New York City Subway: Die Erfindung des urbanen Passagiers 9783412507046, 9783412504229


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New York City Subway: Die Erfindung des urbanen Passagiers
 9783412507046, 9783412504229

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Stefan Höhne

New York City Subway Die Erfindung des urbanen Passagiers

2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar. Umschlagabbildung: George Tooker, The Subway, 1950, Tempera on composition board, 18 ½ x 26 ½ inches (©The Estate of George Tooker. Courtesy of DC Moore Gallery, New York)

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Katharina Krones, Wien Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50422-9

Inhalt EINLEITUNG

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Ein neues Subjekt für eine neue Gesellschaft ............................. Was weiß man über die Passagiere? ........................................... Perspektiven: Subjekte, Skripte und Infrastrukturen .................. Aufbau des Buches ....................................................................

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KAPITEL I. UTOPIEN DES PASSAGIERS

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1. Eröffnungsfieber ....................................................................... 2. »Moderne Martyrien« ............................................................... Das Ende der Flanerie ............................................................... Omnibusse und Pferdewagen .................................................... Die Elevated Trains ................................................................... Transitvisionen .......................................................................... 3. Versprechen der Zirkulation ..................................................... Regierungstechniken ................................................................. Die sozialen Reformer: Moralität und Hygiene ......................... Der Passagier als Heros der libertären Stadt .............................. Die Realisierung der Utopie ...................................................... 4. Affektkontrollen ....................................................................... Untergründige Ängste ............................................................... Verhaltensskripte und Polizeimacht ........................................... 5. Subway Madness: Die Eröffnungsnacht ................................... 6. Veralltäglichung ........................................................................

42 46 48 50 54 56 59 63 68 77 81 84 87 94 97 101

KAPITEL II. MASCHINE UND MASSE

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1. Subway City: Die Maschinisierung des Urbanen ...................... 2. Die Entdeckung der Passagiermassen ....................................... Mob und Menge ....................................................................... Transgression und Infrastrukturerotik ........................................ Inklusion und Exklusion ............................................................ 3. Der Code des Maschinellen und das Wissen der Logistik ........ 4. Normierung und Normalisierung .............................................

112 120 121 124 130 137 144

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Inhalt

5. Passagierparcours  .. .....................................................................  Vereinzelungsanlagen  .................................................................  Funk­tionale Räume  ....................................................................  Containerkörper  .........................................................................  6. Abstand und Anstand: Eine Containerethik  . . ............................ 

152 155 165 169 179

KAPITEL III. SINNESTECHIKEN  ...........................................................................  185 1. Ökonomien der Wahrnehmung  . . ...............................................  189 Im Hades der Namen  .................................................................  193 Maschinenlärm und Waggongespräch  ........................................  196 2. Strategien des Blickes  ................................................................  200 3. Visuelle Regime  .........................................................................  206 Semiotische Labyrinthe  . . ............................................................  210 Verbote und Warnungen  ............................................................  220 Exkurs über das öffent­liche Spucken  ..........................................  221 Die Subway Sun  . . .......................................................................  226 Appelle des Konsums  .................................................................  228 KAPITEL IV: KRISE UND KRITIK  ..........................................................................  236 1. Pathologien des Pendlers  ...........................................................  2. Passagierbilder  ...........................................................................  3. Einsame Masse und muntere Roboter  .......................................  4. Die Subway als Megamaschine  ..................................................  5. Abschied vom Maschinenzeitalter  .............................................  6. Exodus der Passagiere  ................................................................ 

239 241 244 249 256 260

KAPITEL V. STRATEGIEN DER EMPÖRUNG  ...................................................  264 1. Beschwerdeforschungen  ............................................................  2. Normen und Transgressionen  ....................................................  Denunzia­tionen  .. ........................................................................  Angstdiskurse  . . ...........................................................................  »Terror in the Subways«  .............................................................  3. Fragile Subjekte  .........................................................................  4. Wie schreibt man an die Macht?  . . ..............................................  5. Anerkennung und Veraktung  .................................................... 

271 281 288 295 299 305 308 313

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KAPITEL VI. SUBJEKTIVIERUNG UND CONTAINERISIERUNG – BEMERKUNGEN ZUM SCHLUSS  ..................................................  320 Tafelteil  ..................................................................................................  Literatur- und Quellennachweise  ...........................................................  Bildnachweise  ........................................................................................  Dank  ......................................................................................................  Namensregister  .. ..................................................................................... 

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New York, New York – A hell of a town, The Bronx is up and the Battery’s down. The People ride in a hole in the ground. Aus dem Musical On the Town (1944)

EINLEITUNG Am 27. Oktober 1904, kurz vor ein Uhr nachmittags, bahnten sich die wichtigsten Würdenträger und Honoratioren New Yorks einen Weg aus dem überbordend geschmückten Rathaus der Stadt.1 Kaum betraten sie den Vorplatz, wurden sie bereits von dem Jubel und den Beifallsstürmen zehntausender Menschen empfangen. Das festliche Ereignis, dem die Menschen hier entgegenfieberten, war die Inbetriebnahme eines der größten technologischen Wunder der Zeit, einer Maschine, die sowohl die Stadt wie auch das Leben ihrer Bewohner so radikal verändern würde wie nichts zuvor: der New York City Subway. Um diesem epochalen Ereignis Rechnung zu tragen und dem Stolz der New Yorker auf ihre Subway Ausdruck zu verleihen, wurden alle Fenster und Balkone des Rathauses mit Nationalflaggen und Bannern dekoriert.2 Zudem strömten die Menschen schon seit den frühen Morgenstunden auf den Vorplatz, um dem Ereignis beizuwohnen (Abb. 1). Bald konnte die beständig wachsende Menschenmasse nur noch durch Absperrungen und Polizeieskorten in Zaum gehalten werden.3 Da auch im Gebäude das Gedränge und die Überfüllung kaum noch zu kontrollieren waren, konnte die feierliche Eröffnungszeremonie im großen Saal des Rathauses erst mit einiger Verspätung vollzogen werden. Danach sollte endlich die offizielle Jungfernfahrt von der Station City Hall hinauf nach Harlem beginnen. Doch die Ehrendelegation bahnte sich nur mühsam einen Weg durch die Menschenmassen in die unterirdischen Hallen, wo sich das Gedränge trotz schweren Polizeiaufgebots noch weiter intensivierte. Infolge des Chaos gelang es neben den offiziellen Ehrengästen auch zahlreichen nicht geladenen New Yorkern, den Jungfernzug zu besteigen. Letztlich befanden sich mehr als 1100 Passagiere an Bord. Bereits die allererste Subway New Yorks war maßlos überfüllt und gab den Passagieren bereits eine Vorahnung auf das, was sie zukünftig im System erwarten sollte. Endlich in der Fahrerkabine angekommen, startete der Bürgermeister New Yorks, George Brinton McClellan, Jr., die Motoren mit einem eigens vom Juwelier Tiffanys angefertigten silbernen Motorenschlüssel (Abb. 2.)

1 [Anonym]: »Clamor for Tickets for Subway Opening«, The New York Times (26. Oktober 1904). 2 [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«, The New York Times (28. Oktober 1904). 3 [Anonym]: »Exercises in City Hall«, The New York Times (28. Oktober 1904).

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Einleitung

Abb. 1: Das festlich geschmückte New Yorker Rathaus am Morgen des Eröffnungstages der Subway, dem 27. Oktober 1904.

Abb. 2.: Der Bürgermeister George B. McClellan (Mitte) mit führenden Vertretern der Subwaybetreiber IRT im Führerhaus der ersten Subway am 27. Oktober 1904, kurz vor der Jungfernfahrt.

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Unter dem euphorischen Beifall der ersten Passagiere setzte sich der Jungfernzug der Subway um exakt 14.35 Uhr in Bewegung.4 Das Protokoll sah vor, dass der Bürgermeister nur den ersten Teil der Strecke fahren und die Kontrolle dann an einen ausgebildeten Wagenführer abgeben sollte. Doch die Erregung des Ereignisses, welches eigent­lich würdevoll und geordnet hätte vonstattengehen sollen, erfasste nun wohl auch den Bürgermeister selbst. Affiziert von der rasanten Geschwindigkeit des Zuges ließ er es sich nicht nehmen, den Zug beinahe die gesamte Strecke selbst zu steuern – begleitet von den panischen Schreien der Passagiere.5 Nach einer turbulenten Fahrt, in welcher McClellan sogar einmal versehent­ lich die Notbremse aktivierte und damit bereits die ersten Verletzungen von Passagieren herbeiführte, übernahm schließ­lich ein ausgebildeter Zugführer das Steuer. Wenig ­später näherte sich die Subway dem Viadukt über dem Manhattan Valley z­ wischen der 122. und 133. Straße. Dort verließ die Strecke zum ersten Mal den Untergrund. Als der Zug aus dem Tunnel an die Oberfläche schoss, eröffnete sich den Passagieren ein beeindruckendes Panorama. Mehrere zehntausend Schaulustige hatten sich auf jedem freien Platz in den Straßen, Feuerleitern und Dächern versammelt, um diesen historischen Augenblick zu erleben. Beim Anblick der ersten Subway brachen sie in Geschrei und Jubelrufe aus. Als der Jungfernzug seine Fahrt verlangsamte und als Antwort auf den Jubel einen langen Signalton von sich gab, antworteten die Sirenen der Dampfschiffe auf dem Hudson River und in den Häfen.6 Zugleich betätigten überall in der Stadt die Fabriken und Schulen ihre Signalhörner. Ebenso begannen die Glocken aller ­Kirchen Manhattans zu läuten und vermischten sich mit dem ohrenbetäubenden Geschrei der Massen. Feuerwerke schossen in die Luft und Musikkapellen begannen zu spielen. Darüber hinaus folgten unzählige New Yorker der zuvor in allen Zeitungen verkündeten Aufforderung, Trillerpfeifen und Musikinstrumente erklingen zu lassen, um in den Chor der Maschinen einzustimmen.7 Glaubt man den damaligen Berichten, hielt ­dieses gigantische 4 Cudahy, Brian J.: Under the Sidewalks of New York: the Story of the greatest Subway System in the World, New York: Fordham University Press 1995, S. 2. 5 Dieser Moment des Bürgermeisters im Bann der ersten Subway scheint so dring­lich zu sein, dass die New York Times ihm einen eigenen ausführ­lichen Artikel widmet: »McClellan Motorman of First Subway Train«, The New York Times (28. Oktober 1904). Auch die Subwayhistoriker werden nicht müde, diese Geschichte zu tradieren. Siehe bspw.: Hood, Clifton: 722 Miles. The Building of the Subways and How they transformed New York, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2004, S. 91. 6 [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«. 7 Siehe bspw. [Anonym]: »Finish Plans for Subway Celebra­tion«, The New York Times (18. Oktober 1904).

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Getöse aus Pfeifen, Musikinstrumenten, Dampfmaschinen, Glocken und dem Freudengeschrei unzähliger Menschen noch mehr als eine halbe Stunde an, nachdem die Subway schon längst wieder im Tunnel verschwunden war.8 Diese markerschütternde Symphonie war, wie die New York Times am nächsten Tag schreiben würde: »the city’s glad uproar«.9 In ihr verbanden sich der Klang der Kirchenglocken, und damit die Akustiken des vorindustriellen Zeitalters und der gött­lichen Harmonien, mit dem Maschinenlärm der Industrie und deren Versprechen ökonomischen Wachstums und Wohlstands. Als gemeinsamer Schrei der Menschen und Maschinen in einem polyphonen Orchester der »Subway City« markiert er damit in den Augen der Zeitgenossen einen historischen Wendepunkt. Der Moment des Erscheinens der Subway zeitigt für die Menschen den Anbruch einer neuen Epoche prosperierender Zirkula­ tion. So ist die Euphorie, mit der die New Yorker ihre Subway willkommen hießen, auch Ausdruck der immensen Hoffnungen und Erwartungen, die mit ihrer Verwandlung in Passagiere verknüpft waren. In den Augen der damaligen Menschen war die Technologie der Subway nichts weniger als »the only cure to the illnesses of the city.«10 Dass die Inbetriebnahme des damals weltgrößten urbanen Transitsystems mit einem solchen Aufschrei des Stolzes markiert wurde, ist sicher­lich ebenso bemerkenswert wie erklärungsbedürftig. Dass die Eröffnung eines Stücks Infrastruktur eine kollektive Ekstase hervorrufen konnte, wird vor dem Hintergrund der historischen Transforma­tionen verständ­lich, die nicht nur New York, sondern zahlreiche weitere Metropolen, von Berlin und Paris bis zu London und Kairo, um 1900 erlebten. So werden die Bewohner dieser Städte in den Dekaden um die Jahrhundertwende Zeugen einer tiefgreifenden Veränderung. Während neue Konstruk­tionsverfahren im Hochhausbau sowie die Durchsetzung von Personenaufzügen zu einer rasanten Verdichtung und Vertikalisierung des urbanen Raums führen 11, lassen Migra­tionsbewegungen die Bevölkerung und Ausdehnung der Städte auf ein bislang nicht für mög­lich gehaltenes ­Ausmaß anwachsen. Eine der einschneidendsten Neuerungen findet jedoch unter dem Asphalt der Städte statt. Wenn die Menschen in dieser Zeit dem Kulturwissenschaftler Helmut Lethen zufolge in einen wahren 8 Vgl. [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«. [Anonym]: »Subway Opening To-­day With Simple Ceremony«, The New York Times (27. Oktober 1904). 9 [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«. 10 Brooks, Michael: Subway City. Riding the Trains, Reading New York, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1997, S. 37. 11 Vgl. ausführ­licher die für diese Arbeit sehr inspirierende Studie von Andreas ­Bernhard: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweg­lichen Ort der Moderne, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006.

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»Zirkula­tionstaumel«12 verfallen, so ist dies nicht zuletzt den Erfahrungen der neuen unterirdischen Infrastrukturen des Massentransits zu verdanken. Diese beschleunigten und verdichteten die Körper der Passagiere auf radikale und ungewohnte Art und Weise – eine neue Erfahrung, die neben Faszina­tion und Euphorie auch Momente des Ausgesetztseins unzähliger Menschen in den artifiziellen Apparaturen unter der Erde hervorrief. Vor allem Letztere erweisen sich als derart angstbesetzt und unbestimmt, dass sie die Etablierung völlig neuer Verhaltenskodexe, Sinnestechniken und Ordnungsinstanzen notwendig machen. Wie nahezu jede neue Technologie bringen auch die Untergrundbahnen neue Forma­tionen des Wissens und Regierens sowie des Wahrnehmens und Erlebens hervor. Zugleich etablieren sie neue Formen kollektiver und individueller Subjektivität. Wenn Ian Hacking betont, dass die Wissenschaften Menschen erschaffen, die es in gewisser Weise vorher noch nicht gab,13 gilt dies ebenso für moderne Infrastrukturen. Dabei ist das, was man gemeinhin als Implementierung von Infrastruktur bezeichnet, bei genauerem Hinsehen ein komplexer und oftmals konfliktreicher Prozess. Er erfordert nicht nur eine immense Konzentra­tion und Koordina­tion von Arbeitskräften, Wissen, Ressourcen und Kapital, sondern überhaupt erst die Hervorbringung der Menschen, die sich als Nutzer dieser Apparaturen erweisen sollen. Dies bestätigt Marx’ These, dass sich moderne arbeitsteilige Gesellschaften dadurch auszeichnen, dass sie »nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand [produzieren].«14 Das neue Subjekt, das die Untergrundbahnen hervorbringen, ist der moderne urbane Passagier.15 Koppelten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben an ihr neues Dasein als Passagiere, so sollten diese Erwartungen in den kommenden Dekaden nicht nur bitter enttäuscht werden, sondern sich geradezu in ihr Gegenteil verkehren. So erreichen die Betreiber ab den 1950er Jahren eine beständig anwachsende Flut an empörten 12 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche z­ wischen den Kriegen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 49. 13 Hacking, Ian: »Making Up People«, in: Thomas C. Heller, Morton Sosna und David E. Wellbery (Hrsg.): Reconstructing Individualism: Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought, Stanford: Stanford University Press 1986, S. 222 – 236. 14 Marx, Karl: »Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie]«, Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Bd. 13., Berlin/DDR: Dietz 1961, S. 615 – 641, hier S. 624. 15 Wenn hier und im Folgenden von dem Passagier gesprochen wird, sind damit selbstverständ­lich nicht nur die männ­lichen Passagiere gemeint. Vielmehr wird diese Untersuchung zeigen, dass sich gerade im Transit zahlreiche komplexe Zuweisungen und Konflikte hinsicht­lich der Geschlechtskonstruk­tion der Passagiere etablieren.

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Briefen, die mit drastischen Worten mit den Passagieren und Subwaybetreibern abrechnen. Angesichts der rasant steigenden Kriminalitätsrate und den unhaltbaren hygienischen Zuständen verkörpert die Subway und ihre Passagierkultur nun alle Übel und Barbareien des modernen Großstadtlebens. Beispielsweise schreibt ein Tourist im Jahre 1965 nach seiner ersten Passagiererfahrung wutentbrannt an den Bürgermeister New Yorks: »Should I ever wish to illustrate to my children the epitome of bad manners, of lack of courtesy, of animal ac­tion I would only need [to] bring them to New York and allow them, properly guarded, to visit a subway sta­tion. There is no more graphic illustra­tion anywhere. The people of New York should be truly ashamed.«16 Im Zuge des Niedergangs des Systems beginnen nun auch die New Yorker selbst, die Subway in Scharen zu verlassen, auf das Automobil umzusteigen oder gar ganz der Stadt den Rücken zu kehren und in die neu errichteten Subur­ bias umzusiedeln. In langen Abschiedsbriefen begründen die Passagiere ihre Entscheidung mit den katastrophalen Situa­tionen in der Subway, die nun vor allem mit Metaphern der Hölle, des Dschungels oder der Todeszelle 17 belegt wird: »No wonder so many people use their cars or move out of New York, this is no place for a decent citizen.«18 Angesichts dieser drastischen Verschiebung in der symbo­lischen Aufladung wie der Erfahrung der Subway wird deut­lich, dass sich die New Yorker Passagiere in vielerlei Hinsicht als emblematische Subjekte in den kulturellen Transforma­ tionen der urbanen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts erweisen. Ein neues Subjekt für eine neue Gesellschaft Versteht man die Infrastrukturen urbanen Transits als hochwirksame Maschinerien sozia­ler, politischer und ökonomischer Integra­tion, so erscheint es als geradezu verblüffend, dass diesen Phänomenen in den Geschichts- und Kultur­ wissenschaften bislang so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.19 Während 16 Brief von David Kloss an die Transit Authority vom 17. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 17 Siehe bspw. den Brief von Phyllis Rollin an Bürgermeister Lindsay vom 2. September 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6) oder Foranoff, Anne: »Subway Alarm System to reduce Crime«, The New York Times (2. Februar 1965). 18 Brief von Irma M. Lasker an die Transit Authority (undatiert, Eingang vermerkt: Juli 1956, NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 19 Dies beklagt u. a. auch der deutsche Historiker Dirk van Laak in: »Infra-­Struk­ turgeschichte«, Geschichte und Gesellschaft Heft 3/2001/27. Jg. (2001), S. 367 – 393. Vgl. dazu auch Eßbach, Wolfgang: »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in

Ein neues Subjekt für eine neue Gesellschaft  |

sich die Forschung intensiv den historischen wie zeitgenös­sischen Analysen der Touristen, Migranten, oder modernen Nomaden widmet,20 bleiben die Subjekte im Transit selbst meist unbeachtet.21 Hier setzt diese Analyse an und versucht, den mannigfaltigen Subjektformen des urbanen Passagiers im 20. Jahrhundert nachzuspüren. Sie soll zeigen, welche zentrale Bedeutung den Infrastrukturen des Transits in den Alltagserfahrungen der Menschen in der Moderne und insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts zukommt.22 Dabei wird auch nach den komplexen Machtbeziehungen ­zwischen den Konsumenten und Produzenten dieser Maschinen gefragt 23 sowie nach den sozia­len Organisa­tionsformen, die durch sie hervorgebracht, verändert oder stabilisiert werden. Nimmt man die Untergrundbahnen als »Medien des Sozia­len«24 in den Blick, zeigt sich, dass diese Maschinen entscheidend an der Transforma­tion gesellschaft­licher Subjektzuordnungen der Klassenzugehörigkeit, der Hautfarbe sowie des Alters und Geschlechts beteiligt sind. Zugleich fungieren sie als Instrumente neuer urbaner Regierungstechniken. Sie zielen auf die Schaffung geordneter Zirkula­tion und eröffnen

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der soziolo­gischen ­Theorie«, in: Andreas Lösch (Hrsg.): Technologien als Diskurse, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2001, S. 123 – 136; Star, Susan Leigh: »The Ethnography of Infrastructure«, American Behavioral Scientist 43/3 (1999), S.  377 – 391. Vgl. bspw.: Urry, John: Mobilities, Cambridge: Polity Press 2007; Urry, John: The Tourist Gaze, London: Sage 1990; Sennett, Richard: Der flexible Mensch: die Kultur des neuen Kapitalismus, Berliner Taschenbuch-­Verlag 1998 oder die Beiträge in den Sammelbänden: Schroer, Markus und Moebius, Stephan: Diven, Hacker, Spekulanten: Sozia­lfiguren der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010 sowie: Merz-­Benz, Peter-­Ulrich und Gerhard Wagner (Hrsg.): Der Fremde als sozia­ler Typus, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2007. Allerdings finden sich im Kontext der britischen Verkehrsgeschichte einige Versuche, Forschungen zu ­diesem Feld anzustoßen, vor allem im Umfeld der Zeitschriften Transfers und Journal for Transport History. Siehe bspw.: Schmucki, Barbara: »On the Trams: Women, Men and Urban Public Transport in Germany«, The Journal of Transport History 23/1 (2002), S. 60 – 72; Kopper, Christopher: »Mobile Excep­ tionalism? Passenger Transport in Interwar Germany«, Transfers 3/2 (2013), S. 89 – 107. Für das 19. Jahrhundert hat dies eindrück­lich gezeigt: Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 2004. Vgl. dazu: van Laak, Dirk: »Infrastruktur und Macht«, in: François Duceppe-­Lamarre und Jens Ivo Engels (Hrsg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte, München: R. Oldenbourg 2008, S. 106 – 114. Zur Konzep­tion von gebauter Umwelt als Medium des Sozia­len vgl. die sehr erhellende und inspirierende Arbeit von Heike Delitz: Gebaute Gesellschaft – Architektur als Medium des Sozia­len, Frankfurt am Main: Campus 2010.

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so neben neuen Anforderungen und Zwängen auch neue Freiheiten. Auf diese Weise aktualisieren sich in den banalen und alltäg­lichen Praktiken des Transits zahlreiche Instanzen, die darauf abzielen, den einzelnen Menschen Posi­tionen zuzuweisen und sie so zu berechen- und steuerbaren Subjekten zu machen. Dabei werden sie nicht nur mit spezifischen recht­lichen und administrativen Kategorien belegt, sondern auch mit Handlungskompetenzen und mög­lichen Erfahrungshorizonten ausgestattet. Sie realisieren damit spezifische Inklusionsund Exklusionsformen, Erwartungshaltungen und »Nutzerbilder«25. Es sind diese Prozesse der »Konfigura­tion des Benutzers«26 sowie die Momente, in denen sich die Menschen diesen Strukturierungen und Codierungen entziehen oder sich aneignen, die hier von Interesse sind. Indem sich die Menschenbilder, Wissensordnungen und Verhaltensmuster dieser Benutzer zu historisch spezifischen Subjektformen des Passagiers verdichten, wird es mög­lich, sie in das Blickfeld einer kulturgeschicht­lichen Analyse zu rücken. Um diese Prozesse detailliert rekonstruieren zu können, wird sich die Untersuchung auf eine spezifische Infrastruktur fokussieren: die New York City Subway. Ihr ist es geschuldet, dass das New York des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise als Welthauptstadt der Passagiere gelten kann. Allein im Hinblick auf die schiere Quantität des Passagiervolumens stellt sie alle anderen Metropolen in den Schatten. So avanciert sie nach ihrer Eröffnung im Jahre 1904 rasch zu der mit Abstand größten innerstädtischen Transitinfrastruktur der Welt, die heute innerhalb von 24 Stunden mehr als fünf Millionen Passagiere auf nahezu 1400 Gleiskilometern und 26 Linien zu den mehr als 460 Sta­tionen transportiert.27 Wenn sich New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Stadt der Passagiere und Pendler verwandelt, ist sie doch weder die einzige noch die erste 25 Weber, Heike: Das Versprechen mobiler Freiheit: Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld: transcript 2008, S. 31. 26 Woolgar, Steve: »Configuring the User: The Case of Usability Trials«, in: John Law (Hrsg.): A Sociology of Monsters: Essays on Power, Technology, and Domina­tion, London: Routledge 1991, S. 57 – 99. Weiterführend siehe auch: Oudshoorn, Nelly und Pinch, Trevor: »Introduc­tion: How Users and Non-­Users Matter«, in: Nelly Oudshoorn und Trevor Pinch (Hrsg.): How Users Matter: The Co-­Construc­tion of Users and Technology, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005, S. 1 – 25. 27 Zudem ist New York damals wie heute Spitzenreiter in der Benutzungsdauer der Systeme. Dabei liegt heute die durchschnitt­liche Pendeldauer in der Subway zur Arbeit bei 39,4 Minuten, also beinahe 80 Minuten erwerbsbezogener Transit täg­lich – mög­liche weitere Nutzungen in der Freizeit nicht mitgerechnet. Circa 5,6 Prozent der New Yorker verbringen dort sogar drei Stunden täg­lich auf dem Weg zu ihrer Arbeit und zurück. Vgl. McGeehan, Patrick: »Mass Transit Grows as Commuters’ Trip of Choice«, The New York Times (2. September 2006). American Community Survey 2002, US Census Bureau. factfinder.census.gov (letzter Zugriff: 12. 3. 2013).

Ein neues Subjekt für eine neue Gesellschaft  |

Metropole, die diese Metamorphose durchläuft. Nach der Eröffnung der weltweit ersten Untergrundbahn in London im Jahre 1863 hatten bereits Budapest (1896), Glasgow (1896), Paris (1900), Boston (1901) und Berlin (1902) ähn­liche Transitinfrastrukturen in Betrieb genommen. Jedoch waren nirgendwo die Auswirkungen dieser Maschinerien so gravierend wie in New York City. In den kommenden Jahrzehnten sollte sie die Stadt auf eine bislang für undenkbar gehaltene Weise transformieren und auch das Leben ihrer Bewohner gravierend verändern.28 Die Rekonstruk­tion der Art und Weise, wie sich die Menschen New Yorks in Passagiere verwandelten, folgt jedoch nicht einfach einem Narrativ der Disziplinierung und Zurichtung. Zwar stimmt es, dass hier machtvolle Instanzen zutage treten, die bestrebt sind, die Individuen durch Institu­tionen, Appelle und Diskurse zu strukturieren und ihre Affekte und Verhaltensmuster zu kontrollieren.29 Dies ist jedoch ein vielschichtiger Prozess, der alles andere als homogen und widerstandslos abläuft. Wie die Analyse immer wieder zeigen wird, lässt sich eine Vielzahl von Momenten ausmachen, in denen sich die Menschen diesen Imperativen widersetzen oder Trägheitsformen entfalten, um sich den Apellen zu entziehen. Dies betrifft beispielsweise ihre Bewegungen und Körperpraktiken, die immer wieder mit den technischen Anforderungen des Systems kollidieren, oder die Affekte und Umgangsformen der Passagiere, die den impliziten wie expliziten Normen der Subway zuwiderlaufen. So schwanken auch die Passagiere ­zwischen der Begeisterung für die neuen Mög­lichkeiten, die diese Maschine ihnen eröffnet, und den Zurichtungen und Strapazen, die sie tagtäg­lich zu ertragen haben. Um diese Ambivalenzen detailliert in den Blick nehmen zu können, erstreckt sich der Zeitraum der Analyse von den frühen diskursiven Antizipa­tionen des zukünftigen Passagiers im Zuge der ersten Planungen der Subway ab ca. 1860 über ihre Eröffnung im Jahre 1904 bis zur endgültigen Konsolidierung und 28 Selbstverständ­lich verfügten die Metropolen auch vor dem Bau der Untergrundbahnen über innerurbane Transitsysteme wie pferdegezogene Omnibusse oder Hochbahnen. Diese waren jedoch nicht nur wesent­lich langsamer und kleiner, auch ihre Passagierkulturen waren gänz­lich anders strukturiert. Vgl. ausführ­licher dazu Kapitel I. 2. 29 Zum Moment der Anrufung siehe ausführ­licher die grundlegende Konzep­tion von Louis Althusser in: Ideologie und ideolo­gische Staatsapparate, Hamburg: VSA 2010. Weiterführend siehe auch Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 27 ff. sowie A ­ llerkamp, Andrea: Anruf, Adresse, Appell: Figura­tionen der Kommunika­tion in Philosophie und Literatur, Bielefeld: transcript 2005. Am Ende des fünften Kapitels dieser Arbeit wird das Anrufungsmodell Althussers noch genauer diskutiert.

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Vereinigung der Teilsysteme unter dem Dach der Metropolitan Transporta­tion Authority (MTA) im Jahre 1968. Diese lange Zeitspanne bietet einerseits die Chance, eine Perspektive der longue durée zu entfalten und somit auch die schleichenden historischen Verschiebungen in den Subjektkulturen der Passagiere in den Blick zu nehmen. Andererseits wird es im Hinblick auf den Umfang der Analyse nötig sein, einzelne Aspekte eher in der Andeutung zu belassen. So wird es hier vor allem darum gehen, besonders dominante Formen des Passagiers herauszuarbeiten. Darüber hinaus zielt die Untersuchung darauf ab, die histo­ rischen Brüche, Dynamiken und Verwandlungen ­dieses Subjekttyps herauszustellen. Dementsprechend wird der Passagier in einer Fülle divergenter Ausformungen zutage treten: Während die zukünftigen Passagiere in den Diskursen der sozia­len Reformer um 1900 als Heilsbringer von Moralität und Prosperität erscheinen, verkörpern sie in den vorherrschenden modernekritischen Diskursen wenige Dekaden s­ päter alle Zurichtungen der fordistischen Massenkultur. Ebenso treten sie als Gewalttäter, Denunzianten oder verunsicherte Individuen in Erscheinung sowie als patriarchale Pendler, resolute Feministinnen, Konsumenten oder Patrioten. In diesen diversen Figuren werden bereits die Spannungspole in den Selbstentwürfen und Anforderungen sichtbar, innerhalb derer sich die Subjektformen des Passagiers verorten lassen. Diesen Codierungen von Normierung, Vermassung und technischer Subordina­tion einerseits sowie den Selbstbehauptungen und Individualitätsansprüchen der Passagiere andererseits wird die folgende Untersuchung nachgehen. Was weiß man über die Passagiere? In einer Analyse, die den Forma­tionen der New Yorker Subwaypassagiere nachspüren und sie in ihrer Historizität verorten will, stellt sich zunächst die Frage nach den Methoden, Perspektiven und Quellen, mit deren Hilfe sich dies bewerkstelligen lässt. Zudem muss der Frage nachgegangen werden, was man überhaupt über die Passagiere weiß. Ein erster Blick in die Enzyklopädien und Lexika ist dabei erstaun­lich wenig hilfreich. Während die ganze Welt in Bewegung zu sein scheint, fristet der Passagier dort ein äußerst marginales Dasein. In Meyers Konversa­tions-­Lexikon wie im Brockhaus findet er zumindest am Ende des 19. Jahrhunderts Erwähnung und wird dort als »Reisender« beschrieben, »besonders ein solcher, der mit Wagen, Eisenbahn oder Dampfschiff befördert wird.«30 In den folgenden Dekaden scheint 30 Brockhaus Konversa­tions-­Lexikon, 14. Auflage, Leipzig, Berlin & Wien: F. A. ­Brockhaus, 1892 – 1920, Band 12 (1894), S. 934.

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er allenfalls knappe Erklärungen wie »Fahrgast, Fluggast, Schiffsreisender«31 zu verdienen, nur um in den frühen 1970er Jahren gänz­lich aus diesen Nachschlagewerken verbannt zu werden. Zumindest für die Enzyklopädisten des 20. Jahrhunderts scheint der Passagier so selbstverständ­lich und unproblematisch zu sein, dass er offenbar keinerlei weiterer Bestimmung bedarf.32 Fragt man stattdessen nach historischen, literaturwissenschaft­lichen oder kulturtheoretischen Perspektiven, lassen sich immerhin einige Arbeiten finden, die den Passagier in den Fokus der Analyse rücken. Dies betrifft neben den Untersuchungen Paul Virilios,33 Bernhard Siegerts,34 Leo Marx‘35 oder Michel De Certeaus 36 vor allem die einflussreiche Studie Wolfgang Schivelbuschs zur Eisenbahnkultur des 19. Jahrhunderts.37 Zwar nehmen zwar all diese Studien den

31 Beispielsweise in: Der Große Brockhaus – Handbuch des Wissens, 15. Auflage, Leipzig: F. A. Brockhaus, 1928 – 1935, Band 14 (1933), S. 216. 32 Ähn­lich prekär verhält es sich im anglo-­amerikanischen Raum. Während der Passagier weder in der Encyclopædia Britannica noch in Collier’s Encyclopedia oder Webster’s Dic­tionary Erwähnung findet, widmet ihm immerhin das Oxford Universal Dic­ tionary von 1959 ein paar Zeilen: »one who travels in some vessel or vehicle, esp. on board ship or in a ferry- or passage-­boat; later also applied to travelers by any public conveyance entered by fare or contract. (the prevailing sense).« Oxford Universal Dic­tionary, Oxford: Clarendon 1959, Band 2, S. 1443. 33 Einschlägig sind hier u. a. Virilios Aufsätze in Der negative Horizont, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995 sowie Revolu­tionen der Geschwindigkeit, Berlin: Merve 1993; Fahren, fahren, fahren, Berlin: Merve 1978. So originell Virilios Überlegungen und Prognostiken oftmals sind, weisen sie doch starke kulturpessimistische wie anti-­feministische Züge auf. Zu einer pointierten Kritik dieser Momente siehe: Conley, Verena A.: »The Passenger: Paul Virilio and Feminism«, in: John Armitage (Hrsg.): Theory, Culture & Society: Paul Virilio: From Modernism to Hypermodernism and Beyond, London: Sage Publica­tions 2000, S.  201 – 215. 34 Siegert, Bernhard: Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle ­zwischen Spanien und Amerika, München: Wilhelm Fink Verlag 2006. 35 Siehe Marx, Leo: The Machine in the Garden: Technology and the Pastoral Ideal in America, New York: Oxford University Press 1964, vor allem die Ausführungen ab S. 18 ff. Siehe auch: Ward, Simon: »The Passenger as Flaneur? Railway Networks in German-­language Fic­tion since 1945«, Modern Language Review 100 (2005), S.  412 – 428. 36 Neben den Ausführungen in Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 sind hier vor allem De Certeaus Überlegungen zu Jules Verne zu nennen: Heterologies: Discourse on the Other, Minneapolis: University of Minnesota Press 1986, S. 137 ff. 37 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Eine ähn­liche Untersuchung nimmt auch Jo Gurli vor: Roads to Power: Britain invents the Infrastructure State, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2012, S. 153 ff.

