt auch der Titel seines

28 Vgl. zu einer kritischen Einschätzung dieser Behauptung: Balke, Friedrich, »Zwischen Polizei und Politik. Eine Genealogie des ästhetischen Regimes«, in: Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hrsg.), Das Politische und die Politik, Frankfurt a.M. 2010, S. 207-234.

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Hauptwerkes: La Mésentente.29 Eine ›mésentente‹ beschreibt eine Situation, in der die an dieser Situation Beteiligten verstehen und zugleich nicht verstehen, über wen oder was gesprochen wird. Das ist mehr und etwas anderes als ein bloßes Un- oder auch ein Missverständnis, die aufgeklärt werden könnten durch Nachreichen fehlender Informationen oder durch Präzisierung zweideutiger Termini. In einer ›mésentente‹ steht nicht einfach die richtige oder falsche Bestimmung eines besprochenen Etwas in Frage, sondern es geht um die Rationalität der Sprechsituation selbst, d.h. es geht darum, was im gegebenen Fall überhaupt Sprechen heißt und was nicht, was als Bedeutungen transportierendes Zeichen und was als bloßes Geräusch zählt; und, damit einhergehend, wer zur Sprache autorisiert ist und wer nicht, wer also wo was sagen kann und darf und wer nicht etc. Und ebenso, wie in der »subjectivation« nicht ein Etwas seine verschwiegene Identität einfordert, ist »politique« nicht das Gegenteil, das ausgeschlossene Wesen oder die verdrängte Substanz der »police« vor oder jenseits aller bereits instituierten Politik (etwa im Sinne der souveränen Entscheidung bei Schmitt, oder der Unterscheidung von konstituierender und konstituierter Gewalt bei Benjamin). Sondern »politique« ist nicht mehr als der Name einer Situation, in der sich das zu Wort meldet, das in die Sichtbarkeit gerät, worauf alle politische Ordnung je schon ruht, was aber in dieser Ordnung per se unsichtbar ist – eben das unaufhebbare Gegeneinander zweier einander entgegen gesetzter Logiken der Gemeinschaftsstiftung tout court.30

29 Vgl. Rancière 1995. 30 Seit einigen Jahren etabliert sich in der Diskussion der politischen Philosophie die von Chantal Mouffe eingeführte, von Heidegger inspirierte Idee einer »politischen Differenz« zwischen »dem Politischen« (im Sinne einer ontologischen Grundlage) und »der Politik« (als deren »nur« ontisches Pendant) als neue Leitdifferenz zum Verständnis einer ganzen Reihe von neueren Autoren der politischen Philosophie (vgl. dazu Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hrsg.), Das Politische und die Politik, Frankfurt a.M. 2010). Diese Leitdifferenz wird immer häufiger nun auch zum Verständnis der police-politique-Unterscheidung im Werk Jacques Rancières angewendet (prominent in: Marchart, Oliver, Die politische Differenz, Frankfurt a.M. 2010). Die vorliegenden Überlegungen sollten klar gemacht haben, wie verfehlt eine solche Kategorisierung ist, da es Rancière mit seiner Unterscheidung auch nicht im Ansatz um eine Differenz zwischen einer

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Um diese Situation nun genauer von anderen Situationen abgrenzen zu können, in denen ebenfalls ein Anderes in den Blick gerückt werden soll, setzt Rancière im eingangs genannten Vortrag die Heterotopie der Heteronomie entgegen. Was beide offensichtlich miteinander – und auch mit Foucault – verbindet, ist das ›heteron‹: die Aufmerksamkeit für das oder ein Anderes, d.h. für das, was in einer gegebenen Ordnung – und Ortung – ohne Platz ist: weil diese Ordnung für Anderes keinen Ort ausweisen kann. Verschieden freilich ist, wie dieses ›heteron‹ selbst vorgestellt wird, und auch, wie, d.h. in welcher Form, es erscheint. In der Heteronomie, so behauptet Rancière, bedeute das Andere, dessen Recht eingeklagt werde, »the figure of the unmeasurable, the un-substitutable from which all that is measurable, substitutable and connected according to a law of distribution, has to take its law.«31 Diese »ethische« Interpretation des ›heteron‹ – mit der hier vor allem Derrida gemeint ist, aber auch Lyotard u.a. – betrachtet die Frage der Verteilung verschiedener Teile eines Ganzen unter der Maßgabe eines gemeinsamen ›ethos‹ (das zumeist in der Form des Gesetzes daherkommt), von dem das ›heteron‹ abweicht. Ganz anders dagegen seine ästhetische Interpretation: »In opposition to the ethical distribution of the same and the different, it sets up a third term which is not the Other, the Un-measurable, but a re-distribution of the relation between the same and the different: the division of the same and the dismissal of the difference. The aesthetic configuration replays the terms of the difference in such a way as to neutralize them and to make that neutralization the staging of a conflict that is in excess with respect to the consensual distribution.«32

Was diese ästhetische Interpretation mit dem topischen Denken verbindet, d.h. warum der ethischen Heteronomie eine ästhetische Heterotopie entgegensteht, lässt sich nur verstehen, wenn man sieht,

ontologischen Grundlage und ihren ontischen Ausformungen geht, sondern um die Beschreibung eines bestimmten Szenarios des Politischen, in dem ein unumgänglicher Widerstreit im Herzen der Konstitution aller Politik in die Sichtbarkeit gelangt. 31 Der Vortrag von 2009 wird nach der dem Autor vorliegenden Textform zitiert; hier: S. 3. 32 Ebd.

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was Rancière hier mit ›Ästhetik‹ meint: »Aesthetics for me is not the science or the theory of art but the configuration of the sensible experience inside which the practices and forms of art can be identified as such.«33 Ästhetik kann für Rancière nicht auf Kunst reduziert werden, sondern bezeichnet generell die Art, wie das Sinnliche überhaupt als ein Gemeinsames erfahren wird, d.h. in welchen Aufteilungen es erscheint, um durch diese Aufteilungen (und die mit ihnen einhergehenden Ordnungen des Sagens, Sehens und Handelns) die Erfahrung einer gemeinsamen Welt möglich zu machen. Jede politische Strategie, die nach dem Platz des Anderen, des Ausgeschlossenen in dieser allgemeinen Aufteilung des Sinnlichen fragt, muss daher genau auf dieser ästhetischen Ebene ansetzen: »We can speak of a ›politics of aesthetics‹ to the extent that the operations subsumed under the name of art are inscribed in forms of transformation of the landscape of objects and practices that make up a common world and in a distribution of the capacities of sensible experience belonging to the inhabitants of this common world.«34

Welt als gemeinsame wird wahrgenommen als eine strukturierte Landschaft, deren Sinn und Richtigkeit sich konstituiert aus der funktionalen Zuweisung von Plätzen und deren Beziehung zueinander; heterotop wird etwas dann, wenn es diese Ordnung der zugewiesenen Plätze, d.h. die differenzlose Identität von Ordnung und Ortung stört. Und zwar nicht einfach dadurch, dass der herrschenden Ordnung schlicht eine andere, von der ersten abweichende entgegengesetzt wird, sondern durch eine besondere Art der Fiktion, d.h. die Inszenierung eines spezifischen »as if« (das Rancière tatsächlich als seine Interpretation des kantischen ästhetischen »als ob« verstanden wissen will). Diese Art der Fiktion erläutert Rancière durch eine Abgrenzung von der Idee der »ästhetischen Illusion«, wie sie etwa bei Bourdieu zu finden ist. Während in der »ästhetischen Illusion« nämlich Fiktion nichts anderes ist, als eine Strategie, um tatsächlich vorhandene Unterdrückungsverhältnisse zu kaschieren, falscher Schein also oder »Lüge« im Sinne Platons, sucht Rancière mit seiner Strategie des »as if« eine Art der Fiktion, die sich vom ›ethos‹ des Wahren oder

33 Ebd., S. 4. 34 Ebd., S. 4.

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Falschen und ihren moralischen Bewertungen gerade trennt, weil sie – kantisch gesagt – auf keinen Begriff zu bringen ist, auch keinen moralischen. In dieser Strategie des »as if« geht es vielmehr darum, in einer gegebenen Ordnung eine andere aufscheinen zu lassen (wie die Ordnung der Tiere in der schon genannten chinesischen Enzyklopädie zu Beginn von Foucaults Les mots et les choses35), die die gegebene Ordnung und die mit ihr einhergehenden Selbstverständlichkeiten durch die von ihr gestiftete Verwirrung von innen her aushöhlt. Die Fiktion des »as if« zeigt die Welt, als ob sie eine andere wäre, und zwar: als ob sie, so wie sie ist, zugleich eine andere wäre – statt ihr einfach eine andere als bessere Alternative entgegen zu setzen. Der ästhetischen Heterotopie geht es wie aller Politik damit darum, »die überkommenen sinnlichen Gegebenheiten zurückzuweisen« und »eine Welt in einer anderen einzurichten«, wie Rancière es 2003 in einem Vortrag in Berlin formuliert hat.36 Auf diese Weise macht die ästhetische Heterotopie eine Welt in der anderen erfahrbar, macht im Wirklichen ein Mögliches erfahrbar, das das gegebene Wirkliche mit seinen eigenen Mitteln außer Kraft setzt. Das »als ob« trennt die Erfahrung vom Ethos, die diese Erfahrung wie selbstverständlich getragen hat, es ist, wie Rancière einmal mehr in Anspielung auf die kantische ästhetische Erfahrung schreibt, »singulär«, und in seiner Singularität »interesselos«. »This is«, heißt es in dem eingangs genannten Vortrag, »what ›disinterestedness‹ or ›indifference‹ means: the dismantlement of a certain body of experience that was well-suited to a definite ethos«37; was seinerseits geschieht durch eine bestimmte Form des Nicht-Wissens, der Trennung vom etablierten Wissen, wie Rancière im Weiteren behauptet: »This ignorance is by no means the ›illusion‹ that conceals the reality of possession. It is the way of building up a new sensible world, which is a world of equality, in the world of possession and inequality.«38

35 Vgl. Foucault 1966. 36 Veröffentlicht unter dem Titel »Überlegungen zur Frage, was heute Politik heißt«, in: Dialektik, 1/2003, S. 113-122, hier: S. 119. 37 Rancière 2009, S. 5. 38 Ebd.

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3. ZUSAMMENFASSUNG Und damit komme ich zum Schluss und fasse zusammen: Michel Foucault bezeichnet mit Heterotopie real existierende Orte, die seines Erachtens die Möglichkeit eröffnen, in einem gegebenen Raumgefüge Platz zu schaffen für ein utopisches Moment: das Moment, in dem das Wirkliche sich noch einmal vom Möglichen her zeigt, von dem, was alles hätte sein können. Um zu diesem Nullpunkt der Konstitution des Raumgefüges zurück zu kommen, greifen Heterotopien auf die Macht der Fiktion zurück, die etablierte Grenzen aufheben und überschreiten machen kann. Heterotopien, so war es zu fassen versucht worden, sind solche Orte, die Wirklichkeiten fiktionalisieren. Eben deshalb sind für Foucault alle »anderen Räume« wie die Heterotopien auch nicht ganz anders als alles Existierende, sondern bezeichnen nur dessen Grenzen, Orte der Überschreitung, sind Reservoirs des Möglichen im Wirklichen. Im Gegensatz zu Foucault geht Jacques Rancière bei seiner Bestimmung von Heterotopien nicht von real existierenden Räumen aus, sondern vielmehr von einer Funktion: ›Heterotopien‹ nennt Rancière solche – durchaus aber auch: real existierenden – Konfigurationen des Sinnlichen, in denen zwei eigentlich miteinander unverträgliche Logiken des Realen in eins gebracht werden. Dies vermag auch für Rancière in besonderer Weise die Macht der Fiktion, hier freilich in einer präziser umrissenen Form als bei Foucault: der Form des »as if«. Diese »pflanzt« dabei in einer gegebenen Welt mit deren Mitteln eine andere ein, die die gegebene Welt so darstellt, als sei sie eine andere, und zwar: als sei sie eine andere so wie sie ist (weshalb man sie in der gegebenen Welt versteht und zugleich nicht versteht). Anders als bei Foucault geht es dabei freilich nicht nur um die Entdeckung von allgemeinen, dabei aber vergessenen, dem Wirklichen inhärenten Möglichkeiten, die wieder eröffnet werden, sondern darum, einen unaufhebbaren »tort fondemental« der gemeinschaftlichen Wirklichkeitskonstitution sichtbar zu machen, um so einer immer schon verdrängten Gleichheit aller sozialen Akteure zu ihrer Emanzipation zu verhelfen. Heterotopien haben so bei Rancière einen viel deutlicher emanzipatorischen Einschlag als bei Foucault, insofern sie einer »Gleichheit« zu ihrem Recht verhelfen wollen, die in jeder gegeben Ordnung je schon ausgeschlossen wurde. Ob es dies ist, was auch die neueren französischen Literaten versuchen, ob auch sie eman-

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zipatorisch in diesem Sinne sind – das lässt sich so allgemein wohl nicht sagen, sondern das wird man in jedem einzelnen Fall genau zu prüfen haben. Rancière selbst hat spätestens seit Mitte der 1990er Jahre wiederholt gezeigt, dass es für ihn durchaus Literatur gibt, die diese Art von Politizität für sich beanspruchen kann.39 An diesen Analysen wären wohl auch alle Analysen zeitgenössischer Autoren zu orientieren.

LITERATUR Balke, Friedrich, »Zwischen Polizei und Politik. Eine Genealogie des ästhetischen Regimes«, in: Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hrsg.), Das Politische und die Politik, Frankfurt a.M. 2010, S. 202-234. Ballhausen, Thomas, »Das trunkene Kirchenschiff. Zu Foucaults Raumkonzept der Heterotopologie«, in: Chlada, Marwin/Dembowski, Gerd (Hrsg.), Das Foucaultsche Labyrinth. Eine Einführung, Aschaffenburg 2002, S. 163-176. Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hrsg.), Das Politische und die Politik, Frankfurt a.M. 2010. Chlada, Marwin, Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault, Aschaffenburg 2005. Defert, Daniel, »Raum zum Hören«, in: Foucault, Michel, Die Heterotopien: Les hétérotopies. Der utopische Körper: Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 2005, S. 67-92. Deleuze, Gilles, Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992. Foucault, Michel, Les mots et les choses: une archéologie des sciences humaines, Paris 1966. Foucault, Michel, »Distance, aspect, origine«, in: ders, Dits et Écrits I (1954-1975), hg. v. Daniel Defert, Paris 2001a, S. 300-313. Foucault, Michel, »La pensée du dehors«, in: ders., Dits et Écrits I (1954-1975), hg. v. Daniel Defert, Paris 2001a, S. 546-567.

39 Vgl. vor allem Rancières Auseinandersetzung mit Mallarmé in: ders., Mallarmé: la politique de la sirène, Paris 1996, sowie allgemeiner: ders., Politique de la littérature, Paris 2006.

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Foucault, Michel, »Espace, savoir et pouvoir«, in: ders., Dits et Écrits I (1954-1975), hg. v. Daniel Defert, Paris 2001a, S. 1089-1104. Foucault, Michel, »Des espaces autres«, in: ders., Dits et Écrits II (1976-1988), hg. v. Daniel Defert, Paris 2001, S. 1571-1581. Foucault, Michel, Die Heterotopien: Les hétérotopies. Der utopische Körper: Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 2005. Klass, Tobias Nikolaus, »Von anderen Räumen. Zur Neubestimmung eines weit verbreiteten Konzepts«, in: Bedorf, Thomas/Unterthurner, Gerhard (Hrsg.), Zugänge. Ausgänge. Übergänge. Konstitutionsformen des sozialen Raumes, Würzburg 2009, S. 141-155. Klass, Tobias Nikolaus, »Foucault und der Widerstand. Anmerkungen zu einem Missverständnis«, in: Hechler, Daniel/Philipps, Axel (Hrsg.), Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld 2008, S. 149-168. Marchart, Oliver, Die politische Differenz, Frankfurt a.M. 2010. Rancière, Jacques, La Mésentente. Philosophie et politique, Paris 1995. Rancière, Jacques, Mallarmé: la politique de la sirène, Paris 1996. Rancière, Jacques, Le partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000. Rancière, Jacques, »Überlegungen zur Frage, was heute Politik heißt«, in: Dialektik, 1/2003, S. 113-122. Rancière, Jacques, Politique de la littérature, Paris 2006. Schroer, Markus, »Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne Utopie der Lebenskunst«, in: Eickelpasch, Rolf/Nassehi, Armin (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 136169. Soja, Edward W., Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other realand-imagined places, Cambridge/Mass. u.a. 1996.

Internetquellen http://www.jacques-ranciere.uni-wuppertal.de/ [28/09/2011].

Die »Welt als Bild« Globalisierung, Medien und neue Metropolen TIMO SKRANDIES Their motto was: »There, but Invisible«. THOMAS PYNCHON Cosmopolites de tous les pays, encore un effort! JACQUES DERRIDA

NACH ATHEN Im April 1967 bricht der deutsche Philosoph Martin Heidegger von seiner Hütte in Todtnauberg auf, um zum wiederholten Male nach Griechenland zu reisen. Anzunehmen, dass diese Reisen für ihn nicht nur solche durch den Raum, sondern auch mit der Hoffnung auf eine Zeitreise verbunden waren, die ihn im südlichen Europa zu den Ursprüngen jener Lichtung bringen würde, die noch nicht von der, seiner Ansicht nach mit Platon einsetzenden, Seinsvergessenheit verstellt bzw. verhüllt war. Doch anders als bei seinen sonstigen Trips nach Ägina, Lesbos, zu den Ägäischen Inseln oder – auch schön – ins türkische Istanbul, war der Philosoph nun, wenige Wochen vor Beginn des griechischen Militärputsches und der Diktatur, in die – so könnte man sagen – Stiftungs-Metropole europäischer Kultur, nach Athen, unterwegs – und hatte dort auch zu arbeiten. An der Akademie der Wissen-

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schaften und Künste hielt er einen Vortrag mit dem Titel »Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens«.1 Heidegger umspielt auch hier – wie in zahlreichen anderen seiner späten Texte – das Motiv der technisch eingerichteten, dargestellten, bearbeiteten und informatorisch verstandenen Welt. In Athen speziell ging es ihm darum, zu zeigen, wie sich das Verständnis von Kunst als »techné« im Kontext des griechischen Denkens zu einem sich seit der Neuzeit durchsetzenden Konzept wissenschaftlich-technischer Arbeit, Produktion und Welterfassung verschiebt. Diese Verschiebung beschränkt sich allerdings nicht allein auf Kunst, sondern erfasst das Ganze der Welt, wie Heidegger am Beispiel der Kybernetik ausführt: »In der kybernetisch vorgestellten Welt verschwindet der Unterschied zwischen den automatischen Maschinen und den Lebewesen. Er wird neutralisiert auf den unterschiedslosen Vorgang der Information […] In diese Einförmigkeit […] wird auch der Mensch eingewiesen.«2

Dieses technizistische Verständnis des Daseins stellt (wie Heidegger an anderer Stelle schreibt) den »Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung« dar. Anders, in historischer Perspektive gesagt: Es ist der »Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation.«3 In Athen bezeichnet Heidegger diese Umstände als die »Universalität der Weltzivilisation« und es wird nicht übertrieben sein davon auszugehen, darin eine philosophische Bestimmung dessen zu sehen, was wir heute als »Globalisierung« erleben und zu verstehen versuchen. Der Titel der Epoche, in der es geschieht, dass das Seiende in seiner Gesamtheit als solcherart gesteuert, gesichert und berechnet wird, lautet, in Heideggers Worten: »Die Zeit des Weltbildes«. Damit ist eine historische Zeit gemeint – Neuzeit, Moderne und Gegenwart –

1

Heidegger, Martin, »Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens«, in: ders., Denkerfahrungen, Frankfurt a.M. 1993, S. 135-149.

2 3

Ebd., S. 142. Heidegger, Martin, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1988, S. 61-80, hier: S. 64f.

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in der die Welt nunmehr als Bild, als Vorstellung sich ereignet bzw. »die Welt als Bild begriffen« wird. Heidegger: »Was ist das – ein Weltbild? Offenbar ein Bild von der Welt. Aber was heißt hier Welt? Was meint das Bild? Welt steht hier als Benennung des Seienden im Ganzen. Der Name ist nicht eingeschränkt auf den Kosmos, die Natur. Zur Welt gehört auch die Geschichte. Doch selbst Natur und Geschichte und beide in ihrer sich unterlaufenden und sich überhöhenden Wechseldurchdringung erschöpfen nicht die Welt. In dieser Bezeichnung ist mitgemeint der Weltgrund, gleichviel wie seine Beziehung zur Welt gedacht wird. Bei dem Wort Bild denkt man zunächst an das Abbild von etwas. Demnach wäre das Weltbild gleichsam ein Gemälde vom Seienden im Ganzen. Doch Weltbild besagt mehr. Wir meinen damit die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, so wie es für uns maßgebend und verbindlich ist. Bild meint hier nicht einen Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung herausklingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ins Bild setzen heißt: das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben. Aber noch fehlt eine entscheidende Bestimmung im Wesen des Bildes. ›Wir sind über etwas im Bilde‹ meint nicht nur, daß das Seiende uns überhaupt vorgestellt ist, sondern daß es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht. ›Im Bilde sein‹, darin schwingt mit: das Bescheid-Wissen, das Gerüstetsein und sich darauf Einrichten.«4

Tatsächlich lassen sich Konkretisierungen dieses, wie Heidegger formuliert, »Grundvorgang[s] der Neuzeit«5 (und ihrer historischen Folgezeiten bis heute) festhalten, wie die Welt als Bild im Sinne eines Vorgestellten und technisch Hergestellten erobert wurde und wird. Selbstverständlich sind diese jüngeren Forschungsbeiträge nicht in der unmittelbaren Folge von Heideggers ontologischen Reflexionen zu »verstehen«. Doch bieten seine Bestimmungen des im Begriff des Bildes kulminierenden Verhältnisses von Subjekt, Wahrnehmung, Repräsentation (Darstellung), Geschichte und Natur einen philosophischen Hintergrund heutiger Debatten.

4

Heidegger, Martin, »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege,

5

Ebd., S. 87.

Frankfurt a.M. 1963, S. 69-104, hier: S. 82.

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Exemplarisch sei hier auf die Arbeitsgruppe »Die Welt als Bild« verwiesen, die von 2005 bis 2008 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aktiv war: Hier wurde davon ausgegangen, dass (die durchaus eher allgemeinen oder abstrakten) WeltAnschauungen und konkrete Welt-Bilder in einem unlösbaren Wechselverhältnis stehen und dass keines von beiden dem je anderen vorausgeht. »Der Begriff ›Bild‹ im Wortgefüge ›Weltbild‹ markiert darüber hinaus die unhintergehbare Anbindung von Weltbildern an visuelle Medien.« So liegt die »Relevanz einer bildwissenschaftlichen Forschung zum ›Weltbild‹ […] nicht zuletzt in der Vielfalt visueller Erscheinungsformen, die ein Bild von der Welt entwerfen.

Diese

reichen

von

historischen

Modellierungen,

etwa

kosmologischen Weltbildern, bis hin zu jüngsten Visualisierungen aus dem Bereich der Life Sciences.«6

Etwas schärfer und in medialer Perspektivierung gesagt: Ein jeweiliges Welt-Bild manifestiert sich in der Performativität der Materialität des spezifischen Bildmediums.7 Auf die durch diesen bildkonstitutiven Prozess bedingte Differenz von Bildraum und Umraum wurde in der deutschsprachigen bildwissenschaftlichen Forschung schon recht früh hingewiesen. Gottfried Boehm hatte das die »ikonische« bzw. »pikturale Differenz« genannt und damit auf einen zweifachen »Kontrast« hingewiesen. Da ist zum einen jener inner-pikturale Kontrast, bei dem alles, was »uns als Bild begegnet, auf einem einzigen Grundkontrast [beruht], dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem was sie an Binnenereignissen einschließt.«8 Und sodann ist da die von Boehm (mit Verweis auf Hans Jonas) so genannte »pikturale Differenz«, »die dem Menschen spezifisch ist« und

6

www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/Weltbilder/de/

7

Dies wird auch in der aktuellen ›Raumforschung‹ so diskutiert. Vgl. etwa:

Startseite [16.09.2011]. Günzel, Stephan (Hrsg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009 (hier bes. die Artikel zu »Ästhetik/Kunstgeschichte«, »Architektur/Städtebau«, »Bildtheorie«, »Kartographie«). 8

Boehm, Gottfried, »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11-38, hier: S. 29f.

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»sich als das Vermögen [definiert], das bewegliche Wahrnehmungsfeld des alltäglichen Sehens mit seinen offenen Rändern, seiner flexiblen Neuanpassung an Situationen in ein begrenztes und stabiles Bildfeld umzustilisieren, als Bildwerk, als Gefäß, als Ritzzeichnung odgl. zu gestalten.«9

Mit der Konstatierung der pikturalen Differenz wird eine weitere quasi automatisch mit eingeführt: jene von Bild und Betrachter. Denn die Rede von der »Differenz« setzt ihre Erfahrung und Wahrnehmung voraus – sie verweist den Betrachter/die Betrachterin performativ auf seinen/ihren Platz. Was aber, wenn das, was »als Bild erfahren« wird, keine ikonische Differenz hat bzw. zulässt? Um hier nochmals Heideggers radikale Bestimmung des »Welt-Bildes« in Erinnerung zu rufen10: »Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will. Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist. Wo es zum Weltbild kommt, vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.«11

Wenngleich »Globalisierung« derzeit der Name fürs Ganze unserer Weltlichkeit zu sein scheint, ist damit nicht ausgeschlossen, dass auch ›das Ganze‹ einer Repräsentationslogik im Sinne des Heideggerschen Welt-Bildes folgt: Auch wenn die »ikonische Differenz« in diesem Fall jenseits der Wahrnehmungstopographie liegt, unterliegt die sogenannte Globalisierung doch einer Ordnung, einem Regime des Sehens dieser Welt.12 (Oder gerade deshalb?)

9

Ebd., S. 31.

10 … die an die oben zitierte Passage anschließt. 11 Heidegger 1963, S. 82f. 12 Vgl. Nancy, Jean-Luc, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. Anette Hoffmann, Berlin, Zürich 2003. Wiederum in medientheoretischer Annäherung hieran, vgl.: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan

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Peter Sloterdijk hat an der Peripherie seines umfangreichen SphärenProjektes Überlegungen für – wie er es nennt – »eine philosophische Theorie der Globalisierung« entwickelt. Demnach ist die erste, von den Vorsokratikern über Aristoteles bis hin zu Dante und Cusanus reichende Phase des Globalisierungs-Denkens durch Modelle gekennzeichnet, die die Erdkugel inmitten weiterer, sie umgebender Schalen, Sphären, Ringe und Gewölbe geborgen sehen – die zusammen genommen eben den Namen ›Kosmos‹ verdienen. Abgelöst wird dies durch jenes von Heidegger annoncierte »Zeitalter des Weltbildes«, von Sloterdijk als die »terrestrische Globalisierung« bezeichnet – diese setzt sich durch als ein »Übergang von der meditativen Kugelspekulation zur Praxis der Kugelerfassung«.13 Nautisch beginnt sie mit den Fahrten der Portugiesen und astronomisch mit dem Kopernikanischen Heliozentrismus und Keplers Gesetzen der Planentenbewegung.14 »Folgerichtig sind es in der Neuzeit nicht mehr die Metaphysiker, sondern die Geographen und die Seefahrer, denen die Aufgabe zufällt, das neue Weltbild zu zeichnen: Ihre Mission ist es, die letzte Kugel als Bild zu präsentieren. Von allen runden Großkörpern kann künftig der schalenlosen Menschheit nur ihr eigener Planet noch etwas bedeuten. Die Weltumsegler, die Kartographen, die Konquistadoren, die Weltkaufleute, ja sogar die christlichen Missionare und ihr Nachtrab aus Entwicklungshelfern, die guten Willen exportieren, und aus Touristen, die Geld für Erlebnisse auf fernen Schauplätzen ausgeben – sie alle verhalten sich so, als hätten sie begriffen, daß die Erde selbst es ist, die nach der Destruktion des Himmels dessen Funktion als letztes Gewölbe zu übernehmen hatte.«15

Was Sigmund Freud als eine der historischen »Kränkungen der Menschheit« bezeichnet hatte, lässt sich mit Sloterdijk auch als das

(Hrsg.), Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld 2009. 13 Sloterdijk, Peter, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2005, S. 49. 14 Ebd., S. 22. Ebenfalls historisch weit ausholend, mit Fokus Europa und Asien, siehe: Gunn, Geoffrey C., First Globalization. The Eurasian Exchange, 1500-1800, Oxford 2003. 15 Sloterdijk 2005, S. 38.

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Aufgehen zweier Abgründe beschreiben. In den ersten schaut man mit dem Blick in den Himmel. Was dort seit der Neuzeit zu sehen ist, ist nicht mehr ein, zwar unermessliches, gleichwohl geschlossenes Gewölbe, ein Ganzes namens »Kosmos«, sondern ein end- und »bodenloses Außen«. »Ein zweiter Abgrund«, so Sloterdijk, »tut sich auf in den fremden Kulturen, die nach der ethnologischen Aufklärung jedem demonstrieren, dass anderswo so gut wie alles auch ganz anders sein kann. Was wir für die ewige Ordnung der Dinge hielten, ist nur ein lokaler Immanenzzusammenhang, der uns trägt – verlasse ihn, und du siehst, daß auf dem Chaos völlig anders gebaute Ordnungsflöße schwimmen.«16

»WELTINNENRAUM« Diese zweite historische, Ende des 15. Jahrhunderts von europäischen Orten ausgehende, »terrestrische« Globalisierungs-Bewegung, erfüllt sich erst im Zuge des 20. Jahrhunderts: Mit Krise und Ende des Kolonialismus, sodann mit der »Etablierung des goldbasierten Weltwährungssystems von Bretton Woods im Jahre 1944« und drittens mit der Installierung der sowohl terrestrischen als auch orbitalen, also satellitengestützten Kommunikationsnetze seit den 1960er Jahren.17 Was von nun an, als dritte historische Sequenz von Globalisierung implementiert wird, bezeichnet Sloterdijk mit einem Wort Rilkes als »Weltinnenraum«. Es steht, so Sloterdijk, »für die interieurschaffende Gewalt der zeitgenössischen Verkehrs- und Kommunikationsmedien.«18 Unser Weltbild besteht nun nicht mehr aus der Vorstellung des Globus als einer Sammlung unverrückbarer Standpunkte, von

16 Ebd., S. 50. 17 Ebd., S. 23ff. Siehe zur Frage des Zusammenhangs von Globalisierung und Kommunikationsinfrastrukturen im 19. bis 21. Jahrhundert auch: Hartmann, Frank, Globale Medienkultur. Technik, Geschichte, Theorien, Wien 2006; Winseck, Dwayne R./Pike, Robert M., Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860-1930, Durham, London 2007; Morley, David/Robins, Kevin, Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London, New York 1995. 18 Sloterdijk 2005, S. 308f.

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denen man abreist, und von denen aus anderes entdeckt, erobert, vermessen, kartographiert oder angeeignet wird. Die heutige Globalisierung macht sich als lebensweltliches Raumgefühl vielmehr als ein Netz aus Linien und Knotenpunkten geltend, die ihrerseits flexible Verknüpfungen darstellen, man könnte auch sagen: lose Kopplungen. Die bedeutendsten von ihnen heißen in netzwerk-technologischer Hinsicht »back bones« und in zivilisatorischer Hinsicht »Metropolen«. Mit einem solchen »Weltbild« – der Welt als Netzwerk sich kreuzender Ströme von Menschen, Erfahrungen19, Informationen, Bedeutungen, Werten, Bildern20 und Dingen – mit einem solchen »Weltbild« geht das Wissen und die Erfahrung einher, das niemand von uns ein Entdecker/eine Entdeckerin wird sein können. Denn scheinbar ist alles schon gedacht, gesagt, gewusst. Und auch dort, wo wir körperlich und geographisch neu hinkommen, anlanden, ist jemand anders immer bereits schon gewesen – wir treffen nie als erster/erste ein. Und vice versa – wie sich etwa mit Blick auf 9/11 sagen lässt – bringt der zeitgenössische »Weltinneraum« es mit sich, »daß virtuell jeder Ort auf der umrundbaren Kugel auch aus der größten Ferne durch Transaktionen von Gegenspielern in Mitleidenschaft gezogen werden kann.«21 Damit ist auch angedeutet, dass das, was sich seit dem Beginn dieser fiskalischen und kommunikativ-medialen, mithin »elektronischen Globalisierung« als Vorschein eines gesamten, die Menschen und Zivilisationen des gesamten Globus umfassenden »Weltinnenraums« gibt, in Realität nur einen Bruchteil des Ganzen beinhaltet. Das Wort ›Globalisierung‹ beschreibt lebensweltlich und affirmativ also erst einmal die exklusive Erfahrung der günstigen Nebenwirkungen jenes geteilten, kommunikativen Innenraums. ›Globalisierung‹ als Kommunikation, als Austausch von Wissen, Waren, Daten und Macht mithin, stellt sich vornehmlich als ein, wie Sloterdijk formuliert,

19 Gumbrecht, Hans Ulrich, »Negative Anthropologie der Globalisierung«, in: ders., Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, S. 33-59. 20 Vgl. etwa: Engelbert, Arthur, Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, Bielefeld 2011; Markschies, Christoph/Zachhuber, Johannes, Die Welt als Bild. Interdisziplinäre Beiträge zur Visualität von Weltbildern, Berlin, New York 2008. 21 Sloterdijk 2005, S. 50.

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»Selbstgespräch der Wohlstandszonen« dar.22 In ökonomischer Perspektive ist damit ausgesprochen, dass die Ausdehnung des »Weltinnenraums« seinem »Horizont der vom Geld erschlossenen Zugangschancen zu Orten, Personen, Waren und Daten« entspricht.23 Und dieser monokulturelle Dialog der »Wohlstandszonen« wird in, von und zwischen Metropolen geführt. Dabei ist – ein paar konzentrierte Blicke in die einschlägige Stadtforschungsliteratur zeigen das schnell – umstritten und verschiedenartig definiert, was mit dem Begriff »Metropole« überhaupt gemeint ist. Andere, in der Fachliteratur gebräuchliche Bezeichnungen wie ›Millionenstadt‹, ›Hauptstadt‹, ›Agglomeration‹, ›Ballungsgebiet‹, ›global city‹ oder auch ›Megalopolis‹ überschneiden sich teils mit ›Metropole‹ oder lassen eine konsistente Vorstellung dessen unscharf werden. Das hat zum Teil mit den unterschiedlichen wissenschaftshistorischen Gepflogenheiten der nationalen Stadt- bzw. Metropolenforschung zu tun, liegt aber vor allem darin begründet, dass für einige der etwaig sinnvollen Kriterien die internationalen oder gar globalen Vergleichszahlen in historischer Ausdehnung fehlen. Anders gesagt: Während man sich schnell darüber einig sein kann, dass mit dem Wort ›Metropole‹ ein komplexes Geflecht bezeichnet ist, das aus topographischen, strukturell-physiognomischen, funktionalen, demographischen, historischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Dimensionen besteht, sind nur für wenige urbane Räume dieser Art die entsprechenden empirischen Angaben vorhanden.24 Doch sollen diese wissenschaftsinternen Umstände hier nicht weiter entfaltet bzw. problematisiert werden. Stattdessen sei auf zwei Kriterien hingewiesen, die zwar keine harten Definitionskriterien darstellen, aber als Minimalkonsens der Ermöglichung globaler Vergleichbarkeit urbaner Gegebenheiten dienen können – es handelt sich um die sogenannte demographische und die funktionale Primacy (Dominanz).25 Die demographische Primacy bezeichnet – unter Vorbehalt der historischen Relativität – erstens eine Mindestgröße von 1 Million Einwohnern, bezogen auf zweitens »einen Gesamtraum mit

22 Ebd., S. 306. Vgl. auch Appadurai, Arjun, Fear of Small Numbers. An Essay on the Geography of Anger, Durham 2006. 23 Sloterdijk 2005, S. 308f. 24 Bronger, Dirk, Metropolen, Megastädte, Global Cities. Die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004, S. 31. 25 Ebd.

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einer Mindestdichte von 2000 Einw[ohnern]« pro Quadratkilometer und drittens »eine monozentrische Struktur«.26 Letzteres dient der Abgrenzung zu bloßen Ballungsgebieten, wie etwa dem Ruhrgebiet oder der Randstad Holland, und weist darauf hin, dass die heutigen Metropolen sich in ihrer teils rasanten Bevölkerungsentwicklung von einer ursprünglichen sogenannten Kernstadt ausgeweitet haben hin zu einem Kerngebiet und einer noch weiter gefassten verstädterten Zone. An dem allbekannten Beispiel Paris wird schnell klar, was damit gemeint ist: Die Kernstadt, die von der Île de la Cité in der Mitte bis zum Ring der Periphérique reicht, außen dann die Banlieues, schließlich die Vorstädte, die verwaltungsmäßig längst andere Kennzahlen tragen, aber strukturell und funktional eng mit dem Pariser Kerngebiet verwoben sind. Dieses quantitative Moment der demographischen Primacy ist selbstverständlich nur die halbe Miete – wenn überhaupt. Hinreichend wird die Metropole erst durch das Kriterium der funktionalen Primacy bestimmbar bzw. beschreib- und vergleichbar. Hiermit ist die Dominanz eines urbanen Gefüges gemeint, wie sie sich durch die hegemoniale Stellung bzw. Konzentration und Zentralisierung der ökonomischen, politischen, verwalterischen, sozialen, verkehrstechnischen und kulturellen Aktivitäten für eine Metropole ergibt. Anhand dieser Aktivitäten lässt sich bemessen, wie stark bestimmte Indikatoren (also etwa Kommunikationstechniken oder Verkehrsbewegungen) in der Metropole im Vergleich zum ländlichen Umland oder anderen, kleineren Städten ausgebildet sind. Dabei wird schnell klar – wenngleich zuerst ein wenig kontraintuitiv –, dass die reale Primacy in den Metropolen der sogenannten Dritten Welt bzw. der Entwicklungsländer deutlich höher ist als in jenen der Industrie- bzw. Informationsgesellschaften. So zeigt Bronger27 am Beispiel des Indikators »Telefonanschlüsse«, dass das Verhältnis Mumbais zum Umland bei 6:1 liegt, das von Shanghai immerhin noch bei 4,4:1, das von Paris jedoch lediglich bei 1,1:1. Ein anderes Beispiel wären die hochtechnologisierten und komplex angelegten internationalen Airports. Man findet sie in allen Metropolen der Welt. Was allerdings wiederum die Regionalflughäfen für größere Passagierflugzeuge betrifft, dürfte es etwa für Europa unwahrscheinlich sein einen zu finden, der lediglich

26 Ebd., S. 31. 27 Ebd., S. 359.

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aus einer planierten Landebahn aus Lehm und einer Strohhütte (oder einem Zelt) als Terminal besteht. Dies wiederum ist aber etwa auf den Philippinen durchaus verbreitet (und gilt aber eben nicht für deren Metropole Manila). Man sieht anhand dieser kurzen Charakterisierung, dass Metropolen also nicht nur unerhört hohe Bevölkerungszahlen auf engem Raum aufweisen (demographische Primacy), sondern durch qualitative kulturelle Eigenheiten auffällig werden (funktionale Primacy). »Metropolen sind Orte strukturellen Reichtums an materiellen wie kulturellen Ressourcen. Hier ist auf Grund einer hohen Konzentration von Menschen und Kapital mehr möglich als anderswo«, wie Heinz Reif zusammenfasst.28 Metropolen binden Aufmerksamkeit. In ihnen verdichtet sich kulturelles, ökonomisches und politisches Wissen, das hier produziert, getauscht, umgeschrieben und (im Sinne der spezifischen Leistungsfähigkeiten eines Mediums) übertragen wird. Was so, in intellektueller wie performativer Weise, in der Metropole in Erscheinung tritt, in ihr und aus ihr heraustritt, ist ein emergentes Geflecht von – im klassischen Wortsinn – politischen Anerkennungsprozessen, denen der Status letztgültiger Aushandlung fremd ist.29 Das findet seinen Grund auch darin, dass Metropolen Räume extremer sozialer, ethnischer oder kultureller Diversität sind, oder zumindest sein können. Dazu nochmals Reif: Die Metropole »lebt von der Begegnung und von der Auseinandersetzung mit dem ›Fremden‹, ist deshalb offen für Neues, dezidiert kosmopolitisch ausgerichtet, aber auch bevorzugter Schauplatz von Friktionen und Krisen. »30

Die eingangs mit Sloterdijk ausgelegte Spur der historischen Dimension der Globalisierung, lässt sich nun um das Register der Metropolisierung ergänzen: Mit jeder historischen Globalisierung verbinden sich andere urbane, metropolitane Schwerpunkte mit je eigenen politischen, ökonomischen, technischen und ästhetischen kulturtech-

28 Reif 2006, S. 3. 29 Vgl. Bedorf, Thomas, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010. 30 Reif, Heinz, Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden, CMS Working Paper Series, No. 001-2006, hg. v. Center for Metropolitan Studies, TU Berlin 2006, in: www.metropolitanstudies.de, S. 3 [20.12.2011].

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nischen ›Motoren‹, die ihre Materialität sind oder zumindest prägen (wie etwa Schifffahrt, Industrie, Biopolitik, Information). Für die Antike denkt man wohl zuerst an Athen, Rom, Byzanz, Alexandria, für Renaissance und frühe Neuzeit gelten etwa Venedig, Florenz, Amsterdam als ausschlaggebend, während für das, was Karl Marx den modernen, industrialisierten »Weltmarkt« des 19. Jahrhunderts genannt hat, London, Paris, Berlin, die Ruhrregion, Moskau und Chicago in den Sinn kommen. Ein solches historisch-topographisches mapping ist irgendwie einleuchtend, dabei selbstverständlich hochgradig selektiv, man könnte sagen »eurozentrisch« und zeugt auch insofern von einem klaren »Welt-Bild«. Dabei könnte man unterdessen wissen, dass schon die bis 7000 v. Chr. zurückreichende »Industalkultur« (auf dem heutigen Gebiet Pakistans bzw. Indiens) um 2000 v. Chr. Metropolen ausgebildet hatte, die mit riesigen Kornspeichern, breiten Straßen, Abwassersystemen, Versammlungshallen etc. ausgestattet waren. Oder, ein anderes Beispiel, das chinesische Chang’an (heute: Xi’an) war über 1000 Jahre die Hauptstadt Chinas und soll bereits im achten vorchristlichen Jahrhundert rund 2 Millionen Einwohner gehabt haben – »eine Bevölkerungszahl, die im Zuge der Industrialisierung von London erst zur Mitte des 19. Jh.s erreicht wurde.«31 Rom etwa wird diesen führenden Metropolen-Status erst mit Etablierung des Römischen Reiches gewinnen und etwa London und Paris tauchen erst ab 1700 in der Liste der fünf größten Metropolen der Erde auf.32 Und damit ist übrigens auch eine globale und historische Tendenz angezeigt, die sich um 1800 durchsetzt: Die hegemoniale Stellung asiatischer Metropolen schwächt sich ab und die Megastädte Europas und der »Neuen Welt« rücken demographisch aber auch hinsichtlich der funktionalen Primacy ins Blickfeld.33 Wie dem auch sei – der heutige Stand des Verhältnisses von Globalisierung und Metropolisierung lässt sich mit Dirk Bronger so zusammenfassen: »Bei all den (mittlerweile) zu konstatierenden Gemeinsamkeiten darf der entscheidende Unterschied im Metropolisierungsprozess zwischen Industrie-

31 Bronger 2004, S. 37. 32 Ebd., S. 39. 33 Ebd., S. 40.

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und Entwicklungsländern nicht aus den Augen verloren werden: In den Industrieländern (vornehmlich der westlichen Welt) stand das rasche Wachstum der Metropolen bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts hinein in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Beginn und Fortschreiten der massenhaft Arbeitsplätze schaffenden Industrialisierung einschließlich des später erfolgten Ausbaus der industriellen und öffentlichen Verwaltung […]. Demgegenüber verlief die Metropolisierung in den Entwicklungsländern unter nahezu umgekehrten Vorzeichen: erst in den letzten 30-40 Jahren, im Vorlauf der wirtschaftlichen Entwicklung einsetzend, wurden diese Länder von ihrer Dynamik gleichsam überrollt. Denn die damit verbundenen Probleme, denen sich die Entwicklungsländer gegenübergestellt sahen, traten noch zusätzlich zu denjenigen hinzu, die die Industrieländer größtenteils vor Einsetzen der Metropolisierung bewältigt hatten: politische Stabilität, Unabhängigkeit, relative wirtschaftliche Stärke, befriedigender Lebensstandard sowie eine geordnete und zugleich flexible Sozialstruktur.«34

Was also den Blick auf die heutige Globalisierung angeht, wird eine eigentümliche Spannung von Metropolen divergierender Qualität sichtbar. Zum einen sind da die sogenannten »global cities«35, deren Bedeutsamkeit und »globale Primacy«36 sich mit Durchsetzung der gegenwärtigen Globalisierung seit Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeformt hat. Das sind insbesondere die vier Metropolen Paris, London, New York und Tokyo. Sie haben seit spätestens den 1960er Jahren das topographische Verständnis unserer eigenen Gegenwart in ökonomischer, medialer, politischer und ethnographischer Hinsicht allererst initiiert und im Bild eines sich ausdifferenzierenden globalen Metropolen-Netzes plausibilisiert. Und zu dieser – man könnte sagen – bildgebenden Kraft, gehört allerdings ebenso, dass sie der Dynamik

34 Ebd., S. 54. 35 Vgl. Sassen, Saskia, The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton/NJ. 1991; diess., Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities, übers. v. Bodo Schulze, Frankfurt a.M., New York 1996; Knox, Paul L./Taylor, Peter J. (Hrsg.), World Cities in a world-system, Cambridge 1995; Castells, Manuel, »European Cities, the Informational Society and the Global Economy«, in: New Left Review, 1994, 204, S. 18-32; Bronger 2004. Vgl. auch Sloterdijk 2005, S. 244-246. 36 Bronger 2004, S. 145.

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einer absoluten Zerstreuung und Gleich- bzw. Umverteilung von politischen, ökonomischen und kulturellen Aktivitäten entgegenwirken. Als »global cities« haben diese Metropolen die dominante Funktion der machtvollen Steuerung und Kontrolle der globalisierten, weltweiten (und eben nicht nur nationalen oder kontinentalen) Produktions-, Handels- und Kommunikationsverhältnisse. In ihnen versammeln sich – dies als Indikatoren – die meisten und umsatzstärksten der 500 größten transnationalen Unternehmen, ebenso die Hauptverwaltungen der 500 umsatzstärksten Banken, die größten Börsen, die bedeutendsten internationalen Flughäfen mit dem höchsten Passagieraufkommen (und ggf. Seehäfen mit hohem Umschlag), schließlich sind sie Sitz global bedeutender Institutionen.37 Mit Saskia Sassen lässt sich entsprechend zusammenfassen, dass die »territoriale Streuung der wirtschaftlichen Unternehmungen, wovon die Globalisierung eine Form darstellt, […] das Wachstum zentralisierter Funktionen und Abläufe [fördert]. Hierin ist eine neue Logik zur Agglomeration am Werk und eine wesentliche Bedingung für die erneute Zentralität von Städten in den hochentwickelten Ökonomien zu erkennen.«38

Insofern die genannten Indikatoren in einem Ranking der »global cities« versammelt werden, nehmen New York, Tokyo, Paris, London unangefochten die ersten Plätze ein. Andere Metropolen, die einem als »global city« in den Sinn kommen könnten, wie etwa Sydney, Bangkok, Hong Kong, Frankfurt, Chicago, weisen die Indikatoren entweder nur teilweise oder in stark reduzierter Ausprägung auf.

NEUE METROPOLEN Was also den »Weltinnenraum des Kapitals« (Sloterdijk) angeht, hat es einige Berechtigung, die genannten Metropolen als »Kommandozentralen mit Weltgeltung« oder als »Weltstädte mit Führungsaufgaben« (Bronger) zu definieren.39 Zugleich ist aber wohl der Ein-

37 Vgl. ebd., S. 146. 38 Sassen 1996, S. 161. 39 Vgl. Bronger 2004, S. 147.

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druck zutreffend, dass in die Wahrnehmungs- bzw. Bild-Ordnung dieser Welt, seit einiger Zeit noch andere urbane Agglomerationen eintreten, die globale Auffälligkeit und Aufmerksamkeit hervorrufen, ohne unbedingt die (eingewohnten) Indikatoren der »global cities« nennenswert aufweisen zu können. Da ist zum einen die Gruppe jener Metropolen, deren auffälligstes Charakteristikum das zu sein scheint, was man ihren eigenen biosphärischen Hyperbolismus nennen könnte – also ihre immense bevölkerungsmäßige Größe und Dichte und ihr bislang unausgesetztes Wachstum. Solche sogenannten »Megacities« oder »Megalopolen« stellen unüberschaubare urbane Agglomerationen dar und haben meist weit über zehn Millionen Einwohner – wie etwa Seoul 20, Tokyo 21, São Paulo 23, Buenos Aires 12, Mexico City 24, Cairo 15, Manila 14, Mumbai 19 Millionen Einwohner haben – circa!40 Dass diese Entwicklungsländer-Metropolen ohne Unterlass wachsen und sich ausdehnen, ist bedingt durch ihre extrem ausgebildete funktionale Primacy im nationalen Vergleich. Meist gibt es im gesamten Staatsgebiet keine oder kaum eine andere Metropole, die die entsprechenden ökonomischen, produktiven, kommunikativen und anderen Funktionen mit übernehmen oder ausgleichen könnte. Das ist zugleich einer der Gründe für die Entwicklungshemmung jener Nationen in Hinblick auf den internationalen oder globalen Wettbewerb. Formen politischer Instabilität, ökonomische Unsicher-heiten und globalwirtschaftliche Abhängigkeiten, extreme metropolen-interne und -externe Spannweiten von reich und arm, von Bildung etc. verhindern in den meisten Fällen, dass das Potential der funktionalen Primacy jener MegaMetropolen für die Entwicklung des eigenen Landes oder die Teilhabe an den positiven Innovationen der Globalisierung entwickelt oder genutzt werden können – im Gegenteil.41 Zweitens – also neben dem Phänomen der »Megacities« – gehören zu den Metropolen, die unser eingewohntes, europäisch-nordamerikanisches »Weltbild« der Metropolen und »global cities« irritieren bzw.

40 Vgl. ebd., S. 176; Reif 2006, S. 15. 41 Vgl. Bronger 2004, S. 137ff. Für die USA geben Lang/Knox eine Analyse neuer Entwicklungen von »transmetropolitanen Stadtstrukturen« bzw. der »Konnektivität« von »Megapolitanregionen«: Lang, Robert/Knox, Paul, »The New Metropolis: Rethinking Megalopolis«, in: Regional Studies, 43: 6, 2009, S. 789-802.

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umschreiben solche Städte wie etwa Bagdad, Kabul, Teheran, Tel Aviv, Tanger, Algir, Nairobi, Karatschi, Kairo. Diese (und andere) gehören weder zu den Metropolen klassischen europäisch-nordamerikanischen, modernistischen Zuschnitts, noch haben sie Bedeutung als »global cities« und auch zählen sie in der Regel nicht zur Gruppe der »Megacities«.42 Was an ihnen vorerst frappiert, ist der je nach dem soziale, politische, ethnische und teils religiöse Antagonismus zur europäischnordamerikanischen Metropolitanität. Boris Groys hatte in seinem kulturökonomischen »Versuch« über das Phänomen des Neuen geschrieben, dass die Innovation, das Neue insofern mit dem Bestehenden und Bekannten in Relation steht, als es mit deren »kulturellen Hierarchien und Werten [operiert]. Die Innovation besteht nicht darin, daß etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondern darin, daß der Wert dessen, was man immer schon gesehen und gekannt hat, 43

umgewertet wird.«

Für unseren Zusammenhang heißt das, dass diese »neuen« Metropolen in das politische, ökonomische und ästhetische Funktionieren des globalen Zusammenspiels bisheriger »global cities« und Metropolen auf eine (antagonistische) Weise eingreifen, die es irritiert, ändert, kontinental verschiebt, umwertet. Diese Städte sind insofern Produzentinnen, Akteurinnen und Zeuginnen eines pluri-polaren, eines multi-perspektivischen Bildes der Welt. Sie stehen daher auch nicht außerhalb der Globalisierung oder stellen diese in Frage, sie sind weder das böse noch das gute oder das exotische Andere, sondern sind schlicht zuerst einmal lebensweltliche Materialisierungen, an und in denen sich Effekte der kolonialen und postkolonialen Globalisierung nicht nur abzeichnen, sondern ebenso allererst hervorgerufen werden. In der Form dieser Doppelbewegung tauchen sie seit einiger Zeit in

42 Rechnet man nicht nur das Kerngebiet, sondern die Metropolregion hinzu, müssten bei der hier genannten Auswahl lediglich Karatschi mit über 12 und Teheran mit mehr als 13 Millionen Einwohnern als »Megacities« gelten. 43 Groys, Boris, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992, S. 13f.

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der erzählerischen Literatur und in unserem politischen bzw. kulturellen Bewusstsein auf.

-SCAPES Und vielleicht bedarf es derzeit noch anderer als rein urbanistischer Modelle, um diese »neue«, antagonistische Bildhaftigkeit des Metropolitanen und Globalen zu beschreiben bzw. zu verstehen: Der indoamerikanische Kulturanthropologe Arjun Appadurai hatte schon 1996 vorgeschlagen, den heutigen Globalisierungsprozessen in einem beweglichen, fünf Dimensionen globaler »cultural flows« umfassenden Modell nachzugehen. In Anlehnung an das Suffix -scape (wie etwa in »landscape«) bezeichnet er diese Dimensionen als ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, financescapes und ideoscapes. Diese begriffliche Konnotation mit ›Landschaften‹ zeigt an, dass Ethnien, Medienwirklichkeiten, Technologien, ökonomische Verflechtungen und Ideen bzw. Wissen nicht objektive Gegebenheiten sind, die von jedem Standpunkt aus gleich aussehen, sondern vielmehr zutiefst perspektivische Konstruktionen darstellen, die durch die historische, sprachliche und politische Situiertheit verschiedenartigster Akteure bedingt und geformt sind: »nation-states, multinationals, diasporic communities, as well as subnational groupings and movements (whether religious, political, or economic), and even intimate face-to-face groups, such as villages, neighborhoods, and families. Indeed, the individual actor is the last locus of this perspectival set of landscapes, for these landscapes are eventually navigated by agents who both experience and constitute larger formations, in part from their own sense of what these landscapes offer. These landscapes thus are the building blocks of what […] I would like to call imagined worlds, that is, the multiple worlds that are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe. […] An important fact of the world we live in today is that many persons on the globe live in such imagined worlds (and not just in imagined communities) and thus are able to contest and sometimes even sub-

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vert the imagined worlds of the official mind and of the entrepreneurial mentality that surround them.«44

Es wäre wohl zu voreilig und zu vorlaut, Appadurais Überlegungen als affirmative oder – andersherum – skeptische Erörterung dessen zu verstehen, was sich – hoffnungsvoll verstanden – als neue globale, gestaltende Sozialbewegung einer »Multitude«45 oder – eben dann kritisch verstanden – als neue repressive bzw. informelle Lebensweisen46 in jenem um die antagonistischen Metropolen erweiterten Globalweltbild abzeichnet, abhebt, zu Wort meldet. Vielmehr bieten Appadurais Ausführungen ein Modell, Prozesse und Bewegungen der Globalisierung in ihren Relationen zu beschreiben und nicht nur Personen, sondern mithin auch Technologien, Informationen, Städte etc. und auch etwa (hier insbesondere: literarische) Imaginationen als Akteure zu verstehen, die mit der Asymmetrie ihrer radikalen Ortsverbundenheit in eine antagonistische Spannungsrelation zur globalen Vernetzung treten. Die Weltordnungsvorschläge und -realitäten der Globalisierung sind insofern mehr oder gar anderes als nur politische, ökonomische oder informatorische Ordnungen. Jene Realitäten sind zuvorderst – das zeigen auch die Forschungen zur »Mediengeographie«47 – produktive Weltbilder, in und mit denen – wie eingangs mit Heidegger gesagt – die »Welt als Bild verstanden« wird. Deren imaginärer Anteil ist »something more than a kind of individual faculty, and something other than a mechanism for escaping the real. It’s actually a collective tool for the transformation of the real, for the creation of multiple horizons of possibility. The production of locality is as much a work of the imagination as a work of material social construction. […] Insofar as we’re not merely actors and subjects, we feel the need for some kind of sense of social productivity and

44 Appadurai, Arjun, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Chicago 1996, S. 33. 45 Hardt, Michael/Negri, Antonio, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M., New York 2004. 46 Davis, Mike, Planet der Slums, Berlin 2007. 47 Vgl. nochmals Döring/Thielmann 2009. Und es war Harold A. Innis, der früh den Zusammenhang von Raum, Globalisierung, Macht und Weltbild elaboriert hat: Innis, H. A., Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. v. Karlheinz Barck, Wien, New York 1997.