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Passagier in den Blick, situieren ihn aber kaum in der Großstadt.38 Dies ist auch deswegen bemerkenswert, da das innerurbane Transitvolumen spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts wesent­lich höher ist als das ­zwischen den Städten.39 Während man also offenbar kaum etwas über die historischen Forma­tionen städtischer Passagierkulturen weiß, gilt dies nicht für die Geschichte der Infrastrukturen selbst. Kaum ein urbanes Transitsystem hat so zahlreiche wissenschaft­ liche Untersuchungen hervorgebracht wie die New York City Subway. Mehr als zehn Monographien und dutzende Aufsätze befassen sich sowohl mit ihrer Geschichte wie ihren technischen, gestalterischen und administrativen Spezifika.40 In ihren oft beeindruckend genauen Rekonstruk­tionen der Genese, Etablierung und Transforma­tion des Subwaysystems neigen diese jedoch dazu, die Passagiere in den Peripherien der von ihnen beschriebenen Prozesse zu verorten oder gleich ganz auszublenden. Während man sich detailliert einzelnen technischen Elementen, den politökomischen Besonderheiten des Betriebs oder den heroischen Anstrengungen der Betreiber oder Ingenieure widmete, vernachlässigen sie einen entscheidenden Aspekt, näm­lich die Benutzer dieser Technologie.41 38 Eine Ausnahme bilden die Reflexionen Marc Augès: In the Metro, Minneapolis: University of Minnesota Press 2002; Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1994. 39 Vgl. Urry: Mobilities, S. 91 ff. 40 Bspw.: Bobrick, Benson: Labyrinths of Iron. Subways in History, Myth, Art, Technology, & War, New York: Henry Holtand Company, Inc. 1994; Coppola, Philip Ashforth: Silver Connec­tions: A Fresh Perspective on the New York Area Subway Systems, Bd. 3, Maplewood, New Jersey: The Four Oceans Press 1988; Cudahy, Brian J.: Cash, Tokens, and Transfers: A History of urban Mass Transit in North America, New York: Fordham University Press 1990; Cudahy, Brian J.: A Century of Subways: Celebrating 100 Years of New York’s Underground Railways, New York: Fordham University Press 2003; Diehl, Lorraine B.: Subways. The Tracks that built New York City, New York: Clarkson Potter 2004; Dwyer, Jim: Subway Lives. 24 Hours in the Life of the New York City Subway, New York: Crown 1991; Giovannini, Joseph und Amash, Carissa: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, New York: Stewart, Tabori & Chang 2004; Sansone, Gene: New York Subways: An Illustrated History of New York City’s Transit Cars, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997; Walker, James Blaine: Fifty Years of Rapid Transit, 1864 – 1917, North Stratford, New Hampshire: Ayer Publishing 1918. Für einen Überblick über die Subwayforschung siehe auch die Rezension von Darius Sollohub: »The Machine in Society«, Journal of Urban History 34/3 (2008), S. 532 – 540. 41 Im Zuge einer Kritik dieser Herangehensweise geht der Historiker Donald F. Davis hart mit diesen Studien ins Gericht und konstatiert: »[M]ost books written about transit history have been narrowly internalist, even antiquarian, and they fail to place technological change in a wider, socio-­cultural context limits their usefulness.« Davis, Donald F.: »North American Urban Mass Transit, 1890 – 1950: What if we thought

Was weiß man über die Passagiere?  |

Immerhin kommen auch die Chronisten der New Yorker Subway nicht umhin, zumindest einen Seitenblick auf die Erfahrungen und kulturellen Deutungen des Transits zu werfen und den Einfluss dieser Maschine auf die Alltagskultur, Kunst oder Politik aufzuzeigen. Insbesondere die Untersuchungen Tracy ­Fitzpatricks zur Motivgeschichte der New Yorker Subway in der Kunst sowie die Ausführungen Michael Brooks zur kulturhistorischen Bedeutung dieser Infrastruktur sind für die hier unternommene Untersuchung unverzichtbar.42 Das ­gleiche gilt für die Standardwerke zur New Yorker Subway der Technikhisto­riker Clifton Hood und Brian Cudahy.43 Will man allerdings verstehen, wie sich die historischen Ausformungen und Brüche der Subjektformen im Transit manifestieren, muss man die Geschichte der New Yorker Subway noch einmal neu schreiben, und zwar als Geschichte ihrer Passagiere. Zahlreiche dieser oft flüchtigen Spuren der Passagiere konnten aus dem New York Transit Museum Archive (NYTMA) zutage gefördert werden. Dieses Archiv hat für vorliegende Arbeit entscheidende Bedeutung: Aus seinen Beständen entstammen eine Vielzahl von Quellen, die bislang kaum ausgewertet und nicht genauer katalogisiert wurden. Neben Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften betrifft dies auch Fotografien, Gutachten, interne Studien, Protokolle und vieles mehr. Allen voran ist es der Korpus von Beschwerdebriefen aus den Jahren 1954 bis 1968, der eine reichhaltige Quelle für die Rekonstruk­tion der Konflikte und sozia­len Ordnungen der Passagiere darstellt. Ebenso gilt es die Phantasmen, Allegorien, Bilder und Imagina­tionen zu untersuchen, in denen die Erfahrungen des Transits thematisch werden. Somit finden in dieser Untersuchung auch eine Vielzahl künstlerischer Arbeiten Berücksichtigung, von Malerei, Film und Fotografie bis hin zu Musik und Literatur. Ebenso werden Artefakte, wie Drehkreuze, Waggoninterieurs oder Beschilderungen, in den Blick genommen und auf ihre Wirksamkeit für die Wahrnehmungen und Praktiken der Passagiere befragt. In der eingehenden Auswertung dieser Quellen werden die räum­lich wie zeit­lich spezifischen Formen des Passagiers herausgearbeitet und ihren histo­rischen Dynamiken nachgespürt.

about it as a Type of Technology?«, History and Technology 12/4 (1995), S. 309 – 326, hier S. 310. 42 Brooks: Subway City; Fitzpatrick, Tracy: Art and the Subway: New York Underground, Piscataway, New Jersey: Rutgers University Press 2009. 43 Cudahy: Under the Sidewalks of New York; Hood: 722 Miles; Hood, Clifton: »Changing Percep­tions of Public Space on the New York Rapid Transit System«, Journal of Urban History 22/3 (1996), S. 308 – 331; Hood, Clifton: »The Impact of the IRT on New York City«, Historical American Engineering Record: Interborough Rapid Transit Subway (Original Line) NY-122, New York City 1979, S. 145 – 206.

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Eine Wissensgeschichte urbaner infrastrukturierter Subjektivität zu schreiben, bedeutet zudem, in der Beschreibung und Deutung der Passagierkulturen immer auch kulturtheoretische und gesellschaftsphilosophische Erkenntnisse der jeweils untersuchten Zeiträume heranzuziehen. Diese werden so als räum­lich wie zeit­lich spezifische Reflexionen und Theoretisierungen analysiert, die auch Erkenntnisse über die Charakteristika damaliger Metropolenerfahrung bereithalten. Dem liegt ein Verständnis von ­Theorie zugrunde, das sie als intellektuelle Praktik in einem historischen, kulturellen Wissensfeld verortet und sie somit ihrerseits als Quelle für historische Deutungs- und Interpreta­tionshorizonte fruchtbar zu machen sucht.44 Zugleich ist mit der Rekonstruk­tion der Metamorphosen, die der Passagier über mehrere Dekaden durchläuft, der Anspruch verbunden, ein Analyse­ modell zu entwerfen, mit dem diese Dynamiken infrastrukturierter Subjektivität verständ­lich werden. Damit ist diese Untersuchung mit einigen grundlegenden theoretischen und methodischen Fragestellungen konfrontiert: Wie lassen sich die Interak­tionen und Wahrnehmungsformen der Passagiere historisch aufspüren? Wie ist das Verhältnis von urbanen Infrastrukturen und ihren Benutzern zu denken? Und welche Rolle spielt die Funk­tion und Verfasstheit von Materialitäten und Technologien in der Sphäre des Sozia­len? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, einen begriff­lichen Apparat zu entwickeln, der der Geschicht­lichkeit von Subjektformen Rechnung trägt. Zwar werden alle für die Untersuchung relevanten Konzepte und Theorien in den einzelnen Kapiteln genauer diskutiert, auf den folgenden Seiten sollen aber zumindest einige grundlegende konzep­tionelle Perspektiven vorgestellt werden. Perspektiven: Subjekte, Skripte und Infrastrukturen Es gehört zur »Tücke des Subjekts«45, dass es sich um eine uneindeutige Kategorie handelt, die in der Philosophie wie auch den Kultur- und Geschichtswissenschaften immer wieder unterschied­liche und oftmals widersprüch­liche Bestimmungen erfahren hat. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis 44 Zu dieser Herangehensweise vgl. ausführ­licher: Felsch, Philipp: »Merves Lachen«, Zeitschrift für Ideengeschichte 2/4 (2008), S. 11 – 30; Woolgar, Steve: »Reflexivity is the Ethnographer of the Text«, in: Steve Woolgar (Hrsg.): Knowledge and Reflexivity: New Frontiers in the Sociology of Knowledge, Beverly Hills und London: Sage Publica­ tions 1988, S. 14 – 36. 45 Luhmann, Niklas: »Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen«, in: Peter Fuchs und Andrea Göbel (Hrsg.): Der Mensch, das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 40 – 56. Der Titel d ­ ieses Aufsatzes findet sich s­ päter auch bei Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main: S ­ uhrkamp 2010.

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ist dabei nicht das der klas­sischen Subjektphilosophie, welche das Subjekt als unhintergehbare, autonome oder gar transzendentale Entität setzt.46 Hier wird vielmehr danach gefragt, welche historischen Anforderungsprofile, Sinnstrukturen und Körperpraktiken zur Anwendung kommen, damit sich der oder die Einzelne zu einem bestimmten Zeitpunkt als integriertes, anerkanntes und anerkennendes Subjekt begreift. Dabei ist eine historische Analyse von Subjekten nicht ohne eine Ausein­ andersetzung mit den wegweisenden Untersuchungen Michel Foucaults denkbar, der wohl am deut­lichsten die Metamorphosen und Verwerfungen abendländischer Subjektivität herausgestellt hat.47 Besonders in dem zwei Jahre vor seinem Tod verfassten Aufsatz mit dem programmatischen Titel Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts 48 erteilt Foucault Auskunft über die zentrale Stellung ­dieses Forschungskomplexes in seinen Arbeiten. Dabei gibt er zu erkennen, dass es eben nicht nur die Verhältnisse der Macht sind, die im Zentrum seines Denkens stehen, sondern auch die des Subjekts bzw. der Subjektivierung. Es geht ihm um die Frage, wie »in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden.«49 Foucault hat diese Prozesse der Subjektivierung unter anderem auf den Ebenen der Wissensordnungen, Regierungsformen und Techniken des Selbst untersucht.50 Dabei hat er immer wieder herausgestellt, dass in diesen Prozessen 46 Vgl. Kible, Brigitte: »Subjekt«, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Stuttgart: Schwabe&Co AG 1998, S. 373 – 400. Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld: transcript 2008, S. 11 ff. 47 Zudem hat sich Foucault selbst für die Verfasstheit des Passagierseins und seine Rolle in der kulturellen Ordnung interessiert, wenn auch in einem gänz­lich anderen historischen Kontext: Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 29 f. 48 Foucault, Michel: »Warum ich die Macht untersuche: die Frage des Subjekts«, in: Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow (Hrsg.): Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main: Athenäum 1987, S. 243 – 250. 49 Ebd., S. 243. Infolge Foucaults haben sich in den letzten zwei Dekaden eine unüberschaubare Zahl von Forscherinnen und Forschern dieser Frage angenommen. Als gute Einstiegspunkte in ­dieses Forschungsfeld können jedoch gelten: Butler, Judith: Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001; Rose, Nikolas S: Governing the Soul: The Shaping of the Private Self, London und New York: Free Associa­tion Books 1999; Rose, Nikolas und Miller, Peter: Governing the Present: Administering Economic, Social and Personal Life, New York City: John Wiley & Sons 2013. Im deutschsprachigen Raum sind es vor allem Andreas Reckwitz und Ulrich Bröckling, die sehr inspirierende Analysen zur Geschichte und Gegenwart von Subjektformen vorgelegt haben. 50 Zu diesen Analysefeldern Foucaults, den Einzelwerken sowie zur Werkgenese siehe: Schneider, Ulrich Johannes: Michel Foucault, Darmstadt: Primus 2006.

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komplexe und konfliktreiche Verfahren der Disziplinierung und Kontrolle wirksam werden. Deren Frontlinien verlaufen jedoch nicht nur durch die Ordnungen des Wissens und des Diskurses, sondern sind vor allem auch in den tagtäg­lichen Verrichtungen und Praktiken der Menschen wirksam.51 Die Kategorie des Alltags als wirkmächtiges Feld der Subjektivierung erweist sich auch für die hier vorgenommene Untersuchung als eine zentrale Perspektive, ist doch gerade in modernen urbanen Kontexten das Alltagsleben untrennbar mit der Nutzung von Infrastrukturen verbunden.52 Insbesondere der Passagier zeichnet sich durch seine Konstituierung in sozio-­technischen Apparaturen aus. Als Benutzer von Mobilitätsinfrastrukturen sind seine Praktiken, Interak­ tionen und Erfahrungen zu einem großen Teil durch die technische Umgebung des Transits strukturiert. Auch die tagtäg­lichen Anrufungen und Apelle der Passagiere realisieren sich weniger durch menschliche Sprecher, sondern sind größtenteils über die Infrastrukturen und Institu­tionen vermittelt. Die Räume und Orte der Subway sowie deren materielle Verfasstheiten und technolo­gische Funk­tionalitäten konstituieren also im hohen Maße die Praktiken und Selbstdeutungen der Passagiere. Eine Analyse hinsicht­lich der subjektivierenden Wirkung dieser artifiziellen Räume und Maschinerien ist demzufolge für die hier vorgenommene Untersuchung unverzichtbar. Sucht man hinsicht­lich dieser materiellen Dimension einer Subjektanalyse nach Anregungen im Werk Foucaults, wird man allerdings kaum fündig werden. In seinen Studien richtet er den Fokus primär auf die Diskurse, Wissensformen und Praktiken der Macht, während er den materiellen bzw. technischen Dimensionen dieser Prozesse kaum Beachtung schenkt.53 Foucaults Überlegungen lassen sich jedoch für die hier unternommene Analyse infrastrukturierter Subjektivität erweitern und produktiv machen. Wenn im Folgenden also komplexe sozio-­technische Systeme wie die Subway als Instanzen der Subjektivierung perspektiviert werden, erfordert dies eine brauchbare Bestimmung von Infrastruktur, die weit mehr umfassen muss als nur ihre materiellen Elemente wie Schienen, Röhren oder Kabel. 51 Vgl. Foucault: »Warum ich die Macht untersuche: die Frage des Subjekts«, S. 246. 52 Vgl. van Laak: »Infra-­Strukturgeschichte«, S. 377. 53 Dies hat auch Foucault auch immer wieder selbst eingeräumt: siehe u. a. Foucault, Michel: »Technologien des Selbst«, in: Luther H. Martin, Huck Gutman und Patrick H. Hutton (Hrsg.): Technologien des Selbst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 24 – 62, hier S. 27. Wenn er sich vereinzelt den materiellen Dimensionen von Subjektivierungen widmet, wie in der Untersuchung der räum­lichen Wirkmacht des Panoptikums von Jeremy Bentham, entstehen Analysen, die ikonisch für das Werk Foucaults geworden sind. Siehe Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 256 ff.

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Betrachtet man jedoch die bisherigen Defini­tionen von Infrastruktur, wird man schnell feststellen, dass es sich um einen weitestgehend unterbestimmten Begriff handelt. Wie Dirk van Laak gezeigt hat, taucht er erstmals im Kontext der Konstruk­tion der Eisenbahn im Frankreich des 19. Jahrhundert auf, wo der Begriff zunächst die Gleisanlagen und ­später auch andere immobile Elemente bezeichnet, die Mobilität ermög­lichen.54 Erst ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts findet der Ausdruck Infrastruktur verstärkt Verwendung in den Bereichen militärischer Logistik, ökonomischer Integra­tion sowie der »Entwicklungshilfe«.55 Von dort aus hielt er Einzug in die Wissenschaftsfelder der Wirtschaftslehre, Politikwissenschaften und Planung. Allerdings erweist sich auch dort der Begriff bei näherem Hinsehen als wesent­lich uneindeutiger als es zunächst den Anschein hat. So erscheint es beispielsweise in vielen Fällen schwierig, Infrastruktur und Architektur klar voneinander abzugrenzen. Zudem wird der Begriff oftmals in Bezug auf s­ ozia­le Versorgungsysteme wie Schulen oder Krankenhäuser angewandt oder es werden Denkmäler und Museen als symbo­lische Infrastrukturen ausgewiesen. Eine genaue und umfassende Defini­ tion von Infrastruktur lässt sich bislang nicht finden.56 Für die hier vorgenommene Untersuchung erweisen sich jedoch einige Überlegungen der Stadtforscher Christopher Boone und Ali Modarres als gute Ausgangspunkte. Ihnen zufolge lassen sich urbane Infrastrukturen zunächst als materielle Apparaturen charakterisieren, welche die Zirkula­tion von Menschen, Materialien und Informa­tionen innerhalb der Stadt ermög­lichen.57 Dabei umfasst diese Zirkula­tion weit mehr als nur räum­liche Mobilität. Sie stellt sich vielmehr als komplexer Prozess dar, der mit vielfältigen Anforderungen, Ordnungsinstanzen und Rahmenbedingungen versehen ist und somit spezifische »Zirkula­tionskulturen«58 hervorbringt. In der Analyse urbaner Infrastrukturen 54 Vor allem in: van Laak, Dirk: »Der Begriff ›Infrastruktur‹ und was er vor seiner Erfindung besagte«, Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), S. 280 – 299. 55 Zur zentralen Rolle von Infrastrukturen während der Kolonisierung, vor allem im 18. und 19. Jahrhunderts vgl. u. a.: Adas, Michael: Machines as the Measure of Men: Science, Technology, and Ideologies of Western Dominance, Ithaca: Cornell University Press 1989; van Laak, Dirk: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für die Erschließung Afrikas 1880 – 1960, Paderborn: Schöningh 2004. 56 Buhr, Walter: What is Infrastructure?, Volkswirtschaft­liche Diskussionsbeiträge  – Discussion Paper No. 107 – 03, Universität Siegen, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Siegen 2003. 57 Boone, Christopher G. und Modarres, Ali: City and Environment, Philadelphia: Temple University Press 2006, S. 96. 58 Lee, Benjamin und LiPuma, Edward: »Cultures of Circula­tion: The Imagina­tions of Modernity«, Public Culture 14/1 (2002), S. 191 – 213, hier S. 192. Vgl. dazu auch: Boutros, Alexandra und Straw, Will: »Introduc­tion«, in: Alexandra Boutros und Will Straw

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müssen demzufolge die Vergemeinschaftungen, Praktiken und Diskurse, die sich in den Austauschbewegungen entfalten, ebenso untersucht werden wie ihre bürokratischen Regime und juristischen Verordnungen. Auch gilt es, die Übersetzungen ingenieurwissenschaft­licher und technischer Protokolle in Alltagspraktiken zu adressieren sowie die normativen Ideen, Phantasmen und kollektiven Imagina­tionen zu berücksichtigen, von denen diese Maschinen durchdrungen sind. Angesichts dieser mannigfaltigen Aspekte erscheint es sinnvoll, Infrastrukturen als etwas zu charakterisieren, was Foucault unter dem Begriff des Dispositivs fasst: Das, was ich mit ­diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist […] eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institu­tionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaft­ lichen Aussagen, philosophischen, mora­lischen und philanthro­pischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs.59

Diesen Dispositiven kommt dabei für Foucault eine entscheidende Funk­tion zu: Sie strukturieren die Selbstverständnisse und subjektiven Erfahrungen der von ihnen adressierten Subjekte.60 Versteht man Dispositive somit als Maschinen (Hrsg.): Circula­tion and the City, Montreal: McGill-­Q ueen’s University Press 2010, S.  3 – 22. Dieses Moment der Zirkula­tion wird zudem im ersten und zweiten Kapitel ausführ­lich diskutiert. 59 Foucault, Michel: »Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch)«, Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 391 – 429, hier S. 392. 60 Dies gilt ebenso für den von von Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelten Begriff des Gefüges (agencement), der zahlreiche Schnittstellen zu Foucaults Konzept des Dispositivs aufweist. Siehe dazu u. a.: Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 111; Deleuze, Gilles: »Was ist ein Dispositiv«, in: François Ewald und Bernhard Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S.  153 – 162. Allerdings betonen Deleuze und Guattari, dass in ihrem Verständnis Gefüge nicht primär durch Macht strukturiert sind, sondern eher durch Begehren. Siehe ausführ­licher: Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, S. 194, Fußnote 37. Zu dieser Differenz vgl. auch: Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 99 ff. Auch Guattari hat in seinen monographischen Schriften diesen Moment begriff­lich weiterentwickelt. Siehe bspw.: Chaosmosis: an Ethico-­Aesthetic Paradigm, Bloomington: Indiana University Press 1995. Als Sekundärtexte siehe: Agamben, ­Giorgio: Was ist ein Dispositiv?, Zürich: diaphanes 2008; Bührmann, Andrea D. und S ­ chneider, ­Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv: Eine Einführung in die Dispositivanalyse, ­Bielefeld: transcript 2008.

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zur Produk­tion von Subjekten, bedeutet das, dass sie ihre Wirksamkeit in den Verkopplungen unterschied­lichster Elemente entfalten: Sie umfassen Wissensordnungen, Artefakte und administrative Verfahren ebenso wie spezifische Kulturtechniken, Territorien oder Körper.61 Der Begriff des Dispositivs wird so ein Werkzeug dafür, das Heterogene und Ephemere zu beschreiben und dennoch eine Idee des Strukturierenden und Stabilisierenden zu bewahren.62 Nimmt man Infrastrukturen als ebensolche subjektivierende Dispositive in den Blick, sind sie nicht allein als technische Apparaturen zu verstehen, sondern als komplexe Organisa­tionsformen, die zugleich technolo­gischen wie kulturellen und ökonomischen Logiken folgen.63 Bereits in den 1980er Jahren hat der amerikanische Technikhistoriker Thomas P. Hughes einige wegweisende Modelle zur Rolle und Funk­tion von Technik in modernen Gesellschaften erarbeitet, die er in der Konzep­tion der Large Technological Systems auf den Begriff bringt.64 Dabei geht er davon aus, dass es überhaupt eine abwegige Idee sei, Technologie und Gesellschaft als distinkte Sphären zu betrachten. Vielmehr müsse man technische Artefakte als elemen­ tare und inhärente Elemente des Sozia­len verstehen, die untrennbar mit Diskursen, Praktiken, Wissensformen und Regierungstechniken verflochten sind. Nimmt man Hughes Überlegungen ernst, kann eine recht verstandene Technikgeschichte keine Objektgeschichte im eigent­lichen Sinne sein, welche die einzelnen Artefakte ins Zentrum der Analyse stellt. Versteht man Kultur als 61 Siehe ausführ­licher: Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, S. 124. Zur Spezifik des Gefüge-­Begriffs siehe auch: Amin, Ash und Thrift, Nigel: Cities: Reimagining the Urban, Cambridge: Polity Press 2002, S. 78 ff; Delitz: Gebaute Gesellschaft – Architektur als Medium des Sozia­len, S. 126 ff; Marcus, George E. und Saka, Erkan: »Assemblage«, Theory, Culture & Society 23/2 – 3 (2006), S.  101 – 106; Wise, J. Macgregor: »Assemblage«, in: Charles J. Strivale (Hrsg.): Gilles Deleuze: Key Concepts, McGill-­Q ueen’s University Press 2005, S. 77 – 86. 62 Auf diese Spur begibt sich auch der Philosoph Manuel De Landa, der im Anschluss an Deleuze und Guattari eine Assemblage Theory formuliert. DeLanda, Manuel: A New Philosophy of Society: Assemblage Theory and Social Complexity, London und New York: Continuum 2006. 63 Dieses Verständnis der Maschine entwickeln Deleuze und Guattari bereits im Anti-­ Ödipus, bezeichnenderweise unter Bezug auf die Technikphilosophie Mumfords: Anti-­Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 179 ff. Zu Mumford und der Konzep­tion der Subway als Megamaschine siehe auch Kapitel IV. 4. 64 Hughes hat diesen Ansatz in zahlreichen Texten entwickelt, besonders einschlägig ist aber: »The Evolu­tion of Large Technological Systems«, in: Wiebe E. Bijker, Thomas P. Hughes und Trevor J. Pinch (Hrsg.): The Social Construc­tion of Technological Systems: New Direc­tions in the Sociology and History of Technology, Cambridge, Mass.: The MIT Press 1989, S. 51 – 82.

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inhärent technomorph,65 muss stattdessen das Herausarbeiten der komplexen Verwicklungen materiell-­technischer Apparaturen mit sozia­len, diskursiven und praxeolo­gischen Elementen als eine Kernaufgabe historischer Kulturwissenschaft überhaupt angesehen werden. Dabei soll jedoch weder eine technikdeterministische Posi­tion vertreten werden, welche die Subjekte primär als Effekte bzw. Korrelate einer übermächtigen Apparatur versteht, noch ein sozia­lkonstruktivistischer Standpunkt eingenommen werden, der Technik primär als abhängige Variable kultureller Entwicklungen begreift.66 Stattdessen wird hier eine alternative Posi­tion vorgeschlagen, die von der ko-­konstituierenden Funk­tion technischer Artefakte für die Verfasstheit kultureller Existenz ausgeht.67 Einen zentralen Hinweis darauf, wie man die vielfältigen Verknüpfungen von Infrastrukturen und ihren Nutzern fassen kann, formuliert Hartmut Böhme, wenn er schreibt: »Jedes Gerät und jedes technische System enthält Codierungen des Umgangs mit ihnen.«68 Diese Codierungen sind es, die in der Actor-­Network-­ Theory (ANT) unter dem Begriff des Skripts bzw. der Inskrip­tion gefasst werden.69 Entwickelt wurde ­dieses Analysekonzept primär durch Madelaine Akrich und Bruno Latour.70 Es dient dazu, die Versuche von Designern zu beschreiben, die 65 Vgl. Böhme, Hartmut, Matussek, Peter und Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft: Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 164. 66 Vgl. ausführ­licher Heßler, Martina: »Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung. (Zusatztexte im Internet)«, Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag 2012, S. 6 ff, http://studium.campus.de/sixcms/ media.php/274/Hessler_Zusatzkapitel_Internet.pdf. 67 Vgl. dazu u. a. Farias, Ignacio: »Introduc­tion: Decentering the Object of Urban Studies«, in: Thomas Bender und Ignacio Farias (Hrsg.): Urban Assemblages: How Actor-­Network Theory Changes Urban Studies, New York und London: Routledge 2010, S. 1 – 24; Höhne, Stefan und Umlauf, Rene: »Die Akteur-­Netzwerk ­Theorie. Zur Vernetzung und Entgrenzung des Sozia­len«, in: Jürgen Oßenbrügge und Anne Vogelpohl (Hrsg.): Theorien in der Raum- und Stadtforschung – Eine Einführung, Münster: Westfä­lisches Dampfboot 2015, S. 195 – 214. 68 Böhme/Matussek/Müller: Orientierung Kulturwissenschaft: Was sie kann, was sie will, S. 178. (Hervorhebung im Original). 69 Zahlreiche dieser grundlegenden Aufsätze der ANT sind erst im Jahre 2006 in deutscher Sprache erschienen: Belliger, Andréa und Krieger, David J.: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-­Netzwerk-­Theorie, Bielefeld: transcript 2006. Auch wenn die Qualität der Übersetzungen des Öfteren problematisch ist, werden im Folgenden primär diese Texte zitiert. 70 Siehe vor allem: Akrich, Madeleine: »Die De-­Skrip­tion technischer Objekte«, in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-­Netzwerk-­Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 407 – 428; Akrich, ­Madeleine und Latour, Bruno: »Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie

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mög­lichen Handlungen der Benutzer mit d ­ iesem Objekt vorherzusagen und zu strukturieren. Es geht also darum, gewünschte Interak­tionen ­zwischen Artefakten und Menschen in die Apparaturen einzubauen, während unerwünschte Praktiken unmög­lich gemacht werden sollen.71 Wenn das gelingt, »definieren technische Objekte wie ein Filmskript den Rahmen einer Handlung zusammen mit den Akteuren und dem Raum, in dem sie agieren sollen.«72 Mit ­diesem Ansatz wird die Aufmerksamkeit also vor allem darauf gerichtet, wie in der Gestaltung einer Technologie auch die Fähigkeiten, Motive und Verhaltensweisen ihrer zukünftigen Benutzer antizipiert werden.73 Wenn es der Begriff des Skripts erlaubt, die Wirkmacht von technischen Artefakten in infrastrukturierten Settings herauszuarbeiten, ist damit jedoch kein einfacher Handlungs- bzw. Technikdeterminismus gemeint. So weicht doch in den allermeisten Fällen die tatsäch­liche Benutzung einer Apparatur für die Semiotik menschlicher und nicht-­menschlicher Konstella­tionen«, in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-­Netzwerk-­Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 399 – 408; Latour, Bruno: »Technik ist stabilisierte Gesellschaft«, in: Andréa Belliger und David J. ­Krieger (Hrsg.): ANT hology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-­Netzwerk-­Theorie, ­Bielefeld: transcript 2006, S. 369 – 398. 71 Wie dies genau funk­tioniert, hat Bruno Latour bekanntermaßen anhand der Skripte aufgezeigt, die in dem sogenannten Berliner Schlüssel in den Mietshäusern der Stadt implementiert wurden. Dieser war mit zwei Bärten versehen und konnte nach dem Öffnen der Tür nur wieder entfernt werden, wenn man ihn durch das Schloss steckte und so hinter sich wieder abschloss. Dies war jedoch nur in den Nachtstunden der Fall. Am Morgen aktivierte der Hauswart mit Hilfe eines Schlüssels mit glattem Bart einen Mechanismus im Schloss, der es den Bewohnern mit ihren Berliner Schlüsseln erlaubte, die Tür tagsüber zu öffnen, ohne den Schlüssel durchschieben zu müssen. Allein ­dieses winzige Designelement sorgte dafür, dass die Tore der West-­Berliner Mietskasernen nachts immer verschlossen waren. Zudem entfaltete sich um diesen Schlüssel eine Vielzahl von subversiven Praktiken, die auch das Herstellen eines Generalschlüssels durch einfaches Abfeilen des zweiten Barts einschloss. Siehe Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel: Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademieverlag 1996. Ein weiteres Beispiel Latours für die Konfigura­tion des Benutzers ist die Praxis einiger Hoteliers, die Zimmerschlüssel mit einem klobigen Gewicht zu versehen und so den Gästen nahezulegen, die Schlüssel an der Rezep­tion zurückzulassen. Siehe Johnson, Jim: »Die Vermischung von Menschen und Nicht-­Menschen: Die Soziologie eines Türschließers«, in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-­Netzwerk-­Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 237 – 258. Jim Johnson ist offensicht­lich ein Synonym von Latour. 72 Akrich: »Die De-­Skrip­tion technischer Objekte«, S. 411. 73 Vgl. Latour: »Technik ist stabilisierte Gesellschaft«.

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davon ab, wie sich die Designer den Idealbenutzer ihrer Objekte vorstellen. Diese Momente der Abweichung von den erwünschten Interak­tionen lassen sich als De-­Inskrip­tionen verstehen, in denen die ursprüng­lich intendierten Skripte verändert oder umgangen werden.74 Dabei kann ein besonders weites Auseinanderfallen von erstrebter und tatsäch­licher Benutzung die Form einer schweren Krise oder Störung annehmen. Im Gegensatz zu den grundlegenden Annahmen der ANT stehen in dieser Arbeit jedoch nicht (menschliche oder nicht-­menschliche) Aktanten im Zentrum des Interesses, sondern Subjektformen.75 Damit stellt sich die Frage, inwieweit Skripte nicht nur an den sozia­len wie materiellen Verhaltensordnungen des Transits beteiligt sind, sondern auch als Deutungs- und Wissensinstanzen für die Passagiere wirkmächtig werden. Diese Dimension kommt in den Blick, wenn man die Inskrip­tionen der technischen Apparaturen der Subway als hochgradig normative Instrumente begreift, deren ideales Nutzerbild durchaus auch politischen und mora­lischen Leitideen folgt. Zwar erscheinen Infrastrukturen zunächst als neutrale und objektive technische Systeme, in ihrer Funk­tion als sozio-­politische Integra­tionsmedien sind sie jedoch entscheidend an den Mechanismen städtischer Inklusion und Exklusion beteiligt.76 Wie wir ­später sehen werden, waren auch die Ingenieure und Betreiber der Subway bestrebt, Skripte zu implementieren, die nicht nur die Körper der Passagiere disziplinieren, sondern auch normative Verhaltensimperative bereithalten. Sie appellieren beispielsweise auch an die Umgangsformen, bürger­lichen Pflichten oder Hygienepraktiken der Passagiere. Da gerade für eine historische Untersuchung der oder die Einzelne bestenfalls einen Grenzpunkt der Analyse darstellt, findet hier das Konzept der Subjektform Anwendung. Es steht als vermittelnde Instanz ­zwischen dem Selbst und der kulturellen Ordnung, die es voraussetzt wie produziert. Dabei kristallisieren sich diese Formen oftmals nicht zu einem einheit­lichen Bild.77 Wie die Subjektformen des Unternehmers oder Touristen sind auch die des Passagiers weniger als stabile und klar abgrenzbare Gestalten zu verstehen, sondern als »Korrelat wechselnder Subjektivierungsweisen«.78 74 Vgl. Akrich/Latour: »Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-­menschlicher Konstella­tionen«. 75 Zu diesen konzep­tionellen Differenzen siehe ausführ­licher: Höhne/Umlauf: »Die Akteur-­Netzwerk ­Theorie. Zur Vernetzung und Entgrenzung des Sozia­len«. 76 Vgl.: van Laak: »Infra-­Strukturgeschichte«; Graham, Stephen und Marvin, Simon: Splintering Urbanism: Networked Infrastructures. Technological Mobilities and the Urban Condi­tion, London: Routledge 2001. 77 Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt: Eine ­Theorie der Subjektkulturen von der bürger­lichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2010, S. 14. 78 Reckwitz: Subjekt, S. 13.

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So ist der primäre Subjektivierungsort des Passagiers die Subway, diese Infrastruktur ist aber eingewoben in eine Vielzahl anderer Subjektinstanzen, die ihre Funk­tion mitstrukturieren, wie beispielsweise Ökonomien, die auf der Trennung von Wohn- und Arbeitsort basieren oder Formen der Vergemeinschaftung, des Konsums und Vergnügens, die auf innerurbane Mobilität angewiesen sind. Ähn­lich wie im Falle des Konsumenten oder Angestellten ist somit auch die Subjektform des Passagiers weit über den eigent­lichen Ort ihrer Subjektivierung wirksam. Wie ich zeigen möchte, trifft dies gerade für New York zu, wo die Subway nahezu alle Bereiche des Alltagslebens durchdringt. Zugleich muss betont werden, dass eine gelungene Subjektivierung der Menschen zu Passagieren nicht nur eine erzwungene Unterwerfung unter die Macht der Dispositive der Infrastruktur darstellt. Sie erfordert auch die Anerkennung und Aneignung dieser Codierungen durch die Subjekte selbst. Es ist diese wechselseitige Stabilisierung von subjektiven Praktiken und maschinellen Dispositiven, die über den Erfolg in der Etablierung sozio-­technischer Ordnungen entscheidet. Der Begriff der infrastrukturierten Subjektformen markiert somit genau das Relais ­zwischen (Infra-)Strukturen und der Handlungsmacht der Subjekte.79 Damit werden Subjektformen als überindividuelle Orientierungsmuster begriffen, die Rollenmodelle, Affektstrukturen und Sinnhorizonte bereitstellen, an denen sich die einzelnen Menschen orientieren und »selbst entziffern«80 können. Die vielfältigen Subjektformen des Passagiers zu beschreiben und ihre historischen Brüche und Kontinuitäten aufzuzeigen, erfordert demzufolge sowohl die kulturellen Praktiken und Sinnestechniken der Passagiere zu rekonstruieren wie die Inskrip­tionen und Funk­tionsweisen der sie umgebenden Infrastrukturen und technischen Artefakte. Auch muss den Imagina­tionen, Wissensformen und administrativen Verfahren nachgegangen werden, die in den Diskursen um den Passagier zirkulieren. Zudem müssen die Verfahren ihrer Steuerung und Vereindeutigung durch Regime der Macht adressiert werden. Und nicht zuletzt müssen diese verschiedenen Analyseebenen so miteinander ins Spiel gebracht und verwoben werden, dass sich der Passagier in diesen Verflechtungen deut­ lich abzeichnen kann.

79 Andreas Reckwitz hat in einer umfassenden Untersuchung gezeigt, wie das Konzept der Subjektform für eine kulturhistorische Analyse fruchtbar gemacht werden kann: Reckwitz: Das hybride Subjekt. 80 Foucault, Michel: »Über sich selbst schreiben«, Ästhetik der Existenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 137 – 154, hier S. 141.

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Aufbau des Buches In der Rekonstruk­tion der verschiedenen Subjektformen des Passagiers gliedert sich die Untersuchung chronolo­gisch, wobei der Zeitraum ­zwischen 1904 und 1968 im Zentrum steht. Da sich jedoch die Genesen der jeweiligen Subjektformen oftmals nicht exakt datieren lassen und sich spezifische Entwürfe und Codierungen des Passagiers über lange Zeiträume entfalten, wird es in wenigen Fällen nötig sein, von ­diesem Schema abzuweichen und sowohl Vorgriffe wie auch Rückblicke zu unternehmen. Kapitel I beginnt mit der Antizipa­tion des Passagiers im Zuge der Planung und Konstruk­tion der Subway. So wird spätestens in den 1860er Jahren offenkundig, dass eine neue Form von Massenmobilität dringend erforder­lich ist, um die zahlreichen Krisen der überfüllten Stadt zu lösen. Mit der Durchsetzung der Imperative der Zirkula­tion wandelt sich die Idee eines gigantischen unterirdischen Transitsystems von einem absurden Vorschlag zu einer als essenziell empfundenen Notwendigkeit. Damit binden sich an die kommende Subway enorme Hoffnungen auf die glorreiche Zukunft New Yorks, die als Stadt der Passagiere ihre Apotheose erleben sollte. Anhand der Analyse zeitgenös­sischer Texte wird sich zeigen, dass im Zuge dieser euphorischen Antizipa­tionen die Passagiere als heroische Subjekte propagiert werden, welche die zukünftigen Segnungen der Zirkula­tion verkörpern. Eine detaillierte Rekonstruk­tion der turbulenten und spektakulären Ereignisse am Eröffnungstag der Subway wird zeigen, dass sich diese Erwartungen in dem Augenblick zerschlagen, als die Menschen erstmals die Subway betreten. Die darauffolgenden drei Kapitel widmen sich der Passagierkultur in der Zeit ­zwischen der Eröffnung der ersten Strecke im Jahre 1904 und dem Zusammenschluss der drei vormals unabhängigen Teilsysteme im Jahre 1953. Nicht zufällig ist dies genau der historische Zeitraum, in dem nicht nur New York, sondern die west­lichen Gesellschaften allgemein vielfältige Prozesse der Maschinisierung durchlaufen, die man zunächst mit den Schlagworten des Taylorismus, Fordismus und der Massenkultur umreißen kann. Diese Transforma­tionen erscheinen im Rückblick als so radikal und tiefgreifend, dass zahlreiche Historikerinnen und Historiker mit dem Maschinenzeitalter einen eigenen Epochenbegriff für diese Periode geprägt haben. Wie das zweite Kapitel zeigen wird, ist der Beginn dieser Ära einerseits durch eine tiefgreifende Krise der bürger­lichen Subjektkultur gekennzeichnet. Andererseits lässt sich eine wahre Maschineneuphorie angesichts der neuen Formen der Produk­tion und Konsum­tion sowie der neuen technisch induzierten Erfahrungswelten konstatieren. Zugleich rückt mit der Masse eine neue Form kollektiver Subjektivität ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

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Diese erscheint jedoch zunächst als bedroh­licher und impulsiver Mob, den es zu steuern und zu kontrollieren gilt. Vor allem trifft dies für die Passagiere der stark überlasteten Subway zu, deren nonkonformes Verhalten sowohl eine Gefahr für die mora­lische Ordnung darstellt als auch die maschinelle Funk­tionslogik des Systems behindert und immer wieder an den Rand des Kollaps führt. Um den unkontrollierten Passagiermob mit den technischen Anforderungsprofilen der Subway kompatibel zu machen, entfaltet sich in den Jahren nach der Eröffnung ein Dispositiv der Maschinisierung, das in der Anwendung von Methoden der Ra­tionalisierung und Disziplinierung darauf abzielt, die Passagiere in eine berechen- wie steuerbare Menge zu verwandeln. Wie eine Analyse statistischer und technischer Studien aus dem Archiv des New York Transit Museum zeigen wird, kann dies zum einen durch biopolitische Verfahren statistischer Normalisierung erreicht werden, zum anderen durch die Implementierung von Verhaltensskripten in die materiellen Elemente des Systems, wie beispielsweise in den Drehkreuzen, Sta­tionsinterieurs und Waggons. Infolgedessen gelingt es in weiten Teilen, die Passagiere als normierte und ra­tionale Containersubjekte 81 zu codieren, deren Praktiken und Interak­tionsformen konform und funk­ tionsgerecht zu den Opera­tionsweisen der maschinellen Apparaturen ablaufen. Diese Methoden erweisen sich als so wirksam, dass man auf ihrer Basis letzt­lich sogar eine Containerethik entwirft, in der sich s­ ozia­le Umgangsnormen mit den technischen Normierungen des Systems verschalten. Dass diese Verfahren der Maschinisierung auch im Bereich der Wahrnehmungs- und Interak­tionsformen der Passagiere zur Geltung kommen, stellt Kapitel III dar. Hier erfolgt eine Rekonstruk­tion der Sinnestechniken in der Subway anhand von Quellenmaterial aus den Massenmedien, Fotografien, medizinischen Gutachten und Designerstudien. Zugleich werden Artefakte, wie z. B. Karten und Beschilderungen, auf ihre Wirksamkeit zur Strukturierung der Wahrnehmungen und Körperpraktiken der Passagiere diskutiert. Dabei wird deut­lich, dass gerade für die ersten Passagiere die Erfahrungen des unterirdischen Transits und das Ausgeliefertsein an die technischen Apparaturen offenbar als extrem strapaziös und angsteinflößend erlebt werden. In der Reak­tion auf die ungewohnten visuellen, akustischen und olfaktorischen Eindrücke sehen sich die Passagiere gezwungen, Praktiken der 81 Diesen Begriff entlehne ich Alexander Klose: »Who do you want to be today? Annäherungen an eine ­Theorie des Container-­Subjekts«, in: Insa Härtel und Olaf Knellessen (Hrsg.): Das Motiv der Kästchenwahl: Container in Psychoanalyse, Kunst, Kultur, Psychoanalytische Blätter 31, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S.  21 – 38.

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Sinnesmodula­tion zu entwickeln, um diese Situa­tionen zu bewältigen. Wenn diese von den Zeitgenossen unter den Schlagworten des Reizschutzes und industrialisierten Bewusstseins beschrieben werden, so zeigen sich auch hier die Verfahren der Containerisierung. Indem die Passagiere Techniken der Abschottung und Entemo­tionalisierung mobilisieren und die Differenz z­ wischen ihren Innenleben und den maschinellen Umwelten verstärken, bringen sie zugleich neue Formen sozia­ler Interak­tion hervor. Vor allem gilt dies für die komplexen Codierungen des Blicks. Dass dem Sehen in den Wahrnehmungstechniken der Passagiere eine herausgehobene Stellung zukommt, zeigt sich in den Implementierungen zahlreicher visueller Zeichen­­ und Symbolsysteme in der Subway. Die visuellen Regime der Hinweisschilder, Transitkarten und Reklame strukturieren sowohl die Wahrnehmungen und performativen Praktiken als auch die normativen Subjektposi­tionen der Passagiere. Zunächst zielen sie auf eine funk­tionsgerechte Zirkula­tion der Massen im System ab und versuchen nonkonformes Verhalten, wie Rauchen, Spucken oder Drängeln, zu unterbinden. In den Imperativen der Werbung, wie auch den Aushängen der Betreiber, werden die Passagiere zudem mit konsumistischen Appellen konfrontiert sowie als Patrioten, Steuerzahler oder zu zivilisierende Mitbürger adressiert. Es wird deut­lich, dass die Subjektivierungsinstanzen der Subway weit über den ordnungsgemäßen Umgang mit den Maschinerien des Systems hinausgehen. Sie propagieren zugleich gesamtgesellschaft­liche Normen und Leitideen, zu denen sich die Subjekte verhalten müssen. Dass diese Bestrebungen jedoch alles andere als konfliktfrei ablaufen, zeigt sich an den massiven Protesten und Empörungen, die sich um die Implementierung der Werbetafeln in den Sta­tionen und Waggons entfalten. Diese Empörung lässt sich auch als Widerstand gegenüber den zahlreichen Normierungsbestrebungen der Betreiber lesen, welche die Passagiere nun primär als konformistische und gleichgeschaltete Elemente einer fordistischen Massenkultur adressieren. Das vierte Kapitel widmet sich der Kritik an eben diesen Subjektivierungsinstanzen der Normierung und Vermassung. Hier wird deut­lich, dass sich gerade zum Ende des Maschinenzeitalters in den frühen 1950er Jahren die Stimmen derer mehren, die die einst so euphorisch bejubelten neuen Zirkula­ tionsmaschinen als Instrumente der Entfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung beschreiben. Zwar hatten diese Technologien die Versprechungen neuer Konsumwelten sowie Kommunika­tions- und Mobilitätsreichweiten eingelöst, allerdings blieb die an sie gekoppelte Hoffnung auf ein besseres Leben weitestgehend unerfüllt. Während es nun das Automobil ist, an das sich die Utopien individueller Freiheit und einer neuen Gesellschaftsordnung heften, avancieren die Passagiere der Subway zu emblematischen Verkörperungen der

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Zurichtungen in der modernen Massengesellschaft. Gerade an der Figur des Pendlers entzünden sich die Diagnosen einer entfremdeten Kultur, die ihre Subjekte isolieren, gleichschalten und verbrauchen würde. Auch in den künstlerischen Arbeiten des Schriftstellers E. B. White, der Maler Fortunato Depero und George Tooker sowie des Forografen Walker Evans werden die Passagiere der Subway nun als gleichgeschaltete, fragile und erschöpfte Subjekte porträtiert, die den Anforderungen fordistischer Arbeitsorganisa­tion und den Strapazen des Transits wehrlos ausgeliefert sind. Zudem zeigt sich an den soziolo­gischen Arbeiten David Riesmans zur »einsamen Masse« sowie den Diagnosen C. Wright Mills zu den »munteren Robotern« der Angestelltenkultur, wie die Einschätzungen der damaligen Intellektuellen zu den Subjektordnungen des Fordismus immer pessimistischer werden. Während die Soziologen und Philosophen der damaligen Zeit die Psychopathologien der Masse anklagen, formulieren Techniktheoretiker wie Lewis Mumford oder Sigfried Giedion deut­liche Abrechnungen mit der Maschinisierung aller Lebensbereiche. Gerade Mumford sieht in der Megamaschine der Subway eine neue Qualität der Ausbeutung verwirk­licht, die in ihrer Gefähr­lichkeit den Atombomben von Hiroshima in nichts nachstünde. Doch nicht nur Künstler und Intellektuelle der Zeit unterziehen die New Yorker Subway einer harschen Kritik. Auch die politischen und ökonomischen Eliten sowie die Stadtplaner sehen in ihr mehr und mehr eine veraltete und überteuerte Maschine, deren Instandhaltung kaum mehr lohnt. Und nicht zuletzt sind es die Menschen New Yorks, die nun beginnen, nicht nur die Subway, sondern oftmals auch gleich die Stadt selbst zu verlassen. Infolge ­dieses gewaltigen Exodus und starker Suburbanisierungswellen zeichnet sich in den 1950er Jahren eine zunehmende Erosion der Passagierkultur ab, die spätestens in den 1960er Jahren zu einer Verwahrlosung des Systems wie einer rapide ansteigenden Kriminalitätsrate führt. Wie sich diese Krise in den Augen der Subjekte darstellt, wird im fünften Kapitel anhand von Beschwerdebriefen der Passagiere aus den Jahren z­ wischen 1954 und 1968 rekonstruiert. Dieser außergewöhn­liche Quellenkorpus aus Empörungen, Denunzia­tionen und Bittstellungen sowie ihren Antworten und internen Bewertungen, welcher hier zum ersten Mal bearbeitet wird, erlaubt einen intimen Blick in die Erfahrungswelten der Passagiere wie auch darauf, wie sie ihre Subjektposi­tion in der Kommunika­tion mit den Obrigkeiten entwerfen. Zugleich zeichnen die Quellen ein dramatisches Bild von den zunehmenden Konflikten und Auseinandersetzungen in der Subway, die oftmals entlang der Kategorien von Geschlecht, Klasse, Alter und Hautfarbe verlaufen. So berichten die Autorinnen und Autoren von ihren Ängsten und Gewalterfahrungen, fordern die Exklusion spezifischer Passagiergruppen oder skandalisieren den um sich

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greifenden Vandalismus wie den Niedergang des Systems. Auch finden sich im Zuge der Militarisierung des Systems vor allem ab den 1960er Jahren mehr und mehr Anklagen polizei­licher Willkür und Brutalität. Somit begegnen uns die Passagiere in diesen Briefen unter anderem als fragile und verängstigte Subjekte, empörte Denunzianten oder besorgte Eltern. Indem die Behörden die Briefe und ihre Verfasser einer ausführ­lichen Überprüfung unterziehen, werden in den Beschwerderegimen auch die Aushandlungsprozesse z­ wischen den Dispositiven der Macht und den Passagieren sichtbar. Die Rekonstruk­tion dieser Momente, wie auch der Listen und Finten, mit denen sich die Verfasser dem Zugriff der Administra­tion zu entziehen versuchen, zeigen, dass die Prozesse der Subjektivierung zugleich Momente der Unterwerfung wie der Selbstermächtigung beinhalten. In der inhärenten Ambivalenz der Beschwerde ­zwischen Kritik und gleichzeitiger Anerkennung der Macht wird einerseits deut­lich, wie diese Regime an der Aufrechterhaltung sozia­ler Ordnung partizipieren. Indem die Passagiere an die Macht appellieren, die Legitimität der Obrigkeiten in Zweifel ziehen und die Anerkennung ihrer Subjektposi­tion einfordern, wird andererseits auch das transformative wie emanzipative Potenzial dieser Instrumente sichtbar. Im Dezember des Jahres 1968 reißt die Archivierung der Briefe ab, im gleichen Jahr, das die Konsolidierung aller New Yorker Transitsysteme unter dem Dach der Metropolitan Transporta­tion Authority markiert. Dies heißt jedoch nicht, dass die Krise und Erosion der Passagierkultur damit beendet war. So gibt der Schlussteil der Untersuchung einen ­kurzen Ausblick auf die weitere Entwicklung des Systems wie auch auf die Emergenz neuer Subjektformen des Passagiers, die sich vor allem ab den 1980ern deut­lich abzeichnen und infolge der Anschläge des 11. Septembers 2001 nocheimal forciert werden. In einer abschließenden Diskussion werden zudem noch einmal die Momente der Containerisierung wie auch des Autonomiebegehrens herausgestellt, welches sich als verbindendes Motiv in den Subjektivierungsprozessen der New Yorker Passagiere im 20. Jahrhundert erweist. Beginnen soll die Untersuchung jedoch in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts und mit den sich in dieser Zeit formierenden Imagina­tionen und Antizipa­tionen der damals noch utopischen Subjektform der zukünftigen Benutzer der Subway. Wenn Michel Foucault die Entfaltung eines neuen Dispositivs dadurch begründet sieht, dass es »zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funk­tion hat, einer dringenden Anforderung nachzukommen«82, gilt dies auch für die Implementierung der sozio-­technischen Dispositive der New Yorker Subway. Es gilt zu klären, welche Erfordernisse und Anforderungen dies 82 Foucault: »Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch)«, S. 392.

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genau waren. Welche Krisen die Einführung einer solch gewaltigen und teuren Infrastruktur unabdingbar machten. Und welche Subjektformen und -ordnungen durch ­dieses Dispositiv transformiert und hervorgebracht wurden. Die Beantwortung dieser Fragen erfordert die Rekonstruk­tion der Prozesse und Diskurse, die zur Forderung und letzt­lichen Realisierung eines unterirdischen Transitsystems für New York führten. Wie wurde in diesen Dynamiken der zukünftige Passagier ­dieses Systems antizipiert und diskursiv erzeugt? Oder kürzer: Was war der Passagier, bevor er in die Welt kam?

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KAPITEL I. UTOPIEN DES PASSAGIERS New Yorkers will never go into a hole in the ground to ride.1 Russell Sage (1900) The Subway […] will give them more time, more ease. It will carry them to better and cheaper and healthier homes. It will change their very lives.2 John McDonald (1904)

Im New York des späten 19. Jahrhunderts sind nicht nur die technischen Modalitäten und möglichen Finanzierungsmodelle der kommenden Untergrundbahn Gegenstand intensiver Debatten in Politik, Wirtschaft und der breiten Öffentlichkeit. Ein wesentliches Moment dieser Diskurse ist auch die Frage nach den Auswirkungen dieser Maschine auf ihre künftigen Nutzer. So bilden sich im Zuge der Propagierung der Subway als universelle Antwort auf die Krisen der Stadt diskursive Formationen, die den damals noch utopischen Passagiersubjekten bereits konkrete Eigenschaften zuschreiben. Die Idee des Passagiers formiert sich aus einem zunehmenden Bewusstsein für die Krisenhaftigkeit der bestehenden sozialen, ökonomischen und politischen Ordnungsmodelle der Stadt. Zeitgleich erscheint der Passagier in den Diskursen über die neuen Erkenntnissen der Wissenschaften sowie die neuen Paradigmen sozialer Organisation und Regierung. Indem sich in diesen Antizipationen zahlreiche Hoffnungen auf eine neue Form urbaner Gesellschaft verdichten, fungiert der kommende Subwaypassagier als Gegenbild zu den als prekär und gefährlich empfundenen Subjektformen der Passanten, Slumbewohner sowie der frühen Passagiere der Pferdeomnibusse und Hochbahnen. In dem Maße, in dem diese stigmatisiert und pathologisiert werden, erscheint er als Erlöserfigur, der die Krisen und Stagnationen der Stadt überwinden soll. 1 Zitiert in: Allen, Irving L.: City In Slang: New York Life and Popular Speech, Oxford University Press 1995, S. 93. 2 John B. McDonald, ›The Man that Built the Subway‹ interviewed by Kate Carew, New York World, October 23, 1904. Zitiert in: Brooks, Michael: Subway City. Riding the Trains, Reading New York, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1997, S. 64.

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Grundlegend für diese Codierungen ist eine spezifische Idee von Zirkula­tion, die sich in den Ideologien der Hygiene ebenso wiederfindet wie in den Bereichen der Ökonomie oder den Strategien urbaner Gouvernementalität. In den Bestrebungen der urbanen Eliten, die Heilsversprechen geregelter Zirkula­tion in der breiten Bevölkerung zu verankern, ist deren Transforma­tion in Passagiere ein entscheidendes Moment. Indem die Vorstellung einer gigantischen Zirkula­ tionsmaschine unter der Erde Teil der Imagina­tionen der Stadtbevölkerung wird, erscheint auch der Passagier als kollektives Wunschbild, dessen Realisierung letzt­lich sehn­lichst erwartet wurde. Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, dass sich in der Idee einer kommenden urbanen Gemeinschaft der Passagiere eine Vielzahl von Momenten verkoppeln. Dies betrifft Fragen urbaner Ordnung, Zivilisierung und Kontrolle sowie Debatten über medizinische und s­ ozia­le Hygiene und die Idee von Infrastrukturen als Instrumente sozia­ler Steuerung. All diesen Momenten liegt die ­gleiche Krisendiagnose zugrunde: das Problem der Überfüllung, Stagna­tion und mangelnden Zirkula­tion. Dementgegen wird der Passagier als ein Subjekt antizipiert, der das Versprechen birgt, als Heros der Zirkula­tion eine neue Ära der Stadt einzuläuten. Damit wird er zu einer Schlüsselfigur, welche die Hoffnungen und Visionen der Unternehmer, sozia­len Reformer und politischen Eliten gleichermaßen bevölkert. Um die Prozesse der diskursiven Formierung des Passagiers in ihrer Komplexität darstellen zu können, erstreckt sich der Analysezeitraum d ­ ieses Kapitels von etwa 1860 bis zum Eröffnungstag der Subway am 27. Oktober 1904. Dabei konnten spätestens seit der Eröffnung der Londoner Untergrundbahn im Jahre 1863 die Forderungen nach einem neuen innerurbanen Transitsystem für New York nicht mehr überhört werden. Im Jahre 1866 erklärte eine vom Senat eingesetzte Untersuchungskommission ihren Bau als absolut unverzichtbar für das weitere Wachstum der Stadt.3 Dies führte zur Bildung erster Planungsgremien und Projektentwürfe, die aber immer wieder durch interne Konflikte und politische Turbulenzen ins Stocken gebracht wurden. Mehr als vier Jahrzehnte ­später bildet der Eröffnungstag der Subway ein Schlüsselereignis in der Metamorphose New Yorks zu einer Stadt der Passagiere. Vor allem für die Investoren, Politiker und Betreiber stellte ihre Inbetriebnahme einen riskanten Moment dar. Bereits seit den ersten Vorschlägen eines unterirdischen Transitsystems sahen sie sich starken Widerständen und Zweifeln hinsicht­lich des Erfolgs einer solchen Apparatur ausgesetzt. An ­diesem Tag sollte sich nun zeigen, ob die enormen Anstrengungen in der Popularisierung der Subway wirk­lich von Erfolg gekrönt sein würden. Es ist der Augenblick, wo 3 Vgl. Walker, James Blaine: Fifty Years of Rapid Transit, 1864 – 1917, North Stratford, New Hampshire: Ayer Publishing 1918, S. 66.

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die diskursiven Imagina­tionen und Prognostiken des idealtypischen Passagiers auf die tatsäch­lichen Erfahrungen der Menschen im System treffen. Auch in den Augen der Zeitgenossen markiert die Eröffnung einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte New Yorks und ihrer Bewohner. Die Ankunft der Subway wird als Epochenwende wahrgenommen, die die Gestalt der Stadt wie auch die Alltagspraktiken der Menschen für immer verändern wird. Für die Frage danach, wie der Subwaypassagier in die Welt kam, erscheint es demzufolge besonders lohnend, die zum Teil spektakulären und turbulenten Vorkommnisse des Eröffnungstages genauer zu betrachten. Dabei handelt es sich im engeren Sinne nur um wenige Stunden ­zwischen dem Beginn der Eröffnungszeremonie um 12 Uhr mittags und der Heimkehr der letzten erschöpften und überwältigten Passagiere weit nach Mitternacht. Um die Tragweite ­dieses Ereignisses und ihre Wirkungsmacht für die Menschen der Stadt deut­lich machen zu können, ist es allerdings erforder­lich, die Geschehnisse zu kontextualisieren und einige historische Entwicklungen aufzuzeigen, die d ­ iesem Moment vorausgehen. Demzufolge werden im Folgenden auch immer wieder rückblickend die Diskurse und Prozesse aufgezeigt, welche zur Realisierung des größten innerurbanen Transitsystems des 20. Jahrhunderts führten. Sie beginnen mit einem außergewöhn­lichen ökonomischen Boom sowie einem ungeahnten Bevölkerungswachstum, das bereits in den 1820er Jahren einsetzte und sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem gravierenden Problem wandeln sollte.4 Begonnen werden soll die Analyse jedoch mit dem ersten Ereignis des Eröffnungstags, an dem die immensen Hoffnungen der Menschen New Yorks im Hinblick auf die Subway zum Ausdruck kommen.

1. Eröffnungsfieber Am Morgen des 27. Oktober 1904 präsentierte sich das Rathaus New Yorks in geradezu überbordender Fest­lichkeit.5 An jedem Fenster und Balkon wehten Na­tionalflaggen und Banner, welche die zahllosen Gäste und Schaulustigen begrüßten, die dem epochalen Ereignis der Eröffnungszeremonie beiwohnen wollten. Bald gab es ein solches Gedränge, dass man den Ansturm auf den Ehrensaal kaum kontrollieren konnte. Ordnungskräfte bildeten Barrieren und panisch herumeilende Platzanweiser versuchten der Lage Herr zu werden. Jedoch 4 Vgl. Hood, Clifton: »The Impact of the IRT on New York City«, Historical American Engineering Record: Interborough Rapid Transit Subway (Original Line) NY-122, New York City 1979, S. 145 – 206, hier S. 36. 5 [Anonym]: »Exercises in City Hall«, The New York Times (28. Oktober 1904).

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Abb. 3: Die Eröffnungszeremonie des Subwaysystems im Rathaus New Yorks am 27. Oktober 1904.

fanden auch zahlreiche Menschen mit Einladungen keinen Einlass und mussten draußen warten. In den heillos überfüllten Saal trat nun unter tosendem Applaus die Ehrendelegation, angeführt vom Bürgermeister der Stadt, George Brinton McClellan (1865 – 1940)(Abb. 3).6 Eröffnet wurde die Feierstunde mit einem Gebet des Erzbischofs von New York, David H. Greer. Er segnete die neue Infrastruktur und beschwor ihre Kräfte, die Stadt und deren Bewohner zu moralischer, ökonomischer und spiritueller Prosperität zu führen. Zudem versicherte der Erzbischof eindringlich, dass diese neue Maschine nichts weniger als gottgerecht sei. Auf die religiösen Weihen und ein kollektives Gebet für die Sicherheit der Passagiere folgten kurze Reden der zahlreichen wichtigen Akteure in der Realisierung der Subway. Neben dem Chefingenieur William Parsons, dem Finanzier August Belmont oder dem Präsidenten des Board of Rapid Transit Commissioners, Alexander E. Orr, betonte auch der Generalunternehmer John B. McDonald die schier übermenschlichen Kraftanstrengungen aller Beteiligten in der Realisierung dieser gigantischen Infrastruktur. Abgesehen von den Ingenieuren, Finanziers und Arbeitern galt dies vor allem für die Bewohner New 6 Vgl. Wesser, Robert F.: »McClellan, George Brinton«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 704.

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Yorks, welche die Strapazen der Konstruk­tion mit außergewöhn­licher Würde und Gleichmut überstanden hätten. Nun aber, so MacDonald, würden sie durch ihre neue Existenz als Passagiere reich­lich dafür belohnt werden: To the citizens of New York, the men who have borne almost without complaint the inconvenience which the construc­tion of the Subway has necessitated, all praise is due. I scarcely believe that their patience and forbearance have been or will be equaled elsewhere, but I trust that the result will amply repay you all.7

Schließ­lich ergriff der Bürgermeister selbst das Wort vor den dicht gedrängten Ehrengästen. In seiner Ansprache stellte auch er die epochale Bedeutung des Systems für die New Yorker und ihre Stadt heraus. So markiert die Einweihung der Subway einen epochalen Moment auf dem Weg zur materiellen und ideellen Einheit der Stadt. In blumigen Worten beschwor McClellan, dass die neue territoriale Einheit New Yorks, erst acht Jahre vorher aus dem Zusammenschluss der Stadtteile Manhattan, Brooklyn, Queens, der Bronx und Staten Island gebildet, nun zu einer ungekannten Harmonie und Verbundenheit ihrer Bewohner finden würde. Auch wenn der bislang fertiggestellte Abschnitt erst 28 Sta­tionen umfasste und auf einer einzigen Strecke über knapp 15 Kilometer von der City Hall bis hinauf zur 145. Straße in die Bronx führte, arbeitete man bereits fieberhaft an der Erweiterung des Systems.8 Der Bürgermeister prophezeite nicht nur ein rasantes Wachstum der Subway in den nächsten Jahren, er beteuerte zudem, dass es eines Tages auch alle Stadtteile umfassen würde. Dies würde dazu führen, dass die New Yorker schlicht vergessen würden, von welchem Teil der Stadt sie kämen. Stattdessen würden sie gewahr werden, dass sie alle Sprösslinge der mächtigsten Metropolis in der Geschichte der Menschheit ­seien, untrennbar verbunden in gemeinsamer Hoffnung und geteiltem Schicksal. Die Verwandlung der New Yorker in eine Stadtgesellschaft von Passagieren war somit nichts weniger als ihre historische Bestimmung.9 Hier wird deut­lich, wie stark die Codierung der Subway als Insignie eines utopischen Versprechens von Fortschritt und Prosperität damals noch ist. Sie sollte es erlauben, die Menschen zu einer neuen Stufe ihrer vorbestimmten Entwicklung zu führen. Dabei kommt es nicht von ungefähr, dass der Aspekt des historischen Schicksals in der Rede des Bürgermeisters so deut­lich betont wird. Diese Semantik ist Ausdruck einer im späten 19. Jahrhundert 7 [Anonym]: »Exercises in City Hall«. 8 Vgl. ausführ­licher: Walker: Fifty Years of Rapid Transit, 1864 – 1917, S. 176 ff. 9 [Anonym]: »Exercises in City Hall«.

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allgegenwärtigen Ideologie des Fortschritts, in der technische Innova­tion und ­sozia­le Transforma­tion eng miteinander verwoben werden.10 Trotz des Bemühens der Eliten, die Subway als fortschritt­lich und sicher zu propagieren, ist ihr Erscheinen nicht ohne Widersprüche, wie im Fortlauf der Untersuchung immer wieder deut­lich werden wird. Wie die meisten großtechnischen Systeme mobilisiert sie nicht nur Faszina­tion und Euphorie, sondern weckt auch Ängste und Misstrauen. So betonte der Investor August Belmont, als er dem Bürgermeister nach den stehenden Ova­tionen für dessen prophetische Worte McClellans einen eigens von Juwelier Tiffany angefertigten gravierten Motorenschlüssel aus reinem Silber überreichte: »I give you this controller, Mr. Mayor, with the request that you put in opera­tion this great road, and start it on its course of success and, I hope, of safety.«11 Nach einer erneuten Segnung der Subway durch den Erzbischof erklärte man nun unter dem Jubel und Applaus der Gäste die Subway für offiziell eröffnet. Die Pathosformeln des Fortschritts und des historischen Schicksals wie auch die Beteuerungen der Sicherheit, die in der Zeremonie der Eröffnung immer wieder mobilisiert werden, müssen als Ausdruck eines Krisendiskurses verstanden werden, der spätestens in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zu einer breiten gesellschaft­lichen Debatte wird. Er betrifft im Besonderen beständig wachsende Überfüllung sowie die mangelnde Zirkula­tion in der damals am rasantesten wachsenden Metropole der Welt.12 Wenn sich in ihrer Folge das Alltagsleben für die Bewohner New Yorks mehr und mehr als ein »modernes Martyrium«13 darstellt, zeigt sich dies nicht zuletzt an den zunehmenden krisenhaften Subjektformen der Passanten, Flaneure sowie der frühen Passagiere der Omnibusse und Hochbahnen. 10 Vgl. dazu ausführ­licher: Kaika, Maria und Swyngedouw, Erik: »Fetishizing the Modern City: The Phantasmagoria of Urban Technological Networks«, Interna­tional Journal of Urban and Regional Research 24/1 (2000), S. 120 – 138 sowie die umfassenden Studien von: Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt: eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: C. H. Beck 2009; Kern, Stephen: The Culture of Time and Space, 1880 – 1918, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2003; Hughes, Thomas P.: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, München: C. H. Beck 1991. 11 [Anonym]: »Exercises in City Hall«. 12 Vgl. Cudahy, Brian J.: Under the Sidewalks of New York: the Story of the greatest Subway System in the World, New York: Fordham University Press 1995, S. 2 f. 13 So die Überschrift eines Artikels zu den Strapazen des Transits aus der Herald Tribune des Jahres 1864. Siehe: [Anonym]: »Modern Martyrdom«, New York Herald (2. Oktober 1864). Zitiert aus: Walker: Fifty Years of Rapid Transit, 1864 – 1917, S. 7.

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2. »Moderne Martyrien« Um 1800 war New York noch eine weitgehend unbedeutende Stadt mit einem relativ geringen Handels- und Produk­tionsaufkommen. Während Metropolen wie London und Tokio in dieser Zeit die Millionenmarke durchstießen, zählte New York weniger als 80.000 Einwohner.14 Auch andere amerikanische Städte, wie Philadelphia und Boston, waren nicht nur größer sondern auch ökonomisch und kulturell dominanter. Mit der Expansion des New Yorker Hafens sollte sich dies jedoch schnell ändern. In den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts begann der Aufstieg der Stadt zu einer der führenden Metropolen der Welt. Durch den starken Zustrom von Migranten, vor allem aus Europa und dem amerikanischen Süden, welche in den Docks und Manufakturen Arbeit suchten, wuchs die Bevölkerung der Stadt Jahr für Jahr in bislang ungekannter Geschwindigkeit. Ihre Zahl verdoppelte sich von 1820 bis 1840, noch einmal von 1840 bis 1860 und ein drittes Mal von 1860 bis 1880.15 Mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts sollte New York mit nahezu 3,5 Millionen Menschen die zweitgrößte Metropole des Planeten sein.16 Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnete sich jedoch ein Problem ab, das im Zuge der gewaltigen Bevölkerungsexplosion in den kommenden Jahrzehnten immer virulenter wurde: die besondere geographische Forma­tion Manhattans als zwar lange, aber schmale Insel. Umströmt von den gewaltigen Flüssen des Hudson und des East Rivers bot sie zwar ideale Bedingungen als Handelsposten und Hafen, ihre natür­liche Struktur war jedoch denkbar ungeeignet für solch einen starken Zustrom von Menschen. Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts wurde deut­lich, dass die knappe Landmasse des süd­lichen Manhattan an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit geriet. Die einzige Mög­ lichkeit der Expansion war gen Norden, wo bereits seit der Einführung eines 14 Diese und die folgenden Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung New Yorks sind entnommen aus: Kantrowitz, Nathan: »Popula­tion«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S.  920 – 923. 15 Einen guten Überblick über die gewaltigen Migra­tionswellen dieser Zeit geben: Groneman, Carol und Reimers, David M.: »Immigra­tion«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 581 – 589. Vgl. ausführ­licher: Ernst, Robert: Immigrant Life in New York City: 1825 – 1863, Syracuse, NY: Syracuse University Press 1994. 16 Bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts meinte New York jedoch nicht die fünf Stadtteile Manhattan, Bronx, Queens, Brooklyn und Staten Island, sondern beschränkte sich allein auf die Insel Manhattan. Erst mit der Annexion von Teilen der Bronx im Jahre 1874 und der Vereinigung der vormals unabhängigen Stadtteile zur Stadt New York im Jahre 1898 entstand die Form der Stadt, wie wir sie heute kennen.

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Straßenrasters (des sogenannten grids) im Jahre 1811 die Siedlungsstruktur vorgezeichnet war.17 Durch die schwere Erreichbarkeit und die große Entfernung zu den kommerziellen Zentren an der Südspitze Manhattans war es aber für den privat-­kapitalistischen Immobilienmarkt kaum attraktiv, diese Gegenden zu erschließen.18 Dies hatte zur Folge, dass sich um 1900 mehr als 1,4 Millionen New Yorker im Süden der Insel auf engstem Raum zusammendrängten, unter selbst für die damaligen Verhältnisse katastrophalen Lebensbedingungen.19 Glaubt man den Schätzungen der Historiker, lebten in den Quartieren der Lower East Side um 1900 mehr Menschen auf engstem Raum zusammen als jemals zuvor in der Siedlungsgeschichte.20 Auch die Expansion der Fabriken und Warenhäuser und die zusätz­liche räum­liche Verdichtung durch den Bau der ersten Wolkenkratzer für Banken und Versicherungen führte zu einer nicht mehr zu bewältigenden Konzentra­tion von Menschen und Waren. Damit wird nicht nur die Überfüllung der Mietskasernen zu einem Problem, auch die Mobilität der Menschen in den beengten Straßen erscheint als zunehmend krisenhaft. Diese Krise wird besonders an der zunehmenden Prekarisierung und Stigmatisierung der Subjektformen der Passanten und frühen Passagiere deut­lich. Wenn diese Mobilitätspraktiken von den Zeitgenossen als zunehmend rückständig, unzivilisiert, gefähr­lich und unhygienisch beschrieben werden, dann nicht zuletzt aufgrund der ihnen unterstellten ökonomischen, sozia­len und phy­ sischen Stagna­tion. So war bis zum Ende des neunzehnten Jahrhundert New York im Wesent­lichen eine Stadt der Passanten. Zwar etablierten sich bereits früh erste Netzwerke von Kutschen und Omnibussen, da sich der Großteil der Bevölkerung jedoch keine Tickets oder gar Pferde leisten konnte und den Weg zu Arbeitsstätten zu Fuß bewältigen musste, konzentrierte sich die Lebenswelt der Stadtbewohner im Wesent­lichen auf einen Radius von ca. drei Kilometern – in etwa die Entfernung, die man in 30 Minuten fußläufig erreichen konnte. Angesichts der massiven Verstopfung der Verkehrswege, in der die Passanten mit unzähligen Lastkutschen, Fuhrwerken und Omnibussen um den knappen Platz konkurrierten, war dies jedoch eine strapaziöse und nicht ungefähr­liche Angelegenheit. Das Chaos und die mangelnde Zirkula­tion in den Straßen sind dabei nicht nur auf ihre Überfüllung zurückzuführen, sondern 17 Vgl. Spann, Edward K.: »Grid Plan«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 510. 18 Vgl. Brooks: Subway City, S. 8. 19 Damit war um 1900 die Einwohnerzahl New Yorks bereits beinahe genauso groß wie die gesamte Bevölkerung aller nordamerikanischen Städte um 1850. Vgl. Boyer, Paul S.: Urban Masses and Moral Order in America, 1820 – 1920, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1992, S. 123. 20 Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. 2.

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auch auf ein fehlendes Regulativ, das die Fließrichtungen des Verkehrs rhythmisierte und kanalisierte. Eine der zentralen verkehrslogistischen Neuerungen des 20. Jahrhunderts, die Separierung der Fahrrichtungen und die Schaffung zweier entgegengesetzter Verkehrsströme, war zu dieser Zeit noch völlig unbekannt. Dies galt ebenso für andere Steuerungselemente kontrollierter Zirkula­tion, wie Ampeln oder Zebrastreifen.21 Für die Passanten, die sich mühsam einen Weg durch das Chaos schlagen mussten, bedeutete dies massive Anstrengungen und Gefahren. Die Krise der Passantenstadt, die nicht nur in New York, sondern in den expandierenden Metropolen Amerikas und Europas allgemein zutage tritt, kristallisiert sich auch in den Beschreibungen der Figur des Flaneurs, dessen Praktiken und Wahrnehmungsformen angesichts der Transforma­tionen der modernen Metropolen zusehends verunmög­licht werden. Das Ende der Flanerie Der ­sozia­le Typus des Flaneurs, jenes müßiggängerischen Gentlemans, der allein durch die Straßen wandert und sich den Eindrücken der Stadt und ihrer Bewohner hingibt, wird von Walter Benjamin bekanntermaßen als eine Subjektform beschrieben, die im Paris der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts bereits im Verschwinden begriffen ist. Er erscheint stattdessen mehr und mehr als das Relikt einer Zeit, in der die Prozesse der Beschleunigung und Umgestaltungen der Städte noch nicht zur vollen Entfaltung gelangt waren.22 Wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Dana Brand gezeigt hat, lässt sich die Subjektform des Flaneurs nicht nur in den Metropolen Europas, wie Berlin, Paris oder London, verorten.23 Auch in den Großstädten Nordamerikas, allen voran New York, lassen sich literarische Zeugnisse der Flanerie finden, wie beispielsweise in den Schriften Walt Whitmans (1819 – 1892). Allerdings vergleicht Whitman bereits im Jahre 1860 in seinem Gedicht A Broadway Pageant die Menschenmassen auf den 21 Dazu sowie zur Genese der Regularien und Zirkula­tionsmodalitäten des Straßenverkehrs in den USA vgl. ausführ­licher: McShane, Clay: Down the Asphalt Path: The Automobile and the American City, New York: Columbia University Press 1995, vor allem S. 173 ff. 22 Benjamin, Walter: »Der Flaneur«, Aura und Reflexion: Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 269 – 299, hier S. 287. 23 Brand betont: »The natural suitability of the flaneur to the culture of New York was evident in a degree to which he was associated with and easily assimilated into the culture of spectacle that was as prominent in New York as it was in any city of Europe.« Brand, Dana: The Spectator and the City in Nineteenth-­Century American Literature, Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 74.

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Straßen New Yorks mit Regimentern von Soldaten, die gewalttätig ineinander stürzen und nichts als Verwüstung und Chaos hinterlassen.24 Waren die Flaneure ohnehin immer schon eine marginalisierte Gruppe männ­licher Stadtbewohner, so erscheinen ihre Praktiken nun nicht nur angesichts der massiven Überfüllungen des urbanen Raums als bedroht. Die ab 1850 allerorten diagnostizierte Krisenhaftigkeit des Flanierens ist noch einem weiteren Aspekt geschuldet. So resultiert ihr Verschwinden auch in der zunehmenden Stigmatisierung und Bekämpfung des Müßiggangs, die spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Moment großstädtischer Gouver­nementalität wird.25 Besonders deut­lich wird dies in der Stilisierung des Flaneurs als Bohemien oder Dandy, der sich ziellos von der Menge treiben lässt. An diese Subjektformen koppeln sich vermehrt diskursive Zuschreibungen, die den Flaneur als mora­lisch zweifelhaft und potenziell gefähr­lich attribuieren.26 Je mehr der Flaneur als ein Subjekt codiert wird, dass sich der kapitalistischen Verwertungslogik und der bürger­lichen Werteordnung verweigert, desto suspekter und parasitärer erscheint er. Benjamin zufolge führt zudem die zunehmende Ökonomisierung der urbanen Lebenswelten zu einem erhöhten Druck, die Arbeitskraft der Flaneure dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Die sich ausbreitende Warenförmigkeit des öffent­lichen Raums wie auch der sozia­len Beziehungen ziehen die ehemaligen Müßiggänger und Bohemiens nun selbst in die Kreisläufe der Verwertung hinein.27 Diese Prozesse der Ökonomisierung und Stigmatisierung ereilt jedoch nicht nur die Flaneure. Ein ganz ähn­liches Schicksal wiederfährt auch einer Vielzahl anderer urbaner Subjektformen des 19. Jahrhunderts, wie den Hobos, Straßenjungen, Eckenstehern und anderen Angehörigen der sogenannten »Street Corner Societies« in den Metropolen.28

24 Siehe: Whitman, Walt: »A Broadway Pageant«, Leaves of Grass, New York: William E. Chapin Printers 1867, S. 193. 25 Vgl. Buck-­Morss, Susan: »The Flaneur, the Sandwichman and the Whore: The Politics of Loitering«, New German Critique 39 (1986), S. 99 – 140. Zu Benjamins Passgenwerk siehe auch die sehr erhellende Studie: Buck-­Morss, Susan: The Dialectics of Seeing: Walter Benjamin and the Arcades Project, Cambridge, Mass.: The MIT Press 1991. 26 Zur Bekämpfung des Müßiggangs in der Subway siehe auch Kapitel V. 3. 27 Dies führt laut Benjamin dazu, dass er sich in der Nähe der Prostitu­tion verorten muss: »Er schlägt sich auf die Seite der Asozia­len. Seine einzige Geschlechtsgemeinschaft realisiert er mit einer Hure.« Benjamin, Walter: »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: Das Passagenwerk, Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 54. 28 Vgl. Whyte, William Foote: Die Street Corner Society: Die Sozia­lstruktur eines Italie­ nerviertels, Berlin und New York: de Gruyter 1996.