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collectively whose imagined qualities echo with some sensory qualities. The social group can be very large, but it’s one thing to be in a very large city of which you may know very little directly, and another to say that you’re a citizen of the world, or a netizen – terms which clearly have some partial metaphoric meanings to them, but don’t resolve the human need for linking intimacy with the everyday. That’s why we need some spatialized local, which cannot in the end be tossed away.«48

»IMAGINED WORLDS« Von Sirenen, Schwalben und Attentäterinnen Dieses auf globalisierte Zusammenhänge bezogene Konzept des Imaginären von Appadurai ist nicht allzu weit entfernt von dem, was von Heidegger über das »Weltbild« zu hören war. Und die zeitgenössische frankophone Literatur wiederum hält in den Romanen von Ben Jelloun, Khadra, Clézio, Maalouf, Djebar, Haddad und anderen Reflexionen und Erzählungen bereit, die die Verschiebungen, Wechselwirkungen und widerstreitenden Realitäten jener Dimensionen bzw. -scapes in den ›neuen‹ Metropolen (oder in deren Energiefeld) erfahrbar machen. Da ist – in Ben Jellouns Au Pays49 – der alternde Mohammed, der ein Leben lang in der Metropole Paris bei Renault gearbeitet hat, aber sprachlich und soziokulturell immer ein Fremder geblieben ist und nun – zurückgekehrt in sein marokkanisches Dorf – sehen muss, dass er sich auch hier nicht mehr zurechtfindet und die lange gepflegten Wünsche der familiären Einigkeit fatale Imaginationen waren. Da ist – wiederum bei Ben Jelloun, in Partir50 – geradezu als Gegenläufer zu Mohammed, der junge Azel, der mit seinen Freunden

48 Appaduarai, Arjun, »The Right to Participate in the Work of the Imagination«, in: Brouwer, Joke/Mulder, Arjen/Martz, Laura (Hrsg.), TransUrbanism, Rotterdam 2002, S. 33-47, hier: S. 34f. Vgl. auch: Rantanen, Terhi, The Media and Globalization, London 2005. 49 Ben Jelloun, Tahar, Au pays, Paris 2009 (dt. Zurückkehren, übers. v. Christiane Kayser, Berlin 2010). 50 Ben Jelloun, Tahar, Partir, Paris 2006 (dt. Verlassen, übers. v. Christiane Kayser, Berlin 2008).

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von Tanger aus das spanische Festland anstarrt und sich alsbald, über den Weg der Selbstverleugnung nach Europa aufmacht. Im Prisma zahlreicher anderer Protagonisten (deren knapp vierzig Namen dem Roman die Kapitelüberschriften verleihen) wird deutlich, was der wütende Abbas des Kapitels 22 allegorisch zusammenfasst: Auch wenn man Spanien wie nachbarschaftlich, über die lächerlich schmale Meerenge von 14 Kilometern hinweg sehen kann, oder sogar dort war, liegen doch tausende unüberwindbare Kilometer zwischen Tanger und Tarifa. Da ist – in Yasmina Khadras Les Sirènes de Bagdad51 – der zwischen Bagdad und seinem Heimatdorf Kafr Karam pendelnde junge Mann, der mit amerikanischen Soldaten eine traumatische Erfahrung macht und daraufhin nach und nach islamistisch radikalisiert wird. In Beirut schließlich, wo die Erzählung auch beginnt, soll er, mit einem tödlichen und ansteckenden Virus im Körper, ein Flugzeug Richtung London besteigen – was er letztlich nicht tun wird. Da ist – in Khadras Roman Les hirondelles de Kaboul52 – das durch religiösen Fundamentalismus, körperliche Disziplin und Militarismus geprägte Personengeflecht im von den Taliban beherrschten Kabul der 1990er Jahre. In dieser obszönen Männerherrschaft ist jeder Despotismus denkbar, unvermutet bleibt aber die Verführungskraft hinter/unter dem (Schleier des) Obszönen: Die Vertauschung der Körper in der Deckung bzw. Hülle des Tschadri. Da ist Amin Jaafari, ein arabischer Israeli und Arzt in Tel Aviv, der nicht versteht, wie seine Frau zur Selbstmordattentäterin werden konnte – wiederum bei Mohammed Moulessehoul alias Yasmina Khadra.53 Da ist – in Hubert Haddads Palestine54 – der israelische Grenzsoldat Cham/Nessim, der im Westjordanland und in und um Hebron, dieser unentwirrbaren und vermutlich ältesten urbanen ethno- und ideo-

51 Khadra, Yasmina, Les Sirènes de Bagdad, Paris 2006 (dt. Die Sirenen von Bagdad, übers. v. Regina Keil-Sagave, München 2010). 52 Khadra, Yasmina, Les hirondelles de Kaboul, Paris 2002 (dt. Die Schwalben von Kabul, übers. v. Regina Keil-Sagave, Berlin 2010). 53 Khadra, Yasmina, L’attentat, Paris 2005 (dt. Die Attentäterin, übers. v. Regina Keil-Sagave, München 2010). 54 Haddad, Hubert, Palestine, Paris 2007 (dt. Falastin, übers. v. Katja Meintel, Hamburg 2008).

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scape, eine Entführungsodyssee erlebt, die ihn mehrfacher Identitätswechsel unterwirft. Und so weiter. Und da ist – als vielleicht bedeutendste Protagonistin – selbstverständlich die Sprachlichkeit dieser Erzählungen, die Materialität der Sprache und die Begrifflichkeit der Romane selbst, die sich immer wieder einer Übersetzung ins Französische verweigert, die Kolonialsprache und das monolinguistische Begehren unterbricht, unterläuft, verändert. Diese wenigen Beispiele aus den Romanen mögen ausreichen, um spürbarer zu machen, wie sich die von Appadurai entworfenen scapes in den Erzählungen niederschlagen und ineinander verwirren: Personen, Sprachen, Institutionen (und ihre Repräsentanten), Staaten, ethnische und religiöse Gruppierungen, Familien und so weiter – sie alle pendeln in ihrem eigenen De- und Reterritorialisierungsbegehren zwischen den urbanen Agglomerationen hin und her und tragen insbesondere die topographische Spannung zwischen Dörfern, politischen Zonen und Metropolen aus. Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass sich die Romane in ihren verhandelten Thematiken, dargestellten Motiven, gebauten Erzählungen, sprachlichen Haltungen und Versuchen etc. je klar einer Seite der gängigen Globalisierungs-Dichotomien zuschlagen – also etwa der postkolonialen Kritik an westlich-metropolitanen Identitäten bzw. Subjektivitätsentwürfen, dem sogenannten Lokalen im Widerstand gegen das sogenannte Globale, der Peripherie statt dem Zentrum oder ähnliches. Was den beweglichen und in gewisser Weise offenen Korpus der oben an wenigen Beispielen angedeuteten frankophonen Literatur exemplarisch werden lässt für ein Nachdenken über jene neue ›Metropolitanität‹ Bagdads, Tangers, Kairos etc., ist gerade die unabgeschlossene Pendelbewegung der in ihr verhandelten Persönlichkeiten, Sprachhaltungen, Verhaltensstrategien, Weltanschauungen, kurz: Weltbilder, wie sie sich im Energiefeld der Globalisierung materialisieren. Julia Schütze hat diese Bewegung an zahlreichen Beispielen aus der Literatur nachgezeichnet und sie in den Dimensionen (inter)kultureller »Dezentrierung« und »Rezentrierung« beschrieben. So kann demnach zwar einerseits beobachtet werden, dass in der Literatur »Prozesse der Dezentralisierung« statthaben, »im Sinne einer Infragestellung der Position des Zentrums als homogener kultureller Einheit und seiner Deutungshoheit über historische und gesellschaftliche Ent-

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wicklungen.« Hier erheben »Akteure ihre Stimme […], die bislang ohne politische Macht und Durchsetzungskraft waren und bestehende hierarchische Strukturen in Frage stellen.«55 Ebenso gut – und damit: andererseits – finden sich in dieser Literatur im Spannungsfeld von Globalisierung und Frankophonie »Dimensionen der Rezentrierung«. Das sind literarische Versuche bzw. Strategien, »ehemalige Machtpositionen bzw. Deutungshoheiten zurückzuerlangen und einem dezentrierten, d.h. nicht essentialistisch-homogenen, Identitätsverständnis eine Konzeption von Identität entgegenzustellen, die auf einer Deckungsgleichheit von Territorium, Kultur, Sprache und Identität beruht.«

Das wären dann »Reaktionen auf eine zunehmend interdependente Welt, in der westliche Machtpositionen, Identitäten und kulturelle Wahrnehmungsmuster […] in Frage gestellt werden bzw. ins Wanken geraten.«56 Orte solcher Infragestellungen in den Bewegungsrichtungen beider Dimensionen, sind die hier als ›neue‹ oder ›antagonistische‹ Metropolen genannten Kartographien des Globalen. Und dass es an diesen Orten Bewegungsdimensionen gibt, heißt, dass entweder sich das Geflecht der -scapes Appadurais mal mehr mal weniger intensiv in sie einschreibt – oder gerade aus ihnen allererst heraustritt. Das so in Bewegung zu sehen verhindert, einem gedanklichen Fehler des sogenannten »Glokalen« aufzusitzen, auf den – nochmals – Peter Sloterdijk aufmerksam macht: »Der Irrtum besteht, kurz gesagt, darin, das Lokale und das Globale aufeinander zu beziehen wie den Punkt und das Feld. […] In Wahrheit liegt die Bedeutung von ›lokal‹ in der Wiederbetonung des Asymmetrischen mit all seinen Implikationen. Das ist ein geistiges Ereignis von einiger Tragweite, da sich mit diesem Akzent auf dem Ort eine Sprache für das Nicht-Komprimierte

55 Schütze, Julia, Zwischen Dezentrierung und Rezentrierung. Französische und frankophone Romane im Kontext der Globalisierung, Göttingen 2008, S. 61. 56 Ebd., S. 179. Ebenfalls zur literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen Analyse von Globalisierung, vgl. Schmeling, Manfred/Schmitz-Emans, Monika/Walstra, Kerst (Hrsg.), Literatur im Zeitalter der Globalisierung, Würzburg 2000.

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und Nicht-Abgekürzte ankündigt. Die Betonung des Lokalen macht das Eigenrecht

des

In-sich-Ausgedehnten

geltend,

den

Fortschritten

der

Dekontextualisierung, der Kompression, der Kartierung und Neutralisierung des Raums zum Trotz.«57

Es ist klar, dass diese Betonung der Asymmetrie des Lokalen, des Ortes hier begrüßt wird; fokussiert sie doch nochmals die hier verfolgte Idee, dass die antagonistischen Metropolen und die literarischen Akteure, die in ihren Kraftfeldern auftreten, die eingewohnte »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière), unseres Weltbildes mithin, zu traktieren verstehen. Allerdings – jetzt wieder auf literarischer Ebene gesprochen – muss man auch konzedieren, dass die Metropole als solche nun kaum mehr als Protagonistin der Literatur selbst auftritt. Das Paris Baudelaires, das Dublin von Joyce, das Berlin Döblins, das New York von Dos Passos, das Buenos Aires eines Borges oder das Oslo des frühen Hamsun – die Figuration der Metropole als Akteurin selbst, wie etwa in den genannten modernistischen Literaturen, ist in jenen frankophonen Romanen nicht mehr zugegen.58 »Neu« an den antagonistischen Metropolen scheint zu sein, dass sie disseminieren, sich entfalten und dezentrieren, hinein in Dimensionen subjektiv, ethnisch, medial, politisch und imaginär verschachtelter land-scapes.

LITERATUR Appadurai, Arjun, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Chicago 1996. Appaduarai, Arjun, Fear of Small Numbers. An Essay on the Geography of Anger, Durham 2006. Appadurai, Arjun, »The Right to Participate in the Work of the Imagination«, in: Brouwer, Joke/Mulder, Arjen/Martz, Laura, TransUrbanism, Rotterdam 2002, S. 33-47. Bedorf, Thomas, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010.

57 Sloterdijk 2005, S. 401. 58 Das Beirut in Khadras Les sirènes de Bagdad ist hier wohl eine Ausnahme.

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Ben Jelloun, Tahar, Partir, Paris 2006 (dt. Verlassen, übers. v. Christiane Kayser, Berlin 2008). Ben Jelloun, Tahar, Au pays, Paris 2009 (dt. Zurückkehren, übers. v. Christiane Kayser, Berlin 2010). Boehm, Gottfried, »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11-38. Bronger, Dirk, Metropolen, Megastädte, Global Cities. Die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004. Castells, Manuel, »European Cities, the Informational Society and the Global Economy«, in: New Left Review, 204, 1994, S. 18-32. Davis, Mike, Planet der Slums, Berlin 2007. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan, Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld 2009. Engelbert, Arthur, Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, Bielefeld 2011. Groys, Boris, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992. Gumbrecht, Hans Ulrich, »Negative Anthropologie der Globalisierung«, in: ders., Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, S. 33-59. Gunn, Geoffrey C., First Globalization. The Eurasian Exchange, 1500-1800, Oxford 2003. Günzel, Stephan (Hrsg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009. Haddad, Hubert, Palestine, Paris 2007 (dt. Falastin, übers. v. Katja Meintel, Hamburg 2008). Hardt, Michael/Negri, Antonio, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M., New York, 2004. Hartmann, Frank, Globale Medienkultur. Technik, Geschichte, Theorien, Wien 2006. Heidegger, Martin, »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1963, S. 69-104. Heidegger, Martin, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1988, S. 61-80. Heidegger, Martin, »Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens«, in: ders., Denkerfahrungen, Frankfurt a.M. 1993, S. 135-149. Innis, Harold A., Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. v. Karlheinz Barck, Wien, New York 1997.

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Khadra, Yasmina, Les hirondelles de Kaboul, Paris 2002 (dt. Die Schwalben von Kabul, übers. v. Regina Keil-Sagave, Berlin 2010). Khadra, Yasmina, Les Sirènes de Bagdad, Paris 2006 (dt. Die Sirenen von Bagdad, übers. v. Regina Keil-Sagave, München 2010). Khadra, Yasmina, L’attentat, Paris 2005 (dt. Die Attentäterin, übers. v. Regina Keil-Sagave, München 2010). Knox, Paul L./Taylor, Peter J. (Hrsg.), World Cities in a world-system, Cambridge 1995. Lang, Robert/Knox, Paul, »The New Metropolis: Rethinking Megalopolis«, in: Regional Studies, 43:6, 2009, S. 789-802. Markschies, Christoph/Zachhuber, Johannes, Die Welt als Bild. Interdisziplinäre Beiträge zur Visualität von Weltbildern, Berlin, New York 2008. Morley, David/Robins, Kevin, Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London, New York 1995. Nancy, Jean-Luc, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. Anette Hoffmann, Berlin, Zürich 2003. Rantanen, Terhi, The Media and Globalization, London 2005. Reif, Heinz, Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden, CMS Working Paper Series, No. 001-2006, hg. v. Center for Metropolitan Studies, TU Berlin, in: www.metropolitanstudies.de, 2006. Sassen, Saskia, The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton/NJ 1991. Sassen, Saskia, Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities, übers. v. Bodo Schulze, Frankfurt a.M., New York 1996. Schmeling, Manfred/Schmitz-Emans, Monika/Walstra, Kerst (Hrsg.), Literatur im Zeitalter der Globalisierung, Würzburg 2000. Schütze, Julia, Zwischen Dezentrierung und Rezentrierung. Französische und frankophone Romane im Kontext der Globalisierung, Göttingen 2008. Sloterdijk, Peter, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2005. Winseck, Dwayne R./Pike, Robert M., Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860-1930, Durham, London 2007.

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Internetquelle www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/Weltbilder/de/ Startseite [16.09.2011].

Das Globale und Interkulturelle Eine neue Phase des kulturellen Imperialismus zwischen Widerstand und Systemperspektive JÖRG BERNARDY

W IEDERVERZAUBERUNG DER S TÄDTE Die Soziologie ist wild geworden – so könnte die Diagnose lauten, wenn man sich die neue Soziologie der Städte anschaut, die einer regelrechten Wiederverzauberung der Städte ähnelt. Nicht nur werden Diskurse und Topoi aus der Boulevardpresse aufgegriffen und als wissenschaftlicher Gegenstand ernstgenommen, ebenso wird der Stadt ein Leben eingehaucht, das sich mit der materialistischen Stadtforschung à la Manuel Castells nicht mehr zufrieden gibt. Die Stadt wird nicht nur als zeichenhaftes Medium analysiert, wie es in der Forschung über Stadtbilder und Stadtmythen in Literatur-, Kultur-, Medien und Sozialwissenschaft schon länger üblich ist; die Stadt wird zu einem pulsierenden Kraftfeld mit einer charakteristischen Eigenlogik1, die wie ein

1

»Die Eigenlogik von Städten zu denken ist ein weitreichendes Forschungsprogramm, das nur in vielen verschiedenen Einzel- und Verbundprojekten gelingen kann. Vieles steht noch aus. Zwar gibt es durch vorliegende Studien deutliche Belege für eigenlogische Strukturen (Taylor u.a. 1996; AbuLughod 1999; John/Cole 2000; Lindner/Moser 2006; Berking u.a. 2007 etc.), doch es existieren ohne Zweifel methodisch und thematisch viele noch nicht erprobte Wege, die Eigenlogik von Städten zu denken, einzugrenzen, zu spezifizieren und schließlich immer exakter auf den Begriff zu bringen. Was bislang völlig fehlt, sind Schritte hin zu einer praxeologisch

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lebendiges Wesen auf der Bühne der Städte und Metropolen agiert und sich zu anderen Städten in ein Differenzverhältnis setzt. Das agierende, wiederverzauberte Stadtwesen besitzt eine Persönlichkeit.2 Deren innere Komplexität wird durch nichts Geringeres als durch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten und Diskurse der Bewohner konstituiert. Im Kampf um die Anerkennung als Großstadt spielt neben bestimmten technologischen Modernisierungsstandards der Status von Subkultur und Sexualisierungsformen eine besondere Rolle. »Seit Richard Floridas Veröffentlichungen weiß jeder Bürgermeister«, wie die Stadtsoziologin Martina Löw schreibt, »dass es im Wettbewerb der Städte auf die drei ›Ts‹ ankommt: Technologie, Talent, Toleranz.«3 Nun sind die Literaturstars und Talente der Literaturszene im Vergleich zu anderen Talentzonen nicht mehr unbedingt die wichtigsten in einer Stadt, insbesondere die Musik- und Modeindustrie, Film- und Fernsehstars, aber auch die Architekturszene haben sich erfolgreich in der Talentzone etabliert. Man denke etwa an den Architekturboom der letzten Jahre und an den Museumskult – gibt es zum Beispiel ein literarisches Pendant zum Bilbao-Effekt? Fasst man jedoch den Literaturbetrieb, wie Pierre Bourdieu im Rahmen seiner Untersuchung von Hitparaden und Bestenlisten französischer Intellektueller4, als Gesamtheit von Universitäten, Presse und Verlagswesen, dann stellt er immer noch einen bedeutenden T-Anteil in einer Stadt dar. Historisch betrachtet ist der Literaturbetrieb im Zusammenhang mit dem Städtewesen eine nicht zu unterschätzende Erfolgsgeschichte und eine der kostbarsten Institutionen unserer demokratischen Gesellschaft, denn nicht zuletzt hat sich in der Stadt die Form von Öffentlichkeit entwickelt, die wir heute ›literarische‹, ›intellektuelle‹ oder ›bürgerliche‹ Öffentlichkeit nennen, wobei die Herausbildung einer politischen aus der literarischen Öffentlichkeit der Aufklärung, also aus den ersten Anfängen eines organisierten, modernen Literaturbetriebs erfolgt ist, wie Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlich-

fundierten Typologie.«, in: Löw, Martina, Soziologie der Städte, Frankfurt a.M. 2010, S. 21. 2

Vgl. Florida, Richard, Who’s your city?, New York 2008, S. 187ff.

3

Löw 2010, S. 13.

4

Bourdieu, Pierre, Homo academicus, Frankfurt a.M. 1992, S. 332-349.

D AS GLOBALE UND I NTERKULTURELLE

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keit dargelegt hat.5 Was an der neuen Soziologie der Städte zudem erfrischt, ist ihre Kampfansage an die kulturpessimistische Zeitdiagnose, die Metropolen würden im Zeitalter der Globalisierung in einer sich weltweit installierenden Einheitskultur in der Unterschiedslosigkeit versinken. Wenn aber von Städtekonkurrenz, Persönlichkeit und Eigenlogik die Rede ist, dann sind Städte immer unter beiden Aspekten zu betrachten, unter dem der Homogenisierung und dem der Heterogenisierung.6 Vor diesem Hintergrund ist es beinahe selbstverständlich, dass sich althergebrachte kulturelle Hierarchien und Ordnungen im Universum der Weltstädte verschieben und keine Stadt mehr einen Absolutheitsanspruch stellen kann, der nicht durch andere Orte bedroht oder angefochten werden könnte, wie auch Pascale Casanova die derzeitige Situation der Weltmetropolen für Literatur als eine »phase de transition« beschreibt »où l’on passe d’un univers dominé par Paris à un monde polycentrique et pluraliste où Londres et New York prinicpalement, mais aussi Rome, Barcelone, Francfort… disputent à Paris l’hégémonie littéraire.«7 Im 19. Jahrhundert, so erzählt es der Mythos von Paris und so wird es vielerseits auch anerkannt, war Paris die wohl noch weltweit unumstrittene Stadt der Literatur schlechthin. So weist auch die Literatur des 19. Jahrhunderts unzählige Beispiele für eine literarische Inszenierung der Metropole auf. Nicht zuletzt hat sich etwa Émile Zola mit Nana in Bezug auf die Sexualisierung der Stadt auf unvergessliche Weise in die Geschichte der Literatur eingeschrieben, wie auch die ›wilde‹ Soziologie zur Kenntnis genommen hat.8 Wenn

5

Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, [Neuauflage] Frankfurt a.M. 1990, insbes. S. 69-122. Aber auch ökonomisch und kulturell ist der Literaturbetrieb immer noch ein wichtiger Faktor, man denke nur an die jüngste Debatte um den Suhrkamp-Umzug nach Berlin oder man stelle sich vor, die ›Banque de Paris‹, also der Verlag Gallimard, würde aus Paris wegziehen.

6

Vgl. dazu Löw 2010, S. 14-20 und S. 122-129. Ebenso Gupta, Suman, Globalization and Literature, Cambridge 2009. Auf S. 45 spricht Gupta von »increasing homogeneity« und gleichzeitiger »fragmentation« in Bezug auf die kulturelle Entwicklung in den Weltstädten.

7

Casanova, Pascale, La république mondiale des lettres, Paris 2008, S. 239.

8

Vgl. Löw 2010, S. 204f. Ebenso ist Zolas La Curée in Bezug auf die metaphysische Entsprechung von emotionalem, sexuellem und stimmungshaftem Innenleben zwischen Mensch und Stadt zu erwähnen. Den Pariser

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auch diese Blütezeit von Paris als literarischem Topos und realer ›Capitale littéraire‹ aus heutiger Sicht uneinholbare Vergangenheit zu sein scheint und »das New York der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts das Paris des Sartreschen Existentialismus abgelöst«9 hat, ist damit noch nicht gesagt, dass wir deswegen »Bewohner des Posthistoire«10 sind, die aller Liebesblicke auf eine bestimmte Stadt enthoben sind. In Erinnerung an Heinrich Heine, Baudelaire und Benjamin kommt Karl-Heinz Bohrer so zu dem Schluss, dass »dieses langsame Verschwinden des Bildes einer favorisierten Stadt […] das Verschwinden der Metropole überhaupt«11 sei. Die »Auflösung der großen Bilder der Stadt als auch eine tatsächliche Auflösung der Urbs als Common sense seiner Bürger und als privilegierter Lebensort« bedeuten für Bohrer, auf Paris bezogen, »die endgültige Annihilation eines Phantasmas, das zweihundert Jahre währte.«12 Eine pathosgeladene Trauer über den Verlust vergangener Größe und Einzigartigkeit mag gute Gründe haben und dennoch die Sicht auf die gegenwärtige Konstellation verschleiern, denn zunächst hat Paris als glanzvolle Kulturund Literaturmetropole nur ihren Absolutheitsanspruch aufgeben müssen und steht nunmehr vor der Herausforderung, sich in der Auseinandersetzung mit anderen Städten und Metropolen seinen kulturellen Marktwert zu verteidigen und zu erneuern. Es gilt nicht mehr die Devise ›Paris oder nirgendwo‹, sondern die Universalität eines spezifischen Ortes ist durch eine Pluralität ersetzt worden, die verschiedene und durchaus favorisierte Liebesblicke auf mehrere Städte gleichzeitig zulässt, ja in einer globalisierten Welt sogar provoziert. Zudem hat der Pariser Literaturbetrieb nicht nur beachtliche Konkurrenz aus New York, London, Rom, Frankfurt und Berlin bekommen, ebenso scheinen bestimmte Entwicklungen des 20. Jahrhunderts innerhalb der frankophonen Literatur auf eine konfliktreiche Distanz zu Paris und eine allgemeine Emanzipierung von der Kultur und der Symbolmacht des französischen Mutterlandes hinzuweisen. Konkurrenz um hege-

Literaturbetrieb hat vor allem Maupassant in seinem Roman Bel Ami auf sehr kritische Weise thematisiert. 9

Bohrer, Karl Heinz, Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne, München 2007, S. 214.

10 Ebd. 11 Ebd., S. 215. 12 Ebd.

D AS GLOBALE UND I NTERKULTURELLE

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moniale Vorherrschaft in der Frage nach Produktion von Literatur und Prestige im Literaturbetrieb erleidet Paris innerhalb und außerhalb der Frankophonie.

KULTURKAMPF IN DER LITERATUR DER FRANKOPHONIE? Exkurs zur antillanischen Intervention in die französische Literatur am Beispiel von Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant Wenn man die Geschichte der französisch-karibischen Literatur von den Reisetagebüchern und der Reiseliteratur aus dem 16. Jahrhundert über den Topos des Fremden und Exotischen, die Diskurse des Kolonialismus und Postkolonialismus bis hin zu den Begriffen des Interkulturellen, Hybriden und Globalen verfolgt, ist man versucht, eine Art strukturelle Genese zu entdecken. Eine solche spezifische Dimension der genetischen Standortfrage zeigt Wolfgang Baders periphere Literaturgeschichte13 auf, in welcher er versucht, die Literaturgeschichte der Antillen im Horizont von Zentrum und Peripherie theoretisch zu erfassen. »Die französischen Karibik-Départements Martinique, Guadeloupe und Guyane leiden heute an einer Geschichte, die für die Mehrheit der Bevölkerung immer eine Geschichte des Leidens gewesen ist.«14 Mit diesen Worten leitet Wolfgang Bader seinen Aufsatz ein, in dem er die Intention verfolgt, seine »Darstellung karibischer Literaturgeschichte am literaturhistorischen Selbstbewusstsein der karibischen Autoren selbst«15 zu orientieren. In einer solchen Herangehensweise ist freilich eine Geste zu sehen, welche sich bewusst von der vereinnahmenden und monopolisierenden Kolonial- und Diskurspolitik Europas distanzieren möchte: einer Struktur von politisch-ökonomischer Unterdrückung, Gewalt und Versklavung, die sich auch auf der Ebene von Literatur, Moral- und Naturgeschichte von den ersten Reisenotizen französischer Missionare bis hin zu monopolisierenden

13 Bader, Wolfgang, »Martinique, Guadeloupe, Guyane: eine periphere Literaturgeschichte.«, in: Französisch heute (17), 1986, S. 182-201. 14 Ebd., S. 182. 15 Ebd., S. 183.

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Tendenzen des 20. Jahrhunderts erstreckt hat: »Jede neue Benennungsarbeit – erst im 20. Jahrhundert kommt es zu einer solchen – muss sich quasi kannibalistisch durch den bestehenden ›Besatzungs-Diskurs‹ hindurch-beißen.«16 Bader möchte demnach die Literaturgeschichte der Antillen von innen heraus verstehen und erkennt dabei in Anlehnung an Frantz Fanon drei Phasen der literarisch-historischen Entwicklung an, die er mit den »verbegrifflichten Personenkoordinaten des Shakespeare-Stückes The Tempest (1610/1611)«17 zu erfassen sucht. Der weiße Kolonialherr Prospero, der assimilierte Kolonisierte Ariel und der rebellierende Caliban stellen jeweils drei verschiedene Entwicklungsphasen innerhalb der karibischen Literatur dar, so dass die karibischen Autoren sich nach der Phase der weltanschaulichen und literarischen Assimilation gegen dieselbe auflehnen, um sich schließlich ausgehend vom konkreten Ort (Peripherie) ein eigenes Zentrum karibischer Literatur zu schaffen. Um die Dynamik einer solchen Beziehung zwischen zentraler und peripherer Literatur zu charakterisieren, greift Bader auf die Hegelschen Denkfiguren von Herrschaft und Knechtschaft zurück. Dass es angesichts dieser Vermengung von historischer Kolonialisierung und literarischer Produktion im zeitgenössischen Antillendiskurs vor allem um das Ausloten und Bestimmen von Identität geht, verwundert daher nur wenig. Das vielleicht bekannteste Manifest zur französisch-karibischen Identität im literaturwissenschaftlichen Bereich ist die »Éloge de la Créolité« (1989) von den Autoren Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant, die im Jahr 1988 während einer Konferenz in Saint-Denis entstanden ist. Hierin versuchen die drei Autoren die verschiedenen literarischen Phasen und Entwicklungsschritte in einer historischen Retrospektive nachzuzeichnen, um darauf aufbauend, die aktuelle Lage und Situation des Kreolischen, d.h. der kreolischen Kultur, Sprache und Literatur zu bestimmen. Im Prolog versprechen sie eine ›nouvelle vision‹ von Literatur, die das veraltete Konzept kreolischer Literatur erneuern und von seiner ›extériorité‹ befreien soll. In ihrer Suche nach einer neuen inneren Vision der ›créolité‹, die vor allem eine ›acception de soi‹ impliziert, unter-

16 Ebd., S. 187. 17 Ebd., S. 182.

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suchen sie die verschiedenen Literaturtypen18, ebenso wie die Konzeptionen von der ›négritude‹ und ›antillanité‹. Die ›créolité‹ soll nicht als ein nationalistisches Konzept verstanden werden, sondern als eine föderale, dynamische Einheit, die sich ihrer unterschiedlichen kulturellen Wurzeln bewusst ist, sich in dieser Hinsicht dem Begriff der ›diversalité‹ verpflichtet fühlt und sich entschieden von den naiven universalistischen Werten des Okzidents abgrenzen soll. In Folge der Kritik von Édouard Glissant, der den Begriff der ›créolisation‹ (Kreolisierung) anstelle der ›créolité‹ vorschlägt, übernehmen Chamoiseau und Confiant diesen Begriff der Kreolisierung, der die aktuelle sowie zukünftige Identität des Kreolischen vor allem als einen globalen Prozess begreifen soll.19 Als wesentliches Merkmal der frankokaribischen Literatur stellt Ralph Ludwig einerseits deren Bedeutung für die Identitäts- und Erinnerungsarbeit heraus, wobei er sich auf die Begriffe des kulturellen (kollektiven) sowie des kommunikativen (individuellen) Gedächtnisses beruft. Andererseits steht bei der Formierung der Créolité der mit der kreolischen Literaturbewegung eng verbundene Aspekt der Revolte und Auflehnung gegen die französische Sprach-, Kultur- und Literaturnorm im Zentrum der Analyse. So beschreibt Raphaël Confiant beispielsweise die sprachliche Position der kreolischen Autoren folgendermaßen: »Nous n’avons plus peur […] d’habiter la langue française de manière créole.«20 So kann man sagen, dass die Erzählart der antillanischen Autoren von der klassischen Narrativität (französisch-)europäischer Traditionen abweicht. Der kreolische Conteur dient beispielsweise als Modell für die von Confiant und Chamoiseau angestrebte kreolische Rhetorik: »[D]essen Erzähltechnik haftet ein opakes Element an, Raum und Zeit werden in einer nichtlinearen Wiese behandelt.«21 In dieser Hinsicht kann die kreolische Literatur, sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher und ästhetischer Ebene, als eine

18 Unterschieden wird beispielsweise zwischen den historischen Bezeichnungen einer ›littérature béké‹, welche die Literatur der Weißen bezeichnet, und der ›littérature doudou‹, der Literatur der Schwarzen. 19 Diese Ansicht bekräftigen die beiden Autoren 1994 in einem TV-Interview auf Arte. 20 Ludwig, Ralph, Frankokaribische Literatur. Eine Einführung, Tübingen 2008, S. 146. 21 Ebd., S. 149.

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Form der ›résistance‹ angesehen werden.22 Jedoch verschwinden die westliche bzw. (französisch-)europäische Tradition und Kultur bei den beiden Autoren Confiant und Chamoiseau keineswegs aus dem Diskurs. Sie werden weder negiert noch ausgeklammert, vielmehr wird explizit eine Auseinandersetzung und Kritik mit der ehemaligen Zentrumskultur gerade in der Darstellung der eigenen Kulturräume angestrebt, wenn beispielsweise der erfolglose Schriftsteller Amédée in Le nègre et l’amiral den französischen Intellektuellen Denis Diderot zum Vorbild hat und die Personen Breton und Lévy-Strauss in der Peripherie des Romans als dekadente Alt-Europäer auftauchen. Während Patrick Chamoiseau in seinem Roman Solibo Magnifique (1988) das Problem der tradierten Überlieferung, den Konflikt zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition in der Gestalt des verstorbenen Erzählers Solibo thematisiert, wählt Raphaël Confiant in seinem Roman Le nègre et l’amiral (1988) eine konkrete »historische Schlüsselsituation«23 als Erzählkontext: die Insel Martinique in der Zeit des Zweiten Weltkrieges unter dem Vichy-Regime.24 Sowohl Confiant als auch Chamoiseau wollen die Mündlichkeit sowie die kreolische Sprache nicht einfach unreflektiert transkribieren, sondern es geht ihnen um eine schriftliche Synthese der Mündlichkeit, die auf diese Weise vor dem Verschwinden im kulturellen Gedächtnis gerettet werden soll. Die einzelnen Personen in den Romanen, wie etwa Solibo bei Chamoiseau und Amédée bei Confiant, stehen oftmals exemplarisch für den Konflikt zwischen analytischer Schriftlichkeit und mythisch-mündlichem Gedächtnis (Solibo) oder tragen den Konflikt auf andere Weise in ihrem Leben aus (Amédée). Bei Confiant nimmt in diesem Zusammenhang die Erotik eine besondere Stellung ein, die

22 Vgl. Scharfman, Ronnie, »Créolité is/as resistance. Confiant’s Le Négre et l’Amiral«, in: Condé, Maryse/Cottonet-Hage, Madeleine (Hrsg.), Penser la Créolité, Paris 1995, S. 125-134. 23 Ludwig 2008, S. 147. 24 Sowohl die Auslagerung des Blicks von Europa hin zu einer karibischen Insel, die dennoch von direkten Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs betroffen war, als auch die dadurch entstehende andersartige Sichtweise auf die Relevanz Europas und die mit ihr verbundene Problematik des Zweiten Weltkriegs durchkreuzen europäisch geprägte historische Perspektiven und Erzählweisen.

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»immer als Symbol für die Fusion von Ich und mündlicher Gesellschaft, von alltäglichem kommunikativem Gedächtnis [steht]; sie repräsentiert die Mündlichkeit in der Schriftlichkeit, hier das Kreol in den Aufzeichnungen von Amédée Mauville.«25

Die Souveränität und Autonomie der antillanischen Erzähler verrät genau an den Stellen ihre Stärke, in denen sie keine Zentrumskritik, sondern Selbstkritik übt. Die Figur Amédées ist für unseren Kontext von besonderem Interesse, da sein Scheitern als Schriftsteller erstens eine genuine Kritik der antillanischen Kultur darstellt, und zweitens die Relevanz der städtischen Kultur für die Entwicklung einer Schrift- und Literaturkultur zum Thema hat. Zur Situation: Der angehende Schriftsteller Amédée Mauville leidet unter dem konfliktreichen Spannung zwischen der Béké-Literatur – die ein eigenes Publikum und eine eigene literarische Öffentlichkeit entwickelt haben – und seiner visionären (utopischen) Idee einer echten Literatur, die aus dem antillanischen Volk zu dem antillanischen Volk schreiben soll. Nach meiner (zugegebenermaßen zugespitzten) Analyse gibt es insgesamt drei Ebenen des Scheiterns: Erstens scheitert Amédée auf der persönlichen bzw. privaten Ebene, denn er verlässt sein altes, soziales Milieu, und vertraut auf die Liebe zu Philomène, seiner ›négresse féerique‹, eine Beziehung, die letztlich nicht halten wird (1. Ebene). Sehr eng verbunden damit ist die zweite Ebene, nämlich die künstlerisch-intellektuelle. Sein Vorhaben, ein Werk hervorzubringen, das sich nicht an den europäischen Vorbildern orientiert, sondern aus dem kulturellen ›Schoß‹ und ›Kern‹ der antillanischen Kultur entspringt, scheitert und wird nicht verwirklicht (2. Ebene). (Auch dies ist mit Sicherheit eine Ursache für den Freitod, den Amédée letztlich wählen wird.) Das ›städtische‹ Milieu, das er bräuchte, steht ihm nicht zur Verfügung, daher muss ihm das von ihm gewählte Milieu als vermeintlicher Kern der antillanischen Kultur zum Verhängnis werden. In diesem Zusammenhang ist die eher beiläufige Figur des André Breton sehr interessant, der feststellt, dass das Projekt des Surrealismus im dekadenten Europa nur deshalb als ›intellektuelles Spiel‹ funktionieren kann, weil die Befriedigung der materiellen Be-

25 Ebd., S. 148.

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dürfnisse weitestgehend gesichert und abgedeckt ist.26 Was unserem tragischen Schriftsteller Amédée zur Literaturproduktion zu fehlen scheint und ihn letztlich in den Selbstmord treiben wird, ist eine institutionalisierte Stadt- und Schriftkultur, welche literarische und philosophische Salons organisiert und eine Vielfalt an künstlerischen Szenen und Subkulturen – und damit auch ein literarisches Publikum – produziert. Die materiell wohlhabende Stadt Metropole ist hierfür immer schon der Schmelz- und Siedepunkt gewesen. Auf diese Weise ist das persönliche und künstlerische Scheitern in dem Roman sehr gut dargestellt und verständlich. Jedoch wird damit implizit zugleich in Frage gestellt, ob das gesamte Projekt einer antillanischen Literatur – unter der Bedingung, dass sie aus dem Milieu entspringen soll, das in dem Roman als ›eigentliche‹ antillanische Kultur dargestellt wird – als Ganzes überhaupt möglich ist. Sagen wir also, dass jenes Milieu, das in dem Roman beschrieben wird, die wahre Kultur der Antillen ist, dann wäre drittens das Projekt einer antillanischen Literatur gescheitert (3. Ebene). Diese Perspektive des Scheiterns wird dadurch bekräftigt, dass die ursprüngliche antillanische Kultur nicht nur eine Schriftkultur, sondern eben auch primär orale Formen der Tradierung und Erzählung pflegte, so dass man hier von einem kulturellen Scheitern sprechen könnte, das mit dem persönlichen Scheitern Amédées auf einer Metaebene verflochten ist.27

26 Vgl. Confiant, Raphaël, Le Nègre et l’Amiral, Paris 1988, S. 130ff. Hier wird also die entlarvende These aufgestellt, dass die Bedingung der Möglichkeit von Institutionalisierung intellektueller Literatur und Lyrik in einer Kultur die materielle Sicherheit der Einzelnen voraussetzt. Der Überfluss des Konsums in Europa erzeugt also auf der einen Seite (nach Breton) Dekadenz, auf der anderen Seite ist er aber auch die Bedingung für das Aufkommen einer abgehobenen und realitätsfernen Literatur und Lyrik, welche mehr einem intellektuellen Spiel ohne ›Substanz‹ als wahrer Kunst ähnelt. 27 Es ist daran zu erinnern, dass diese Situation nicht mit der realen Situation der karibischen Literatur übereinstimmt. Hinzuweisen ist hier vor allem auf die Archipel-Struktur, die die Antillen als vorbildliches Laboratorium der Menschheit erscheinen lässt, das nach Aussagen der Autoren schon vor der Kolonialisierung über eigene wunderbar funktionierende Kommunikationsformen in Literatur, Musik und Kultur im Allgemeinen verfügte.

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Affirmative Selbstkritik und selbstkritische Assimilation als Zeichen einer neuen Phase des kulturellen Imperialismus Dennoch gilt es an dieser Autonomie und ästhetischen Widerstandsrhetorik zu zweifeln, sofern es gute Gründe gibt, die antillanische Literatur, mithin die gesamte Literatur aus der Sicht des Zentrums, aus der Systemperspektive zu betrachten. Was nämlich in Baders experimentellem Denkmodell ausgeblendet wird, ist die Tatsache, dass sich nicht nur der rebellierende Knecht verändert, sondern ebenso der Herr, dessen Tätigkeit sich nicht in der schlichten Anerkennung von Caliban erschöpft. Der Pariser Literaturbetrieb und die französischen Intellektuellen bleiben nicht einfach untätig und schauen den Veranstaltungen und Manifesten der antillanischen Autoren bereitwillig zu. Die Aufmerksamkeit ist hart erkämpft und muss bestimmte Stationen der Zentrumsperspektive durchlaufen, damit sie in allgemeine Anerkennung umschlägt. In diesem Sinne ist Homi Bhabha vollkommen beizupflichten, wenn er schreibt: »Nein, es kann keine Versöhnung, keine hegelianische Anerkennung, keine simple, sentimentale Verheißung einer humanistischen ›Welt des Du‹ geben.«28 Nicht nur die antillanische Literatur verändert sich in den Gestalten von Prospero, Ariel und Caliban, auch die eigene Literaturgeschichte gerät in einen transformativen Prozess. So wird das Fremde beispielsweise integriert und bewusst in die eigene Produktion aufgenommen, sowohl in der Form als auch in Bezug auf die Herkunft der eigenen Autoren. Ebenso wird die Deutungshoheit über das emanzipierte Literaturzentrum nicht einfach aufgegeben, vielmehr werden neue und subtilere Strategien entwickelt, die das eigene symbolische Kapital verstärken und kulturelle Deutungsmacht gewinnen wollen. Das Globale und Interkulturelle dient dabei, so die These, nicht nur der Bereicherung der künstlerischen Artikulationsform, sondern fungiert ebenso als Strategie und Legitimationsmittel der eigenen Produktion im Wettbewerb mit den neu aufkommenden Metropolen, Räumen und Literaturstandorten. Im Jahr

Vgl. zur Archipel-Struktur Ette, Ottmar, Literatur in Bewegung, Weilerswist 2001, S. 461ff. 28 Bhabha, Homi, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 91.

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1978 stellt Michel Foucault der europäischen Philosophie bei einem Besuch in Japan folgende Diagnose: »Das europäische Denken befindet sich in der Tat an einem Wendepunkt. Dieser Wendepunkt ist auf der Ebene der Geschichte nichts anderes als das Ende des Imperialismus. Diese Krise hat keinen Philosophen hervorgebracht, der sich dadurch auszeichnet, dass er sie selbst darstellt. Denn das sich in der Krise befindliche abendländische Denken drückt sich in Diskursen aus, die sehr interessant sein können, die jedoch weder spezifisch noch außergewöhnlich sind. Es gibt keinen Philosophen, der diese Epoche markiert. Denn es ist das Ende der abendländischen Philosophie. Wenn es also eine Philosophie der Zukunft gibt, dann muss sie außerhalb Europas entstehen, oder sie muss als Folge von Begegnungen und Erschütterungen zwischen Europa und Nicht-Europa entstehen.«29

Aus heutiger Sicht gibt es mehrere Gründe, der von Foucault gestellten Diagnose zu misstrauen. Zunächst hat uns die Geschichte gelehrt, dass das europäische Denken zwar wirklich nicht mehr ausschließlich den Ton in der abendländischen Philosophie angibt, jedoch ist die dominierende Strömung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus innovativ gewirkt hat, die analytische Philosophie, allem voran aus den USA, England und Australien.30 Die große Philosophie der Gegenwart ist zwar streng genommen außerhalb Europas entstanden, jedoch nicht im radikalen Nicht-Europa Asiens, das Foucault vor Augen hatte. Auch hier gibt es beachtliche Entwicklungen, die jedoch eher gut organisierte und geförderte Begegnungen als Erschütterungen darstellen. Die interkulturelle Philosophie hat sich mittlerweile an einigen Standorten Europas als eigene philosophische Disziplin etabliert, ist jedoch

29 Foucault, Michel, »Michel Foucault und das Zen: ein Aufenthalt in einem Zen-Tempel (Gespräch)«, in: ders., Dits et Écrits. Schriften (Band 3), hg. v. Daniel Defert, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 2003, S. 780. 30 Zumindest behauptet dies der derzeitige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil), Prof. Nida-Rümelin, wie etwa wieder jüngst in einem Interview für das fiph Journal (Bohlken, Eike, »Philosophisches Interview: Julian Nida-Rümelin«, in fiph Journal 17, Harsum: Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, April 2011, S. 5. verfügbar unter:

http://www.fiph.de/veroeffentlichungen/journale/FIPH-Journal-

2011-Fruehjahr.pdf [15.08.2011]).

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weit davon entfernt, einen bestimmenden Einfluss zu nehmen. Der rege Austausch und Rednertransfer zwischen Europa und Asien gleicht eher einem akademisch-kapitalistischen Touristikverkehr, der den gesamten Wissenschaftsbetrieb erfasst hat, als einem Kampfplatz voller Erschütterungen und konfliktreichen Begegnungen. Des Weiteren hat sich Foucault selbst als ambivalenter Denker und Philosoph ausgezeichnet (und zeichnet sich immer noch ein solcher aus), der die gegenwärtige Epoche markiert, indem er politische, religiöse und kulturelle Dispositive analysiert und kritisiert hat. Insbesondere seine Studien zur Gouvernementalität haben Forscher sowie Kritiker polarisiert, da die einen in Foucault einen (kritischen) Theoretiker, die anderen in ihm einen Vertreter neoliberaler Machtausübung sehen.31 Während es wohl absolut unangemessen und falsch wäre, Foucault als Fürsprecher der vorherrschenden Machtideologie zu betrachten, ist es dennoch bezeichnend für sein Denken, dass es sich zwischen den beiden Polen Affirmation und Kritik bewegt.32 Insbesondere Judith Butler würdigt

31 In der Tat hat sich Foucault eher selten explizit auf kritische Weise zum neoliberalen Regime geäußert. Dennoch ist der Vorwurf, er habe sich für das System des Neoliberalismus ausgesprochen, absurd, da Foucault vor allem als Theoretiker und Beschreibender die Funktionsweise und dispositiven Mechanismen analysieren wollte. Insbesondere Thomas Lemke hält hier eine moderate Position ein, in der er Foucault weder als Kritiker, noch als Befürworter denunziert. Für Lemke ist Foucault vor allem ein Theoretiker des Neoliberalismus, der politische Philosophie und genealogische Geschichtsschreibung zusammengeführt hat. Vgl. Lemke, Thomas, Biopolitik zur Einführung, Hamburg 2007. Ebenso ders., Eine Kritik der politischen Vernunft, Hamburg 1997. 32 Den Gedanken der Affirmation entwickelt Foucault bereits in seiner frühen Schriften zur Literatur, etwa in seiner Auseinandersetzung mit Bataille, Blanchot und Pleynet. Vgl. hierzu Foucault, Michel, Schriften zur Literatur, hg. v. Daniel Defert, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 2003, insbesondere die Aufsätze »Vorrede zur Überschreitung« und »Das Denken des Außen«. Aber auch in seinem berühmten Aufsatz »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« lässt sich eine Fortführung sowie Transformation des Gedankens der Affirmation feststellen, der fundamental für das Denken Foucaults zu sein scheint. Die Schriften zur Gouvernementalität dürfen insofern nicht ohne ein Verständnis der frühen Texte gelesen werden.

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Foucaults kritisches Denken denn auch als dessen Tugend.33 Affirmation, so könnte man Foucaults Schriften lesen, ist der Weg zur Subversion. Es ist demnach vielleicht sogar Foucaults eigene Macht- und Selbstkritik der abendländischen Rationalität, die eine neue Phase des Imperialismus markiert. Das in den 1970er und 1980er Jahren diagnostizierte Ende des Imperialismus ist in der Tat der Anfang einer neuen Phase des kulturellen Imperialismus, in welchem Selbstkritik und Übersteigung des eigenen Horizonts zu den Idealen des Denkens gehören. Anders ausgedrückt heißt Foucaults Ende des Imperialismus: Das Imperium schlägt zurück – und dies mit den Mitteln der Marginalisierten und Ausgegrenzten durch Aneignung des Diskurses über die Verdammten. Das Inter-kulturelle und Andere in der Philosophie, das Hybride und Andere des postkolonialen Denkens und das Globale im übergreifenden Diskurs der Gegenwart fungieren dabei als aufmerksamkeitsökonomisches Kapital in Literatur, Populärkultur und Wissenschaft.34 Was Kien Nghi Ha für die Hybridität als warenförmige Dominante in der Populärkultur herausgearbeitet hat35, gilt in ähnlicher Weise für das Globale, Hybride und Interkulturelle im wissenschaftlichen und hochkulturellen Diskurs. So stellen Interkulturalität bzw. Transkulturalität seit einiger Zeit einen neuen Topos für philosophische Forschung und Aufmerksamkeitsattraktion dar, innerhalb dessen auch neue Lesarten geschaffen werden.36 Mit ihren diversen Vorformen (des

33 Butler, Judith, »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hrsg.), Was ist Kritik?, Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246. 34 Vgl. hierzu den interessanten Beitrag von Byung-Chul Han, der diese Tendenz globalisierte Kulturräume und Kulturbegriffe auch unter Hyperkulturalität zusammenfasst und auf einer solchen Metaebene über die Möglichkeiten von Inter-, Multi- und Transkulturalität reflektiert. Han, ByungChal, Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005. 35 Ha, Kien Nghi, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005. 36 Bemerkenswert ist hier vielleicht die Reihe Interkulturelle Bibliothek im Traugott Bautz Verlag, in der nun bereits über 130 Titel zur Philosophie erschienen sind, darunter oftmals europäische Philosophen, die in interkultureller Hinsicht gelesen und neu interpretiert werden. Das größte Problem besteht aber wohl darin, dass es ebenso viele Methoden und Sichtwei-

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Exotischen, Anderen und Fremden) vom Exotismus bis zum postmodernen und postkolonialen Denken tut sich hier freilich ein nur schwer überschaubares Diskursgeflecht auf. Eine sinnvolle Herangehensweise an eine solche These ist also nur diejenige, die anhand konkreter Beispiele die einzelnen Funktionen und Ebenen eines vermeintlichen kulturellen Imperialismus ausdifferen-ziert. Wesentlich ist dabei die Unterscheidung zwischen einer mikro-ökonomischen Autor-, Werk- und Einzelperspektive und einer glo-balen oder makroökonomischen Systemperspektive. Nur vor einem solchen Hintergrund der Unterscheidung sind die entgegengesetzten Thesen von Pascale Casanova und Ottmar Ette zu verstehen.

ZWEI BEISPIELE FÜR DAS INTERKULTURELLE UND GLOBALE IM FRANZÖSISCHSPRACHIGEN LITERATURBETRIEB Es sollen nun zwei konkrete Beispiele für jüngere Zeichen und Entwicklungen des ›Interkulturellen‹ und ›Globalen‹ im literarischen Diskurs kurz vorgestellt werden. In der Populärkultur hat sich ÉricEmmanuel Schmitt mit seinem Kurzroman M. Ibrahim et les fleurs du Coran als Prototyp für das Interkulturelle als Kapital im Literaturbetrieb durchgesetzt. Neben Plagiatsvorwürfen wurde insbesondere Kritik daran geübt, dass er in der Beschreibung jüdischer und arabischer Identitäten längst überholte und teils rassistische Stereotype bedient habe. Die Utopie von einer Versöhnung der Kulturen und Religionen im kosmopolitischen Licht der Metropole Paris hat dennoch bis zum Kassenschlager im Kino als Publikumsliebling ihre Erfolge gefeiert, wurde sogar als Standardlektüre in der Sekundarstufe im deutschen Schulwesen eingeführt.37 Aber auch in der Hochkultur hat Le Clézio neue Maßstäbe für die Globalisierungsliteratur als Kapital im Litera-

sen von Interkulturalität bzw. interkulturellem Auslegen gibt wie Autoren zu diesem Thema. 37 Interessant für den Metropolenkontext ist hier auch, dass Schmitt selbst in der Metropole Brüssel lebt, die manchmal als 2.-Klasse-Bühne für diejenigen Schriftsteller gilt, die in Paris gescheitert sind. Dennoch kann er mehr Aufmerksamkeit und Publikum gewinnen als jeder Roman aus der Antillenperipherie.

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turbetrieb gesetzt. Dabei gilt Le Clézio meiner Meinung nach deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil er ein neues Paradigma in der Weltliteratur markiert, das die Diskurse der Postmoderne und des Postkolonialismus längst hinter sich gelassen hat. Steht doch sein bisheriges Gesamtwerk als Prototyp und Inbegriff für das Globale schlechthin, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zunächst deckt er drei Weltorte ab, die für jeweils drei großen Schaffensphasen stehen: Mauritius, Afrika und Mexiko. Zugleich hat er die frankophone Welt hinter sich gelassen und so spielen auch Thailand und Indien eine wichtige Rolle. Der Metropolitain Le Clézio gibt sich mit den Grenzen der Frankophonie nicht zufrieden. Trotz Globalisierungskritik hat er die ganze Welt und den Nobelpreis erobert und ist damit gerade für die angelsächsische Welt zu einem Ärgernis geworden. Kein Wunder also, dass man die verbitterte Frage stellte: »Can France really claim him?«38 Nicht nur Le Clézios Auszeichnung hat gezeigt, dass es verschiedene Preisklassen zwischen metropolitaner und peripherer Literatur gibt. Während die Antillaner und Welt-Kreolisierer in Paris ihre Preise abholen, wird der Metropolitain Le Clézio als intellektuelle Weltliteratur gefeiert. Zugleich hat er mit seinem Wirken den live-aid-Spirit der 1980er Jahre in die Hochkultur hineingebracht, denn in seiner Nobelpreisrede ist Folgendes zu hören: »Que dans ce troisième millénaire qui vient de commencer, sur notre terre commune, aucun enfant, quel que soit son sexe, sa langue ou sa religion, ne soit abondonné à la faim ou à l’ignorance, laissé à l’écart du festin. Cet enfant porte en lui l’avenir de notre race humaine. A lui la royauté. Comme l’a écrit il y a très longtemps le Grec Héraclite.«39

38 So lautet etwa der Titel eines Essays in der Zeitschrift Symposion folgendermaßen: »Review Essay: Jean-Marie Le Clézio and the 2008 Nobel Prize: Can France Really Claim Him?«, in: Symposion (Bd. 63), 2009, 4, S. 281-298. 39 Die Nobelpreisrede ist in voller Länge verfügbar auf der Seite der Académie Toulouse unter: http://www.ac-toulouse.fr/web/304-maitrise-de-lalangue-et-des-langages.php [1.5.2011]. Ein interessanter Aspekt ist übrigens noch, dass die karibische Literatur von Confiant und Chamoiseau und Le Clézios Literaturprojekt ähnliche Ziele und Anliegen haben wie z.B. die Fokussierung auf Sinnlichkeit und Körperlichkeit (eine Art philosophischliterarischer Materialismus) sowie die Problematisierung von Sprachlich-

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Während der Kulturkampf zwischen dem Zentrum (Paris) und der frankophonen Literaturperipherie ein eher inszenierter Kulturkampf zu sein scheint, bei dem beide Seiten unauflöslich wie Mutter und Tochter miteinander verbunden sind, findet der wahre Kulturkampf doch vielleicht zwischen dem angelsächsischen Diskurs und dem restlichen Europa statt. Hier könnte Frankreich (ebenso das restliche Europa) Einiges von seinen Widerständigen aus der Peripherie lernen. Es ginge eben darum, die Sprache der ›Imperialmacht‹ zu lernen und den eigenen Diskurs, die eigenen Themen, die eigene Sprache in das Herz des Opponenten zu bringen. Dieser Weg wäre auch der von Foucault gegangene, wenn nämlich zunächst Affirmation als Bedingung von Subversion fungiert. Die Rolle Le Clézios ist in dieser Hinsicht, wie gesehen, ambivalent, da die Entscheidung der schwedischen Akademie einerseits den französischen Zentrums-Schriftsteller vor den Peripherie-Autoren auszeichnet, andererseits die französische Literatursprache explizit auch vor der angelsächsischen Kulturwelt vertritt, wobei letztere ihn längst als degeneratives Symptom der Universalmacht Frankreichs wahrgenommen hatte. Was ihn also auf der einen Seite zum übermächtigen Autor des französischen Postkolonialismus macht, Le Clézio als der Inbegriff des Globalen schlechthin, wird ihm auf der anderen Seite der realen Globalisierungssprache zum Verhängnis, wo er als verklärter Natur-Exotist gilt. Subversiv ist die Entscheidung der Schwedischen Akademie in dieser Hinsicht gegenüber der angelsächsischen Kultur trotzdem.

MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN EINER VON FRANKREICH UNABHÄNGIGEN LITERATUR ODER: EIN AUSBLICK Nach den angestellten Überlegungen bleiben wohl zwei Grenzen zu konstatieren, welche die Möglichkeit von Widerstand bestimmen: die französische Sprache und die Aufmerksamkeitsökonomie im Literaturbetrieb, die in ihren Grundfesten ›metropolitain‹ ist und bleiben wird. Jeder bekommt seine Anerkennung in Zeiten von globalisierter Poli-

keit, Oralität und Erfahrung. Mit dem kleinen (aber für den Literaturbetrieb bedeutsamen) Unterschied, dass Le Clézio die metropolitane Tradition von Rimbaud und Camus für sich reklamieren kann.