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In den Zeugnissen und Diagnosen der Krise verschiedenster urbaner Subjektkulturen, allen voran der Flanerie, wird die allgemeine Krise der Passsantenstadt offenkundig. Sie manifestiert sich zudem in den Neucodierungen der Straßen New Yorks als bedroh­liche und hygienisch fragwürdige Territorien, die es zu meiden gilt. Deut­lich wird dies in den unzähligen Berichten, die die die Benutzung der Straßen angesichts der Fülle an Passanten, Kutschen, Omnibussen und Lastpferdewagen als lebensgefähr­liche Unternehmung beschreiben. So notiert beispielsweise der Kolumnist Asa Green bereits 1837 in einem Text mit dem bezeichnenden Titel Traffic, Dirt and Cholera: To perform the feat with any degree of safety, you must button your coat tight about you, see that your shoes are secure at the heels, settle your hat firmly on your head, look up street and down street, at the self-­same moment, to see what carts and carriages are upon you, and then run for your life.29

Omnibusse und Pferdewagen In der massiven Überfüllung und dem Chaos der Straßen boten auch die sich ab ca. 1830 rasant entwickelnden Transitsysteme der pferdegezogenen Trams und Omnibusse keine Entlastung.30 Bereits im Jahre 1832 weihte man in New York die weltweit erste pferdegezogene Eisenbahn ein. Mit einfachen Holzwaggons, einem Fassungsvermögen von jeweils 12 bis 15 Passagieren und auf in den Boden eingelassenen Eisenschienen fahrend, sollte diese Technologie unter dem Namen Tram (in Europa) und Streetcar (in den USA ) einen Siegeszug um die Metropolen der Welt antreten. Ihr damals erst 23 Jahre alter Erfinder, John Stephenson, baute bis zu seinem Tod mehr als 25.000 dieser Vehikel und exportierte sie in die ganze Welt, wie u. a. nach Frankreich, Neuseeland oder Indien. Zur gleichen Zeit machten die pferdegezogenen Omnibusse auf den Straßen New Yorks Furore. Obwohl langsamer und weniger komfortabel als die Railways, sollten die behäbigen Kutschen in den kommenden Jahrzehnten massenhafte Verbreitung finden und der Stadt New York den Ruf der »City of Omnibusses« einbringen. Doch nicht nur in New York, sondern in allen größeren amerikanischen Städten von Boston bis New Orleans sollten die Omnibusse das Straßenbild radikal 29 Greene, Asa: A Glance at New York, New York: Craighead & Allen 1837, S. 5. Zitiert in: Hood, Clifton: 722 Miles. The Building of the Subways and How they transformed New York, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2004, S. 41. 30 Vgl. ausführ­licher: Hood: 722 Miles, S. 37 f.

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verändern. Ihr Erfolg basierte auf einer Bewegung entlang fester Routen, mit regelmäßigen Haltepunkten und einem Fahrplan, sodass ihre Nutzung ein verläss­liches Element im Alltag der Stadt darstellte. Sie erlaubte auch die Expansion der Städte und die Entstehung neuer Quartiere an den weniger überfüllten Rändern der Städte, wenn auch nur im begrenzten Rahmen und für wenige Teile der Bevölkerung, die sich sowohl diese Immobilien als auch die Nutzung der Transitsysteme leisten konnten und bereit waren die mehrstündigen strapaziösen Reisen aus sich zu nehmen. Dank der Omnibusse konnte sich New York bereits vor der Eröffnung der Subway rühmen, über das weltweit größte Angebot innerurbanen Transits zu verfügen. Die Art und Weise seiner Organisa­tion erschien jedoch bereits den damaligen Menschen als rückschritt­lich.31 Schnell war deut­lich, dass das wuchernde Durcheinander aus Pferdeomnibussen, Cable Cars und Trams das Verkehrschaos eher verstärkte als dass es zu seiner Entlastung beitrug. Die Gründe hierfür waren durchaus vielfältig. Ein zentrales Problem war, dass eine Vielzahl von Anbietern mit zum Teil nur einer Linie um Kunden buhlten und sich so die Strecken in den dicht besiedelten Teilen der Stadt konzentrierten.32 Die Vororte Harlems oder der Bronx waren jedoch sehr schlecht erreichbar, sodass die erhoffte Reduzierung der städtischen Dichte ausblieb. Auch führte die Überfüllung der Straßen zu permanenten Staus, die den vermeint­lichen Geschwindigkeitsvorteil wieder zum Verschwinden brachten. Zudem war diese Form des Transits in den Augen der Zeitgenossen alles andere als ungefähr­lich und komfortabel. Die chaotischen Zustände und der Mangel an Regula­tion auf den Straßen führten zu permanenten Unfällen und Kollisionen, bei denen oftmals Passagiere zu Schaden kamen. Auch waren Diebstähle, Schlägereien und Übergriffe auf die Fahrgäste an der Tagesordnung.33 Entscheidend war aber, dass sie aufgrund des hohen Fahrpreises von 31 Wie Hood minutiös nachrechnet, gab es bereits 94 Meilen an Elevated Railways, wie auch 265 Meilen an Schienen für die pferdegezogenen Trams und 137 Meilen Streckennetz für die Pferdeomnibusse. (Es gab sogar eine kabelbetriebene Bahn, die Pendler über die neuerrichtete Brooklyn Bridge transportierte.) Zudem konkurrierten bereits 1860 vierzehn Pferdetrambetreiber um die jähr­lich mehr als 38 Millionen Passagiere. Dazu kamen 21 Pferdeomnibuslinien mit zusammen 671 Fahrzeugen, die es auf jeweils 10 Touren Up- und Downtown täg­lich brachten. Ebd. 32 Vgl. Rose, Mark H. und Seyfried, Vincent: »Streetcars«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 1127 – 1128. 33 Vgl. Holt, Glen E: »The Changing Percep­tion of Urban Pathology: An Essay on the Development of Mass Transit in the United States«, in: Kenneth T. Jackson und Stanley K. Schultz (Hrsg.): Cities in American History, New York: Alfred A. Knopf, Inc. 1972, S. 324 – 343.

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fünf Cent für die Omnibusse und zehn Cent für die Pferdebahnwagen für die meisten Menschen der Stadt unerschwing­lich waren. Der Kreis derjenigen, die in den pferdegezogenen Holzwaggons erste urbane Passagiererfahrungen machen konnten, beschränkte sich auf die New Yorker der mittleren und oberen Klassen. Die breite Masse der Arbeiter und Immigranten blieb von ihrer Nutzung jedoch ausgeschlossen. Glaubt man den Berichten der damaligen Passagiere, traten die Erfahrungen der Beengung und Stagna­tion, ­welchen die Passanten auf den Straßen ausgesetzt waren, in den Waggons der Omnibusse und Pferdebahnwagen noch potenziert zutage. Im Laufe des 19. Jahrhunderts lassen sich unzählige eindring­liche Zeugnisse der Strapazen und Zumutungen in diesen Vehikeln finden. Besonders drastisch schildert dies ein Journalist des New York Herald im Jahre 1864: People are packed into them like sardines in a box, with perspira­tion for oil. The seats being more than filled, the passengers are placed in rows down the middle, where they hang on by the straps, like smoked hams in a corner grocery. To enter or exit is exceedingly difficult. Silks and broadcloth are ruined in the attempt. As in the omnibuses pickpockets take advantage of the confusion to ply their voca­tion. Handkerchiefs, pocketbooks, watches and breastpins disappear most mysteriously. The foul, close, heated air is poisonous. A healthy person cannot ride a dozen blocks without a headache. For these reasons most ladies and gentlemen prefer to ride in the stages, which cannot be crowded so outrageously, and which are pretty decently ventilated by the cracks in the window frames. The omnibus fare is nearly double the car fare, however, and so the majority of the people are compelled to ride in the cars, although they lose in health what they save in money.34

Bemerkenswerterweise finden sich in diesen wenigen Zeilen all die Pathologien wieder, die das Leben in den vom Kollaps bedrohten Metropolen des späten 19. Jahrhunderts auszeichnete: Überfüllung, Immobilität, Kriminalität, mangelnde Zirkula­tion und die Gefahren der Infek­tion und Krankheit. So wurden die Unzuläng­lichkeiten der Transitsysteme bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Eröffnung der Subway offenkundig. Hatten sich im Zuge ihres Baus noch zahlreiche Hoffnungen auf die Zivilisierung und Durchmischung der Bevölkerung durch öffent­lichen Transit gerichtet, stellte sich dies bald als illusorisch heraus. Entgegen den Voraussagen entwickelten die Passagiere der Omnibusse und Streetcars vor allem Techniken der Aggression und Agonie, um diese Erfahrungen bewältigen zu können. Die Form des Miteinanders der Passagiere in den beengten Transitvehikeln war zum Schrecken ihrer Verfechter 34 Holt: »The Changing Perception of Urban Pathology: An Essay on the Development of Mass Transit in the United States«.

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alles andere als zivilisierend.35 Abgesehen von den permanenten Auseinandersetzungen und Streitigkeiten waren es besonders die an den Tag gelegte Asozia­lität, Ignoranz und Unhöf­lichkeit der Passagiere, die Anlass zu Besorgnis gaben. So notiert die New York Times im Mai 1860: There is something irresistibly comic in an omnibus full of utter strangers. Face to face they sit, and their muscles are perfectly rigid; they nod forward, like an old dame dozing, at every jolt of the omnibus, and threaten each other with their noses; they stare vacantly at the brims of each other’s hats or bonnets; their hands are crossed upon the handles of their sticks or umbrellas; and they speak never a word unless the gentleman at the top should still have sufficient confidence in the kindliness of human nature left to ask the gentleman near the door to tell the conductor »Fleet-­street.« … You there see man in his primitive state, not of nudity, of course, but of incivility; and you may form a no­tion, from the behavior of the passengers, of the probable manners in the days of acorns. Nobody, you will observe, dreams of voluntarily making room for a new-­comer.36

Hier wird deut­lich, dass in der Nutzung dieser Systeme die verschärften sozia­ len Konflikte und Widersprüche der Epoche offen zutage traten.37 Insgesamt kristallisiert sich aus den Quellen ein frühes Bild des urbanen Passagiers, das in den Augen der New Yorker offenbar alles andere als eine erstrebenswerte Subjektform war. Wie bereits oben beschrieben, findet sich hier jedoch auch schon ein Bewusstsein für die völlig neuen Formen subjektiver Erfahrung und sozia­ler Interak­tion, die die urbanen Transitsysteme mit sich brachten. In den an sie gekoppelten Diskursen wird aber vor allem deut­lich, dass es einer gänz­lich anderen Infrastruktur bedurfte, um die Probleme der Überfüllung zu lösen. Nicht nur war dies nötig, um die Stagna­tion auf den Straßen der Stadt 35 So weiß der Journalist des New York Herald weiter zu berichten: »The discomforts, inconveniences, and annoyances of a trip in one of these vehicles are almost intolerable. From the beginning to the end of the journey a constant quarrel is progressing. The driver quarrels with the passengers and the passengers quarrel with the driver. There are quarrels about getting out and quarrels about getting in. There are quarrels about change and quarrels about the ticket swindle.« Ebd. 36 Curtis, Samuel R.: »Omnibuses«, The New York Times (26. Mai 1860). 37 Wie Holt zudem erläutert, war es zudem überall in den amerikanischen Städten ­üb­lich, dass die Arbeiter auf den Plattformen außerhalb des Waggons reisen mussten. In St. Louis und Philadelphia wurde Farbigen der Zugang zu den Transitsystemen gänz­lich verwehrt, während es den Arbeitern nur am Sonntag untersagt war, die Systeme zu benutzen, da ihr Lärm angeb­lich die Gottesdienste in den ­Kirchen entlang der Strecke stören würden. Vgl.: Holt: »The Changing Percep­ tion of Urban Pathology: An Essay on the Development of Mass Transit in the United States«.

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zu überwinden, auch galt es, den als asozia­l und unkultiviert codierten Verhaltensweisen der Passagiere einen anderen Verhaltensentwurf entgegenzusetzen. Die Subjektform in den Omnibussen und Pferdebahnwagen lässt sich so in gewisser Weise als die eines stagnierenden Passagiers beschreiben. Ihre diskursiven Zuschreibungen als unzivilisiert, gefähr­lich und hygienisch bedenk­lich werden letzt­lich auch herangezogen, um sie in Kontrast zu dem antizipierten Subwaypassagier als zirkulierende und damit zivilisierte Subjektform zu setzen. In den Diskursen um die Ausgestaltung einer neuen urbanen Mobilität werden somit zwei Ebenen miteinander verschaltet: Die Frage nach den technischen Modalitäten wird zugleich auch zur Frage nach den Merkmalen der neuen Subjektkultur, die sich durch diese Systeme etablieren sollte. Die Elevated Trains Eine ­solche neue Subjektkultur des Transits versprach zunächst eine andere Art von maschinellem Ensemble: die sogenannten Els bzw. Elevated Trains – dampfgetriebene Eisenbahnen auf erhöhten Gleisanlagen. Wie sich jedoch rasch herausstellen sollte, waren auch diese Apparaturen kaum geeignet, das Verkehrschaos der Stadt in den Griff zu bekommen.38 Bereits als im Jahre 1868 die erste Hochbahn der Welt in New York eröffnet wurde, traf sie weitestgehend auf Skepsis. Zwar war die Reisegeschwindigkeit mit ca. 30 km/h vergleichsweise rasant, ihre Konstruk­ tion auf dünnen und oft provisorischen Metallstreben weckte bei den potenziellen Passagieren jedoch eher Misstrauen als Euphorie.39 Der Ausbau der Hochbahnen im Laufe der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts wurde zudem immer wieder durch Unfälle, technische Probleme und Finanzierungsschwierigkeiten behindert.40 Dennoch hinterließ diese neue und fremdartige Form des Transits einen bleibenden Eindruck. Indem die Els für ihre Passagiere eine neue Vertikalität des urbanen Raums erschlossen, erlaubten sie auch ungewohnte Perspektiven auf die Stadt und ihre Bewohner.41 Diese wurden einerseits als pittoresk und spektakulär empfunden. Andererseits gaben sie einen privilegierten Einblick in die Lebensräume 38 Mehr zu den Elevated Trains und ihrer Bedeutung für die Stadt und ihre Bewohner vgl. Fitzpatrick, Tracy: Art and the Subway: New York Underground, Piscataway, New Jersey: Rutgers University Press 2009, S. 11 f; [Anonym]: »East Side Rapid Transit«, The New York Times (2. Juli 1878). 39 Hood: 722 Miles, S. 49. 40 Vgl. Judge, Erica, Seyfried, Vincent und Sparberg, Andrew: »Elevated Railways«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 368 – 370. 41 Zur Vertikaliserung des Urbanen um 1900 siehe auch Kapitel II. 1.

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der Armen und Marginalisierten, der oft als beunruhigend und bedroh­lich erlebt wurde.42 Zudem schildern zahlreiche Artikel der New York Times die Höhen des Transits als schwindelerregend, visuell überfordernd und angsteinflößend.43 Neben der zu geringen Kapazität der Els und den unbequemen und überfüllten Waggons beschreiben sie die generelle Erfahrung des Transits als »far from one of pleasure or security« und betonten »it requires some little nerve to sit at the car window and look steadily down upon the street.«44 Nicht zuletzt führten die neu entstandenen Strecken über den Straßen zu einer drastischen Reduk­tion der Lebensqualität der Bewohner und Passanten. Die Infrastrukturen blockierten nicht nur das Sonnen­licht und tauchten die Straßen unter den Hochbahnen in eine fortwährende Dämmerung, auch der immense Lärm und besonders die Abgase der Dampfmaschinen waren fortwährender Anlass zu massiver Kritik. Ärzte warnten vor der gesundheit­lichen Gefahr für die Passagiere und rieten von der Nutzung dieser Systeme ab.45 Vor allem aber blieb die erhoffte Entzerrung der Siedlungsstrukturen aus. Obwohl sie die nörd­lichen Gebiete der Stadt für die Besiedelung erschlossen, waren weder ihre Kapazität noch Geschwindigkeit ausreichend für die Bevölkerungszunahme der Stadt. Bereits während ihrer Konstruk­tion scheinen die Els in den Augen der Zeitgenossen kaum mehr als eine provisorische und unzureichende Übergangslösung für eine rasant wachsende Stadt gewesen zu sein, die in Wirk­lichkeit eine wesent­lich weitreichendere und innovativere Form des Transits benötigte. Spätestens nach dem Blizzard von 1888, der das öffent­liche Leben in der gesamten Stadt für mehrere Tage zum Stillstand brachte, wurde der Ruf nach einem solchen System unüberhörbar.46 Infolge des mehrtägigen Zusammenbruchs der öffent­lichen Transitsysteme wurde zudem deut­lich, dass die Probleme mangelnder Zirkula­tion in den Straßen und Hochbahnen nicht nur strapaziös und gefähr­lich für die Stadtbevölkerung waren. Sie bedrohten auch die elementaren ökonomischen, sozia­len und politischen Strukturen New Yorks. 42 Siehe Brooks: Subway City, S. 36 f. 43 Siehe bspw. [Anonym]: »East Side Rapid Transit«. 44 Ebd. 45 In den medizinischen Diskursen der Zeit erscheinen die Elevated Trains nicht nur aufgrund der Verschmutzungen und akustischen Belastung als gefähr­lich, auch befürchteten zahlreiche Ärzte, dass der feine Metallabrieb z­ wischen Schienen und Rädern zu gefähr­lichen Augenschäden und Entzündungen führen würde. Vgl.: Brooks: Subway City, S. 35. 46 Vgl. Seyfried, Vincent: »Blizzard of 1888«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 118. Sowie: Hood: 722 Miles, S. 26.

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Vor dem Hintergrund dieser Krisendiagnosen sowie neuer technischer Machbarkeiten urbaner Transforma­tion und Technisierung formierten sich bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts konkrete Ideen für eine neue Infrastruktur des Massentransits. Schnell herrschte Einigkeit, dass eine neue Technologie erforder­lich war, um die Stadt in eine Sphäre der Zirkula­tion zu transformieren. Unklar war jedoch, wie diese genau aussehen sollte. Lange Zeit war weder eindeutig entschieden, wo in Manhattan das neue Transitsystem implementiert werden sollte noch welche Organisa­tionsform und technische Funk­tionsweise es haben würde. Dass es unterirdisch und schienenbasiert sein sollte, war bei Weitem nicht die einzige Mög­lichkeit. Transitvisionen In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts lassen sich eine Vielzahl von visionären Ideen für ein neues Zirkula­tionssystem finden, um den »Modernen Martyrien« ein Ende zu bereiten. Die Entwürfe waren oftmals von spektakulären Plänen und Illustra­tionen begleitet, die in den Zeitungen und Zeitschriften verbreitet wurden und die Bevölkerung für das jeweilige System begeistern sollten.47 Getragen von einem ungetrübten Erfindergeist und Fortschrittsglauben entwarf man Modelle, die überirdischen Rohrpostleitungen g­lichen oder die Straße vertikal verdoppeln wollten (Abb. 4 und Abb. 5). Der Erfinder und Unternehmer Alfred E. Beach sollte seine Idee einer durch Druckluft betriebenen Untergrundbahn gar in die Tat umsetzen. Im Geheimen ließ er im Jahr 1869 eine durch Druckluft betriebene Röhre unter dem Broadway konstruieren, die einen Waggon für eine Handvoll Passagiere ca. einhundert Meter in einer pneumatischen Röhre ­zwischen zwei Sta­tionen transportierte. War die öffent­liche Demonstra­tion der Apparatur im Jahr 1870 noch eine Sensa­tion, musste die Unternehmung bald wegen technischer und bürokratischer Schwierigkeiten gestoppt werden.48 Als eine der spektakulärsten Ideen kann der Entwurf des Erfinders und Unternehmers Alfred Speer (1823 – 1910) aus dem Jahre 1871 gelten (Abb. 6). Er schlug eine aufgeständerte Konstruk­tion ähn­lich jener der Elevated Trains vor, wollte jedoch gänz­lich auf ein Schienensystem verzichten.49 Stattdessen sollte 47 Eine Zusammenstellung diverser solcher Entwürfe ist Michael Brooks zu verdanken. Vgl. Brooks: Subway City, S. 12 ff. 48 Zu der Subway von Alfred E. Beach vergleiche ausführ­licher: Ebd., S. 20 ff; Hood: 722 Miles, S. 42 ff. 49 Brooks: Subway City, S. 12 ff.

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Abb. 4: Dr. Rufus Gilbert’s Covered Atmos- Abb. 5: John M. August Will, Proposed Arcade pheric Railway, 1874, aus Frank Leslie’s Railway Under Broadway. View Near Wall Street, 1869. Illustrated Newspaper vom 18. März 1874.

auf der Struktur eine Art gigantisches Förderband aufliegen, das durch unterirdische Dampfmaschinen betrieben werden sollte. Auf dieser bewegten Straße, die sich mit ca. 18 km/h durch die ganze Stadt ziehen sollte, ließ es sich nicht nur wunderbar prominieren, man konnte sich auch in die zahlreich vorhandenen Raucherabteile für die Männer oder Schminkkabinette für die Damen begeben, die zudem Schutz vor der Witterung boten.50 Speers Entwurf, wie viele andere auch, half dabei, bei den Menschen New Yorks Begeisterung für die neuen Technologien eines zukünftigen Transitsystems zu entfachen. Trotz der sehr unterschiedlichen Entwürfe und technischen Lösungen verband all diese visionären Ideen, dass sie sich als komfortabel, sicher, schnell und günstig präsentierten und damit als Gegenbild zu dem bisherigen Verkehrschaos der Stadt fungierten. Schaut man auf die Darstellungen der Passagiere in den Entwürfen, sieht man ausschließlich wohlhabende und gut gekleidete Männer und Frauen in nahezu idyllischer Gemeinschaft. Die Straßen erscheinen sauber, geräumig und einladend zum Flanieren, was einen starken Kontrast zu den tatsächlichen Verhältnissen in der überfüllten Metropole darstellte. Abgesehen von Beachs’ kurzlebigem Experiment sollte keine dieser Utopien letztlich verwirklicht werden. Entweder fand sich kein Investor oder die konkrete Umsetzung stellte sich als unkonstuierbar oder rechtlich zu komplex heraus.51 50 Abbildung entnommen aus: Ebd., S. 12. 51 Eine schöne Sammlung zahlreicher nicht realisierter Großprojekte in New York findet sich in: Shanor, Rebecca Read: The City that Never was: Two Hundred Years of Fantastic and Fascinating Plans that Might Have Changed the Face of New York

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Abb. 6.: Railway Plan von Alfred Speer aus Frank Leslie’s Illustrated Newspaper vom 51 21. März 1874.

Stattdessen setzte sich langsam die Idee eines unterirdischen Transitsystems durch, in der auch die neuen Techniken des Elektrizitätsantriebs zum Einsatz kommen sollten. Die Vorteile einer solchen Konstruktion lagen klar auf der Hand. Während eine überirdische Konstruktion gleich welcher Art die Lebensqualität wie die Immobilienpreise stark senken würde, wäre dies bei einem subterranen System nicht der Fall. Zudem wäre man so vor Witterungseinflüssen geschützt. Auch erlaubten neue Techniken, die eine Implementierung direkt unter der Straße möglich machten, eine wesentlich einfachere und kostengünstigere Konstruktion. Während also spätestens ab 1880 Einigkeit über die technischen Modalitäten eines zukünftigen Transitsystems für New York herrschte, wurde zugleich deutlich, dass die Realisierung einer solchen subterranen Infrastruktur ein gewagtes Unterfangen darstellte, das eine gigantische Akkumulation von Ressourcen erforderte. Während man also debattierte, wie sich dies bewerkstelligen ließe, verschärfte sich die Situation in der Stadt zusehends. Nicht nur führte das City, New York: Viking 1988. Eine außergewöhnlich inspirierende Untersuchung zu gescheiterten Infrastrukturprojekten im 20. Jahrhundert leistet Van Laak, Dirk: Weiße Elefanten: Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, München: Deutsche Verlags-Anstalt 1999.

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ansteigende Bevölkerungswachstum zu einem immer höheren Druck auf den ohnehin knappen Wohnraum der Stadt, aus der Überfüllung der Straßen resultierten zudem häufig unzuverlässige und oft drastisch verspätete Zulieferungen von Waren. Auch brauchten die Angestellten und Arbeiter viel zu lang zu ihren Arbeitsstätten. Sollte das Transitproblem nicht bald gelöst werden, so waren sich die zeitgenös­sischen Beobachter einig, drohten ein ökonomischer Kollaps und der Zusammenbruch der gesellschaft­lichen Ordnung der Stadt, mit unabsehbaren Konsequenzen. Die historischen Dynamiken, welche letzt­lich zur Realisierung der Subway führten, resultierten somit vor allem aus einem wachsenden Bewusstsein über die Krisenhaftigkeit des Nicht-­Zirkulierens von Waren und Arbeitskraft. Die politischen und ökonomischen Eliten wie auch die Gruppe der sozia­len Reformer imaginierten und propagierten die zukünftige Stadt der Passagiere nicht nur als Befreiung von diesen Zirkula­tionshemmnissen. Sie erklärten sie auch zu dem einzigen Weg zur Beseitigung von Armut, Amoralität, Anomie und kultureller Stagna­tion. Damit manifestiert sich in der Forderung nach der Schaffung eines infrastrukturellen Gefüges, das die Verteilung der Bevölkerung radikal umgestalten sollte, auch eine neue Idee urbaner Subjektkultur.

3. Versprechen der Zirkula­tion Die mangelnde Diffusion von Gütern, Rohstoffen und Arbeitskraft war vor allem für die Unternehmer New Yorks besorgniserregend. Die Ökonomien der Stadt drohten am Chaos und der Stagna­tion der überfüllten Stadt zu ­ersticken. Für die Fabrikanten, Bankiers, Händler und Immobilienmakler stellte das Problem mangelnder Zirkula­tion jedoch nicht nur ein Wachstumshindernis dar. Ihre Prognosen waren wesent­lich dramatischer: Man war überzeugt, dass diese Situa­tion über kurz oder lang die grundlegenden Strukturen der Ökonomie New Yorks zu zerstören drohte.52 Dass nicht nur die Produk­tion, sondern vor allem auch die Zirkula­tion von Gütern und Kapital ein fundamentales Erfordernis modernen kapitalistischen Wirtschaftens darstellte, wurde für die ökonomische ­Theorie spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer deut­licher.53 Dabei wurden ihre Verfechter nicht müde, zu betonen, dass je schneller, reibungsärmer und verläss­licher das 52 Derrick, Peter: Tunneling the Future: The Story of the Great Subway Expansion that saved New York, New York: New York University Press 2001, S. 13 ff. 53 Marx selbst hat ihre Bedeutung herausgestellt: »Die Zirkula­tion ist ebenso notwendig bei der Warenproduk­tion wie die Produk­tion selbst, also die Zirkula­tionsagenten

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Kapital zirkulieren würde, desto mehr würde dies Wachstum und allgemeinen Wohlstand befördern.54 In den auf Handel abgestellten Ökonomien der west­lichen Metropolen war neben der Zirkula­tion des Kapitals auch die der Waren, Rohstoffe und Arbeitskräfte entscheidend. Gerade für die Entwicklung New Yorks waren die Expansion des Seehandels und der Ausbau der Fabriken und der Handelshäfen entscheidend. Zwar war die Stadt aufgrund ihrer geographischen Lage hervorragend an die Zirkula­tionsrouten der Seestrecken nach Europa sowie an die Flussläufe ins Landesinnere angeschlossen, die Kapazitäten der Hafenanlagen waren dem Warenaufkommen jedoch kaum gewachsen.55 Dennoch strebte man an, die anderen wichtigen Hafenstädte der Ostküste, wie Philadelphia und Baltimore, zu überholen. Dies konnte jedoch nur gelingen, wenn man die inneren Kreisläufe und Netzwerke begradigen und vervielfältigen sowie ihre Fließgeschwindigkeit erhöhen würde. Die Insellage der Stadt, die ihre Entwicklung aus einem Handelsposten vom 16. Jahrhundert an massiv begünstigt hatte, sollte sich nun mehr und mehr als Problem erweisen.56 So ist es nicht verwunder­lich, dass gerade die Unternehmer und Fabrikanten zentrale Akteure in der Forderung und Realisierung eines neuen Transitsystems für New York waren. Die damals machtvollste Unternehmerorganisa­tion New Yorks, die Chamber of Commerce, propagierte lautstark den Bau des Systems: »the future of this city as the commercial metropolis of the United States […] requires the very best system of rapid transit.«57 Die Handelskammer brachte nicht nur die zentralen Verträge zum Bau der Subway auf den Weg, sie leitete darüber hinaus auch einen Großteil der Planungen.58 Auch die im Jahre 1900 gegründete Rapid Transit Commision, welche die Konstruk­tion der Subway überwachen

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ebenso nötig wie die Produk­tionsagenten.« Vgl. Marx, Karl: Das Kapital, Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Bd. 24, Berlin/DDR: Dietz 1962, S. 129. Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 2004, S. 172. Zur Krise der Zirkula­tion um 1900 vgl. die erhellende Studie: Beniger, James: The Control Revolu­tion: Technological and Economic Origins of the Informa­tion Society, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2009. Um 1900 war der New Yorker Hafen der ausgelastetste der ganzen USA. Vgl. Brouwer, Norman J.: »Port of New York«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 927 – 929, hier S. 929. Hood: »The Impact of the IRT on New York City«, S. 36. Chamber of Commerce: Thirty-­sixth Annual Report, Press of the Chamber of Commerce: New York, 1894, S. 91, zitiert aus: Hood: 722 Miles, S. 63. Vgl. Ebd., S. 14 f. Eine gute Einführung in die komplexe Geschichte der Chamber of Commerce and Industry bietet: Stabile, Donald R.: »New York Chamber of Commerce

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sollte, wurde von den vermögendsten und einflussreichsten Geschäftsmännern der Stadt geleitet. Von ihrer Konstruk­tion versprachen sich die ökonomischen Eliten vor allem zweierlei Effekte: Einerseits wäre so end­lich der Anschluss der Arbeiter und Angestellten an die Produk­tionsstätten der Fabriken und Büros gewährleistet. Andererseits hoffte man, nicht nur die Menschenmassen, sondern auch die Omnibusse von den Straßen zu bekommen und die Verkehrswege für die ungehinderte Zirkula­tion von Waren und Gütern zurückzuerobern. Die ökonomischen Eliten waren überzeugt, dass eine Relokalisierung der Menschenströme in die unterirdischen Transitsysteme und die damit ermög­lichte Beschleunigung und Erhöhung des Zirkula­tionsvolumens auf den Straßen zu einem ungeahnten Anstieg des Produk­tions- und Konsum­tionsniveaus führen würde. Nicht zuletzt würde die Subway eine gewaltige städtebau­liche Expansion auslösen, die nicht nur das Wohnungsproblem lösen würde, sondern auch auf immense Gewinne für die Immobilienspekulanten und Bauunternehmer hoffen ließ. New York von einer Stadt der Passanten in eine Stadt der Passagiere zu verwandeln, barg das Versprechen ungeahnter ökonomischer Prosperität. Der in den Diskursen der Unternehmer zutage tretende Glaube an die segensreichen Wirkungen der Zirkula­tion war jedoch nicht allein auf den Bereich der Ökonomie beschränkt. Wenn die Subjektform des Subwaypassagiers nun als heroische Verkörperung dieser Imperative in Erscheinung tritt, muss dies vor dem Hintergrund eines breiteren wissenschaft­lichen Diskursfeldes verstanden werden, in dem sich im 18. und 19. Jahrhundert die Ideen der Zirkula­ tion durchsetzen.59 Zunächst gewinnt die Vorstellung der Zirkula­tion ab dem 16. Jahrhundert an Bedeutung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird sie endgültig zu einer wissenschaft­lichen Leitidee.60 War das Wissen von der Zirkula­tion anfangs primär im Kontext von biolo­gischen Kreislaufmodellen prominent, vor allem dem des Blutes, entkoppelt sich im 18. Jahrhundert dieser Begriff zunehmend von der eindeutigen Vorstellung eines kreisförmigen Prozesses.61 Als and Industry«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 825 – 826. 59 Für das 18. Jahrhundert vgl. die umfassende Studie: Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 2003, vor allem die Seiten 112 – 129. Siehe zudem: Sarasin, Philipp und Kilcher, Andreas: »Editorial«, in: David Gugerli u. a. (Hrsg.): Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte: Zirkula­tionen, Bd. 7, Zürich: diaphanes 2011, S. 8 – 10. 60 Der Mediziner Andreas Cesalpino kann dabei als der erste Wissenschaftler gelten, der das Wort circulatio in einen physiolo­gisch-­medizinischen Zusammenhang gebracht hat. Vgl. Töpfer, Georg: Historisches Wörterbuch der Biologie: Geschichte und ­Theorie der biolo­gischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart: Metzler 2011, S. 303. 61 Vgl. dazu ausführ­lich: Sennett, Richard: Flesh and Stone: The Body and the City in Western Civiliza­tion, New York und London: W. W. Norton 1996, S. 261 ff.

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»­Prozessgefüge« bezeichnet er nun vor allem Ideen der wechselseitigen Abhängigkeit von einzelnen Elementen und wird zu einem allgemeinen Schlüsselkonzept für die Beschreibung systemischer Interak­tion in biolo­gischen Systemen.62 Diese begriff­liche Fassung der Zirkula­tion erlaubt es nun, auch Anschluss an andere Wissenschaftsdisziplinen zu finden. So entfaltet sich ihre Erklärungskraft beispielsweise auch in den sich formierenden Sozia­lwissenschaften.63 Als Indikator von Lebenskraft, Gesundheit und Prosperität avanciert sie im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Paradigma für die Organisa­tion von modernen Gesellschaften überhaupt.64 Zur gleichen Zeit tauchen Konzepte der Zirkula­tion auch am Horizont so unterschied­licher Disziplinen wie dem Städtebau, der Pädagogik, den Ingenieurswissenschaften oder der Chemie auf. So verschieden ihre Verwendung im Einzelnen auch sein mag, gemein ist ihnen die Vorstellung geordneter Zirkula­tion als entwicklungsfördernd, ertragreich, nütz­lich und produktiv.65 Die Vorstellung der Zirkula­tion avanciert ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem wirkmächtigen Relaiskonzept, mit dessen Hilfe so diverse Wissensfelder wie die Biologie, die Ökonomie oder die Stadtplanung ineinandergreifen und sich gegenseitig Erklärungskraft und Plausibilität zusprechen können. Ihre Modelle und Ideen fungieren zudem als wichtige Schnittstellen in den Interdiskursen ­zwischen Wissenschaft und Sozia­lpolitik. Damit erlaubt es das Denken der Zirkula­tion 62 Siehe: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 225 ff; Töpfer: Historisches Wörterbuch der Biologie: Geschichte und ­Theorie der biolo­gischen Grundbegriffe, S. 302 ff. Vgl. auch Fishman, Alfred P. und Richards, Dickinson W. (Hrsg.): Circula­tion of the Blood: Men and Ideas, New York: Oxford University Press, USA 1964. 63 Wie der Wissenschaftshistoriker Georg Töpfer zudem herausgearbeitet hat, ist das Primat der Zirkula­tion auch im Denken Georg Simmels prominent, der die Wechsel­wirkung als Bedingung des Zirkulierens von der Biologie auf die grundlegende Funk­tionsweise der Gesellschaft überträgt und von da aus die Einheit des Sozia­len bestimmt. Siehe: Töpfer: Historisches Wörterbuch der Biologie: Geschichte und ­Theorie der biolo­gischen Grundbegriffe, S. 310. 64 Wenn die Ideen der Biologie ab dieser Epoche auch Erklärungsmuster und Plausi­ bilität für gesellschaft­liche Vorgänge bereitstellen, so gilt dies neben der Idee der Zirkula­tion auch für den verwandten Begriff des Metabolismus. Dass die Organisa­ tion der Stadt in den Augen der damaligen Stadtplaner in funk­tionaler Analogie zum Konzept des Metabolismus steht, wird in der Frage nach der Organisa­tion der funk­tionalen Differenzierung der Stadt und der Diffusion ihrer Bewohner deut­ lich. Zur Idee der Stadt als Metabolismus vgl. u. a. Barles, Sabine: »Urban Metabolism of Paris and Its Region«, Journal of Industrial Ecology 13/6 (2009), S. 898 – 913; ­Wachsmuth, David: »Three Ecologies: Urban Metabolism and the Society-­Nature Opposi­tion«, The Sociological Quarterly 53/4 (2012), S. 506 – 523. 65 Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 172.

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nicht nur, die verschiedenen wissenschaft­lichen Felder miteinander in Beziehung zu bringen. Ebenso ermög­licht es auch einen Anschluss dieser Diskurse an die politischen, sozia­len und ökonomischen Debatten der damaligen Zeit. Infolgedessen formiert sich auch die Subjektform des Subwaypassagiers als gemeinsamer Konvergenzpunkt in den Diskursfeldern der Hygiene, Stadtplanung, Ökonomie und Politik. Neben den Unternehmern, Investoren und Spekulanten New Yorks waren es vor allem zwei weitere Interessengruppen, welche die Installa­tion einer neuen Form industriellen Transits forderten: die politischen Eliten der Stadt sowie die sogenannten sozia­len Reformer bzw. Progressivists. Anhand einer Analyse der Krisendiagnosen und Lösungsvorschläge dieser beiden Gruppen wird deut­lich werden, wie sich der Passagier als zirkulierendes Subjekt am Horizont einer neuen Regierungstechnik formiert, die man im Anschluss an Michel Foucault als Sicherheitsdispositiv beschreiben kann. Es zeichnet sich primär dadurch aus, dass man bestrebt ist: »Zirkula­tion zu organisieren, das, was daran gefähr­lich ist, zu eliminieren, eine Aufteilung ­zwischen guter und schlechter Zirkula­tion vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkula­tion verminderte, die gute zu maximieren.«66 Die Imperative der Zirkula­tion entfalten ihre Wirkung somit gleich auf mehreren Ebenen. Sie adressieren Fragen individueller Hygiene und kultureller Assimila­tion ebenso wie die Debatten um die sozio-­technischen Gestaltungen des städtischen Raums. Gemeinsam ist ihnen die grundlegende Annahme eines korrumpierenden und degenerierenden Einflusses von Stagna­tion sowie der unerschütter­liche Glaube an die Zirkula­tion als Allheilmittel und universelles Instrument in der Schaffung einer sicheren, libertären und gesunden Stadt. Regierungstechniken Dass sich in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts für die politischen Eliten der Stadt die Implementierung eines gigantischen unterirdischen Transitsystems von einer aberwitzigen und unrealistischen Idee zu einer dringenden Notwendigkeit wandelt, lässt sich primär auf zwei Gründe zurückführen: Einerseits versprach die mit der Subway antizipierte ökonomische Prosperität einen massiven Anstieg der Steuereinnahmen, andererseits sahen die Politiker in ihr vor allem ein wirkungsvolles Instrument in der Wiederherstellung der sozia­len und politischen Ordnung der krisengeschüttelten Stadt. Trotz anfäng­licher Widerstände von Teilen der 66 Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung: Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 37.

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demokratischen Partei New Yorks herrschte spätestens um 1900 weitgehende Einigkeit unter den Vertretern aller politischen Parteien und Interessenverbänden sowie den Mitgliedern der Stadtverordnetenversammlung (City Council),67 dass die Konstruk­tion eines neuen Transitsystems allerhöchste Priorität hatte. Zwar war diese mit erheb­lichen Strapazen und einer massiven Mobilisierung von Ressourcen verbunden, sie versprach jedoch auch die Realisierung einer neuen Form urbaner Gouvernementalität, die ­sozia­le Ordnung über die kontrollierte Zirkula­tion der Bevölkerung herzustellen in der Lage wäre. Diese Ideen lassen sich als Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung in der Vorstellung dessen lesen, was gute und richtige Souveränität sei. Sie liegt vor allem in der zunehmenden Krise tradi­tioneller Regierungstechniken begründet, die spätestens im 19. Jahrhundert allgegenwärtig wird. Nicht nur in den Sphären der Ökonomie avanciert die Etablierung geordneter und reibungsloser Zirkula­ tion zu einer zentralen Prämisse, auch das Funk­tionieren der bürokratischen Herrschaftsapparaturen hängt mehr und mehr von ihrer Geschwindigkeit und Präzision ab, sei es in Gestalt von Befehlen und Verordnungen, Wissen, Ideen oder Gesetzen. Besonders deut­lich wird die Notwendigkeit der Etablierung einer neuen Form von sozia­ler Kontrolle und Herrschaft in der Urbanisierung des nordamerikanischen Kontinents. Vor allem ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Frage nach der sozia­len und mora­lischen Ordnung in den Städten und industriellen Zentren der USA von zunehmender Brisanz.68 Waren die Vereinigten Staaten von Amerika um 1800 noch eine länd­liche Gesellschaft mit einigen wenigen Städten, wandelten sie sich im Laufe des Jahrhunderts mehr und mehr in eine urbane Industriena­tion mit einem beständig schrumpfenden landwirtschaft­lichen Anteil. Die starken Einwanderungswellen des 19. Jahrhunderts drängten vor allem in die Städte und führten zu einer drastischen Veränderung ihrer bau­lichen und sozia­len Struktur. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollten z­ wischen 60 und 80 Prozent der Bevölkerung in den amerikanischen Metropolen ausländischer Herkunft sein. Dabei war es nicht allein die schiere Masse an Migranten, denen sich die politischen Eliten ausgesetzt sahen, auch die kulturelle Heterogenität der Einwanderer stellte in den Augen der Politiker und Ordnungsmächte eine elementare Bedrohung mühsam etablierter Ordnungen da.69 Besonders New York, wo sich von katho­lischen Bauern aus Italien bis zu orthodoxen Juden aus Osteuropa eine Vielzahl von 67 Zur komplexen Organisa­tion der Stadtregierung New Yorks vgl. Brecher, Charles: »City Council«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 229 – 230. 68 Siehe dazu u. a. Boyer: Urban Masses and Moral Order in America, 1820 – 1920. 69 Ebd., S. 124.

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unterschied­lichsten Gruppen auf engstem Raum zusammendrängte, befand sich für die politischen Eliten an der »ragged edge of anarcy.«70 Konfrontiert mit einem bislang unbekannten Ausmaß an Elend, Glücksspiel, Prostitu­tion und Gewalt stellte sich auch für die chronisch unterbesetzte Polizei die essenzielle Frage, wie man diese Probleme in den Griff bekommen und die s­ ozia­le Ordnung wiederherstellen konnte. Aus Sicht der Eliten waren es dabei vor allem die mora­lisch und hygienisch bedenk­lichen Zustände in den überfüllten Slums, die das ­sozia­le Gefüge der Stadt zu erodieren drohten. Bald wurde jedoch deut­lich, dass sich die Kontrolle und Integra­tion der neuen Bevölkerungsteile nicht allein über die repressiven Herrschaftstechniken der Disziplinierung und Bestrafung bewerkstelligen ließen. Es bedurfte stattdessen einer grundlegenden Transforma­tion der Subjektivität der Individuen, d. h. ihrer mora­lischen Werte, kulturellen Normen und sozia­len Praktiken. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte dies vor allem durch Wiederherstellung ruraler Modelle von Ordnung und Gemeinschaft und der Propagierung tradi­tioneller Werte realisiert werden. Verbreitung fanden diese Überzeugungen nicht nur durch Politiker und Journalisten, sondern ebenso mit Hilfe sozia­ler Wohltätigkeitsorganisa­tionen, Bibelgesellschaften oder Sonntagschulen.71 Angesichts der neuen politischen, ökonomischen und kulturellen Herausforderungen in den amerikanischen Metropolen erwiesen sich die Ideen einer Re-­etablierung länd­lich-­tradi­tioneller Sozia­lstrukturen und Wertesysteme jedoch spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts als ebenso aussichtslos wie unangemessen. Stattdessen begannen sich nun überall alternative Strategien der Herstellung mora­ lischer und politischer Ordnungen zu formieren, die vor allem den Aspekten der Klassenlage, Herkunft und Hautfarbe eine zentrale Bedeutung zumaßen.72 Trotz ihrer Differenz im Detail war die zentrale Frage nun, wie man die Massen der Migranten in die Subjektkultur der sich entfaltenden amerikanischen Mittelschichten integrieren und sie damit pazifizieren und mora­lisch festigen konnte.73 Im Zuge der Durchsetzung dieser Ideen rückt auch die Bevölkerung der Stadt auf gänz­lich neue Weise in den Blick. Hatte sich das Konzept der 70 Ebd., S. 127. Siehe auch: Groneman/Reimers: »Immigra­tion«. 71 Vgl. Ernst: Immigrant Life in New York City, S. 135 ff. Besonders zu der American Tract Society in New York ist einschlägig: Twaddell, Elizabeth: »The American Tract Society, 1814 – 1860«, Church History 15/02 (2009), S. 116. 72 Siehe dazu ausführ­lich: Trachtenberg, Alan: The Incorpora­tion of America: Culture and Society in the Gilded Age, New York: Hill and Wang 2007; Wiebe, Robert H: The Search for Order, 1877 – 1920, New York: Hill and Wang 1967. 73 Als Standardwerk zu d ­ iesem Prozessen gerade ab 1890 gilt immer noch: Hofstadter, Richard: The Age of Reform: from Bryan to F. D. R. [org. 1955], New York: Vintage Books 1971.

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Bevölkerungskontrolle bereits im 17. Jahrhundert etabliert und in Gestalt von Biomacht und Disziplinierung seine zentralen Herrschaftstechnologien gefunden, zeichnet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den west­lichen Metropolen ein grundlegender Wandel dieser Prinzipien ab.74 Sozia­le Ordnung meinte nun weniger ein statisches und monolithisches Konzept als vielmehr eine fluide und offene Regierungstechnik des kontinuier­lichen Ordnens und Steuerns. Es galt, die Untertanensubjekte nun nicht mehr allein durch Verbote und Strafen zu regieren, sondern sie stattdessen zu mobilisieren und zu dirigieren. Wie Michel Foucault herausstellt, ist diese neue Form der Herrschaft vor allem dadurch charakterisiert, dass »es nicht so sehr darum geht, Grenzlinien zu ziehen, Grenzen festzusetzen oder Standorte zu bestimmen, sondern vor allem und im Wesent­lichen darum, Zirkula­tionen zuzulassen, zu gewährleisten, sicherzustellen: Zirkula­tion von Leuten, Zirkula­tion von Waren, Zirkula­tion von Luft usw.«75 Eine gute und effiziente Regierung zeichnete sich nun primär dadurch aus, dass sie s­ ozia­le Ordnung und Integra­tion über die Strukturierung dieser Zirkula­ tionsbewegungen herstellen konnte. Diesen einschneidenden Paradigmenwechsel beschreibt auch der Historiker Patrick Joyce in seiner Studie The Rule of Freedom: Liberalism and the Modern City.76 Inspiriert von Foucaults Untersuchungen zur Geschichte der Gouvernementalität zeigt er, wie sich die Form libertärer Herrschaft in den west­lichen Metropolen des 19. Jahrhunderts entfaltet. Auch für Joyce ist diese neue Regierungstechnik zunächst dadurch gekennzeichnet, dass sie der Freiheit und Mobilität der Subjekte eine zentrale Posi­tion einräumt. Das neue libertäre Herrschaftskonzept erfordert nun weniger eine stärkere direkte Disziplinierung der Massen als vielmehr einen subtileren und indirekteren Ansatz: die Transforma­tion der phy­sischen Struktur der Stadt als Mittel der mora­lischen Verbesserung sowie der Pazifizierung ihrer Bewohner.77 Neben direkten politischen Verordnungen wurden vor allem sozio-­technische Lösungen angestrebt, in der die Freiheit der Subjekte durch Infrastrukturen ermög­licht und kontrolliert werden sollte. Beispielsweise geschieht dies durch den Ausbau der öffent­lichen Beleuchtung, die die Stadt in den Augen der Zeitgenossen durchaus sauberer und sicherer 74 Vgl. dazu ausführ­lich das Kapitel II. 4. 75 Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung: Geschichte der Gouvernementalität I, S. 52. 76 Joyce, Patrick: The Rule of Freedom: Liberalism and the Modern City, London: Verso 2003. 77 Vgl. Boyer: Urban Masses and Moral Order in America, 1820 – 1920, S. 175 f. In den USA werden diese Ideen besonders im City Beautiful Movement vertreten. Vgl. Bogart, Michele Helene: Public Sculpture and the Civic Ideal in New York City, 1890 – 1930, Washington, D. C.: Smithsonian Institu­tion Press 1997.

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machte und damit eine gewisse Form von Freiheit ihrer Bewohner realisierte.78 Auch andere Infrastrukturen, wie Kanalisa­tionen und Straßen, dienten nun primär als Werkzeuge in der Zusammenführung und gegenseitigen Stabilisierung dessen, was Joyce als Trias der »Sanitary City«, »Moral City« und »Social City« bezeichnet.79 In den sozio-­technischen Antworten auf die sozia­len Probleme der Stadt lässt sich auch das Paradigma der Zirkula­tion wiederfinden, das diesen neuen Regierungstechniken axiomatisch zugrunde liegt. Wie Joyce herausstellt, setzte diese libertäre Politik sowohl auf die Mobilisierung urbaner Strukturen wie auch der einzelnen Subjekte: »this freedom was realized around the city and the person as both now themselves sites of free movement, free associa­tion, with the person now freely choosing responsible and therefore self-­monitoring.«80 Im Zuge dieser Neucodierung des Untertanen als libertäres Subjekt wurde die Aufgabe einer guten und richtigen Regierung nun primär darin gesehen, eine Stadt zu schaffen, die das geordnete Zirkulieren ihrer Bevölkerung sicherstellen konnte.81 Erschwert wurde dies allerdings dadurch, dass es eben nicht nur die gute, staat­lich organisierte oder zumindest legale Zirkula­tion gab, die Wohlstand, Sauberkeit und sozia­len Frieden in der Stadt befördern sollte. Es existierten auch verwerf­liche und gefähr­liche Formen der Zirkula­tion, wie Schmuggel, Vagabundentum oder die Verbreitung infektiöser Krankheiten. Sie galt es zu unterbinden, ihre wild wuchernden Bewegungen abzuschneiden und damit die wünschenswerten Zirkula­tionsformen zu stärken. Gute Zirkula­tion war geordnet, effizient und beständig und erforderte unablässige Steuerung und Überwachung. Wenn es also in den Augen der politische Eliten und Ordnungskräfte bedeutete, die Freiheit der Subjekte zu realisieren, indem man ihre geordnete Zirkula­ tion bewerkstelligte, bedurfte es einer sozio-­technischen Apparatur, die eben diese Zirkula­tionsbewegungen ermög­lichen konnte. Da sich die Einführung von 78 Vgl. ausführ­licher: Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke: zur Geschichte der künst­lichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München: Carl Hanser 1983. 79 Vgl. Joyce: The Rule of Freedom, S. 144 ff. Zur Funk­tion der Kanalisa­tion in der Schaffung urbaner Ordnung siehe auch: Melosi, Martin: The Sanitary City: Urban Infrastructure in America from Colonial Times to the Present, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2000. 80 The Rule of Freedom, S. 11. 81 Die Vorstellung der Stadt als Zirkula­tionsapparatur ist selbstverständ­lich keine neue Idee. Wie Foucault gezeigt hat, beginnt sie sich bereits in den städtebau­lichen Entwürfen des 16. und 17. Jahrhunderts zu formieren. Vgl. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung: Geschichte der Gouvernementalität I, S. 37 f. Bereits damals wurde durch das Schlagen bau­licher Achsen durch die Städte versucht, eine mög­lichst effiziente Diffusion von Waren und Subjekten zu ermög­lichen. Dies war nicht nur eine ökonomische Idee, sondern stellte auch ein wirkmächtiges Verfahren zur Schaffung urbaner Hygiene und politischer Ordnung dar.

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Kanalisa­tionen, Strom- und Gasleitungen bereits als erfolgreiches Instrument auf dem Weg zu einer geordneten und hygienischen Stadt erwiesen hatte, lag es nahe, ein ähn­liches Modell für die Zirkula­tion der Bevölkerung anzuwenden.82 Eine Subway würde das ungeordnete Durcheinander der Bewegungen in einen geordneten und kanalisierten Strom integrierter Passagiersubjekte verwandeln. Keinesfalls unbedeutend war zudem, dass sie auch versprach, ein wirkungsvolles Instrument polizei­licher Ordnungsgewalt zu sein, wie der damalige Polizeichef New Yorks, William McAdoo, prophezeite: »In case of great local disturbances or riots, great bodies of police can be transported quickly underground from one part of the city to another, and therefore, from a practicable and strategic standpoint, the tunnel will be an important factor in the police life of New York.”83 Da die wohlhabenden Bürger der Stadt bereits in die weit weniger überfüllten und chaotischen Vororte Brooklyns und New Jerseys abwanderten, galt es, keine Zeit zu verlieren. Diese zahlungskräftigen und gut ausgebildeten Klassen in der Stadt zu halten, machte es erforder­lich, sie ebenso zu Passagieren zu machen wie die Bewohner der Elendsquartiere. Damit erscheint nun neben den Unternehmern und Investoren der Stadt auch für die politischen Eliten die schnelle Realisierung eines unterirdischen Massentransportsystems dring­lich geboten. Die sozia­len Reformer: Moralität und Hygiene Dirt offends against order.84 Mary Douglas

Neben den politischen und wirtschaft­lichen Eliten gab es noch eine dritte Gruppierung, die den Bau eines neuen Transitsystems lautstark propagierte: die sogenannten Progressivists bzw. Social Reformers. Primär aus dem aufstrebenden Bürgertum stammend, bildeten sie eine durchaus heterogene Interessengemeinschaft, in der neben Ärzten und Anwälten auch Journalisten und Ingenieure 82 Zur Einführung der Infrastrukturen des Frisch- und Abwassers vgl. ausführ­licher: Duffy, John: A History of Public Health in New York City, 1625 – 1866, New York: ­Russell Sage Founda­tion 1968, S. 391 ff; Corey, Steven H.: »Sanita­tion«, in: Kenneth T. ­Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 1041 – 1043. 83 [Anonym]: »Loving Cup To Belmont Given At Subway Feast; Chief Engineer Parsons Says City Should Be Satisfied.«, The New York Times (28. Oktober 1904). 84 Douglas, Mary: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollu­tion and Taboo, London: Routledge 2002, S. 2.

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zusammenkamen.85 Dennoch waren sie durchaus einflussreich und viele ihrer Anhänger waren zudem in hohen politischen Ämtern aktiv. Die Gruppe der Reformer ist für die Prozesse, in denen das kommende urbane Passagiersubjekt diskursiv erzeugt und mit Eigenschaften ausstattet wird, in mehrerlei Hinsicht zentral. So propagierten sie die Konstruk­tion einer Subway nicht nur hinsicht­lich ihres potenziellen sozio-­ökonomischen Nutzens, sondern sahen in dieser Technologie auch das utopische Versprechen einer neuen Form urbaner Gemeinschaft verkörpert. Während die Politiker und Unternehmer die Einwohner New Yorks dabei primär mit einem universalen und totalisierenden Blick als Bevölkerung und Masse adressierten, blickten die sozia­len Reformer vor allem mit einem individualisierenden Blick auf den einzelnen Bewohner. Ihr Interesse galt vor allem der Transforma­tion der individuellen Praktiken, Lebensformen und Wertesysteme der Menschen selbst. Die Reformer wollten nicht nur die Bevölkerung zum Zirkulieren bringen, sondern auch die stagnie­ renden Erwerbsformen und mora­lischen Überzeugungen der Individuen selbst in Fluss bringen. In ihrer Advokatenschaft für eine neue Zirkula­tionstechnologie knüpften die Reformer vor allem an Diskurse sozia­ler Hygiene an, welche bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert metropolitane Politiken diesseits und jenseits des Atlantiks mitbestimmt hatten.86 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs diese Gruppe zu einer breiten Bewegung des Progressive Movement und erlangte zunehmend politischen Einfluss.87 Dies ging auch mit einer erheb­lichen Diskursmacht der Reformer in den damaligen Debatten der sozia­len Frage einher. Eine Vielzahl ihrer Mitglieder engagierte sich in Wohlfahrtsverbänden und politischen Ausschüssen oder propagierte ihre Ideen in wichtigen Zeitschriften wie McClure oder Municipal Reform. Die Reformer adressierten dabei eine Vielzahl von Problemen: von Korrup­tion und Anomie, mangelnder Bildung, mora­lischem Verfall bis hin zu Verwahrlosung, Unterbezahlung und Kinderarbeit. Als primär 85 Vgl. dazu ausführ­lich das Standardwerk: Lubove, Roy: The Progressives and the Slums: Tenement House Reform in New York City, 1890 – 1917, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1974. 86 Zu diesen transatlantischen Verknüpfungen vgl. ausführ­licher: Rodgers, Daniel T.: Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1998. 87 Die Literatur zum Progressive Movement in den USA ist mittlerweile kaum noch zu überblicken. Gute Einstiege bieten jedoch: Chambers, John Whiteclay: The Tyranny of Change: America in the Progressive Era, 1890 – 1920, New Brunswick, N. J.: Rutgers University Press 2000; McGerr, Michael E.: A Fierce Discontent: The Rise and Fall of the Progressive Movement in America, 1870 – 1920, New York: Oxford University Press 2005. Siehe auch: Hood: 722 Miles, S. 126.

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Abb. 7 und 8: Fotos der Tenements in New York (1890), die Riis selbst anfertigte, um seine Reportage zu illustrieren.

säkulare Bewegung lässt sich ihre politische Agenda auch als Reaktion auf die rapiden sozialen, kulturellen und ökonomischen Modernisierungsprozesse lesen, die sich nicht zuletzt in der Verelendung weiter Teile der Bevölkerung manifestierten. Gerade für die Reformer New Yorks war die Verbesserung der Lebenssituation der Armen und Immigranten von entscheidender Bedeutung. Dies bedeutete vor allem die Umgestaltung ihrer Lebensumwelten.88 Als eine der zentralen Figuren in der Bewegung der Sozialen Reformer kann der dänische Immigrant und Journalist Jacob A. Riis (1849 – 1914) gelten.89 In seiner berühmten Reportage How The Other Half Lives aus dem Jahre 1890 schildert er mit drastischen Worten die Lebensbedingungen in den Mietskasernen von New Yorks Lower East Side und Five Points.90 Trotz seiner teilweise stereotypen und vorurteilsbehafteten Perspektive auf die ethnischen Gruppen der Slums erlauben seine Schilderungen und Fotografien einen wertvollen Einblick in die räumliche Organisation der Armenquartiere der Stadt (Abb. 7 und 8). So beschreibt Riis eindrücklich, wie aufgrund der starken Zuwanderung und Landflucht die unteren Schichten in minderwertigen und beengten Baustrukturen siedeln mussten, die unter dem Druck weiterer Neuankömmlinge 88 Vgl. Lubove: The Progressives and the Slums: Tenement House Reform in New York City, 1890 – 1917. 89 Zu Riis’ Biographie und politischen Überzeugungen vgl. ausführlich: Alland, Alexander: Jacob A. Riis: Photographer & Citizen, New York, N. Y.: Aperture 1993. 90 Riis, Jacob A.: How the Other Half Lives, New York: Barnes & Noble Publishing 2004. Zur Geschichte von Five Points aus heutiger Sicht vgl. die sehr lesenswerte Studie: Anbinder, Tyler: Five Points: The 19th-Century New York City Neighborhood That Invented Tap Dance, Stole Elections, and Became the World’s Most Notorious Slum, New York: Blume 2002.

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unaufhör­lich anwuchsen.91 Dies führte zu selbst für die damalige Zeit katastrophalen Lebensbedingungen, wie Riis unter Bezugnahme auf einen Bericht aus dem Jahre 1857 herausstellt: Their large rooms were por­tioned into several smaller ones, without regard to light and ventila­tion, the rate of rent being lower in propor­tion to space and or height from the street; and they soon became filled from cellar to garret with a class of tenantry living from hand to mouth, loose in morals improvident in habits, degraded, and squalid as beggary itself.92

Auch hier erscheinen Stagna­tion und mangelnde Zirkula­tion als grundlegendes Motiv, auf das sich Kriminalität, Krankheit und Armut zurückführen lassen. Die sich rasant ausbreitenden Slums mit ihren schmutzigen, chaotischen und dicht besiedelten Mietshäusern stellten auch für Reformer wie Riis eine nicht zu unterschätzende mora­lische und hygienische Gefahr dar, die die öffent­liche Ordnung der Stadt unterminierte. Die Kopplung von Hygiene, Moral und sozia­ler Ordnung ist in den Diskursen um die Slums New Yorks zwar besonders prägnant, jedoch keinesfalls singulär. Wie die amerikanische Anthropologin Mary Douglas in ihrer Studie Purity and Danger argumentiert, entwickelt nahezu jede Gesellschaft Konzepte von Verschmutzung und Gegenstrategien der Reinigung. Oftmals ist es dabei die Wahrnehmung hygienischer Unreinheiten, die mit Vorstellungen von Verhaltensabweichungen und mora­lischem Verfall gekoppelt wird und so die bestehenden sozia­len Forma­tionen infrage stellt.93 Douglas zufolge machen sie die Herausbildung von Praktiken und Ritualen der Reinigung erforder­lich, um die gesellschaft­liche Ordnung aufrechterhalten zu können. Die Gewissheit, dass die Durchsetzung geordneter Zirkula­tionen das geeignete Mittel war, diese Reinigung zu erreichen, durchzog auch die west­lichen Diskurse öffent­licher Gesundheit und Ordnung bereits seit dem 18. Jahrhundert. Im Zuge ihrer Verbreitung koppelten sich die Forderungen nach der Einführung von sanitären Infrastruktursystemen in den Armenquartieren an die Hoffnung, damit eine Durchsetzung öffent­licher Ordnung durch die Zivilisierung ihrer Bewohner zu erreichen. Als verbindendes Element all jener 91 Aus der Flut der Literatur zu den Mietskasernen New Yorks im 19. Jahrhundert vgl. exemplarisch: Pluntz, Richard A.: »On the Uses and Abuses of Air: Perfecting the New York Tenement, 1850 – 1901«, in: Josef P. Kleihues und Christina Rathgeber (Hrsg.): Like and Unlike: Essays on Architecture and Art from 1870 to the Present, New York: Rizzoli 1993, S. 159 – 179. 92 Riis: How the Other Half Lives, S. 2. 93 Douglas: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollu­tion and Taboo, S. 2.

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Bestrebungen fungierte dabei eine spezifische Idee von Hygiene. Sie wurde sowohl als Aufgabe der Regierung wie als individuelle Körperpraktik propagiert. In beiden Momenten zielte sie auf die Durchsetzung geordneter Zirkula­ tion und die Vermeidung von Stauungen ab, sei es in den Röhren der Stadt wie in denen der Körper. Verschränkt war dies mit einer Idee von räum­licher Ansteckung und Übertragung, in der die Territorien der Slums einen Nährboden für Infek­tionen aller Art darstellten.94 Die Codierung dieser Räume als infektiös zielte ausdrück­lich nicht nur auf medizinische Aspekte ab, wie beispielsweise die Epidemien von Typhus, Cholera oder Tuberkulose. Als ebenso ansteckend erscheinen nun auch der Lebensstil und die mora­lischen Einstellungen ihrer Bewohner. Die diskursive Verschränkung der schmutzigen und infektiösen Territorien der Slums mit dem ungesunden Lebenswandel ihrer Bewohner bedeutete, dass es nun als Aufgabe einer guten Regierung angesehen wurde, beide Aspekte gleichermaßen zu bekämpfen. In der Frage nach der erfolgreichen Implementierung von Hygieneregimen gerieten auch die Praktiken und Überzeugungen der Bewohner in den Blick der Reformer. Sie zu verändern war ebenso dringend geboten wie die infrastrukturelle Modernisierung der Stadt. Ein zentrales Instrument dafür sollte unter anderem die Integra­tion der Ideologien hygienischer Zirkula­tion in die Lehrpläne der öffent­lichen Schulen sein.95 (Abb. 9). Riis selbst gibt ein frühes Zeugnis der Bestrebungen, diese Ideen in den Individuen selbst zu verankern. Nach dem Besuch einer Schule im jüdischen Armenviertel um New Yorks Allen Street berichtet er: The ques­tion is asked daily from the teacher’s desk: ›What must we do to be healthy?‹ and the whole school responds: ›I must keep my skin clean, Wear clean clothes, Breathe pure air, And live in the sunlight.‹ It seems little less than biting sarcasm to hear them say it, for not only a few of them all these things are known only by name.96

94 Derrick: Tunneling the Future: The Story of the Great Subway Expansion that saved New York, S. 18 f. 95 Riis: How the Other Half Lives, S. 89. 96 Ebd.

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Abb. 9: Schulunterricht in den Armenquartieren der Lower East Side (ca. 1888). Foto: Jacob Riis.

Der Zugang aller Bürger New Yorks zu frischer Luft, Sonnenlicht und sauberem Wasser avancierte somit bald zu einer zentralen öffentlichen Forderung. Zahlreiche Ingenieure, Technokraten und Stadtplaner propagierten den Anschluss der breiten Bevölkerung an die Technologien der Zirkulation als das geeignete Mittel zur Schaffung einer besseren Stadt. Bereits hier haben wir es mit einer frühen Form jener Idee des Social Engineering zu tun, die Fragen sozialer Benachteiligung und des ungleichen Zugangs zu Ressourcen als technisch lösbare Organisationsprobleme reformuliert.97 Ihr liegt ein Umweltdeterminismus zugrunde, demzufolge eine geordnete, gesunde und moralische Bevölkerung vor allem durch die Veränderung der materiellen Strukturen der Stadt zu verwirklichen sei. Damit erscheint die raumplanerische Umgestaltung der Stadt als ein Akt urbaner Hygiene, in dem vor allem die Bekämpfung der Enge und Stagnation in den Armenquartieren von höchster Dringlichkeit ist. Im Zuge der Verbreitung dieser Ideen werden im späten 19. Jahrhundert nicht nur in New York, sondern auch in einer Vielzahl weiterer westlicher Metropolen

97 Vgl. Jordan, John M.: Machine-Age Ideology: Social Engineering and American Liberalism, 1911 – 1939, Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press 1994.

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weitreichende Programme zur Sanitätsreform verabschiedet.98 Diese zielen einerseits auf den Anschluss der Armenquartiere an die städtischen Infrastrukturen ab, andererseits gilt es auch, Anreize für Investoren zur Schaffung neuer und weniger verdichteter Wohnstrukturen bereitzustellen. Mit diesen Programmen gelingt es zwar teilweise, die hohe Sterb­lichkeit in den Quartieren zu reduzieren, sie führt jedoch auch zu neuen Formen von Marginalisierung und Exklusion. Denn in dem Maße, in dem die medizinischen und sozia­l­ hygienischen Diskurse der Zeit Sonnen­licht, Wasser und Luft als wertvolle Ressourcen ausweisen, werden sie auch vom kapitalistischen Immobilienmarkt New Yorks kommodifiziert. Dies führte zum einen dazu, dass sich die Ärmsten ein Leben in den sanierten und nun besser an die Zirkula­tion angeschlossenen Wohnungen nicht mehr leisten konnten. Zum anderen sahen sich zahlreiche Besitzer der Baracken und maroden Gebäude außerstande, das Kapital für die geforderten Modernisierungen aufzubringen. Währenddessen verschlimmerten sich die Zustände in diesen Quartieren zusehends. Daran änderten auch die Verbote ihrer weiteren Vermietung nichts, die nicht nur in New York, sondern auch in Paris, London oder Berlin im späten 19. Jahrhundert durchgesetzt wurden. Arme Migranten wurden weiterhin in die bereits überfüllten und aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen als Todesfallen angesehenen Gebäude gepfercht. Allerdings sahen sich die Bewohner nun zudem noch den ständigen Kontrollen und Räumungsversuchen der Polizei ausgesetzt. Für die sozia­len Reformer wurde angesichts dieser Entwicklungen offenkundig, dass man zu wesent­lich drastischeren Mitteln greifen musste, um die Lebensumstände in den Slums der Stadt zu verbessern. Um die Heilsversprechen der Zirkula­tion in großem Maßstab zu verwirk­lichen, bedurfte es nicht weniger als einer grundlegenden infrastrukturellen Transforma­tion der ganzen Stadt. Infolgedessen vereinigten sich all die durchaus heterogenen Bestrebungen der Reformer in der politischen Forderung nach einem gewaltigen Transitsystem, das eine Neuverteilung und Entzerrung der Bevölkerung New Yorks erlaubte. Wissenschaft­lich fundiert wurde dies durch einen der prominentesten Reformer der Zeit, dem Politökonom Adna F. Weber (1870 – 1968). Weber, der sich eingehend mit der Verteilung der Bevölkerung in den west­lichen Metropolen befasste, kommt 1899 in seiner wegweisenden Studie The Growth of Cities in the Nineteenth Century zu dem Fazit:

98 Für New York siehe: Lubove: The Progressives and the Slums: Tenement House Reform in New York City, 1890 – 1917. Für Paris vgl.: Reid, Donald: Paris Sewer and Sewermen. Realities and Representa­tions, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1991.

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It is now clear that the growth of cities must be studied as a part of the ques­tion of distribu­ tion of popula­tion, which is always dependent upon the economic organiza­tion of society-­ upon the constant striving to maintain as many people as possible upon a given area. The ever-­present problem is so to distribute and organize the masses of men that they can render such services as favor the maintenance of the na­tion and thereby accomplish their own preserva­tion.99

Um das ökonomische Wachstum wie den sozia­len Zusammenhalt der Städte für die Zukunft zu sichern, musste also eine radikal neue Lösung für die Distribu­ tion und Organisa­tion der Bevölkerungsmassen gefunden werden. Für Weber lag die einzige Antwort in der Intensivierung von Prozessen der Suburbanisierung, die sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts am Rande der Metropolen abzeichneten. Nach seiner Auffassung bot allein sie einen Ausweg aus dem Elend und den Krisen in den kollabierenden Millionenstädten der west­lichen Welt. Doch die Schaffung von suburbanen Siedlungsstrukturen war für Weber nicht nur ein wirksames Instrument zur besseren Verteilung der Bevölkerung. Die Idee der Suburbanisierung barg auch die Hoffnung auf die Realisierung einer gänz­lich neuen Form zivilen Zusammenlebens. Für die Neuansiedlung der Bevölkerung an den Peripherien der Stadt mussten jedoch vor allem die Strukturen von Arbeit und Wohnen von Grund auf neu gedacht werden. So stellte Weber heraus: »Though popula­tion must be concentrated, it does not follow that popula­tion must be congested unless we assure that a man’s adobe cannot be separated from his workplace.«100 Die Schaffung eines weitreichenden Transitsystems, das den Menschen eine räum­liche Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort erlaubte, versprach dabei nicht nur die Entzerrung der urbanen Mietskasernen und Slums.101 Ebenso entscheidend war, dass es diese Technologie ermög­lichen würde, die Bewohner selbst zum Zirkulieren zu bringen. Damit würde es end­lich gelingen, sie an die Waren- und Kapitalströme der Stadt anzuschließen und damit auch kulturell zu integrieren. Als Passagiere könnten sie den sozia­len Pathologien, dem Elend und der Perspektivlosigkeit der Slums entkommen und nicht nur phy­sisch, sondern auch sozia­l mobilisiert werden. Es wäre jedoch falsch, die Idee, die Bewohner 99 Weber, Adna F.: The Growth of Cities in the Nineteenth Century. A Study in Statistics, Studies in History, Economics, and Public Law 11, New York: The Macmillan Company 1899, S. 157. 100 Weber, Adna F.: »Rapid Transit and the Housing Problem«, Municipal Affairs 6 (1902), S. 408 – 417, hier S. 411. Auch zitiert in Hood: »The Impact of the IRT on New York City«, S. 155. 101 Vgl. Jackson, Kenneth T.: Crabgrass Frontier: The Suburbaniza­tion of the United States, New York: Oxford University Press, USA 1987, S. 116 ff.

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New Yorks zum Zirkulieren zu bringen, als das Bestreben nach der Umgestaltung gesellschaft­licher Herrschaftsordnungen und Machtstrukturen zu verstehen. Die Reformer strebten vielmehr die Inklusion der Armen und Benachteiligten in die bestehenden politischen, sozia­len und ökonomischen Regime der Stadt an. Darüber hinaus sollten nicht nur die Bevölkerung der Slums, sondern alle Bewohner der innerstädtischen Mietwohnungen in Passagiere verwandelt werden, und dies betraf bei Weitem die Mehrzahl der Einwohner New Yorks. Ihre Inklusion in ein kommendes gigantisches Transitsystem sollte eine einschneidende Transforma­ tion der Lebensbedingungen der Menschen bewirken und die Stadt grundlegend verändern. Die antizipierte Subjektform des Berufspendlers, der z­ wischen Arbeit und Wohnung zirkuliert, erlaubte auch, die Forderungen der Reformer von kürzeren Arbeitszeiten mit dem zeit­lichen Mehraufwand im Transit zu rechtfertigen. Weber, der zusammen mit Riis und zahlreichen anderen sozia­len Reformern in den einschlägigen Debatten von Stadtplanung und Siedlungsbau eine einflussreiche Stimme hatte, propagierte mit der Schaffung neuer Quartiere an den städtischen Peripherien zugleich die Verwirk­lichung einer neuen urbanen Subjektkultur. Die modernen Siedlungsräume an den Rändern New Yorks würden nichts weniger als eine bis dahin unbekannte Form städtischen Lebens ermög­lichen. Sie wären in der Lage, die Vorzüge der Stadt und des Dorfes zu verbinden.102 Im Gegensatz zu den Überzeugungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war für Weber wie für die allermeisten Reformer die simple Rückkehr zu ruralen Siedlungsformen keine erstzunehmende Op­tion mehr. Viele von ihnen stammten selbst vom Land, hatten in den Städten Karriere gemacht und waren daher überzeugte Advokaten für die Chancen, welche die Metropolen den Menschen eröffneten. Für die Reformer erlaubte die Realisierung neuer Vororte für die Arbeiter die Synthese der urbanen Bildungs- und Erwerbschancen mit den rural codierten Vorzügen stabiler sozia­ler Beziehungen und mora­lischer Integrität. Damit die Stadtbewohner sowohl die Privilegien der Vororte wie der städtischen Zentren genießen konnten, mussten sie jedoch zuerst in Passagiere verwandelt werden. So waren die Ingenieure, Politiker und Journalisten bemüht, die Utopie einer Metropole der Passagiere in den Überzeugungen der breiten Massen zu verankern.103 Dies erforderte zum einen, die Subway als urbane Fortschritts- und Zirkula­tionsmaschine zu propagieren, die eine lebenswertere Form der Stadt herbeiführen sollte. Andererseits galt es, das Passagier-­Sein als eine neue und erstrebenswerte Form urbaner Subjektkultur zu verbreiten und an die Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben anzuschließen. 102 Vgl. Hood: »The Impact of the IRT on New York City«, S. 155 f. 103 Derrick: Tunneling the Future: The Story of the Great Subway Expansion that saved New York, S. 21.