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tical Correctness und einer sich international ausweitendenden Economy of Prestige40 – nur nicht auf derselben Stufe. Die ›eigene‹ Literatur sucht das ›Fremde‹ schon lange nicht mehr nur außerhalb ihrer selbst und in anderen Räumen, sondern ebenso in sich selbst. Die Welt (der Literatur) ist als ein in sich gekapseltes System zu betrachten, das gar kein Außen mehr hat, da alles integriert wird: Innerhalb einer aufmerksamkeitsökonomischen Systemperspektive sind das Andere, das Fremde und das Besondere keine Kategorien, die sich dem eigenen entgegensetzen könnten. Sie sind längst zu systemimmanenten Faktoren in der eigenen Aufmerksamkeitsökonomie geworden. Auch die Heterotopie ist kein Gegenort mehr. Sie wird zum Global Player unter allen anderen Topien, wenn sie mitspielen will. Systemimmanent betrachtet hat Pascale Casanova somit sicherlich Recht. Die dreifache Beherrschung von Politik, Sprache und Literatur – nicht zuletzt auch von Leserschaft und medialer Aufmerksamkeits- und Prestigeökonomie – ist an das jeweilige (Kultur-)System gebunden. Eine Kultur, eine Sprache, ein Land, eine Stadt werden einen Schriftsteller und sein Werk immer für sich reklamieren – dies gehört zu den Mechanismen des Literaturbetriebs und seiner komplexitätsreduzierenden Aufmerksamkeitsökonomie. Die Tatsache einer République mondiale des Lettres schließt jedoch nicht aus, dass sich die einzelnen Schriftsteller selbst und ihre Praxis als nomadisch oder transkulturell begreifen können. Dieser Punkt berührt ein generelles Problem der hier vorgestellten Systemperspektive: Die kritischen Positionen, Abgrenzungsversuche und Selbstbeschreibungen der kreolischen Autoren scheinen möglich und sogar kompatibel mit der Systemperspektivem, in dem Sinne, dass die eine die andere nicht außer Kraft setzt. Daher ist die Kritik an der Systemperspektive umso wichtiger, wie sie etwa Michel de Certeau an der monozentrischen Sicht der Stadtplaner auf die Städte formuliert hat.41 Um eine transkulturelle Kritik allerdings auf einer systemimmanenten Ebene verankern zu können, müssten die literarischen Nomaden und Transkulturalisten einen eigenen Kleinstaat oder eine anderweitig künstlerisch-politisch wirksame Allianz gründen (etwa eine eigene Akademie mit Nobelpreis für nomadische oder transkulturelle Litera-

40 English, James F., The Economy of Prestige. Prizes, Awards, and the Circulation of Cultural Value, Cambridge 2005. 41 Certeau, Michel de, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179ff.

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tur oder ein unabhängiges Institut für globale Kreolisierung), um sich selbst als unabhängig von spezifischen Kulturen, Gesellschaften und Wohnorten zu erklären. Innerhalb des systemimmanenten Funktionierens müsste der alten so eine neue Identität entgegengesetzt werden. Doch auch darauf hat sich der systemimmanente Literatur- und Wissenschaftsbetrieb schon eingestellt und bereits institutionelle Ordnungen geschaffen (z.B. Professuren, Preise, Sparten in der Literatur), die den Außenstehenden einen Platz zuweisen. Dabei spielen jedoch gerade die lokalen, einzelkulturellen und sprachlich-nationalen Identitäten eine Rolle, da auch sie bestehende Faktoren in der Aufmerksamkeitsökonomie bleiben. Der Weltbürger und Kosmopolit behält seine lokale Herkunft und ohnehin gibt es nur einige wenige Schriftsteller, die einen festen Platz in dem scharf bewachten und sehr kleinen Kontingent an globaler Weltliteratur erhalten. Dennoch, so vielleicht eine kurze Synthese, ist es möglich, Texte aktueller französischsprachiger Autoren als eher nomadisch oder transkulturell zu begreifen, ohne dass man dadurch der systemimmanenten capitale de la littérature entkommen wird. Am Beispiel des Nobelpreises für Le Clézio wird einerseits die Vereinnahmung des Globalen im europäischen Literaturbetrieb deutlich, andererseits die Anerkennung zugunsten einer globalen Nomaden-Literatur.

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D AS GLOBALE UND I NTERKULTURELLE

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V ON DER M ETROPOLE ZUR H YPERPOLIS

Topologie der Metropole im Fluss der Migrationen Alain Mabanckous Black Bazar VITTORIA BORSÒ

Der Begriff ›Topologie‹ ist ein Programm. Denn Topologie ist als Zusammensetzung von IJȩʌȠȢ (›Ort‹) und ȜȩȖȠȢ (›Lehre‹) zwar die ›Lehre‹ des Ortes, nicht jedoch in einer vorgegebenen Struktur, sondern als Produktion des Ortes durch lockere, räumliche Anordnung von Teilen. Damit bezeichnet die Topologie, die die Geometrie ersetzt hat, eine offene Menge im Raum, deren Organisationsprinzip auf Kräften, Lagebeziehungen und Nachbarschaft beruht. Lagerung und Nachbarschaft sieht Michel Foucault in seinem Aufsatz über Heterotopien als Figur der Dynamik des Raums im 20. Jahrhundert, welches von der Unruhe des Raums charakterisiert sei. Topologie ist ein Programm, weil es ein »anderes Denken« des Raums ankündigt. Der Raum wird nicht nur stets (neu) hervorgebracht, sondern er ergibt sich aus intuitiven Lagebeziehungen, aus einem Verhältnis von Nähe und Ferne, aus strebenden Kräften. Topologie ist deshalb auch der Titel des Kapitels im Foucault-Buch von Gilles Deleuze1, in dem es um die Anordnung des Sichtbaren und dessen Abhängigkeit vom Sagbaren, aber auch um die ästhetischen Prozesse geht, die die Sichtbarkeit von der Sagbarkeit abkoppeln – ein fundamentales Moment der Organisation des Raums.2 1

Deleuze, Gilles, »Topologie: Anders denken«, in: ders., Foucault, Frank-

2

Borsò, Vittoria, »Topologie als wissenschaftliche Methode. Die Schrift des

furt a.M. 1987, S. 69-172. Raums und der Raum der Schrift«, in: Günzel, Stephan (Hrsg.), Topologie.

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Das Programm einer Topologie der Metropole im Fluss der Migrationen will also den Begriff der Metropole an einer topologischen Dynamik messen. Von dieser Dynamik ausgehend wird zu fragen sein, ob Versuche, ›Metropole‹ durch Suffixe oder Verschiebungen des Orts der Metropole (Neue Metropolen) zu erneuern, nicht im alten Denken verbleiben und letztendlich neue Essentialismen zulassen. Der 2009 bei Edition du Seuil erschienene, 2010 in der Übersetzung von Andreas Münzner auf Deutsch publizierte Roman Black Bazar des westkongolesichen Schriftstellers Alain Mabanckou, Professor für Französische Literatur an der UCLA, bietet sich für die Bearbeitung dieser Frage an. Denn der Text bringt die Implikationen der ›Metropole‹ als Kompositum von ȝȒIJȘȡ (Mutter) und ʌȩȜȚȢ, also ›Stadt der Mutter‹, ins Spiel und setzt diese Beziehungen aufs Spiel. Zugleich wird Paris im Fluss der Migrationen zum Treffpunkt verschiedener »scapes«3, also Landschaften, die das Zentrum der Stadt durchqueren und neuanordnen.

I ETHNOSCAPES IN BLACK BAZAR – PARIS ALS HAUPTSTADT DER MIGRATIONEN Black Bazar heißt der Roman, den der autobiographische Erzähler zu schreiben beginnt, nachdem er erfährt, dass seine junge Familie zerstört ist. Die Analogie zum ersten großen Roman der Moderne, Les Faux-monnayeurs von André Gide (1925), geht weiter als nur die mise en abyme des Romans. Der Erzähler beginnt das Schreiben, weil der von ihm erlittene Bruch mit der Identität keine neue Ordnung möglich macht. Bei Gide wird die genealogische Unreinheit zu einer fundamentalen Unbestimmtheit der Sprache, die eine essentialistische Entscheidung zwischen wahr und falsch nicht mehr zulässt. Bei Mabanckou betrifft dieser Bruch die Familie als Figuration einer kolonialen Identität in der Gemeinschaft der Metropole, der Stadt der Mutter. Dem Protagonisten geht die »Mutter« verlustig. Seine Partnerin, der er den Namen Couleur d’Origine gegeben hat, ist nämlich mit einem Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 279–295. 3

Appadurai, Arjun, Modernity at large: cultural dimensions of modernity, London et al. 1996.

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kongolesischen Musiker durchgebrannt, einem Cousin, dem der Erzähler und Autor des fiktiven Romans Black Bazar den Namen L’Hybride verliehen hat. Mit diesem und der Tochter Henriette aus ihrer Ehe mit dem Protagonisten ist seine Partnerin Couleur d’Origine in die kongolesische Hauptstadt nach Brazzaville gegangen. Nach dem Zusammenbruch der Familiengeschichte dieser Migranten und damit auch ihrer Integration in die französische Metropole ist auch die Kohärenz des Kolonialsubjektes mit all den möglichen Wendungen und Umwälzungen gestört, wenn nicht zerstört. Das erste Kapitel ist der Beginn eines in der Retrospektive erzählten Prozesses, in dem die Konstellation von Metropole und Kolonie, ihre Asymmetrien und Essentialismen, Exklusionen und Inklusionen auf Spiel gesetzt werden, weil der Protagonist nach dem Bruch mit Couleur d’Origine keinen ›eigenen‹ Ort mehr hat. Vielmehr wird er in seinem ›Haus‹ von der Bedrohung des Fremden überfallen. Der Roman beginnt tatsächlich mit einem Alptraum, einer Übertragung der Fremderfahrung in das Narrativ eines afrikanischen Ursprungsmythos’, nach dem es die Pygmäen des Gabon waren, die den Menschen die Zivilisation brachten. Die Entfremdung macht sich im Alptraum am double bind kolonialisierter Subjekte bemerkbar, die den Kolonisator hassen und seine Kultur begehren. Denn im Traum versucht der Protagonist, der Unterdrückung zu entkommen, indem er über die chinesische Mauer hinweg fliegt oder zum höchsten Berg der Welt, repräsentiert vom Himalaya, aufsteigt, um aber in die Leere oder mitten in das Volk der Pygmäen zu stürzen, das seine in der französischen Metropole geborenen, durch Assimilation gefährdete Tochter kannibalisch verzehren will. Eine Hilfe gibt dem Protagonisten Paul du grand Congo, sein Vertrauter und ebenfalls sapeur in der Jip’s Bar, nämlich durch die Empfehlung eines magischen Rituals: Ein von seiner Frau verlassener Mann müsse sich selbst oder die am ehemaligen gemeinsamen Ort befindlichen Dinge verschieben, denn die Dinge trügen die Spur des Begehrens, das sich angesichts des Mangels des begehrten Objekts in der Gestalt von kleinen bösen Männern gegen das Subjekt richte. Die Heilung von derartigen Alpträumen ist ein »déplacement«, dies sehen die magischen Riten des Gabun richtig. Der Protagonist muss weg vom Pariser Ort des integrierten Familientraums, dem Ort, in dem die Silhouette von Couleur d’Origine und dem Hybriden herumgeistern, weg vom Ort, in dem das Leben mit seiner kleinen Migran-

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tenfamilie stattfand. In der Retrospektive werden dem Protagonisten die unerträglichen Bedingungen dieses Lebens bewusst, die in der Überwachung der Körper durch das panoptische Auge des Mitbewohners des Hauses namens Hippocrate kulminierten. Die Emanzipation von diesem Ort findet gewiss nicht durch eine spekulative Arbeit, sondern erst dadurch statt, dass sich der Protagonist von seiner Abhängigkeit von Dingen als Kolonialsubjekt befreit, und sich der Magie anderer Dinge hingibt: der Liebe zur Französin Sarah. Ihr wechselseitiges Begehren zeigt für Franzosen wie Migranten die Unmöglichkeit, dass Subjekte souverän und unabhängig von der Magie des »Anderen« sind. Und erst dann, am Ende eines langen Prozesses und auch am Ende des Buchs, verliert der Protagonist den Status eines Kolonialsubjekts. Im Laufe dieses Prozesses ereignet sich eine Immersion in das soziale Imaginäre des Protagonisten und seiner Mitmenschen, Immigranten aus allen Teilen der Welt, die sich in der Jip’s Bar begegnen. Die Krise im Prolog und die Lösung der Krise im Epilog (nach anderthalb Jahren) umrahmen diese Immersion in die imaginären Welten von Paris im Fluss der Migrationen. Es sind die scapes, die durch die verschiedenen Flüsse von Migranten, aber auch von globalen Medien das soziale Imaginäre der französischen Metropole konstituieren. Paris als ideoscape der Biomacht – oder wie mitten in Paris kolonialisierte Subjekte leben »C’est pas du tout moi qui creuse le trou de la Sécurité sociale«.4 So beginnt das erste Kapitel dieses Romans des Zusammenlebens von Franzosen und Afrikanern mit dem Rest der Welt. Der Protagonist findet sich mit einer solchen parasitären Identitätszuweisung konfrontiert und wehrt sich.5 Nicht aber durch Argumente kann er dem Dickicht der Kolonialdiskurse entkommen. Es ist durch die Widersinnig-

4

Mabanckou, Alain, Black Bazar, Paris 2009, S. 23.

5

Es sind ›afrikanische Brüder‹, wie z.B. Paul du grand Congo, die den Protagonisten bezeichnen: »creuseur au passage le trou de la sécu et mettre en panne l’ascenseur social de la Gaule« (Ebd., S. 13). Schon am Anfang stellt der Protagonist fest, dass man ihm als Kolonialsubjekt Schuld zuschreibt, um sich selbst darüber zu erheben: »Monsieur Hippocrate aime cultiver son petit jardin à mes dépens.« (Ebd., S. 5).

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keit der zufälligen Reihung der Stimmen von Migranten, dass sich ihm (wie dem Leser) allmählich die Persistenz ebenso wie die Absurdität des mitten im Zentrum von Paris herrschenden Kolonialismus offenbart. Die Läuterung des Protagonisten erfolgt keineswegs in Form der »Emanzipationsgeschichte« eines Immigranten. Vielmehr ist dieser Protagonist ein halbherziger Antiheld, eine Art Resonanzkasten kolonialistischer und antikolonialistischer Diskurse. An ihm »un amateur de Weston et des costumes du Faubourg Saint-Honoré«6, Residenz des Präsidenten und der haute couture von Paris, erprobt der Text die Mimikry der Lebensstile der europäischen Metropole. Denn der Diskurs dieses autobiographischen Erzählers ist unmarkiert. Er ist die indifferente Widergabe des Redens in der Hauptstadt der Immigranten. Zum einen geht es um die Stimmen in den Medien, insbesondere im Fernsehen: vom Versprechen exotischer Südamerika-Paradiese in den Soap Operas und den apokalyptischen Defizitmeldungen in den Talk Shows der »gens bien informés«7; zum anderen sind es die Stimmen der Besucher des Jip’s im 1. Arrondissement und der Mitbewohner des Gebäudes in Chateau Rouge, im 18. Arrondissement, dem afro-karibischen Zentrum von Paris, wo der Protagonist ein ›Studio‹ gemietet hat. Vor dieser Art unbeteiligten Mitschreibegeräts demontieren sich vor den Augen und Ohren des Protagonisten Paradiesmythen wie auch deren Kehrseite, Fremdenhass. Die Intensität des Letzteren zeigt sich in der Angst vor panoptischer Kontrolle und Ausgrenzung, vor einem Zustand als homo sacer, demonstriert vor den Augen der gesamten Republik. So fühlt sich der Protagonist ständig von den Worten »trou« und »sécu« umgeben, als wäre er eines der ›Objekte‹, auf die man in FSInterviews zeigt, welche »seraient vus dans la France entière, y compris à Monaco et en Corse«.8 Verfolgt ist er auch von Hippocrate, einem assimilierten karibischen Einwanderer, der sämtliche Migranten mit einer dunkleren Hautfarbe in wilden rassistischen Tiraden beschimpft. So etwa wenn er sich dem Protagonisten mit folgenden Worten zuwendet:

6

Ebd., S. 76.

7

Ebd., S. 24. Auch die Medien werden benutzt, um die Evidenz von Kolonialeinschreibungen nachzuweisen. So Hippocrate: »Non il s’agissait de votre pays hier à la télé, avec le président qui a un long nom et qui porte des lunettes et un chapeau en peau de léopard« (Ebd., S. 39).

8

Ebd., S. 26.

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»Il paraît que le trou de la sécu ne fait que se creuser à cause de certains voyous qui n’ont pas le sens des valeurs républicaines et qui menacent notre démocratie. Je ne cite le nom de personne, mais il faut faire quelque chose!«9

Andernorts wird ein Marshall-Plan gegen die Afrikaner gefordert, während man überall latente Gewalt spürt, die jeden Augenblick von irgendwoher ausbrechen kann. Der Ort, von dem Gewalt ausgeht, ist unbestimmt. So erleidet selbst Hippocrate einen unerklärten und nicht aufklärbaren Unfall. Er fällt die Treppe einige Stockwerke herunter, liegt einige Zeit vor den Augen der indifferenten Mitbewohner ohnmächtig am Boden; die Nachbaren halten ihn für tot, verstricken sich in Tatort-Spekulationen und wollen die Feuerwehr (statt des Arztes) zu Hilfe rufen – eine Situationskomik, die offen in Gewalt mündet, wenn erneut Afrikaner an den Pranger gestellt werden: »Nom de Dieu! Je vous répète qu’un Africain m’a piégé avec une peau de banane! Et ce n’est pas la peau de n’importe quelle banane! C’est une barbare venue directement d’Afrique! […] Le problème des colons français c’est qu’ils ne sont jamais allés jusqu’au bout des choses […].«10

Die umgekehrte Richtung des Diskurses, nämlich die pauschale Schuldzuweisung gegenüber dem Westen, ist ebenso gewalttätig. Diese Position vertritt »notre Arabe du coin«11, der den Protagonisten immer wieder mit dem Satz begrüßt: »L’Occident nous a trop longtemps gavés de mensonges et gonflés de pestilences, mon frère africain! Tu sais quel poète noir a dit ces paroles courageuses, hein? … Est-ce que tu sais quel poète noir a eu le courage de dire ça?«12

9

Ebd., S. 27.

10 Ebd., S. 36; und weiter: »la France ne peut plus héberger toute la misère du monde, surtout ces Congolais« (Ebd., S. 36). 11 Ebd., S. 111. 12 Ebd., S. 112. Dieser Satz wird klischeehaft wiederholt, z.B. später: »L’Europe nous a trop longtemps gavés de mensonges et gonflés de pestilences! Est-ce que tu sais quel poète noir a dit ces paroles courageuses, mon frère africain?« (Ebd., S. 246).

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Die Topographie des arabischen Ladenbesitzers (L’arabe du coin), der sich als Afrikaner eine »Unité Africaine du Guide éclairé Mouammar Kadhafi“13 wünscht, um die abendländische Kultur im gemeinsamen Mittelmeerraum von der Dekadenz des europäischen Fortschritts zu erretten14, bleibt kolonialistisch: Erstens kehrt sie nur die Asymmetrie um (als Gründer der Menschenrasse sollen die Afrikaner nun die dekadenten Europäer retten) 15, zweitens geht sie zwar quer durch den Mittelmeerraum und verbindet Europa und Afrika in einem gemeinsamen Raum, ohne jedoch die ausgrenzende Matrix zu verlassen.16 Denn die vorgeschlagene Gemeinschaft von Mittelmeerländern aus Europa und Afrika grenzt ihrerseits chinesische und pakistanische Händler aus. Franzosen und Afrikaner werden in der vom arabischen Ladenbesitzer vorgeschlagenen Topographie zwar verbunden, aber diese Anordnung ist eine ideologische Landschaft (ideoscape), die den Kolonialismus lediglich in ein postkoloniales Gewandt versetzt, die Metropole und die ehemaligen Kolonien in eine Allianz der neuen Ausgrenzungen führt.

13 Ebd., S. 119. 14 »C’est pas même le chômage, c’est pas même le trou de la sécu, le problème de la France c’est LE RESPECT!” (Ebd., S. 120). 15 Der Text ironisiert diese revanchistische Umkehrung des euro- und logozentrischen Alteritätsbildes Europas. Mit Bezug auf Spenglers Untergang des Abendlandes werden im Kontext der sog. lateinamerikanischen Literatur des Booms ähnliche Identitätsdiskurse vertreten, deren interner Kolonialismus indes mehrfach dekonstruiert wurde (u.a. Borsò, Vittoria, Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse – Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus, Frankfurt a.M. 1994). 16 Dies im Gegensatz zum Raummodell, das Iain Chambers in Mediterranean Crossings zeichnet, nämlich als eine Dynamik der Bewegung und der Interdependenz, die Räume überlappt und Ordnungen entgrenzt (Chambers, Iain, Mediterranean Crossings. The Politics of an Interrupted Modernity, Durham et al. 2008).

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Les Halles: das unsichtbare Zentrum kolonialistischer ideoscapes von Paris Die Jip’s ist die afrokubanische Bar in der Nähe von Les Halles und der Fontaine des Innocents. Die Jip‘s liegt in der Rue Saint-Denis, die das Viertel der Halles durchquert. Les Halles waren und sind eine der Hauptattraktionen der Pariser Metropole. Durch Zolas Le ventre de Paris als Zentrum der Architektur der Moderne im ausgehenden 19. Jahrhundert unsterblich gemacht, ist das Forum Les Halles heute eine globale Attraktion des Welttourismus. Am Fuße der gotischen Kirche von St. Eustache, in einer neuen Konzeption von urbanem Raum, steht nun das von den Architekten Claude Vasconi und Georges Pencreach entworfene, am 4. September 1979 eingeweihte Forum über vierzigtausend Quadratmeter Glas und Aluminium, Treppen aus Marmor und Rolltreppen mit einer Entwicklung auf vier unterirdischen Stockwerken um einen viereckigen Platz im Freien. Was man nicht auf den ersten Blick sieht, ist das afro-kubanische Zentrum der Stadt im 1. Arrondissement. Als Metonymie der Region Île-de-France sind Les Halles also auch das Zentrum arabisch-muslimischen Lebens in Europa. Genau hier ist der Chronotopos des Romans. In der Bar und den umliegenden Geschäften von Arabern und Chinesen finden die Gespräche mit den anderen Migranten statt. Über Bleichmittel für die Haut wird gesprochen, über die Philosophie des passenden Krawattenknotens und wie man es schafft, die richtige Frau herumzukriegen – der Protagonist wird Fessologue genannt.17 Der Kolonialismus muss auch im Imaginären von in Paris lebenden Afrikanern dekonstruiert werden; am assimilierten Autokolonialismus erkennt man den Schaden kolonialer Einschreibungen in den gebleichten, zugerichteten Körpern der Migranten. Schließlich wird auch seine Tochter Henriette im Jip‘s, dem Zentrum der Gemeinschaft von Immigranten als »spécimen pour une Exposition coloniale« behandelt, so der Erzähler am Ende des ersten Teils.18 Paris wird also zum Ort der Austragung der Konflikte in den Kolonien, den Ursprungsländern dieser Migranten. So etwa die Familie von Couleur d’Origine, Tochter eines kongolesischen Rechtsanwalts in Nantes, einem Congolais de France. Couleur d’Origine flieht nach

17 Z.B. Mabanckou 2009, S. 259. 18 Ebd., S. 106.

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Paris, um der Zwangsheirat mit einem seinerseits aus dem totalitären Regime geflohenen Dissidenten, Doyen Mathusalem, zu entkommen. Das Tauschgeschäft zwischen dem Vater, der die Einreise vermittelt, und dem Regimegegner sieht vor, dass die Tochter dem 30 Jahre älteren Doyen übergeben wird, während der Vater die Millionen von Doyen erhält, um seine Präsidentschaftskampagne im Kongo zu finanzieren, wo er ein Amerika-freundliches Regime etablieren will. Ein ähnliches Schicksal ereilt sie in Paris, diesmal von Seiten der langjährigen Freundin von der Elfenbeinküste, Rachel Kouamé, die das gemeinsam geführte Geschäft – den Wiederverkauf trockener Fische – durch ihre Sucht nach haute couture ruiniert. All diese Figuren setzen aktiv den Kreislauf von Ausgrenzungen, Verletzungen und Gewalt fort, obwohl sie durch »neue Identitäten« Auswege davon suchen. Besonders interessant ist die Sackgasse des métissage, einer Theorie, die vom Schriftsteller Roger Le FrancoIvorien verkörpert wird.19 Seine Emanzipation als Mestize ist nichts Anderes als eine Verstrickung mit den Asymmetrien des eurozentrischen Identitätsdiskurses gegenüber den Kolonien. So müsse der mestizierte Schriftsteller, der sich dem schwarzen Protagonisten überlegen fühlt20, den defizitären Zustand des »accent bizarre« und der Oralität überwinden.21 ›Métissage‹ bedeutet hier Bleichung der Seele und Verlust der Ressource der Ethnie, versteht man Ethnie, wie dies Stuart Hall vorschlägt, als Ort, von dem aus einer spricht.22 So bewertet dieser Mestize die Kolonialgeschichte als Integration des barbarischen Kontinents in den Gang der Fortschrittsgeschichte und übernimmt dabei den logozentrischen Kolonialblick Zentraleuropas: »Les Blancs sont partis, ils vous ont tout laissé, y compris des maisons coloniales, de l’électricité, un chemin de fer, de l’eau potable, un fleuve, un océan

19 Im Gegensatz zu »Ivorien tout-court« (Ebd., S. 75). 20 »je suis plus clair que toi, c’est un avantage important« (Ebd., S. 14). 21 »Notre problème c’est qu’on n’a pas inventé l’imprimerie et le Bic, et on sera toujours les derniers assis au fond de la classe à s’imaginer qu’on pourrait écrire l’histoire du continent avec nos sagaies« (Ebd., S. 14). 22 Hall, Stuart, »Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität«, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, hrsg. v. Ulrich Mehlem, Hamburg 1994, S. 44-65, hier: S. 61.

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Atlantique, un port maritime, de la Nivaquine, du mercurochrome et un centreville!«23

Und weiter über die Kolonialisatoren: »[…] [I]ls ont fait consciencieusement leur boulot pour nous délivrer des ténèbres et nous apporter la civilisation! … Y avait tous ces maux sur nos terres d’ébène, notre Afrique fantôme […].«24 Hier zitiert der Text den Reisebericht von Michel Leiris25, jedoch so, dass Leiris‘ Unternehmen, die Ethnographie durch Aufdeckung des eigenen kolonialen Blickes zu kritisieren, getilgt wird, denn der Titel wird im Munde dieses Mestizen in einen kolonialistischen Diskurs eingebettet. Die Assimilation des kolonialen Blickes durch die Afrikaner schimmert in der mestizierten Ästhetik von Roger Le Franco-Ivorien durch. Tatsächlich inszeniert er die ›eigene‹ kulturelle Authentizität durch Exotismen und Lokalkolorit. Dies wird vom Erzählers ironisiert, wenn er diese Figur den Protagonisten fragen lässt: »Tu veux me dire qu’il n’y a pas des moutons dans ton quartier, au Congo là-bas?«26 ›Métissage‹ ist nichts anderes als die Assimilation eines eurozentrischen, touristischen Blicks27: Da

23 Mabanckou 2009, S. 15. 24 Ebd., S. 16. 25 Trotz seines Bruchs mit dem Surrealismus bleibt Leiris nach seiner Zusammenarbeit mit Georges Bataille und Roger Caillois auch in seinen ethnologischen Arbeiten vom diesen inspiriert. Das Reisetagebuch L’Afrique fantôme über die Expedition Dakar-Djibouti unter Marcel Griaule (19311933) adressiert sowohl die Dekonstruktion des ethnographischen Kolonialismus wie auch eine Autoethnologie (Leiris, Michel, L’Afrique fantôme, Paris 1943). Hier, wie schon in seinem Essay »Civilisation« für die von Georges Bataille herausgegebene Zeitschrift Documents (1929) werden die europäischen Rituale als eine Form von Magie beschrieben, die der Vernunft innewohnt (Leiris, Michel, »Civilisation«, in: Documents, n° 4, Sept. 1929, S. 221-222). Zur Reformulierung der Moderne in dieser Richtung vgl. Böhme, Hartmut, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 234f. 26 Mabanckou 2009, S. 16. 27 Jorges Luis Borges hatte die Authentizität des pittoresken Kolorits in der gauchesken Tradition als Garant argentinischen Identitätszeichens (»argentinidad«) dekonstruiert und ironisch gefragt, ob man dem Koran die Arabizität mangels Lokalkolorits absprechen müsse, weil dort keine Kamele

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es an Schafen mangelt, müsse der Protagonist für sein Buch auf andere Quellen der »Imagination« zurückgreifen, etwa in Form einer mythomanen Japanerin, die ihrem Psychoanalytiker berichtet, keinen Orgasmus mehr zu haben, oder auch über haitianischen Voudou spricht.28 Analoges zeigt sich beim Sänger L’Hybride, dessen ethnic band sich als Teil der afrikanischen Bewegung gegen das Abendland inszeniert, jedoch um mit dieser kulturellen Politik Arabe du coin und möglicherweise auch Couleur d’Origine zu blenden. Wenn diese mit ihm und seiner Band in Brazzaville angekommen sein wird, wird sie dort aber von den saftigen Beitragszahlungen des Protagonisten, Vaters der gemeinsamen Tochter in Paris, leben müssen.

II DIE SCAPES DER SPRACHLICHEN PERFORMANCE – AUF DER SUCHE NACH PRODUKTION VON KULTUR JENSEITS VON KOLONIALISMUS »Moi je suis un ambianceur, je vis ma vie, je l’assume«29: »Mettre l’ambiance« ist also der Weg, um das Leben anzunehmen. Aber was heißt ›ambianceur‹? ›Ambiancer‹ ist in Schwarzafrika oder im Maghreb aufgekommen und bedeutet »mettre de l’ambiance, de l’animation; ambianceur,euse«.30 Als schwarz-afrikanische oder maghrebinische Entlehnung von ›ambiance‹, bezeichnet ›ambiancer‹ zunächst die Tätigkeit eines Animateurs. Bezogen auf das afrikanische Milieu, d.h. auf die materiellen Bedingungen Afrikas, könnte es sich um einen Geschichtenerzähler, also um einen im lokalen und materiellen Kon-

vorkommen. Vgl. Borsò, Vittoria, »Borges ›el memorioso‹. Propuesta de Jorge Luis Borges para una estética del siglo XXI«, in: Olea Franco, Rafael (Hrsg.), In Memoriam. Jorges Luis Borges, Mexiko-Stadt 2008, S. 239-264. 28 Mabanckou 2009, S. 17. 29 Ebd., S. 86. 30 »ambiancer«, in: Dictionnaire Hachette. Edition 2010. Hachette Livre: Paris 2009 ; s.a. http://www.larousse.com/de/worterbucher/franzosisch/ ambiancer/2712 [26.03.2012]; auch: »Ambianceur n.m. Afrique. Homme qui fréquente les bars, les boîtes de nuit; fêtard«, in: Le Petit Larousse 2003. Larousse: Paris 2002, verfügbar unter: http://www.larousse.com/de/ dictionnaires/francais/ambianceur/2713 [26.03.2012].

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text verorteten Erzähler handeln. Doch noch am Ende des ersten Romanteils, wo der Protatonist mit seiner Erinnerung an die erste Begegnung mit Couleur d’Origine angekommen ist, ist er ein Assimilierter, der noch vom Kolonialismus abhängig ist. Die Suche nach einer Verortung, die eine subjektive Performanz ermöglichte, ist im Kontext von Migranten mitten in Paris schwierig. Zunächst greift er auf die Mimesis der haute couture von Paris, die Couleur d’Origine und den Protagonisten verbinden, zurück. Denn ein ›ambianceur‹ ist für kongolesische Immigranten zunächst einmal ein ›sapeur‹:31 »Je m’arrangeais pour porter mes costumes les plus chics, rien que pour la séduire, et elle ça lui plaisait parce qu’elle connaissait bien le milieu de la Sape et de Château Rouge.«32 Die kulturelle Praktik des ›sapeur‹ entstand in Afrika als eine Art Mimesis am Fremden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als bei der Ankunft der Franzosen im Kongo die Jugend der ethnischen Gruppe der für die Franzosen arbeitenden Bakongo den Mythos der Pariser Eleganz kreierte. In dieser »Mimesis ans Fremde« kreuzt sich das französische Original mit den körperlichen und kulturellen Bedingungen am Ort33, so dass das französische Original verschoben oder gar parodistisch herabgesetzt wird und sich ein Raum für Subjektivierungsprozesse des performativen ›sapeur‹ eröffnen kann. Diese Produktivität gelingt aber in Paris nicht. Der ›sapeur‹ findet in der französischen Metropole einen geschlossenen Raum vor, der durch koloniale Diskurse überdeterminiert ist, welche sich in die Haut einschreiben. Denn die Nachahmung des ›sapeur‹ umfasst in Paris auch das Bleichen der Haut. Nachahmung ist in diesem ideoscape nicht Produktion, sondern

31 SAPE: Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes. Grenard André Matsoua war der erste Kongolese, der 1922 aus Paris wie ein genuiner Franzose zurückkam. 32 Mabanckou 2009, S. 86. 33 Christoph Wulf veranschaulicht die »Mimesis ans Fremde« anhand von Figurinen der mittelamerikanischen Cuna-Kultur, welche im Aussehen und in der Kleidung den weißen Kolonisatoren ähneln (Taussig, Michael, Mimesis and Alterity. A Particular History of The Senses, New York 1993). Sie sind »Figurationen des Dazwischen«; in ihnen mischen sich Fremdes und Eigenes (Wulf, Christoph, »Der Andere«, in: ders./Hess, Remi (Hrsg.), Grenzgänge: über den Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden, Frankfurt/New York 1999, S. 13-37, hier: S. 33).

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Zurichtung des Körpers am Maß des Souveränen, bis zum Ausschaben der schwarzen Haut durch das Bleichen. Erst mit der Sprache und in der Sprache kann der Erzähler kulturell produktiv werden: »Si on se mettait à remettre en cause tout ce qui rappelle que la langue française est parfois injuste, voire injurieuse à l’égard de certaines catégories de personnes, eh bien on ne s’en sortirait plus […] pourquoi un ›homme public‹ est un personnage important alors qu’une ›femme publique‹ est une pute? […] Pourquoi un ›courtisan‹ est un proche du roi, du pouvoir alors qu’une ›courtisane‹ est une simple péripatéticienne?«34

Zunächst wird also dem Protagonisten bewusst, wie sehr die (französiche) Sprache Gewalt gegen Menschengruppen auszuüben kann.35 Aber er bleibt nicht dabei stehen, sondern fängt an, mit sprachlicher Kombinatorik zu performen und die sprachliche Ordnung zu entessentialisieren. Mit der Arbitrarität der Sprache wird dann auch die Arbitrarität der Zuschreibungen von Eigenschaften sichtbar, die die Politik von Gender, Rassen, Nationen bestimmen.36 Die Arbeit an der Sprache wird tatsächlich im 3. Teil des Romans zentral. Der haitianische Exil-Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert, dessen Le songe d’une photo d’enfance37 dem Protagonisten zufällig in die Hände gefallen ist, wird zu seinem Mentor auf dem Weg der Befreiung von kolonialistischen und revanchistischen Einschreibungen. Am haitianischen Schriftsteller erkennt der Protagonist die Kreativität des Exils und kann damit den Schritt in einen neuen Raum vollziehen. Die Wurzeln, die das Subjekt an der Heimat, dem pays d’origine, festhalten und den Menschen anästhesieren, sind abgeschnitten. Die Fesseln, die den Afrikaner in Bann hielten, können endlich verschoben werden. Sie können dann zur persönlichen Bindung am Ort des Woh-

34 »Non, moi, je ne veux pas mener ce combat« (Mabanckou 2009, S. 111). 35 Krämer, Sybille/Koch, Elke, Gewalt in der Sprache: Rhetoriken verletzenden Sprechens, München 2010. 36 Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 1997. 37 Es handelt sich bei diesem Erstlingswerk des haitianischen Erzählers und Lyrikers um eine Sammlung von 7 Kurzerzählungen, die 1993 in Paris (Serpent à Plumes) erschienen ist.

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nens werden. Erst bei dieser Freiheit des Migranten können kulturelle »Daten prozessiert« werden.38 Ambiance, das Milieu, ist nicht mehr die kolonialistisch beschriebene Topographie, sondern der Ort, der durch Interaktionen und Subjektivierungen stets neu produziert wird. Dieser Prozess beginnt am Anfang des dritten Teils des Romans, wenn die Wege zwischen Chateau Rouge und Chateau d’Eau (im 10. Arrondissement)39 nicht die tote Zeit eines Wartens auf die Ankunft in der Metrostation sind, sondern den Übergang von der Erinnerung zu einer offenen Zukunft einleiten. Aber für den Migranten wird diese abstrakte Idee erst umgesetzt, wenn sie bei der letzten Begegnung im Roman, der Begegnung mit Sarah, zu einer materiellen Erfahrung wird. Erst hier setzt auch ein furioser Schreibrhythmus ein. Sarah ist Französin. Sie ist Fotografin von Alltagsszenen mit Schwarzen in den Bars von Château-Rouge und Château d’Eau (248). Exotischer Voyeurismus mitten in Paris? Spiegelung eines Kolonialsubjekts? Oder ein anderes Paris? »Je vis la vie et je l’assume« – Die Schrift und das Leben Obgleich der ›sapeur‹ eine produktive Form von Mimikry ist, die sich bei ihrem sich Ereignen deshalb Kultur produziert, weil der Raum der Performance zu einer körperlichen und sinnlichen Bühne für subjektive Aneignungsformen wird, die ein anderes Regime, nämlich ein ästhetisches Regime anstelle des Politischen eröffnen können, ist doch der Körper des Migranten im Paris des 21. Jahrhunderts nicht frei, sondern verstrickt im Netz des kolonialistischen Ausrichtens der Körper – dies zeigt eindringlich die erste Hälfte des Romans. Die »Annahme des Lebens« wird erst zu einer materiellen Lebens-erfahrung durch eine Grenzerfahrung mit Sarah, der Intellektuellen, Malerin und Fotografin, Tochter von »gens bien«. Sarah entgrenzt die koloniale Ord-

38 Flussers Kritik an der Mythologie der Heimat ist radikal, denn die Fesseln der Heimat sakralisieren das Banale bis hin zur Anästhesierung der Sinne, (S. 253-254), während das Wohnen die Grundbedingung für menschliches Leben darstellt: »Man könnte die Heimat auswechseln, oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen« (Flusser, Vilém, Von der Freiheit des Migranten: Einsprüche gegen den Nationalismus. Düsseldorf 1994, S. 260). 39 Mabanckou 2009, S. 205.

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nung, in der der Erzähler eingefangen ist, und befreit ihn von seinem kolonialisierten Imaginären. Sarah verlangt, dass er lernt, sich in seiner Haut wohl zu fühlen. Erst hier entkommt der Protagonist der Spirale der Einschreibungen von Schwarz und Weiß, von glatten, weichen oder krausen Haaren. Erst hier werden Farben, Haare und Körper zum Material der eigenen Performance, die die materialisierten Körpereinschreibungen auf Spiel setzen kann.40 So bekommt der Protagonist die Fähigkeit »d’être le boulanger de sa vie. Donc c’est à moi de pétrir mon corps, de le transformer comme je l’entends, un point c’est tout.«41 Der Erzähler kommt durch eine Grenzerfahrung hindurch, nämlich für Sarah Modell zu stehen, die erstmalig in der Kneipe erscheint, als sie auf der Suche nach »extravaganten« Gestalten schwarzer Männer ist. Diese Urszene ethnographischer Landnahme des Körpers transformiert sich, als der Protagonist seinen eigenen Körper, mediatisiert durch den begehrenden Blick der Fotografin, ästhetisch erfährt. Diese Blickkonstellation befreit ihn vom kolonialistischen Bann. Die ästhetische Lust entgrenzt das Regime der Sinne und dieses verändert die Landschaft der Metropole, weil hier endlich der Freiraum des Schreibens eine Stätte finden kann. Sarah führt ihn in die französische Literatur ein. Allerdings sind es neben Gedichten von Henri Michaux42 allesamt belgische Schriftsteller, die Sarah dem Protagonisten »verschreibt« und ihn in einen anderen Ort, in den freien Raum der Schrift einführen: Maurice Materlinck, Béatrix Beck, und der dann von ihm selbst entdeckten Amélie Nothomb.43 Mit belgischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern ist er in Paris angekommen – es ist aber ein deterritorialisiertes Paris.

40 Butler 1997. 41 Mabanckou 2009, S. 244. 42 Ebd., S. 261. 43 Nothomb verarbeitet in Stupeur et Tremblements (Groningen 1999) (Grand Prix Roman der Académie Française) die Erfahrungen der verschiedenen Aufenthalte in Japan (wo sie als Tochter eine belgischen Diplomaten geboren wurde), China, New York, Burma und Laos und entwirft in ihrer Erinnerung eine entgrenzte Topographie der Welt. Es ist deshalb nicht zufällig, dass der Protagonist von Black Bazar Amélie Nothomb als seine Inspirationsquelle wählt.

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Topologie und Metropole in Black Bazar – aesthetic scapes Les Halles verkörpern in diesem Roman die Gegenwart unterschiedlicher Landschaften mit einer Diversität von Positionen, die die Metropole durchqueren. Die Persistenz der Biomacht des Kolonialismus als Einschreibung in den Körpern von Franzosen und Migranten verschärft soziale Polarisierungen auch und gerade in der heterogenen cosmopolis des 21. Jahrhunderts, die, wie Edward Soja festgestellt hat, zur Brutstätte für die Formation neuer Machtgeographien wird.44 Der Roman führt somit zur Hinterfragung von Raummodellen, die sich in den sog. »postkolonialen« Kultur-studien als komplexe Anordnungen gleichsam utopisch anpreisen. Dazu könnte die Utopie eines Afrika umfassenden Mittelmeerraums (Arabe du coin) oder der vielgepriesene Zwischenraum hybrider Formationen gehören. Dieser Roman zeigt, dass auch all diese Formationen von kolonialistischen Verletzungen beschädigt und in diesen gefangen sein können. Demgegenüber ermöglichen ästhetische Prozesse der Malerei, Fotografie oder der Schrift Entgrenzungen, Subjektivierungen und Anbindungen an den Anderen. Erst das Schreiben bringt die Landschaften in Bewegung und produziert die Deterritorialisierungs-effekte, die Appadurai durch die disjunktive und differentielle Kombination der scapes schon im sozialen Imaginären als gegeben ansieht.45 Einen ähnlichen Schritt macht Édouard Glissant in seinem letzten Buch Traité du Tout Monde. Er definiert die Funktion der écriture nicht mehr exkludierend – wie im Zusammenhang von créolité: »Nous découvrons que l’endroit où nous vivons, d‘où nous parlons, nous ne pouvons plus le distraire de cette masse d’énergie qui au loin nous sollicite.«46

44 Vgl. Soja, Edward W, Postmetropolis. Critical Studies of Cities and Regions, Oxford et al. 2000, S. 202f. 45 Appadurai 1996, S. 36f. 46 Glissant, Édouard, Traité du Tout Monde, Paris 1997, S. 119. Für die Dynamik der écriture bezieht sich Glissant sowohl auf Jacques Derrida, wie auch Gilles Deleuzes Flüssigwerden der Relationen im Raum der Schrift. Auch die Kritik am Identitätsdenken ist evident, etwa im folgenden Fragment »Rhétorique et identité«: »Répétons à notre tour que ce dont nous avons débattu ici est lié à la conception que chacun se fait de son identité.// L’Être-racine est exclusive, il n’entre pas dans les infinies et imprévisibles variances du Chaos-monde, où vaque seulement l’Étant-

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Im Raum der Schrift besinnt sich der Schriftsteller auf die lokale Verortung, doch ist die Geste des Schreibens nicht mehr exkludierend, sondern verbindend. Die Lokalität antwortet hier auf die energetische Anrufung der Welt.47 Die Ästhetik ist im Roman von Mabanckou darüber hinaus auch der Weg zu einem Regime des Sinnlichen jenseits der kolonialistischen Biomacht. Denn in der ästhetischen Erfahrung des Schreibens können biopolitische Materialisierungen entgrenzt werden. Der Körper erfährt sich als Medium der Nähe und der Interaktion. Den Situationisten der 50er Jahre schwebten derartige Prozesse als topologische Dynamik des Raums vor, insbesondere im Zusam-menhang mit dem »differentiellen Raum« der Repräsentation, in dem Henri Lefevbre den Ausdruck anarchischer Aneignungs- und Subjektivierungsprozesse sah.48 Als Mitglied der Internationale Situationniste hatte Abdelhafid Khatib, algerischer Künstler und Psychogeograph, im Jahre 1954, also noch vor dem Abbruch von Les Halles, einen Plan für Les Halles entworfen.49 Mit Bezug auf Lefevbres Kritik der Repräsentation des Raums durch abstrakte, unbewohnte Konzepte, welche das konkrete Leben erdrücken50, sucht er Methoden, die einen anderen

comme-Relation.//Les rhétoriques traditionnelles pourraient êtres envisagées comme le splendide effort de l’Être-racine pour se confirmer comme Être.« (Ebd., S. 114). 47 Dies lässt sich als responsive Subjektivität im Zusammenhang mit der Phänomenologie des Fremden von Bernhard Waldenfels verstehen, z.B. Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006, z.B. S. 33 und 84f. 48 Lefevbre, Henri, The Production of Space, Oxford et. al. 1991 [1974]; s. außerdem das Kapitel über Henri Lefevbre in: Lewitzky, Uwe, Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität, Bielefeld 2005, S. 53-63. 49 Khatib, Abdelhafid, »Essai de description psychogéographique des Halles«, in: internationale situationniste, n° 2, Dezember 1958, verfügbar unter:

http://i-situationniste.blogspot.com/2007/04/essai-de-description-

psychogeographique.html [27.02.2012]. 50 »LE MONDE dans lequel nous vivons, et d’abord dans son décor matériel, se découvre de jour en jour plus étroit. Il nous étouffe. Nous subissons profondément son influence; nous y réagissons selon nos instincts au lieu de réagir selon nos aspirations. En un mot, ce monde commande à notre façon d’être, et par là nous écrase. Ce n’est que de son réaménagement, ou plus

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Lebensstil (»mode de vie«) ermöglichen. Eine Entgrenzung des Planes durch Zersplitterung (»éclatement«) und das an die Ästhetik von Guy Debord angelehnte Abdriften des Experiments (»dérive expérimentale«)51 sind die zentralen Momente – in biologischen Systemen bezeichnet das Abdriften die Korrektur des Systems beim Zusammentreffen mit der materiellen Umwelt. So sucht Khatib nach einer Architektur, die Erfahrungen und Ereignisse ermöglicht, und Energien freischafft: »Parmi ces architectures nouvelles et sur leur pourtour, correspondant aux quatre zones que nous avons envisagées ici, on devrait édifier des labyrinthes perpétuellement changeants à l’aide d’objets plus adéquats que les cageots de fruits et légumes qui sont la matière des seules barricades d’aujourd’hui.«52

Neue oder alte Metropolen? Der Roman von Mabanckou zeigt, dass diese Frage eine differenzierte Antwort verlangt. Als Metropolis besteht Paris längst nur noch im sozialen Imaginären der Elite, die noch den Traum des urbanen Lebens der modernen Metropole träumt, während das urbane Leben in Wirklichkeit vom Trauma der Kolonialgeschichte durchzogen ist, denn – so die bedeutsame Botschaft dieses Romans – vom fortdauernden Kolonialismus gezeichnete Migranten aus den ehemaligen Kolonien bewohnen nicht nur die banlieues.53 Zwar ist im heutigen Paris die Spaltung zwischen Metropole und banlieue durch die Migrantenströme noch radikaler – was Edward Soja

exactement de son éclatement, que surgiront les possibilités d’organisation, à un niveau supérieur, du mode de vie.« (Ebd.). 51 »Les moyens de la psychogéographie sont nombreux et variés. Le premier, et le plus solide, est la dérive expérimentale. La dérive est un mode de comportement expérimental dans une société urbaine. C’est, en même temps qu’un mode d’action, un moyen de connaissance, particulièrement aux chapitres de la psychogéographie et de la théorie de l’urbanisme unitaire. Les autres moyens, tels la lecture de vues aériennes et de plans, l’étude de statistiques, de graphiques ou de résultats d’enquêtes sociologiques, sont théoriques et ne possèdent pas ce côté actif et direct qui appartient à la dérive expérimentale.« (Ebd.). 52 Ebd. 53 Vgl. den Aufsatz von Markus Buschhaus in diesem Band.

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»Exopolis« nennt54, doch Henri Lefebvres Anspruch der banlieues auf das Recht auf die Stadt55 hat sich in posturbanen Gesellschaften der Weltmetropole wie Paris in einer schizophrenen Weise bewahrheitet. Denn die kolonialistische Vergangenheit ist heute mitten in Paris. Aus der Metropole ist eine »Metropolarität« geworden,56 wie die biopolitische Einschreibung in den Körpern und im Imaginären von Migranten zeigt, die Les Halles bewohnen. In der Inszenierung dieses Imaginären im Roman von Mackanbou bohrt sich im Zentrum von Paris eine »Abweichungsheterotopie« ein, die – wie Gefängnisse oder Krankenhäuser57 – die Fiktionalität und den Widersinn von Utopien urbanen Lebens bewusst macht.58 Eine Chance sieht dieser Roman in dem, was ich – in Ergänzung der auf das soziale Imaginäre bezogene Typologie von Appadurai – ästhetische Landschaften (aesthetic scapes) nennen möchte. Denn erst materiell-sinnliche Landschaften, die sich im Prozess des Schreibens ereignen, entgrenzen die ideoscapes, mediascapes und ethnospaces, die die Materialisierung eines kolonialen Imaginären vertiefen und sich auf der Haut der Migranten einschreiben. Erst die Kombinatorik der Schrift zersplittert die dichotome – ja rassistische – Anordnung des Raums und gibt der Diversität von Subjektivierungen eine Stätte, damit sie den Raum bewohnen kann. In der topologischen Dynamik der

54 Im zweiten Teil des Buchs (Six Discourses on the Postmetropolis) nennt Soja »Exopolis« die posturbanen Entwicklungen unter den Bedingungen der Massifizierung und der postfordistischen Ökonomie. Dies führe, so Soja, zur Stärkung sozialer Stratifizierungen. Die Metropolis ist nicht nur zwischen Zentrum und den – für Minoritäten und sozial schwache Schichten reservierten – Randbezirken geteilt; sie wird vielmehr zu einer »Exopolis«, d.h. einer Brutstätte von fiktionalen Geschichten, die letztendlich nur melancholische Narrative eines vergangenen intakten Urbanismus sind (Soja 2000, S. 249). 55 Lefebvre, Henri, Le Droit à la ville, Paris 1968. 56 Soja 2000, S. 269. 57 Anhand von Los Angeles nennt Soja solche Räume der biopolitischen Einsperrung »Carceral Archipelago« (Soja 2000, S. 200f.). 58 Foucault, Michel, »Andere Räume«, in: Barck, Karl-Heinz u.a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-66, hier: S. 40.

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Schrift59 kommen die ideoscapes des Kolonialismus in Bewegung. Diese Bewegung ist zwar für die phantasmatische Identität der Metropole beunruhigend, doch erst sie – so zeigt dieser Roman – macht den Raum der Metropole lebbar.

LITERATUR Appadurai, Arjun, Modernity at large: cultural diomension of modernity, London et. al. 1996. Böhme, Hartmut, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. Borsò, Vittoria, Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse – Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus, Frankfurt a.M. 1994. Borsò, Vittoria, »Topologie als wissenschaftliche Methode. Die Schrift des Raums und der Raum der Schrift«, in: Günzel, Stephan (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 279-295. Borsò, Vittoria, »Borges ›el memorioso‹. Propuesta de Jorge Luis Borges para una estética del siglo XXI«, in: Olea Franco, Rafael (Hrsg.), In Memoriam. Jorge Luis Borges, Mexiko-Stadt 2008, S. 239-264. Borsò, Vittoria, »Zur ›Ontologie der Literatur‹: Präsenz von LebensZeichen in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Gewalt«, in: Fielitz, Sonja (Hrsg.), Präsenz, vorauss. 2012. Buschhaus, Markus, »Neuer Beton auf alten Bildern«, in: Hennigfeld, Ursula (Hrsg.), Nicht nur Paris. Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart, Bielefeld 2012. Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 1997.

59 Vgl. Borsò 2007; zu »Wohnen« als die Grundbedingung des Seienden (Heidegger) bzw. des menschliches Lebens (Vilém Flusser) vgl. Borsò, Vittoria, »Zur ›Ontologie der Literatur‹: Präsenz von Lebens-Zeichen in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Gewalt«, in: Fielitz, Sonja (Hrsg.), Präsenz, vorauss. 2012.

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Chambers, Ian, Mediterranean Crossings. The Politics of an Interrupted Modernity, Durham et. al. 2008. Dalembert, Louis-Philippe, Le songe d’une photo d’enfance, Paris 1993. Deleuze, Gilles, »Topologie: Anders denken«, in: ders., Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 69-172. Flusser, Vilém, Von der Freiheit des Mirganten: Einsprüche gegen den Nationalismus, Düsseldorf 1994. Foucault, Michel, »Andere Räume«, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-66. Glissant, Édouard, Traité du Tout Monde, Paris 1997. Hall, Stuart, »Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität«, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, hrsg. v. Ulrich Mehlem, Hamburg 1994, S. 44-65. Khatib, Abdelhafid, »Essai de description psychogéographique des Halles«, in: internationnale situationniste, n° 2, Dez. 1958, verfügbar unter: http://i-situationniste.blogspot.com/2007/04/essai-dedescription-psychogeographique.html [27.02.2012]. Krämer, Sybille/Koch, Elke, Gewalt in der Sprache: Rhetoriken verletzenden Sprechens, München 2010. Lefevbre, Henri, Le Droit à la ville, Paris 1968. Lefevbre, Henri, The Production of Space, Oxford et. al. 1991 [1974]. Leiris, Michel, »Civilisation«, in: Documents, n° 4, Sept. 1929, S. 221222. Leiris, Michel, L’Afrique fantôme, Paris 1943. Lewitzky, Uwe, Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität, Bielefeld 2005. Mabanckou, Alain, Black Bazar, Paris 2009. Nothomb, Amélie, Stupeur et Tremblements, Groningen 1999. Soja, Edward W., Postmetropolis. Critical Studies of Cities and Regions, Oxford et. al. 2000. Taussig, Michael, Mimesis and Alterity. A Particular History of The Senses, New York 1993. Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 2006. Wulf, Christoph, »Der Andere«, in: ders./Hess, Remi (Hrsg.), Grenzgänge: über den Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden, Frankfurt a.M., New York 1999, S. 13-37.

Metropolitane Normalität und die Flucht in die transnormale Peripherie Zu einem Faszinationstyp bei Jean-Marie Gustave Le Clézio JÜRGEN LINK

Le Clézios enorm umfangreiches narratives Œuvre umfasst sehr verschiedene Genres, von denen im Folgenden nur ein bestimmter Romantyp, der allerdings sicher zu den dominierenden zählt, erörtert werden soll. Man kann diesen Romantyp näher als Faszinationstyp kennzeichnen, weil seine Identität weniger auf einem konstanten stilistischen Profil als auf einer thematischen und perspektivisch-tonalen Konstellation beruht, zu deren Kennzeichnung ich die Kategorie des Normalismus benutzen werde. Diese Konstellation beruht thematisch zunächst auf der Polarität zwischen einer ultraindustrialistischen Metropolenlandschaft und einer prä- oder postindustrialistischen, im Extrem prä- oder posthumanen nackten Erdlandschaft. Die Protagonisten sind isolierte »Normalmonaden«, wie ich sage, die die Metropole als feindlich und unlebbar empfinden und die daher – mit Deleuze und Guattari gesprochen – nach »Fluchtlinien« (»lignes de fuites«1) suchen. Insofern ist der Roman Le livre des fuites von 1969 eine Art exemplarischer Repräsentant dieses Faszinationstyps.2

1

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Mille plateaux, Paris 1980, S. 147ff.; dies., Kafka. Pour une littérature mineure, Paris 1975, S. 23ff., S. 63ff., S. 74.

2

Le Clézio, J.-M. G., Le livre des fuites, Paris 1969.

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Ich beginne meine Überlegungen aber mit dem frühen Roman Le déluge von 1966.3 In diesem stilistisch heterogenen Text dominiert jener eigene und eigenartige Ton eines für lange Narrationen inventiv weiterentwickelten rimbaldesken Halluzinations- und Visionsstils, wie er dann in Romanen wie Le livre des fuites (1969), La guerre (1970), oder Les géants (1973) entfaltet wird, erst stellenweise, vor allem im Anfangsteil. Daneben ist die bewusst montierte Struktur durch Anklänge an Sartre und Camus einerseits, an den Nouveau Roman andererseits sowie durch einen Realismus der Alltagsbanalität gekennzeichnet. Der Gesamttext gewinnt seine Prägnanz und eben Faszination über die stilistische Heterogenität hinweg ganz überwiegend aus der antinormalistischen Konstellation, die daher zunächst genauer analysiert werden soll. In der Metropolenlandschaft sind Straßenschluchten zwischen hohen Gebäuden und ein ununterbrochener massenhafter und hektischer Autoverkehr akzentuiert. Auf den Trottoirs bewegen sich Fußgängermassen ganz analog zu den Automassen – wie bei den Autos fehlt jede as-soziative Bindung, es handelt sich, symbolisch gesehen, um isolierte Kügelchen, die ständig dem Risiko der Kollision ausgesetzt sind, wobei auch die Kopulation als eine Art von Kollision beschrieben wird. Auto-Menschen als entsubjektivierte Subjekte, denen der Körperpanzer als Karosserie (carlingue) dient: »Cette joie brusque qui vous envahit, ce désir furieux des métaux clairs et des essences translucides, cette sensation de rondeur, cette peau lisse et colorée que vous avez prise, qui vous porte en objet, et ce bonheur, cet espoir indicible, oui, là, entre la calandre et le joint de caoutchouc du pare-brise, la joie d’être blindé, trente-six chevaux vapeur, et, cachée au fond des culasses d’acier, cette étincelle explosive dont la brûlure s’irradie en flèches comme les rayons d’une roue. Opel Olympia, Ford V 8. Dans la chambre rigide, les quatre murs enferment cet homme-moteur«.4

Die Bewegung der Autos und der autoförmigen Menschen kennt keine ligne de fuite im mehrfachen französischen Sinn: kein Fernziel, keine offene Perspektive, nicht einmal eine Möglichkeit des Aussickerns durch einen Riss. Alle Individuen pendeln ständig zwischen Punkten

3

Le Clézio, J.-M. G., Le déluge, Paris 1966.

4

Le Clézio 1969, S. 277f.

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innerhalb der Metropole hin und her wie in einem chaotischen Spiel mit vielen Kugeln. Kugelspiele gehören zu den Modellsymbolen des Faszinationstyps, in Le déluge wird eine Partie Flipper beschrieben: »Alors Besson se retourna vers la machine. Elle était là, encore toute vibrante de coups et de mouvements. Transparente, métallique, coloriée comme une méduse. Sur le panneau vertical, des chiffres étaient marqués : 0 – 9 999 – 32. Entre les chiffres, il y avait une femme en bikini, le corps rose illuminé par les lampes, en train de danser au centre d’une arène de cirque. A sa droite, des hommes en uniforme fouettaient des lions. A sa gauche, il y avait deux éléphants costumés, un phoque jouant au ballon et un trapéziste pendu à son fil. Des lettres rouges étaient inscrites un peu partout : JOLLY BUMPER – CIRCUS GIRL – SCORE – BINGO – REPLAY – Archibald Swanson, Salem, Massachusetts. GAME OVER. (Tilt.) Sous la vitre horizontale, le billard étalait sa petite ville : couloirs avec lumière rouge où était écrit : 10 when red light is on. Champignons jaunes, champignons rouges, pastilles vertes et rouges. Espèces de parapets blancs, montés sur des ressorts, clapets de métal. Plus bas, au milieu d’autres obstacles jaunes et verts, il y avait une petite hutte contenant en son centre une roue blanche, chiffrée. Devant la roue, deux lampes bleues étaient allumées. Et entre les lampes, on voyait un curieux couloir de chiffres, dans le genre de : 500 400 300 200 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 87 Plus bas encore, la surface du billard se refermait en entonnoir, et de chaque côté de la bouche, des petits moignons articulés étaient repliés en arrière. C’était par là qu’on s’engouffrait. Après avoir été jeté avec haine au milieu des obstacles tressau-

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tants, après avoir cogné les bumpers rouges, après avoir été lancé contre les bords, être descendu en tournoyant, des dizaines, des centaines de fois, pour remonter d’un seul coup jusqu’en haut, après avoir déchaîné les secousses électriques, les spasmes, les claquements, les tintements, les bruits de mitrailleuses, tandis que là-haut, sur le tableau, près du visage de la femme en bikini, les chiffres absurdes défilent si vite qu’on n’a pas le temps de les voir, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 321, 331, 341, 342, 343, 344, 354, 355, 356, 357, 358, 458, 468, 469, après avoir cogné comme un boulet la roue qui tourne, après des secondes éparpillées dans le mouvement incohérent, mécanique, après la lutte désespérée contre le destin qui guette dans les creux et sur les bosses, il fallait entrer en filant dans ce trou noir, passer cette porte de la mort, et tomber dans le ventre où brillent les reflets d’étincelles, tomber dans sa case, dans son repos, tout sonore, tout imprégné de bizarres odeurs de brûlures«.5

Die Faszination dieser Deskription ist schwer zu analysieren. Sie evoziert eine epochale »Wunschmaschine«, um mit Deleuze und Guattari zu sprechen6 – antizipiert selbstverständlich alle Computerspiele des späten 20. und des 21. Jahrhunderts, und modelliert mit ihrer Kombination von »indifferenter« Präzision, um es mit Peter Zima zu sagen7, und dem halluzinatorischen, rimbaldesken »il y avait«, verfremdet wie aus dem Blick eines Marsmenschen – evoziert sie das »Galton-Sieb«, wie ich es im Versuch über den Normalismus als normalistisches UrModell rekonstruiert habe8: Wir sind alle Massenkügelchen, die auf random walks hin und her katapultiert werden, bis sie ins finale Loch

5

Ebd., S. 87f.

6

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, L’Anti-Œdipe, Paris 1972, S. 7ff. (Les machines désirantes).

7

Zima, Peter, Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen über Camus, Moravia und Sartre, Stuttgart 1983. Der »Indifferenz«-Effekt der existentialistischen Narration erweist sich nach Zima im »Sinnverlust« der Wörter (ebd., S. 47) wie im Verlust des »Charakters« der Figuren (ebd., S. 110ff., S. 124). Dabei ist der Ton jedoch niemals affirmativ; das Defizit an Sinn schmerzt. Die Figur ohne ›Tiefe‹ entspricht der Normalmonade (dem »Kügelchen«), und während Le Clézio die »Eindimensionalität« (Herbert Marcuse) der Figuren und Welten noch steigert, verstärkt er gleichzeitig den protestierenden Gestus.

8

Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 4., erweiterte Aufl. Göttingen 2009, S. 241ff.

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fallen. Das ist bei Le Clézio mit den sparsamen symbolischen Signalen »destin«, »trou noir«, »porte de la mort« angedeutet. Nach dem Flipper-Modell lässt sich das Leben in der Metropole insgesamt beschreiben, und diese Gesamtheit wird dann auch explizit auf den Begriff der Normalität gebracht: »La lumière entrait simplement dans la pièce, sans faire d’ombre, et, en même temps que la pluie, on entendait de drôles de bruits: gémissements, coups sourd, grincements, ronflements, trompes. Voix d’hommes, cris d’enfants. Chocs de bouteilles, dans des caisses. Ebranlements lourds, sur le plafond, ou sous le plancher. Raclements, grelottements inconnus, chute bruyante d’un caillou à l’intérieur des cloisons, vibration des vitres au passage d’un camion. Chuintement des pneus. Gargouillis d’une plaque d’égout, détonation des portières claquées, toux d’un démarreur. Tout ça était normal, bien normal. C’était plein, confus, cela allait et venait en balancier.«9

Es handelt sich um die Wahrnehmungen des Protagonisten aus seinem Zimmer in einem mehrstöckigen Haus. Auch diese Situation der Normalmonade in einer isolierten Zelle, typischerweise innerhalb eines vielzelligen, hohen Gebäudes, gehört zur metropolitanen Existenz. Der Aufenthalt in einer solchen Zelle entspricht der Situation des geparkten Autos. Die Geräusche, die man in dieser Situation hört, sind eben die der kleinen Chocks des metropolitanen Pendelverkehrs im weiten Sinne (»cela allait et venait en balancier«), speziell auch hier des Autoverkehrs. An dieser wie an anderen Stellen bezeichnet der Text selbst dieses endlose Pendeln mit den endlosen kleinen Chocks als »normal«. Solche Stellen sind symptomatisch für den vom Autor eher zufällig registrierten und nicht eigentlich reflektierten diskurs- und kulturhistorischen Zusammenhang zwischen moderner amereuropäischer Metropole und Normalismus. Die Geschichte des Protagonisten in einer Metropole am Meer, die an Marseille erinnert, wechselt zwischen Normalitäten, die ihn anekeln, und einer eskalierenden Reihe von Fluchtversuchen, die ihn immer stärker in anormale Situationen verwickeln, bis er schließlich nach einem eher zufälligen Mord im Affekt, der an denjenigen des Étranger erinnert, aus der Metropole gleichzeitig fliehen muss und fliehen will. Der Ausgangspunkt dieser definitiven Flucht, die in eine

9

Le Clézio 1969, S. 119.

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nackte Erdlandschaft und einen Suizidversuch mit uneindeutigem Resultat führen wird, ist ein großer Busbahnhof: »Ici, c’était le lieu du départ, l’endroit d’où les hommes fuyaient la ville. Les routes vers les différents points du monde étaient réunies sur cette place poussiéreuse, les kilomètres et kilomètres d’asphalte brûlant ou boueux, qui marchaient tous seuls à travers la campagne déserte. On partait pour les villes étrangères, vers les territoires inconnus où pousse la jungle des oliviers et des vignes. On traversait les déserts peints en rouge et en vert, les pampas, les oasis brumeuses, les gorges encastrées dans les pans de montagne. On allait vers la faim et la soif, vers le mystère, la peur.«10

Schon dieser Fluchtversuch evoziert Landschaften der südlichen Peripherie, wie sie im Livre des fuites ausführlich thematisiert werden. Diese Gegen-Landschaften zu den nördlichen Metropolen üben auf die unter der Normalität, die Le Clézio umfassender und unbestimmter als »civilisation« bezeichnet, leidenden Protagonisten eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Es handelt sich also bei Le Clézio um ein Beispiel jenes seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten narrativen Faszinationstyps, den ich den der ›(nicht) normalen Fahrt‹ genannt habe.11 Dabei sollen die Klammern um das »nicht« signalisieren, dass das Wesen dieser Narrationen in einer großen Denormalisierung, einer dé-viation, dé-viance weg von der Normalität besteht. Symbolisch führt diese Fahrt abwärts – es handelt sich also, mit dem griechischen Terminus, um eine Spielart der realistischen Katabasis. Bei Le Clézio besitzt die symbolische Abwärtsbewegung auch eine deutliche geografische oder besser kulturgeografische Dimension: Sie führt auf dem Globus abwärts von Nord nach Süd – von den ›höheren‹ Normalitätsklassen der Ersten und Zweiten Welt in die ›unteren‹ der Dritten bis Fünften, in die globale Peripherie.12 Es fehlt hier der Raum für eine ausreichende Darstellung des Normalismus-Konzepts, und ich muss auf andernorts Dargestelltes verweisen.13 Ich verstehe unter ›Normalismus‹ die Gesamtheit von diskursi-

10 Ebd., S. 232. 11 Siehe dazu ausführlich Link 2009. 12 Vgl. zum Modell von fünf Normalitätsklassen ebd., S. 431-444. 13 Ausführlicher ebd.

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ven und institutionellen Verfahren, durch die in modernen Gesellschaften euramerikanischen Typs »Normalitäten« produziert und reproduziert werden. Als historisches Apriori des Normalismus sind verdatete Gesellschaften bzw. Kulturen zu bestimmen, das heißt solche Kulturen, die sich routinemäßig und flächendeckend statistisch selbst transparent machen. Die statistische Verdatung erlaubt die Bestimmung von Durchschnitten, Extremzonen der Anormalität und von Normalitätsgrenzen zwischen dem Normalen und dem Anormalen in Massengesellschaften. Sie erlaubt mithilfe solcher Instrumentarien auch die Regulierung riskanter massenhafter Trends und insbesondere der symbolisch »exponentiellen« Trends des modernen Industrialismus. Diese Art Regulierungen sind daher genauer als Normalisierungen zu begreifen. Allerdings herrscht zwischen dem Grad an erreichter Normalität ein enormes Gefälle zwischen den reichen Metropolen des Nordens und den armen Peripherien des Südens, anders gesagt zwischen den oberen und unteren Normalitätsklassen. Le Clézios Bild der nördlichen Metropolen akzentuiert ihre Standardisierung der Objekte wie der Subjekte, ihre Massenhaftigkeit und ihre symbolisch »exponentiellen« Trends wie das ständige Wachsen der betonierten Flächen, der Gebäude, der Geschwindigkeit industrieller Vehikel. Sehr früh hat er die ökologischen Risiken evoziert. Kaskaden von Zahlen als Symptome der normalistischen Verdatung bilden ein schon im Schriftbild auffallendes Element seiner Narrationen. In diesem Hineinwuchern des Quantitativen in den literarischen Text erweist sich stilgeschichtlich eine dem Normalismus geschuldete zusätzliche Steigerung des Gewichts des Deskriptiven gegenüber dem ›rein‹ Narrativen sowie problemgeschichtlich und perspektivisch eine zusätzliche Komponente der »Indifferenz« im Sinne von Peter Zima. 14 Der Titel Le déluge bezieht sich auf ein beunruhigendes Leitmotiv, das die denormalisierende Katabasis des Protagonisten begleitet: Es regnet fast ununterbrochen und mit steigender Intensität, eine kaum noch normale Sturmflut erfasst das Meer, an das die Metropole grenzt. In dem einleitenden Abschnitt wird in einem großen Hysteron proteron und im Ton des halluzinatorischen Realismus der Zustand der Metropole nach einer ökologisch ausgelösten katastrophalen Überflutung, eben der Sintflut des Titels, antizipiert.

14 Vgl. Fußnote 7.

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Was die Wahrnehmung der Normalität in Le déluge von späteren Romanen Le Clézios unterscheidet, ist eine Grundtönung von starkem Ekel, bei der man natürlich an Sartre denkt, besonders in der Deskription des nackten Frauenkörpers aus der Perspektive des Protagonisten, sowie die ebenfalls für den Existenzialismus charakteristische ›negative Theologie‹, kulminierend in der Schilderung einer absurden Beichte, in die der Protagonist aus Zufall hineingerät, und die in ihrem am Étranger geschulten dürren Realismus die Aktbeschreibung an Obszönität noch übertrifft (falls man die Stelle nicht als heimlich positiv theologisch im Sinne eines christlichen Existenzialismus lesen möchte). Diese eklige Tönung der normalistischen Oberfläche, wie sie der Existenzialismus entwickelt hat, ist für einen radikalen Anti-Normalismus typisch, der sich wiederum gegen eine, historisch gesehen frühe, das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnende Spielart des Normalismus richtet, die ich als ›Protonormalismus‹ zu bezeichnen vorschlage. In dieser Spielart haben wir es mit engen und schmalen Normalitätsspektren und rigiden Normalitätsgrenzen zu tun, durch die große Teile der Bevölkerung als »anormal« stigmatisiert und exkludiert werden. Man kann sogar sagen, dass der Protonormalismus hauptsächlich zunächst »Anormalitäten« produziert und erst indirekt (durch den Abschreckungseffekt der »Denormalisierungs-Angst«) Normalitäten. In den oberen Normalitätsklassen wurde dieser Protonormalismus seit dem Zweiten Weltkrieg schrittweise durch den ›flexiblen Normalismus‹ abgelöst, der durch die Inklusion und Integration früherer »Anormaliäten« (wie exemplarisch der Homosexualität) gekennzeichnet ist und der auf diese Weise das Normalitässpektrum maximal zu erweitern versucht. Es ist nun für den radikalen ›Anti-Normalismus‹ des Existenzialismus charakteristisch, dass er sich an protonormalistischen Normalitäten abarbeitet und die flexiblen Normalitäten noch nicht einbezieht. Le Clézio beginnt mit der existenzialistischen Frontstellung, zeigt sich aber zunehmend fasziniert von der überwältigenden Dynamik und dem »Go beyond borders« (CNN-Motto), die dem ›flexiblen Normalismus‹ zugrunde liegen. Von Anfang an sind die Räume seiner Romane global. Im Unterschied aber zu jenen postmodernen Texten, die sich affirmativ in die Räume des flexiblen Normalismus einschreiben, ist die Flexibilisierung als Globalisierung bei Le Clézio ein unrettbar katastrophischer Prozess, dem es zu entfliehen gilt. Dass das jedoch nicht mehr möglich ist, erzählen seine Texte.

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Le livre des fuites ist auch ein Beispiel für generativen Realismus: In die Narration mit einem Protagonisten und dritter Person sind auktoriale Ich-Segmente einmontiert, in denen die Entstehung des Textes mitgeführt wird. Beide Geschichten führen den Protagonisten und die Autor-Figur parallel in einer idealtypischen Kaskade von Fluchten, in einer großen Katabasis und (nicht) normalen Fahrt aus der nördlichen Metropole in die südlichen Peripherien. Die Metropole ist gegenüber Le déluge ins Amerikanisch-Gigantische gesteigert, der Autoverkehr frenetisch: »Ville de fer et de béton, je ne te veux plus. Je te refuse. Ville à soupapes, ville de garages et de hangars, j’y ai assez vécu. Les éternelles rues cachent la terre, les murs sont des paravents gris, et les affiches, et les fenêtres. Les voitures chaudes roulent sur leurs pneus. C’est le monde moderne«.15

Die Metropole wird unspezifisch als »modern« gekennzeichnet; symbolisch als »weiß« im mehrfachen Sinne. In den Reklamewänden, ebenfalls einem wichtigen Leitmotiv, kondensiert sich die Semiotik und Semantik der Metropole. Der (nicht) normalen Fahrt auf der thematischen Ebene entspricht auf der generativen Ebene eine Denormalisierung der metropolitanen Semiotik, die Suche nach einem von Rimbaud inspirierten, »verfremdenden« Stil, in dem eine auf den Fluchten in die Peripherie gesuchte, nicht-metropolitane Eurhythmie des einfachen, mit der Erde kompatiblen Lebens gesagt werden könnte. Der Held ist ebenfalls eine idealtypische Normalmonade, er heißt »Hogan«, oder abgekürzt einfach »J. H.« für »Jeune Homme«, manchmal auch »J. H. H.« für »Jeune Homme Hogan«. Stilistisch ist nun die gesamte narrative Linie durch eine Montage von halluzinatorischem und generativem Realismus integriert. Ein Beispiel für die generativrealistischen Insertionen bildet das folgende Schreib-Programm in Stichworten und Notaten: »La ville est devenue insupportable. […] Il faut fuir, mais par où ? Et comment ? Dans l’espace, dans le temps. Quelle sera la limite ? La plus grande, la plus vieille des recherches : celle de l’habitat.

15 Le Clézio 1969, S. 63.

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Trouver le lieu qui vous maintiendra en paix, qui vous tienne en vie. Marcher doucement, calmement vers les choses. Marcher vers l’image la plus précise de soi. […] Fuite fugue évasion L’art des pièges

runaway fugitif fuyard évadé avoiding shunning dodging course route roue le livre des fuites

[…].«16

Ein Beispiel für die fuites lautet im Ton der ersten Person so: »Je marche. J’avance dans la ville, et mes pieds cognent sur le sol rude. […] Le sol est dur, est plat. Les murs sont hauts. Les toits ne sont pas visibles. Le ciel est une esplanade déserte, immense. Autour de moi, les mouvements des voitures rapides, les passages des hommes. Je les vois, derrière ma vitre, effacés, humbles. Mais je n’entends rien. Je marche comme un sourd, enfermé à l’intérieur de ma bulle tranquille. Les gens crient et je n’entends rien. Les voitures foncent en faisant rugir leurs moteurs, les avions à réaction traversent les nuages, et je n’entends rien«.17

Hinter welchem Glas und in welcher Blase geht dieser Fußgänger? Jedenfalls ist seine Seele ein Auto: »et son âme, tout à coup, c’est cette limousine noire qui roule avec le bruit de son moteur chaud, le long des rues blanches.«18

16 Le Clézio 1969, S. 169 u. S. 171. 17 Ebd., S. 65. 18 Ebd., S. 64.

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Aus normalismustheoretischer Sicht lässt sich die Durchquerung der libyschen Wüste, geschildert als halluzinatorische Denormalisierung, geradezu als Überschreitung der Normalitätsklassengrenze zwischen den nördlichen Metropolen und den südlichen Peripherien, zwischen der zweiten und der dritten Normalitätsklasse, also dem Übertritt in die Dritte Welt, auffassen. Ob in Indien, in Thailand oder in Mexiko: Es erweist sich, dass die Metropolen längst auch in den Peripherien präsent sind: als Normalitäten minderen Standards und als untergegangene Normalitäten: schlechte Straßen, schlechter Beton, kaputte Autos. Die Flucht führt also in Enklaven des Elends, in Slums und in gänzlich abgelegene Dörfer, die von einem scheinbar absurden Schicksal getroffen wurden, hinter dem sich aber indirekt ebenfalls als Ursache die europäische Welteroberung abzeichnet. J. H. flieht die Erste Normalitätsklasse (die Erste Welt), weil er sie als Gefängnis erlebt und im Süden Befreiung sucht. Konkret sind seine Fluchten als die eines einsamen Rucksacktouristen konnotiert. Als der Protagonist am Ende des Romans in einem Bergdorf in Chiapas endlich einen Ort der Ruhe und des Friedens, das Ende aller Fluchten gefunden zu haben glaubt, mit einer Bevölkerung ohne Autos und ohne Hektik, mit ruhigen rhythmischen Gesten, und als er, wie Faust sozusagen, schon gesagt hat: »Verweile doch, du bist so schön« – muss er lernen, dass er sich in einem Dorf von Blinden befindet, die durch eine von Fliegen übertragene Epidemie zu ihren langsamen eurhythmischen Bewegungen gezwungen wurden. Vor diesem katastrophalen Schluss ereignet sich eine andere bemerkenswerte Episode in einem anderen Dorf in Chiapas: Der Weiße liest ein dickes Buch mit dem Titel Les mots et les choses – er möchte von einem jungen Indio wissen, wie dieser Titel (über das Spanische) in Huichol zu übersetzen wäre. Der lange Dialog ist sehr komisch und gleichzeitig sehr philosophisch – er wirft das Problem der kulturellen Enteignung der Indigenen, normalismustheoretisch der unteren Normalitätsklassen, auf: »Was soll das dieser Ausländer, der uns Wörter stehlen will? « (254).19 Diese Frage endet in der simulierten Hassrede eines Bewohners der unteren Normalitätsklassen,

19 »C’est que, pour le Huichol, et pour ceux qui refusent, qui s’enfuient, le langage ne parle justement pas des mots et des choses. Il est un acte naturel qui implique l’appartenance. Celui qui est, parle. Celui qui ne parle pas, n’est pas. « (Le Clézio 1969, S. 253); folgende Seitenangaben beziehen sich auf Le Clézio 1969.

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in der nicht bloß »Touristen, Missionare, Forschungsreisende, Journalisten, Prospekteure, Siedler«, sondern in einer endlosen Serie u.a. auch »Goethe-Institute« und »Operetten-Revolutionäre« beschimpft werden (250). Der eigentliche »Fluchtpunkt« aller (nicht) normalen Fahrten nach Süden von Autorfigur und Erzähler ist also die Erkenntnis, zur »Rasse der Räuber« (race des voleurs) zu gehören (255) – unwiderruflich oder doch nicht ganz ohne Hoffnung auf eine letzte Fluchtlinie? Das lässt der offene Schluss offen. In Les géants (1973) heißt die Metropole ›Hyperpolis‹: »Que voyez-vous? Je vois un immense terrain plat, à l’embouchure d’un fleuve. Il y a une sorte de plage de galets devant la mer, et tout de suite derrière la plage, ce grand terrain plat sur la zone d’alluvions du fleuve. Sur ce terrain plat il y a Hyperpolis. […] Ce qui est important, ici, c’est la blanche Hyperpolis qui brille au soleil, avec ses quatre parkings de goudron autour d’elle«.20

Betont ist in Hyperpolis wiederum, und diesmal ganz dominant, die Semiotik und Semantik der Reklame und Manipulation. Stereotype sprachliche Formeln, kombiniert mit stereotypen Bildern. Es ist eine »société de contrôle «, um mit Deleuze zu sprechen21, und die »Giganten« sind eine Art Allegorie dieser Manipulation. Dabei wird auch die wissenschaftliche Seite betont: Psychologie und Management-Theorien. In den Zitatmontagen aus Reklame und Manipulationswissenschaften spielt der Normalismus eine leitmotivische Rolle: »Enquête de Du Pont de Nemours sur les Supermarchés. Étude de la rapidité des clignements de paupières, filmés par Vicary : Rythme normal : 32 clignements par minute. Tension : 50 à 60 par minute. Devant l’étal des supermarchés : 14 par minute. Vicary : ›Il s’agit là d’une transe hypnoïdale. Le premier stade de l’hypnose.‹«22

20 Le Clézio, J.-M. G., Les géants, Paris 1973, S. 37. 21 Deleuze, Gilles, »Post-scriptum sur les sociétés de contrôle«, in: ders., Pourparlers, Paris 2003, S. 240-247. 22 Le Clézio 1969, S. 57.

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»G.W. Hartman: a field experience on the comparative effectiveness of emotional and rational political leaflets in determining election results in Journal of abnormal and social psychology: 24,1 % no prop 35,4 % prop ration 50 % prop emot.«23

Jede dieser Montagen endet mit der Parole »il faut brûler Hyperpolis«, was eine Art von »Terroristen« am Ende bewerkstelligen. Auch hier möchten die Normalmonaden fliehen (der Protagonist heißt hier »Machines«), obwohl das unmöglich zu sein scheint: »Il faudrait s’échapper, le plus loin qu’on peut. Il faudrait prendre un bateau pour Carthage, pour Byzance, un train pour Wang-Chow, un camion pour Samarkhande, et commencer un voyage sans retour. Mais ce ne serait pas assez loin. Il faudrait aller si loin qu’on ne voie plus jamais le toit plat du baraquement, ni le dôme blanc d’Hyperpolis. Il faudrait arracher tous les tubes, les fils, les tuyaux qui, sous prétexte de vous nourrir, vous traient. Peut-être qu’on retrouverait la parole. Peut-être qu’on pourrait aimer quelqu’un, quelque chose, qui ne serait plus votre propre image«.24

Ein Mescalero-Indianer namens Bogo sucht Fluchtwege in Kolumbien und Mexiko. Die Kulturen prämoderner Alterität (Karthago, Byzanz, China, Persien, in anderen Texten die präkolumbianischen Kulturen) bleiben unerreichbar, und noch unerreichbarer bleibt die friedliche Erde einer eurhythmischen Kultur. Für diese Unerreichbarkeit steht das Meer, an dem Hyperpolis ebenso liegt wie alle anderen Metropolen bei Le Clézio. Le Clézios halluzinatorischer Realismus ist bei aller visionären Übersteigerung aktual historisch auf die Jahrzehnte sei 1960 bezogen, wie es die zahlreichen Anspielungen auf den kapitalistischen Konsumismus, die Massenmedien, den Vietnamkrieg und die Gefahr eines Atomkrieges erweisen. Zum Reservoir solcher Anspielungen zählt nicht zuletzt der Normalismus mit den Motiven der Verdatung und ihren Zahlenkaskaden, der Standardisierung von Objekten und Subjekten, des mainstreaming und der Deviation vom Massenkügelchen im

23 Ebd., S. 90. 24 Ebd., S. 281.

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Galton-Sieb. Aber statt der realen normalistischen Abstufung mehrerer, differenzierter Normalitätsklassen mit steigendem bzw. sinkendem Grad an Normalität setzt sich bei Le Clézio zunehmend ein dichotomisches Modell durch: amereuropäische industrialistische Moderne vs. präkolumbianische eurhythmische, terrestrische, der Erde verbundene Kulturen (wie in Le rêve mexicain). Wenn man präkolumbianisch weit fasst im Sinne des großen Einschnitts der europäischen Welteroberung seit der frühen Neuzeit, zählen dazu auch die afrikanischen und asiatischen Kulturen. Normalismustheoretisch handelt es sich bei den in diesem Sinne weitgefassten präkolumbianischen Kulturen um vornormalistische Kulturen. Sie machen sich nicht statistisch transparent und versuchen nicht, die Massendynamiken ihrer Objekte und Subjekte nach technischen Modellen zu beherrschen – sie sind nicht technokratisch. Le Clézio schildert mit trauernder Empathie ihre unausweichliche Auslöschung durch die Übermächtigung von McWorld, wie Benjamin Barber sagt.25 Normalismustheoretisch besteht der Mechanismus darin, dass alles Vor-Normalistische als nicht-normal kodiert und dann einem Normalisierungsprozess unterworfen wird. Der normalistische Igel ist überall auf der Welt schon da, wo der Hase terrestrische Eurhythmie sucht. Gerade auch die nördlichen Metropolen wuchern schon im Süden – durchsetzt von den Slum-Metropolen, die die unteren Normalitätsklassen signalisieren (Mike Davis26) – man nennt das Globalisierung. Und man hält das für alternativlos. Auch Le Clézio muss es erfahren und kann es nicht bestreiten, bleibt aber bei seinem Nein und gewinnt daraus die Töne seiner Poesie.

LITERATUR Barber, Benjamin, Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism are Reshaping the World, New York 1996. Davis, Mike, Planet of Slums, London, New York 2006. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, L’Anti-Œdipe, Paris 1972. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Kafka. Pour une littérature mineure, Paris 1975.

25 Barber, Benjamin, Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism are Reshaping the World, New York 1995. 26 Davis, Mike, Planet of Slums, London, New York 2006.

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Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Mille plateaux, Paris 1980. Deleuze, Gilles, »Post-scriptum sur les sociétés de contrôle«, in: ders., Pourparlers, Paris 2003, S. 240-247. Le Clézio, J.-M. G., Le déluge, Paris 1966. Le Clézio, J.-M. G., Le livre des fuites, Paris 1969. Le Clézio, J.-M. G., Les géants, Paris 1973. Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 42009. Zima, Peter, Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen über Camus, Moravia und Sartre, Stuttgart 1983.

M ETROPOLEN ALS O RTE DYNAMISCHER KONFRONTATIONEN

Afrikanische Passagen zwischen Gestern und Morgen Auf den Spuren urbanen Lebens von Mongo Betis La ville cruelle bis Alain Mabanckous Black Bazar KIAN-HARALD KARIMI

I Gleich dem Theater, dem als Schaustätte oder Textpartitur etwas Festes, als Aufführung aber auch etwas Bewegliches und Performatives anhaftet, sind die mit Magazinen und eleganten Läden besetzten Pariser Einkaufspassagen mehr als nur Zeugen einer vergangenen Epoche.1 Mit ihnen wird das Denken in seinem motorischen Charakter selbst zur Analogie, zumal in der Geschichtstheorie Walter Benjamins, die sich einer dialektischen »Darstellung der Moderne als des Neuen, des schon Vergangenen und des Immergleichen in Einem«2 verpflichtet weiß. In seinem Passagenwerk verdichten sich jene »Warenfriedhöfe, die den Müll einer abgelegten Vergangenheit enthalten«3, zu einer Geschichtsschreibung, die bis auf die Ursprünge des historischen Augenblicks zurückgeht. Benjamins Anliegen ist es, »die Reihe der konkreten historischen Formen der Passagen aus sich hervorgehen zu lassen, wie das Blatt den ganzen Reichtum der empirischen Pflanzen-

1

Vgl. Lambert, Guy, Paris et ses passages couverts, Paris 2002.

2

Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften – Noten zur Literatur

3

Buck-Morss, Susan, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Pas-

(Bd. 11), hg. v. Rolf Tiedemann u.a., Darmstadt 1998, S. 575. sagen-Werk, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2000, S. 59.

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welt aus sich herausfaltet.«4 Sein Passagenwerk gerinnt zu einer in den letzten Jahrzehnten zunehmend gewürdigten Analyse einer Moderne5, die in der Warenform bis ins letzte Glied hinein einen vormals unvorstellbaren Grad an Vergesellschaftung erfährt. Jene Moderne mag uns selbstverständlich anmuten, sofern ihre Leistungen und Irrtümer noch unvermindert auf unseren Alltag einwirken. Anders verhält es sich indes, wenn diese unsere Gewohnheiten nicht mehr in Bann halten und uns wie jene Pariser Passagen abgegolten erscheinen. Sosehr die modernen Zeiten nämlich dazu neigen, weit zurückliegende Phasen der Geschichte zu inventarisieren, sosehr tendieren sie auch dazu, ihre eigenen Voraussetzungen auszublenden. Denn die Warenproduktion erschwert es ihrem Charakter nach, Geschichte als »Gegenstand einer Konstruktion [zu verstehen], deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«6 Sie stellt die aus arbeitsteiligen Prozessen hervorgegangenen Erzeugnisse als etwas Fertiges und Abgeschlossenes dar, so dass »die Produkte des menschlichen Kopfes als mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbstständige Gestalten erscheinen müssen.«7 In diesem Sinn pflegen die ständig wechselnden Moden, die allein auf temporäre Wirkung bedacht sind, unter ihren Schichten das vermeintlich Abgegoltene zu begraben und vorangegangene Zeitstile nur dann zu zitieren, wenn und wann immer es ihnen beliebt. Entgegen einem unverrückbar anmutenden Status Quo, der sich im bürgerlichen wie im marxistischen Fortschrittsdenken aus der radikalen Absage »an eine überholte Vergangenheit und entschiedene Ausrichtung auf die Zukunft«8 ergibt, bemüht Benjamin die Gegenwart nicht mehr, um von diesem vermeintlich sicheren Punkt der Erkenntnis

4

Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften - Das Passagenwerk (Bd. I-II) (Bd. 5), hg. v. Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt a.M. 1983, S. 577.

5

Vgl. z.B. Goebel, Rolf J., Benjamin heute. Großstadtdiskurs, Posttko-lonialität und Flanerie zwischen den Kulturen, München 2001 bzw. Stierle, Karlheinz, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München u.a. 1993.

6

Benjamin 1983, S. 137.

7

Marx, Karl, Das Kapital (MEW Bd. 23), Berlin 1962, S. 86.

8

Vgl. Fahlbusch, Erwin (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Göttingen 1991, Bd. 3/8, S. 499.

A FRIKANISCHE P ASSAGEN ZWISCHEN G ESTERN UND M ORGEN | 127

das Geschehene anzusteuern. Im Topos der Pariser Passagen, den Vorboten der späteren Warenhäuser, bietet sich für ihn die Aussicht, »das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußtseins«9 zu machen. Aus der Mode gekommen, gleichen diese nämlich nicht mehr den Waren, die sie ausstellen. Erst wenn sie veraltet sind, können sie zu lesbaren Gegenständen werden, die sich nicht darauf beschränken, kollektiver Traumata zu gedenken. Auch sind es Träume, die in jeder Epoche in Bildern das kommende Zeitalter erahnen lassen, »vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft.«10 Als Figuration umfasst die Passage eine Assoziationsbreite, die sowohl in Hinblick auf topographische Räume als auch semantische Bereiche das Transitorische und Temporäre hervorhebt. Ähnlich wie Gedankengänge allmählich aus einer differentiellen Struktur von Worten und Sätzen folgen, »[puisque] l’acte de marcher est au système urbain ce que l’énonciation est à la langue ou aux énoncés proférés«11, erschließt sich eine Stadt erst aus der Vielzahl ihrer Straßen und Plätze, aber auch aus der Überlagerung ihrer historischen Sedimente und natürlichen Gegebenheiten. Diese können sich selbst bis in ihre Bezeichnungen hinein abbilden, »fondamentalement le nom d’un lieu de passage, le nom du croisement de deux routes, ou d’un pont et du croisement d’une route et d’un fleuve.«12 Wie sich die Passage in einen beliebigen Ort verwandeln kann, »in ein Kasino, in einen Spielsaal«13, vertritt Paris als Weltstadt alle Städte der Welt, fasst sie doch »als erste auch das Projekt, die Welt in lesbarem Maßstab in sich zusammen.«14

9

Benjamin 1983, S. 137.

10 Ebd., S. 47. 11 Certeau, Michel de, L’invention du quotidien. Bd. I : Arts de faire, Paris 1990, S. 148. 12 Lamizet, Bernard, »Les langages de la ville«, in: Lamizet, Bernard/Sanson, Pascal (Hrsg.), Les langages de la ville, Marseille 1997, S. 39-49, hier: S. 39. 13 Benjamin 1983, S. 671. 14 Stierle 1993, S. 14.

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II Doch noch weit mehr als im 19. Jahrhundert ist dieses Laboratorium der Moderne in unserer Zeit, obschon anders, zu einem »abrégé de l’univers«15 geworden. Seit der Unabhängigkeit der Kolonien hat sich Paris zum ersten Anziehungspunkt afrikanischer Einwanderer in Frankreich entwickelt. Auch die so entstandene disperse schwarze Stadt blickt »[as] a landscape of memory«16 auf eine Urgeschichte der Moderne zurück, zu der die einstige Metropole des kolonialen Imperiums ebenso gehört wie jene bekanntere Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Am vorläufigen Endpunkt einer Passage steht eine wachsende afrikanische Bevölkerung in Paris, die sich aus ihrer dörflichen Umgebung einen Zugang in die Städte der kolonialen Peripherien und schließlich in die Metropole selbst erschlossen hatte. Als europäische Passanten, die dieser Blickrichtung folgen, neigen wir entweder dazu, Afrika und seine Geschichte an den Vorbildern der westlichen Polis und ihren zur historischen Norm gewordenen Entwicklungsprozessen zu messen. Oder wir geben der Tendenz nach, den so idealisierten Fortschritt gegen das Bild eines vorkolonialen bäuerlichen afrikanischen Idylls auszutauschen, wie dies die historische Forschung selbst bis vor einigen Jahrzehnten getan hat.17 Zu sehr erschien die Verstädterung in Afrika, das nach lang gehegten Vorstellungen der Abendländer ohnehin Züge des Unbewussten und Geschichtslosen trägt, bis ins 20. Jahrhundert hinein noch am wenigsten fortgeschritten. Demgegenüber war die Erinnerung an westafrikanische Städte wie Accra, Dakar, Freetown, Lagos, Luanda oder Timbuktu verblasst, die bereits vor der europäischen Expansion wirtschaftliche und strategi-

15 Corbineau-Hoffmann, Angelika, Brennpunkt der Welt. C’est l’abrégé de l’univers. Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780-1830, Bielefeld 1991. 16 Jules-Rosette, Bennetta, Black Paris: The African Writers‘ Landscape, Urbana/Chicago 1998, S. 149. 17 Coquery-Vidrovitch, Catherine, »L’Afrique urbaine – De la ville en Afrique noire«, in: Annales. Histoire, Sciences sociales (Bd. 61), Paris 2006, S. 1087-1122.

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sche Knotenpunkte gebildet hatten.18 Erst allmählich sollte sich die Einsicht durchsetzen, dass sich seit Mitte der 1940er Jahre auch auf dem Schwarzen Kontinent eine rasante Urbanisierung vollzogen hatte und Metropolen wie Johannesburg, Lagos und Kinshasa inzwischen zu den weltweit größten Ballungsräumen gehören.19 Allein die von den Europäern erweiterten oder begründeten Städte wurden lange Zeit als »ilôt de modernité en milieu hostile« angesehen.20 So scheinen sich in den Vorstellungen, die noch bis heute über die Stadt in Afrika bestehen, geradezu Modelle aus der Kolonialzeit zu reproduzieren, »[comme] trop d’Africains ont encore comme idéal la cité coloniale, la ville héritée.«21 Dieser so konstruierte Gegensatz zwischen vermeintlicher präkolonialer Stagnation und einem von Europäern entfachten Entwicklungspotenzial scheint noch heute das koloniale Erbe ins Recht zu setzen.22 Die afrikanischen Völker, so könnte die Schlussfolgerung lauten, hätten erst auf Grund der europäischen Zivilisation das Dunkel der Zeiten verlassen, um als Bürger moderner Städte ihren Platz in der Geschichte zu finden. Gegenüber diesen Fallstricken einer Entwicklungsphilosophie, die mentale Abhängigkeiten bis heute festschreibt, lässt das Passagenkonzept seine Vorzüge erkennen: Als Kategorie einer offenen Bewegung entzieht es sich jenem Modell einer fortschreitenden Zivilisierung, jener »passage de l’état de nature à l’état civil« oder jenem »Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit«23, wie es seit Mitte des 18. Jahrhunderts für das Abend-

18 Janowicz, Cedric, Zur sozialen Ökologie urbaner Räume: afrikanische Städte im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung, Bielefeld 2008, S. 207. 19 Fourchand, Laurent, »L’histoire urbaine en Afrique: une perspective ouestafricaine«, in: Histoire urbaine (n° 9), 2004, S. 129-144. 20 Piermay, Jean-Luc, »L’apprentissage de la ville en Afrique sud-saharienne«, in : Le Mouvement Social (n° 204), 3/2003, S. 35-46, hier S. 45. 21 Elong-Mbassi, Jean-Pierre, »Trop d’Africains ont comme idéal la ville coloniale«, in: Le Monde, 21. Sept. 2009. 22 Vgl. Gassama, Makhily (Hrsg.), L’Afrique répond à Sarkozy. Contre le discours de Dakar, Paris 2008. 23 Korten, Harald, »Übergänge«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 11), Basel 2001, S. 31.

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land selbst und im Zuge der kolonialen Expansion schließlich auch in globaler Hinsicht konstitutiv werden sollte. Als Folge einer »kapitalistischen Entwicklung von Unterentwicklung«, um einen bekannten Ausdruck André G. Franks24 in Anspruch zu nehmen, hatten die Beziehungen zwischen Metropolen und Peripherien einen asymmetrischen Charakter erhalten, auf den sich der koloniale Diskurs fortan selbst zu berufen pflegte25, so etwa auf die Formel, dass der hohe Entwicklungsstand der Mutterländer allein durch eine nachholende Modernisierung in den abhängigen Gebieten zu erreichen sei, »[d’]ouvrir à la civilisation européenne ces pays attardés, appeler leurs populations à la liberté et au progrès, après les avoir arrachés à l’esclavage, aux maladies et à la misère«, wie es etwa von belgischer Seite hieß.26 Doch dieser Zivilisationsdiskurs, der sich der primitiven Wildheit Schwarzafrikas als Antithese gegenüber stellt, sollte diese Asymmetrien auch an die europäischen Zentren weitergeben. Denn wie sich im bürgerlichen Bildungsroman des 19. Jahrhunderts zeigt, führen die Passagen keineswegs, wenn überhaupt, in gerader Linie von der heimatlichen Provinz in die unvertraute Metropole. An gebrochenen Biographien wie jenen des an seinem Dasein vorbeilebenden Frédéric Moreau oder des um seine Ideale gebrachten Lucien de Rubempré wird ersichtlich, dass existenzielle Übergänge, die zwischen Entfremdung und Emanzipation, Heilserwartungen und zerstörter Illusion zu oszillieren pflegen27, ihren Anfang nicht mit einem gewissen Ziel zu verbinden wissen. Dem Konzept der Passage dürften diese Antihelden umso näher kommen, als ihre »makrokosmische Reise« durch die Eingeweide kollektiver Sehnsüchte und Lebenslügen führt28, ohne zu einem bewussten Endpunkt zu gelangen, der sich doch wieder nur als bloße Illusion erwiese.

24 Vgl. Frank, André Gunder, Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, übers. v. Ingo Presser, Frankfurt a.M. 1969. 25 Vgl. Wendt, Reinhardt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn u.a. 2007, S. 171f. 26 Zitiert nach Piniau, Bernard, Congo-Zaïre, 1874-1981, La perception du lointain, Paris 1992, S. 89. 27 Vogt, Jochen, Aspekte erzählender Prosa: eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, München 92006, S. 233. 28 Vgl. Benjamin 1983, S. 491.

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Dank ihres gewundenen Charakters ist die Passage in der kolonialen Peripherie umso mehr dazu angetan, eine allein auf das Zukünftige ausgerichtete Orientierung zu erschweren29, als die unverhüllt schroffen Formen der Gewalt einem blinden Fortschrittsglauben entgegenstehen. Der Traum von der kindlichen Idylle und das jähe Erwachen im städtischen Milieu radikalisieren sich hier »as a separation from origins and essences that this colonial space is constructed.«30 Eine weitaus größere Distanz als seine weißen Geschwister hat das koloniale Subjekt auf seinem Weg in die Stadt zurückzulegen. Die Spiegel, die die Pariser Passagen ins Märchenhafte ausdehnen, sind auch in diesem übertragenen Sinn alles andere als transparente, auf Eindeutigkeit bedachte Oberflächen. Sosehr sich »westliches philosophisches Denken an afrikanischem« spiegeln und jenes auch auf die kolonialen Zentren zurückwirken mag, »sofern es in einem westlichen Kontext herangezogen [wird]«31, sosehr halten diese Reflexe doch divergierende Blicke fest. Aus diesen lassen sich Positionen innerhalb der kolonialen Hierarchien ablesen, zwischen denen eine Vermittlung kaum möglich erscheint: »[…] un citoyen d’Afrique noire se promenant dans une grande ville d’Afrique blanche s’entende traiter de ›négro‹ par les enfants ou se voit adresser la parole en petit-nègre par des fonctionnaires.«32 Eine Gegenwart wie diese kommt in der Geschichtstheorie Benjamins einem Ausnahmezustand gleich, der die Tradition der Unterdrückten in der Geschichte auf den Begriff bringt.33 Umso mehr trifft dies auf eine urbane Umgebung zu, »[qui] enregistre les marques du passé d’une façon plus concentrée que l’espace rural.«34 Als »instru-

29 Vgl. ebd., S. 672. 30 Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London u.a. 2000, übers. v. Michael Schiffmann, S. 120. 31 Kimmerle, Heinz, Entgeistert. Ein Essay über den Verlust des Geisterglaubens und den Wirklichkeitsstatus der Welt der Geister, Zoetermeer 2001, S. 9. 32 Fanon, Frantz, Les damnés de la terre, Paris ³2004, S. 157. 33 Vgl. Benjamin 1983, S. 697. 34 Bret, Bernard/Commerçon, Nicole, »Avant Propos«, in: Géocarrefour (Bd. 79/3), 2004, S. 195-196.

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ment universel de colonisation«35 steht diese unter besonderer Aufsicht der Europäer, die sich ihrer Herrschaft vornehmlich über den Raum als »eine der privilegiertesten Formen der Herrschaftsausübung« zu versichern wissen.36 In der urbanen »Einheit des Disparaten«37, die der Lesbarkeit der modernen Welt Resonanz verleiht, findet der Kolonialdiskurs den geeigneten Nährboden für den Gleichlauf von inhumaner Praxis und schwärmerischen Prätensionen. Obschon Städte wie Dakar, Abidjan oder Yaoundé demnach auf der Opposition einer von Weißen bestimmten Ordnung und dem Chaos indigener Viertel beruhen38, durchdringen sich diese Paradigmen, »le ou plutôt les modèles autochtones anciens, déjà largement métissés sur le plan culturel, et le modèle spécifique colonial/blanc/métropolitain.«39 Diese Ambivalenz geht auch in das Verhältnis des kolonialen Subjekts zum urbanen Milieu ein: Der Ort seiner unmittelbaren Konfrontation mit dem in Rassehochmut befangenen Weißen ist zugleich auch Werkstatt seines politischen Bewusstseins, das aus eben diesen Erfahrungen gespeist ist. Angesichts ihrer sozialen und kulturellen Heterogenität weist sich die Stadt als historische Folie aus, auf der das koloniale Subjekt seine Anpassung wie Emanzipation erfährt, »[as] the linguistic articulation of the process through which non-European cultures were integrated into a European system of administration.«40 Vor diesem historischen Horizont, der die semantischen Verstrickungen von Kultur und Kolonialismus nur allzu ersichtlich macht,41 vollzieht sich ein bis heute wirkender Prozess, »celui du passage en Afrique d’une civilisation globalement rurale à une civilisation de l’urbain.«42

35 Coquery-Vidrovitch, Catherine, »Villes coloniales et histoire des Africains«, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire (n° 20), 1988, S. 49-73, hier S. 53. 36 Pierre Bourdieu, zitiert nach Janowicz 2008, S. 200. 37 Stierle 1993, S. 24. 38 Goerg, Odile, »Villes, circulations et expressions culturelles«, in: Afrique & histoire (Bd. 5/1), 2006, S. 7-14, hier S. 11. 39 Coquery-Vidrovitch 1988, S. 49. 40 Berman, Russell A., Enlightenment or Empire: colonial discourse in German culture, Lincoln u.a. 1998, S. 7f. 41 Vgl. Seubold, Günter (Hrsg.), Das Barbarische der Kultur. Kultur-theoretische Analysen von Platon bis Adorno, Bonn 2003. 42 Coquery-Vidrovitch 1988, S. 51.

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In der Kolonialzeit zunächst nur als »des hôtes de passage«43 geduldet, erwarten die früheren Landbewohner eine Besserung ihrer Lebensumstände in jenen ›bidonvilles‹, deren Bezeichnung sich seit den 1950er Jahren zunehmend auch mit Bezug auf die städtische Peripherie des Mutterlands im französischen Wortschatz durchzusetzen beginnt.44 Vor allem seit der Unabhängigkeit ihrer Heimatländer nutzt ein kleiner Teil von Migranten die Armenghettos auch als Sprungbrett in die Metropolen, ohne dabei stets ein verbindliches Ziel vor Augen haben zu müssen. Dieser Übergang vollzieht sich in Passagen, in denen sich die zunehmende Wirkung urbaner Verhältnisse auf das koloniale Subjekt abzeichnet, in Ville cruelle (1954) von Eza Boto alias Mongo Beti, in La poubelle (1984) von Papa Pathé Diop, En attendant le vote des bêtes sauvages (1998) von Ahmadou Kourouma und Black Bazar von Alain Mabanckou (2009). Zunächst ist es dabei die von kolonialen Bedingungen geprägte Stadt, in der sich das koloniale Subjekt aus seinen stammesmäßigen Bindungen zu lösen beginnt, ohne dabei indes in den Besitz von Stadt- und Bürgerrechten zu kommen. In einem weiteren Zug erfährt es die Stadt als Sitz einer postkolonialen Macht, die ihre reale politische Schwäche durch eine überzogene Repräsentation, durch Anlehnung an die alte Metropole sowie durch eine maßlose Repression der eigenen Völker kompensiert. Dabei werden nur die sozialen Realitäten als Kehrseite einer Stadt verdeckt, die von Traditionen, Hoffnungen und Konsum geprägt, im Müll, Plunder und Abfall ihre adäquaten Symbole findet. Was mit der Initiation des kolonialen Subjekts bei Mongo Beti beginnt, was sich in der Repräsentation postkolonialer Macht afrikanischer Patriarchen bei Kourouma und mit der residierenden Armut in der Hauptstadt Dakar bei Pathé Diop fortsetzt, findet seinen zumindest vorläufigen Abschluss bei Mabanckou in der Hauptstadt des ehemaligen Kolonialreichs. In seinem Black Bazar sammelt sich eine afrikanische Diaspora, die ihre Heimat in den gemeinsamen Erinnerungen und geteilten Erfahrungen findet, und diese dabei in Gestalt des Erzählers sogar zu Papier bringt.

43 Ebd., S. 63. 44 Cattedra, Raffaele, »Bidonville: Paradigme et réalité refoulée de la ville du XXe siècle«, in: Depaule, Jean-Charles (Hrsg.), Les mots de la stigmatisation urbaine, Paris 2006, S. 123-164.

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III In den 1950er Jahren ist dem frankophonen Roman Afrikas in der Erwartung der Unabhängigkeit »eine goldene Ära«45 beschieden. Kontroversen entzünden sich naturgemäß an der Frage, welchen Aufgaben sich der Roman am Vorabend der Unabhängigkeit zuzuwenden habe. Muss er ein koloniales Universum nachzeichnen, dessen Willkür tief in die Existenz der Einheimischen eindringt? Oder darf er einem afrikanischen Lebensgefühl Ausdruck verleihen, »fasciné par […] la splendeur de l’aube ou du coucher du soleil«, wie Alain Mabanckou den autobiographischen Roman L’enfant noir (1953) des guineischen Autors Camara Laye verteidigt.46 Diese autodiegetische Erzählung, mit der sich der Roman im frankophonen Afrika am Vorabend der Unabhängigkeit zurückmeldet, gedenkt einer in sich ruhenden Gemeinschaft von Familie und Bekannten. In der Umgebung seines Vaters, der die Autorität eines magischen Goldschmieds und eines sanften Patriarchen einnimmt, fühlt sich der junge Held ebenso aufgehoben wie bei seiner liebevollen Mutter. Überlieferungen und Gebräuche, die im Gedenken an die Ahnen ihren Sinn erhalten, will Camara nicht in Frage stellen.47 Auch den Unterricht verfolgt er andächtig, um sich als einer der Besten zur weiteren Ausbildung zunächst nach Conakry und dann nach Paris schicken zu lassen. Dieses Lebensgefühl erinnert an populäre Erziehungsromane wie Cuore (1886) von Edmondo de Amicis, »con i valori civili e anche laici […] la famiglia, la scuola e la patria; il rispetto per l’autorità.«48 Momente der Entfremdung kann Camara guten Mutes verkraften, selbst als er seine vertraute Umgebung schweren Herzens verlässt, »[sentant] une épaisseur sous [sa] main: le plan du métro gonflait [sa] poche.«49 Wie ein Kontrastprogramm zu diesem idyllischen Afrikabild

45 Mbiga, Sylvie, Selbstfindungsprozesse im interkulturellen Roman: Eine Analyse zur Identitätssuche im postkolonialen Afrika, Berlin 2010, S. 26. 46 Vgl. Laye, Camara, L’enfant noir, Paris 2000, S. I-IX, hier S. IV. 47 Ebd., S. 63. 48 Greco, Pietro, L'universo a dondolo. La scienza nell'opera di Gianni Rodari, Milano 2010, S. 221. 49 Laye 2006, S. 256.

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liest sich Mongo Betis Roman Ville cruelle50, der ebenfalls eine Passage von der Dorfgemeinschaft in die große Stadt am Anfang der 1930er Jahre darstellt. Und doch nehmen sich die wenigen denkwürdigen Tage aus dem Leben eines jungen Mannes so gänzlich anders aus als die Darstellung jenes mütterlichen Afrika, die Mongo Beti seinem Zeitgenossen Laye zum Vorwurf macht. Anders als Camara treibt es den Protagonisten Banda in die Ferne, in ein Anderswo, das ihm anziehender erscheint als das Verweilen im Gewohnten. Gleichwohl sind ihm seelische Gleichgewichtsstörungen nicht fremd, zumal er als Halbwaise ebenso wenig auf eine intakte Familie zurückblicken kann wie auf eine Dorfgemeinschaft, die lediglich in Gestalt der Alten Respekt und Gehorsam von den Jungen einfordert.51 An die Macht von Tradition und Gewohnheit bindet ihn jedoch einzig noch seine alte Mutter, die dem Sohn die Wahl einer eigenen Braut verwehrt. Diese Anhänglichkeit veranlasst ihn dazu, seine Geliebte den eigenen Gefühlen zum Trotz zu verlassen. Und doch treiben ihn seine üblen Erfahrungen mit den schwarzen Bütteln der weißen Herren in Tanga nicht in die Arme der Dorfältesten zurück, gegen deren Autorität er ebenfalls aufbegehrt. Er durchschaut das Zusammenspiel dieser Mächte, die sich auf der Repräsentationsebene zu widersprechen scheinen und das koloniale Subjekt vor falsche Alternativen stellen, »une civilisation blanche vénale et la trompeuse ingénuité des traditions ancestrales dénaturées.«52 Die demütige Haltung, die Camara Laye schon gegenüber Familie und Ahnen erkennen ließ, macht die Afrikaner auch in Hinblick auf das Kolonialsystem wehrlos. Mehr noch: Banda muss seine Kakaoernte gewinnbringend in der Stadt veräußern, um den Vater seiner zukünftigen Braut mit einem obligatorischen Geldgeschenk auszustatten, das aus Sicht der Dorfältesten zur unveräußerlichen afrikanischen Tradition gehört. Wie zahlreiche andere sieht er sich folglich gezwungen, am kolonialen Wirt-

50 Vgl. Sekora, Karin, » ›On est toujours orphelin de quelqu’un‹: Ebenen der Intertextualität in Mongo Betis Mission terminée«, in: Berchem, Theodor/ Guille, Martine (Hrsg.), Romania una et diversa. Philologische Studien für Theodor Berchem zum 65. Geburtstag, Bd. 2: Literaturwissenschaft, Tübingen 2000, S. 905-924. 51 Boto, Eza, Ville cruelle, Paris 1971, S. 132f. 52 Monnin, Christian, »Ville cruelle de Mongo Beti: Négritude et responsabilité«, in: Liberté (n° 246), 1999, S. 93-106, hier: S. 97.

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schaftskreislauf teilzunehmen, ohne eine wirkliche Teilhabe zu erreichen. Am Ende bleiben ihm nur »le double refus, […] le refus d’une oppression occidentale [et] le refus d’une oppression interne à la faveur de traditions absurdes maintenues par le seul esprit de routine ou d’autorité.«53 Doch vom Ausgang dieser Erfahrungen trennen ihn zunächst noch Initiations- und Erprobungsräume, die er zu durchschreiten hat, um vom bloßen Aufschneider und Halbstarken zum Subjekt seines eigenen Lebens zu werden: Zunächst hat er die Unentschiedenheit zu überwinden, die ihn wie andere in seiner Lage im Innersten zerreißt. An die heimatliche Gemeinschaft fühlt er sich nicht mehr gebunden, in der in Krankheitsmetaphern gezeichneten Atmosphäre der grausamen Stadt aber nicht zuhause, obwohl sie mit ihren Kränen und Fabriken womöglich seine Zukunft werden könnte. Gerade hier zeigt sich die Landbevölkerung gegenüber Lastern wie Alkoholismus, Habsucht und emotionaler Trägheit nicht eben immun. Und dennoch kann die Stadt umso faszinierender sein als das Dorfleben, dessen mündliche Kultur sich allmählich ins Schwatzhafte und Klatschsüchtige verkehrt, so dass Geborgenheit zur Enge wird. Bandas eigentliche Passage ist demnach nicht so sehr die Reise in ein ihm fremdes Terrain, die Stadt Tanga. Anders als die Grenzen, die europäische und afrikanische Viertel voneinander trennen, »un authentique enfant de l’Afrique, […] tout seul dans la nature«54, wird dieser Übergang von ihm zunächst auch gar nicht als ein solcher wahrgenommen. Denn als die Kolonialbeamten seine Ernte mit abschätzigen Blicken und rüden Gesten aus vermeintlichen Qualitätsgründen vernichten, verlässt er seine gewohnte Existenz. Mit diesem Schritt übertritt er eine Schwelle, die ihn als »Zone, Wandel, Übergang«55 viel weiter in die Ferne schickt, als es räumliche Distanzen auszudrücken vermögen. Obwohl Banda hernach immer wieder auf »etwas Unerwartetes, in seiner Schwere Unterschätztes«56 zugehen wird, schlägt die Handlung vom Unglück ins Glück um. Sie läuft auf ein Finale hinaus,

53 Beti, Mongo, Le rebelle, Bd. 1, Paris 2006, S. 53f. 54 Boto 1971, S. 25. 55 Benjamin 1983, S. 617. 56 Görner, Rüdiger, Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen, Göttingen 2001, S. 120.