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Der Passagier als Heros der libertären Stadt In den diskursiven Ausstattungen des zukünftigen Stadtbewohners als ein zirku­ lierendes Subjekt, das über die Subway in neuer Form in die urbane Gesellschaft integriert werden würde, kommen eine Vielzahl von Hoffnungen und Erwartungen zum Tragen. Für die Politiker, Unternehmer und Reformer barg die Subjektform des Passagiers das Versprechen, ein mora­lisch gefestigtes, s­ ozial integriertes, politisch angepasstes und ökonomisch erfolgreiches Leben zu führen. Es ist dabei kein Zufall, dass sich diesen Subjektzuschreibungen des urbanen Passagiers vor allem die Gegenbilder zu den Stigmatisierungen der Slum­bewohner, Passanten und frühen Passagiere finden. All jene Merkmale verdichten sich zu einem Bild des künftigen Subwaypassagiers als Erlöserfigur, die einen Ausweg aus der Krise der Stadt weisen sollte. Dabei war gerade für die politischen Eliten die Inkludierung der Arbeiterklasse in die Infrastruktur der Zirkula­tion auch eine Form ihrer Assimila­tion und Pazifizierung. Für Reformer wie Weber und Riis war vor allem wichtig, dass die Ankopplung der Menschen an die sozio-­ökonomischen Strukturen der Stadt auch ihre Metamorphose von Mietern in Grundbesitzer ermög­ lichen würde. Die Mietshäuser, die trotz der Reformbestrebungen und der Einführung strengerer Bauauflagen noch immer als Hort sozia­ler Verelendung galten, stellten in ihrem Verständnis eine Sackgasse städtischer Entwicklung dar.104 Die Reformer propagierten stattdessen die Rückkehr des Eigenheims für die Stadtbewohner. Während sie in den Slums den Zerfall ­sozia­ ler Gemeinschaft und die individualisierte Anonymität bis hin zur Anomie zu beobachten glaubten, lag die Zukunft urbanen Zusammenlebens in der Solidarität von Grundbesitzern. Diese, so die Hoffnung der Eliten, würde die Isola­tion der Mietskasernen durch einen neuen solidarischen Geist von stolzen Hauseigentümern ersetzen und die Entfaltung neuer persön­licher Charakterzüge, wie Abstinenz, Moralität, Verantwortungsbewusstsein und ökonomische Voraussicht, befördern.105 Damit würde auch der Zusammenhalt in den Quartieren gestärkt werden. Ein weiteres Merkmal des kommenden Passagiersubjektes war seine Assimilierung in die Gesamtheit urbaner Kultur. Damit antwortete es auf das vermeint­ liche Fehlen kultureller Ordnungsmuster und Regeln sowie die weitverbreiteten sozia­len Pathologien und Anomien in den Slums, welche in den Augen der Reformer das Ergebnis mangelnder kultureller wie ökonomischer I­ ntegra­tion 1 04 Vgl. Lubove: The Progressives and the Slums: Tenement House Reform in New York City, 1890 – 1917, vor allem S. 117 ff. 105 Vgl. Weber: »Rapid Transit and the Housing Problem«.

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waren. Die Mietskasernen in der Lower East Side, Greenwich Village oder Five Points wurden als stagnative Orte verstanden, in denen die Immigranten ihre alten Sprachen, Gebräuche, Religionen und anderen kulturellen Formen beibehielten.106 Wenn die sozia­len Reformer stattdessen die Slumbewohner zu Eigenheimbesitzern und zirkulierenden Passagieren machen wollten, bedeutete dies in ihrem Verständnis auch eine radikale Form sozio-­kultureller wie ökonomischer Integra­tion. Das Angekommen-­Sein in der neuen Heimat und die gelungene Assimilierung wurden so über den Umfang der Zirkula­tion der Subjekte bestimmbar. In dieser Hinsicht lässt sich das Passagierwerden als eine Form von Amnesie beschreiben. Einmal an die Zirkula­tionsrhythmen des urbanen Transits angeschlossen, würden die Immigranten ihre Herkunft hinter sich lassen und sich stattdessen in die kulturellen Muster und Wertesysteme ihrer neuen Heimat einfügen. Die Eliten waren zudem überzeugt, dass mit der Verwandlung der Arbeiter in Pendler auch deren Familienstrukturen gestärkt würden.107 Im Zuge der neugewonnenen Stabilität durch die Inklusion in die ökonomischen Verwertungslogiken der Stadt würden sich die Familien der Armen und Arbeiter zu intimen und beständigen Einheiten transformieren – entgegen den Stigmata der Promiskuität und eines allgemein unsteten Privatlebens, die den Bewohnern der Slums anhafteten. Auch glaubte man, dass der klare raum-­zeit­liche Rhythmus der Erwerbsformen end­lich Verläss­lichkeit und Beständigkeit in die bislang als chaotisch und mora­lisch zweifelhaft geltenden Beziehungsformen der Bewohner bringen würde. Während die Ehemänner so einem geregelten Erwerbsleben mit strengem Zeitregime nachgehen würden, sollten in den Ehefrauen vermehrt häus­liche Instinkte wachgerufen werden, die durch das Leben in den Mietskasernen angeb­lich bisher unterdrückt wurden.108 Und die Kinder und Jugend­lichen, die sich nun nicht mehr dauerhaft dem korrumpierenden Straßenleben der Innenstädte sowie der Ausbeutung durch Kinderarbeit ausgesetzt sahen, wären in einem suburbanen Umfeld in der Lage, zu anständigen und angepassten Bürgern heranzuwachsen. Auch sie würden als Passagiere zu ihren Schulen und Ausbildungsstätten pendeln – was ihren Sinn für urbane Zugehörigkeit stärken und sie zudem mora­lisch festigen würde. Kurz: Für die Unternehmer, Politiker und Reformer ging die neue räum­liche Mobilität in den subterranen Röhren der Stadt Hand in Hand mit der Überwindung persön­licher wie ökonomischer Stagna­tion. Passagier zu werden hieß, seine ­sozia­le Posi­tion am unteren Rand der Gesellschaft zu verlassen und durch Eigenheimbesitz, 106 Vgl. Hood: 722 Miles, S. 127. 107 Vgl. Hood: »The Impact of the IRT on New York City«, S. 157. 108 Vgl. Ebd., S. 159.

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feste Familienstrukturen, mora­lische Integrität und stabile Erwerbsformen in die Mittelschicht aufzusteigen: »All that is needed is cheap and rapid transit between home and workplace.«109 Die Umformung der Metropolen von Passantenstädten zu Passagierstädten war dabei an eine ganz spezifische Vorstellung des neuen Transitsystems gekoppelt. Die kommende Subway sollte nicht nur verläss­lich, schnell und sauber, sondern vor allem auch für alle Menschen erschwing­lich sein. Dabei lehnten die Reformer in den amerikanischen Städten eine Organisa­tion mit verbilligten Waggons für die Arbeiter, wie sie in euro­päischen Transitsystemen zum Teil eingesetzt wurden, entschieden ab. Amerika sollte eine klassenlose Gesellschaft sein, und dies sollte auch für ihre Passagiere gelten.110 Darin zeigt sich ein egalitärer Anspruch, nach dem Menschen aller Klassen und Hautfarben zu Passagieren werden konnten. Insgesamt zeichnet sich der Passagier in den Diskursen der politischen, ökonomischen und sozia­len Eliten als utopischer Heros ab, der nicht nur eine neue Form des Selbst, sondern auch eine neue Form urbaner Gemeinschaft schaffen sollte. Die Prophezeiungen einer neuen Einheit der Stadt und ihrer Bewohner, die in der feier­lichen Zeremonie der Eröffnung der Subway am 27. Oktober 1904 mit so viel Pathos vorgetragen wurden, haben ihren Ursprung bereits in den frühen Bestrebungen zur Realisierung eines solchen Systems mehr als 40 Jahre zuvor. Im Zuge seiner dekadenlangen Propagierung und Planung wurden die Eliten nicht müde zu betonen, dass eine kommende Subway weit mehr als ein banaler Teil der öffent­lichen Versorgungsstruktur sein würde.111 Vielmehr sei sie eine kollektive Errungenschaft und ein Monument bürger­lich-­libertärer Gesellschaft. Wie auch Bürgermeister McClellan in der Eröffnungszeremonie hervorhob, war die Subway eine unvergleich­liche Leistung der »sons of the mightiest metropolis the world has ever seen.«112 Was in dieser Rhetorik zudem sichtbar wird, ist die Codierung der Subway als Manifesta­tion dessen, was sich im Anschluss an Jürgen Habermas als »normativen Universalismus«113 umreißen lässt. Die Subway sollte eine demokratische Technologie sein, die allen New Yorkern zur Verfügung steht, ungeachtet ihrer Klassenlage, Hautfarbe oder Herkunft. Dass der Fahrpreis auf fünf Cents gesetzt wurde, halb so viel wie für die Elevated Trains und Pferdewagen und damit auch erschwing­lich für die Arbeiter und Slumbewohner, war ein starkes 109 Weber: »Rapid Transit and the Housing Problem«, S. 412. 110 Vgl. Hood: »The Impact of the IRT on New York City«, S. 157. 111 Vgl. Brooks: Subway City, S. 30. 112 [Anonym]: »Exercises in City Hall«. 113 Zur Idee des normativen Universalismus vgl. Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.

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­­ Zeichen d ­ ieses Geistes universeller Daseinsfürsorge.114 Die Eliten nutzten jede Gelegenheit um herauszustellen, dass gerade diese Form technolo­gischer Inklusion eine Quelle unbändigen Stolzes aller New Yorker sein sollte: »actuated by a united hope and united in a common destiny.«115 Der in diesen Diskursen zum Ausdruck kommende, heute vielleicht befremd­ lich anmutende Pathos, zeugt von dem immensen ideolo­gischen Aufwand in der Propagierung eines unterirdischen Transitsystems. Dafür wurden Ressourcen aus zahlreichen verschiedenen Bereichen mobilisiert: Theologen und Missionare, Ärzte und Ingenieure, Autoren und Verleger beschworen die Subway als libertäre Technologie, die den Nutzern neue und ungeahnte Freiheiten bringen würde. Dass dabei die Ideen von Hygiene, Ökonomie, Regierungsformen und Moralität miteinander verschaltet werden, ist in den Diskursen um die Krisen der west­ lichen Metropolen im 19. Jahrhundert nichts Außergewöhn­liches. Nicht nur der Ausbau der Kanalisa­tion oder der öffent­lichen Beleuchtung, sondern auch die Verwandlung der Bevölkerung in Passagiere waren in den Augen der Reformer wie Politiker letzt­lich Akte sozia­ler Hygiene und mora­lischer Erziehung. Dies macht vielleicht auch verständ­lich, warum ein Untersuchungskommitee des Senats, das sich bereits 1866 mit der Mobilitätskrise New Yorks auseinandersetzte, die nachdrück­liche Forderung nach einer neuen Form innerurbanen Transits wie folgt begründet: »[…] commercial, moral and hygienic considera­ tions all demand an immediate and large addi­tion to the means of travel in the city of New York.«116 In ­diesem Sinne kann die Subway als eine Form biopolitischer Technologie verstanden werden, die noch durch und durch vom sozia­lutopischen Geist des 19. Jahrhunderts durchtränkt ist. Dass ihre Eröffnung jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte, während London, Paris, Boston und Berlin bereits über Untergrundbahnen verfügten, ist auf eine Vielzahl von Gründen zurückzuführen: Sie reichen von politischen Ränkespielen und Machtkämpfen, komplexen und widersprüch­lichen legislativen und judikativen Regelwerken bis zum Börsencrash von 1893 und der daraufhin einsetzenden Rezession.117 Als besonders 114 Zur Idee von Infrastruktur als Daseinsfürsorge vgl. van Laak, Dirk: »Infra-­Struk­ turgeschichte«, Geschichte und Gesellschaft Heft 3/2001/27. Jg. (2001), S. 367 – 393, hier S. 379. 115 [Anonym]: »Exercises in City Hall«. 116 Walker: Fifty Years of Rapid Transit, 1864 – 1917, S. 66. (Hervorhebung S. H.). 117 Die Dynamiken, die letzt­lich zum Bauvertrag der ersten Strecke führten, sind ebenso komplex wie widersprüch­lich. Da sie jedoch im Hinblick auf die Merkmale des Passagiers kaum wirkmächtig sind, können sie hier nur kurz skizziert werden. Vgl. ausführ­lich dazu: Derrick: Tunneling the Future: The Story of the Great Subway Expansion that saved New York.

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problematisch stellte sich allerdings eine Verwaltungsauflage heraus, nach dem die öffent­liche Hand nur maximal 50 Millionen Dollar in die urbane Infrastruktur investieren durfte, eine viel zu geringe Summe für solch ein gigantisches Projekt. All dies führte dazu, dass ­zwischen der nachdrück­lichen Empfehlung der Untersuchungskommission des Senats nach einem schnellem Handeln und der Grundsteinlegung der Subway im Jahre 1900 mehr als 30 Jahre vergehen sollten. Die Realisierung der Utopie Der Durchbruch zur Realisierung der Subway kam letzt­lich von den Unternehmern der Handelskammer New Yorks, die ein völlig neuartiges Finanzierungsmodell vorschlugen.118 Demzufolge würde die Subway zwar Eigentum der Stadt sein, ihre Konstruk­tion und ihr Betrieb sollten jedoch von einer privaten Firma realisiert werden. Im Jahre 1899 erhielten den Zuschlag für Bau und Betrieb (den sogenannten Contract 1) der Unternehmer John B. McDonald (1844 – 1911) sowie der wohlhabende Finanzier und Großinvestor August Belmont Jr. (1853 – 1924). Sie versprachen den Bau der ersten Abschnitte der Subway für 35 Millionen Dollar – die größte Auftragssumme, die die öffent­liche Hand New Yorks bis dato an einen Investor vergeben hatte.119 Man gab dem neugegründeten Unternehmen den Namen Interborough Rapid Transit Company (IRT) und verpflichtete den noch relativ jungen William Barclay Parsons (1859 – 1932) als Chefingenieur. Er hatte sich bereits in Europa mit den Modalitäten elektrischen Schienentransits vertraut gemacht und sollte seine Expertise nun für die Schaffung der modernsten und größten Untergrundbahn der Welt einsetzen. Nach langen Verhandlungen und konfliktreichen Planungsprozessen entschied man sich im Jahre 1897 für den Verlauf der ersten Linie. Sie sollte in der Sta­tion City Hall ihren Anfang nehmen und dann entlang der Westseite Manhattans hinauf bis in die Bronx führen.120 Selbstverständ­lich sollte nach der Eröffnung dieser Strecke das System beständig erweitert werden. Die großen Distanzen und das weitreichende Streckennetz, dass die New Yorker Subway in ihrer heutigen Form auszeichnet, ist dabei vor allem durch die Entwicklung elektrischer Motoren mög­lich geworden, die eine hohe Taktung und konstante Energiezufuhr erlaubten. Während die erste Untergrundbahn 118 Ebd., S. 40 f. 119 Vgl. Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. 20. 120 Der Betrieb dieser Sta­tion ist am 31. Dezember 1945 eingestellt wurden. Vgl. Walker: Fifty Years of Rapid Transit, 1864 – 1917, S. 162 ff. Für alternative Pläne der Subway siehe auch: Shanor: The City that Never was.

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der Welt in London zu Beginn mit Dampfmaschinen betrieben wurde, was erheb­liche Probleme mit sich brachte, konnte New York als erste Metropole der Welt ein großflächiges Versorgungsnetz mit elektrischer Energie installieren. Eine weitere Neuerung war die Schaffung eines viergleisigen Systems, mit jeweils einem lokalen und einem Expresszug in jede Richtung. Diese entscheidende Innova­tion erlaubte eine bis dato ungeahnte Reichweite und eine immense Beschleunigung, mit der die Systeme der anderen Städte, wie London oder Budapest, nicht mithalten konnten. Zwar regten sich Zweifel, ob sich die Expresszüge als profitabel erweisen würden, da man jedoch von ihrer Fortschritt­ lichkeit überzeugt war, hielt man eisern an dieser Idee fest.121 Als am 24. März 1900 end­lich der feier­liche Spatenstich für die ersten Sta­ tionen erfolgte, wohnten dem Ereignis mehrere zehntausend Menschen bei, die von über tausend Polizisten in Schach gehalten werden mussten. Glaubt man der New York Times, die das Ereignis als »one of the most important events in the history of the city« bezeichnete, war die Euphorie bereits damals unbeschreib­lich.122 Sie sollte nur vom Jubel bei der Jungfernfahrt vier Jahre s­ päter übertroffen werden. Allerdings war diese Begeisterung auch nötig, schließ­lich erwartete New York nun vier entbehrungsreiche Jahre allein für die Konstruk­ tion der ersten Linie. Entgegen der Technik des Bohrens unterirdischer Tunnel, wie man sie beispielsweise bei der London Underground angewendet hatte, entschied man sich für ein Verfahren namens Cut-­And-­Cover, bei der die gesamte Straße aufgerissen werden musste, um die Röhren und Sta­tionen von oben einzusetzen (Abb. 10).123 Die Ingenieure versprachen sich langfristig einen Vorteil von dieser Technik, da die Sta­tionen nahe an der Oberfläche lagen und man auf aufwendige Treppensysteme und Aufzüge verzichten konnte.124 Diese Methode erwies sich letzt­lich jedoch als herausfordernder und teurer als gedacht. Einerseits unterschätzte man die Komplexität der Geologie Manhattans. Granitfelsen und Treibsand trieben die Ingenieure und »Subway Miner« immer wieder zur Verzweiflung.125 Andererseits hatte das Verfahren den Nachteil, dass man weite Teile der ohnehin schon stark überlasteten Straßen teilweise über Jahre absperren musste. 121 Hood: »The Impact of the IRT on New York City«, S. 150. 122 [Anonym]: »Rapid Transit Tunnel Begun – Ground Officially Broken«, The New York Times (25. März 1900). 123 Vgl. ausführ­licher: Interborough Rapid Transit Company: The New York Subway: Its Construc­tion and Equipment, New York: McGraw Publishing 1904. 124 Zur Konstruk­tion der Subway siehe ausführ­licher: Fischler, Stan: Uptown Downtown: A Trip Through Time on New York’s Subways, New York: Hawthorn Books 1976, S.  33 ff. 125 Vgl. Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. 22 ff.

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Abb. 10: Blick auf den Bau der Subway an der Station Broadway und 104. Straße nach Süden aus dem Jahre 1902. Man sieht ebenso die letzten Streetcars, die die Subway bald ersetzen sollte, wie auch eine erhöhte Bauaktivität an den angrenzenden Grundstücken, die den immensen Immobilienboom veranschaulicht, den die Subway mit sich brachte.

Dies zog immer wieder wütende Proteste nach sich und verzögerte auch die Konstruktionsarbeiten. Darüber hinaus verfügte der urbane Untergrund New Yorks bereits über ein vielfältiges Netz an Kanalisationssystemen sowie Gasund Wasserleitungen, die man während der Konstruktion umleiten musste. So verging kaum ein Monat, in dem die New Yorker keine Hiobsbotschaft über den Fortgang der Konstruktion in den Zeitungen fanden: von regelmäßigen Unfällen bei Sprengarbeiten oder Einstürzen, die insgesamt 16 Menschen das Leben kosteten, bis zu Klagewellen der Besitzer umliegender Gebäude, da die Fundamente durch die Konstruktion beschädigt wurden.126 Die Verfechter des Systems mühten sich währenddessen redlich, die kommenden Segnungen dieser Infrastruktur zu beschwören und an den Durchhaltewillen der New Yorker zu appellieren. Ihr kommendes Dasein als Passagiere würde sie für die Zumutungen und Entbehrungen mehr als entschädigen.127 126 Vgl. Ebd., S. 24. 127 So betont es bspw. John B. McDonald in: ›The Man that Built the Subway‹ interviewed by Kate Carew, New York World, October 23, 1904. Zitiert in: Brooks: Subway City, S. 64.

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Zwar war der Passagier hinsicht­lich seiner idealtypischen Merkmale bereits diskursiv formiert, hinsicht­lich der Frage, wie die Menschen das Systems jedoch tatsäch­lich erleben sollten und welche Praktiken und Interak­tionen sie ausbilden würden, stellte er jedoch eine noch weitgehend unterbestimmte Subjektform dar. So galt es, nicht nur die Auswirkungen der Subway auf die Subjektkulturen der Bevölkerung zu antizipieren, sondern auch das Verhalten der Passagiere während des Transits selbst in den Blick zu nehmen. Demzufolge richteten sich die Bestrebungen der Unternehmer und Ingenieure nun darauf, die Affekte der ersten Passagiere zu vereindeutigen und zu kontrollieren.

4. Affektkontrollen Je näher der Eröffnungstag des Systems rückte, desto deut­licher wurde für die Investoren und Politiker, was eigent­lich auf dem Spiel stand. Nach Jahrzehnten von Planungen und Konflikten sowie den langjährigen Torturen der Konstruk­ tion war nun der Augenblick gekommen, in dem sich zeigen sollte, ob sich all die Hoffnungen und Erwartungen bewahrheiten würden. Die immense Aufgabe, die zweitgrößte Metropole des Planeten in eine Stadt der Passagiere zu verwandeln, erreichte einen entscheidenden Moment. Wie würden die Menschen auf das System reagieren? Würden Sie es als jene zivilisatorische Errungenschaft anerkennen, die es in den Augen ihrer Schöpfer war? Würden sie ihre Ängste vor dieser Technologie überwinden? Und vor allem: Würden sie dafür bezahlen? Die Wochen vor dem 27. Oktober 1904 markierten eine neue Phase in der Implementierung des Systems, welches nach den Strapazen seiner politischen Durchsetzung, Finanzierung und Installa­tion nun end­lich in Betrieb genommen werden musste. Dies stellte den wohl kritischsten Moment in der oftmals turbulenten Phase der Subwaykonstruk­tion dar. Zur allgemeinen Beunruhigung trug bei, dass noch nie zuvor in der Geschichte eine solch gigantische innerurbane Infrastruktur auf einen Schlag eröffnet worden war. Die Erfahrungen mit den Eröffnungen der Untergrundbahnen in London oder Budapest waren demzufolge wenig hilfreich. Nicht nur waren diese Systeme wesent­lich kleiner, auch wurden sie meist in mehreren Etappen der Öffent­lichkeit zugäng­lich gemacht. Beispielsweise war die London Underground im Moment ihrer Eröffnung im Jahre 1863 gerade mal fünf Kilometer lang und auch ihre Opera­tionsweise war gänz­lich anders strukturiert.128

128 Zur Geschichte der Londoner Untergrundbahn gibt es eine nahezu ebenso umfassende Literatur wie zur New Yorker Subway. Eine gute Einführung ist jedoch:

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Für alle Beteiligten wurde deut­lich, dass die Eröffnung der New Yorker Subway ein außergewöhn­liches Ereignis war, dessen Scheitern einer massiven Krise in der Legitima­tion der städtischen Eliten gleichkäme. Das Risiko d ­ ieses Moments lag dabei einerseits in der Frage der technischen Zuverlässigkeit, andererseits waren es die Passagiere selbst, deren unvorhersehbares Verhalten eine Gefahr darstellte. Obwohl man immer wieder betonte, dass die Eröffnung ein würdevoller und gefasster Akt sein sollte, stellte ­dieses Ereignis eine ernstzunehmende Bedrohung für die öffent­liche Ordnung dar. Käme es zu Aufständen, Chaos oder Unfällen, wäre dies fatal für die s­ ozia­le Akzeptanz und das Vertrauen in das System. Für den Erfolg der Subway war es demzufolge entscheidend, dass dieser Moment reibungslos vonstattenging und die Menschen der Stadt wirk­lich die Vorzüge des Passagier-­Seins erkannten. Vor allem für die Investoren und Politiker stand dabei eine Menge auf dem Spiel. Sie hatten all ihr politisches wie ökonomisches Kapital in die Waagschale geworfen. Sollte das Projekt scheitern, wäre dies ihr Ruin. Trotz der intensiven Propagierung der Subway als eine Technologie, die die Krise der Stadt überwinden und ihrer Bevölkerung eine neue Form des Zusammenlebens eröffnen sollte, war der Bau eines unterirdischen Transitsystems eine für die damalige Zeit durchaus neue und riskante Idee. Es war somit frag­lich, ob die Menschen sie überhaupt annehmen würden. Bereits seit dem Beginn der Planungen sahen sich die Verfechter der Subway starkem Widerstand und Skepsis ausgesetzt. Besonders in den Anfängen hegten zahlreiche Angehörige der politischen und ökonomischen Eliten ein tiefes Mistrauen gegen das Projekt, nicht zuletzt aufgrund der »Unnatür­lichkeit« und Eigentüm­lichkeit des Transits unter der Erde.129 Auch einflussreiche Personen der Öffent­lichkeit warnten immer wieder vor den Gefahren eines solchen Systems, allen voran der berühmte Eisenbahnunternehmer Russell Sage,130 der überzeugt war: »people would go below ground only once in their lifetime – and that was after death.«131 Angesichts dieser starken Vorbehalte mobilisierten die Eliten zahlreiche Ressourcen, um den zukünftigen Passagieren das Misstrauen gegenüber dem System zu nehmen und ihr Verhalten berechenbar zu machen. Die beiden zentralen Affekte, auf die sich die Strategien der Betreiber richteten, waren Stolz und Angst. Wie bereits aus der Schilderung der Eröffnungszeremonie deut­lich wurde, Wolmar, Christian: The Subterranean Railway: How the London Underground Was Built and How it Changed the City Forever, London: Atlantic Books 2005. 129 Vgl. Hood: 722 Miles, S. 91 ff. 130 Vgl. Mooney, James E.: »Sage, Russell«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 1032. 131 Zitiert in: Hood: 722 Miles, S. 92.

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legten die Eliten großen Wert darauf zu betonen, dass die Subway eine kollektive Errungenschaft war, der man mit Würde und Selbstbewusstsein begegnen sollte. Während es also einerseits galt, die Benutzung der Subway als heroischen Akt zu codieren, mussten andererseits auch die Ängste der zukünftigen Passa­ giere vor dem System adressiert und ihre Bedenken mit wissenschaft­licher Autorität ausgeräumt werden. Unter den Strategien, die dabei zum Einsatz kamen, lassen sich rückblickend vor allem drei Momente ausmachen, die von besonderer Wirkmacht waren und im Folgenden genauer diskutiert werden: erstens die Recodierung des urbanen Untergrunds als sicheres und gesundheit­lich unbedenk­liches Territorium, zweitens die Einführung von Regula­tionen und Verhaltensskripten, welche die Praktiken der Passagiere im System vereinheit­ lichen und disziplinieren sollten, sowie drittens die Bereitstellung eines massiven Aufgebots an Feuerwehr, Polizei und medizinischem Personal, das im Falle von Aufständen und Chaos die öffent­liche Ordnung wiederherstellen würde. In der Zusammenwirkung dieser Faktoren wurden die Passagiere von einem dichten Netz subjektivierender Instanzen umstellt, die darauf abzielten, ihren ersten Kontakt mit der Subway konform und berechenbar zu gestalten. Diese Strategien adressierten neben den Körpern der Passagiere auch deren Affekte und richteten sich dabei besonders auf die tiefsitzenden Vorbehalte und Ängste gegenüber den unterirdischen Territorien der Stadt. Der Aspekt der Affektkontrolle stellt einen entscheidenden Moment in der Subjektivierung der ersten Passagiere dar. Die Bedeutung der Beherrschung und Regulierung von Affekten für die Aufrechterhaltung sozia­ler Ordnung hat auch Norbert Elias herausgestellt: Keine Gesellschaft kann bestehen ohne eine Kanalisierung der individuellen Triebe und Affekte, ohne eine ganz bestimmte Regelung des individuellen Verhaltens. Keine ­solche Regelung ist mög­lich, ohne dass die Menschen auf einander Zwang ausüben und jeder Zwang setzt sich bei dem Gezwungenen in Angst der einen oder anderen Art um.132

Wie schon im vorigen Abschnitt angesprochen, spielt im Rahmen der Durchsetzung libertärer Herrschaft im 19. Jahrhundert die Kontrolle der Affekte durch das »Self-­Monitoring« der Subjekte eine entscheidende Rolle. Auch im Falle des Subwaypassagiers sollte durch die Implementierung von Affektregimen ein Subjekt geschaffen werden, das dem System mög­lichst frei von emo­tionaler Erregung gegenübertritt und sich dabei nicht nur den Diktaten seiner technischen Ra­tionalität beugt, sondern auch von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. 132 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisa­tion: Band 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer ­Theorie der Zivilisa­tion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 447.

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Untergründige Ängste Die Mehrzahl der geäußerten Bedenken um die Sicherheit und Unversehrtheit der Subwaypassagiere koppelten sich an die simple Tatsache, dass die Territorien des Systems weitestgehend unter der Erde lagen.133 So war für viele Menschen der damaligen Zeit allein die Vorstellung subterranen Transits angsterregend und bedroh­lich. Der Gedanke, in einem dunklen und künst­lichen Territorium mit fremden Menschen auf engstem Raum eingeschlossen zu sein und mit rasanter Geschwindigkeit durch den urbanen Untergrund zu rasen, evozierte Schrecken und emo­tionale Abwehr. In den Diskursen um die Gefahren des unterirdischen Transits wurden dabei auch kulturelle Deutungsmuster mobilisiert, die in den west­lichen Kulturen eine lange Tradi­tion haben. Seit Jahrtausenden nehmen die Gefilde des Untergrunds in den Fantasien und Imagina­tionen der Menschen einen prominenten Platz ein. Die Wissensformen, kollektiven Vorstellungen und affektiven Codierungen der Unterwelt sind dabei in hohem Maße historisch und räum­lich dynamisch. Erstaun­lich stabil in der west­lichen Kultur ist jedoch ihre Codierung als Ort der Krisenerfahrung, der verborgenen Wahrheit sowie des Schreckens und des Lasters.134 Bereits in der symbo­lischen Geographie der Antike ist die Unterwelt besetzt als Königreich des Todes und des Zerfalls, als Jenseits und Gegenwelt. Der Welt unter der Erde wurde die Kraft der Umkehrung dessen zugesprochen, was oberhalb ihrer als normal gilt. Auch in den symbo­lischen Weltordnungen des Christentums stellte der Untergrund oftmals das Gegenbild zu den gött­lichen Regionen des Himmels dar und gilt als Ort der Toten, Dämonen und Teufel. Ab der Frühen Neuzeit werden die Bereiche unter der Erde zunehmend säkularisiert und industrialisiert, beispielsweise durch den Bergbau. Ihren ambivalenten Charakter sollten diese Orte jedoch nicht verlieren. Die Unterwelten erscheinen weiterhin als Sphären, die weder komplett einer anderen Welt angehören, noch vollständig Teil unserer eigenen sind. Sie sind zwar ebenso real, aber wesent­lich beunruhigender, bedroh­ licher und fremdartiger als die gewöhn­liche Welt über der Erde.135 133 Dies galt besonders für die Streckennetze Manhattans, die nahezu komplett subterran verlaufen. In den anderen Stadtteilen nutzte man ­später oftmals die Installa­ tionen der Hochbahnen für die Subways. Bis heute befinden sich ca. zwei Drittel des Streckennetzes der Subway unterirdisch. 134 Zu ­diesem und den folgenden Ausführungen vgl. ausführ­lich: Pike, David L.: Subterranean Cities. The World beneath Paris and London, 1800 – 1945, Ithaca: Cornell University Press 2005; Pike, David L.: Metropolis on the Styx. The Underworlds of Modern Urban Culture, 1800 – 2001, Ithaca: Cornell University Press 2007. 135 Vgl. Marshall, Alex: Beneath the Metropolis: The Secret Lives of Cities, New York City: Caroll & Graf 2006, S. 4 ff.

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Sowohl als imaginierter wie auch als realer Raum verbindet der Untergrund das vollkommen Fremdartige mit dem Banalen und Gewöhn­lichen. In den symbo­lischen Weltordnungen der Moderne ist er weder einfach nur Abbild der oberirdischen Welt noch deren simple Reflexion oder Gegenbild. Zudem gilt der Untergrund als Ort und Refugium der Ausgestoßenen.136 Er erscheint als eine Sphäre, in die die Menschen und Dinge verbannt werden, sobald sie als obsolet und nutzlos gelten. Diese Vorstellung finden wir auch im Denken Phänomenologie, wie beispielsweise in den Schriften Gaston Bachelards, der die Psychologien der gebauten Umwelt als primär vertikal codiert ansah, mit dem Keller und dem Dachboden als den Polaritäten dieser Ordnung.137 Laut Bachelard bilden sie zwei sehr divergente Extreme der Imagina­tion: einerseits die Ra­tionalität des Obergeschosses und Daches sowie andererseits die Irra­tionalität des Kellers und anderer unterirdischer Räume. Damit fungieren die Dunkelheiten des Untergrunds auch als ideale Projek­tionsräume für die Unwägbarkeiten und Monstrositäten des modernen Lebens. Als Seismograph und Krisenanzeiger der oberirdischen Welt markiert der Untergrund bis heute einen problematischen und faszinierenden Topos kollektiver Phantasmen und Projek­tionen. Gerade in den Städten gilt er als Sphäre, in der die gesellschaft­ lichen Ränder und Brüche besonders zutage treten. Vor dem achtzehnten Jahrhundert war der urbane Untergrund allerdings noch kaum Gegenstand administrativer Kontrolle und Regula­tion.138 Dies beginnt sich zu ändern, als unter dem Druck öffent­licher Hygiene und dem Mangel an Raum die subterranen Territorien der west­lichen Metropolen mehr und mehr in den Fokus staat­licher Kontrollbestrebungen rücken. Man reformiert die Bestattungsordnungen, verbietet den Abbau von Bodenschätzen unter den Siedlungsgebieten und installiert erste Abwassersysteme. Im Zuge des Baus von Infrastruktursystemen unter dem Asphalt der Städte transformiert sich der urbane Untergrund mehr und mehr in einem hochtechnisierten Raum.139 In dem Maße, in dem die unterirdischen Bereiche der Städte mit Röhren, Kabeln und Kanälen durchzogen werden, wandeln sie sich von versteckten und privaten Territorien zu öffent­lichen Sphären der Zirkula­tion. Wie der Historiker David L. Pike darstellt, werden im 19. Jahrhundert in den Diskursen um die Konstruk­tion subterraner Transitsysteme eine Vielzahl der Vorstellungen und 136 Siehe ausführ­lich: Williams, Rosalind: Notes on the Underground: An Essay on Technology, Society, and the Imagina­tion, Cambridge: The MIT Press 2008. 137 Vgl. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 7 ff. 138 Vgl. Williams: Notes on the Underground: An Essay on Technology, Society, and the Imagina­tion. 139 Für Paris vgl. die sehr erhellende Studie: Reid: Paris Sewer and Sewermen. Realities and Representa­tions.

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Schreckensbilder christ­licher und antiker Mythologien reanimiert.140 Dies betraf nicht allein New York, auch in den Debatten um die Einführung einer Untergrundbahn in London kamen diese kulturellen Vorstellungsmuster zum Tragen. Dort argumentierte ein entschiedener Skeptiker der London Underground mit Hilfe der Theologie: »Why not build an overhead Railway? … It’s better to wait for the devil than to make roads down into hell.«141 Abgesehen von diesen Posi­tionen fanden die Ängste und Bedroh­lichkeiten, die mit den Unterwelten verbunden waren, ihren ra­tionalen Ausdruck vorrangig in Fragen der Sicherheit und der gesundheit­lichen Gefahren, die von der Subway ausgingen. Bezeichnenderweise richteten sich die Bedenken der potenziellen Passagiere jedoch noch nicht primär auf eine mög­liche Bedrohung durch Mitreisende, beispielsweise durch Überfälle oder Belästigungen. Vielmehr waren es die Ängste vor der technischen Apparatur selbst, die es auszuräumen galt. Um die Idee unterirdischen Transits für die Massen zu propagieren, musste man den urbanen Untergrund als ein Territorium recodieren, das ebenso sicher wie gesundheit­lich unbedenk­lich war. Demzufolge stellten die Ingenieure und Planer bereits in den ersten Entwürfen für eine Untergrundbahn heraus, dass die neuen Sphären der New Yorker Subway alles andere als dunkel, beengt und stickig sein würden.142 Vielmehr würde man mit dem System eine völlig neue Form des Untergrunds erschaffen. Dass das System ein Monument der technolo­gischen und künstlerischen Errungenschaften der damaligen Zeit darstellen sollte, betonten auch die ersten Architekten des Systems, George Lewis Heins (1860 – 1907) und Christopher Grant LaFarge. Sie hatten sich bislang vor allem mit der Schaffung sakraler Architekturen, wie Kathedralen und Kapellen, einen Namen gemacht.143 Auch für die Subway strebten Heins & LaFarge eine Raumgestaltung an, die eine Aura von Erhabenheit und Sicherheit ausstrahlen sollte. Dabei griffen sie unter anderem auf die Architekturformen der Bahnhöfe zurück, die in der Mitte des 140 Vgl. Pike: Metropolis on the Styx. The Underworlds of Modern Urban Culture, 1800 – 2001, S.  3 ff. 141 Passingham, W. J.: The Romance of London’s Underground, Sampson, Low, Marston & Co.: London 1932, S. 11. Zitiert in Pike: Subterranean Cities. The World beneath Paris and London, 1800 – 1945, S. 33. 142 Vgl. Brooks: Subway City, S. 3. Das Kapitel III. 1. wird sich detailliert der Erfahrung der Subway als Hölle bzw. Hades widmen. 143 Die Architektengruppe bestand aus George Lewis Heins (1860 – 1907) und C ­ hristopher Grant LaFarge (1862 – 1938). Vgl. ausfüh­licher: Gray, Christopher: »Streetscapes: New York’s Subway; That Engineering Marvel Also Had Architects«, The New York Times (10. Oktober 2004); Pearson, Marjorie: »Heins and La Farge«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 537.