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das seiner Revolte »eher optimistische Züge«57 verleiht und sich damit gut in jene verheißungsvolle Grundstimmung einfügt, wie sie den Roman im frankophonen Afrika vor der Unabhängigkeit kennzeichnet. Ist der implizite Autor in Layes Roman indes dem Grundsatz gefolgt, dass allzu manifeste Widersprüche notwendigerweise das Ende seiner Erzählung einleiten müssten, ist er hier davon überzeugt, dass diese den Konflikt gerade vorwärtstreiben und zu einem guten Ende bringen. Anders als es das glückliche Bewusstsein des Enfant noir vorsieht, sind sie in ihrer Entfaltung vielmehr notwendig, um in Banda das Bewusstsein des aktiven Widerstandes gegen das koloniale System zu wecken. Die kompensatorische Struktur der Handlung58 ergibt sich aus den programmierten Zufällen einer positiven Metaphysik, die das Scheitern von Bandas Initiation abwendet: So ersetzt Odilia seine Mutter, die diese noch vor ihrem Ableben als Schwiegertochter anerkennt; die verlorene Kakaoernte wird weidlich durch den Umstand ausgeglichen, dass Banda große Summen Geld findet, u. a. einen Geldkoffer, der einem reichen Griechen im Urwald abhandengekommen ist. Banda hat zwar eine wichtige Etappe seines Lebens mit Erfolg hinter sich gebracht. Aber er steht allenfalls am Beginn eines gewundenen Wegs »à la conquête de Fort Nègre« 59, einer anderen Stadt, deren sprechender Name ganz die Bedeutung seines Kampfs zusammenfasst. Diese Ambivalenz, die ungeachtet des glücklichen Ausgangs, erhalten bleibt, macht sich auch in Hinblick auf das Hochfranzösische bemerkbar. In dem Maße, wie es sich nicht mehr ausschließlich als kolonialer Code ausweist, fließt diese Sprache auch in Lebenswelten kolonialer Subjekte ein, aus denen eigenständige Ausdrucksformen hervorgehen. Doch der Roman kann dem Widerspruch nicht entrinnen, dass die geschriebene Sprache nicht das gesprochene afrikanische Idiom ist, das sie als Realität allenfalls in ihren angepassten Rhythmen transkribieren kann.60 Ihr ostentativer Schriftcharakter lässt den Schwarzen eine menschliche Dignität zukommen, indem sie ihn mit

57 Ndeffo Tene, Alexandre, (Bi)kulturelle Texte und ihre Übersetzung: Romane afrikanischer Schriftsteller in französischer Sprache und die Problematik ihrer Übersetzung ins Deutsche, Würzburg 2004, S. 117. 58 Mbock, Charly Gabriel, Ville cruelle d’Eza Boto (Comprendre Bd. 11), Issy les Moulineaux 1981, S. 10. 59 Boto 1971, S. 224. 60 Vgl. Mbock 1981, S. 84.

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den Weißen auf die gleiche sprachliche Augenhöhe bringt. Das demütigende petit nègre, »[le] français élémentaire qui est usité par les Nègres des colonies«, wie es der Larousse 1928 noch vermerkt61, ist damit kategorisch ausgeschlossen.

IV Eine Passage, die noch eindringlicher auf den Hiatus zwischen Traditionen mündlicher Überlieferung und modernem Roman hinweist, eröffnet sich mit Kouroumas En attendant le vote des bêtes sauvages. Steht Ville cruelle für die erste antikolonialistische Phase der narrativen Diskursart im frankophonen Afrika (1916-1980), so fügt sich dieser Roman in einen zweiten Entwicklungsabschnitt ein. Nach einer Krise im Zeichen der Ernüchterung über die bestehenden Verhältnisse nach der Unabhängigkeit reagieren zwischen 1980 und 1990 mit Kourouma auch Autoren wie Sambène Ousmane und Sony Labou Tonsi auf die afrikanischen Autokratien.62 Ausgangspunkt ist hier eine den Roman strukturierende Erzählveranstaltung bei den Bruderschaften der Malinké-Jäger: An sechs aufeinander folgenden Abenden erzählen der Sänger Bingo und sein Dialogpartner, der rebellierende Hofnarr Tiécoura, die Geschichte des Präsidenten Koyaga, der im Kreis anderer Diktatoren zum Alleinherrscher seines Landes aufsteigt. Diese politisch aufgeladene Geschichte ist in die mündlichen Traditionen Westafrikas und den westlichen Romandiskurs eingewoben, deren epische Formen sich aus historischen Gründen widersprechen und dabei dennoch miteinander verknüpfen: dem Epos, in dem nicht die Befindlichkeiten eines Individuums, sondern das Schicksal einer Gemeinschaft im Vordergrund stehen63; dem Roman, in dem im Gegenzug gerade das Leben eines Einzelnen gegenüber dem gesellschaftlichen Tableau überwiegt. Indem der implizite Autor ein von zu Mund gehendes kollektives Gedächtnis (afrikanische Sprichwörter, Legen-

61 Zitiert nach La Guérivière, Jean de, Les fous d’Afrique. Histoire d'une passion française, Paris 2001, S. 20. 62 Vgl. Kouvouama, Abel, »Littérature, anthropologie et imaginaire dans les littératures du Sud« in: Cheymol, Marc (Hrsg.), Littératures au Sud, Paris 2009, S. 43-51, hier: S. 45f. 63 Vgl. Lukács, Georg, Theorie des Romans, Darmstadt u.a. 1987, S. 64f.

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den, magische Praktiken) im Roman zur Sprache bringt, hebt er, analog zu Benjamins Überlegungen, nicht nur den Übergang von kollektiven zu individuell gehaltenen Erzählformen hervor. Auch geht es ihm um die Übersetzung von Macht- in Textstrukturen, wie dies bereits im Zentrum lateinamerikanischer Diktatorenromane steht. Die poetische Sprache macht den Autokraten zu ihrem Subjekt in einer Diskursarena, in der es zahlreichen anderen, ungehört gebliebenen Stimmen gegenüber Rede und Antwort stehen muss. Denn hinter dem Helden Koyaga und seinen Kollegen verbergen sich Blendgestalten, die sich auf die Kraft des afrikanischen Geisterglaubens als vorgeblich naturverbundene Kehrseite zum westlichen Rationalismus berufen. Doch jene Mythen wie Unverwundbarkeit und Unsterblichkeit, die der Volksmund den Autokraten zuspricht, werden im Spiel der widerstreitenden Stimmen zunichte gemacht. Denn die Magie, welche die auf afrikanische Authentizität bedachten Regime dem Denken des Westens entgegensetzen, dient doch eben den westlichen Mächten. Auch hier erschließt sich dem Leser »in der Mehrdeutigkeit des Worts zugleich ein Übergang von Stadttext zu Textstadt«.64 Der falsche Schein überkommener Traditionen und die bittere Realität des westlichen Imperialismus bilden in der Verschränkung von Epos und Roman einen gemeinsamen erzählerischen Logos. Im Werden des modernen Erzählgenres aus dem mündlichen Horizont Afrikas wird ersichtlich, dass sich Dörfer, Stämme oder postkoloniale Nationen nicht mehr in sublimen Herrschergestalten verdichten könnten. Das epische Heldengedicht ist auch ein Abgesang auf deren Geschichte als Mythen- und Identitätsstifter, deren Übergang in Individualbiographien als grausame Potentaten. Indem der mündliche Erzählgestus im Roman wiederkehrt, macht er jedoch im Sinne Benjamins geltend, dass sich das Alte im Neuen, das Vergangene im Gegenwärtigen abzeichnet, »[apparaissant] comme une tradition entre le conte ancien et le véritable roman imaginé et inventé par l’artiste moderne, mais conservant toujours des structures semblables à celles du conte ancien.«65

64 Stierle 1993, S. 27. 65 Ehora, Clément Effoh, »Intergénération et réécriture du conte traditionnel africain: »La jeune fille dédaigneuse« dans Maïmouna d’Abdoulaye Sadji et L’Ivrogne dans la brousse d’Amos Tutuola « in: d'Humières, Catherine (Hrsg.), D'un conte à l'autre, d'une génération à l'autre, Clermont-Ferrand 2009, S. 290-295, hier: S. 291.

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Doch auch die Textstadt wird im Roman mit beängstigender Präzision zur Sprache gebracht: Der Alleinherrscher Koyaga und die anderen Tiergespenster im Zeichen der Kaimane (Bokassa), Leoparden (Mobutu), Hasen (Sékou Touré) und Schakale (Hassan I.) verfügen in ihren Residenzen über eigene Schatten. Kannte die Entfremdung des Schwarzen während der Kolonialzeit eine Topographie, »la ville du colonisé […] une ville accroupie, une ville à genoux, une ville vautrée«66, bilden die Stadtansichten in den jungen Nationalstaaten auf mikrokosmische Weise jenen Etat honteux (1981) nach, der in Sony Labou Tonsis gleichnamigen Roman nur den Anschein eigenständigen Lebens vermittelt. Mit jenen Selbstinszenierungen wird die formale Unabhängigkeit der jungen Staaten zwar ratifiziert, deren Regierungssitze sich in monströse Mikrokosmen verwandeln. Zum Schauplatz defilierender Militärapparate geworden, beschränken sie sich indes lediglich auf Kulissen für die Triumphzüge der Despoten, die sich ähnlich den lateinamerikanischen Patriarchen vom metaphorischen Machtzentrum ihrer Balkone und Paläste an das jubelnde Volk wenden. Wie das im Dschungel des Leopardenstaates gelegene Labodite erstrahlen ihre Domizile zu prahlerischen Palaststädten, die doch nur ihre von den Fremden verliehene und von den eigenen Völkern erschlichene Macht verkünden. Doch diese erweist sich umso fadenscheiniger, als jene Stadt auf der Lüge des Potentaten aufgebaut ist: Nachdem er seine Gattin ermordet hatte, die von ihm zeitlebens wie ein besseres Haustier gehalten worden war, ließ er sie in einer zu ihrem Andenken errichteten Krypta bestatten. Um diese Weihestätte herum sollte jene Phantomstadt entstehen, die immer dann ins Nichts fällt, wenn ihr Herr an anderen Orten weilt: Doch sobald sich dieser mit seinem Gefolge ankündigt, scheint sich der Vorhang einer Schnürbühne zu öffnen, um Leben in Schulen, Krankenhäusern, Supermärkte und anderen Einrichtungen vorzuspielen, wo vormals Wüste oder Dschungel geherrscht hatten.67 Wie die Bauwerke des Baron Haussmann, die dem Zweiten Kaiserreich auch ein autoritäres Aussehen verliehen hatten, sollten auch postkoloniale afrikanische Residenzen und Kapitalen mit der »Unterdrückung jeder individuellen Gliederung, jeder organischen Selbstent-

66 Fanon ³2004, S. 8. 67 Vgl. Kourouma, Ahmadou, En attendant le vote des bêtes sauvages, Paris 1998, S. 250-251.

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wicklung, ›der gründliche Haß aller Individualitäten‹« eine monströse Darstellung erfahren.68 Die Passage, die Banda einstmals in die Rebellion getrieben hatte, scheint auch die koloniale Trennung zwischen Europäer und Afrikaner, Kolonisator und Kolonisierten, Bürger und Untertan aufzuheben.69 Doch dass sich die den Weißen vorbehaltene Stadt allmählich den Afrikanern zu öffnen beginnt, geschieht um einen hohen Preis: Sofern es nicht in den Folterkellern der neuen Herren verschwinden will70, wird das um seine Befreiung kämpfende koloniale Subjekt zum bloßen Dekor, »en hymnes en honneur de leur Guide suprême.«71 Die Urgeschichte findet sich indes selbst in jenen Bildern des Führerkults wieder, welche die Sehnsucht der schwarzen Völker nach Emanzipation, ihren Wunsch nach Gleichberechtigung und Eigenständigkeit zwar zitieren, ohne ihnen allerdings zu einer angemessenen Repräsentation, geschweige denn zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch ein Gegenmotiv, das in der frankophonen afrikanischen Literatur weitaus gegenwärtiger ist, verweist auf die Stadt als Hölle auf Erden mit ihrer Ansammlung von Schmutz und Armutsunterkünften72, »[livrant] une image violente et accusatrice de la ville moderne, en la présentant comme le lieu de toutes les illusions et de toutes les perditions.«73 Der Roman La poubelle von Pathé Diop, der das Elend der Städte bereits in seinem Titel auf den Punkt bringt, ist als Kehrseite einer verlogenen Repräsentation auch deren Wahrheit. Mit dem Abfall rückt der Erzähler auch die Reste der modernen Warenwelt im postko-

68 Honegger, Johann Jakob, Grundsteine einer allgemeinen Kulturgeschichte der neuesten Zeit, Bd. 5, Leipzig 1874, zitiert in: Benjamin 1983, S. 179. 69 Vgl. Goerg, Odile, »Domination coloniale, construction de ›la ville‹ en Afrique et dénomination«, in: Afrique & histoire (Bd. 5), 2006, S. 15-45, hier S. 25f. 70 Vgl. Bonnet, Véronique, »Villes africaines et écritures de la violence«, in: Notre Librairie, Revue des littératures du Sud (n° 148), 2002, S. 20-25. 71 Kourouma 1998, S. 293. 72 Chitour, Marie-Françoise, »Ville et indépendance: stagnation et confusion (la boue comme thème et image dans les romans africains d’expression française)«, in: Francofonía (n° 8), 1999, S. 173-191. 73 Coussy, Denise, »La représentation de la ville dans la littérature africaine«, in: Fouchard, Laurent/Albert, Isaac Olawale (Hrsg.), Sécurité, crime et ségrégation dans les villes d’Afrique de l’ouest du XIXe siècle à nos jours, Paris 2003, S. 163-174, hier: S. 163.

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lonialen Dakar ins Bewusstsein des Lesers. Der städtische Raum, genauer gesagt, das von Mittelschichten wie Bedürftigen bewohnte Viertel der Medina stellt seine besondere Qualität als »grille sémiotique d’interprétation de la communication sociale«74 unter Beweis. Als Zeichendetektive lesen die Bürger im Müll ihrer Nachbarn, wie es um deren Wohlstand bestellt ist. Zu ihnen gehört auch der Protagonist Mour Babacar, der sich als Prisma eines aufgeklärten, aber noch relativ ungebildeten Durchschnittsbewusstseins ausweist. Anders als Banda ist der junge Mann von Anfang an zwar in der urbanen Welt verwurzelt. Schriftkundig ist er allerdings erst seit wenigen Jahren, obschon die Stadt mit ihren Waren und Warenresten gerade eine ständige Disposition zur Lektüre erfordert. Eben dieser Widerspruch weist unseren Romanhelden als Mensch des Übergangs aus: Obschon er seine religiösen Bräuche wie das islamische Tabaskifest streng befolgt, steht auch er dem modernen Leben mit Wissbegierde und gleichwohl mit Argwohn gegenüber. Er zieht seine Kreise auf der großen Avenue, die das europäisch geprägte Zentrum Dakars mit der heimatlichen Medina verbindet. Wie seine Nachbarn richtet Mour seine neugierigen Blicke auf einen Mann, der sein Leben besser als seine Umgebung eingerichtet zu haben scheint. Der Wohlstand der Medina in der Figur eines gewissen Camara nennt ein Schloss, große Ländereien, eine begehrenswerte Frau und ein Luxusauto sein eigen. Nicht in jeder Hinsicht sind diese Reichtümer bewiesen. Und doch überkommen den Nachbarn keine Zweifel, da seine stets gefüllte Mülltonne als Objekt der allgemeinen Begierde seinen Wohlstand zu bestätigen scheint. Das Jauchzen und das Lachen der Kinder, die trotz elterlicher Verbote immer wieder Schätze aus den begehrten Resten Camaras wie elektrische Bügeleisen, Mixer, Kaffeemaschinen, Kaffeemühlen oder Grillaccessoires zutage fördern, erzürnen Mour so sehr, dass er den Gründen dieses unvergleichlichen Wohlstands auf die Spur zu kommen sucht. Auch bewegt er sich in einer Passage, die ihn mit den Disparitäten zwischen islamisch-afrikanischer Tradition und westlicher Kultur vertraut macht, der Polygamie und der weiblichen Emanzipation, der Gemeinschaft in der Medina und dem individuellen Dasein, wie es die Europäer pflegen, dem heimischen Wolof und dem Französischen, welches das Geschäftsleben bestimmt, aber nicht zuletzt einer englischen Sprache, die in der Wer-

74 Lamizet 1997, S. 39.

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bung auch im Senegal eine wachsende Rolle einnimmt. In der Aufzählung großer Berühmtheiten wie Marilyn Monroe, Che Guevara oder Beethoven sowie internationaler Markennamen wie Gauloises oder Lucky Strike wird Mour mit einer sprachlichen Vielfalt konfrontiert, die auf dem Weg zahlreicher Fremdwörter in den Erzähldiskurs einströmt.75 Mours Suche nach der Identität des geheimnisvollen Camara führt uns auf ein zentrales Motiv des Passagenwerks, den Fetisch der Ware und jene Phantasmagorien, mit denen »die warenproduzierende […] Gesellschaft sich umgibt.«76 Für die Habenichtse, die sich an den vollgestopften Schaufenstern der Läden die Nasen platt drücken, kommen die Ausschusswaren des Camara einer wahren Fundgrube gleich. Deren leichte Defekte werden weidlich durch jenen Fetisch kompensiert, »der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden.«77 Dem neuen Zauber war schon eine europäische Gesellschaft verfallen, die sich in religiöser Hinsicht für so aufgeklärt hielt. Der Naturglaube, der die vermeintlich primitiven Völker noch Bäume oder Tiere wie Gottheiten verehren lässt, konfrontiert den zivilisierten Menschen mit seinen eigenen Verblendungen. Die großen Fortschritte, die auf der Ebene der materiellen Kultur erreicht wurden, hindern diesen nicht daran, auf die nach positivistischer Phasenlehre unterste oder roheste Stufe der Religion zu regredieren. Diese Entwicklung, mit der der Westen sein Primat über andere Kulturräume bis zum Ende der Kolonialzeit begründet hatte, wird demnach mit beträchtlichen mentalen Rückschritten erkauft. Auch die Afrikaner, denen seit alters her von europäischer Seite eine besondere Neigung zur Idolatrie attestiert wurde78, bezahlen die neue Warenform mit einem modernen Götzendienst. Zu sehr werden die kleinen Leute der Medina entgegen ihrer monotheistischen Grundhaltung in die Zwänge eines neuen Fetischis-

75 Vgl. Diané, Alioune, »Atelier béant; écriture et représentation dans La Poubelle de Pape Pathé Diop«, in: Gauvin, Lise (Hrsg.), Les langues du roman: du plurilinguisme comme stratégie textuelle, Montréal 1999, S. 101107, hier S. 102. 76 Benjamin 1983, S. 1256. 77 Marx 1962, S. 87. 78 Vgl. »idolâtrie«/»idoles«, in: Migne, Jacques-Paul, Dictionnaire universel, historique et comparatif de toutes les religions du monde, Bd. II, Paris 1849, S. 1231-1261.

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mus getrieben. Zu groß ist die schiere Not, die hier zur Tugend werden muss. Und doch erschließen sich aus dem Roman entmythisierende Intentionen, die in ihrer Dialektik an die Philosophie Benjamins erinnern könnten. Alles müsse sich ihr zum Ding verzaubern, so Adorno, damit sie das Unwesen der Dinglichkeit entzaubere79; desgleichen der Roman, der sich den schönen Schein des Warenfetischismus aneignet. Entgegen der auch vom Erzähler gehegten Faszination für die glitzernde Warenwelt fällt das Ergebnis ernüchternd genug aus. Am Ende stellt sich nämlich heraus, dass die Identität Camaras nicht mit dem schmucken Inhalt seines Müllbehälters Stand hält: Als kleiner Angestellter eines amerikanischen Konzerns hatte er ausgesonderte Ausschusswaren seines Chefs entwendet, um sie als ausgeschiedene Teile seines Hausrats den Anwohnern seines Wohnviertels zu überlassen. Camara hat einen Mythos geschaffen, der noch im Verblassen Mour und seinen Freunde Anlass zu angeregten Diskussionen gibt. Auch wenn diese dem Geheimnis letztlich nur nahe kommen, stellt sich das Viertel doch wie eine Topographie öffentlicher Diskurse und Inszenierungen dar, »un texte qui se lit, un labyrinthe qui s’explore […].«80 In welcher Zeit leben wir nur, fragen sich der Erzähler und seine Figuren, in der die Menschen ihre Mülleimer nicht verbergen, sondern der Öffentlichkeit darbieten? Eine schlüssige Antwort findet unser Protagonist nicht so sehr in Rede und Gegenrede seiner Nachbarn. Ausgerechnet am Place de l’Indépendance, im Zentrum Dakars, entdeckt er am Rand eines großen Müllkübels einen Clochard, in dem er den demaskierten und hernach verschwundenen Camara wiedererkennt. Und dieser bekennt sich mit Stolz zu seiner poubelle. Indem Mour hinter die Fassade des einstmals von ihm bewunderten und beneideten Nachbarn blickt, wird er gewahr, dass dessen Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundescheiße.81 Er kommt der Wahrheit der Kultur selbst auf die Spur, die als Ware, ob Ausschuss oder Rest, zu einer prekären und jämmerlichen Konstruktion geworden ist.

79 Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften – Kulturkritik und Gesellschaft I/II (Bd. 4), hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 242f. 80 Diané 1999, S. 104. 81 Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften – Negative Dialektik (Bd. 6), hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 359.

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V Markiert Ville cruelle noch die Initiation des kolonialen Subjekts, das sich zwischen heimatlichem Dorf und fremd anmutender Stadt bewegt, steht Black Bazar für einen autodiegetischen Erzähler, der längst in dem vorwiegend von Afrikanern bewohnten Stadtviertel ChâteauRouge im achtzehnten Pariser Arrondissement zuhause ist. In den Soundtrack seiner lässigen Sprache mischen sich Urbanität und Banalität. Die einst so grausame Stadt, wie sie Mongo Beti mit Blick auf seine Heimat beschreibt, verliert zwar auch im heutigen Paris nichts von ihrer Fremdheit. Aber das diskursive Roulette bei Mabanckou lässt erkennen, dass sich der Sapeur aus Brazzaville seiner Umgebung auf sprachlich souveräne Weise bemächtigt, umso mehr als er selbst allmählich vom narzisstisch gekränkten Liebhaber zum Schriftsteller heranreift. Mit seiner afrikanischen Gemeinde trifft sich dieser in einem afro-kubanischen Lokal, um die Nacht zum Tag werden zu lassen. Doch anders als im Roman Café Nostalgia (1997) der kubanischen Autorin Zoé Valdés, in dem eine traumatisierte junge Frau vom Pariser Exil aus schwermütige Blicke zum fernen Malecón schweifen lässt, hat die Sehnsucht hier keine Endstation, ist der schwarze Kontinent zwar noch Herkunft, aber keine Zukunft mehr. Selbst die Migration ist seinem afrikanischen Figurenkabinett eher Motiv des Streits, das der Erzähler in Sympathien oder Aversionen an die einzelnen weiterreicht, an seine frühere tiefschwarze Geliebte mit dem entsprechenden Kosenamen Couleur d’Origine, sein Rivale L’Hybride, den schwarzen Rassisten Monsieur Hippocrate und schließlich den haitianischen Schriftsteller Louis-Philippe, der ihn mit den Gepflogenheiten literarischen Schreibens vertraut macht. Doch nicht in den Passagen von Afrika nach Frankreich besteht das eigentliche Potenzial des Romans, wie sein Titel zu erkennen gibt. Reisen finden im Kopf eines Erzählers statt, der seine Tätigkeit als Initiation zum Schriftsteller begreift. Analog zu einem Basar sucht er die Passagen in Raum und Zeit in Textpassagen zu verwandeln: Denn anders als in Warenhäusern finden wir hier Läden, vor denen »man zusehen kann, wie die Gegenstände erzeugt werden«82, ohne dass man dabei dem Zauber des Warenfetischs erliegen müsste. Einen ähnlichen

82 Canetti, Elias, Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise; Das Gewissen der Worte, München, Wien 1995, S. 17.

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Eindruck will uns auch der Erzähler vermitteln, der den Erzählprozess mit höherer Priorität ausstattet als die Geschichte selbst. Im Roman begegnen uns Erfahrungen aus Zeitschichten, die als Zitate den vorangegangenen Erzählungen entnommen sein könnten und diese wie Vorworte zu den eigenen Worten behandeln: die eigene Herkunft aus der heimatlichen Provinz, die Armut in den afrikanischen Städten oder der Verrat afrikanischer Diktatoren an den früheren Unabhängigkeitspostulaten. Seine eigentliche Bedeutung erlangt der erzähl- und diskurspointierte Duktus des Romans indes in Hinblick auf Tabus und Rassenvorurteile, die gerade in den großen Metropolen trefflich gedeihen. Tritt hier die moderne Welt in ihren »dichtesten Symptomen zutage«83, verdichten sich auch Ressentiments: die altbekannten, wie sie zwischen Europäern und Afrikanern herrschen, die neuen, die das Selbstverhältnis der Schwarzen bestimmen. Der klassische Rassismus mag zwar allmählich verblassen, aber nur um den Preis, dass sich der Antagonismus der beiden Grundfarben in einer subtileren Hierarchie zahlloser Zwischentöne auflöst, ohne sich dabei von ihrem Ausschlusscharakter zu lösen. Während Kourouma das weiße Überlegenheitsgefühl gegenüber den »bêtes sauvages« und deren politische Naivität gegeneinander ausspielt, treibt Mabanckou diese Vorurteile auf die Spitze. Anstatt diese mit Argumenten zu widerlegen, ist der Erzähler im Gegenteil darum bemüht, das Bild vom primitiven Charakter des Afrikaners und dessen schwarzer Seele mit dessen eigenen Vorurteilen zu konfrontieren: Auf Grund seiner Vorliebe für weibliche Hinterteile ist der Erzähler lediglich als »fessologue« bekannt. Als ›sapeur‹ beliebt er sich gegenüber weißen Frauen als parfümiertes Lustobjekt in Szene zu setzen. Gegenüber den Europäern prahlt er mit der Größe seiner Genitalien, während andere der Frage nachgehen, ob man das einstige Mutterland nicht biologisch unterwandern könne. Dass die afrikanischen Männer nicht eben als Vorkämpfer internationaler Solidarität hervortreten, zeigt sich in der rassistischen Befangenheit, mit der sie ihresgleichen begegnen: Von den schwarzen Frauen, die sie zumeist als streitsüchtig und sexbesessen ansehen, ziehen sie allenfalls frische Gazellen zum sexuellen Lustgewinn in Erwägung. Zum gesellschaftlichen Aufstieg werden von ihnen hingegen Hellhäutige bevorzugt.

83 Stierle 1993, S. 17.

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Der Grad der eigenen Kultur steht und fällt mit der Tönung der Haut, mit deren zunehmender Bleiche der einstige Schwarze seine vermeintliche Wildheit gegen seine Zivilisierung eintauscht. Wie ein Blick auf die Geschichte der multiethnischen Gesellschaft Brasiliens zeigt, bestätigt ein derartiges Ansinnen indes, dass eine weiße Mythologie nichts von ihrer Universalität eingebüßt hat. Die Auffächerung der Grundfarben in ihre Untertöne bedeutet nicht etwa, dass sich der immanente Dualismus in einem multikulturellen Miteinander auflöste. Vielmehr entsteht ein diffuser Rassismus, der in seiner unverminderten Orientierung an Weißheitsidealen selbst eine unsichtbare und umso tückischere Wirkung zeitigt.84 Denn auch wenn Diskurse der vermeintlichen Unterlegenheit des Negers, des antikolonialistischen Widerstands, der stolzen Selbstbehauptung, der Dritten Welt auf dem Black Bazar gehandelt werden, lassen sie sich nicht mehr Akteuren zuordnen, die noch eindeutig der alten kolonialen Farbendisziplin unterlägen. Im gesellschaftlichen Raum erinnern Vorurteile dank ihrer Statik an Produkte, die der zumeist gedankenlose Konsument aus- oder abwählt. Ein Roman wie der vorliegende verfügt über das Privileg, die Phraseologismen, zu denen uns die Sprache als unaufhörlich sprudelnde Quelle von Festlegungen zwingt, in ihre Bestandteile zu zerlegen und zu exorzieren.

VI In den vorliegenden Romanen kamen historische Erfahrungen zu Wort, die es kaum erlauben, Passagen kolonialer Subjekte vom Dorf in die Metropolen als folgerichtige Schritte in die Zivilisation zu interpretieren, so als ob diese in jedem Fall jenen der europäisch assimilierten évolués zu entsprechen hätten. Und doch ist hinter diesen Passagen »›die ewige Wiederkehr‹ als Grundform des urgeschichtlichen, mythischen Bewußtseins«85 verborgen, das mit seiner utopischen Seite zu einem besseren Dasein drängt. So erscheint »das Uralte als das Neue

84 Domingues, Petrônio, Historia não contada, uma: Negro, racismo e branqueamento em São Paulo no pós-abolição, São Paulo 2003, S. 265f. 85 Benjamin 1983, S. 177.

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und das Aktuelle als das Alte«86, wenn auch auf so unterschiedliche und auf doch so identische Weise: in Ville cruelle als Traum von einem anderen zukünftigen Ort, in dem die Schwarzen ihren gleichberechtigten Anteil am Leben haben, einem Fort Nègre; in Kouroumas Roman sind es die neuen Kapitalen und Städte der postkolonialen afrikanischen Nationen, die noch in der Auratisierung der Autokraten, in deren Diskursen von Würde und Authentizität, den Traum von einer afrikanischen Emanzipation erahnen lassen; in La poubelle weilt hinter dem modernen Fetisch der Ware noch die Sehnsucht, die traditionelle Gemeinschaft des Viertels könne ohne Sorge und Zwang an einem Glück teilhaben, das über den Schein des freien Konsums hinausgeht und jedermann ohne Klassenunterschied umfasst; in Black Bazar ist es das Schreiben selbst, das die disparaten beinahe beiläufigen Erzählungen von Migranten entgegen einem von neuen mit Rassenschranken zerrissenen Alltag miteinander koexistieren lässt und das bloße Dasein dabei in kreatives Arbeiten verwandelt, »[in eine] Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen [wird].«87

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86 Guelf, Fernand Mathias, Stadtluft macht frei: von der Polis zur Cyberstadt; philosophische Auseinandersetzungen, Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 156. 87 Benjamin 1983, S. 47.

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Schwarzamerika Die neuen Orte der schwarzafrikanischen Frankophonie THORSTEN SCHÜLLER

AFRIKANISCHE LITERATUREN UND DER ›ORT AFRIKA‹ Afrikanische Literaturen zeichnen sich seit jeher durch eine Verhandlung von Orten aus; eine besonders forcierte szenographische Positionierung kann als Hauptcharakteristikum afrikanischen Schreibens gelten.1 Die literarisierten Orte der afrikanischen Literaturen in französischer Sprache sind dabei vor allem der afrikanische Kontinent selbst und, als Antipode, jahrzehntelang auch Frankreich als ehemalige Kolonialmacht. Dabei geht es nicht nur um konkrete Handlungsschauplätze: Auch abstrakte Orte wie ›Peripherie‹ und ›Zentrum‹ werden literarisch behandelt oder es werden ›ästhetische Orte‹ inszeniert, d.h. 1

Als Szenographie soll im Anschluss an Dominique Maingueneau die ästhetische Positionierung des Textes bezeichnet werden; es gilt die inszenierten Orte des Textes zu erfassen. Über die simple Frage nach dem Handlungsschauplatz hinaus versucht die Szenographie die Erzählerinstanz und den ästhetischen Bezugsrahmen des Textes zu verorten: Wer spricht und wo kommt der Erzähler her? Hat die Art des Erzählens einen Bezug zu einem Ort? Welche Texte werden intertextuell verarbeitet und lassen sich diese Referenzen verorten? Prinzipiell lässt sich jeder Text szenographisch verorten, jeder Text inszeniert Orte und entstammt einem lokalisierbaren Kontext; im Kontext des afrikanischen Schreibens ist die Szenographie jedoch in der Regel besonders sinntragend (vgl. Maingueneau, Dominique, Le contexte de l’œuvre littéraire, Paris 1993, S. 29f.).

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ästhetische Referenzrahmen, die stets lokalisierbar sind und ihr Sinnpotential aus dieser Lokalisierbarkeit schöpfen. Wenn zum Beispiel Sony Labou Tansi in vielen seiner Romane, dabei vor allem in L’État honteux2, deutliche Bezüge zu Gabriel García Márquez herstellt, dann lässt sich diese Wahlverwandtschaft eines kongolesischen und eines kolumbianischen Autors als eine inszenierte Süd-Süd-Komplizenschaft bei gleichzeitigem Umgehen frankophoner (d.h. belgischer oder französischer) Referenzen verstehen. Das bipolare (post-)koloniale Spannungsverhältnis ist damit aufgebrochen und die Verortung des Romans wird zu einem wichtigen Interpretationsparadigma. Sony Labou Tansi ist seinerzeit in seiner Orientierung nach Südamerika allerdings eher eine Ausnahme. Intertextuelle Verweise der frankophonen afrikanischen Literaturen transportieren lange Zeit zumeist auf bipolare Weise einen Bezug zu Afrika (in einer durchaus panafrikanischen Perspektive) oder zu Frankreich. Ob kolonialismuskritische Literatur, ob Négritude-Ästhetik, ob Writing back oder hybridisierende Vermischung der Ästhetik – afrikanische Literatur ist immer in besonderem Maße auch Literatur über den ›Ort Afrika‹ und dessen historische Implikationen. Der Aufarbeitung des Kolonialismus kommt dabei lange Zeit eine besondere Rolle zu. Die szenographische Verortung eines Romans von Ahmadou Kourouma oder Mongo Beti, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist für das Textverständnis immens wichtig. In zeitgleich stattfindenden europäischen Romanen ist der konkrete wie auch der ästhetische Ort oft sekundär; in Texten wie Ville cruelle (Eza Boto aka Mongo Beti) mit seiner Stadt-Land-Problematik oder Les Soleils des Indépendances (Ahmadou Kourouma) mit seiner ›Afrikanisierung des Französischen‹ ist der Ort an sich, aber auch der Bezug zum ›Ort Afrika‹ hingegen von besonderer Bedeutung. Für einen Großteil der afrikanischen Literaturen ist der Bezug zum Herkunftskontext also entscheidend, für einen Großteil der europäischen Literaturen der Bezug zu Europa weniger: Die Orte von RobbeGrillets La Jalousie oder Ecos Il nome della rosa beispielsweise sind nicht in gleichem Maße sinntragend wie die Orte von Ville cruelle oder Les Soleils des Indépendances. Dieser Bezug zum Ort Afrika führt zu einer engagierten Literatur im Sinne Jean-Paul Sartres.3 Über Afrika schreiben, bedeutet eben

2

Sony Labou Tansi, L’État honteux, Paris 1981.

3

Vgl. Sartre, Jean-Paul, Qu’est-ce que la littérature?, Paris 1981 [1947].

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auch, soziale, politische und zeithistorische Probleme des Kolonialismus und des Postkolonialismus sichtbar zu machen. Eine formbetonte postmoderne Literatur oder ein Nouveau Roman konnte es lange Zeit trotz struktureller Ähnlichkeiten in den subsaharischen Literaturen nicht geben. Zwar wurden in der Kritik oft Strukturähnlichkeiten afrikanischer Texte zum Nouveau Roman oder zu postmoderner Literatur erkannt, um aber stets hinzuzufügen und zu betonen, dass der Fokus auf Afrika und auf ein Engagement einen entscheidenden Unterschied zu westlichen Texten darstelle.4 In dem 2007 in Le Monde veröffentlichten »Manifeste pour une littérature monde«5 avanciert dieser diffuse Weltbezug6 gar zum allgemeinen Merkmal der frankophonen Literaturen und wird einer selbstreferentiellen französischen Literatur entgegen gestellt, in der es, den Unterzeichnern zufolge, vor Büchern wimmele, in denen über das Schreiben geschrieben werde. Vereinfacht lässt sich die These des Manifestes folgendermaßen zusammenfassen: Während europäische Texte vom Schreiben handeln, handeln frankophone Texte von der Welt; es passiert etwas in den Texten. Afrikanische Romanliteratur in französischer Sprache bildet in dieser Logik, nach Art eines Quellentextes, stets afrikanische Realitäten ab.

4

Vgl. Roy, Anjali, »Post-Modern or Post-Colonial? Magic Realism in Okri’s The Famished Road«, in: Gover, Daniel/Conteh-Morga, John/Brye, Jane (Hrsg.), The Post-Colonial Condition of African Literature, Trenton, Asmara 2000, S. 23-40; Anyinefa, Koffi, »Postcolonial Postmodernity in Henri Lopes’s Le Pleurer-Rire«, in: Gover, Daniel/Conteh-Morga, John/Brye, Jane (Hrsg.), The Post-Colonial Condition of African Literature, Trenton, Asmara 2000, S. 5-22; in einer allgemeineren Perspektive: Mukherjee, A. P., »Whose Post-Colonialism and whose postmodernism?«, in: World Literature written in English (n° 30-2), 1990, S. 143–151.

5

Siehe das Manifest und zahlreiche flankierende Essays zum Thema in: Le Bris, Michel/Rouaud, Jean (Hrsg.), Pour une littérature-monde, Paris 2007.

6

In einer ähnlichen Perspektive kann Katja Meintel von einer »Welthaftigkeit« des afrikanischen Kriminalromans sprechen. Meintel, Katja, Im Auge des Gesetzes. Kriminalromane aus dem frankophonen Afrika südlich der Sahara – Gattungskonventionen und Gewaltlegitimation, Aachen 2008, S. 1.

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NEUVERHANDLUNG VON ORTEN In der Folge soll ein neuer Umgang mit Orten in der zeitgenössischen afrikanischen Literatur französischer Sprache skizziert werden. Allgemein ist zu beobachten, dass in neueren Texten immer mehr eine kosmopolitische (oder in anderen Worten paratopische7) Ästhetik vorherrscht, mit der versucht wird, afrikanische Bezüge zu umgehen oder besser: mit der versucht wird, ein neues polyzentristisches Afrika-Bild zu entwickeln. Diese kosmopolitisch-paratopische Ästhetik wird oft durch die Inszenierung urbaner, im Sinne Foucaults heterotoper Räume unterstützt.8 Die Indienstnahme des Handlungsschauplatzes ›Stadt‹ zur Erneuerung der Romanästhetik hat ein prominentes Vorbild: Mongo Betis unter dem Pseudonym Eza Boto veröffentlichter Klassiker Ville cruelle, der sich als Roman-Pamphlet gegen die Négritude und vor allem gegen Camara Layes Roman L’Enfant noir verstehen lässt, greift bereits auf das Motiv der Stadt zurück.9 Auch ein weiterer Klassiker, Cinéma von Tierno Monénembo10, bildet das Leben einer afrikanischen Großstadt ab, die wenig mit romantisierenden Négritude-Idyllen zu tun hat. In jüngeren Texten erhält der Schauplatz Stadt eine in besonderem Maße sinnstiftende Funktion. Ob afrikanische Großstädte oder Paris: In Texten wie African Psycho (Alain Mabanckou), Cola Cola Jazz (Kangni Alem) oder Place des fêtes (Sami Tchak)11 steht die Stadt12 für einen von Globalisierung sowie Jugend- und Populärkultur

7

Schüller, Thorsten, »Wo ist Afrika?« – Paratopische Ästhetik in der zeitgenössischen Romanliteratur des frankophonen Schwarzafrika, Frankfurt a. M. 2008.

8

Vgl. Foucault, Michel, »Des espaces autres«, in: ders., Dits et Écrits IV (1954–1988), hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris 1994, S. 752– 762.

9

Vgl. Boto, Eza (Mongo Beti), Ville cruelle, Paris 1971; Laye, Camara, L’Enfant noir, Paris 2000.

10 Monenembo, Tierno, Cinéma, Paris 1997. 11 Mabanckou, Alain, African Psycho, Paris 2003; Alem, Kangni, Cola Cola Jazz, Paris 2002; Tchak, Sami, Place des fêtes, Paris 2001. 12 Im Falle von Sami Tchak liegt eine präzise Verortung vor, Place des fêtes ist der Name einer Metro-Station im Pariser Nordosten; die Städte der beiden anderen Romane sind namenlos oder fiktiv, auch wenn reale Vorbilder durchscheinen. In allen Fällen könnte das dargestellte urbane Leben aber

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geprägten Raum, der in der Lage ist, die Romanästhetik jüngerer Autoren zu illustrieren. Durch die Ausweitung der Referenzrahmen werden auch szenographische Bezüge interessant, die nicht in ein postkoloniales Koordinatensystem integriert werden können. In jüngeren afrikanischen Texten fällt eine vermehrte Hinwendung zu Amerika (Nord- und Südamerika) auf. Im Kontext dieses recht rezenten Phänomens können drei verschiedene Literarisierungen von ›Schwarzamerika‹, d.h. einer literarischen Hinwendung afrikanischer Literaturen zu amerikanischen Handlungsschauplätzen oder amerikanischen Kulturprodukten, ausgemacht werden, die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein Paradigmenwechsel in den afrikanischen Literaturen französischer Sprache auszumachen; immer wieder ist von neuen Generationen oder Strömungen im afrikanischen Schreiben zu lesen und zu hören.13 Es handelt sich um hoch mediatisierte Autoren wie Alain Mabanckou oder Abdourahman Waberi, die mit ihrem Schreiben und durch ihre Selbstinszenierung für Kosmopolitismus und Urbanität stehen und die das Bild des zeitgenössischen afrikanischen Schreibens entscheidend prägen. Dabei versuchen sie oft, den Bezug zum Ort Afrika zu umgehen. Sie wehren sich gegen das Etikett des afrikanischen Schriftstellers und weiten bewusst die ästhetischen Bezugssysteme aus. Einem literarischen Engagement erteilen die Autoren eine Absage. Drei Zitate prominenter Autoren unterstreichen diese Tendenz. Alain Mabanckou behauptet: »Nous ne sommes pas les pompiers de l’Afrique à éteindre tous les

auch in jeder anderen Metropole stattfinden zu können. Nicht nur diese drei Beispiele können also für die Literarisierung des Konzeptes ›Stadt‹ stehen. 13 Angemerkt sei, dass die Autoren von denen nun die Rede sein wird, nicht für die Gesamtheit der afrikanischen Literaturen in französischer Sprache stehen können. Nicht zu vergessen sind diejenigen Autoren, die Nadine Fettweis als »écrivains du silence« bezeichnet: Sie leben und schreiben auf dem afrikanischen Kontinent und ihre Werke werden nicht oder nur in kleinen Verlagshäusern editiert; vgl. Fettweis, Nadine, »Les écrivains du silence. Présentation des écrivains zaïrois non exilés«, in: Halen, Pierre/Riesz, János (Hrsg.), Littératures du Congo-Zaïre. Actes du colloque international de Bayreuth, Amsterdam, Atlanta 1995, S. 93–105.

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feux du continent«. Die bekannteste und viel zitierte Aussage aber stammt von Kossi Efoui: »L’écrivain africain n’est pas salarié par le ministère du tourisme, il n’a pas mission d’exprimer l’âme authentique africaine! […] Comprenons une fois pour toutes que nous n’avons pas de parole collective! Nous ne devons allégeance à personne! Méfions-nous des crispations identitaires, elles constituent un réservoir où puise la mondialisation! La meilleure chose qui puisse arriver à la littérature africaine, c’est qu’on lui foute la paix avec l’Afrique.«14

Und Nimrod resümiert: »En un mot, l’Africain écrit comme tout le monde.«15 Ob der afrikanische Autor wirklich wie alle anderen schreibt, sei dahin gestellt; festzuhalten ist, dass es afrikanische Autoren immer mehr als Last empfinden, primär mit ihrer Herkunft konfrontiert zu werden.

KOSMOPOLITISCHE IDENTITÄTEN Das Problem der Herkunft der Autoren wird ohnehin immer komplexer. Durch Migrationsströme, durch Diaspora- und Exilerfahrungen, durch das Erleben einer beschleunigten Globalisierung verliert Afrika auch lebensweltlich für Schriftsteller an Bedeutung. Autoren wie Kangni Alem pendeln zwischen Lomé und Bordeaux, der selbst ernannte Nationalschriftsteller Djiboutis, Abdourahman Waberi, lebt in der Normandie, der Kongolese Alain Mabanckou, der vielleicht derzeit bekannteste Vertreter einer neuen afrikanischen Schriftstellergeneration, lehrt in den USA und ist Dauergast im französischen Fernsehen. Ein beredtes Beispiel gibt Wilfried N’Sondé ab, der mit seinen beiden Romanen Le cœur des enfants léopards und Le silence des esprits zu einem preisgekrönten Shooting Star der neuen afrikanischen Literaturen wurde.16 Oder ist er gar kein afrikanischer Autor? N’Sondé ist zwar in Kongo-Brazzaville geboren, emigrierte aber mit seinen Eltern

14 Beide Zitate nach Douin, Jean-Luc, »Écrivains d’Afrique en liberté«, in: Le Monde, 22. März 2002, S. 16. 15 Nimrod 2007, S. 225. 16 N’Sondé, Wilfried, Le Cœur des enfants léopards, Arles 2007; ders., Le Silence des esprits, Arles 2010.

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bereits als Kind nach Frankreich, wo er bis zum Abschluss eines Politologie-Studiums blieb, um dann nach Berlin weiterzuziehen, wo er seitdem als Schriftsteller und Musiker lebt. Seine beiden Romane spielen im Kontext der Banlieues von Paris und verstehen sich als Liebesromane, auch wenn die Kritik in ihnen die Stimme der Immigranten erkennt. Obwohl N’Sondé weit mehr Zeit in Europa als in Afrika verbracht hat, wird ihm allerdings meist das Etikett des afrikanischen Autors aufgedrückt.17 N’Sondé thematisiert dieses Phänomen selbst in einem Essay mit dem Titel »Ethnidentité«, in dem er über die einengenden Repräsentationen berichtet, mit denen er zeit seines Lebens, aber vor allem seit seiner Karriere als Schriftsteller konfrontiert wird.18 In der Literatur N’Sondés spielen afrikanische Referenzen durchaus eine Rolle, sind aber nur ein Element unter vielen, seine Romane können dementsprechend exemplarisch für eine neue polytopische Literatur stehen, die das Etikett ›afrikanisch‹ vielleicht gar nicht mehr verdient.

SCHWARZAMERIKA I Südamerika als das andere Afrika Ein weiterer Kosmopolit der jungen afrikanischen Literaturen ist der in Paris und Guadeloupe lebende Togoer Sami Tchak. Sami Tchak ist einer der Autoren, die das kleine Land Togo auf der Weltkarte der Literatur wieder sichtbar gemacht haben. Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts beklagte der Literaturwissenschaftler Alain Ricard noch, dass es seit Félix Couchoro, der in den 1920er und 1930er Jahren einigen Erfolg hatte19, keinen wirklich wichtigen togoischen Romancier mehr

17 O.A., »Afrika-Literatur«, Frankfurter Allgemeine Zeitung (genauer: RheinMain-Zeitung), 16.01.2009, Nr. 13, S. 54; Buch, Hans-Christoph, »Licht im Herzen der Finsternis«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.2008, S. 34. verfügbar unter: http://www.faz.net/artikel/C30347/licht-im-herzender-finsternis-30123535.html [16.08.2011]. 18 N’Sondé, Wilfried, »Ethnidentité«, in: Le Bris, Michel/Rouaud, Jean (Hrsg.), Je est un autre. Pour une identité monde, Paris 2010, S. 95-100. 19 Z.B. Couchoro, Félix, L’Esclave, Lomé 2007 [1929].

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gegeben habe.20 Seit dem Jahrtausendwechsel aber erlebt die Literatur aus Togo einen wahren Aufschwung, Autoren wie Kangni Alem, Théo Ananissoh, Kossi Efoui und eben Sami Tchak sind viel besprochen und preisgekrönt. Wie immer kann man sich fragen, wie togoisch die Literatur ist, wenn die Autoren in Bordeaux (Alem), Paris (Tchak) oder Krefeld (Ananissoh) leben. Sami Tchak hat bisher sieben Romane veröffentlicht.21 Das Romanwerk zeigt eine für jüngere frankophone afrikanische Autoren recht typische szenographische Entwicklung auf. Wurde Tchaks erster Roman, Femme infidèle, unter seinem bürgerlichen Namen Sadamba Tcha-Koura noch in Lomé verlegt und präsentiert die togoische Hauptstadt als Romanschauplatz, so spielen die weiteren Romane in Paris oder in lateinamerikanischen Großstädten, die teils identifizierbar sind, teils namenlos bleiben. Der jüngste Roman, Al Capone le Malien (2011) orientiert sich hingegen wieder an identifizierbaren afrikanischen Orten.22 Nach einem Bezug zu Afrika in Sami Tchaks erstem Roman wird also in den folgenden Texten jegliche Referenz zu afrikanischen Orten vermieden, um zu einer neuen, freieren Programmatik und Ästhetik zu gelangen. Die Stadtbeschreibungen aus Le Paradis des chiots – es handelt sich um eine fiktive Stadt namens El Paraíso – könnten sich dabei ebenso sehr auf Bogotá, Lomé oder jede andere (tropische) Metropole beziehen. Liest man die Romane Hermina, Le Paradis des chiots oder Filles de Mexico dann ist man mit Protagonisten namens Carlos, Heberto und Antonio konfrontiert, die Handlungen sind in Kolumbien, Mexiko oder Haiti angesiedelt, gelegentlich ist der Erzähler als Togoer zu erkennen, gelegentlich ist die Herkunft der

20 Ricard, Alain, »Génération Eyadéma, Littérature populaire et culture d’élite«, in: Riesz, János/Ricard, Alain, Le Champ littéraire togolais [African Studies 23], Bayreuth 1991, S. 21-28, hier: S. 23. 21 Unter dem Namen Sadamba Tcha-Koura: Femme infidèle, Lomé 1988; als Sami Tchak: Place des fêtes, Paris 2001; Hermina, Paris 2004; La fête des masques, Paris 2004; Le Paradis des chiots, Paris 2006; Filles de Mexico, Paris 2008; Al Capone le Malien, Paris 2011. 22 Eine ähnliche Entwicklung, eine Rückkehr zu afrikanischer Referenz nach langjährigen Versuchen, diese zu umgehen, ist auch in der Romanliteratur Kangni Alems, Alain Mabanckou oder Kossi Efoui zu beobachten. Die Entwicklungen sind allerdings noch zu rezent, um sie kategorisch zu erfassen.

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Erzählerfigur aber nicht oder nur schwer zu ermitteln. Über die Internationalisierung der Romanschauplätze hinaus ist jegliche ästhetische oder intertextuelle Bezugnahme von außerafrikanischen Einflüssen, dabei sehr oft amerikanischer Provenienz, geprägt. Die Szenographie der Texte Sami Tchaks ist so sehr ausgeweitet, dass nur mehr der Name des Autors auf Afrika hinweist. Das Umgehen des Ortes Afrika ist freilich ein Spiel mit den Lesererwartungen. Sami Tchak versucht das Etikett des Afrikanischen zu umgehen, indem er nicht das schreibt, was in einem konventionellen Literaturverständnis von einem afrikanischen Roman erwartet wird. Zwar steht ein afrikanischer Autorname auf dem Buchdeckel, aber Afrika spielt keine Rolle für den Text. Diese Störung der Erfüllung des Erwartungshorizonts schreibt sich in die literarische Programmatik Tchaks ein, die auf Provokationen basiert23. Besondere Zielscheibe für die Provokationen seiner Romane ist der politisch korrekte Diskurs des Anti-Rassismus. Die Afrikaner in Place des fêtes, dies ein Roman, der in Paris spielt, sind laut, leben auf engstem Raum zusammen, stinken, haben große Lippen und Geschlechtsteile und denken ständig an Sex. Klischees werden also nicht negiert, sondern affirmiert. Auch in den genannten ›amerikanischen Romanen‹ Tchaks erwecken afrikanische Figuren, wenn sie denn als solche zu erkennen sind, die sexuellen Begierden der nicht-afrikanischen Figuren. Der Afrikaner in der Fremde fungiert in Tchaks Romanen als Projektionsfläche für Sexualität, als Objekt der Begierde. Diese politisch unkorrekten Stereotype werden in Tchaks Romanen ständig wiederholt und sind Ausgangspunkt zahlreicher kritischer Debatten. Keine Spur mehr von Betroffenheitsdiskursen, die gerade diesen vorgeblich westlichen Repräsentationen entgehen wollen. Das Umgehen afrikanischer Orte geht also einher mit einer allgemeinen Dekonstruktion sozialer und ästhetischer Normen. Im Falle Sami Tchaks scheint die Entscheidung für Südamerika eine Entscheidung für das Andere und Unerwartete zu sein. Die konkrete Referenz zu lateinamerikanischer Kultur ist oft zweitrangig. Zusammenfassend lassen sich, um die neue ästhetische Programmatik zu beschreiben, drei Funktionen der Szenographie von Tchaks Romanliteratur ausmachen: Zum einen die bereits erwähnte Irritations-

23 Die pornographische Schreibweise Sami Tchaks ist Gegenstand einer jüngst erschienenen ausführlichen Studie (Satra, Baguissoga, Les audaces érotiques dans l’écriture de Sami Tchak, Paris 2010).

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strategie. Der Name eines afrikanischen Autors auf dem Buchcover führt im Falle der Literatur Sami Tchaks nicht zwangsläufig zu einem Roman, in dem Afrika thematisiert wird. Dies unterstreicht das Bedürfnis vieler afrikanischer Schriftsteller nach einer Absage an Kategorisierungen. Zum anderen weist ein Roman wie Filles de Mexico, in dem ein französischer Schriftsteller togoischer Herkunft nach Mexiko reist, auf die Normalität des Reisens auch für Afrikaner hin. Das Motiv der Reise ist ohnehin sehr typisch für die Literatur jüngerer Autoren und kann als Antwort auf das europäische Stereotyp des weißen Afrikareisenden verstanden werden. Als dritter Punkt kann angeführt werden, dass die Beschreibung kolumbianischer Elendsviertel darauf hinweisen könnte, dass sozialer Miserabilismus nicht nur im subsaharischen Afrika angesiedelt sein muss. Typisch für all diese Umgehungsstrategien Afrikas ist aber, dass Afrika in dieser Ästhetik immer implizit, gewissermaßen versteckt und verborgen trotzdem thematisiert wird. Das heißt, dass Tchak und andere zwar konkrete ästhetische und inhaltliche Indizien, die auf Afrika hinweisen, umgehen, dass diese Strategie aber im Dienste der Konstruktion eines neuen Afrikabildes steht. Das Umgehen afrikanischer Spuren ist also als ein Umgehen von Afro-Klischees zu verstehen; das Hadern mit dem Ort Afrika ist ein Hadern mit Repräsentationen. Das neukonstruierte Afrika-Bild ist dabei ein urbanes, kosmopolitisches Gebilde.

SCHWARZAMERIKA II Südamerika als Ausdruck des Hybriden Südamerika taucht auch in anderen Romanen der frankophonen afrikanischen Literaturen auf und spielt dort eine wichtigere inhaltliche Rolle. In den Romanen Pelourinho des Guineers Tierno Monénembo und Esclaves des Togoers Kangni Alem24 ist der Bezug zu Südamerika nämlich nicht wie im Falle von Sami Tchak ein reines Aufbrechen von Repräsentationen. In diesen Texten, die in Brasilien spielen, wird eine in der frankophon afrikanischen Literatur bislang noch nicht behandelte Facette schwarzer Kollektividentität behandelt: die Einflüsse, die

24 Monénembo, Tierno, Pelourinho, Paris 1995; Alem, Kangni, Esclaves, Paris 2009.

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von afrikanischen Kulturen in die Diaspora ausstrahlen. In Monénembos Pelourinho wird in einer komplizierten Erzählstruktur Salvador de Bahia und insbesondere das Viertel Pelourinho evoziert. In diesem Viertel fand einst der Sklavenmarkt statt, was bereits auf das Thema des Romans hinweist: die komplexen transatlantischen Identitäten, die aus historischen Konstellationen wie dem Sklavenhandel entstanden sind. Es wird die Umkehr einer klassischen Reise geschildert: Nicht der Brasilianer begibt sich auf die Suche nach seinen Wurzeln und reist nach Afrika, bekannt durch den Topos des »retour au pays natal«; es ist der Afrikaner, dessen Herkunft nicht genauer präzisiert wird, der sich für die afrikanischen Spuren in Brasilien interessiert. Er gibt an, eine »Anomalie reparieren zu wollen«: »Le Brésil et l’Afrique ont tant de choses en commun! Nous sommes comme des jumeaux sur les deux bords de l’océan. Seulement, on ne se fait jamais signe.«25 Der »Escritore«, von dem der Leser in den ersten Zeilen des Romans erfährt, dass er tot ist, wird von zwei Stimmen angesprochen: der Stimme eines kleinen Ganoven und der einer blinden Frau. Beide Stimmen entwerfen ein Bild von Bahia und Pelourinho, der Ganove präsentiert Bilder des Alltagslebens der Unterschicht, die blinde Frau komplettiert das Ganze mit mythischen Begebenheiten und evoziert Götter afrikanischen Ursprungs. Mithilfe dieser beiden unterschiedlichen Charaktere gelingt es Monémbo in Pelourinho ein Alltagsbild der Stadt zu inszenieren, von Gerüchen und Geschmäckern über Musik und Geräusche bis hin zu Legenden und Aberglauben. Er zeigt damit auf, wie sehr Bahia afrikanisch geprägt ist, und dennoch durch die südamerikanischen Einflüsse eine hybride Kultur manifestiert. Die südamerikanische Stadt ist in dieser Logik das Sinnbild des Heterogenen. Im Gegensatz zu den Romanen Sami Tchaks ist die große südamerikanische Stadt nicht austauschbar. Es ist die spezifische historische Situation vieler südamerikanischer Städte, die die Idee des Black Atlantic26, eines transatlantischen Kulturraums sichtbar machen. Monénembo versucht, dies auch ästhetisch zu verarbeiten; er entwickelt eine hybride Sprache, die aufgrund der Erzählstruktur ohnehin polyphon ist, sich zudem auf sprachlicher Ebene auch portugiesischsprachiger Worte und Sätze bedient. Typisch ist wiederum der Topos der Reise, afrikanische

25 Monémbo 1995, S. 30. 26 Gilroy, Paul, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge 1993.

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Schriftsteller steigen in jüngeren Romanen immer häufiger in den Flieger. Und auch in Pelourinho wohnen wir der Konstruktion eines neuen Afrika-Bildes bei. Nach Romanen, die in Afrika angesiedelt sind, die sich der Unabhängigkeit Guineas, der Korruption in postkolonialen afrikanischen Staaten widmen oder sich formal einem Epos der Oralliteratur annähern, verblüfft Monénembo mit dem Handlungsschauplatz Bahia. Dennoch sind afrikanische kulturelle Eigenarten selbstverständlich auch in Brasilien gegenwärtig. Wieder geht es nicht um eine völlige Negierung Afrikas, sondern um die literarische Konstruktion eines neuen Afrikas, das aus Interdependenzen mit anderen Kulturen entsteht. Der Togoer Kangni Alem wendet sich in seinem jüngsten Text, dem historischen Roman Esclaves ebenfalls Brasilien zu und thematisiert die transatlantischen Kontakte zwischen Afrika und Südamerika. Die Funktion der Handlungsschauplätze ist klar. Die Referenzrahmen afrikanischer Kulturen werden ausgeweitert, das Ausstrahlen afrikanischer Kultur auf andere Kontinente wird thematisiert, hinzu kommt die Tatsache, dass aus kultureller Vermischung und dem genius loci Neues entsteht. So unterhalten sich zwei Figuren in Pelourinho: »Tu n’es pas plus mozambicain que je ne suis cosaque. Nous sommes du Reconcavo et nous avons tous chaud au cul, à cause de toutes ces épices et du fulgurant métissage.«27 Die jahrzehntelange literarische Auseinandersetzung mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich wird dadurch umgangen. Auffallend ist vor allem in Pelourinho, dass die Erinnerung an den Sklavenhandel nicht als Schmerzdiskurs daherkommt. Die geschichtliche Situation wird akzeptiert und die daraus entstandenen métissage-Kulturen werden in ihrem positiven Potential betrachtet.

SCHWARZAMERIKA III Die Wiederentdeckung der USA Neben Südamerika gerät auch Nordamerika immer stärker in den Fokus jüngerer Autoren. Als Symptom einer beschleunigten Globalisierung mit US-amerikanischer Dominanz und einer Dedramatisierung des postkolonialen Verhältnisses zu Frankreich finden sich immer

27 Monémbo 1995, S. 63.

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mehr Referenzen zu US-amerikanischen Texten oder zu US-amerikanischer Populärkultur. Tierno Monénembos Cinéma übernimmt zum Beispiel eine Westernästhetik (die jungen Protagonisten imitieren im Alltag ihre Filmhelden); amerikanische Popstars werden in zahlreichen Texten am laufenden Band zitiert und vor allem amerikanischer Jazz ist in vielen Romanen allgegenwärtig, beispielsweise basiert der Roman Cola Cola Jazz von Kangni Alem auf einer Suite von Duke Ellington. Zwar gab es in der geschriebenen afrikanischen Literatur schon immer Verarbeitungen von Jazzmusik (Senghor, Dongala etc.), doch war diese in Texten oft eine Chiffre für Sklaverei oder Probleme schwarzen Lebens in der Diaspora (vgl. die letzte Zeile aus Léopold Sédar Senghors Gedicht Joal: »un jazz orphelin qui sanglote sanglote sanglote«28). In neueren Texten verliert der Jazz seine Konnotationen der Trauer. Wird Jazz-Musik in Kangni Alems Cola Cola Jazz erwähnt, dann ist diese in Isotopien eingebettet, die positiv konnotiert sind. Die Hinwendung zur Jazz-Musik in ihrem positiven Charakter hat für viele jüngere Autoren einen programmatischen Charakter. Die »Kinder der Postkolonie«29 sehen sowohl Exil- und Diaspora-Erfahrungen als auch (implizit) die Entwicklung der Jazzmusik in ihrem positiven Potential. Jazz hat seine Wurzeln in Afrika (bzw. wurde von Afrikanern in der Diaspora erfunden) und gilt als ›schwarze‹ Musik. Dennoch findet er seine größte Ausbreitung durch US-amerikanische Interpreten und wird zu einem westlichen Kunst-Diskurs. Dieser deterritorialisierte und paratopische Charakter des ›schwarzen‹ Jazz, der sich in westlichen Kunstdiskursen weiterentwickelt, gibt der Musikform einen Symbolgehalt, der in neueren Texten dezidiert positiv gedeutet wird.30 Zudem werden die USA auch als Handlungsschauplatz von Texten entdeckt. Alain Mabanckou ist sicherlich der prominenteste Autor, der

28 Senghor, Léopold Sédar, Œuvre poétique, Paris 1964, S. 16. 29 Waberi, Abdourahman A., »Les Enfants de la postcolonie. Esquisse d’une nouvelle génération d’écrivains francophones d’Afrique noire«, in: Notre Librairie (n°135), 1998, S. 8–15. 30 Vgl. Schüller, Thorsten, »Le jazz dans la littérature francophone de l’Afrique subsaharienne – Développement d’un symbole littéraire«, in: Fotsing Mangoua, Robert (Hrsg.), L’imaginaire musical dans les littératures africaines, Paris 2009, S. 59-72.

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sich in einem jüngst erschienenen Essay Lettre à Jimmy31 den USA zuwendet. Zu nennen wäre außerdem der senegalesische Cineast und Schriftsteller Mamadou Mahmoud N’Dongo, der in Bridge road32 die USA der 1920er Jahre und der darauf folgenden Entwicklungen mit ihren Rassenkonflikten und Lynchmorde evoziert. Von einem Writing back gegen Frankreich ist im Gegensatz zu Jahrzehnten der frankophon-afrikanischen Literaturgeschichte nichts mehr zu spüren, es sei denn, man interpretiert das bewusste Ignorieren oder Umgehen kolonialer Problematiken als eine Art des Gegenschreibens. Viel mehr scheint es Autoren wie Mabanckou oder N’Dongo aber um die Literarisierung schwarzer Diaspora-Identitäten zu gehen. Alain Mabanckou lässt in seinem essayistischen Lettre à Jimmy das Leben und die Nachwirkung des US-amerikanischen Schriftstellers James Baldwin auferstehen. In seinem Essay hält Mabanckou ein fiktives Zwiegespräch mit Baldwin und lässt dabei dessen Leben Revue passieren. Freilich geht es dabei vor allem auch um James Baldwins Rolle in den schwarzen Emanzipationsbewegungen der 1930er bis 1960er Jahre. Baldwins Wirken wird verknüpft mit Themen wie den Black Muslims und der Harlem Renaissance, mit Personen wie Malcolm X oder Countee Cullen, mit Orten wie Harlem oder Greenwich village. Mabanckous Essay ist demzufolge zuvorderst eine Auseinandersetzung mit der schwarzen Kultur der USA. Literarische Betrachtungen drehen sich folglich um Texte wie Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s cabin; wenn frankophone Texte erwähnt werden, dann nur, um sie mit den amerikanischen Texten zu konfrontieren. Wie lässt sich das Interesse Mabanckous für James Baldwin erklären? Das ganz allgemeine Interesse Mabanckous für die USA, das sich bereits in seinem Roman African Psycho33 zeigt, der sich als intertextuelle Replik auf Bret Easton Ellis’ American Psycho lesen lässt, hängt natürlich auch damit zusammen, dass Mabanckou in den USA lebt und lehrt. Der Fokus auf Baldwin hat darüber hinaus zwei Motivationen. Zum einen Baldwins eigene Absage an Zuschreibungen und Etikettierungen sowie seine konfliktuelle Auseinandersetzung mit der Négritude. Mabanckou führt Baldwins Roman Giovanni’s Room34 an, der im

31 Mabanckou, Alain, Lettre à Jimmy, Paris 2007. 32 N’Dongo, Mamadou Mahmoud, Bridge Road, Paris 2006. 33 Mabanckou 2003. 34 Baldwin, James, Giovanni’s room, New York 1971 [1956].

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Pariser Homosexuellenmilieu angesiedelt ist. Der Protagonist ist ein Weißer, oder wie Mabanckou schreibt: »David n’est pas noir.«35 Dies deutet implizit darauf hin, dass man von einem schwarzen Schriftsteller, der sich die Emanzipation der Afro-Amerikaner auf die Fahne geschrieben hat, erwartet, dass er auch darüber zu schreiben hat. Mabanckou wehrt sich gegen diese implizite Verpflichtung des schwarzen Schriftstellers, engagiert schreiben zu müssen: »Or il y a cet autre danger spécifique au statut de l’écrivain noir: on attend de lui qu’il place le ›problème noir‹ au centre de son œuvre, que les personnages de couleur fourmillent, qu’il adopte un ton conflictuel, avec pour cible unique le Blanc.«36

Diese Kritik an Repräsentationen des schwarzen Schreibens geht einher mit der Kritik Baldwins und auch Mabanckous, der sich an vielen Stellen deutlich mit Baldwin identifiziert, an den Ideen der Senghor’schen Négritude. Mabanckou berichtet von Baldwins Teilnahme an dem berühmten Schriftstellerkongress 1956 an der Pariser Sorbonne, auf dem Baldwin mit den Protagonisten und der Idee der Négritude konfrontiert wird und tief enttäuscht zurück bleibt. Dichter wie Senghor, Césaire oder Damas beschreibt Baldwin als losgelöst von jeglicher Realität und versuchten, mit der Sprache des Kolonisators Emanzipationspolitik zu betreiben. Baldwin fand sich nicht wieder in diesen Ideen, Mabanckou nimmt dies zum Anlass über die tiefe »incompréhension« zu schreiben, die zwischen Schwarzamerikanern und Afrikanern herrscht, die verdeutlicht wird, wenn Senghor eine misslungene Eloge auf Richard Wrights Black Boy hält.37 Im Falle von Lettre à Jimmy geht es also nicht darum, eine schwarze community heraufzubeschwören und afrikanische kulturelle Eigenheiten in den USA wieder zu entdecken. Vielmehr dient Mabanckou das Portrait Baldwins dazu, die Négritude Senghors zu kritisieren und die im frankophonen Kontext weniger bekannten Emanzipationsbemühungen der Schwarzen in den Vereinigten Staaten zu valorisieren. Der Blick in die USA erlaubt es Mabanckou, statische Kanones der Frankophonie aufzubrechen, indem er zusammen mit seinem ›Bruder im

35 Mabanckou 2007, S. 84. 36 Ebd., S. 74. 37 Ebd., S. 99.

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Geiste‹ Baldwin Senghors zentrale Stelle in den panafrikanischen Befreiungsbewegungen in Frage stellt und vehement auf die Harlem Renaissance, die Black Muslims oder Baldwins emanzipatorische Schriften hinweist.

SCHLUSSFOLGERUNG Polytopos im afrikanischen Roman französischer Sprache Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das vermehrte Interesse afrikanischer Schriftsteller für Nord- und Südamerika sowie die vermehrte Inszenierung urbaner Räume einige festgefahrene Denkmuster in Frage stellt. Folgende Schlussfolgerungen lassen sich ziehen. •

Hinterfragen des Kulturbegriffs: Afrikanische Autoren nehmen sich die Freiheit, nicht über ein konkret positionierbares Afrika und über post- oder neokoloniale Probleme zu schreiben. Mit ihrer neuen kosmopolitischen Ästhetik bilden sie einen Gegenpol zu kulturalistischen ›Container‹-Theorien, die Kulturen als präzise voneinander getrennte Entitäten auffassen. Das neue Afrika-Bild von Autoren wie Alain Mabanckou, Sami Tchak, Tierno Monénembo und anderen ist ein kulturelles Afrika, das Diaspora und Exil fruchtbar macht und eine Ästhetik forciert, die von Kräften der Globalisierung beeinflusst ist. Das ›neue‹ Afrika kann auf Reisen, in afrikanischen Großstädten, in Paris oder aber auch in amerikanischen Orten inszeniert werden (vgl. Ulrich Becks Theorie einer ›transportierbaren‹ »Kultur 2«, die einer an Territorien gebundenen »Kultur 1« entgegengesetzt wird38). Die Literatur der besprochenen Autoren drückt diese Idee einer mobilen, nicht an Orte gebundenen schwarzen Kultur aus, beispielsweise durch die Literarisierung von populärer, ursprünglich ›schwarzer‹ Musik wie Jazz oder Rapmusik, auf die als exportierte afrikanische Kultur in allen Teilen der Welt zurückgegriffen werden kann. Das ›neue‹ Afrika kann als urbane Populärkultur im Sinne einer »Kultur 2-Software« an anderen Orten inszeniert werden, ein ›traditionelles‹ Afrika ist

38 Beck, Ulrich, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf die Globalisierung, Frankfurt a.M. 1998 [1997], S. 118f.

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hingegen auch in der literarischen Inszenierung an geographische Realitäten gebunden. •

Dekonstruktion von Erwartungshorizonten und Repräsentationen des Schreibens: Das Interesse der Autoren für schwarze DiasporaKulturen ohne koloniale Implikationen oder, wie im Falle von Sami Tchak, das Interesse für außerafrikanische Kulturen ohne direkten Bezug zu Afrika ist eine Absage an Erwartungshorizonte und Repräsentationen afrikanischen Schreibens. Die Neuverhandlung der Orte im afrikanischen Roman französischer Sprache impliziert folglich poetologische und ideologische Veränderungen. Autoren brechen damit einerseits aus dem engen binären postkolonialen Schema aus, das afrikanische Literaturen lange Zeit auf ihre vorgebliche ›Afrikanität‹ oder auch auf ihr Verhältnis zur ehemaligen Kolonialmacht festlegte und andererseits vor allem auch aus dem hartnäckigen essentialistischen Denken der Négritude.



Literaturbegriff: Die Absage an Repräsentationen des Schreibens ist in den meisten Fällen auch eine Absage an ein literarisches Engagement. Die Autoren verstehen Literatur als autonomen Kunstdiskurs, der vielfachen Kräften ausgesetzt ist und deshalb weder als denunziatorische Kampfschrift noch als soziologischer Quellentext zu verstehen ist. Pierre Halen, der in zwei wichtigen Aufsätzen auf die zahlreichen institutionellen Kräfte hingewiesen hat, die afrikanische Texte formen39, unterstreicht, dass es eine zu starke und unredliche Vereinfachung sei, afrikanische Autoren immer als porte-parole ihrer reellen Kultur zu verstehen, und spricht von einem »cliché du poète maudit […] sous les couleurs diverses de l’opprimé: colonisé, nègre, esclave et descendant d’esclave, femme, etc.«40 Die Hinwendung der afrikanischen Autoren zu Ameri-

39 Halen, Pierre, »Le ›Système littéraire francophone‹: Quelques réflexions complémentaires«, in: D’Hulst, Lieven/Moura, Jean-Marc (Hrsg.), Les Études littéraires francophones: État des lieux, Lille 2003, S. 25–38 ; ders., »Notes pour une topologie institutionnelle du système littéraire francophone«, in: Diop, Papa Samba/Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hrsg.), Littératures et sociétés africaines. Mélanges offerts à János Riesz, Tübingen 2001, S. 55–67. 40 Halen 2003, S. 30.

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ka ist Ausdruck einer ›literarischen Freiheit‹: Ein afrikanischer Autor muss nicht über Afrika schreiben, und wenn doch, dann soll es ihm erlaubt sein, Afrika in Verknüpfung mit anderen Orten zu inszenieren. Die literarisch verknüpften Orte der afrikanischen Literaturen sind Ausdruck eines Polysystems, das Itamar Even-Zohar bereits in den 1970er Jahren entwickelt hat.41 Für Even-Zohar ist jedes kulturelle Erzeugnis ein Polysystem. Positivistische Entitäten werden in dieser Idee des multipolaren Systems durch Relationen ersetzt, jedes System ist wiederum ein Zusammenschluss verschiedener Systeme, »which intersect with each other and partly overlap.«42 Ein literarisches Werk ist folglich nicht zu verstehen, ohne seine Relationen zu anderen Werken, zu anderen Genres, zu anderen Medien. Durch die zahlreichen essentialistischen Repräsentationen Afrikas, von afrikanischer wie von westlicher Seite, taten sich afrikanische Texte lange Zeit schwer mit der Idee von offenen, dynamischen und interdependenten Literaturen – zu wichtig war das engagierte Abgrenzen von der Kolonialmacht oder die Suche nach einer genuin afrikanischen literarischen Stimme. Die besprochenen afrikanischen Texte inszenieren ein szenographisches Polysystem und zeigen auf, dass afrikanische Kunst (d.h. jede Form des künstlerischen Ausdrucks, also auch Musik, Malerei, Theater und anderes) allen gängigen essentialistischen Repräsentationen zum Trotz ganz besonders von Interdependenzen mit anderen Orten geprägt ist. Neu ist vor allem, was am Beispiel der Indienstnahme Amerikas sichtbar wird, dass diese anderen Orte nicht länger als kollektivtraumatisch wahrgenommen werden. Amerika hat aufgehört, das Symbol für ein deterritorialisiertes Afrika mit Erinnerungen an Unterdrückung oder Apartheid zu sein, das schwarze Amerika symbolisiert in den Texten Mabanckous, Monenembos und Tchaks vielmehr das positive Potential eines Polytopos.

41 Even-Zohar, Itamar, »Polysystem Theory«, in: Poetics Today 1(1-2, Autumn), 1979, S. 287–310. 42 Ebd., S. 290

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Frauen in marokkanischen Metropolen Palimpsestästhetik, écriture féminine und Körpermetaphorik in Marrakech, lumière d’exil und Fracture du désir von Rajae Benchemsi MARCO THOMAS BOSSHARD

1. EINE KURZE VORBEMERKUNG ZUR AUTORIN Nach Studium und Promotion über Maurice Blanchot in Paris ist die 1957 in Meknès geborene Autorin und Journalistin Rajae Benchemsi nach Marokko zurückgekehrt und hat ab 2001, parallel zu ihrer Schriftstellertätigkeit, im zweiten Kanal des marokkanischen Fernsehens, dem Privatsender 2M, die Literatursendung Le livre de la semaine moderiert.1 Trotz dieser Verwurzelung im Kulturbetrieb Marokkos sind fast alle ihre Bücher – den Gedichtband Paroles de nuit (1997) und die in Zusammenarbeit mit anderen Autorinnen aus dem Maghreb entstandene Textsammlung À cinq mains (2007) ausgenommen – in französischen Verlagen erschienen, und auch auf einer inhaltlichen Ebene sind Frankreich bzw. die Erfahrung eines Studiums in der französischen Hauptstadt in Benchemsis in Marokko spielenden Prosatexten implizit oder gar explizit weiterhin präsent. Sie schlagen sich nicht nur in der Biographie der realen Autorin Rajae Benchemsi nieder, sondern in gleichem Maße auch in den fiktiven Biographien

1

Für einen knappen biographischen Abriss vgl. auch Martini, Paola, Il Maghreb racconta. La forma breve nella narrativa femminile contemporanea, Dissertation, Bologna 2007, S. 44-46, http://amsdottorato.cib.unibo.it/ 556/1/martini.pdf [20.02.2011].

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einer ganzen Reihe von Frauenfiguren aus ihren Büchern – so etwa in der Kurzgeschichtensammlung Fracture du désir (1999) sowie in den beiden Romanen Marrakech, lumière d’exil (2002/03) und La controverse des temps (2006).2 Um die beiden erstgenannten Werke drehen sich die folgenden Erörterungen.

2. DIE FEMINISIERUNG DER GROSSSTADT: MARRAKECH, LUMIÈRE D’EXIL Insbesondere Marrakesch, das dem ersten Roman Benchemsis den Titel verleiht, erscheint als »l’un des plus complexes et des plus agréables palimpsestes«3 von Tradition und Moderne, das sich metaphorisch widerspiegelt in den Henna-Ornamenten, die Bahia, die Tante der aus Paris zurückgekehrten Ich-Erzählerin, westlichen Touristinnen auf die Haut tätowiert. Mit genau dieser bildmächtigen Szene, die auf der

2

Vgl. Benchemsi, Rajae, Fracture du désir, Arles 1999; dies.; Marrakech, lumière d’exil, Paris 2003; dies., La controverse des temps, Paris 2006. Nebst der in der vorhergehenden Anmerkung erwähnten italienischen Dissertation, die Benchemsi ein längeres Kapitel widmet und die verschiedenen Werke der Autorin zusammenfasst und aninterpretiert, sind bisher – Rezensionen und rezensionsartige Arbeiten ausgenommen – nur wenige Sekundärtexte explizit zu Autorin und Werk erschienen. Außer den einschlägigen Passagen zu Benchemsi in Überblicksdarstellungen jüngsten Datums zur weiblichen maghrebinischen Literatur wie z.B. in Diaconoff, Suellen, The Myth of the Silent Woman: Moroccan Women Writers, Toronto 2009 (inbes. S. 94ff.) oder Segarra, Marta, Nouvelles romancières francophones du Maghreb, Paris 2010 (S. 117-124) sind hier lediglich zwei Aufsätze erwähnenswert: Marta Segarra, »Tradition, modernité et postmodernité chez Rajae Benchemsi et Hélé Béji« sowie Hassan Wahbi: »Tropismes féminins. À propos de Marrakech, lumière d’exil de Rajae Benchemsi«, beide zu finden in dem von Marc Gontard besorgten Sammelband Le récit féminin au Maroc, Rennes 2005, S. 161-167 bzw. S. 95100. In der deutschsprachigen romanistischen Rezeption wird Benchemsi an einer (einzigen) Stelle erwähnt bei Heiler, Susanne, Der maghrebinische Roman. Eine Einführung, Tübingen 2005, S. 187.

3

Benchemsi 2003, S. 13.

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Place Jemaa-el-Fna, dem quirligen Stadtzentrum Marrakeschs spielt, setzt der Roman Marrakech, lumière d’exil dann auch ein: »Des mains. Des mains blanches. Des mains brunes. Des mains paumes ouvertes vers le ciel. Comme pour lui éviter de s’effondrer. Peut-être pour l’accueillir. L’empêcher de se mêler au sol mouvant de l’antique place Jemaael-Fna. Les veines trop bleues et tendres augmentaient la fragilité de la main trop blanche. Une main sans histoire tant la neutralité de sa blancheur était déconcertante. Le henné onctueux coulait de la seringue comme une lave obscène. Verdâtre. Visqueux. Éternel, il honorait encore une fois les graphismes sacrés de l’Islam. Formes géométriques ancestrales. Losanges. Triangles. Arabesques. Spirales. Délectation de la mémoire. Frondaisons de mosquées. Rosaces de zelliges. Ciel de stuc. Odeurs exquises et innommables de l’enfance. Odeur de la mémoire elle-même. Tous ces graphismes, profondément ancrés dans l’inconscient de Bahia, affluaient naturellement au bout de son regard et de son geste, solennellement complices, chaque fois qu’elle s’apprétait à tatouer une main.«4

Wenn etwa Sharpe und Wallock die Metropolen der westlichen Moderne als ›Palimpseste‹ bezeichnet haben5 und Karlheinz Stierle im Zuge seiner Baudelaire-Lektüre mit Blick auf Paris dieselbe Metapher bemüht und das »moderne Leben der großen Stadt zum großen objektiven Palimpsest«6 erklärt hat, so wird deutlich, dass Benchemsi hier auf eine in den okzidentalen Großstadtdarstellungen der Moderne weit verbreitete Palimpsestästhetik rekurriert, die sie allerdings geographisch dezentriert – nicht von Paris oder anderen westlichen Metropolen ist hier die Rede, sondern von Marrakesch – und nicht mit der Stadt an sich, sondern mit den Frauen in Verbindung bringt, die sich in ihr aufhalten. Der Körper der titelgebenden Stadt wird hier, noch bevor diese zum ersten Mal beschrieben worden wäre, zum Körper der Frau,

4 5

Ebd., S. 9f. Sharpe, William und Wallock, Leonard, Visions of the Modern City. Essays in History, Art, and Literature, New York 1983.

6

Stierle, Karlheinz, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1993, S. 732. Vgl. auch den geplanten Tagungsband (hg. v. Peter Fröhlicher, Patrick Labarthe u.a.) zur Sektion Figurations de la ville-palimpseste auf dem Frankoromanistentag 2010 in Essen.

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auf dessen Projektionsfläche das Palimpsest inszeniert wird: Unter der schneeweißen Haut der Touristin schimmern bläulich deren Venen, während sie von Bahia ihrerseits mit grünlichen Henna-Ornamenten übermalt werden. Gleichzeitig fungiert das Palimpsest hier auch als Sinnbild einer écriture féminine im Wortsinn7, bei der eine Marokkanerin dem Körper einer Europäerin ihre Kultur, »les graphismes sacrés de l’Islam«, einschreibt. Obwohl Benchemsi das männlich geprägte Großstadtpalimpsest der Pariser flâneurs des 19. Jahrhunderts also gleich zu Beginn ihres Romans feminisiert, so zollt sie den symbolistischen Großstadtdarstellungen auch Tribut.8 Wie die Symbolisten weitet sie die vordergründig visuellen Eindrücke der Großstadterfahrung ins Synästhetische aus und stimuliert sämtliche Körpersinne: taktile, die im direkten Körperkontakt, im Akt des Tätowierens zum Tragen kommen, olfaktorische – im ersten Zitat war, wie wir gesehen haben, ja in Proust’scher Manier auch bereits die Rede von den »Odeurs exquises et innommables de l’enfance« – und schließlich auch auditive, denn auf der Place Jemaa el-Fna vermischen sich die Melodien der traditionellen, folkloristi-

7

Die écriture Benchemsis tendiert mit Cixous auch ingesamt zu einer ›weiblichen‹ Ökonomie des Exzesses. Wenn das Zusammenspiel dieser ›weiblichen‹ mit den allerdings ebenso präsenten ›männlichen‹ Elementen im Prozess des Schreibens tatsächlich als »Geschlechtsverkehr« bezeichnet werden darf (Cixous, Hélène, Weiblichkeit in der Schrift, Berlin 1980, S. 71; Titel des Vortragstexts im Original: »Qui chante? Qui fait chanter? Qui est chanté? Qui (s’)appelle (Orphée)?«), so entsprächen die im weiteren Verlauf der Analyse herauszuarbeitenden Epiphanien Benchemsis nachgerade Sprachorgasmen, die die zahlreichen Bezugnahmen der Autorin auf die (arabische) Mystik in einem neuen Licht erscheinen lassen.

8

Was Martini mit Bezug auf Benchemsis Kurzgeschichte »La Boutique russe« aus Fracture du désir schreibt, kann angesichts der Zitate aus Marrakech, lumière d’exil ohne Weiteres von Paris nach Marrakesch verlagert werden: »[...] il flâner della protagonista per le vie di Parigi, accompagnato dal persistente ricordo del canto udito nel bazar, la conduce in una dimensione parallela, in diretto contatto con le proprie pulsioni ed emozioni, fino a raggiungere la propria follia e viverla. La topografia urbana esercita sulla donna una sorta d’incanto, grazie al quale riesce a rivivere emozioni e suggestioni di un passato non vissuto [...]« (Martini 2007, S. 84).

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schen Al Aita-Musik mit denjenigen von Britney Spears.9 Die ursprünglich im Visuellen und somit im Raum verankerte Figur des Palimpsests wird dabei zu einem zeitlich determinierten, auditiven Palimpsest: »Je rapprochai de Bahia un petit tabouret recouvert d’une peau de mouton et me laissai envahir par l’exultante cacophonie de la place. [...] J’étais moimême la place. J’étais moi-même la multitude de bruits divers et enivrants. Mon corps se dilata. Se liquéfia. Devint lui-même l’infini. Des sons. Des sons graves. Aigus. Grinçants. Stridents. Musiques. Klaxons. Brouhaha. Vrombissements de moteurs. Cliquetis des marchands d’eau. Puis des voix. Des voix rauques. Cassées. Sèches. Des voix qui percent ce tintamarre général et s’ancrent dans le tissu foisonnant de la cité. Dans sa folie. Dans son délire. [...] L’illustre place Jemaa-el-Fna. Mosquée du Néant. Début de la vie. Seuil de la méditation. De la communion avec l’inconnu.«10

Sehr gut zu sehen ist anhand dieser Textstelle auch die mediale Funktion des Körpers der Erzählerin, der sich gegenüber seiner Umgebung öffnet, ja sich gar verflüssigt (»Se liquéfia.«), um die Klangschichten und Klangablagerungen um ihn herum zu binden; ihr fragmentarischer Charakter, ihre durch das auditive Palimpsest bedingte, lediglich partielle Hörbarkeit korrespondiert dabei mit der ebenso fragmentarischen Syntax der Beschreibung, die nur aus Lexemakkumulationen, nicht aber aus vollständigen Sätzen besteht. In Verbund mit dem titelgebenden weißen Licht Marrakeschs über der Medina der Place Jemaa-elFna, der symbolistisch aufgeladenen »lumière blanche [...] chargée de signes et d’enseignements«11, wird sich so, das Delirium verstärkend, von dem hier schon zu Beginn des Romans die Rede ist, auf der letzten Seite des Buches unweigerlich eine Epiphanieerfahrung einstellen: »Je continue à fermer les yeux, ne percevant plus du monde extérieur que sa force épiphanique. Toute frontière entre moi et les éléments étant totalement abolie, les prémisses de l’état d’extase me débordent.«12

9

Vgl. Benchemsi 2003, S. 16: »Je perçois encore la musique. [...] Fragments. [...] Melhûn. Aïta. Britney Spears. Gnawas. Samaa’. Puis Oum Kaltoum.«

10 Ebd., S. 14f. 11 Ebd., S. 71. 12 Ebd., S. 197.

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Ähnlich epiphan erscheinen auch die Figurationen von Paris, die sich auf der Place Jemaa-el-Fna ebenso unvermittelt einstellen und angesichts der politischen Wirklichkeit in Marokko umso eskapistischer wirken. Just in dem Absatz, in dem, wie bereits eingangs zitiert, von Marrakesch als »l’un des plus complexes et des plus agréables palimpsestes«13 die Rede ist, vollzieht sich während einiger weniger Sätze ein mentaler Ortswechsel, dringt auf einmal das Paris Lautréamonts an die Oberfläche. Auch hier kommt erneut die Figur des Palimpsests zum Tragen, kein auditives diesmal und auch kein visuelles im eigentlichen Sinne, sondern ein abstrakt-mentales, durch einen literarischen Text vermitteltes und insofern intertextuelles Palimpsest, in dem sich Raum und Zeit verbinden: »Je pense soudain à mon cours sur Lautréamont. Au deuxième chant de Maldoror. Aux pavés de Paris. À la mort d’un jeune garçon le soir entre la Bastille et la Madeleine.«14 Doch sofort springt die Erzählerin in Gedanken wieder zurück nach Marokko und in die Gegenwart, wo das Desinteresse für das Paradigma des art pour l’art aufseiten ihrer Studenten einherzugehen scheint mit deren politischen Radikalisierung: »[Je pense; MTB] À mes étudiants que toute littérature française non engagée ennuyait très sérieusement. Ils n’aimaient que Camus, Sartre, Malraux. [...] Peu à peu, des pratiques très perverses de l’enseignement les avaient conduits [...] à concentrer leur réflexion sur le renouveau de l’Islam. On les nourissaient des doctrines fondamentalistes qui remontaient jusqu’á Ibn Taïmiya plutôt que du grand Islam traditionnel. Je constatais un peu plus chaque jour combien il m’était difficile de réduire la distance qui me séparaient de mes étudiants. [...] Nous n’avions pas le même rapport à la langue française, dans laquelle pourtant se déroulait le cours.«15

Der Name Lautréamonts taucht im Roman später noch ein zweites Mal auf und wird dort mit Ibn al-Arif in Verbindung gebracht, einem sufistischen Mystiker, dessen Grabstätte in Marrakesch die Ich-Erzählerin als einen ihrer Lieblingsplätze in der Stadt bezeichnet: »Étrange configuration mentale que la mienne! Lautréamont. Le sanctuaire d’Ibn al-

13 Ebd., S. 13. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 13f.

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Arif.«16 Indem Benchemsi in dieser assoziativen Engführung eine Kontinuität von orientalen und okzidentalen Traditionen, vom klassischen arabischen Mystizismus der Sufisten und dem modernen Mystizismus der Symbolisten suggeriert, schmiedet sie eine Allianz zwischen zwei kulturell unterschiedlichen Diskurstypen, die jedoch in ihrer semiotischen, auf die jouissance gerichteten Sprachverwendung konvergieren17 und dem Phallogozentrismus des reaktionären Islamverständnisses der Studenten der Ich-Erzählerin entgegenstehen. Da der von der Autorin anzitierte Sufismus, anders als andere Strömungen des Islam, Frauen und Männern gleichermaßen offenstand18, kann der weibliche Körper in der Wahrnehmung des plurimedialen Großstadtpalimpsests des modernen Marokko nicht nur mystische Erfahrungen generieren, sondern als eine Art postsufistisches Medium potentiell auch die weibliche Wiederaneignung des Islam vorantreiben – an dieser Stelle zumindest würde Benchemsis an Lautréamonts ästhetischer Sprachrevolution geschulte écriture auch in politischer Hinsicht nachgerade revolutionär.

3. DER WEIBLICHE KÖRPER ALS PARADOXE METONYMIE: »FOIRE DES ZAËRS« Wie Kristeva in ihren Betrachtungen zu Lautréamont gezeigt hat, lässt sich die revolutionäre écriture der Symbolisten mit einem präödipalen Sprachzustand in Beziehung setzen, bei dem die chora19, das dyadische Körperkontinuum zwischen Mutter und Säugling, noch intakt ist. Um sie vom Phallogozentrismus der symbolischen Formen und ihrer syntaktisch und semantisch wohlgeformten Sprache abzugrenzen, hat Kristeva zur Charakterisierung dieser präödipalen Sprachphase mit Rekurs auf Lacan bekanntlich von einer »jouissance génitale«20 oder

16 Ebd., S. 89. 17 Vgl. Kristeva, Julia, La révolution du langage poétique. L’avant-garde à la fin du XIXe siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris 1974. 18 Nicht umsonst ist der Sufismus als die ›weibliche‹ Seite des Islam bezeichnet worden; vgl. Schimmel, Annemarie, Meine Seele ist eine Frau. Das Weibliche im Islam, München 1995, S. 31ff. 19 Vgl. Kristeva 1974, S. 22f. 20 Ebd., S. 451, 491 und passim.

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gar einer »jouissance dite vaginale«21 gesprochen und dem Phallus als Inbegriff des Symbolischen mithin das weibliche Sexualorgan als Emblem des Semiotischen entgegengesetzt. Genau dieses Emblem der revolutionären, semiotischen, genitalen Sprache – die Vagina – greift Benchemsi in ihren Texten bezeichnenderweise an mehreren Stellen in plakativer Manier auf. Der Prozess der Anthropomorphisierung der Stadt infolge der mediatischen Ausweitung des (Erzählerinnen-)Körpers in Marrakech, lumière d’exil, wie sie etwa in Sätzen wie »Elle [la ville; MTB] semble s’étirer et pousser en loin sa respiration«22 zum Ausdruck kommt, impliziert, wie schon anhand der Eingangsszene des Romans gezeigt, eine Feminisierung der Stadt und gipfelt schließlich in der Gleichsetzung von Großstadt und Vagina: »[...] Marrakech est une incommensurable matrice. Un vagin cosmique où l’humanité tout entière peut encore puiser l’énérgie féminine et maternelle indispensable à la création et au resourcement essentiel.«23 Dieselbe, auf den ersten Blick recht simple Engführung von sexualisierter Körpermetaphorik und Großstadtdiskurs findet sich auch in der Kurzgeschichte »Foire des Zaërs« aus der Erzählsammlung Fracture du désir. Der Anblick eines entblößten weiblichen Geschlechtsorgans stiftet dort Verwirrung unter ein paar Bauern: »Dehors, les paysans, venus à la foire pour fêter des moissons abondantes, paraissent honteux de livrer une part de leur intimité à cette femme irréelle qui leur donne à voir l’invisible; un sexe à peine voilé par cette lourde corde de marin. Un vagin aveugle et inaccessible. Un vagin inutile. Ils sont là, prostrés,

21 Kristeva, Julia, Soleil noir. Dépression et mélancolie, Paris 1987, S. 89. 22 Benchemsi 2003, S. 12. 23 Ebd., S. 18. Indem sie sie als (noch) jungfräuliche, aber fruchtbare Stadt bezeichnet, weist auch Benchemis Beschreibung von Casablanca in La controverse des temps in eine ähnliche Richtung: »On allait alors à Casablanca comme autrefois on quittait la province pour Paris. Avec la même fougue. La même fierté. Les mêmes rêves de se saisir du monde nouveau et plein d’espoir. Mais, si Paris n’était pas Casablanca, cette ville fascinait pour des raisons inverses. [...] un autre rêve [...]. Celui d’une cité vierge. Arrogante de jeunesse. Réceptacle vide aux possibilités infinies. Les désirs de nouveauté. De changement. De modernité.« (Benchemsi 2006, S. 114).

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et attendent patiemment – comme à l’entrée d’un sex-shop – de voir et de revoir un nombre incalculable de fois ce spectacle [...]«24

Die Präsenz des weiblichen Geschlechtsorgans fungiert hier allerdings weder als Metapher für die Lebendigkeit und (Pro-)Kreativität einer Großstadt noch als Emblem einer auf Körperrhythmen und prälogischen bzw. präödipalen Assoziationen beruhenden genitalen Sprache im Sinne Kristevas, sondern verweist in erster Linie auf eine Absenz – auf die (illusorische) Abwesenheit des dazugehörigen, unversehrten Frauenkörpers. Denn »Foire des Zaërs« spielt, zumindest im ersten Teil der Erzählung, auf einem Jahrmarkt am Stadtrand von Rabat25, genauer noch im Zelt eines Magiers, der den Kopf einer Frau von dessen nacktem Rumpf abgetrennt hat: »Une tête sans corps, disposée sur une table ronde de jardin, acueille les spectateurs deux par deux. Tête rieuse. Yeux noirs et brillants. Regard aguicheur. Séparation du corps et de l’esprit. Non. Séparation de la tête et du corps. L’âme frissonnante continue d’animer – j’ignore par quel hasard – un corps, un peu plus loins, qui jouit de son célibat sur un fauteuil rouge.«26

Anders als für die gaffenden Bauern – sie leben eben nicht in der Stadt, sondern kommen vom Land her auf den Jahrmarkt – steht für die urbane Ich-Erzählerin nicht der Unterleib, nicht die durch die Zerstückelung des Körpers funktionslos gewordene »vagin inutile« im Zentrum, sondern der Kopf der Frau. Dieser steht aber nicht etwa metaphorisch für den Geist an sich (die Erzählerin unterstreicht, es gebe eben gerade keine »Séparation du corps et de l’esprit.«), und ebenso wenig handelt es sich hier um eine simple Metonymie, denn die natürlicherweise gegebene räumliche Beziehung zwischen Kopf und Rumpf erweist sich in diesem Fall ja gerade als durchbrochen (»Séparation de la tête et du corps.«). Bezeichnend ist im Übrigen, dass der Anblick der zerstückelten Frau neuerdings – diesmal nicht in Marrakesch, sondern am Stadtrand von Rabat – eine Pariser Evasions-

24 Benchemsi 1999, S. 35f. 25 Wie Marrakesch erweist sich der Jahrmarkt am Rande Rabats nicht nur als auditives, sondern auch als olfaktorisches Palimpsest, in dem sich die Gerüche nach Frittieröl, Lammfleisch, Chanel usw. überlagern. 26 Ebd., S. 33.

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phantasie heraufbeschwört und den Leser auf eine der berühmtesten Heterotopien der französischen Hauptstadt führt: »[...] par nécessité de me protéger de la violence de cette tête sans corps, je me retrouve soudain, je ne sais par quel effet extraordinaire de l’imagination, au cimetière du Père-Lachaise.«27 Angesichts dieser dissoziativen Assoziation zwischen Kopf und Rumpf einerseits und Paris und Rabat andererseits könnte man zu dem Schluss kommen, dass hier möglicherweise die Beziehung der marokkanischen zur französischen Hauptstadt modelliert wird: Paris ist zwar noch immer Kopf – dies allein schon angesichts der internationalen Hegemonie –, wenngleich auch nicht mehr unwidersprochen alleiniges intellektuelles Zentrum, an dem der Geist sich selbst gebiert. Dennoch scheint das ehemalige Protektorat, d.h. der vom Kopf abgetrennte Körper, von jenem – »[on] ignore par quel hasard« – weiterhin beseelt zu werden. Analog zum metonymischen Paradoxon der natürlicherweise nicht gegebenen Trennung von Kopf und Körper handelt es sich hier um eine metonymische Beziehung, die paradoxerweise gar keine ist, da eine geographische und politische Kontiguität und Kontinuität zwischen Mutterland und Protektorat natürlicherweise nie gegeben war und nur durch imperialistische Ideologien künstlich hergestellt worden ist, bevor sie, bedingt durch die Unabhängigkeit, politisch (wenn auch nicht kulturell) wieder unterbrochen wurde. Gleichzeitig bleibt das kreative Potential, das der unabhängig gewordenen Kolonie eignet, durch die Segregation beschnitten, worauf das Bild der »vagin inutile« hinzuweisen scheint: Die gewaltsame, unreflektierte (und möglicherweise, analog zum geteilten Frauenkörper im Zelt des Zauberers, nachgerade illusorische) Loslösung von einem Teil der eigenen Tradition (und sei es auch diejenige der ungeliebten Kolonialherren), mithin also des Körpers vom hegemonialen Kopf, kann letztlich – wie es bei den sich islamistisch radikalisierenden Studenten der Ich-Erzählerin von Marrakech, lumière d’exil zu beobachten ist – zu keinen positiven Ergebnissen führen. In »Foire des Zaërs« indes wird die durch den kopflosen Rumpf repräsentierte Erkenntnis der Inorganizität der Identitätsentwürfe auf anderen Ebenen neuerdings aufgegriffen. Der »vagin inutile« im Zelt des Magiers wird in Form einer traditionellen arabischen Aïta-Sängerin,

27 Ebd., S. 36.

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einer »déesse de la transgression«28, gar eine vollkommen geschlechtslose Erscheinung gegenübergestellt, die aber umso stärker eine Identifizierung erlaubt: »Traditionnelles traînées de khôl. Yeux ténébreux. Bouche pulpeuse. Dentition enrobée de feuilles d’or. Putain sacrée? Non. Déesse de la profanation. De son corps hiératique et majestueux émerge une voix lézardée qui emplit tout le volume du chapiteau. [...] Les paysans – stigmates de la rudesse du temps – jouissent de cette femme monumentale et généreuse. Rires. Hurlements. Cris obscènes. Sexes dressés, en proie à un orgasme sans utérus. Sans vagin.«29

Dieser Sublimierung des Eros (angesichts des zerstückelten Frauenkörpers aber auch des Thanatos) durch die Kunst der marokkanischen aïtas entspricht die Abkehr vom Eros, die die Freundin der Erzählerin auszeichnet. Denn als die Ich-Erzählerin vom Jahrmarkt ins Zentrum von Rabat zurückkehrt, besucht sie als Erstes ihre Freundin Hannae. Diese war vor Jahren gemeinsam mit ihr in Paris gewesen, dort aber von Anselm, einem Philosophieprofessor an der Sorbonne, mit dem lakonischen Hinweis auf Bataille – »l’amour nous quitte un jour et nous laisse non pas seul mais autre«30 – verlassen worden und dem Rat der Erzählerin schließlich gefolgt: »Quitte Paris et retourne au Maroc.«31 Die Abwesenheit eines mit den Erinnerungen an Paris assoziierten, jedoch verlorenen Objekts der Begierde vereint die beiden Frauen: »Le vide laissé par cette tête entrevue la veille me rapprocha davantage de mon amie Hannae. Comme si la solitude ressentie face à un objet perdu pour toujours avait pour qualité première non seulement de retrécir le temps et l’espace, mais encore de faire de l’absence, devenue physique et matérielle, l’objet désiré par excellence. Nous étions à présent terriblement liées par ce désir en suspens. Elle, déroutée par le départ d’Anselm, et moi, prise au piège de l’apparition d’une tête sans corps.«32

28 Ebd., S. 40. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 42f. 31 Ebd., S. 43. 32 Ebd., S. 45f.

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Abwesenheit, Absenz, Erinnerung, die zum eigentlichen Objekt der Begierde wird und Raum und Zeit, Geographie und Geschichte schließlich ineinander überführt (»retrécir le temps et l’espace«) – auch dies könnte neuerdings als Periphrase der Beziehung Marokkos zur französischen Kultur gelesen werden, gefiltert durch die Wahrnehmung von Benchemsis nach Marokko zurückgekehrten Protagonistinnen, die sich an ihre intellektuellen Werdegänge an französischen Universitäten erinnern, die in der Heimat unmöglich gewesen wären.

4. MYSTIZISMUS ALS AUSWEG? EINE KRITISCHE SCHLUSSBEMERKUNG Die affektiv gefühlte Abwesenheit des Verlorenen, Vergangenen, der Bruch mit dem Begehren, bei dem es in Fracture du désir – der Titel ist Programm – noch bleibt, wird in Marrakech, lumière d’exil sodann ins Positive gewendet, komplementiert durch die Erfahrung der Ekstase, der mystischen Epiphanie. Im weißen Morgenlicht der Place Jemaa-el-Fna erhebt sich der das Abwesende repräsentierende Tempelbau der »Mosquée du Néant«33, der das Andere, das durch Kontemplation zu vergegenwärtigende Abwesende – Paris und seine Dichter, der von radikal islamistischen Ideologien verdrängte Sufismus und mit ihm die weibliche Seite des Islam – mit konnotiert. Die Aura der heiligen Stätten des Islam in Verbund mit der Aura der revolutionären Spracherfahrung der Moderne generieren, mystisch entrückt, Fülle und Welterfahrung inmitten der Peripherie: »J’avais le sentiment d’une légèrté si frêle et si vapoureuse qu’elle m’autorisait, sans effort particulier, à me libérer, du moins pour quelque temps, de la matérialité de mon corps. J’étais le monde et le monde était moi.«34 Das Exil, von dem im Titel von Marrakech, lumière d’exil die Rede ist, ist nicht mehr länger ein geographisches, dasjenige einer Marokkanerin in Paris oder einer Frankreich vermissenden Marokkanerin zurück in ihrer Heimat – es ist ein inneres Exil, das Fülle dadurch erreicht, dass es das voneinander Getrennte, Kopf und Rumpf, Frankreich und Marokko, Symbolismus und Sufismus als mentales Palimpsest wieder zusammenfügt. Das verlorene Objekt der Begierde wird auf diese Weise

33 Benchemsi 2003, S. 15 und S. 191. 34 Ebd., S. 76.

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nicht nur wiedererlangt, die fracture du désir also nicht nur überwunden, sondern nachgerade transzendiert. Positiv formuliert, entwirft Benchemsi in Marrakech, lumière d’exil ein Ideal bikultureller Lebensfülle, das die abwesenden, nur noch imaginierten oder erinnerten (und insofern verzeitlichten) mentalen Palimpseste der Metropole Paris – des Okzidents – sich ihrerseits mit den räumlich-geographischen Palimpsesten einer marokkanischen Metropole der Gegenwart – des Orients – überlagern lässt. Der Feminisierung der Großstadtdarstellung in ästhetischer Hinsicht entspricht dabei auf politischer Ebene die Feminisierung des Islam bzw. dessen weibliche Wiederaneignung und Umschreibung. Als Bindeglied zwischen Raum und Zeit, zwischen der konkreten Stadt und der abstrakten Erinnerung, zwischen Ästhetik und Politik fungiert der Frauenkörper, der als Medium die Heterogenitäten bikultureller und geschlechtsspezifischer Verlust- und Konflikterfahrungen idealistisch-harmonisch zu synthetisieren weiß. Negativ formuliert, liegt aber genau dieser idealistischen Verklärung, dieser mystischen Entrückungsstrategie eine – zumindest aus postkolonialer bzw. gender-Perspektive – erstaunlich traditionelle, universalistische Dialektik zugrunde, die die Entstehung eines ›dritten Raumes‹ (Bhabha) oder auch eines ›Verhältnisses der dritten Art‹ (Blanchot) jenseits der bloßen Dichotomien und Synthesen von Orient und Okzident oder männlicher und weiblicher Ökonomie von écriture und Kulturproduktion vereitelt.35 Auch wenn – oder vielleicht gerade weil – Benchemsi über Blanchot promoviert hat, so scheint sie sich mit dessen von Levinas übernommener kategorischer Anderheit, d.h. mit der epistemologischen Unmöglichkeit, den Anderen in seinem Andersund Fremdsein mit den Maßstäben des Selbst erkennen zu können, nicht abfinden zu wollen.36 Stattdessen modelliert sie in Marrakech,

35 Einen ähnlichen Widerspruch konstatiert Segarra, wenn sie – »malgré les traits formels qui pourraient s’assimiler à la postmodernité« – davon spricht, Marrakech, lumière d’exil situiere sich letzten Endes im Lichte »d’un idéalisme tout à fait contraire à la position postmoderne. Il n’est pas étonnant alors que le discours féministe provoque [...] des critiques, des railleries et même de la ›répulsion‹ [...]« (Segarra 2010, S. 124). 36 Während Blanchot mit Levinas in »Le rapport du troisième genre« (vgl. Blanchot, Maurice, L’entretien infini, Paris 1971, S. 94-105) fordert, man müsse zumindest versuchen, ein solches ›Verhältnis der dritten Art‹ zu

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lumière d’exil herkömmliche Andersheiten als dialektisch überwindbare Verschiedenheiten, die das Widerspiegelungsparadigma der (Prä)Moderne, das Erkennen- und Begreifenkönnen des Anderen durch das Selbst epiphanisch aufgeladen befeuern. Die charakteristische Absenz von zentralen Männerfiguren37 auf der Ebene der histoire wird bei Benchemsi konterkariert durch die poetologische Omnipräsenz männlicher Dichter und Mystiker, die mittels des Konstrukts eines semiotisch-genitalen Sprachmodells und plakativer Vaginalmetaphorik umsexualisiert werden müssen, um die konfliktträchtige Kluft zwischen männlichen und weiblichen und okzidentalen und orientalen Identitäten zumindest in der Fiktion überbrücken zu können.

LITERATUR Benchemsi, Rajae, Fracture du désir, Arles 1999. Benchemsi, Rajae, Marrakech, lumière d’exil, Paris 2003. Benchemsi, Rajae, La controverse des temps, Paris 2006. Blanchot, Maurice, L’entretien infini, Paris 1971.

denken, das sich dadurch auszeichnet, dass der Andere darin eben nicht unter Bezugnahme auf das Eine bzw. das Selbe vereinnahmt, sondern in seiner absoluten Autonomie respektiert wird, scheint Benchemsi in ihren Texten vielmehr jenes Verhältnis zu realisieren, das Blanchot als ›Verhältnis der zweiten Art‹ bezeichnet und folgendermaßen definiert hat: »Le Moi et l’Autre se perdent dans l’autre; il y a extase, fusion, fruition. Mais ici le ›Je‹ cesse d’être souverain; la souveraineté est en l’Autre qui est le seul absolu.« (Ebd., S. 95; zur expliziten und impliziten Auseinandersetzung Blanchots mit Levinas vgl. inbes. ebd., S. 70-105.) 37 Dies lässt sich auch anhand anderer Erzählungen aus Fracture du désir belegen. In »Kira et Slima« z.B. wird der nur marginal präsente Vater von der sich prostituierenden Tochter am Ende umgebracht, und selbst in Fällen, in denen der männliche Protagonist in der histoire nahezu denselben Stellenwert einnimmt wie die Protagonistin, wird die Sprache von letzterer dominiert: In »L’homme qui ne mourut pas« fällt der Protagonist Hector in Paris ins Koma und wird fälschlicherweise für tot erklärt, worauf seine Freundin Keltoum nach Casablanca zurückkehrt. Zwar findet Hector sie dort nach seiner (partiellen) Wiedergenesung wieder, doch hat er seine Sprachfähigkeit eingebüßt und leidet fortan an Aphasie.

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Cixous, Hélène, Weiblichkeit in der Schrift, Berlin 1980. Diaconoff, Suellen, The Myth of the Silent Woman: Moroccan Women Writers, Toronto 2009. Heiler, Susanne, Der maghrebinische Roman. Eine Einführung, Tübingen 2005. Kristeva, Julia, La révolution du langage poétique. L’avant-garde à la fin du XIXe siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris 1974. Kristeva, Julia, Soleil noir. Dépression et mélancolie, Paris 1987. Martini, Paola, Il Maghreb racconta. La forma breve nella narrativa femminile contemporanea, Dissertation, Bologna 2007, verfügbar unter: http://amsdottorato.cib.unibo.it/556/1/martini.pdf [20.02.2011]. Schimmel, Annemarie, Meine Seele ist eine Frau. Das Weibliche im Islam, München 1995. Segarra, Marta, Nouvelles romancières francophones du Maghreb, Paris 2010. Segarra, Marta, »Tradition, modernité et postmodernité chez Rajae Benchemsi et Hélé Béji«, in: Gontard, Marc (Hrsg.), Le récit féminin au Maroc, Rennes 2005, S. 161-167. Sharpe, William/Wallock, Leonard (Hrsg.), Visions of the Modern City. Essays in History, Art, and Literature, Baltimore u.a. 1983. Stierle, Karlheinz, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1993. Wahbi, Hassan: »Tropismes féminins. À propos de Marrakech, lumière d’exil de Rajae Benchemsi«, in: Gontard, Marc (Hrsg.), Le récit féminin au Maroc, Rennes 2005, S. 95-100.

F ILMSTÄDTE / S TADTFILME

Von »Urbanomanie«1 zu Megacities oder: Sinfonische Transformationen BEATE OCHSNER »[…] nous vivons dans un monde que nous n’avons pas encore appris à regarder. Il nous faut réapprendre à penser l’espace.«2

Wie Marc Augé Anfang der 1990er Jahre konstatiert, hinken wir mit unserer Wahrnehmung der Entwicklung der Welt hinterher, und es bedarf eines Lernprozesses, um den Raum auf neue Weise sehen und denken zu können. Der folgende Beitrag möchte sich in diese mit dem spatial oder topographical turn entstandene Lücke einschreiben und die Wechselwirkungen von kulturell fundierten Räumen oder Raumtheorien und filmischen Räumen bzw. Raumkonstruktionen anhand einer exemplarischen Auswahl sogenannter ›Stadtsinfonien‹ von den zwanziger Jahren bis heute aufzeigen.3 Diese zu Beginn des 20. Jahr-

1

Eisenstein, Sergej, Vom Theater zum Film, Zürich 1960, S. 15.

2

Augé, Marc, Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992.

3

Zum spatial turn bzw. der Kulturalität des Raumes in den Sozial- und Geisteswissenschaften, vgl. u.a. Foucault, Michel, »Andere Räume (1967)«, in: Wentz, Martin (Hrsg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M., New York 1991, S. 65–72; Lefèbvre, Henri, The Production of Space, Oxford, Cambridge 1991; Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001; Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006; Löw, Martina/Steets, Silke/Stoetzer, Sergej, Einführung in die Stadt- und Raumsozio-

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hunderts im Zuge der zunehmenden Urbanisierung und Technisierung entstandenen Dokumentarfilme sind in der Regel musikalisch rhythmisierte Filme über städtisches Leben. Die Beschränkung auf das Subgenre ›Stadtsinfonie‹ erleichtert zum einen die Begrenzung des Korpus, zum anderen erlaubt es eine ausführlichere Bearbeitung kinematographischer Raumkonstruktionen auf der Basis topologischer Ansätze. Dies bedeutet, wie Stefan Günzel ausführt, »dass der Blick gewendet wird von dem, wie Raum bedingt, hin zu dem, wie Räumlichkeit bedingt ist«.4 Damit stehen nicht die Beschreibung der Substanz oder die räumliche Ausdehnung von Städten im Vordergrund, vielmehr geht es um raumkonstitutive kulturelle, soziale und medieninduzierte Lagebeziehungen. Das Ineinandergreifen medialer und soziokultureller Praktiken der städtischer Produktion, Distribution und Ausstellung sowie das »cognitive mapping«5 stehen im Vordergrund der Untersuchungen zu Filmen, in denen – wie in der Serie City Symphony des Avantgardefilmers Dominic Angerame6 – in einem fortlaufenden Prozess Gebäu-

logie, Opladen 2007; Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld ²2009. 4

Günzel, Stefan, »Raum, Topographie, Topologie«, in: ders. (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 13-32, hier: S. 13, Hervorhebung im Original.

5

Den Begriff des »cognitive mapping« hat Frederic Jameson vom Geographen Kevin Lynch (The Image of the City, Cambridge, Mass. 1960) zur Beschreibung des Phänomens übernommen, wie Menschen sich in ihren städtischen Umgebungen psycho-sozial verorten und eigene Erfahrungen mit sozialen (unbewusst) verbinden: »For Jameson, cognitive mapping is a way of understanding how the individual’s representation of his or her social world can escape the traditional critique of representation because the mapping is intimately related to practice – to the individual’s successful negotiation of urban space.« (MacCabe, Colin, »Preface«, in: Jameson, Frederic, The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System, London 1995, S. IX-XVI. Hervorhebung B.O.)

6

Das Projekt City Symphony von Dominic Angerame besteht aus fünf Einzelfilmen aus den Jahren 1987-1997, die die Thematik des beständigen Wechsels von Zerstörung und Wiederaufbau behandelt. Unter dem Einfluss der großen Stadtsinfonien der 1920er und 1930er Jahre entstanden

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de ab- und Straßen aufgerissen, Straßenzüge und Freeways zerstört und mit filmischen Mitteln – etwa im Spiel von Licht und Schatten – wiederaufgebaut werden. In Anlehnung an Mike Shiels Definition der »cinematic city«7 werde ich mich im Folgenden mit dem Raum der Filme respektive dem filmischen Raum beschäftigen, d.h. mit der Beschreibung eines filmspezifischen Raumes, der mittels Kadrierung und Einstellungsgrößen, der Relation zwischen Raum- und Handlungsachse, den narrativen Settings entsteht sowie der Inter- und Korrelation der filmischen Räume untereinander: »[B]oth space in films, the space of the shot; the space of the narrative setting; the geographical relationship of various settings in sequence in a film; the mapping of a lived environment on film; and films in space – the shaping of lived urban spaces by cinema as a cultural practice; the spatial organization of its industry at the levels of production, distribution, and exhibition; the role of cinema in globalization.«8

Der relationale bzw. der geometrisch geordnete, mit Eisenstein gesprochen, »urbanoman«9 montierte (Bild-)Raum linienförmiger Ver/Bindungen steht im Zentrum der Betrachtungen, jene Straßen, Schienen,

Continuum (1987), Deconstruction sight (1990), Premonition (1995), In the Course of Human Events (1997) sowie Line of fire (1997). 7

Vgl. Shiel, Mike: »Cinema and the City in History and Theory«, in: ders./Fitzmaurice, Tony (Hrsg.), Cinema and the City: Film and Urban Societies in a Global Context, Oxford 2001, S. 1-18.