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19. Jahrhunderts als »Kathedralen der Moderne« Einzug in die Städte gehalten hatten und mit Begeisterung aufgenommen worden waren.144 Der franzö­sische Schriftsteller Theóphile Gautier (1811 – 1872) sah in diesen modernen Infrastrukturen des Transits gar die: […]Paläste der modernen Industrie, in denen sich die Religion des Jahrhunderts entfaltet: die Religion der Eisenbahn. Diese Kathedralen sind die Treffpunkte der Na­tionen, das Zentrum in dem alles zusammenfließt, der Kern gigantischer Sterne, mit Strahlen aus Eisen, die sich bis zum Ende der Welt erstrecken.145

Die technolo­gische wie utilitaristische Sakralität, die den Bahnhöfen im 19. Jahrhundert anhaftete, sollte auch in den unterirdischen Sta­tionen der Subway zur Geltung kommen. Indem die Ingenieure und Architekten beispielsweise die Interieurs der Sta­tionen mit Mosaiken, Lichtschächten und anderen modernen Elementen ausstatteten, welche Komfort und Sicherheit signalisierten, strebten sie eine neue Ästhetik des urbanen Untergrunds an, die funk­tional, elegant und großzügig sein sollte.146 So entschied man sich unter anderem, die technischen Elemente des Systems, wie Stahlträger, Schienen und Kontrollelemente, nicht zu verbergen, sondern bewusst zu exponieren, um die Robustheit und technische Perfek­tion der Konstruk­tion herauszustellen.147 Neben den Bedenken hinsicht­lich der Stabilität und Sicherheit der Subway wurden von ihren Skeptikern jedoch auch potenzielle gesundheit­liche Risiken für die Passagiere ins Feld geführt. Hier waren es primär zwei Gefahren, die es auszuräumen galt: Dies war zum einen die Angst vor Erstickung und der Mangel an frischer Luft in den Röhren, Zügen und Sta­tionen und zum anderen die Gefahr der Infek­tion und der unkontrollierten Verbreitung von Krankheiten. Dem Historiker Christopher Cumo zufolge warnte beispielsweise ein vielbeachteter Artikel im New York Medical Journal eindring­lich vor der Benutzung der zukünftigen Subway, da ihre Territorien voller bedroh­licher Keime und Viren ­seien würden, die für die Passagiere die Gefahr der Infek­tion mit Tuberkulose oder Lungenentzündung bargen.148 Dieses Bedrohungsszenario wurde von den 144 Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 152 ff. 145 Zitiert aus: Dethier, Jean: Die Welt der Bahnhöfe, Ausstellungskatalog, Berlin (West): Centre Georges Pompidou Paris / Staat­liche Kunsthalle 1981, S. 9. 146 Vgl. Ausführ­licher: Giovannini, Joseph und Amash, Carissa: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, New York: Stewart, Tabori & Chang 2004, S. 4 ff. 147 Vgl. Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 30. 148 Siehe: Cumo, Christopher: Science and Technology in Twentieth Century American Life, Westport, Connecticut: Greenwood Publishing Group 2007, S. 56 ff. Ebenso: Holt:

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gleichen Wissenschaftlern vertreten, die bereits unter Berufung auf die sogenannte »Keimtheorie« vor den Ansteckungsgefahren in den Straßen der Stadt warnten. Der medizinische Diskurs, welcher die überirdischen Territorien der Städte als gesundheitsgefährdend codierte, drohte sich nun auf die angeb­lich hygienisch unbedenk­lichen Räume der Subway auszuweiten. Um diesen Anschuldigungen offensiv zu begegnen, bedurfte es eines unwiderlegbaren Beweises für die Unschäd­lichkeit des Systems. Im Zuge dessen mobilisierte man erneut das Prinzip der Zirkula­tion als Indikator für Gesundheit und Sicherheit. Wenn man in der Lage wäre nachzuweisen, dass die Luft in den unterirdischen Röhren und Sta­tionen reibungslos zirkulierte und damit sauber und gesund war, würde dies auch für die sichere Benutzung des Systems durch die Passagiere gelten. Um aber zu belegen, dass die neuen subterranen Gefilde der Subway tatsäch­lich hygienisch waren, musste die Zirkula­tion der Luft durch wissenschaft­liche Methoden sichtbar und berechenbar gemacht werden. Dies stellte eine relativ neue Idee dar, waren doch die Eigenschaften und chemische Zusammensetzung der Luft erst vor wenigen Jahrzehnten unter Zuhilfenahme von Labortechniken beschrieben worden.149 Die Gesundheitsbehörden und Subwaybetreiber wandten sich an den berühmten Chemiker und Professor der Columbia University, Professor Charles Frederick Chandler (1836 – 1925), und baten ihn, eine umfassende Analyse der Luft in den Territorien der Subway vorzunehmen. Die Betreiber hofften, dass eine Untersuchung durch solch eine wissenschaft­liche Autorität einen Beleg für die Unbedenk­lichkeit unterirdischen Transits liefern würde. Eine eingehende Analyse der Luft durch die »mechanische Objektivität« des Labors würde zudem ein neutrales Ergebnis produzieren, das auch die Skeptiker anerkennen müssten.150 Professor Chandler begann nun, dass System einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Er nahm Proben der Luft von jedem einzelnen Bahnsteig des Systems und verg­lich sie mit Proben aus den überirdischen Bereichen der Stadt. Nach einer peniblen Laboranalyse kam er zu einem eindeutigen Ergebnis: Die über- und unterirdische Luft war hinsicht­lich des Gehalts von Sauerstoff und »The Changing Percep­tion of Urban Pathology: An Essay on the Development of Mass Transit in the United States«. 149 Siehe dazu bspw: Johnson, Steven: The Inven­tion of Air: A Story of Science, Faith, Revolu­tion, and the Birth of America, New York: Riverhead Books 2008. 150 Zum Konzept des Labors und der mechanischen Objektivität vgl. Daston, Lorraine und Galison, Peter: Objectivity, New York: Zone Books 2007, S. 115 ff; Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

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Kohlendioxid nahezu identisch.151 Dieses Ergebnis stellte für die Betreiber einen entscheidenden Erfolg in der Propagierung der Subway dar. Nicht nur galt es als ein wissenschaft­lich objektiver und damit unanfechtbarer Beleg für die Ungefähr­ lichkeit des Systems, es hatte auch eine wichtige politische Signalwirkung. Die Subway hatte nun die Wissenschaft auf ihrer Seite, was ihre Fortschritt­lichkeit und hygienische Unbedenk­lichkeit untermauerte. Prof. Chandlers Studie kann zudem als erste wissenschaft­liche Untersuchung der New Yorker Subway gelten, die dem Professor einem Platz in den Geschichtsbüchern des Systems eintrug. Würdigend hebt man noch in den Nachrufen seine Leistungen hervor: »He was the first to come forward as a defender of subway air and to back up his statement with proof.«152 Der Befund, dass die Luft über und unter den Straßen New Yorks praktisch identisch war, wurde zudem als weiterer Beweis für die Kraft der Zirkula­tion zur Schaffung einer gesunden und sicheren städtischen Umwelt gesehen. Die Ergebnisse bezeugten dabei nicht nur die Leistung der Ingenieure und Planer in der Gestaltung des Systems, sie waren auch Indiz für die Permeabilität ­zwischen Untergrund und der überirdischen Stadt. Ob als Passagier, zu Hause oder am Arbeitsplatz, man atmete immer die ­gleiche Luft. Damit erscheint Prof. Chandlers Studie auch als nachgetragene wissenschaft­liche Fundierung für die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Idee der Stadt als quasi-­organische Entität. Sie stützte die Vorstellung, dass die moderne Großstadt einen komplexen und zusammenhängenden Metabolismus formte, dessen einzelne Bereiche sich qua Zirkula­tion gegenseitig durchdrangen und stabilisierten. Auch die Territorien der überirdischen Stadt und die subterranen Räume der Subway bildeten einen funk­tionalen Zusammenhang und waren Teile desselben Systems. Diese organizistische Perspektive auf die Stadt entsprang nicht zuletzt einem funk­tionalen Analogismus zu den neuen Erkenntnissen in den Diskursen der Medizin.153 In der Überblendung dieser beiden diskursiven Forma­tionen erschien nun die räum­liche Organisa­tion des Urbanen als etwas, dass mit der Anordnung der menschlichen Organe korrespondierte. In jenen Ideen verkoppeln sich die kantsche Vorstellung über die Kräfte der Selbstorganisa­tion der organischen Materie 151 Zum Vorgehen und den Ergebnissen Chandlers vgl. ausführ­lich die Zeitungs­meldung: [Anonym]: »Subway Air Good – Chandler«, The New York Times (19. November 1904). Sowie das ­später im Eigenverlag publizierte Pamplet: Chandler, Charles Frederick: Subway Air Pure as in Your Own Home, New York 1904. 152 Alexander, John W.: »Portrait of Dr. Chandler«, in: Fannie Casseday Duncan (Hrsg.): The Charles Frederick Chandler Testimonial Supplement, New York: Columbia University Press 1910, S. 6. 153 Vgl. ausführ­licher Capra, Fritjof: The Web of Life: A New Scientific Understanding of Living Systems,New York, Anchor 1997.

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mit neuen medizinischen Erkenntnissen über die menschliche Blutzirkula­tion und das System der Arterien und Organe.154 Auch hier fungieren die Semantiken der Zirkula­tion als verbindendes Motiv, deren Dynamiken es wissenschaft­lich zu beschreiben und politisch zu fördern galt. Dass die Stadtluft frei ­zwischen den Sphären der überirdischen Stadt und den Röhren und Sta­tionen der Subway zirkulierte, zeugte bereits vor der eigent­lichen Benutzung des Systems von deren erfolgreicher Integra­tion in den urbanen Metabolismus New Yorks.155 Trotz dieser Erfolge musste nur 48 Stunden vor der Eröffnung noch eine weitere Hürde überwunden werden, die für die Bestrebungen, die Ängste der Passagiere vor der Technologie der Subway auszuräumen, entscheidend war: die Inspek­tion des Systems durch den Gesundheitsrat der Stadt. Zur vielfachen Erleichterung der Betreiber, Politiker und Investoren verlief diese jedoch tadellos. Selbstverständ­lich waren die Betreiber bemüht, die äußerst beruhigenden Ergebnisse zu verbreiten und taten dies u. a. in Zeitungsartikeln und Pamphleten. Nicht ohne Stolz berichtete beispielsweise die New York Times, wie beeindruckt die Gutachter von den Hygieneregimen des Systems gewesen ­seien.156 Aus hygienischer Perspektive sei das System makellos, die Qualität der Luft herausragend, kaum Staub vorhanden und das Risiko der Gefährdung der zukünftigen Passagiere gering. Ebenso wurde die Sauberkeit und relative Geräuscharmut gelobt. Um jedoch auch wirk­lich alle Passagiere zu erreichen, entschieden sich die Betreiber für eine noch aggressivere Taktik: Sie ließen die Unbedenk­lichkeitserklärungen Prof. Chandlers direkt auf die Fahrpläne drucken. Als die ersten Passagiere in die Sta­tionen hinabströmten, wurde ihnen beim Ticketkauf auch ein Abfahrtsplan ausgehändigt, auf dessen Rückseite in dicken Lettern zu lesen war: »SUBWAY AIR AS PURE AS YOUR OWN HOME« und »35 MILLION CUBIC FEET OF AIR SPACE«.157 Die massiven Bestrebungen, die Bedenken der Passagiere zu zerstreuen und im Zuge dessen sogar eine rhetorische Kopplung des Territoriums der Subway mit der Sicherheit der eigenen vier Wände vorzunehmen, zeigt, wie ernst diese Ängste genommen wurden. Man hoffte damit auch, die Subway als eine alltäg­liche und öffent­liche Sphäre zu codieren, deren Benutzung keine Belastung oder Bedrohung darstellte. Dass dies jedoch nur halb gelang, wird im Verlauf der Geschichte des Passagiers immer wieder deut­lich werden. 154 Gandy, Matthew: »Cyborg Urbaniza­tion: Complexity and Monstrosity in the Contemporary City«, Interna­tional Journal of Urban and Regional Research 29/1 (2005), S. 26 – 49, hier S. 28 ff. 155 Vgl. auch: Wachsmuth: »Three Ecologies«. 1 56 Vgl. [Anonym]: »Clamor for Tickets for Subway Opening«, The New York Times (26. Oktober 1904). 157 Vgl. Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 36.

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Verhaltensskripte und Polizeimacht Die Menschen sollten die Subway als eine Technologie erfahren, die ungefähr­ lich, erschwing­lich, schnell, verläss­lich und bequem war. Dies ließ sich allerdings nicht allein durch technische und ökonomische Expertisen erreichen. Es war vor allem geboten, die zukünftigen Passagiere im richtigen Umgang mit der Infrastruktur zu instruieren. Viele New Yorker, vor allem aus den mittleren und oberen Schichten, hatten bereits Passagiererfahrung in den Elevated Trains und pferdegezogenen Omnibussen gemacht. Diese Formen des Transits wurden jedoch als alles andere als sicher und komfortabel erlebt. Auch galten ihre Passagiere als unzivilisiert und asozia­l. Somit war für die Betreiber der Subway elementar, herauszustellen, dass die Praktiken und Erfahrungen der Passagiere in den unterirdischen Röhren der Stadt gänz­lich anderer Natur sein würden. Neben der Emphase, dass das Passagiersein ein Akt der Würde und des Stolzes war und ein dementsprechendes Benehmen angemessen, war es in den Augen der Subwaybetreiber auch nötig, die Praktiken der Passagiere zu disziplinieren und zu homogenisieren sowie sie mit den technischen Modalitäten der Subway zu synchronisieren. Dies machte die Einführung von Regularien und Handlungsanweisungen bzw. Inskrip­tionen nötig.158 So ersannen die Planer und Ingenieure ein zunächst äußerst knappes Regelwerk an Verboten und Geboten, die den Passagieren idealerweise bereits vor ihrem ersten Kontakt mit der Subway nahegebracht werden sollten. Infolgedessen finden die New Yorker in den Wochen vor der Eröffnung zahlreiche dieser Regeln sowohl an den noch unbenutzten Eingängen der Subway angeschlagen wie auch in Zeitungen abgedruckt. Überschrieben mit Some Subway Ifs and Don’ts antizipiert beispielsweise am Tag vor der Eröffnung ein Artikel der New York Times die häufigsten Fragen der zukünftigen Passagiere und proklamiert die zehn wichtigsten Verbote.159 Neben Fragen und Antworten zu technischen Details und den Intervallen der Züge werden darin vor allem Aspekte der Sicherheit des Systems erörtert. Von Feuern und Überflutungen bis hin zum plötz­lichen Tod des Zugführers thematisiert man alle nur erdenk­ lichen Bedenken und Ängste und versucht zugleich, sie auszuräumen.160 Neben 158 Dass diese Inskrip­tionen auch in die Interieurs der Sta­tionen und Züge implementiert wurden, wie beispielsweise im Arrangement der Sitze, der Drehkreuze, Zeichensysteme und Lichtregime, wird im zweiten und dritten Kapitel genauer beleuchtet. 159 [Anonym]: »Some Subway Ifs and Don’ts«, The New York Times (27. Oktober 1904). 160 Hinsicht­lich der körper­lichen Gesundheit der Passagiere sticht vor allem eine Frage und Antwort heraus: »Q: Is subway travel injurious to the eyes? A: A well known occulist says that looking at the rows of white columns is very straining. Therefore, don’t look at them.« Ebd.

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der Versicherung, dass das neue System vor allen eventuellen Gefahren geschützt sei, finden sich in ­diesem Artikel jedoch auch zentrale Anweisungen, die sich direkt auf die Praktiken der Passagiere beziehen. Jeweils beginnend mit dem Wort »Don’t« benennen sie Verbote, welche vor allem die Gefähr­lichkeit des Systems für Leib und Leben unterstreichen. Dies betrifft beispielsweise das Herausstrecken des Kopfes aus dem fahrenden Zug oder das Überqueren der unter Hochspannung stehenden Gleise. Zudem gibt man Anweisungen, im Falle eines Unfalls den Sitz nicht zu verlassen sowie die Sta­tionen und Züge nicht zu beschmutzen oder zu beschädigen, da dies eine Verhaftung und Bestrafung nach sich ziehen würde. Bemerkenswert ist zudem, dass diese Skripte kaum auf die Interak­tionen der Passagiere untereinander abzielen. Stattdessen richtet sich ihre Aufmerksamkeit ganz auf den richtigen Umgang mit den technischen Appara­ turen. Zudem sind die Anweisungen im Vergleich zu den komplexen Regelwerken der späteren Jahrzehnte noch sehr rudimentär formuliert. Was jedoch bereits hier offenkundig wird, ist ihr starker appellativer Charakter. Entscheidend ist an diesen Verfahren, dass die Sicherheit der Subway einerseits über die Technologie sowie andererseits über das Verhalten der Passagiere selbst hergestellt werden soll. Damit wird das System zwar als sicher und seine Benutzung als unbedenk­lich propagiert, allerdings nur in dem Maße, in dem das Verhalten ihrer Konsumenten auch regelkonform bleibt. Dieses konforme Verhalten der Passagiere musste jedoch plausibilisiert werden. Realisiert wurde dies über ein Bedrohungsszenario, das die Abweichung von den Skripten als elementares Risiko für das eigene Leben wie auch für das Funk­tionieren der Infrastruktur inszenierte. Unsicherheit und Gefahr entspringen so aus dem devianten und transgressiven Umgang mit der technischen Logik des Systems. Dieses Szenario spricht dem Passagier eine ambivalente Handlungsmacht zu. Er ist ebenso Konsument der Subway wie auch Produzent ihrer Sicherheit. Dass das Abweichen von den Verhaltensanweisungen als Bedrohung sowohl der eigenen Unversehrtheit als auch der Funk­tionsweise des ganzen Systems verstanden wurde, ließ zudem eine unbedingte Sank­tionierung von abweichenden Praktiken durch polizei­liche Maßnahmen legitim und erforder­lich erscheinen. Besonders der Eröffnungsabend am 27. Oktober 1904 markierte für die Ordnungsorgane der Stadt einen kritischen Moment für die Aufrechterhaltung der öffent­lichen Ordnung. In den Augen der Polizei waren die Massen der euphorischen Subwaypioniere, die sich schnell in einen gewalttätigen Mob verwandeln konnten, ein nicht zu unterschätzendes Risiko.161 In den Wochen vor der Eröffnung entfaltete sich eine rege Planungsaktivität, in der mög­liche Überfüllungen ebenso antizipiert wurden wie Unfälle oder Ausschreitungen. 161 Hood: 722 Miles, S. 132 ff.

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Dabei schien es geboten, die Öffent­lichkeit bereits im Vorfeld über die Sicherheitsvorkehrungen zu informieren. Der Polizeichef der Stadt, William McAdoo, verkündete in den Zeitungen, dass am 27. Oktober ein massives Polizeiaufgebot präsent sei, um die öffent­liche Ordnung zu gewährleisten: »Every policeman in the city will be on duty that day.«162 Dies war nicht übertrieben. Neben den verstärkten Patrouillen auf den Straßen und in den Zügen wurden zusätz­lich an jedem Treppenaufgang des gesamten Systems zwei Polizisten sta­tioniert, hinzu kamen bis zu 15 Polizisten auf jedem Bahnsteig. Allein an der Sta­tion der City Hall wurden 500 Polizisten postiert.163 Um für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, wurden zudem alle Feuerwehrmänner und die gesamte Belegschaft der Krankenhäuser der Stadt in Alarmbereitschaft versetzt. Auch sollten zusätz­liche Züge und weiteres Subwaypersonal zur Verfügung stehen, falls die Situa­tion eskalierte. Um wirk­lich auf Nummer Sicher zu gehen, wurden die Anträge verschiedener Barbetreiber, die Ausschanklizenzen für die ganze Nacht der Eröffnung zu erweitern, rigoros abgelehnt.164 All dies zeigt, dass das Moment der Unsicherheit nicht nur im Hinblick auf die Akzeptanz der Subway durch die zukünftigen Passagiere präsent war. In der massiven Mobilisierung von Ressourcen und Personal auf Seiten der politischen Eliten und Ordnungskräfte wird ebenso deut­lich, welch außergewöhn­liche Situa­ tion die Inbetriebnahme der Subway für die Menschen New Yorks darstellte. Dass das Datum der Eröffnung auf einen Donnerstag fiel, war dabei kein Zufall, sondern bewusstes Kalkül, um den Ansturm zu reduzieren.165 Gerade den Einwohnern, die im Schichtsystem in den Hafenanlagen und Fabriken beschäftigt waren, wurde dadurch die Teilnahme erschwert. So kalkulierte man mit einem Passagieraufkommen von 20.000 Menschen pro Stunde, einer Zahl, die für die IRT gerade noch bewältigbar erschien. Man antizipierte zwar kleinere Störungen und Verspätungen, war jedoch zuversicht­lich, dass innerhalb von 48 Stunden die Subway so perfekt lief, wie für ein solch gigantisches schienengetriebenes System eben mög­lich.166 Während in den Tagen vor der Eröffnung mit Hochdruck an den letzten Details des Systems gearbeitet wurde, überschlugen sich die lokalen Medien mit Berichten zu technischen Details und den hektischen Aktivitäten in den 162 [Anonym]: »Schedule of Trains for the Subway Out«, The New York Times (25. Oktober 1904). 163 Vgl. [Anonym]: »Subway Opening To-­day With Simple Ceremony«, The New York Times (27. Oktober 1904). 164 Vgl. Ebd. 1 65 Vgl. [Anonym]: »Finish Plans for Subway Celebra­tion«, The New York Times (18. Oktober 1904). 166 Vgl. [Anonym]: »Schedule of Trains for the Subway Out«.

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Vorbereitungen ­dieses Ereignisses. Schon seit Wochen hatte man die Menschen mit detaillierten Berichten und Ankündigungen auf das Ereignis eingestimmt. Während die Betreiber letzte Testfahrten unternahmen und sich so die Subway bereits durch die Geräusche und Erschütterungen unter dem Asphalt bemerkbar machte, wurde die Stadt geschmückt wie sonst nur zu Wahlen oder am Unabhängigkeitstag. Mit Hochspannung erwartete ganz New York jenen Moment, an dem die Subway end­lich ihre Tore öffnen würde. Auf das, was nun kommen würde, war man jedoch kaum vorbereitet.

5. Subway Madness: Die Eröffnungsnacht Ob all die Anstrengungen und Strategien der Betreiber, Politiker und Ordnungskräfte tatsäch­lich aufgehen sollten, würde sich nun in der Eröffnung des Systems für die allgemeine Öffent­lichkeit zeigen, die wenige Stunden nach der fest­lichen Zeremonie im Rathaus und der Jungfernfahrt erfolgen sollte. Zwar würde das System für die Allgemeinheit erst um sieben Uhr abends zugäng­lich sein, allerdings stand die Subway bereits am Nachmittag für ca. 15.000 Ehrengäste zur Verfügung, die exklusive Tickets erhalten hatten. Bei deren Verteilung kam es jedoch bereits zu ersten Tumulten.167 Schon den ganzen Tag über hatten sich die Menschen an den Eingängen der Sta­tionen versammelt und erwarteten voller Spannung die abend­liche Eröffnung. Folgt man der New York Times, war der Anblick der privilegierten Pioniere der Subway, welche nachmittags aus den Ausgängen der Sta­tionen auf die Straßen strömten, besonders beeindruckend.168 Für die Menschen, die die Erfahrung des unterirdischen Transits noch nicht selbst gemacht haben, kam dieser Moment des Aufstiegs der ersten Passagiere aus der Unterwelt offenbar einem Spektakel gleich: Of this sight New York seemed never to tire, and no matter how often it was seen there was always the shock of the unaccustomed about it. All the afternoon the crowds hung around the curious-­looking little sta­tions, waiting for heads and shoulders to appear at their feet and grow into bodies. Much as the Subway has been talked about, New York was not prepared for this scene and did not seem able to grow used to it.169 167 So schreibt die New York Times: »The rush for tickets to the opening continued unabated yesterday, and scores of demands had to be refused, with the result that the applicants went away declaring they had been slighted.« [Anonym]: »Clamor for Tickets for Subway Opening«. 168 Vgl. [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«, The New York Times (28. Oktober 1904). 169 Ebd.

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Folgt man d ­ iesem Bericht, muss der Augenblick der tatsäch­lichen Manifesta­ tion der Subway trotz der intensiven propagandistischen Vorbereitung der Eliten und Betreiber schockierend und bestürzend gewesen sein. Gleichzeitig sollte er die Neugier auf die abend­liche Eröffnung nur noch steigern. Eine Stunde vor der Eröffnung wurden die Fahrten für die Ehrengäste eingestellt und das System wieder heruntergefahren. Man kontrollierte noch einmal die Tunnel, bemannte die Sta­tionen und Züge, erledigte letzte Konstruk­tionsarbeiten und bereitete das System auf den Ticketverkauf vor, der um 19 Uhr beginnen sollte. Pünkt­lich wurden die Tore der Eingänge geöffnet und die Menschen stürmten die Treppen hinunter, um end­lich ihr neues »Besitztum«170 in Augenschein zu nehmen. Beinahe augenblick­lich gab es starkes Gedränge um die allerersten Tickets, welche bereits zu ­diesem Zeitpunkt als wertvolle Souvenirs galten und hoch gehandelt wurden. Der Ansturm war bald so groß, dass die Ticketverkäufer und Polizisten die Massen kaum bändigen konnten. Man versuchte, Schlangen zu bilden und wies die Passagiere mit lauten Rufen an, ihr Fahrgeld passend bereitzuhalten, um den Verkauf zu beschleunigen. Entgegen der Voraussagen der Betreiber hatte das System bereits nach weniger als einer Stunde die maximale Belastungsgrenze überschritten. Nicht nur die Bahnsteige, auch die Türen der Waggons erwiesen sich als zu schmal, dem Andrang Herr zu werden. Zusätz­ liche Polizisten mussten hinzugezogen werden, bald gelangten die Einsatzkräfte an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Darüber hinaus waren die Züge schnell so überfüllt, dass die Passagiere auf die Verbindungsplattformen z­ wischen den Waggons ausweichen mussten – eine Praktik, welche eigent­lich streng verboten war. Besonders die Expresszüge, welche die ganze Strecke von City Hall bis zur Endsta­tion in der 145. Straße fuhren, waren sehr gefragt und schnell überfüllt. Durch die Überlastung verzögerte sich die Abfahrt der Züge und ließ die Fahrpläne bereits nach weniger als einer Stunde des Betriebs obsolet werden. Panisch versuchten die Zugführer die Verspätung aufzuholen, indem sie einzelne Stopps übersprangen, sehr zur Empörung der frischgebackenen Passagiere. Bald wurde die Überlastung des Systems so massiv, dass auch der Strom der Passagiere in und aus den Sta­tionen zum Erliegen kam. Innerhalb von Minuten stauten sich tausende Menschen an den beiden Endsta­tionen und bildeten lange Schlangen auf den Bürgersteigen. In der nörd­lichen Endhaltestelle begann die Situa­tion zu eskalieren.171 Die Menschenmassen waren schnell so groß, dass alle Ein- und Ausgänge verstopft wurden und Panik ausbrach. Vergeb­lich versuchte 170 [Anonym]: »McClellan Motorman of First Subway Train«, The New York Times (28. Oktober 1904). 171 [Anonym]: »Things Seen and Heard Along the Underground«, The New York Times (28. Oktober 1904).

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die Polizei, die Masse zurückzudrängen. Erst als Verstärkung aus dem nächstgelegenen Polizeirevier eintraf und man schließ­lich Schlagstöcke einsetzte, gelang es langsam, den Mob zu kontrollieren und die Ordnung wiederherzustellen. Glaubt man den Zeitungsberichten, war trotz der Überlastung des Systems die Euphorie der Passagiere gigantisch.172 In den vorangegangenen Wochen waren bereits hunderte von »Subway Parties« gefeiert worden, in denen sich die New Yorker auf das Ereignis einstimmten.173 Nun zelebrierten viele Menschen ihre erste unterir­ dische Passagiererfahrung, indem sie sich in ihre besten Kleider hüllten und feier­lich Essen gingen, um dann, zum Höhepunkt des Abends, in die Subway hinabzusteigen. Zahlreiche Passagiere benutzten dabei die Züge allein zum Vergnügen und blieben bis weit nach Mitternacht im Untergrund. Trotz der Appelle zur Besonnenheit und Ordnung kam es im Laufe des Abends immer häufiger zu Chaos und Tumulten. Die Verwandlung der Menschen in Passagiere hätte in Würde und Stolz geschehen sollen, stattdessen nahm nun das Ereignis eine eher karnevaleske Form an. Die Neuartigkeit unterirdischen Transits und die rasante Geschwindigkeit, welche bereits den Bürgermeister bei der Jungfernfahrt übermannt hatte, erfasste auch die Massen. Die um sich greifende Ausgelassenheit und Euphorie der Passagiere weckte bei den lokalen Beobachtern Assozia­­tionen an Silvesterfeiern – die New Yorker wurden »subway mad.«174 Gruppen euphorischer Jugend­licher besetzten ganze Waggons, sangen, flirteten und feierten ausgelassen. Für andere war die Erfahrung schlicht überfordernd. Zahlreiche Menschen standen zwar in den Schlangen, lösten Tickets und betraten die Sta­tionen, wagten aber nicht, die Waggons zu betreten: »All they could do was stand on the plattform and gawk.«175 Im Widerspruch zu der Emphase, dass die Subway für die New Yorker aller Klassen, Geschlechter und Hautfarben bereitstand, benutzen zahlreiche Angehörige der oberen Klassen das System nur zu den Feier­lichkeiten der Eröffnung. Manche jedoch noch nicht einmal dann, wie die New York Times am Beispiel der Millionärsgattin Virginia Fair Vanderbilt (1875 – 1935) zu berichten weiß: Mrs. Vanderbilt came down from the Grand Central Sta­tion, and some of the Subway attendants recognized her at once. The sta­tion agent, M. F. Maddigan brought chairs, which were placed on the platform overlooking the express tracks. After the first special went through, Mrs. Vanderbilt, with her party, went to the automobiles which were in waiting for them above. They did not ride on the cars.176 172 Siehe bspw. [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«. 173 Hood: 722 Miles, S. 95. 174 Ebd. 175 Ebd., S. 96. 176 Vgl. [Anonym]: »Things Seen and Heard Along the Underground«.

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Den Statistiken zufolge erprobten dennoch allein am Eröffnungsabend 111.881 Menschen ihre neue Rolle als Passagier, wobei die Einnahmen ­dieses Abends komplett an die New Yorker Krankenhäuser gespendet wurden.177 In den Tagen nach der Eröffnung sollte sich die Überfüllung des Systems noch wesent­lich zuspitzen. Bei einem feier­lichen Bankett am Abend der Eröffnung hatte man noch versichert, dass man die äußerste Belastungsgrenze niemals erreichen werde.178 Dennoch kam es am nächsten Tag erneut zu Chaos und Überlastungen, die immer wieder in Verspätungen und Tumulte mündeten. Mehrere Male mussten Polizisten einzelne Sta­tionen wegen der Überforderung des Systems und seines Personals schließen. An ihrem ersten kompletten Betriebstag transportierte die Subway laut offizieller Schätzung ca. 350.000 Passagiere, weit mehr als vorausberechnet.179 Noch gesteigert wurden die Hysterie und der Ansturm auf das System zwei Tage ­später. Da eine Vielzahl der New Yorker vor allem aus den unteren Klassen sechs Tage in der Woche arbeiten musste, blieb ihnen nur der Sonntag für ihre erste subterrane Passagiererfahrung. Schon am frühen Morgen strömten Menschen aus allen Stadtteilen von den Brücken und Fähren auf die Insel Manhattan, um d ­ ieses technische Wunderwerk zu bestaunen.180 Da aber die IRT angewiesen war, nur maximal 350.000 Passagieren Zugang zu gewähren, mussten viele Menschen weggeschickt werden oder warteten über Stunden vor den Eingängen. Insgesamt sah man sich an d ­ iesem Tag einem Menschenandrang von beinahe einer Million Passagiere ausgesetzt, welcher das System endgültig überlasten sollte. Erneut brach in den langen Schlangen an der Endhaltestelle in der Bronx Panik aus. Die teilweise von weit her angereisten Menschen machten ihrem Ärger mit tumultartigen Protesten Luft. Erst unter massivem Einsatz der Polizei gelang es, die Massen zu beruhigen und die Ordnung wiederherzustellen. Trotz dieser Zwischenfälle war das System nichts weniger als eine Sensa­tion. Die New Yorker waren so begeistert, dass sie die Erfahrung des Passagier-­Seins mit einem eigenen Ausdruck belegten: »Doing the Subway.«181 Dass das System so euphorisch angenommen wurde, zeigt, dass man die Ängste und Bedenken hinsicht­lich des unterirdischen Transits weitestgehend erfolgreich zerstreut hatte. Nun begann die Veralltäg­lichung des neuen Daseins der Menschen als Passagiere, welche bemerkenswert schnell vonstattenging. 177 Vgl. [Anonym]: »Rush Hour Blockade Jams Subway Crowds«, The New York Times (29. Oktober 1904). 178 Vgl.: [Anonym]: »Loving Cup To Belmont Given At Subway Feast; Chief Engineer Parsons Says City Should Be Satisfied.« 179 [Anonym]: »Rush Hour Blockade Jams Subway Crowds«. 1 80 Vgl. [Anonym]: »Visiting Sunday Crowds Swap Subway Service«, The New York Times (31. Oktober 1904). 181 Hood: 722 Miles, S. 95.

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6. Veralltäg­lichung In two days it will seem to New York as if it had never ridden anywhere but in the subway.182  The New York Times (28. Oktober 1904)

Trotz des Chaos und der Euphorie der Eröffnung sollte die Subway buchstäb­ lich über Nacht ein banaler Teil der Alltagsroutinen der Menschen New Yorks werden. So konstatiert bereits am nächsten Tag ein Journalist der New York Times mit Staunen: On every hand there were evidences that the novelty was gone soon and the time is not many hours distant when few, save the oldest inhabitant, would be prepared to admit that they had more than a vague reminiscence of the days before the Subway began to run.183

Der Nervenkitzel und die Euphorie des ersten Passagiererlebnisses wichen dabei rasch dem Gefühl der Trivialität in der Benutzung des Systems. Allenfalls für die Touristen sollte die Subway weiterhin eine Attrak­tion und Quelle der Bewunderung bleiben.184 Für die Bewohner der Stadt wird die Erfahrung des Passagierseins dagegen jedoch »the daily routine for the rest of their lives«,185 wie ein Kommentator lakonisch anmerkt. Dies alles kann als Indikator für die erfolgreiche Veralltäg­lichung dieser Infrastruktur und der mit ihr verkoppelten Subjektivierungen gelten. Die Subway war ein Erfolgsmodell, das die Menschen schnell als absolut unverzichtbar für ihren Alltag betrachteten. Wie die Zeitungen mit Stolz berichteten, war sogar der wohl berühmteste Skeptiker der Subway, Russell Sage, nach seiner ersten Passagiererfahrung vom Erfolg des Systems überzeugt und prognostizierte der neuen »Subway City« eine glorreiche Zukunft.186 Zugleich werden bereits am nächsten Tag erste Bestrebungen der historischen Einordnung ­dieses Ereignisses sichtbar. Indiz dafür waren für die New York Times die Debatten darüber, wer als der erste Passagier der Subway zu gelten habe: »as now men dispute who was the first man to answer Lincoln’s call to arms, and who was the first 182 [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«. 183 Ebd. 184 Mayo, Earl: »New York’s Subway In Opera­tion«, Outlook Magazine (November 1904), S.  563 – 568. 185 [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«. 186 [Anonym]: »Rush Hour Blockade Jams Subway Crowds«.

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man to enter Richmond in 1865. This was a historic event, and nobody seemed to doubt it.«187 Man war sich sicher, dass die Eröffnung der Subway im Rückblick einen würdigen Platz unter den herausragenden Momenten der amerikanischen Geschichte einnehmen würde. Zudem berichteten die Zeitungen des nächsten Tages von den unzähligen ersten Malen, welche sich in der Subway ereigneten: dem ersten Mal, dass ein Mann einer Frau einen Platz anbot, oder der erste Passagier, der um ein Umsteigeticket bat. Die Leichtigkeit, mit der die Subway die New Yorker an nur einem Tag in eine Bevölkerung von Passagieren verwandelte, überraschte sogar die damaligen Beobachter: It was astonishing, though, how easily the passengers fell into the habit of regarding the Subway as a regular thing. While the crowds above were still eagerly watching the entran­ ces to see men emerge, were still enthralled by the strangeness of it all, the men on the trains were quietly getting out at their regular sta­tions and going home […]. It is hard to surprise New York permanently.188

Die erstmalige Benutzung des Systems erscheint hier als liminaler Initia­tionsritus, in der der Moment der Passagiererfahrung als eine Art »Coming-­of-­Age« geschildert wird.189 Um die Menschen der Stadt erfolgreich zu Passagieren zu konvertieren, benötigte es anscheinend nur eine einzige Passage durch den urbanen Untergrund. Diese erfolgreiche und rasante Adap­tion ist umso bemerkenswerter, da nicht nur die New Yorker Subway, sondern die Idee unterirdischen Transits allgemein ein weitgehendes Novum darstellte. Während heutige Städte von den Erfahrungen bereits implementierter Systeme profitieren können, waren die ersten Systeme um 1900 gezwungen, dies größtenteils allein zu bewerkstelligen. Ähn­lich wie bei der Eröffnung der ersten Eisenbahnlinien wenige Dekaden zuvor, mussten die Menschen erst lernen, diese neuen Erfahrungen zu bewältigen und in ihre Lebenswelten zu integrieren.190 Beachtenswert ist dabei, wie das Bestreben der Routinisierung bereits am ersten Tag der Subway wirksam wird. Wenn Georg Simmel die Blasiertheit als zentrales Merkmal großstädtischer Subjektivität beschreibt,191 wird diese 187 [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«. 188 Ebd. 1 89 Zum hier nur kurz angerissenen Konzept der Liminalität vergleiche ausführ­lich: Turner, Victor: The Ritual Process: Structure and Anti-­Structure, Chicago: Aldine 1995; Van Gennep, Arnold: Übergangsriten, Frankfurt am Main: Campus 1986. 190 Vgl. Löfgren, Orvar: »Mo­tion and Emo­tion: Learning to be a Railway Traveler«, Mobilities 3/3 (2008), S. 331 – 351. 191 Vgl. Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben [1903]«, in: Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 116 – 131. Siehe dazu auch:

Veralltäg­lichung  |

­ ulturtechnik auch von den ersten Passagieren mobilisiert. Sie operiert als K Strategie der Bewältigung der Reizüberflutung und der Vielzahl der Eindrücke durch ein demonstratives Zur-­Schau-­Stellen leidenschaftsloser Unberührtheit. Im Falle der New Yorker Passagiere war das Beeindruckt-­Sein von den ersten Erfahrungen des Transits sogar schambesetzt: »The Manhattanites boarded the trains with the sneaking air of men who were ashamed to admit that they were doing something new, and attempting to cover up the disgraceful fact.«192 Dass man geradezu zwanghaft bemüht war, sich seine Unvertrautheit mit der Subway nicht anmerken zu lassen, zeigt, dass die diskursive Antizipa­tion des Passagiers und die tatsäch­liche performative Erfahrung und Aneignung des Systems alles andere als deckungsgleich waren. Dabei sind es nicht zuletzt die individuellen wie kollektiven Affekte, die das Idealbild des Passagiers als würdevolles und gefasstes Subjekt immer wieder ad absurdum führen. Diese Erregungsmomente, die in der Jungfernfahrt wie dem Eröffnungsabend zutage treten, sind dabei vor allem als Reak­tionen auf das Erlebnis rasanter Geschwindigkeit und die Erfahrung der neuen und hochartifiziellen Räume industriellen Massentransits zu deuten. Wenn im Vorfeld der Eröffnung der Passagier als Heros einer kommenden besseren Gesellschaft antizipiert wird, ist es nicht ohne Tragik, dass sich diese Hoffnungen in exakt jenem Moment zerschlagen, in dem die Menschen ihre ersten wirk­lichen Passagiererfahrungen machen. Wie noch in der Eröffnungszeremonie wenige Stunden zuvor deut­lich wurde, hatten sich an die Subway zahlreiche Hoffnungen auf die Durchmischung und Zivilisierung der Bevölkerung gerichtet. Diese Erwartungen stellten sich nun angesichts des Chaos und der Überlastungen, die auch in den kommenden Monaten und Jahren nicht abnehmen sollten, als weitgehend illusorisch heraus. Was damit ebenso deut­lich wird, ist, wie verschiedene Ideen hinsicht­lich der Frage, was das Subjekt dieser Infrastruktur sein sollte, aufeinanderprallten. So sind die chaotischen Zustände angesichts der Überlastung des Systems Indiz dafür, dass die Skripte, welche das Verhalten der Passagiere strukturieren und vorhersagbar machen sollten, nur bedingt funk­tionierten. Dass in einer Vielzahl von Momenten auf die disziplinierende Funk­tion polizei­licher Gewalt zurückgegriffen werden musste, um die Ordnung wiederherzustellen, zeigt die Grenzen der Anrufungskompetenz der Eliten auf. Wie auch Ulrich Bröckling betont, bedeutet die Aneignung neuer Subjektivierungsinstanzen immer auch, sie zu verändern: Der Eigensinn menschlichen Handelns insistiert in Gestalt von Gegenbewegungen, Trägheitsmomenten und Neutralisierungstechniken. Die Regime der Selbst- und Fremdformung Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 142 f. 192 [Anonym]: »Our Subway Open: 150,000 Try it«.