8

Ebd., S. 5.

9

»Ein sehr schönes Wort: Montage! […] Die Verbindung der Wirkungseinheiten zu einem Ganzen soll mit diesem Wort bezeichnet werden, das halb im Produktionsbetrieb und halb in der Music-Hall zuhause ist und den Sinn von beidem enthält. Beide haben übrigens ihre Wurzeln im Urbanismus, und es ist toll, wie wir in jenen Jahren in Urbanomanie schwelgten. So wurde die ›Montage der Attraktionen‹, geboren. Hätte ich damals mehr von Pawlow gewusst, so hätte ich sie als ›Theorie der ästhetischen Reizerreger‹ bezeichnet.« (Eisenstein, Sergej: »Wie ich Regisseur wurde. Geheimnisse eines Studienabbrechers«, in: Brömme, Tino (Hrsg.): Workout – Internationale Zeitung für studentische Arbeit, n°1, Sommer 2002, Berlin, S. 3-4, verfügbar unter: http://www.work-out.org/lw11/essay/lw11_essay_ home.html [05.04.2011]).

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Auto- und Menschenschlangen, Fahrtwege, Gehwege, (Hoch-)Häuserfassaden, Schwing- und Drehtüren, Rohrpoströhren, Telefonfräulein, Telefon- und Stromkabel, die – so Godard – das Werden der modernen Stadt visualisieren und ihm Sinn verleihen: »[…] Ça commence quand il n’y a pas de lignes droites et la ville c’est des lignes droites, c’est devenue des lignes droites. Des lignes droites qui s’entrecroisent, et où tout a un sens.«10 Abbildungen 1-18

10 Godard, Jean-Luc, Lettre à F. Buache, Frankreich 1981, 10 min, TC: 00:04:16. Die Linien- und Sinnförmigkeit moderner Städte hinderte Godard – so seine Erklärung im Voice-Over – letztlich daran, den Auftragsfilm über Lausanne zu drehen, über eine Stadt, die für ihn gerade nicht aus geraden Linien, sondern vielmehr aus »des ronds, des formes« bestehe. So besteht das Ergebnis in einem Film(-Brief) an Freddy Buache, dem Gründer und Kurator der Cinémathèque Suisse, der das Scheitern des Filmprojektes über die Stadt Lausanne thematisiert. Sein Film hätte das Grau zwischen Blau und Grün zeigen wollen, der Auftrag jedoch bestand darin, einen repräsentativen Film über die 500-Jahrfeier der Stadt abzuliefern. Dies aber war dem Regisseur unmöglich gewesen und so deuten die Bilder nur an, was für ein herrlicher Film hätte entstehen können.

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Abbildungen 1-2: Vigo, Jean, À propos de Nice, F 1930; Abbildungen 3-4: Vertov, Dziga, Moskwa, UdSSR 1926; Abbildungen 5-6: Thompson, Francis, N.Y. N.Y. A Day in New York, USA 1957; Abbildungen 7-8 Sheeler, Charles/Strand, Paul, Manhatta, USA 1921; Abbildungen 9-10: Vertov, Dziga, Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929; Abbildungen 11-12: Robert, Florey, Skyscraper Symphony, USA 1929; Abbildungen 13-14: Ruttmann, Walter, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, D 1927; Abbildungen 15-16: Schadt, Thomas, Berlin. Sinfonie einer Großstadt, D 2002; Abbildungen 17-18: Novotny, Tim, Life in Loops, AU 2006.

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Tatsächlich delektieren sich alle der ausgewählten Stadtsinfonien – mal mehr, mal weniger – an der Darstellung horizontaler, vertikaler oder diagonaler Linien, die die Bilder gliedern und fragmentarisieren, an Fluchtlinien, die den Raum ins Bild hinein eröffnen, an Geraden, die den Zusammenhang zwischen Räumen und Zeiten herzustellen, an bildkompositorischen Linien, die durch mise-en-scène, Kadrierung, Kamerabewegung und -perspektive, Einstellungswechsel sowie Montage entstehen. Dies liegt nun sicherlich zum einen an der generellen Bewegungsfaszination früher Filmemacher, zum anderen aber verweist es auf einen engen Zusammenhang von Film und Urbanistik bzw. auf die bildhafte Entstehung der Großstadt im Kontext einer visuellen Soziologie, wie sie u.a. in der Forschungsgruppe ›Metropolenforschung‹ des Forschungsschwerpunkts Technik – Arbeit – Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung anhand unterschiedlicher filmischer Beispiele aufgezeigt wurde.11 Während in narrativ dominierten Stadtfilmen die fragmentierten Einzelschicksale zeitlich wie auch räumlich entweder an den (filmischen) Mythos einzelner Großstädte12 oder an eine ordnungsstiftende Metaerzählung (wie im Falle von Megacities von Michael Glawogger oder Life in Loops von Tim Novotny13) zurückgebunden werden können, geht der traditionelle »lieu anthropologique«14 in der filmischen Spatialisierung der frühen Stadtsinfonien verloren. Die in der Berlin-

11 Horwitz, Matthias/Joerges, Bernward/Potthast, Jörg (Hrsg.), Stadt und Film. Versuche zu einer ›Visuellen Soziologie‹, Discussion Paper FS-II 96503. Berlin: Wissenschaftszentrum, Berlin 1996, verfügbar unter: http://bibliothek.wzb.eu/pdf/1996/ii96-503.pdf [20.05.2011]. 12 So eine Reihe von sog. Omnibusfilmen wie z.B.: Chabrol, Claude/Godard, Jean-Luc/Rohmer, Eric u.a., Paris, vu par, Frankreich 1965, 92 min.; Allen, Woody/Coppola, Francis Ford/Scorsese, Martin, New York Stories, USA 1989, 124 min.; Coen, Ethan and Joel/van Sant, Gus/Tykwer, Tom u.a., Paris, je t’aime, Frankreich/Deutschland/Liechtenstein/Schweiz 2006, 120 min.; Akin, Fatih/Attal, Yvan/Hughes, Allen u.a., New York, I love you, USA 2008, 103 min., Bong, Joon-ho/Carax, Leo/Gondry, Michel u.a., Tokyo!, Japan 2008, 107 min.; der Episodenfilm Cédric Klapischs, So ist Paris, Frankreich 2008, 130 min. u.v.a. 13 Vgl. Glawogger, Michael, Megacities, Österreich, 1998 90 min.; Novotny, Timo, Life in Loops, Österreich 2006, 80 min. 14 Vgl. Augé 1992.

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sinfonie Walter Ruttmanns15, in Dziga Vertovs Städtemontage Der Mann mit der Kamera16 sowie in den halb dokumentarischen-halb sinfonischen Nachfolgebeispielen Heinrich Hausers, Robert Floreys, Francis Thompsons, Paul Strands, Charles Sheelers, Eli Lotars oder Jean Vigos17 konstruierten Film-Städte lösen die feststehende, in Zeit und Raum verankerte Bild-Geschichte des Individuums zugunsten der Sichtbarmachung des Großstadtmenschen bzw. erneut einer die Großstadt traversierenden Masse(nbewegung) auf, was – so Godard – nicht ohne Lust geschieht: »On perd sa vie à la traverser, mais il y a un plaisir de perdre, qui perd gagne. Les habitants de la ville jouent à qui perd gagne […]«.18 Straßenzüge, Schienenstränge, Strommasten und Menschenansammlungen durchziehen das Bild, übersetzen die Bewegung und gliedern die Fläche in verschiedene, netzförmige Ensembles und Unterensembles (vgl. Abb. 1-18). Trotz horizontalen, vertikalen oder diagonalen Ein- und Ausfahrens von Bahnen, Autos, Schiffen oder anderen Fortbewegungsmitteln bleiben die Bilder zum Großteil auffallend flächig. Die Einstellungsgrößen wechseln – so z.B. bei Walter Ruttmann oder Francis Thompson – in der Regel zwischen Totalen und Halbtotalen, nur selten gerät eine emotionalisierende Großaufnahme dazwischen. Tatsächlich scheinen die zuweilen in extremer Aufsicht gezeigten Netzbildungen einer geheimen Choreographie zu gehorchen, gelöst von narrativen Funktionen folgen sie einer ornamentalen Logik, die weniger auf Handlungskontinuität oder -realität, denn auf die Darstellung der Dinge und Räume in ihrer Autonomie zielt.

15 Ruttmann, Walter, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, Deutschland 1927, 63 min. 16 Vertov, Dziga, Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929, 80 min. 17 Hauser, Heinrich, Chicago. Weltstadt in Flegeljahren, Deutschland 1931, 87 min.; Florey, Robert, Skyscraper Symphony, USA 1929, 10 min.; Thompson, Francis, N.Y. N.Y. A Day in New York, USA 1957, 7:30 min., Strand, Paul/Sheeler, Charles, Manhatta, USA 1921, 9:40 min.; Lotar, Eli, Aubervilliers, Frankreich 1945, 25 min.; Vigo, Jean, À propos de Nice, Frankreich 1930, 25 min. 18 Godard 1981, TC 00:04:19-00:04-24.

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RAUMRELATIONEN Seit der topologischen Wende wird der geographische Raum bekanntermaßen als kultureller und mithin als Ergebnis sozialer Beziehungen und Handlungen begriffen, deren Wahrnehmung den realen Raum überformt. Als eine für die Moderne maßgebliche Kulturtechnik des Raumes kann das Kino verschiedene Raumpräsentationsmodi mittels filmischer Verräumlichungsstrategien sichtbar und verständlich machen. Ohne die im Rahmen des spatial turns immer wieder diskutierten Raummodelle in extenso darstellen zu können, möchte ich mich auf zwei verschiedene Räume konzentrieren; zum einen auf den physischen, dreidimensionalen, euklidischen und absoluten Raum und zum anderen auf den vieldimensionalen und prozesshaft relationalen Beziehungs- oder Ordnungsraum Leibniz’scher Prägung, in dem »[p]lace, trace, espace ne consistent que dans la vérité des rapports.«19 (Den relativistischen Raum, der sich aus der relativen Lage der Körper ergibt, klammere ich dabei ebenso aus wie den topischen Feldbegriff20,

19 Leibniz, zitiert nach Gosztonyi, Alexander, Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaft, München 1976, Band 1, S. 364. 20 Vom topologischen Verständnis westlicher Prägung unterscheidet sich das weitere topische Raumverständnis, das einen Feldbegriff des Raumes, einen sozial erlebbaren Raum propagiert, der als soziales Feld bzw. Atmosphäre erfahrbar wird. Hier zählt nicht primär das Relationsgefüge, sondern ein durch Raumpunkte aufgespanntes Feld. Aus der Verbindung ergeben sich »topische Relationen«, die im Unterschied zur direkten geraden Verbindung zweier Raumpunkte »über das Feld laufen« und daher als zwei sich schneidende Geraden visualisiert werden können: Raumpunkte können vom Raum durchdrungen werden, d.h. das Verbindende ist zugleich das Durchdringende (vgl. »Geschichte der Topologie«, verfügbar unter: http://www.topologie.ch/geschichte.html [16.4.2012]). Im Westen wird diese These u.a. von Junius Brown und Pierre Bourdieu vertreten (vgl. Brown, Junius F., Psychology and the social order: an introduction to the dynamic study of social fields, New York, London 1936; Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a.M. 1985). »Das Denken in Feldbegriffen erfordert eine Umkehrung der gesamten Alltagssicht von sozialer Welt, die sich ausschließlich an sichtbaren Dingen festmacht ... In der Tat: Wie die Newtonsche Gravitationstheorie nur im Bruch mit dem Cartesiani-

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der – wenngleich im höchsten Maße interessant – in einer primär bildästhetisch orientierten Analyse untergeordnet erscheint.) Mit Marc Ries ist zunächst zu konstatieren, dass der Raum nicht das ist, was gegeben ist.21 Demzufolge kann das Medium Film einen Raum nicht einfach ›nur‹ abbilden, vielmehr ist von Wechselbeziehungen zwischen kulturellen Praktiken der Raumerzeugung auszugehen, die innerhalb und auf Basis der Konstruktion des filmischen Raumes sichtbar gemacht werden können. Dabei gehen wir von einer bestimmten Anzahl von Elementen bzw. bewegten Objekten aus, die miteinander in Verbindung stehen bzw. mit Hilfe verschiedener Systeme wie Verkehr, Technik, Verwaltung, Ökonomie oder Medien in Relation zueinander gesetzt werden können. Die medial implementierte Beziehungsstruktur ist im Folgenden von vorrangigem Interesse, d.h. erst wenn die einzelnen Versatzstücke z.B. durch Bilderwiderungen mit Hilfe assoziativer und dialogischer Schnitt-Gegenschnitt-Verbindungen, fortgesetzten Bewegungsabläufen, Parallelmontagen, Schichtungen von gleichen Bewegungsrichtungen und -stilen sowie (besonders im Falle der Stadtsinfonien) akustischen Mitteln in Relation gesetzt werden, kann man von Verräumlichung oder vom Werden respektive der (medialen) Bildung eines soziokulturellen Raumes sprechen. Aus einer beständigen Differenz zwischen der Juxtaposition einzelner Elemente und der Komposition oder ganzheitlichen Ordnung des (Bild-)Raumes kann so – wie Pudowkim bereits 1928 formuliert – kontinuierlich Bedeutung entstehen:

schen Realismus, der keinen anderen Modus physischer Aktionen als den Stoß, den direkten Kontakt, anerkannte, zu entwickeln war, so setzt auch der Feld-Begriff einen Bruch mit der realistischen Vorstellung voraus, die den Effekt des Milieus auf den der direkten, in einer Interaktion sich vollziehenden Handlung reduziert.« (Heuner, Ulf (Hrsg.), Klassische Texte zum Raum, Berlin 2006, S. 7-8.) Das Feld wird dabei nicht auf die sich darin vollzogenen Interaktionen reduziert, vielmehr muss es als eigene Wirkungsgröße begriffen werden. Handeln ist immer Handeln im Feld. 21 Ries, Marc, »Zur Verströmung des Films an für ihn uneigentliche Orte. Geoästhetische Reflexionen zu Kino und Gegenwart«, in: Nach dem Film 5 (1.9.2004), verfügbar unter: http://www.nachdemfilm.de/content/zurverstr%C3%B6mung-des-films-f%C3%BCr-ihn-uneigentliche-orte [23.4.2011].

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»Durch das Zusammenfügen der einzelnen Stücke bildet der Regisseur sich seinen eigenen, ganz filmischen Raum. Er vereinigt einzelne Elemente, die vielleicht von ihm an verschiedenen Orten des realen, tatsächlichen Raums auf das Filmband gebannt sind, zu einem filmischen Raum.«22

Das geographisch adressierbare Dispositiv Kino und das Kino als sozialer oder kultureller Raum, in dem Menschen zusammenkommen und in Kontakt treten, gehen – so Ries weiter – eine Relation ein, im Rahmen derer sich der gebaute Kinoraum desubstantialisiere, um den soziokulturellen in Erscheinung treten zu lassen. Dies ist prinzipiell korrekt, allerdings lässt die Bezugnahme auf das Kinodispositiv als solches filmästhetische Besonderheiten in den Hintergrund treten. Die verschiedenen triadischen Ansätze zur filmischen Raumkonstruktion aus der Medien- und Filmwissenschaft, die in unterschiedlichen Varianten einen Erzählraum, einen Raum im Film und einen filmischen Ort kennzeichnen, beziehen sich allerdings vorrangig in erster Linie auf den klassischen, kausalmotivierten Erzählfilm, der sich von den hier thematisierten Stadtsinfonien deutlich unterscheidet. Mit Eric Rohmer gesprochen, tritt dort der Filmraum zugunsten des Architekturraumes zurück, der wiederum den virtuellen Filmraum sichtbar macht.23 In der ähnlichen, gleichwohl nicht vollständig kompatiblen Begrifflichkeit Joachim Paechs ermöglicht die Unsichtbarkeit des eng mit dem dispositiven verknüpften medialen Raumes die Sichtbarwerdung des modalen Erzählraumes. Im Rahmen einer Medium-Form-Relation entzieht sich der mediale Raum der unmittelbaren Beobachtung, ist sozusagen als theoretischer Aspekt der Raumkonstruktion zu verstehen, auf den nur im Nachhinein, also im Zuge einer Differenz produzierenden Wiederholung geschlossen werden kann. Mit dem Wechsel vom Hierraum in den Darstellungsraum der Kamera wird der Betrachter gleichzeitig zum Teil dieses medialen Bildraumes, der sich mit ihm in Beziehung setzen will. Die ästhetische und formale Gestaltung dieser Inbezug-

22 Wladimir Pudowkim, zit. nach Dadek, Walter, Das Filmmedium. Zur Begründung einer Allgemeinen Filmtheorie, München, Basel 1968, S. 148. 23 Rohmer unterscheidet zwischen 1. dem Bildraum, als das als Rechteck auf die Leinwand projizierte Filmbild, 2. dem Architekturraum, als Teil von Welt und 3. dem Filmraum, d.h. dem virtuellen Raum, der in der Vorstellung des Betrachters zusammengesetzt wird. (Vgl. Rohmer, Eric, Murnaus Faustfilm. Analyse und szenisches Protokoll, München 1980, S. 10).

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setzung obliegt nun der Juxtaposition der Elemente, ihrer Koexistenz in der Einstellung bzw. der Sequenz oder der Erzeugung eines narrationslogischen Beziehungsgefüges. Im Falle der gewählten filmischen Stadtsinfonien sind narrative Relationen – wenn überhaupt – primär in den älteren und häufig sozialkritischen Dokumentationen mit Voiceover wie Ralph Steiners und Willard van Dykes The City24 oder Hausers Chicago. Weltstadt in Flegeljahren, im Falle der surrealistischen Mikrofiktionen in Eli Lotars Aubervilliers sowie den bereits erwähnten neueren Produktionen wie Megacities und Life in Loops (Novotny) vorhanden. Doch während Hauser sich an der das Wesen der Dinge unsichtbar machenden Bewegung stört und beklagt, dass »Menschen und Dinge […] so sehr im Fluß [sind], dass man nur die Bewegung sieht, nicht das Wesen selbst«25, so stellen die auf verschiedene Art konzertierten und montierten Verkehrsformen massenhafter Mobilisierung den Schwerpunkt der stadtsinfonischen Arbeiten Ruttmanns, Vertovs, Floreys oder auch Thompsons dar, die narrative Raumschaffung und individuelle Inbezugsetzung weitestgehend verweigern. Insofern ist Volker Pantenburg zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass es sich im Falle Hausers nicht um eine Montage im Sinne einer »gezielten Rhythmisierung [handelt], die sich zur Geschwindigkeit der Großstadt mimetisch oder konkurrierend verhalten würde […]. Wo Ruttmann mit seinen abstrakten Filmen eher von der Mathematik und der formalen Berechnung her zum Bild kommt […], ist der Weltumsegler und Fotograf Hauser stärker am Bild und seiner Komposition interessiert.«26

Wie die Produktion der Beziehungsgestaltung durch und vom Medium Film sichtbar gemacht werden kann, damit hat sich zuletzt Laura Frahm auseinandergesetzt.27 So betont sie ein um das andere Mal, dass

24 Steiner, Ralph/van Dyke, Willard, The City, USA 1939, 43 min. 25 Hauser 1931, TC 00:46:49. 26 Pantenburg, Volker, »Chicago. Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago«,

in:

new

filmkritik,

30.11.2003,

verfügbar

unter:

http://newfilmkritik.de/archiv/2003-11/weltstadt-in-flegeljahren-einbericht-uber-chicago/ [09.04.2011]. 27 Vgl. Frahm, Laura, Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld 2010.

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filmische Räume »genuin bewegte Räume«28 sind, sie verschiedene Bewegungsformen nicht einfach ›nur‹ registrierend aufzeichnen, sondern selbst ständig in Bewegung sind und sich permanent verändern, wie in den bewegten Bildern der Stadtsinfonien zu sehen, die die Bewegung im Bild ebenso aufzeichnen, wie ihre eigene und mithin diejenige der Bilder sichtbar wird. Diese Sichtbarkeit verdanke sich – so die These – dem Scheitern des Filmes, in dem die filmische Raumkonstruktion selbst sichtbar werde. Doch wer oder was bringt diese Raumkonstruktion als Selbstreflexion zur Erscheinung? Zum einen scheint der avantgardistische Verzicht auf narrative Anbindung ein wesentliches Moment für die erschwerte Inbezugsetzung zwischen Zuschauer und medialen Bildraum zu sein, auf deren Basis der modale Raum zur Erscheinung kommen kann, zum anderen bewirkt die durch Montage, mise-en-scène, Perspektive oder Kamerabewegung kontinuierliche Überschreitung und Entgrenzung angelegter Räume eine stetige Transformation des filmischen Raumes: »Mit den filmischen Bewegungsbildern wird der Bildraum selbst bewegt. Veränderungen sind nun möglich: »Denn, was sich bewegt, das verändert sich«29, so Marc Ries. Demzufolge wären filmische ›Bildräume‹ bzw. ›Bilderstädte‹ nicht abbildungstheoretisch, sondern primär handlungstheoretisch im Sinne Michel de Certeaus zu lesen, für den z.B. ein Raum ein Ort ist, an dem man etwas macht.30 ›Raumbilder‹ oder ›Städtebilder‹ zeigen Abbilder der Orte und Körper in jenem soeben beschriebenen, sogleich sich verändernden Bildraum. Konstitutives Teilelement bildet der Zuschauer, dessen Beziehung zum bzw. (auch im ökonomischen Sinne) Bindung an den Film in den Vordergrund tritt. Der filmische Bildraum mit seiner Darstellung der Bewegungen der Welt sowie seinen eigenen Bewegungen versetzt den Zuschauer respektive dessen – mit MerleauPonty gesprochen – »virtuellen Leib«31 in eine Relation zum

28 Ebd., S. 15. 29 Ries, Marc, »Von der Katastrophe des Glücks. Fotografie und Film in Louis Malles Ascenseur pour l'échafaud«, in: Nach dem Film 8 (1.12.2005), verfügbar unter: http://www.nachdemfilm.de/content/von-derkatastrophe-des-gl%C3%BCcks [07.04.2011]. 30 de Certeau, Michel, Kunst des Handelns, Berlin 1989, S. 217f. 31 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice, Phénoménologie de la perception, Paris 1945/1992, S. 289ff. In diesem Kontext wird der Körper als System poten-

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Stadt/Bild/Raum, innerhalb dessen Beziehungen zwischen den einzelnen Bildelementen an einem (anthropologischen) Ort aufgebaut werden.32 Die Raumorganisation, die Verortung und Verschiebung sozialer Positionen im Sinne von »modalités des pratiques collectives et individuelles«33 kennzeichnet die dynamische Beziehungsstruktur, wie die Soziologin Martina Löw konstatiert: »Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert.«34 Den Raum als fließend-bewegtes Kontinuum von Beziehungen zu denken, bedeutet aber gleichzeitig, von einem Raumwerden, einem »Einräumen oder einer Verräumlichung zu sprechen, denn von einem substantivierten oder substantialisierten Raum-an-sich«35 zu sprechen. Verräumlichungsprozesse in filmischen, mithin bewegten Bildern scheinen mir ihre stärkste Wirkung in den Stadtsinfonien Ruttmanns und Vertovs zu entfalten, denen ich verschiedene Abbilder städtischer Räume bzw. Raum-Geschichten gegenüberstellen möchte.

BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (RUTTMANN, D 1927) Ruttmanns Sinfonie mache Berlin zur Trägerin einer filmischen Hauptrolle, so eine häufig geäußerte These. Inwiefern sich diese Großstadt jedoch von anderen Filmstädten unterscheidet, lässt sich nicht einfach feststellen, zumal, wie Alberto Cavalcanti in Rien que les heures konstatiert, »[t]outes les villes sont pareilles, si leurs monument ne les distinguaient pas«.36 Bis auf wenige Schilder oder wiederer-

tieller Handlungen begriffen, ein »virtueller Leib«, dessen Ort durch seine Aufgabe und seine Situation bestimmt ist. 32 Augé 1992, S. 68. Augé spricht vom anthropologischen Ort im Sinne einer konkreten und symbolischen Konstruktion eines identischen, relationalen und historischen Raumes, in den ein Körper platziert ist (S. 70), MerleauPonty spricht vom den Raum bewohnenden Leib. 33 Augé 1992, S. 67. 34 Löw 2001, S. 152ff. 35 Ries 2004. 36 Cavalcanti, Alberto, Rien que les heures, Frankreich 1930. Dies trifft in gewisser Weise auch auf Vertovs Der Mann mit der Kamera zu, der in drei

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kennbare Gebäude, Straßen und Monumenten abgesehen, die den ›Mythos Berlin‹ womöglich unterstützen, handelt es sich bei Ruttmanns Film um die visuelle Sinfonie einer Großstadt als solcher, die – einem komplexen metabolischen Organismus gleich – nach einem bestimmten Rhythmus lebt. Zusammen mit früheren und späteren Großstadtsinfonien prägt Ruttmann auf diese Weise eine filmische Richtung, die befreit von konventionellen narrativen Mustern, teils distanziert registrierend, teils analytisch reflektierend Erscheinungen und Phänomene des Großstadtlebens im Sinne des Lebens der Großstadt erfassen möchte. Die sinfonisch orchestrierte und visualisierte Großstadt erweist sich dabei als linienförmiger und geometrischer Klang-Raum, in dem verräumlichende Beziehungen im horizontalen, vertikalen oder diagonalen Durchlauf von Positionen oder (Bild-)Elementen mit minimaler historischer Stabilität entstehen und wieder vergehen. Im Gegensatz zum klassischen Erzählfilm, der durch die stattfindende Handlung einen physischen in einen sozialen Interaktionsraum verwandelt, lösen sich in den Stadtsinfonien die Bewegungen von ihren narrativen, handlungs- oder bildtragenden Funktionen, und bieten die von Robert Bresson beschriebene Möglichkeit, den Film »wie eine Kombination von Linien und Räumen in Bewegung außerhalb dessen [zu sehen], was er abbildet und bedeutet«37 zu betrachten. So konstruiert sich die in der Ordnung einer Sinfonie montierte Bilderwelt ihre eigene mediale Wahrnehmungswelt. Lediglich die Struktur eines sinfonisch rhythmisierten (schnell-langsam-schnell, Wiederholung, Steigerung und Dehnung) und gleichsam mechanischem Tagesverlauf in vier Akten (eine solche Tagestaktung weisen nahezu alle frühen Filme auf), der einen Bogen vom frühen Morgen mit den im Gleichschritt choreographierten und getakteten Massen, die zu Arbeitsbeginn die Städte überfluten, über die Mittagspause und das Arbeitsende bis zur abendlichen Freizeitbeschäftigung und dem Zu-Bett-Gehen spannt, lässt eine bekannte soziokulturelle Raumzeit erkennen.

verschiedenen Städten, Moskau, Kiew und Odessa, gedreht wurde. Die Vereinheitlichung geschieht jedoch nicht aufgrund von Monumenten, Mythen oder Biographien, sondern vielmehr filmästhetisch durch die Montage. 37 Bresson, Robert, Noten zum Kinematographen, München, Wien 1980, S. 52.

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Im Gegensatz dazu greifen die fiktionalen Episodenfilme wie Paris, je t’aime, New York Stories, Tokyo! oder auch neuere Sinfonien wie Glawoggers Megacities oder Novotnys ReMix Life in Loops auf das städtische Klischee zurück, und eignen sich die Stadt respektive ihren Mythos mithilfe komplexer Narrationen sowie (bei den beiden zuletzt genannten Beispielen) dokumentarischer Gespräche und Interviews an. Eine Voice-over, die Montage oder aber die dargestellten Figuren selbst verknüpfen in Megacities wie auch in Life in Loops die einzelnen biographischen Fragmente, im festgelegten Rhythmus der filmischen Struktur respektive der kinematographischen Megacities greift der Film immer wieder auf Über-Lebensgeschichten zurück, die – ebenso wie die Städte zu einer Megacity – zu einer Mega- oder Metaerzählung verschmelzen. Filmästhetisch zeigt sich dies in klassischer Einstellungsmanier, die von einer Totalen über die Halbtotale und Halbnahe nah an eine Person und damit ihre Geschichte heranführt und in den gleichen Schritten die Narration wieder ausleitet. Ein weiteres Beispiel für eine Mikrofiktion ist das einen Tacostand betreibende Tänzerehepaar, wobei hier zur weniger stark ausgeprägten Einstellungsmontage die Bild-Ton-Verknüpfung hinzukommt, die aufgrund der Dissonanzen zwischen Bild- und Tonräume in- und übereinander schiebt und sie miteinander (bzw. mit dem Zuschauer) vernäht, wie der Bioskop-Mann dies in einer späteren Mikrofiktion vorführt und erläutert (vgl. Abb. 19-27). Während der Mann in Abbildung 19 erläutert, welche verschiedenen Waren angeboten werden, ertönt in Abbildung 20 eine Off-Musik, die – nach zwei, den Raum in den Hintergrund treten lassende Großaufnahme, zu einem Tanzsaal überleitet. Aus der anfänglichen Totalen heraus wird das Paar ins Bildzentrum platziert, eine Halbnahe aus der Szene zuvor, dem Zuhause des Tanzpaares, wird dazwischen geschnitten und die Sequenz endet am erneut aus der Totalen gefilmten Tacostand. So werden Zuhause, Tanzsaal und Tacostand zu einer (akustisch) einheitlichen (Lebens-)Erzählung verwoben, die den Zuschauer mit den beiden Menschen in ihren sozialen Räumen zusammenführt.

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Abbildungen 19-27

Quelle: Glawogger, Megacities.

Eine vergleichbare bildliche Inszenierung von Mega- oder Metaebenen sucht man bei Ruttmann ebenso wie bei Vertov, Florey, Thompson oder Schadt zumeist vergeblich, es bleibt bei wenigen und vor allem vereinzelt stehenden Aufsichten, in denen jedoch die militärisch oder tänzerisch choreographierten Menschenmassen aufgrund der extremen Perspektive vielmehr zu graphischen oder musikalischen Bewegungsmustern geraten als zu Individuen mit eigenen Biographien. Dies fügt sich ein in die allgemeine kapitalismuskritische Tendenz, mit der Ruttmann die Auswirkungen auf die Stadt als Arbeitsort aufzeigt: Wie Max Weber beschreibt, entwickeln sich zusehends oberflächliche und entfernte Verbindungen, die Mobilität nimmt zu und bestimmte soziale Gruppierungen entwickeln feste Bezüge zu bestimmten Stadtvierteln. Die Stadt erscheint weitestgehend standardisiert, unterschiedslos und neutral, bei gleichzeitig zunehmender äußerer Ornamentalität. Tatsächlich stellt Ruttmann Bewegung und damit die Raumwerdung gerade nicht indirekt mittels eines mit Menschen, Stimmen oder Tönen sowie ihren Geschichten zu erzeugenden Bildverlaufs dar, vielmehr kommen sie durch Inbezugsetzung von Kadrierung, Bildkomposition, Montage und Ton zur Erscheinung. Die so geschaffene (filmische) Bewegung verlagert einzelne Teile des räumlichen Ensembles, was sich für das Ganze als Transformation oder Translation darstellt. Nun fällt im Ver-

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gleich zwischen Ruttmann und Vertov die kaum betonte Montage des Malers Ruttmann auf, der, ähnlich wie Viking Eggeling und Hans Richter, auf seiner Suche nach dem Prinzip der Malerei in der Zeit weniger auf die Bewegung der Kamera, denn auf diejenige im Bild, in die Tiefe des Bildes oder über das Bild hinausgehend und in das Off reichend, verweist. Wie Marc Augé in seinem bereits mehrfach zitierten Buch zu den non-lieux ausführt, entstehen soziale Relationen heutzutage nicht mehr durch instantane, kontingente oder transitorische Verträge, sondern durch Strukturen mit allenfalls minimaler historischer Stabilität, wie Ruttmanns linienförmige Bilderreihen von Straßen, Schienen, Kabel, Kolonnen, Reihen sie zeigen : »[C]e sont aussi bien les installations nécessaires à la circulation accélérée des personnes et des bien (voies rapides, échangeurs, aéroports) que les moyens de transport eux-mêmes ou les grand centres commerciaux [...].«38 In den bewegten Filmbildern kollabieren die im vorliegenden Aufsatz zu Abbildungszwecken fixierten Strukturen und lassen – dies mögen die folgenden Stills aus Ruttmanns Sinfonie verdeutlichen – nicht das Scheitern des Films, sondern dasjenige der Unsichtbar-machung des medialen zugunsten der Sichtbarmachung des modalen Erzählraumes in Erscheinung treten. Während im ersten Bildzyklus runde und kreisende Formen in einem assoziativen Taumel aneinandergeschnitten werden (Abb. 28-30), greifen die Bildmanipulationen letztlich das Bild bzw. den Bildraum selbst an und zeigen neue räumliche Deplatzierungen in der filmischen Bewegungsassoziation vom Wasser zum Land (Abb. 31-34). In der Projektion des Printmediums wird die Zeitung filmisch animiert, bis das Bild ›durchfällt‹, in/mit der Achterbahn schräg steht und sich letztlich in einer Man Ray’schen Spirale39 aufzulösen scheint.

38 Augé 1992, S. 48. 39 Man Ray, Anemic cinema, Frankreich 1926.

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Abbildungen 28-30

Quelle: Ruttmann, Berlin.

Abbildungen 31-34

Quelle: Ruttmann, Berlin.

Abbildungen 35-40

Quelle: Ruttmann, Berlin.

Eine ganz andere Art – und m.E. eher weniger bildlogische – Reflektionsebene liegt bei dem immer wieder hochgelobten Mann mit der Kamera von Dziga Vertov vor, der die Überwachung durch das KinoAuge sowie verschiedene filmische Produktionsschritte von einem – selbst unsichtbaren – zweiten Kameramann aufnehmen und vorführen

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lässt. Wie in Michael Glawoggers Bioskopmann-Geschichte oder in Tim Novotnys ReMix referiert der Film auf sich selbst, und ebenso wie bei Vertov bleibt die zweite, und mithin den Film im Film produzierende Kamera außen vor und damit unsichtbar. An Ruttmanns Bildern hingegen wird jenseits der Re-Repräsentation deutlich, wie Kino helfen kann, Bewegung zu denken, indem sie direkt präsentiert wird. Auf der Basis der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Bewegung nach René Clair macht Ruttmann in einer filmischen Transformation die innere, eigentlich dem Bewegungsbild unsichtbar zugrunde liegende Bewegung und damit den relationalen Zusammenhang zwischen der Bewegung des Filmes (Filmstreifen, Durchleuchtung) und der Bewegung der Kommunikation bzw. Information (Zeitungsmeldung) sichtbar. Dann – wie schon gesehen – kippen die Bilder, sie beginnen zu rotieren, bis sie letztlich zerfallen. Ähnlich operieren der spielerische Looney Lens (Al Brick, USA 1924), der sozialkritische À propos de Nice von Jean Vigo (Frankreich 1930), und N.Y. N.Y. A day in N.Y. von Francis Thompson (USA 1957), der mit Hilfe von Linsen, Reflektoren und optischen Effekten eine – wie Aldous Huxley konstatiert – gänzlich neue Seherfahrung vermittelt: »We still recognize houses, people, shop fronts, taxicabs, but recognize them as elements in one of those living geometries which are so characteristic of the visionary experience. The invention of this new cinematographic art seems to presage (thank heaven!) the supersession and early demise of non-representational painting«.40

AUSBLICK Der bereits mehrfach erwähnte Film Megacities ist, wie Regisseur Michael Glawogger selbst konstatiert, »vielleicht weniger ein Film über Großstädte, als ein Film über Schauen, über Spazierengehen und

40 Aldous Huxley zit. nach Amidi, Amid: »NY, NY: A Day in New York by Francis Thompson«, 31/07/2009. verfügbar unter: http://www.cartoonbrew.com/classic/ny-ny-a-day-in-new-york-by-francis-thompson.html [05.04.2011].

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Schauen«.41 Untergliedert in zwölf Kapitel bahnt sich die in direct-cinema-Manier geführte Kamera einen Weg durch die vier Metropolen Mexiko, Moskau, Mumbai und New York. Dieser Weg ist nun zum einen vorgezeichnet durch die zwölf Überlebensgeschichten, die die Reisestationen primär auf der narrativen Ebene mittels inhaltlicher Assoziationen, Wiederholungen von Schicksalen oder – seltener – filmästhetischer Konzepte vernähen. Diese realisieren die ›sutures‹ z.B. in Form von Raumkonstruktionen, wie sie in der ›literarischen Montage‹ der Moskau-Sequenz (vgl. Abb. 41-46) zu erkennen sind:

Abbildungen 41-46

Quelle: Glawogger, Megacities.

Als Voice-over wird der Text eines in der Ecke des Bahnhofes stehenden Lesenden hörbar, der als Anweisung für die Szene gedeutet werden kann. Ein Akkordeonspieler, dessen Spiel von nun an die Szene untermalt, läuft vorbei, die Kamera verfolgt ihn durch die Fensterscheiben der U-Bahn, fährt von außen die Passagiere ab und kehrt dann zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Gerahmt wird die Sequenz von der Kreisfahrt der Kamera, die, ausgehend vom Lesenden über die Länge der U-Bahn bis zum Lesenden zurückfährt. Auf diese Weise wird ein filmischer Raum konstituiert, der die Voice-over mit On-Tönen, Bildern und Bildentwicklungen vernäht. Durch die Bildverbindungen, die Bild-Ton-Relationen, die verschiedene Menschen in einer

41 Glawogger, zit. nach http://www.dhm.de/kino/kdd_organismus_grossstadt.html [29.9.2010].

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Kreisbewegung umfangende Kamerafahrt erzählt eine Geschichte, die Geschichte des Films, die – im Gegensatz zu klassischen, kausal verknüpften filmischen Erzählungen – dem Bild nicht vorgängig, sondern mit ihm und in seiner Bewegung entsteht. Einen anderen filmischen Handlungsraum erzeugen die sog. selbstreferentielle Sequenzen. Während Eli Lotar in Aubervilliers das fotografische Familienportrait filmisch in Bewegung versetzt, betont Vertov in Der Mann mit der Kamera die Gemachtheit seines Filmes – wie schon erwähnt – durch eine zweite, ihrerseits unsichtbar bleibende Kamera, die die erste, tricktechnisch animiert, beim Aufzeichnen aufzeichnet, schneidet er immer wieder Bilder filmischer Produktionsprozesse assoziativ zu anderen industriellen Prozessen, Mehrfachbelichtungen oder Kinozuschauer dazwischen. Abbildungen 47-50

Quelle: Vertov, Der Mann mit der Kamera. Glawogger hingegen integriert die Sequenz des Bioskopmannes in seine zwölfteilige Erzählung: Diese Figur sammelt Filmschnipsel aus alten Bollywood- und anderen Filmen (found footage) und klebt bzw. vernäht sie zu einer neuen Geschichte, ganz wie Glawogger seine zwölf Stadt- oder Einzelbiographien zu einer neuen Megacity oder

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Metaerzählung verwebt. So erzeugen beide soziohistorische und ästhetische Relationen zwischen Vergangenheiten wie derjenigen Indiens, der Stadt Mumbai, der gefundenen Filme, der Filmgeschichte oder der Inhalte und deren Gegenwarten. Verkaufte er früher – so erfährt man aus dem Off-Kommentar – geformte Luft, so fungiert er heute als Filmmärchenerzähler oder, wie die Bilder nahelegen, eine Art Rattenfänger von Mumbai. Abbildungen 51-56

Quelle: Glawogger, Megacities.

Einer der vom Bioskopmann gefundenen und zu einem neuen Streifen vernähten Filmschnipsel heißt Life in Loops (Abb. 56) und wurde zum Titellieferanten für Tim Novotnys hybriden ReMix des Glawogger’schen Film. In der neuerlichen Relokalisierung finden sich die Bilder zu einem anderen Film zusammen; dem Bioskopmann gleich, hat Novotny Filmschnipsel gesammelt und neu angeordnet. Ein Loop, der – informationstechnisch betrachtet – das System (des Films) rekalibriert und auf diese Weise stabilisiert. Doch Novotny arbeitet nicht nur an einer neuen Bildkomposition, im Gegensatz zu Glawogger greift er metaphorisch und technisch in die Bilder ein und verschiebt das Zentrum der gecroppten 4:3-Originalbilder durch Schwenks und Einstellungswechsel. Die Bilder des Bioskopmannes muss er nun nicht mehr zeigen, er ist der Bioskopmann, der – so der Abspann im gemeinsamen Regie-Kommentar von Glawogger und Novotny – sich nicht mehr mit den Geschichten der Menschen im Film, sondern denjenigen der Bilder und ihrer Entstehung selbst beschäftigt.

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Filme Akin, Fatih/Attal, Yvan/Hughes, Allen u.a., New York, I love you, USA 2008, 103 min. Allan, Woody/Coppola, Francis Ford/Scorsese, Martin, New York Stories, USA 1989, 124 min. Angerame, Dominic, Continuum, USA 1987, 14 min. Angerame, Dominic, Deconstruction sight, USA 1990, 14 min. Angerame, Dominic, Premonition, USA 1995, 9 min. Angerame, Dominic, In the Course of Human Events, USA 1997, 23 min. Angerame, Dominic, Line of fire, USA 1997, 6,5 min. Cavalcanti, Alberto, Rien que les heures, Frankreich 1930, 45 min. Bong, Joon-ho/Carax, Leo/Gondry, Michel u.a., Tokyo!, Japan 2008, 107 min. Chabrol, Claude/Godard, Jean-Luc/Rohmer, Eric u.a., Paris, vu par, Frankreich 1965, 92 min. Coen, Ethan and Joel/can Sant, Gus/Tykwer, Tom u.a., Paris, je t’aime, Frankreich, Deutschland, Liechtenstein, Schweiz 2006, 120 min. Florey, Robert, Skyscraper Symphony, USA 1929, 10 min. Glawogger, Michael, Megacities, Österreich 1998, 90 min. Godard, Jean-Luc, Lettre à F. Buache, Frankreich 1981, 10 min. Hauser, Heinrich, Chicago. Weltstadt in Flegeljahren, Deutschland 1931, 87 min. Klapisch, Cédric, So ist Paris, Frankreich 2008, 130 min. Lotar, Eli, Aubervilliers, Frankreich 1945, 25 min. Man Ray, Anemic cinema, Frankreich 1926. Novotny, Timo, Life in Loops, Österreich 2006, 80 min. Ruttmann, Walter, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, Deutschland 1927, 63 min. Schadt, Thomas, Berlin. Sinfonie einer Großstadt, Deutschland 2002, 77 min. Steiner, Ralph/van Dyke, Willard, The City, USA 1939, 43 min. Strand, Paul/Sheeler, Charles, Manhatta, USA 1921, 9:40 min. Thompson, Francis, N.Y. N.Y. A Day in New York, USA 1957, 7:30 min. Vertov, Dziga, Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929, 80 min. Vigo, Jean, À propos de Nice, Frankreich 1930, 25 min.

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Internetquellen Amidi, Amid: »NY, NY: A Day in New York by Francis Thompson«, 31/07/2009. verfügbar unter: http://www.cartoonbrew.com/classic/ny-ny-a-day-in-new-york-byfrancis-thompson.html [05.04.2011]. Eisenstein, Sergej: »Wie ich Regisseur wurde. Geheimnisse eines Studienabbrechers« (1945) in: Brömme, Tino (Hrsg.): Workout – Internationale Zeitung für studentische Arbeit, n°1, Sommer 2002, Berlin. S. 3-4. verfügbar unter: http://www.work-out.org/lw11/ essay/lw11_essay_home.html [05.04.2011]. »Geschichte der Topologie«, verfügbar unter: http://www.topologie. ch/geschichte.html [16.04.2012]. Glawogger, Michael, verfügbar unter: http://www.dhm.de/kino/ kdd_organismus_grossstadt.html [29.09.2010]. Horwitz, Matthias/Joerges, Bernward/Potthast, Jörg (Hrsg.), Stadt und Film. Versuche zu einer ›Visuellen Soziologie‹, Discussion Paper FSII 96-503. Berlin: Wissenschaftszentrum, Berlin 1996. verfügbar unter: http://bibliothek.wzb.eu/pdf/1996/ii96-503.pdf [20.05.2011]. Pantenburg, Volker, »Chicago. Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago« in: new filmkritik, 30.11.2003. verfügbar unter: http://newfilmkritik.de/archiv/2003-11/weltstadt-in-flegeljahrenein-bericht-uber-chicago/ [09.04.2011]. Ries, Marc, »Zur Verströmung des Films an für ihn uneigentliche Orte. Geoästhetische Reflexionen zu Kino und Gegenwart« in: Nach dem Film 5, 01.09.2004. verfügbar unter: http://www. nachdemfilm.de/content/zur-verstr%C3%B6mung-des-films-f%C3 %BCr-ihn-uneigentliche-orte [23.04.2011]. Ries, Marc, »Von der Katastrophe des Glücks. Fotografie und Film in Louis Malles Ascenseur pour l‘échafaud«, in: Nach dem Film 8, 01.12.2005. verfügbar unter: http://www.nachdemfilm.de/content/von-der-katastrophe-desgl%C3%BCcks [07.04.2011].

218 | BEATE OCHSNER

Abbildungen Abb. 1-2: Vigo, Jean, À propos de Nice, Frankreich 1930. Abb. 3-4 : Vertov, Dziga, Moskwa, UdSSR 1926. Abb. 5-6 : Thompson, Francis, N.Y. N.Y. A Day in New York, USA, 1957. Abb. 7-8 : Sheeler, Charles/ Strand, Paul, Manhatta, USA 1921. Abb. 9-10 : Vertov, Dziga, Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929. Abb. 11-12 : Robert, Florey, Skyscraper Symphony, USA 1929. Abb. 13-14: Ruttmann, Walter, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, D 1927. Abb. 15-16: Schadt, Thomas, Berlin. Sinfonie einer Großstadt, D 2002. Abb. 17-18: Novotny, Tim, Life in Loops, AU 2006. Abb. 19-27: Glawogger, Michael, Megacities, Österreich 1998. Abb. 28-30: Ruttmann, Walter, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, D 1927. Abb. 31-34: Ruttmann, Walter, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, D 1927. Abb. 35-40: Ruttmann, Walter, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, D 1927. Abb. 41-46: Glawogger, Michael, Megacities, Österreich 1998. Abb. 47-51: Vertov, Dziga, Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929. Abb. 52-57: Glawogger, Michael, Megacities, Österreich 1998.

Neuer Beton auf alten Bildern Geschichte schreiben in den grands ensembles MARKUS BUSCHHAUS »Dès leur origine, les grands ensembles suscitent la curiosité ou l’inquiétude mais ne laissent pas indifférents

les

observateurs

de

l’époque.«1 »la question des Grands Ensembles déborde largement celle du statut patrimonial: elle invite à ré-interroger la légitimité de la Modernité aujourd’hui.«2

I Nichts erscheint dem architekturalen Imaginären3 ferner als die mehr oder weniger unmittelbare Vergangenheit. Dies gilt in ganz besonderem Maße für jene städtebauliche Moderne, welche in Frankreich mit der Haussmannisierung von Paris in den 1850er Jahren beginnt

1

Millot, Olivier/Lefeuvre, Isabelle (Hrsg.), Inventer la ville. Histoire urbaine du Val. Begleitheft zur Ausstellung im Musée d’Argenteuil, Paris 2005, S. 1.

2

Amougou, Emmanuel, Les grands ensembles. Un patrimoine paradoxal, Paris 2006, S. 159.

3

Zur Denkfigur des ›imaginaire architectural‹ vgl. schon früh: Raynaud, Dominique, Architectures comparées. Essai sur la dynamique des formes, Marseille 1998, S. 12ff.

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und mit der Errichtung der grands ensembles ein gutes Jahrhundert später ihr Ende findet. Vor eben diesem Hintergrund macht die Historikerin Annie Fourcaut 2001 darauf aufmerksam, dass aus den einstigen ›Cités sans passé‹4 innerhalb weniger Jahrzehnte durchaus geschichtsträchtige Orte geworden seien, deren Geschichte es nun zu schreiben gelte.5 Dieser Herausforderung ist die Forschung mittlerweile gerecht geworden. Davon legen zahlreiche Arbeiten Zeugnis ab, die sich mit Geschichte6 und Vorgeschichte7 der grands ensembles beschäftigen, diese bibliografisch erfassen8 oder lexikografisch aufbereiten.9 Zudem verdeutlicht die zunehmende Anzahl kommunaler Publikationen zu dem Thema, dass die Geschichte der Türme und Riegel identitätsstiftender Gegenstand lokaler Selbstbeschreibung sein kann.10 Schließlich lässt auch die rege Ausstellungstätigkeit in den

4

So der Titel einer dreiteiligen Serie, die Ende Oktober 1963 in Le Monde erscheint.

5

Vgl. dazu: Fourcaut, Annie, »Les grands ensembles au croisement des mémoires de la ville«, in: Actes du colloque ›Les grands ensembles entre histoire et mémoire‹, Paris 2001, Paris 2002, S. 7-10. Dort führt sie aus: »Les historiens de l’urbain comprennent beaucoup mieux l’haussmannisation de Paris que la décision de la construction des grands ensembles.« (Ebd., S. 7).

6

Vgl. dazu etwa: Landauer, Paul, L’invention du grand ensemble – La Caisse des dépôts maître d’ouvrage, Paris 2010; Tellier, Thibault, Le temps des HLM 1945-1975. La saga urbaine des Trente Glorieuses, Paris 2007; Tomas, François/Blanc, Jean-Noël/Bonilla, Mario, Les grands ensembles. Une histoire qui continue, Saint-Étienne 2003.

7

Vgl. dazu u.a.: Guerrand, Roger-Henri, La modernité des HLM. Quatrevingt-dix ans de construction et d’innovations, Paris 2003; Fourcaut, Annie/Bellanger, Emmanuel/Flonneau, Mathieu (Hrsg.), Paris/Banlieues. Conflits et solidarités. Historiographie, anthologie, chronologie 17882006, Paris 2007.

8

Dufaux, Frédéric/Fourcaut, Annie/Skoutelsky, Rémy (Hrsg.), Faire l’histoire des grands ensembles, Paris 2003.

9

Giblin, Bétarice (Hrsg.), Dictionnaire des banlieues, Paris 2009.

10 So z.B.: Patrimoine en Val de France. Habitat, 4. September 2006; Catalogue de ressources documentaires sur le grand ensemble de Sarcelles 1954-1976. Collection Les Publications du Patrimoine en Val de France,

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letzten Jahren erkennen, inwiefern Bilder und Berichte aus den grands ensembles nicht nur einem breiteren Publikum vorgestellt, sondern auch an einen musealen Kontext herangeführt werden.11 All diese Arbeiten stellen unter Beweis, dass es nicht die eine Geschichte der grands ensembles gibt, sondern viele, auch widerstreitende Geschichten. Entsprechend ist zuletzt wohl deutlich geworden, dass die Türme und Riegel nicht einfach auf einer spätmodernen Fortschrittsschiene beginnen, um dann, schon wenige Jahre später, in jene großen Erzählungen von Niedergang und Auflösung zu münden, welche die öffentliche Beschäftigung mit dem Thema inzwischen beherrschen.12 Der Fall der grands ensembles ist nämlich durchaus komplexer. Dies zeigt sich bereits an Herkunft und Gebrauch der Bezeichnung ›grand ensemble‹: Erstmalig 1935 in einem Artikel des Stadtplaners Maurice Rotival gebraucht und auf die Cité de la Muette in Drancy bezogen, erfährt die Bezeichnung ›grand ensemble‹ ab den 1950er Jahren allgemeine Verbreitung. Paradoxerweise erscheint sie in administrativer Rede erst 1973, und zwar in jenem berüchtigten, auch ›circulaire des tours et barres‹ genannten Rundschreiben des Ministers für Städtebau Olivier Guichard, welches dem Bautyp, der damit bezeichnet werden soll, ein ministerielles Ende verordnet.13

n°9, 2007; Textes et images du grand ensemble de Sarcelles, 1954-1976. Collection Les Publications du Patrimoine en Val de France, n°10, 2007. 11 So zuletzt die Ausstellung Le Grand Ensemble »entre pérennité et démolition«, die 2010 an der École nationale supérieure d’architecture ParisBelleville stattfand. Vgl. ferner: Taboury, Sylvain (Hrsg.), Des ensembles assez grands. Mémoire et projets en Essonne. Begleitheft zur Ausstellung im Maison de Banlieue et de l’Architecture, Paris 2005; Millot/Lefeuvre 2005. 12 Vgl. dazu kritisch: »Non sans paradoxe, les sociologues contribuent à la considération de cette représentation négative qu’ils prétendent combattre lorsque leurs attitudes oscillent entre misérabilisme et populisme« (Avenel, Cyprien, Sociologie des ›quartiers sensibles‹, Paris 2009, S. 31). 13 Vgl. dazu: Taboury 2005, S. 7. Zu weiteren Bezeichnungen wie ›cité‹, ›ZUP‹, ›quartier sensible‹ s.a.: Papieau, Isabelle, La construction des images dans les discours sur la banlieue parisienne, Paris 1996, S. 161ff.; Begag, Azouz/Delorme, Christian, Quartiers sensibles, Paris 1994, S. 1316; Tellier 2007, S. 6f.

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Insgesamt lassen sich wohl zwei wesentliche Problemfelder ausmachen, wenn es darum geht, die grands ensembles historiografisch zu erfassen: einerseits die Frage nach der Zeit, welche vor oder hinter ihnen liegt und aus welcher sie zu fallen drohen; andererseits die Frage nach dem Raum, welchen sie eröffnen, indem sie Bauten verkörpern und von Bewohnern in Gebrauch genommen werden.

II Im Jahre 2010 findet in Paris eine Ausstellung mit dem Titel Le Grand Ensemble »entre pérennité et démolition« statt. Das Verlangen, die Geschichte von etwas zu schreiben, dessen Bestand vermeintlich oder tatsächlich bedroht ist, verwundert nicht. Vielmehr macht dies im Gegenteil die grundlegende Denkfigur nicht nur der Historio-, sondern auch der Museographie aus. Erstaunlich ist eine solche Ausstellung jedoch allemal. Denn das Zeitmaß, auf das die grands ensembles von Beginn an und nachdrücklich geeicht worden sind14, schlägt hier offensichtlich von der Zukunft in die Vergangenheit um, nicht ohne für einen Augenblick – denjenigen der Ausstellung – in der Gegenwart zu verharren. So eröffnen sich dem Besucher mannigfaltige Zeitreisen, die zwischen einem damaligen Versprechen, einer gegenwärtigen Gefährdung und einem zukünftigen Verlust ganz unterschiedliche Fahrtrichtungen, -ziele und -geschwindigkeiten erlauben. Damit wird in der Ausstellung eben jener Rahmen an Möglichkeiten, den grands ensembles gegenwärtig historiografisch zu begegnen, bestätigt, welcher von zahlreichen Beiträgen zu diesem Thema zuletzt abgesteckt worden ist. Einigkeit besteht in der Regel in der Annahme, die Geschichte der grands ensembles sei einerseits allererst zu schreiben, andererseits noch nicht an ihr Ende gekommen.15

14 Vgl. dazu etwa zwei kontroverse Standpunkte: Lopez, Raymond, L’avenir des villes, Paris 1964; Lefevbre, Henri, La révolution urbaine, Paris 1970. Dazu aktuell: Busbea, Larry, Topologies. The Urban Utopia in France, 1960-1970, Cambridge/Mass. 2007. 15 Dazu beispielhaft: »L’histoire est loin d’être écrite…« (Taboury 2005, S. 10) sowie der Untertitel Une histoire qui continue… (vgl. Tomas/ Blanc/Bonilla 2003). Einzig Telliers Titel Le temps des HLM 1945-1975

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Wie sich dieses Ende gestalte, ist allerdings kaum ausgemachte Sache. Geht es in den 1950er und 1960er Jahren in erster Linie darum, die Zukunft durch die grands ensembles zu gestalten, stellt sich heute eher die Frage, wie die Zukunft der grands ensembles gestaltet werden kann. Neben dem Abriss16, welcher die Moderne mit Mitteln der Moderne austreibt, werden auch immer wieder auf verschiedene Art und Weise bestandswahrende Überlegungen bemüht. Diese reichen von Rückbau über Renovierung bis hin zu denkmalschützerischen Maßnahmen17 und setzen bisweilen auf eine, freilich schon länger ausstehende, Renaissance.18 Damit finden die grands ensembles Anschluss an eine weiter gefasste Geschichte der modernen Architektur und des modernen Städtebaus und bieten Anlass dazu, sich ihres Erbes stärker als bisher zu vergewissern.19 Denn der Beton der Moderne altert schneller als der Stein früherer Jahrhunderte. Dieses beschleunigte Altern vollzieht sich nicht nur deutlich erkennbar auf konkreter, sprich materieller Ebene, also am Baukörper, sondern es findet gleichsam im architekturalen Imaginären statt und arbeitet an dem jeder Kultur und jeder Epoche eigenen Repertoire an ins Bild gerückter oder zur Sprache gebrachter Architektur. Eben deshalb liegt es im Fall der nahezu ausschließlich aus Beton

legt nahe, die Geschichte der grands ensembles als abgeschlossen zu betrachten, gewinnt ihr dabei allerdings epochale Ausmaße ab. 16 Vgl. angesichts der zahlreichen Sprengungen von Bauten in den grands ensembles seit den 1990er Jahren das Dossier »Faut-il détruire les grands ensembles? De l’univoque à la polyphonie…« von F. Moiroux in Architectures 141, November 2004, S. 19-33. 17 Vgl. dazu grundsätzlich: Amougou 2006. 18 So sieht Vayssière ein »deuxième âge des grands ensembles« (Vayssière, Bruno, Reconstruction – Déconstruction. Le hard french ou l’architecture française des trente glorieuses, Paris 1988, S. 17) kommen und denkt an »ces melting pots du futur que peuvent redevenir les grands ensembles« (Vayssière 1988, S. 323). 19 Entsprechend beklagt etwa Tellier: »[…] grands ensembles. Assurément, ces derniers mots ne font pas forcément partie du patrimoine français.« (Tellier 2007, 14).

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gefertigten grands ensembles nahe20, den Weg von der Moderne zur Antike nicht in Jahrtausenden, sondern in Jahrzehnten zu bemessen. Nicht von ungefähr wird die vom Kultusministerium verliehene Auszeichnung ›patrimoine architectural du XXe siècle‹ bereits 1999 und damit in dem Jahrhundert eingeführt, dessen Baubestand sie eine besondere Wertschätzung zukommen lassen will. Dass dies gerade angesichts der grands ensembles vonnöten ist, zeigt beispielhaft die 2008er Verleihung der Auszeichnung an die von Émile Aillaud geplante und 1964 fertiggestellte Cité des Courtillières in Pantin, welche noch in den 1990er Jahren kurz vor dem Abriss stand.21 Insgesamt sind im gleichen Jahr 40 grands ensembles im Großraum Paris entsprechend ausgezeichnet worden, darunter etwa Jacques-Henri Labourdettes Les Lochères in Sarcelles, Jean Balladurs Les Rigondes in Bagnolet und die ebenfalls von Aillaud stammende Cité Pablo Picasso in Nanterre.22

III Die Frage nach dem patrimoine ruft unweigerlich jene Frage nach der Ingebrauchnahme des städtischen Raums auf den Plan, welche Richard Sennett in seiner gleichnamigen Abhandlung auf die griffige Wendung ›Fleisch und Stein‹ gebracht hat.23 Diese lässt sich ihrerseits vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den grands ensembles abbilden und einigermaßen deutlich disziplinär verorten. Erscheint den

20 Vgl. dazu: »Assimiler le hard french au béton n’est pas un vain raccourci: rarement une architecture s’identifiera autant à un matériau« (Vayssière 1988, S. 314). 21 Dazu speziell: Landauer, Paul/Pouvreau, Benoît, »Les Courtillières. Cité ordinaire, histoire singulière?«, in: Espaces et sociétés, 130, September 2007, S. 71-85. Zur Begründung der Vergabe vgl.: http://www.atlaspatrimoine93.fr/pg-html/bases_doc/inventaire/fiche.php?idfic=055inv063. [12/02/2011] 22 Vgl. dazu: Gaudard, Valérie/Margo-Schwoebel, Florence/Pouvreau, Benoît (Hrsg.), 1945-1975. Une histoire de l'habitat: 40 ensembles de logements, Paris 2011. 23 Vgl. Sennett, Richard, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt a.M. 1995.

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Architekten und Architekturhistorikern24 der Bewohner als eher zu vernachlässigende, da nachrangige Größe, so gilt andersherum für die Soziologen25, dass der städtische Raum der grands ensembles als eintönig, austauschbar und nicht weiter beschreibenswert ausgewiesen wird.26 Gewissermaßen zwischen diesen beiden ganz unterschiedlichen Blickrichtungen bewegt sich das von Beginn an äußerst vielschichtige und nicht weniger problembeladene Verhältnis zwischen Architekten und Stadtplanern, welches bisweilen sogar dazu angeregt hat, von »la ville sans architectes«27 zu sprechen. Darüber hinaus ist, wenn die grands ensembles als Erfahrung- und Handlungsraum in den Blick geraten, zu bedenken, dass dieser nicht nur von Bewohnern und Architekten bzw. Stadtplanern, sondern eben auch durch die Presse, durch Funk und Fernsehen, durch Schriftsteller, Musiker, Filmemacher und Fotografen in Gebrauch genommen und vielfältig verhandelt wird.

24 Dazu etwa: Bonilla, Mario, »Le grand ensemble comme forme urbaine«, in: Tomas/Blanc/Bonilla 2003, S. 163-191; Dubuisson, Jean, »Ces ensembles qu’on voulait grands«, in: Demarcq, Jacques (Hrsg.), Les années 50, Paris 1988, S. 530-535; Fortin, Jean-Patrick, »Des tours et des barres... Une histoire du grand ensemble relue par un architecte«, in: Informations Sociales 2005/3, S. 116-125; Le Dantec, Jean-Pierre, Architecture en France, Paris 1999, S. 10-23; Schein, Ionel, Paris construit. Guide de l’architecture contemporaine, Paris 1970; Vayssière 1988. 25 Von den tatsächlich unzähligen soziologischen Arbeiten seien hier lediglich zwei stellvertretend genannt: Avenel 2009; Chamboredon, JeanClaude/Lemaire, Madeleine, »Proximité spatiale et distance sociale. Les grands ensembles et leur peuplement«, in: Revue française de sociologie, XI, 1970, S. 3-33. 26 Vgl. dazu: »En clair nous avions d’une part des sociologues et des géographes qui privilégiaient le rôle des acteurs en négligeant les formes, et de l’autre des architectes qui s’intéressaient aux formes pour elles-mêmes« (Tomas, François, »Introduction«, in: Tomas/Blanc/Bonilla 2003, S. 7-9, hier: S. 9). Ferner: »L’histoire de l’architecture appartient dès lors à ses deux versants principaux, à la fois pleinement technique et totalement impliquée par les grandes manipulations sociales.« (Vayssière 1988, S. 322). 27 Tomas/Blanc/Bonilla 2003, S. 83. Vgl. dazu: Le Dantec 1999, S. 12-14.

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IV Daraus leitet sich die Annahme ab, dass die Geschichte der grands ensembles nicht restlos in der Geschichte des Betons, der dort verbaut ist, und der Geschichte der Bewohner, die dort leben, aufgeht. Denn die Geschichte der grands ensembles ist ganz wesentlich auch eine Geschichte der Bilder, die man sich seit ihrer Errichtung auf ganz unterschiedliche Art und Weise von ihnen gemacht hat und die sie, durchaus überraschend, immer wieder überzeugend haben abgeben können. Dafür liegt umfangreiches Bildmaterial, zumal filmischer und fotografischer Art, vor.28 Eine solche Bildgeschichte der grands ensembles ist aber nicht einmal in Ansätzen geschrieben.29

28 Allein in den kommunalen, departementalen und regionalen Archiven befinden sich unzählige unveröffentlichte Schwarzweißfotografien vor allem aus den 1950er und 1960er Jahren. Für den Dokumentarfilm vgl. z.B.: Krier, Jacques/Tchernia, Pierre, Sarcelles, 40000 voisins, Frankreich 1960, 15 Min.; Brunet, Philippe, Le temps de l’urbanisme, Frankreich 1962, 26 Min. Für den Spielfilm vgl. z.B.: Verneuil, Henri, Mélodie en sous-sol, Frankreich 1962, 118 Min. (Drehort: Sarcelles); Godard, Jean-Luc, Deux ou trois choses que je sais d’elle, Frankreich 1967, 90 Min. (Drehort: La Courneuve); Kassovitz, Mathieu, La Haine, Frankreich 1995, 96 Min. (Drehort: Chanteloup-les-Vignes). 29 Die einzige Ausnahme bildet ein Artikel zu Godards Film aus La Courneuve: Cardin, Aurélie, »Les 4000 logements de La Courneuve: réalités et imaginaires cinématographiques. La représentation des ›4000‹ à travers Deux ou trois choses que je sais d’elle (1967) de Jean-Luc Godard« in: Cahiers d'histoire. Revue d'histoire critique, 98, 2006, S. 65-80. Zum Filmischen vgl. ferner: Glâtre, Patrick, »Gros plans sur les Grands Ensembles«, in: Patrimoine en Val de France, n°4, September 2006, S. 14-16. Zum Fernsehen vgl.: Millot, Olivier, »Grand ensemble sur petit écran«, in: Patrimoine en Val de France, n°4, September 2006, S. 17. Einige wenige Überlegungen zur fotografischen Inszenierung strengt Vayssière in Reconstruction – Déconstruction an (vgl. Vayssière 1988, S. 256ff.). Eine komplexe, allerdings künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema liefert Mathieu Pernot, indem er farbige Postkarten aus den frühen Jahren mit schwarzweißen Aufnahmen von Sprengungen aus den 2000er Jahren konfrontiert. Dabei hat er nicht nur den Beton im Blick, sondern zitiert einschlägige Postkartentexte aus der Frühzeit und arbeitet die wenigen Be-

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Dies ist, gerade für die Fotografien, umso erstaunlicher vor dem Hintergrund der nachgerade trotzigen Aussage Max Querriens: »On n’urbanise pas pour les photographes.«30 Denn Städtebau findet seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum noch ohne fotografische Begleitung, was auch immer deren Anliegen im Einzelfall sein mag, statt.31 Ein frühes Beispiel dafür bilden Charles Marvilles Aufnahmen der von Georges-Eugène Haussmann in Paris durchgeführten Bautätigkeiten.32 Besonders augenfällig wird die Bedeutung der Fotografie für Architektur und Städtebau dann gerade in den Zeiten der Errichtung der grands ensembles, also zwischen den 1950er und 1970er Jahren, wo nahezu jedes ambitionierte städtebauliche Vorhaben durch in der Regel renommierte Fotografen auf der Bildfläche nicht nur gebannt, sondern gleichsam erneut aufgeführt wird: Le Corbusiers Unité d’habitation in Marseille und Auguste Perrets Neugestaltung des Stadtkerns von Le Havre durch Lucien Hervé33, Oscar Niemeyers und Lúcio Costas neue brasilianische Hauptstadt Brasília durch René Burri34 und Marcel Gautherot35 oder auch die Reihe der Case Study Houses in Kalifornien durch Julius Shulman.36

wohner auf den in der Regel weitgehend menschenleeren Postkarten durch extreme Vergrößerung heraus (vgl. dazu: Pernot, Mathieu, Le grand ensemble, Cherbourg 2007). 30 Querrien, Max, »La propriété du sol, une aberration«, in: L’urbanisation du monde. Manière de voir, 114, Dezember 2010/Januar 2011, S. 6-9, hier S. 6. 31 Vgl. zur Architektur- und Stadtfotografie grundsätzlich: Herschman, Joel/Robinson, Cervin, Architecture Transformed. A History of the Photography of Buildings from 1839 to the Present, Cambridge/Mass 1990; Tomasini, Olivier u.a. (Hrsg.), Vues d’architectures. Photographies des XIXe et XXe siècles, Paris 2002; Baudin, Antoine, Photographie et architecture moderne. La collection Alberto Sartoris, Lausanne 2003; Elwall, Robert, Building with Light. The International History of Architectural Photography, London 2004. 32 Vgl. dazu etwa: de Moncan, Patrice/Maillard, Clémence, Charles Marville. Paris photographié au temps d’Haussmann, Paris 2008. 33 Vgl. dazu u.a.: Bergdoll, Barry (Hrsg.), Lucien Hervé. L’œil de l’architecte, Brüssel 2005. 34 Vgl. dazu: Rüegg, Arthur (Hrsg.), René Burri. Brasilia. Fotografien 19601993, Zürich 2011.

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Wenn all diesen Bildern von modernistischer Architektur und modernistischem Städtebau gerade in den letzten Jahren wieder verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet worden ist, dann mit der unverkennbaren Absicht, durch sie eine Archäologie der Moderne zu betreiben – ein Umstand, für den der Titel zu Shulmans Fotografien sinnbildlich einsteht: Modernism Rediscovered. Und genau an dieser Stelle ist eine Bildgeschichte der grands ensembles anschlussfähig, indem sie in der Rückschau vor Augen führt, dass das heute vermeintlich oder tatsächlich Überkommene einst eine Vorschau, wenn nicht gar eine Verheißung dargestellt hat. So mag eine Bildgeschichte der grands ensembles, die notwendig eine Archäologie der von Bildern verkörperten oder durch diese gelenkten Blicke ist, dazu anregen, sich nicht nur der Vergangenheit des Betons zu vergewissern, sondern auch dessen mögliche Zukunft zwischen Abriss, Rückbau und Denkmalschutz zu verhandeln.

V Um eine solche Bildgeschichte der grands ensembles in Angriff zu nehmen, bedarf es allererst der Aufarbeitung des überaus umfangreichen, jedoch kaum veröffentlichten, geschweige denn geordneten Bildmaterials aus den zahlreichen Archivbeständen. Dafür bieten sich ganz unterschiedliche Strategien der systematischen Katalogisierung und historiografischen Erfassung an, je nachdem, ob der Beton oder das Bild im Vordergrund steht: chronologisch nach Maßgabe des Baubeginns oder der Fertigstellung der Bauten oder dem Jahr der Aufnahme; typologisch unter Berücksichtigung verschiedener Bauformen: Turm oder Riegel, rechtwinkliger oder kurviger Grundriss, geschlossener oder offener Block, weiße oder farbige Fassade, Beton oder Platte usf. – oder verschiedener Bildformen: schwarzweiß oder farbig, Kleinoder Großbildkamera, Einstellungsgrößen, Auf- bzw. Untersicht oder Zentralperspektive usf.; biografisch nach Architekten, Stadtplanern

35 Vgl. dazu: Frampton, Kenneth/Burgi, Sergio/Titan, Samuel (Hrsg.), Marcel Gautherot. Building Brasilia, London 2010. 36 Vgl. dazu: Taschen, Benedikt (Hrsg.), Julius Shulman. Modernism Rediscovered, Köln u.a. 2007.

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oder Fotografen; oder eben geografisch nach einschlägigen Ballungsräumen. Auch wenn dies alles hier nicht zu leisten ist, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, anhand einiger weniger Fotografien aus den 1950er und 1960er Jahren eine Archäologie der Blicke aus den Anfangsjahren zu betreiben. Dabei geht es weniger um eine repräsentative Auswahl der Bilder, noch um eine repräsentative Auswahl der Blicke. Tatsächlich liegen aus jenen Jahren auch andere Bilder vor, mit denen eine durchaus andere Bildgeschichte dieser Zeit zu schreiben wäre. Gleichwohl verkörpern die von Jean Biaugeaud, Henri Salesse und Jacques Windenberger damals in Sarcelles gemachten Aufnahmen in ganz ausgezeichneter Weise eine Art von Blick, die in denkbar größtem Widerspruch zu allem steht, was heute in dem berühmtesten grand ensemble überhaupt die Regel scheint. Die eigentliche Frage besteht mithin darin, ob eine neuerliche Auseinandersetzung mit heutzutage alten Bildern von seinerzeit neuem Beton die grands ensembles auch gegenwärtig zumindest für einen Augenblick weniger alt aussehen lassen kann, als dies der überaus einschlägige Blickverkehr entlang der Achsen von Gewalt, Verwahrlosung und Betonwüsten für gewöhnlich erlaubt. Dabei wird, insbesondere für heutige Betrachter, eine Wechselwirkung zwischen Beton und Bild angenommen, die sich auf folgenden Nenner bringen lässt: Je älter die Bilder, desto neuer die Bauten. Von daher die Aussicht auf zwar alte, aber doch auch irgendwie neue, zumindest andere, in jedem Fall überraschende Bilder von jenem Beton, dessen Ende vielleicht noch ein wenig länger auf sich warten lassen mag.

VI Kein anderes grand ensemble ist dermaßen nachdrücklich, im Guten wie im Schlechten, Teil des architekturalen Imaginären geworden wie Sarcelles, diese in Beton gegossene »fabrique d’images et de discours«37, nur wenige Kilometer nördlich von Paris im heutigen Département Val-d’Oise gelegen, ab 1955 von Jacques-Henri Labourdette38 und Roger Boileau schrittweise ausgebaut und 1974 fertigge-

37 Glâtre 2006, S. 14. 38 Vgl. dazu: Labourdette, Jacques-Henri, Une vie, une œuvre, Nizza 2002.

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stellt. Ursprünglich ein kleines Dorf mit wenigen tausend Einwohnern, wird Sarcelles in der Folge, von Bauabschnitt zu Bauabschnitt, die landesweit umfangreichste Ansammlung von Türmen und Riegeln und beherbergt schließlich auf 190 Hektar mehr als 50.000 Einwohner. Es ist, wenngleich nicht als Ganzes in den letztendlichen Ausmaßen geplant und erst 1960 mit einer Art Rahmenbebauungsplan versehen39, eines der ersten großen Bauvorhaben seiner Art. Das Zentrum des grand ensemble bildet von Beginn an das heute als ›patrimoine architectural du XXe siècle‹ gehandelte Les Lochères-Sarcelles II40, durch welches sich in west-östlicher Richtung parallel die heute so benannten Hauptachsen Avenue Auguste Perret, Avenue Joliot-Curie und Avenue Paul Valéry bewegen. Zwischen diesen liegt die größte Grünfläche innerhalb des grand ensemble, der von Riegeln locker gerahmte Parc Kennedy, ehemals Parc Central. Bestehen die früheren Bauabschnitte vorrangig aus viergeschossigen Riegeln mit Mietwohnungen, geht die Entwicklung in den Folgejahren hin zu immer mehr Türmen, höheren Riegeln und einem steigenden Anteil an Eigentumswohnungen. Les Flanades-Sarcelles X, 1967 begonnen, stellt schließlich den Versuch dar, eine Art neue Mitte mit umfangreichen Einkaufsmöglichkeiten sowie Büroraum zu schaffen. Mit aller Berechtigung kann Sarcelles angesehen werden als »grand ensemble particulier«41, als »nom propre qui devient nom commun, un fait de civilisation, un mythe«42, als »laboratoire urbain«43

39 So erklärt auch der Architekt Labourdette: »On a d’abord fait un immeuble, puis un deuxième, puis un troisième… et l’on a fini par avoir un grand ensemble« (zitiert nach: Bendali, Linda, Sarcelles, une utopie réussie?, Nantes 2006, S. 18). Vgl. dazu den Bewohner Duquesne: »il n’y a pas d’urbanisme à Sarcelles […] Vivons donc sans urbanisme.« (Duquesne, Jean, Vivre à Sarcelles? Le grand ensemble et ses problèmes, Paris 1966, S. 42). 40 Vgl. dazu: Roth, Catherine: »L’emblème des grands ensembles«, in: Gaudard/Margo-Schwoebel/Pouvreau 2011, S. 54-56. 41 Morin, Gilbert/Roth, Catherine: »Avant-Propos«, in: Textes et images du grand ensemble de Sarcelles, 1954-1976. Les Publications du Patrimoine en Val de France, n°10, 2007, n.p. 42 So heißt es auf dem Einband von Duquesne 1966. 43 Bendali 2006, S. 142.

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und als »prototype des villes sans passé qui naissent un peu partout«.44 Ohne jeden Zweifel auch stellt Sarcelles ein ganz besonderes Medienereignis45 dar, was sich nicht nur in zahlreichen Schriften – vom Artikel46 bis zum Bericht47, vom Sachbuch48 bis zum Roman49 –, sondern auch in Spiel- und Dokumentarfilmen50 und mittlerweile natürlich auch in der Rap-Musik51 niederschlägt. Zu Beginn geht Sarcelles den Weg eines jeden modernen städtebaulichen Vorhabens und einer jeden modernen Architektur, indem es kontroversen öffentlichen Diskussionen ausgesetzt wird.52 Es verlässt diesen Weg 1961, als es vom Sinnbild einer vielleicht umstrittenen, aber doch fortschreitenden Moderne zum Namensgeber einer eigentümlichen Krankheit gerät: der ›Sarcellite‹.53 Sind damit zunächst die Bewohner angesprochen, welche angeblich unter dem grand ensemble leiden, bringt der Begriff in der Folge die Einschätzung zum Ausdruck, die grands ensembles stellten einen krankhaften Auswuchs des städtischen Raums dar. Ungeachtet aller Vorbehalte, die sich etwa an den dünnen Wänden, den großen Fenstern, den lange unbefestigten Straßen, den anfangs fehlenden Straßennamen oder der zunächst mangelhaften Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr festmachen, wird Sarcelles bis in die 1960er Jahre hinein von der überwältigenden Mehrheit seiner Bewohner als lebenswert eingeschätzt. Darüber gibt eine Umfrage der Association Sarcelloise aus dem Jahre 1961 unmissverständlich

44 So der Sprecher in dem Dokumentarfilm von Krier/Tchernia 1960. 45 Vgl. dazu grundsätzlich folgende Bibliografie: Catalogue de ressources documentaires sur le grand ensemble de Sarcelles 1954-1976. Les Publications du Patrimoine en Val de France, n°9, 2007. 46 Vgl. hier insbesondere: Canteux, Camille, »Sarcelles, ville rêvée, ville introuvable«, in: Sociétés et Représentations 2004/1, 17, S. 343-359. 47 Hierzu etwa: Bernard, Marc, Sarcellopolis, Bordeaux 2010; Duquesne 1966; Canacos, Henry, Sarcelles ou le béton apprivoisé, Paris 1979. 48 Vgl. z.B.: Bendali 2006. 49 Hier freilich vor allem: Rochefort, Christiane, Les Petits Enfants du Siècle, Paris 1961. 50 Vgl. dazu Verneuil 1962 und Krier/Tchernia 1960. 51 Vgl. dazu u.a. ›Sarcelles‹ von Stomy Bugsy aus dem Album Rimes Passionnelles, 2007. 52 Vgl. dazu die umfangreiche Presseschau in: Duquesne 1966, S. 98-105. 53 Vgl. dazu kritisch: Bendali 2006, S. 33-44.

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Auskunft.54 Dabei gilt die weitgehende Zustimmung nicht zuletzt dem Bereich ›Architecture et urbanisme‹, also etwa der »conception rectiligne de la cité« und dem Umstand, dass es keine »façades d’immeubles colorées« gibt.55 Eben diese Eigenschaften – der weiße Beton56 und die rechtwinklige Anlage der Türme und Riegel – sind es dann auch, die in besonderer Weise auf den Bildflächen jener Fotografen beschworen werden, welche als erste nach Sarcelles kommen: Jean Biaugeaud57, Henri Salesse58 und Jacques Windenberger.59

VII Die 1961 von Salesse gemachte Aufnahme der Avenue Joliot-Curie (Abb. 1) erlaubt dem Betrachter einen unverstellten Blick in eine nahe Zukunft und veranschaulicht folgende Erinnerung eines damaligen Be-

54 In Teilen wiederabgedruckt in: Textes et images du grand ensemble de Sarcelles, n.p. (Eintrag 42). 55 Vgl. ebd. 56 Auch wenn Sarcelles insgesamt überwiegend aus Beton besteht, sei darauf verwiesen, dass gerade in den ersten Bauabschnitten auch der für das Paris intra-muros typische Chantilly-Sandstein verbaut worden ist. Vgl. dazu etwa: Bendali 2006, S. 16. 57 Biaugeaud ist ein seinerzeit gefragter Architekturfotograf, der zahlreiche Bauvorhaben vor allem in der Pariser Agglomeration begleitet hat. Gleichzeitig fotografiert er auch Innenarchitektur und Skulptur. Vgl. dazu: Textes et images du grand ensemble de Sarcelles, n.p. (Eintrag 59). 58 Salesse ist ein für das Ministerium für Wiederaufbau und Stadtplanung arbeitender Fotograf und beschäftigt sich in seinen Arbeiten seit den frühen 1950er Jahren mit prekären Wohnverhältnissen, gerade am Stadtrand – womit seinerzeit aber eben nicht die grands ensembles gemeint sind. Vgl. dazu: Mouchel, Didier, Enquêtes photographiques de Henri Salesse, Plouha 2008. 59 Windenberger ist Dokumentarfotograf und lässt sich ab 1959 für einige Jahre in Sarcelles nieder. Vgl. dazu: Textes et images du grand ensemble de Sarcelles, n.p. (Eintrag 39). Ferner: Windenberger, Jacques, La photographie, moyen d’expression et instrument de démocratie, Ivry-sur-Seine 1965; ders., Images en partage. Un parcours documentaire 1956-2008, Marseille 2011.

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wohners: »Le grand ensemble, c’était tout beau, tout blanc. C’était le progrès.«60 Abb. 1: Henri Salesse: Sarcelles, avenue Joliot-Curie, 1961.

Quelle: »Sarcelles en photos«.

Die leicht angewinkelt in der Bildmitte verlaufende Avenue stellt dabei die zentrale Sichtachse dar. Sie ist angelegt durch die Fahrbahn und die beidseitig verlaufenden Riegel, wird noch unterstützt durch parkende Fahrzeuge, Baumreihen und Grünstreifen sowie Fenster, Simse und Schornsteine. Der zunächst eng geführte Blick wird an einigen Stellen gebremst, etwa durch horizontal verlaufende Fußwege auf den Grünstreifen oder die horizontale Staffelung anderer Riegel, mit Abstrichen auch durch die Schatten der Bäume. Der von einer sanften Hügelkette gebildete, nur an einer Stelle minimal von einem Turm durchbrochene Horizont teilt das Bild in zwei etwa gleich große Hälften: einen eintönig hellen Himmel und ein weißes, aus vielen Riegeln und wenigen Türmen bestehendes, rechtwinklig angelegtes und nahezu menschenleeres grand ensemble. Dessen Ausdehnung in der Fläche, nicht dessen Wachsen in die Höhe steht im Mittelpunkt der Aufnahme. Dies wird deutlich durch die leichte Aufsicht, mittels derer die Türme unter die Horizontlinie gedrückt werden, aber auch durch die dicht gestaffelten Riegel, deren Anzahl und Ausmaß den Bildrahmen überschreiten.

60 Étienne Quentin, zitiert nach: Bendali 2006, S. 22.

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Außergewöhnlich ist diese Fotografie in zweierlei Hinsicht: Erstens wird der Blick des Betrachters hier – anders als in der traditionellen Stadt- und Architekturfotografie, die häufig Straßen als Sichtachsen zwischen Gebäudereihen betont – ins Leere geführt. Am Ende der Avenue Joliot-Curie eröffnet sich kein städtischer Platz, findet sich kein bedeutendes Bauwerk, kreuzt keine berühmte Straße. Zweitens wird der Blick des Betrachters hier nicht, wie bei Aufnahmen dieser Art eher üblich, in das neue grand ensemble herein-, sondern aus diesem herausgeführt. Und zwar in die Zukunft: Les Mignottes-Sarcelles VIII, Chantereine-Sarcelles IX, Les Flanades-Sarcelles X. Die links und rechts aus dem Bild wachsenden Riegel vermitteln dem Betrachter räumliche Größe: Sarcelles wird idealiter überall sein. Das Bauland am Ende der Sichtachse verweist auf eine zeitliche Ebene: Sarcelles wird immer auf Zukunft geeicht sein, niemals einen Blick zurück erlauben. Insofern versinnbildlicht diese Fotografie alles, womit etwa Bernard wenig später Sarcelles beschreiben wird: »la science-fiction«61, »l’an deux mille«62, »le monde de demain«63, »la cité de l’avenir«.64

VIII Die Luftbildaufnahme von Jean Biaugeaud aus den frühen 1960er Jahren (Abb. 2) kommt hingegen ohne Sichtachse aus, verhandelt das grand ensemble als Baukasten in überlebensgroßem Maßstab und zeigt, inwiefern Sarcelles in der Tat eine »ville sans courbes«65 darstellt. Dabei lässt sich auf der Bildfläche eine Stelle kennzeichnen, von der aus der Blick des Betrachters in alle Richtungen ausschweift. Denn die von links oben nach rechts unten verlaufende, von Riegeln gesäumte Avenue Joliot-Curie wird rechtwinklig geschnitten von einer Reihe anderer Riegel, die rechts oben mit dem höherstöckigen, 1963 eingeweihten Foyer des jeunes travailleurs hervorsticht. Der Schnittpunkt beider liegt unmittelbar neben dem geometrischen Bildmittelpunkt.

61 Bernard 2010, S. 24. 62 Ebd., S. 25. 63 Ebd., S. 30. 64 Ebd. 65 Duquesne 1966, S. 43.

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Dass es hier nicht mehr als an anderen Stellen des Bildes zu sehen gibt, unterstreicht die eigentlich polyfokale Ausrichtung der Aufnahme. Ihr Thema ist die morphologische Qualität66 von Sarcelles: streng rechtwinklig angeordnete Türme und vor allem Riegel; lange und kurze, vierstöckige und höhere, einfache und gewinkelte Riegel; Riegel mit durchgehenden und Riegel mit unterbrochenen Fensterreihen usf. Durch den Verzicht auf frontale Ansichten treten die jeweiligen Baukörper besonders in ihrer Plastizität hervor. Schließlich bildet auch das Weiß der Türme und Riegel einen markanten Kontrast zu den sich immer wieder eröffnenden dunklen Rasenflächen, welche ihrerseits von hellen Wegen durchzogen und breiteren Straßen begrenzt sind. Auf dieser Fotografie wird das grand ensemble seinem Namen in zweierlei Hinsicht vollends gerecht: Einerseits dahingehend, dass es sich aufgrund seiner Größe fast über die gesamte Bildfläche ausbreitet, ohne jedoch als Ganzes in den Blick zu geraten; andererseits insofern, als es sich zunehmend als Einheit versteht, die eigene Maßstäbe setzt und eine besondere Kohäsionskraft67 entwickelt. Während Sarcelles zu dieser Zeit bereits als »géométrie glacée d’un théorème de blocs li-

66 Zu unterschiedlichen Bauformen der grands ensembles vgl. grundsätzlich: Bonilla 2003, 172ff. Vgl. ferner die an Heinrich Wöfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe aus dem Jahre 1915 gemahnende formalanalytische Terminologie Vayssières: »Profondeur contre linéaire, ouverture contre fermeture de l’horizon, répétition contre ruptures, régularité contre lignes brisées, redans contre baȧonnettes, tensions face aux perméabilités totales, courves face aux droites, plots face aux barres, intérieurs extériorisés et extérieurs rapportés au milieu […], minimalismes et maximalismes (sinon l’inverse), planéarité contre verticalité, ordres numériques et violences spatiales, topologies algébriques et géométrie des catastrophes, homothéties et accidents, antisymétrie… la liste n’est pas close.« (Vayssière 1988, S. 252). 67 Zur Selbstbezüglichkeit der grands ensembles vgl.: »Les seuls objets avec qui dialoguent les immeubles du hard french sont tout simplement leurs doubles, voire leurs répétitions sous une forme à peine différente.« (Vayssière 1988, S. 257).

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vides«68 in die Kritik gerät, setzt Biaugeaud genau dies als »grande composition«69 ins Bild. Abb. 2: Jean Biaugeaud: Vue aérienne de Sarcelles

Quelle: Duquesne 1966.

IX Der Baukörper in seiner Plastizität steht, wenngleich unter gänzlich anderen Vorzeichen, auch in Biaugeauds Aufnahme aus den mittleren 1960er Jahren im Vordergrund (Abb. 3). Hier wird der Blick des Betrachters behutsam von vorne links entlang des Mauerwerks nach hinten rechts geführt, wo er von einem nahezu frontal erfassten vierstöckigen Riegel abprallt und dann, zurückgeleitet von den Laternenreihen, zum eigentlichen Thema des Bildes gelangt: einem jener weißen, hochgeschossigen, mit durchgehenden Balkonreihen versehenen, offenbar gehobeneren Ansprüchen genügenden Riegel, wie sie vor allem in Les Mignottes-Sarcelles VIII häufiger anzutreffen sind. Durch die extreme Untersicht wird, obwohl die Fassade eher horizontal angelegt ist, von Beginn an die Höhe des Riegels hervorgehoben und im Verlauf der Blickführung dann immer weiter dramatisiert, bis das Gebäude schließlich eher oben als links von der Bildfläche ver-

68 Vgl. dazu: Le Parisien Libéré, 5. Dezember 1960. Hier zitiert nach: Bendali 2006, S. 34. 69 Vayssière 1988, S. 252.

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schwindet. So überragt der elegante Riegel deutlich das kleinere und dunklere Gebäude auf der hinteren Bildebene, wächst aber auch über die Wolken hinaus in den blauen Himmel. Abb. 3: Jean Biaugeaud: Nouvel immeuble de Sarcelles VI

Quelle: Duquesne 1966.

Dies gilt entsprechend für ganz Sarcelles, welches immer wieder neue und höhere und strahlendere und besser ausgestattete Gebäude hervorbringt. Im Vergleich zu Biaugeauds Luftbildaufnahme des grand ensemble gibt es zwei bemerkenswerte Unterschiede: Zum einen wird hier nicht die vermeintlich unendliche Ausdehnung der Riegel in der Fläche beschworen. Vielmehr steht die Höhe im Vordergrund. Zum anderen geht es hier nicht um die Gesamtkomposition, sondern es wird ein einzelner Baukörper besonders in Szene gesetzt und, unterstützt durch den sockelähnlichen Aufgang entlang der Natursteinmauer, als Standbild, mithin als Kunstwerk verhandelt.

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X Windenbergers Aufnahme aus den späten 1950er oder frühen 1960er Jahren (Abb. 4) führt noch einmal eine gänzlich andere Ansicht vor Augen: das grand ensemble als Häusermeer. Abb . 4: J. Windenberger: Sarcelles, le grand ensemble vu de la tour 49

Quelle: »Sarcelles en photos«.

Mit leichter Aufsicht von einem Turm aus aufgenommen, treffen acht Riegel in fast horizontaler Reihung orthogonal und in unregelmäßigen Abständen auf mindestens vier weitere Riegel. Die Fassaden der rechtwinklig zueinander angelegten Staffeln sind deutlich voneinander zu unterschieden, da die einen im Schatten, die anderen im Sonnenlicht liegen. Ist in der ersten Reihe der fast horizontal angelegten Staffel noch gerade eben ein Erdgeschoss zu erkennen, wird die restliche Bildfläche ausschließlich von Gebäuden und einigen wenigen Baumkronen geprägt: kein Himmel, kein Boden, kein Mensch. Trotz der durch die Fassaden, Fensterreihen und Dächer immer wieder betonten Staffelung aller Riegel entsteht kaum ein eigentlicher Bildraum, so dass die Gebäude aus dem Raum und an die Oberfläche gezogen werden. Gleichwohl wirkt diese Oberfläche bewegt, gerade durch die teils wiederkehrenden, teils voneinander abgesetzten Fenster in unter-

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schiedlich angeordneten Reihen, durch die wechselnde Verschattung und nicht zuletzt durch das Helldunkel einzelner Fassaden. Es bleibt unklar, ob der Blick hier in das grand ensemble hineinoder aus diesem herausgeht. Das liegt auch daran, dass keinerlei Landmarken zu erkennen sind, weder architektonisch noch urbanistisch. So stellen sich der Eindruck der Unübersichtlichkeit und das Gefühl der Unruhe ein, obwohl eigentlich alles in Ordnung ist – und zwar in einer fast eintönigen, rechtwinkligen, gleichförmigen Ordnung. Windenberger bezieht mit dieser Fotografie Stellung zu der Frage, ob die grands ensembles sich auf den ersten Blick erschlössen und damit städtebauliche Langeweile begünstigten, oder ob sie im Gegenteil neue Sehgewohnheiten erforderten und erst dann ihre ganze Vielschichtigkeit offenbarten.70 Seine fotografische Antwort jedenfalls macht das bisweilen Unübersichtliche gerade als Folge des eher Eintönigen sichtbar, entwickelt daraus ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen dem Profanen und dem Sublimen und wird damit einer an anderer Stelle gemachten Erfahrung gerecht: »La topographie paraît simple et l’on perd pourtant le sens de l’orientation.«71

XI Obwohl Sarcelles erst spät mit einem Rahmenbebauungsplan versehen worden ist, erweist sich das grand ensemble als einheitlich zumindest insofern, als es, vom ersten Bauabschnitt 1955 bis zum letzten 1974, in der Tat eine ›ville sans courbes‹ darstellt, in welcher der rechte Winkel die nahezu ausschließliche Form ist. Dies gilt sowohl für das Verhält-

70 Den erstgenannten Standpunkt vertritt etwa Kaës: »Le grand ensemble s’offre tout d’emblée. On ne le découvre pas.« (Kaës, René, Vivre dans les grands ensembles, Paris 1963, S. 145) Demgegenüber spricht etwa Bendali von einem »dédale minéral« (Bendali 2006, S. 35). Vayssière schließlich führt aus: »l’architecture des grands ensembles échappe à tout entendement traditionnel. […] nul ne peut embrasser ni comprendre d’un coup le système d’une Z.U.P.: un restaurant panoramique en haut de l’une des tours centrales verra l’intérêt croître doucement.« (Vayssière 1988, S. 250). 71 So heißt es in dem 1965er Dokumentarfilm Sarcelles, ville sans passé. Zitiert nach: Millot 2006, S. 17.

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nis der Riegel untereinander und für die Anlage von Riegeln und Türmen als auch für einen Großteil des Straßennetzes und der Blöcke. Besonders augenfällig wird dies auf zahlreichen Stadtplänen, wie etwa demjenigen aus dem Jahre 1966, welcher in Duquesnes Bericht über das Leben in Sarcelles zu finden ist (Abb. 5). Abb. 5: Karte von Sarcelles

Quelle: Duquesne 1966.

In dieser schematischen Darstellung zeigt sich dann auch sehr genau, dass der öffentliche Raum des grand ensemble ganz wesentlich von der Anlage der Riegel, welche in zahlreichen Variationen zueinander angeordnet sind, bestimmt wird, wohingegen die Türme sich vor allem im Südwesten ballen sowie entlang des westlichen Teils der heutigen Avenue Paul Valéry. Zumindest auf den ersten Blick liegt es nahe, dass solche und ähnliche Pläne manch einem Betrachter weniger als kartografische Erfassung des städtischen Raums denn als künstlerisch motivierte Gestaltung einer Bildfläche erscheinen. So wird durchaus häufig angemerkt, die Pläne, zum Teil auch die Modelle in der extremen Aufsicht, erinnerten an nicht-figurative Gemälde der klassischen Moderne, etwa an Piet Mondrian, Joan Miró oder Kasimir Malewitsch.72 Ganz gleich,

72 So erwähnt etwa Bonilla »l’engouement pour les traces orthogonales dans des plans qui renvoient sans cesse aux peintures de Mondrian.« (Bonilla 2003, S. 166) Vgl. dazu ferner: Bernard 2010, S. 114; Le Dantec 1999,

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wie weit ein solcher Vergleich etwa mit Malewitschs Acht Rechtecke aus dem Jahre 1915 oder Mondrians Komposition mit Farbflächen auf weißem Fond A aus dem Jahre 1917 jenseits einiger formaler Ähnlichkeiten tatsächlich tragen mag: Derartige Rede begünstigt eine Neubewertung der grands ensembles und eine andere Verortung der Türme und Riegel im architekturalen Imaginären.73 Gleichwohl geht die Ästhetisierung der Baukörper, mittels derer sich der Beton auf der Bildfläche in Farbe verwandelt, auf Kosten des erfahr- und bewohnbaren städtischen Raums. Darauf weist etwa Le Dantec hin: »Vus d’avion, les plans de masse des nouvelles cités étaient merveilleux: on eût dit, selon les goûts picturaux de l’architecte qui les avait conçus, des Mondrian ou des Mirò. Mais à l’échelle du promeneur ou de l’utilisateur, ces effets s’évanouissaient.«74 Deswegen überrascht es weder, dass der Hubschrauber, wie in dem 1960er Dokumentarfilm Sarcelles, 40000 voisins von Krier/Tchernia der Fall, als das den Türmen und Riegeln gemäße, zukünftige Fortbewegungsmittel vorgestellt wird, noch, dass diejenigen fotografischen Darstellungen, welche die grands ensembles als ›grande composition‹ in den Blick rücken, nahezu ausnahmslos Luftbildaufnahmen sind.

XII Schon früh ist der Einfluss des fotografischen Bildes auf die Wahrnehmung eines grand ensemble angesprochen worden: »On peut faire dire ce qu’on veut à Sarcelles par la photographie, la présenter sous son jour le plus riant ou le plus lugubre.«75 Der Gestaltungsspielraum, der ihr dabei obliegt, geht allerdings deutlich über die Frage nach Schön-

S. 14. Vayssière spricht gar von einem »espace ›suprématiste‹ des grands ensembles« (Vayssière 1988, S. 304). 73 Schon 1964 merkt Bernard diesbezüglich an: »C’est l’équivalent architectural […] de la peinture qui a rejeté toutes les représentations, qui ne se veut que taches et lignes. C’est la cité abstraite par excellence, mais paradoxalement vilipendée par ceux qui se réclament ou exaltent ces formes de l’art, alors qu’elle en est l’expression la plus pure.« (Bernard 2010, S. 114). 74 Le Dantec 1999, S. 14. 75 Duquesne 1966, S. 103.

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oder Schlechtwetterfotografien hinaus. Zwar setzen mit Ausnahme von Biaugeauds Luftbildaufnahme alle Fotografien, die hier vorgestellt worden sind, auf die Lichtquelle Sonne: sei es, um das Weiß einzelner Baukörper zu betonen; sei es, um durch Verschattung Kontraste herzustellen; sei es, um das grand ensemble in seiner Plastizität auszuleuchten. Jedoch lassen sie sich nicht auf die Beschwörung des sprichwörtlichen ›eitlen Sonnenscheins‹ verkürzen, da sie offenkundig das Ergebnis mannigfaltiger Bildstrategien sind: Darstellung in Auf- oder Untersicht; Blick in das grand ensemble hinein, aus ihm heraus oder über es hinweg; Verortung des grand ensemble im Raum oder auf der Bildfläche; Beschäftigung mit der ›grande composition‹ oder dem Solitär; Hervorhebung der Vertikalen durch Türme oder der Horizontalen durch Riegel usf. Die vielleicht bedeutsamste Entscheidung, die bei dem Versuch der fotografischen Aufbereitung eines grand ensemble ansteht, betrifft allerdings die Frage nach dem Verhältnis der Körper im städtischen Raum: menschliche Körper und Baukörper, Fleisch und Beton. Von allen drei hier vorgestellten Fotografen, vor allem von Biaugeaud und Windenberger, liegen auch Aufnahmen aus Sarcelles vor, welche die neuen Bewohner aus Zentralperspektive in den Vordergrund rücken und somit die Baukörper am Maßstab der menschlichen Körper messen. Indem diese an Gewicht gewinnen, verlieren jene an Größe. Dabei handelt es sich jedoch um eine andere Gattung aus der Bildgeschichte der grands ensembles: um Dokumentarfotografie, die sich dem Leben in den Türmen und Riegeln widmet. Die hier vorgestellten Aufnahmen hingegen gehören der Gattung der Architektur- und Stadtfotografie an, weshalb sie die Baukörper in den Vordergrund rücken und den städtischen Raum in der Regel menschenleer zeigen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass in der Bildgeschichte der grands ensembles von Beginn an genau dasjenige angelegt ist, was gerade die zeitgenössische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema disziplinär widerspiegelt: primäres Interesse an Bauten oder an Bewohnern. Zumindest für die einzelne fotografische Bildfläche gilt, dass beides miteinander unvereinbar ist: Entweder erscheinen die Türme und Riegel der grands ensembles als erhaben, aber unbehaust; oder sie erscheinen als bewohnt, aber belanglos. Wird man einerseits der unbestreitbaren Fotogenität der Baukörper nicht gerecht, wenn man diese in den Hintergrund rückt, so setzt man sich andererseits dem Vorwurf aus, den Zweck des städtischen Raums zu verkennen, wenn man das

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Menschliche gänzlich ausblendet.76 So geht ein Blick nachgerade notwendig auf Kosten eines anderen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die damalige Entscheidung der Fotografen, Bauten oder Bewohner in den Vordergrund zu stellen, sondern auch für die heutige Überlegung, inwiefern diese mittlerweile alten Fotografien noch einmal neue, da andere Blicke auf die grands ensembles eröffnen können. Diesen dabei die Fotogenität der frühen Jahre, wie bisweilen der Fall, vorzuwerfen77, bekräftigt nur mehr die große Erzählung vom vermeintlich unausweichlichen Niedergang des Betons. Auch reicht es nicht, die seinerzeit eher erhabenen Ansichten der Türme und Riegel als bloße »représentation du bonheur«78 abzutun und damit nahezulegen, sie führten ein irgendwie falsches Bild vor. Gegenwärtige Bilder aus den grands ensembles ließen sich dann mit gleicher Berechtigung als tendenziöse ›représentation du malheur‹ begreifen. Im architekturalen Imaginären gibt es aber kein falsches oder richtiges Bild, da Bild dort allererst Verhandlungssache derer wird, die mit und an ihm arbeiten. Genau das stellen gerade die Fotografien aus den 1950er und 1960er Jahren historisch unter Beweis, indem sie das Bild der grands ensembles als Kippfigur ausweisen: Bauten oder Bewohner. Und das können sie unter Umständen gegenwärtig abermals unter Beweis stellen, indem sie Bestandteil einer anderen Kippfigur werden: Moderne oder Antike. Dazu bedarf es einer Archäologie der Blicke, wie sie anhand einer Bildgeschichte betrieben werden kann, aber auch eines archäologischen Blickes, welcher die grands ensembles als Erbe anerkennt.

76 Vgl. zu letzterem beispielhaft: »La vie réelle est restée en arrière. La ville qui se construit sous nos yeux, au nom de grands principes fonctionnels, est une abstraction. On ne vit pas dans une abstraction.« (Tomas/Blanc/ Bonilla 2003, S. 104). 77 Vgl. dazu etwa: »L’image même de la réussite, c’est celle des grands blocs de béton blanc photographiés en contre-plongée sur un fond de ciel bleu.« (ebd., S. 87). 78 Ebd., S. 87.

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XIII Die »grands chants lyriques des modernes«79, welche Blanc nachdrücklich beklagt, beginnen in Sarcelles früher und werden dort lauter als anderswo angestimmt, verstummen dafür aber auch nicht einfach, sondern schlagen unvermittelt um: Hier wird in der Vorschau schon damit gerechnet, dass Moderne sich dereinst in Antike verwandeln wird – und das Jahre, bevor die letzten Bauten überhaupt vollendet sind. So heißt es in der zweiten, vollständig überarbeiteten Auflage des schmalen Bandes Paris construit. Guide de l’architecture contemporaine aus dem Jahre 1970: »l’ensemble sarcellois sera, pour les archéologues de l’an 3000, la pièce maîtresse du désordre culturel, politique, architectural et civique de l’après-guerre.«80 Heute zeigt sich anhand der Diskussionen um Verfall, Rückbau, Abriss und Denkmalschutz, dass es tatsächlich nur weniger Jahrzehnte bedarf, um die grands ensembles zu den Antiken der Vorstädte werden zu lassen. Da die Türme und Riegel von Beginn an eine Kippfigur darstellen, sind ihre verschiedenen, ganz und gar widersprüchlichen Erscheinungsformen nicht gleichzeitig, nicht in einem Augenblick zu haben.

Von daher bietet es sich gerade heute wieder an, mehrmals hinzuschauen. Dadurch werden die dringlichsten Probleme vor Ort sicher nicht unmittelbar gelöst. Jedoch trägt das Erbe der grands ensembles einen womöglich fruchtbaren Widerstreit zwischen Moderne und Antike, zwischen Beton und Fleisch, zwischen Belanglosem und Erhabenem in sich. Diesen zur Geltung kommen zu lassen und die Vielfalt möglicher Blicke wiederherzustellen, ist das Anliegen einer archäologischen Auseinandersetzung mit den Türmen und Riegeln. Ein erster Schritt in diese Richtung ist mit der 2008er Verleihung der Auszeichnung ›patrimoine architectural du XXe siècle‹ an zahlreiche grands ensembles im Großraum Paris gemacht worden. Aber auch die Fotografien der frühen Jahre gewähren einem solchen Vorhaben einen besonders dankbaren Einstieg, da sie ein historisch Anderes zur Anschauung bringen, welches sich in wenigen Jahrzehnten in beträchtlichem Maße gewandelt hat und auch heute noch mit fast jedem Blick verändert. Denn je schneller der Beton in den Vorstädten altert, desto

79 Blanc 2003, S. 73. Zu Blancs Unbehagen an dem Erhabenen in der modernen Architektur vgl. ferner: ebd., S. 80ff. 80 Schein 1970, S. 228.

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jünger erscheinen die grands ensembles auf den Bildflächen jener Fotografien, mit denen einst die Zukunft in Beschlag genommen wurde. Was, wenn man dieses Erbe annehmen könnte, und sei es nur für einen Augenblick?

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Autorinnen und Autoren

Bernardy, Jörg, Studium der Philosophie und Romanistik in Köln, Paris und Düsseldorf, Magister Artium in Philosophie und Romanistik (Prof. Birnbacher, Prof. Dietz), Kunst und Kulturpreis für Literatur Heidelberg 2007, 2008 - 2009 Studentische Hilfskraft an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf im Dekanat und am Lehrstuhl Romanistik III, 2009 - 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim, seit 2010 Koordination und Geschäftsführung Kulturphilosophisches Forschungskolleg Niedersachsen, in Zusammenarbeit mit Dr. Inigo Bocken (Nijmegen) wiss. Leitung der Tagung »Ästhetik des Körpers oder Taktiken des Alltäglichen? Kulturphilosophie und Diskursanalyse bei Michel Foucault und Michel de Certeau« an der Universität Hildesheim, seit Oktober 2011 wiss. Mitarbeiter an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe im Fachbereich Philosophie und Ästhetik, Träger des 2. Preises des EssayWettbewerbs der Schopenhauer-Gesellschaft Japan 2011, Dissertationsvorhaben »Textästhetik und Schriftbildlichkeit bei Parmenides, Nietzsche, Foucault und Wittgenstein«. Borsò, Vittoria, Lehrstuhlinhaberin für romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Feodor-Lynen-Stipendiatin der Humboldt-Stiftung, Cavaliere Ufficiale der Republik Italien, seit 2007 Mitglied des Hochschulrates der HHU Düsseldorf, seit 2012 gewählte Fachkollegiatin der DFG. Mitherausgeberin der Reihe MEDIAmericana sowie der Zeitschriften Humboldt und iMex. Aktuelle Forschungsprojekte zu Biopolitik und Biopoetik, Materialiät und Produktion, Iberian Postcolonialities, Gedächtnistheorien im Spannungsfeld von Kultur- und Neurowissenschaften. Veröf-

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fentlichungen u.a.: Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert (2010), Benjamin - Agamben. Politics, Messianism und Kabbalah (2010), Das andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (2008). Bosshard, Marco Thomas, geboren 1976 in Zürich, Matura in Olten, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Theaterwissenschat und Lateinamerikanistik an der Freien Universität Berlin, Promotion in Romanischer Philologie 2010 an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i.Br., seit 2011 Juniorprofessor für iberoromanische Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Lateinamerika an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2007 außerdem verantwortlicher Lektor im Bereich iberoromanische Belletristik für den Verlag Klaus Wagenbach. Monographien: Ästhetik der andinen Avantgarde (Berlin, 2002) und La reterritorialización de lo humano. Una teoría de las vanguardias americanas (Pittsburgh, in Vorbereitung). Buschhaus, Markus, Studium der Germanistik und Romanistik in Düsseldorf und Lyon. Ehemaliger Stipendiat des DAAD und der DFG am Graduiertenkolleg Bild-Körper-Medium. Eine anthropologische Perspektive an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe (Doktorand, Postdoktorand). 2004 Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2005-2006 wissenschaftliche Assistenz bei dem Symposium zur Düsseldorfer Quadriennale 2006. Seit Anfang 2006 hauptberuflich im Schuldienst (Gymnasium) tätig. Lehrtätigkeiten an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und der Universität Siegen (bis 2011). Zahlreiche Veröffentlichungen zu medien-, bildund kunstwissenschaftlichen Fragestellungen. Derzeit Arbeit an einem Projekt mit dem Titel „In imaginären Museen. Malraux und die Orte der Bilder“. Hennigfeld, Ursula, Studium der Romanistik und Germanistik in Düsseldorf, Clermont-Ferrand und Salamanca; Promotion in Romanischer Philologie an der Universität Düsseldorf; seit 2009 Jun.-Professorin für Romanische Philologie (Französisch, Spanisch) an der Universität Freiburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Romanische Literaturen des 16./17. Jahrhunderts, Terror-Diskurse im 21. Jahrhundert sowie romanistische Kultur- und Medienwissenschaft. Veröffentlichun-

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gen u.a. Der ruinierte Körper. Petrarkistische Sonette in transkultureller Perspektive (2008); zus. m. Ursula Link-Heer/Fernand Hörner (Hrsg.): Eros und Gesellschaft. Literarische Gendertheorie bei Proust und Colette (2006). Leiterin des Drittmittelprojekts Terror und Roman – 9/11-Diskurse in Frankreich und Spanien (2011-2014, gefördert vom Ministerium des Landes Baden-Württemberg). Karimi, Kian-Harald, Studium der Romanistik und Komparatistik in Berlin und Bonn. 1990 Promotion in der Romanistik (Auf der Suche nach dem verlorenen Theater: Das portugiesische Gegenwartsdrama zwischen 1960 und 1974), 1993-1998 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Leipzig, 2000 Habilitation (Jenseits von altem Gott und ‚Neuem Menschen‘. Präsenz und Entzug des Göttlichen im Diskurs der spanischen Restaurationsepoche) und Venia für romanische Literaturen und Kulturen, seit 2000 Privatdozent und Vertreter von Professuren in Leipzig, Bonn, Berlin, Saarbrücken, Heidelberg und Augsburg. Arbeitsschwerpunkte im Bereich der spanischen, französischen und portugiesischen Literaturwissenschaft, wie etwa die Frankophonie im Maghreb und Schwarzafrika, die Rolle der Kulturwissenschaft in der Romanistik, Revision der Geschichtsschreibung im neueren historischen Roman, Literatur als verborgene Theologie und im Verhältnis zur Metaphysik ihrer Zeit. Klass, Tobias Nikolaus, Jun.-Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Erziehungswissenschaft in Berlin, Hamburg, Paris und Berkeley, CA. Promotion 2000 bei Bernhard Waldenfels mit einer Arbeit zum Thema »Das Versprechen. Grundzüge einer Rhetorik des Sozialen«. 2001 – 2007 Wiss. Assistent am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal, seit 2007 Junior-Professor ebendaselbst. Veröffentlichungen vor allem zu Nietzsche, zu Fragen der Kulturphilosophie, der politischen und der neueren französischen Philosophie. Link, Jürgen, geb. 1940, Prof. f. Literaturwiss. (u. Diskurstheorie) an der Universität Dortmund (seit 2006 a.D.). Forschungsschwerpunkte (mit zahlreichen Publikationen): struktural-funktionale Interdiskurstheorie; Kollektivsymbolik; Normalismustheorie; literarhist.: Lyrik; Hölderlin und die ‚andere Klassik‘; Brecht und die ‚klass. Moderne‘. Einige Titel: Literaturwiss. Grundbegriffe, München (Fink) 1974

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(= UTB 305, 6. Aufl.); (Mithrsg.:) kultuRRevolution. zeitschrift f. angewandte diskurstheorie, Essen (Klartext) 1982 ff.; Elementare Lit. u. generative Diskursanalyse, München (Fink) 1983; (mit W. Wülfing, Hrsg.) Nationale Mythen und Symbole, Stuttgart (Klett-Cotta) 1991; Versuch über den Normalismus, Opladen (Westdt. Verlag) 1996. 4. erw. Aufl. Göttingen (Vandenhoeck u. Ruprecht) 2008; HölderlinRousseau: Inventive Rückkehr, Opladen (Westdt. Verlag) 1999. Roman: Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten RuhrArmee. Eine Vorerinnerung, Oberhausen (asso) 2008. Ochsner, Beate, Studium der Romanistik, Medienwissenschaft und Germanistik in Mannheim und Nantes; 1996-2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin (C1), Lehrstuhl Romanistik, Universität Mannheim, 1998 – 2001 Mitarbeit im DFG-Projekt »Intermedialität der Fotografie«, 2002 – 2007 Hochschuldozentur (C2) für Romanistische Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften. Seit 1.1.2008: Professur für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Verschiedene Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck, Basel und St. Gallen. Letzte Veröffentlichungen DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film (2010), zahlreiche Aufsätze zur medialen Repräsentation von Monstern und Monstrositäten, zur Ästhetik des Films, zu Intermedialität und Hybridisierung. Derzeit Forschungen im Bereich des neuen deutschen Films sowie zur fotografischen und filmischen Konstruktion von Behinderung. Schüller, Thorsten, Dr. phil., Studium der Romanistik, Komparatistik und der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft in Bayreuth und Paris (1995 – 2001), 2002 Stipendiat im Graduiertenkolleg Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der Humboldt Universität Berlin, seit 2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Promotion 2007 mit der Arbeit »Wo ist Afrika?« – Paratopische Ästhetik in der zeitgenössischen Romanliteratur des frankophonen Schwarzafrika (Frankfurt a.M.: IKO 2008). Veröffentlichungen zu Kulturtheorien, Afrikanischen Literaturen, Literatur und Populärkultur.

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Skrandies, Timo, Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik in Düsseldorf, Paris und Frankfurt a.M., 2002 Promotion, 2009 Habilitation. Seit 2002 Juniorprofessor für Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, von 2009 bis 2011 Research Fellow im Globalization Programme der NTNU Trondheim (Norwegen), derzeit tätig am Institut für Kunstgeschichte der HHU Düsseldorf (Vertretungsprofessur »Bildwissenschaft und Medienästhetik«). Ausgewählte Publikationen: Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft, Bielefeld: transcript 2003. Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz, hg. zus. m. Reinhold Görling und Stephan Trinkaus, Bielefeld: transcript 2009. Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik, hg. zus. m. Susanne Kaul u. Jean-Pierre Palmier, Bielefeld: transcript 2009. „In den Rahmen, aus dem Rahmen. Medienhistorische Bewegungen zwischen Interface und Immersion“, in: Rahmen. Zwischen Innen und Außen, hg. v. Hans Körner und Karl Möseneder, Berlin: Reimer 2010, S. 243-257. »Die ›Zäsur in der Denkbewegung‹. Das Politische und die Medialität der Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin«, in: Die Politik und das Politische, hg. v. Thomas Bedorf u. Kurt Röttgers, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 252-273.

Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin November 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) Eingänge in »eine ausgedehnte Anlage« Topographien von Franz Kafkas »Das Schloß« Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts

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Oktober 2012, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 48,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

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Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio Juli 2012, 266 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6

Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa September 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8

Roman Halfmann Nach der Ironie David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität Juni 2012, 242 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2117-4

Juli 2012, 356 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne November 2012, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 September 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung Juni 2012, 248 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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