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liefern keine Blaupause, die ledig­lich umzusetzen wäre, sondern verlangen ein beständiges Experimentieren, Erfinden, Korrigieren und Anpassen.193

Diese Momente der Aneignung und Adap­tion werden bereits am ersten Tag der Subway deut­lich, ihre volle Tragweite sollten sie allerdings erst in den kommenden Dekaden entfalten. Der Passagier, als Heros der freien Zirkula­tion antizipiert, entpuppt sich nun rasch als triviale und eher strapaziöse Alltagsfigur. Zwar war unbestritten, dass die Subway eine neue Epoche für die Stadt eingeleitet hatte. Die mora­lischen und zivilisierten Menschen, die diese Maschine hervorbringen sollte, ließen allerdings weiter auf sich warten. Zugleich zeigte sich, dass die Subway weniger eine Apparatur zur Entzerrung der immensen Überfüllung und Dichte der Stadt war, als dass sie diese vielmehr noch intensivierte. Wie im nächsten Kapitel dargestellt wird, betraf dies jedoch nicht nur die bau­lichen Strukturen der Stadt. Auch die bislang ungekannte Verdichtung der Körper, die durch die Subway bewirkt wurde, förderte neue und als transgressiv erlebte Interak­tionsformen zutage. Aus Sicht der bürger­lichen Eliten trugen diese allerdings alle Merkmale eines triebhaften und barbarischen Mobs. Damit tritt in den neuen Subjektkulturen der Subway das Kollektivsubjekt der Masse, welches sich um 1900 allerorten abzeichnete, in besonders dramatischer und bedroh­licher Form zutage. Die Flut der Passagiere produzierte nicht nur immer wieder schwere Störungen im Betriebsablauf des Systems, sondern stellte auch eine erstzunehmende Gefahr für die öffent­liche Ordnung dar. Die Vereindeutigung und Steuerung der undisziplinierten Massen in der Subway machte somit die schnellstmög­liche Herausbildung neuer Wissensformen, Herrschaftstechniken sowie individueller Praktiken erforder­lich. Während die Betreiber und Ordnungskräfte herausfinden mussten, wie man die Flut von Passagieren in den komplexen räum­lichen Arrangements der Subway regulieren konnte, mussten die Passagiere der ersten Genera­tion Techniken entwickeln, ihre Ängste zu bewältigen und sich in die maschinellen Ensembles der Subway einzupassen. Die komplexen und verwirrenden unterirdischen Territorien der Subway, die ungekannte Schnelligkeit des Transits sowie das ­klaustrophobische Gefühl des Eingeschlossen-­Seins und die körper­liche Nähe zu Menschen unterschied­lichster Klassen und Hautfarben verlangte von den Subjekten die Mobilisierung maximaler Affektkontrollen. Das nächste Kapitel wird zeigen, dass diese Etablierung von Standards ra­tional-­effizientem Verhaltens weitaus komplexer und ambivalenter ist, als es zunächst erscheint.

193 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 40.

KAPITEL II. MASCHINE UND MASSE Imperial New York. Plenty of time yet. Men and machines. We are all so young yet. Wait and see. Wait and see what New York will do.1 Sherwood Anderson (1907)

Es ist bei Weitem kein Zufall, dass die Eröffnung der Subway Anfang des 20. Jahrhunderts genau in jene Zeit fällt, in der sich überall in den westlichen Industrienationen ein neues Paradigma gesellschaftlicher Organisation entfaltet. Befördert wird dies durch eine tiefgreifende Desillusionierung von den bürgerlichen Leitideen des 19. Jahrhunderts angesichts der sich überall abzeichnenden Vermassung und Technisierung des Alltags. Vor allem in den Metropolen finden sich ab 1900 eine Fülle von Zeugnissen, die mit drastischen Worten die Entfaltung einer tayloristisch geprägten Arbeitsorganisation, die sich überall etablierenden Artefaktrevolutionen sowie die neuen Erfahrungswelten der Warenkultur und der Massenmedien schildern.2 Angesichts dessen erscheinen nun nicht nur die tradierten bürgerlichen Vorstellungen sozialer Vergemeinschaftung als anachronistisch, sondern auch ihre Subjektcodes von Moralität und Innerlichkeit. Unter dem Eindruck dieser radikalen Veränderungen formiert sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein neues gesellschaftliches Leitprinzip, das nicht von ungefähr um die Idee der Maschine kreist. Dieses Prinzip erweist sich nicht nur für die soziale Organisation der Passagiere in der Subway als zentral, sondern avanciert über nahezu fünf Dekaden zu einem so dominanten Gesellschaftsmodell, dass amerikanische Historikerinnen und Historiker einen eigenen Epochenbegriff für sie geprägt haben: das Maschinenzeitalter.3 1 Zitiert in: Bascomb, Neal: Higher: A Historic Race to the Sky and the Making of a City, New York: Broadway Books 2004, S. 13. 2 Vgl. ausführlicher: Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt: Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2010, S. 275 ff. Wie sich diese Diagnosen bei Simmel, Kracauer und Benjamin niederschlagen, zeigt eindrücklich David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück: Daedalus 1989. 3 Den Begriff des Maschinenzeitalters benutzen beispielsweise: Banham, Reyner: Die Revolution der Architektur: Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, Bauwelt

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Dass in dieser Epoche die Maschine in den Bereichen künstlerischer Imagina­ tionen, sozia­ler Ordnung und ökonomischer Organisa­tion gleichermaßen als Leitbild erscheint, kann als Ausdruck einer sich radikal technisierenden Kultur gedeutet werden. Zunächst wird diese Artefaktrevolu­tion vor allem in den Metropolen der amerikanischen Ost- und Westküste spürbar. Mit der Verbreitung von Techniken der Massenkommunika­tion und -mobilität, den neuen Verfahren der Produk­tion und Konsum­tion sowie der Elektrizität wird diese neue Kultur jedoch bald in alle Winkel des Landes getragen.4 Zur gleichen Zeit avanciert das Motiv der Maschine zu einem dominanten ästhetischen Paradigma in den Künsten. Zwar lassen sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine ungemeine stilistische und methodische Vielfalt in der bildenden Kunst, Architektur und Gestaltung sowie in Film und Musik ausmachen, gemein ist ihnen allerdings die Faszina­tion mit den neuen Mög­ lichkeiten des Maschinellen.5 Die Dominanz der Maschine befördert jedoch nicht nur neue Wahrnehmungsweisen und Imagina­tionen. Sie bringt ebenso neue Formen von Vergemeinschaftung hervor. Damit reicht ihr Einfluss weit über ihre alleinige materielle Allgegenwart hinaus.6 Wie in d ­ iesem Kapitel genauer beleuchtet wird, fungiert die Maschine ebenso als Ideal eines neuen Gesellschaftsmodells, das in den Bewegungen des Taylorismus und Fordismus, der Massenkultur und der neuen Sach­lichkeit ihre prägnantesten Formen findet. Diese Maschinisierung der Gesellschaft erfasst gerade in den Städten nahezu alle Lebensbereiche: von Arbeit und Mobilität bis zu den Sphären des Wohnens, Fundamente 89, Braunschweig/Wiesbaden: Friedrich Vieweg & Sohn 1964; Jordan, John M.: Machine-­Age Ideology: Social Engineering and American Liberalism, 1911 – 1939, Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press 1994; Wilson, Richard Guy, Pilgrim, Dianne H. und Tashjian, Dickran: The Machine Age in America: 1918 – 1941, New York City: Brooklyn Museum/Harry N. Abrams 1986. Auch die deutsche Pazifistin Bertha von Suttner verwendet ihn bereits 1899 als Titel für einen utopischen Roman, der als fik­tionaler Rückgriff aus der Zukunft das 19. Jahrhundert kritisch bewertet: von Suttner, Bertha: Das Maschinenzeitalter: Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit., Dresden und Leipzig: E. Pierson 1899. Zudem findet dieser Epochenbegriff in Frankreich und den USA bereits ab denn 1920ern erste Verwendung, beispielsweise von Le Corbusier oder Perry: Le Corbusier: La Ville radieuse: Eléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisa­tion machiniste, Boulogne-­Sur-­Seine: Edi­tions de l’Architecture d’aujourd’hui 1935; Perry, ­Clarence Arthur: Housing for the Machine Age, New York: Russell Sage Founda­tion 1939. 4 Vgl. u. a. Kern, Stephen: The Culture of Time and Space, 1880 – 1918, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2003; Marx, Leo: The Machine in the Garden: Technology and the Pastoral Ideal in America, New York: Oxford University Press 1964. 5 Vgl. Wilson/Pilgrim/Tashjian: The Machine Age in America, S. 24. 6 Vgl. Ebd., S. 23 ff.

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der Freizeit und des Konsums. Im Zuge dessen wird der Umgang mit technischen Artefakten zu einem banalen und alltäg­lichen Erfordernis. Von Telefonen und Schreibmaschinen, Radios und Küchengeräten, Automobilen und Aufzügen: Wohin man auch schaut, spätestens nach dem ersten Weltkrieg halten die Maschinen Einzug in nahezu jeden Aspekt des Alltagslebens. Nicht zuletzt sind es die neuen Untergrundbahnen, welche die Erfahrungen einer völlig neuartigen artifiziellen Umwelt bereithalten. Anfangs erscheinen die Merkmale des Maschinenzeitalters allerdings als genuin nordamerikanische Phänomene. Ihre Entwicklungen wurden von Europa zwar genau beobachtet und heftig diskutiert, sie gelten jedoch zunächst als »Amerikanismus«.7 Dennoch finden die neuen Produk­tionsregime und Massen­ medien bald auch in Europa eine rasche Verbreitung – und mit ihnen die fordis­ tische Arbeiter- und Angestelltenkultur.8 Zugleich soll der Epochenbegriff des Maschinenzeitalters nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Zeitraum von zahlreichen Krisen, Verwerfungen und widersprüch­lichen Bewegungen geprägt ist. Vom Boom der 1920er Jahre bis hin zu den ökonomischen Notlagen der 1930er sowie den beiden Weltkriegen lassen sich immer wieder Brüche und Widersprüche erkennen. Nichtsdestotrotz kann man konstatieren, dass sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts die Bereiche der Maschinisierung und Automatisierung des Alltags immer weiter verschränken und wechselseitig befördern. Die Schlagwörter der Effizienz und Ra­tionalisierung werden damit gleichermaßen zu Leitideen der Ingenieure, Systembauer, Politiker wie Unternehmer. Hatte die Idee des technischen Fortschritts bereits die zweite Hälfe des 19. Jahrhunderts entscheidend mitbestimmt, erlangt sie mit Beginn des Maschi­­nenzeitalters ein neues Momentum. Die Begeisterung angesichts der Artefaktrevolu­tionen, der Wissensexplosion in den Natur- und Technikwissenschaften und der rapiden Steigerung des Lebensstandards durch die Infrastrukturierung der Städte erreichte nun nahezu messianische Züge. Auch die bislang nicht für mög­lich gehaltenen Produktivitätssteigerungen in den Fabriken und Verwaltungen sowie die neuen Erlebniswelten der Massenmedien und des Massenkonsums evozieren allerorten das Gefühl, an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Selbstbestimmung und Prosperität zu stehen. Wenn die Menschen in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts überzeugt waren, »Zeugen einer zweiten Erschaffung der Welt«9 zu sein, 7 Hughes, Thomas P.: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, München: C. H. Beck 1991, S. 300 ff. 8 Zu diesen transatlantischen Übertragungen und Adap­tionen siehe ausführ­lich: Rabinbach, Anson: The Human Motor: Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley: University of California Press 1992; Rodgers, Daniel T.: Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1998. 9 Hughes: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, S. 13.

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wie es Thomas P. Hughes formuliert, so auch deshalb, weil sich die überlieferten Handlungsmodelle und Wertvorstellungen kaum mehr als Orientierungen für die Anforderungen der sich rasant maschinisierenden Gesellschaft eignen. Die neuen Umgangsformen und Wahrnehmungstechniken, welche die Erfahrungen der Masse und Maschine hervorbringen, können somit als dezidiert nach-­bürger­lich bezeichnet werden.10 War beispielsweise die diskursive Antizipa­tion des Passagiers im Zuge der Planung der Subway noch die eines bürger­lichen Heros, erscheint dies vor dem Hintergrund der neuen Erfahrungswelten der Metropole kaum mehr plausibel. Mit der Delegitimierung bürger­licher Wertideale angesichts der sich radikal wandelnden sozia­len wie materiellen Umwelten entfaltet sich eine neue Subjektkultur, die Reckwitz als organisierte Moderne bezeichnet.11 Auch wenn hier eher vom Maschinenzeitalter gesprochen wird, erweisen sich beide Konzep­tionen an vielen Punkten als anschlussfähig.12 Dies betrifft unter anderem die Beobachtung, dass die tradi­tionellen Leitideen des 19. Jahrhunderts als zunehmend antiquiert und inkompatibel mit den Anforderungen der Massen- und Maschinenwelten empfunden werden. Die sich eröffnenden Freiräume der Transgression stellt auch Reckwitz heraus, wenn er schreibt: »Die Technik avanciert zur herausgehobenen Mög­lichkeit einer sehr materiellen De-­zentrierung des Subjekts durch Mensch-­Maschine-­Konfigura­tionen, die den subjektiven Humanismus wie Romantizismus obsolet werden lassen.«13 Zwar schließt die neue Subjektkultur des Maschinellen an kulturelle Muster der bürger­lichen Moderne an, sie codiert diese jedoch oftmals radikal um und verbindet sie mit neuen Wissens- und Organisa­tionsformen. Neben der Maschine ist es vor allem das neue Kollektivsubjekt der Masse, das um 1900 überall in den west­lichen Metropolen zum Vorschein tritt. Auf beiden Seiten des Atlantiks beginnt man nun, die Merkmale dieser neuen Form (semi-)anonymer Vergesellschaftung zu analysieren.14 So konstatiert beispielsweise der spanische Philosoph José Ortega y Gasset:

10 Vgl. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 275 ff. 11 Reckwitz lehnt sich damit an eine Konzep­tion Peter Wagners an. Vgl. Ebd., S. 283. Siehe dort auch Fußnote 10. 12 Allerdings periodisiert Reckwitz die organisierte Moderne lose als Zeitraum ­zwischen 1920 und 1970 (vgl. Ebd., S. 336 ff.). Dementgegen wird das vierte Kapitel zeigen, dass ihre Merkmale bereits wesent­lich früher sichtbar werden und zumindest in den nordamerikanischen Metropolen schon in den 1950er Jahren in die Krise geraten. 13 Ebd., S. 298. 14 Vgl. die Studie von Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben: eine Diskurs- und Imagina­tionsgeschichte der Menschenmenge 1765 – 1930, München: Fink 2007.

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Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf der Straße, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; ­Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern, die Badeorte von Sommerfrischlern. Was früher kein Problem war, ist es jetzt unausgesetzt: einen Platz zu finden.15

Neben Ortega y Gasset thematisieren auch zahlreiche andere Intellektuelle des frühen Maschinenzeitalters, wie Siegmund Freud, Siegfried Kracauer oder Robert Ezra Park, die Eigenschaften der Masse, mit oftmals kulturkritischen Konnota­tionen.16 Zugleich schildern diese Autoren die rasante Verbreitung neuer sozia­ler Organisa­tionsformen, die mit einem bislang ungekannten Ausmaß verdichteter Körper einhergehen: in den Büros und Fabriken wie in den Arbeitersiedlungen, Kinos und Warenhäusern. Diese Erfahrung der anonymen Masse, die nicht zuletzt durch die neuen Untergrundbahnen befördert wird, avancierte im Verlauf des Maschinenzeitalters auch zu einem zentralen Motiv der Kunst. In Literatur, Malerei und Kino wird das Kollektivsubjekt der Masse als neue und durchaus ambivalente Vergesellschaftungsform thematisiert, von King Vidors Film The Crowd (1928) bis zu John Steinbecks The Grapes of Wrath (1939) oder Ellisons Invisible Man (1952).17 In Verbindung mit dem Aufstieg der Massenmedien formiert sich somit eine neue Form des Sozia­len, die in der Massenkultur ihre begriff­liche Fassung findet.18 Im Unterschied zur Kultur des bürger­lichen Zeitalters wird sie nun nicht mehr primär von einer spezifischen Klasse verkörpert, sondern von weiten Teilen der Bevölkerung getragen. Dass sich die Massenkultur im Verlauf des Maschinenzeitalters in nahezu allen Bereichen kapitalistischer wie sozia­listischer Industriegesellschaften durchsetzt, ist vor allem darin begründet, dass sie untrennbar an den Aufstieg von Modellen der Massenproduk­tion und -konsum­tion gekoppelt ist. Sie avanciert zu einer hegemonialen wie egalitären Lebensform, die durch 15 Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen [1930], Berlin: Ullstein 1983, S. 12. 16 Freud, Sigmund: »Massenpsychologie und Ich-­Analyse«, in: ders.:Massenpsychologie und Ich-­Analyse / Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 31 – 106; Kracauer, Siegfried: »Das Ornament der Masse [1927]« in: ders: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 50 – 63; Park, Robert Ezra: The Crowd and the Public and other Essays, Chicago: University Of Chicago Press 1972. 17 Zum Motiv der Masse in der amerikanischen Literatur siehe ausführ­licher: Esteve, Mary: The Aesthetics and Politics of the Crowd in American Literature, Cambridge: Cambridge University Press 2003; Mills, Nicolaus: The Crowd in American Literature, Baton Rouge: Louisiana State University Press 1986. 18 Vgl. ausführ­lich: Makropoulos, Michael: T ­ heorie der Massenkultur, Paderborn: Fink 2008.

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die industriell-­technischen Verfahren des Taylorismus wie Fordismus produziert wird, durch kommerzielle Distribu­tionsformen Verbreitung findet und in konsumtorischen Praktiken angeeignet werden kann. Die Formierung der Massenkultur geht mit der Etablierung neuer Interak­ tionsformen einher, die aus Sicht der bürger­lichen Eliten vor allem als unzivi­ lisiert, obszön oder vulgär erscheinen. Für die New Yorker wird diese Vulgarität der Massen nirgendwo so evident wie in der Subway. Die Steuerung der Passa­ gierfluten in den technischen Ensembles der Waggons und Sta­tionen lässt somit die Genese neuer Subjektivierungsinstanzen als dringend erforder­lich erscheinen. In der Etablierung neuer sozia­ler Normen in den Territorien unter der Stadt wird allerdings schnell deut­lich, dass sich diese nicht mehr an den Leitideen viktorianisch-­bürger­licher Subjektivität orientieren können. Dass die Genese der sogenannten Subway Etiquette den Umbruch öffent­licher Umgangsformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend befördert, zeigt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Konflikten, in denen die neue s­ ozia­le Ordnung des Transits verhandelt wird. Um diese zu bewältigen und die Passagiere als Teil des maschinellen Ensembles zu disziplinieren und zu normieren, werden vor allem die Wissensformen der Ingenieurswissenschaften wie der Logistik mobilisiert. Ihre Prinzipien der Standardisierung, Messbarmachung und Effizienzsteigerung sowie der politischen Neutralität technischer Ra­tionalität erweisen sich als entscheidend für die Art und Weise, wie die Passagiermassen in den Diskursen der Ingenieure und Technokraten in den Blick kommen. Mit Hilfe dieser ­Prinzipien sollte es letzt­lich auch gelingen, den Mob in eine berechenbare Menge zu verwandeln und ihre Verteilungen im System genauestens zu erfassen und zu steuern. Einerseits erfassen diese Verfahren die Passagiere unter den Prinzipien von Messbarkeit, Normierung und technischer Ra­tionalität. Andererseits werden diese Ideale zudem in die technischen Apparaturen wie Architekturen der Subway inskribiert und fungieren so als machtvolle Steuerungs- und Subjektivierungsinstanzen. Bevor wir uns diesen Phänomenen jedoch genauer widmen, soll zunächst dargestellt werden, wie die Prozesse der Maschinisierung in den gewaltigen Transforma­tionen der urbanen Strukturen New Yorks wirksam werden. Neben den Wolkenkratzern findet diese Technisierung wie Infrastrukturierung der Stadt ihren Ausdruck vor allem in der rasanten Expansion der Subway. Demzufolge wird im Folgenden zunächst ein Überblick über die Entwicklung des Systems von der Eröffnung bis zu seiner Konsolidierung im Jahre 1953 gegeben werden. Auch wenn dieser historische Abriss eher kursorisch ausfällt und einzelne entscheidende Momente in späteren Kapiteln vertiefend diskutiert werden, ist er doch notwendig, um die historischen Dynamiken in den Subjektivierungen der Passagiere nachzuvollziehen, die in den nächsten Kapiteln dargestellt werden.

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So zeichnete sich bereits um 1900 ab, dass die Disziplinen der Logistik und Ingenieurswissenschaft im Verlauf der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu zentralen Regierungstechniken avancieren würden. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, stieg bereits im 19. Jahrhundert die Idee der Zirkula­tion zu einem gesellschaft­lichen Schlüsselbegriff auf. Damit wurde auch die Optimierung von Kapital-, Waren- und Menschenströmen zu einer zentralen Aufgabe politischer, ökonomischer und sozia­ler Steuerungsinstanzen. Grundiert wurden diese Paradigmen damals noch von einer spezifischen Ideologie der Hygiene, deren Imperative sowohl auf die Körperpraktiken der Individuen wie auf die Organisa­tion urbaner Strukturen abzielten. Im Zuge der Entfaltung des maschinellen Codes als neues Leitmodell der Massenkultur begann sich diese Prämisse nun entscheidend zu wandeln. Zwar ging es in den Wissensformen der Hygiene wie der Logistik um die Förderung und Steuerung von Zirkula­tion. Im Unterschied zu den Programmen der sozia­len Reformer war es nun aber nicht mehr das Ziel, die mora­lischen Einstellungen der New Yorker durch ihre Integra­tion in die Zirkula­tionsdynamiken der Stadt zu transformieren. Stattdessen richteten sich die Bestrebungen nun auf die Organisa­tion der Menschenmassen, um die Prozessabläufe im System zu optimieren. In dieser Adap­tion utilitaristischer Überzeugungen beerbte die instrumentelle Vernunft der Logistik in vielerlei Hinsicht die Hygieneutopien des 19. Jahrhunderts. Wenn nun nicht mehr der gesunde Metabolismus, sondern die effiziente Maschine zum Idealbild sozia­ler Organisa­tion wird, bezeugt dies auch die Verschiebung von einem organizistischen zu einem maschinistischen Verständnis von Zirkula­ tion. Während die Urbanisten des 19. Jahrhunderts die Stadt noch primär als Metabolismus verstehen, wandelte sich dies im 20. Jahrhundert zugunsten einer maschinellen Konzep­tion des Urbanen.19

19 Vgl. Gandy, Matthew: »Cyborg Urbaniza­tion: Complexity and Monstrosity in the Contemporary City«, Interna­tional Journal of Urban and Regional Research 29/1 (2005), S. 26 – 49, hier S. 28 f. Jedoch gibt es immer wieder Bewegungen gegen die Konzeptualisierung der Stadt als Maschine, beispielsweise im Garden City Movement oder in den Arbeiten von Frank Lloyd Wright. Vgl. dazu ausführ­licher: Hall, Peter: Cities of Tomorrow: An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century, Chichester: Wiley-­Blackwell 2002, S. 86 ff; Platt, Harold L: »Planning Modernism: Growing the Organic City in the 20th Century«, in: Dorothee Brantz, Sasha Disko und Georg Wagner-­Kyora (Hrsg.): Thick Space: Approaches to Metropolitanism, Bielefeld: transcript 2012, S. 165 – 212.

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1. Subway City: Die Maschinisierung des Urbanen New York didn’t build the subways. The subways built New York.20 Fiorello LaGuardia (1945)

Dass die Stadt als ein komplexes Gefüge von Maschinen verstanden werden müsse, wurde im Verlauf des Maschinenzeitalters nicht nur auf der Ebene theoretischer Reflexion immer plausibler. Auch ihre bau­liche Gestalt technisierte sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts auf radikale Weise. Gerade in New York fungierte die Maschinisierung des Urbanen als primäre Antwort auf das immense Bevölkerungswachstum. Dies betraf natür­lich zuallererst die Subway, welche eine bislang ungekannte Zirkula­tion der Arbeitskräfte ermög­ lichte. Während die Subway innerhalb kurzer Zeit zu einer elementaren Alltagserfahrung der Massenkultur New Yorks wurde, veränderte sie die Struktur der Stadt so tiefgreifend wie keine Infrastruktur zuvor. Das von den politischen und ökonomischen Eliten so begierig antizipierte Wachstum, das die Zirkula­ tionsapparatur der Subway herbeiführen sollte, bewahrheitete sich nun in der Tat. Im Zuge des Aufstiegs der Stadt zum na­tional führenden Zentrum für Industrie und Handel wuchsen die Häfen New Yorks zu gigantischen Umschlagsplätzen, die bald ein Viertel des gesamten Warenverkehrs der USA abwickelten.21 Dieser rasante Boom führte auch dazu, dass die Stadt zum Mittelpunkt der sich in dieser Zeit bereits entwickelnden Finanzökonomie aufschwang. Damit erscheint das New York des Maschinenzeitalters als Prototyp jener Global Cities, die sich vor allem in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu zentralen Orten in den Netzwerken des postfordistischen Finanzkapitalismus entwickelten.22 20 Zitiert in: Zolotow, Maurice: »Manhattan’s Daily Riot«, The Saturday Evening Post (April 1945), S. 26. 21 Vgl. Ward, David und Zunz, Oliver: »Between Ra­tionalism and Pluralism: Creating the Modern City«, in: David Ward und Oliver Zunz (Hrsg.): The Landscape of Modernity: New York City, 1900 – 1940, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1992, S. 3 – 18. Zur Geschichte der amerikanischen Hafenstädte im 20. Jahrhundert vgl. u. a. die Disserta­tion von Boris Vormann: Blind Spots of Globaliza­tion: Neoliberaliza­tion Processes, Technological Innova­tion, and Socio-­Spatial Change in North American Port Cities, Disserta­tion: FU Berlin, 2012. 22 Vgl. Abu-­Lughod, Janet L: New York, Chicago, Los Angeles: America’s Global Cities, Minneapolis: University of Minnesota Press 1999; Sassen, Saskia: The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 2001; Sassen, Saskia: Deciphering the Global: its Scales, Spaces and Subjects, London: Routledge 2007.

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Das rapide Wirtschaftswachstum und der dadurch ständig ansteigende Bedarf an Arbeitskraft in den Fabriken und Büros brachte zudem einen völlig neuen Bautyp hervor: den Wolkenkratzer.23 Diese gewaltigen Strukturen etablierten eine neue Dimension des Urbanen, die parallel zu der rasanten horizontalen Expansion eine bislang ungekannte Vertikalisierung bewirkte.24 Das massenhafte Erscheinen der Wolkenkratzer und Hochhäuser ist nicht nur die Folge der neuen Mög­lichkeiten der Konzentra­tion von Arbeitskraft durch die Subway, sondern auch einer weiteren bedeutenden technolo­gischen Innova­tion zu verdanken: dem Aufzug.25 Er erlaubte die Erschließung einer vertikalen Frontier, die in den unzähligen Wettbewerben um die höchsten Gebäude der Stadt immer wieder erweitert wird.26 Diese neue Vertikalität restrukturierte nun auch die symbo­lischen und sozia­len Ordnungen der Stadt. So waren die Gebäude vor der Einführung des Aufzugs nicht nur niedriger, ebenso war ihre innere Organisa­tion gänz­lich anders. Galten bis dahin die oberen Etagen als die gefähr­lichsten und unkomfortabelsten Teile des Hauses und waren somit den Ärmsten und Dienstboten vorbehalten, befreiten die Aufzüge diese Bereiche vom Stigma der Unzugäng­lichkeit und gaben ihnen eine neue Attraktivität und Anziehungskraft.27 Indem die Aufzüge eine vertikale Expansion der Stadt ermög­lichten, erhöhten sie nicht nur das Volumen an Büros und Luxusapartments. Die Wolkenkratzer und Hochhäuser trugen auch zu einer bis dato nicht für mög­lich gehaltenen Verdichtung der Bevölkerung New Yorks 23 Zur Genese und Entwicklung ­dieses Bautyps vgl. ausführ­lich: Bascomb: Higher: A Historic Race to the Sky and the Making of a City; Douglas, George H.: Skyscrapers: A Social History of the Very Tall Building in America, Jefferson, NC .: McFarland 2004; Mújica, Francisco: History of the Skyscraper, Cambridge: Da Capo Press 1977. Zu zeitgenös­sischen Debatten siehe die Beiträge in: Shepherd, Roger (Hrsg.): Skyscraper: The Search for an American Style, 1891 – 1941, New York: McGraw-­ Hill 2003. 24 Zur Reorganisa­tion der vertikalen Stadt um 1900 vgl. ausführ­licher: Pike, David L.: Metropolis on the Styx. The Underworlds of Modern Urban Culture, 1800 – 2001, Ithaca: Cornell University Press 2007, S. 11 ff. 25 Zur Genese und Geschichte des Aufzugs vgl. ausführ­lich: Bernard, Andreas: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweg­lichen Ort der Moderne, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006. 26 Vgl. Vance, Jr., James E.: The Continuing City: Urban Morphology in Western Civilisa­ tion, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1990, S. 472 ff. 27 Die Luxushotels New Yorks, wie z. B. das Ritz Carlton, fungierten als Pioniere dieser vertikalen Reorganisa­tion, indem sie die unteren Stockwerke für das Servicepersonal verwendeten und die höheren Ebenen für exklusive Gäste reservierten. Eine Entwicklung, die der Historiker Ward Morehouse als Schaffung eines »Vertical Beverly Hills« bezeichnet. Vgl. Morehouse, Ward III: The Waldorf-­Astoria. America’s Gilded Dream, New York City 1991, S. 137. Auch zitiert von: Bernard: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweg­lichen Ort der Moderne, S. 79.

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bei. Zum Schrecken der politischen Eliten und sozia­len Reformer sollte sich Manhattan in den Jahren nach der Eröffnung der Subway zu dem am dichtesten besiedelten Ort des Planeten entwickeln. Im Jahre 1910 lebten bereits mehr als 2,3 Millionen Menschen auf der Insel. Ein Sechstel aller New Yorker drängte sich allein auf der süd­lichen Landspitze unterhalb der 14. Straße. Entgegen den Prognosen erlebten insbesondere die Elendsquartiere in der Lower East Side Manhattans eine historisch ungekannte Verdichtung.28 Zwar gelang es in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, Zehntausende der Ärmsten der Insel nach der Bronx, Queens und Brooklyn umzusiedeln, dies wurde jedoch durch die Flut an Neuankömmlingen rasch wieder wettgemacht. Zudem waren viele der umgesiedelten Menschen an den Peripherien der Stadt auf den täg­lichen Transit nach Manhattan angewiesen. Damit stellte sich die Subway nicht nur als eine wirkmächtige Infrastruktur zur Beförderung und Beschleunigung der Zirkula­tion heraus, sondern auch als Akkumula­tionsmaschine, die das ohnehin schon rasante Bevölkerungswachstum noch beschleunigte. Allein die Popula­tion Manhattans wuchs in den Gegenden nörd­lich der 125. Straße in den Jahren von 1905 bis 1920 um mehr als 265 Prozent.29 Wie wirkmächtig die Subway für die Entwicklung der urbanen Kultur New Yorks war, wird auch darin deut­lich, dass sie entscheidend für die Forma­tion des sicher­lich berühmtesten schwarzen Ghettos der Welt war: Harlem. Zunächst durchlief d ­ ieses Stadtviertel im Norden Manhattans bereits durch den Anschluss an die Hochbahnen im Jahre 1880 eine erste Welle von Urbanisierung und bau­ licher Verdichtung. Als sich um 1900 jedoch abzeichnete, dass sich bereits die erste Subwaylinie bis nach Harlem erstrecken würde, begannen die Investoren mit einer intensiven Bebauung von Appartementblocks in der Hoffnung auf lukrative Gewinne. Jedoch führte die Verzögerung der Konstruk­tion zu einem kurzfristigen Überangebot an Wohnraum, sodass sich die Eigentümer gezwungen sahen, an Schwarze zu vermieten, um ihre Verluste zu reduzieren. Dies markierte den Beginn einer starken Zuzugswelle von Schwarzen vor allem aus dem Süden der Vereinigten Staaten. Infolgedessen avancierte Harlem in den 1920ern zum sozia­len und ökonomischen Zentrum der afroamerikanischen

28 Teilweise lebten dort mehr als 9000 Menschen pro Hektar zusammengepfercht unter elenden Umständen. Vgl. Cudahy, Brian J.: Under the Sidewalks of New York: the Story of the greatest Subway System in the World, New York: Fordham University Press 1995, S. 2. 29 Weiter nörd­lich, in den bis dato noch weitgehend dörf­lichen Gegenden der Bronx, waren es immerhin noch 150 Prozent. Vgl. Hood, Clifton: 722 Miles. The Building of the Subways and How they transformed New York, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2004, S. 113.

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Bevölkerung und erlebte mit der sogenannten Harlem Renaissance eine bis heute nachwirkende kulturelle Blüte.30 Dass im Zuge dieser städtischen Expansionen die Benutzung der Subway zu einem elementaren Erfordernis des Alltags wurde, ist an der über die Jahre immer stärker zunehmenden Nachfrage ersicht­lich. So stieg in der ersten Dekade des Systems die durchschnitt­liche Anzahl der Fahrten jedes New Yorkers auf 343 Mal pro Jahr.31 Angesichts der Flut an Passagieren war die Subway beständig überlastet und dementsprechend störanfällig. Nicht nur waren Verspätungen und Unterbrechungen an der Tagesordnung, die massive Überfüllung war zudem immer wieder Anlass wütender Proteste.32 Die anfäng­liche Euphorie der Passagiere ob der neuen Mög­lichkeiten und Erfahrungswelten, die die Subway bereithielt, verflog angesichts solcher Strapazen rasch. Sie wurde ersetzt durch eine Ernüchterung und ein wachsendes Bewusstsein für die Zumutungen, die ihre neue Existenz als Passagiere mit sich brachte. Zugegebenermaßen war mit der Subway in der Tat eine neue Epoche für die Stadt angebrochen, die sowohl ihre bau­liche Gestalt wie auch die Alltagspraktiken und Subjektformen ihrer Bewohner radikal transformierte. Entgegen den Prophezeiungen beförderte die gewaltige Zirkula­tionsmaschine der Subway allerdings weder eine heroische Transforma­tion der urbanen Subjekte noch die Entzerrung urbaner Strukturen. Unter dem steigenden öffent­lichen Druck arbeiteten die politischen Eliten und Betreibergesellschaften fieberhaft an der Erweiterung des Systems. Zwar wurde die erste Linie rasch bis in die Bronx und Brooklyn verlängert, bereits der Eröffnungstag hatte jedoch gezeigt, dass die Subway einer wesent­ lich konsequenteren Expansion bedurfte. Erschwert wurde eine gezielte Planung vor allem durch die besonderen polit-­ökonomischen Regularien New Yorks. So durfte die öffent­liche Hand den Bau dieser Infrastrukturen zwar finanziell unterstützen, die Konstruk­tion und den Betrieb musste sie jedoch privaten Unternehmen überlassen. Zudem wurde der Ausbau immer wieder durch Macht- und Verteilungskämpfe mög­licher neuer Investoren behindert. Ebenso weigerte sich der Finanzier der IRT , August Belmont, das System selbst zu erweitern und kaufte im Jahre 1905 das einzige Unternehmen, das 30 Zur Geschichte Harlems vgl. ausführ­licher: Gill, Jonathan: Harlem: The Four Hundred Year History from Dutch Village to Capital of Black America, New York: Grove Press 2011. 31 Vgl. Hood: 722 Miles, S. 114. 32 Vgl. Hood, Clifton: »The Impact of the IRT on New York City«, Historical American Engineering Record: Interborough Rapid Transit Subway (Original Line) NY-122, New York City 1979, S. 145 – 206, hier S. 147 f.

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ihm hätte Konkurrenz machen können.33 Infolgedessen konzentrierten sich die meisten Linien auf die bereits dicht besiedelten und damit besonders lukrativen Teile der Stadt. Erst im März 1913 gelang es, die zweite Phase der Subwaykonstruk­tion auf den Weg zu bringen, die sogenannten Dual Contracts.34 Sie erlaubten die Schaffung eines zweiten Systems in Brooklyn, geleitet von der Brooklyn Rapid Transit Company (BRT). Im Zuge des Verbunds beider Systeme entstand ein gigantisches Netzwerk, das die Gesamtlänge des bisherigen Streckennetzes mehr als verdoppelte und bald nahezu 1000 Gleiskilometer umfasste. Neben den bereits besiedelten Teilen der Stadt ließ die Subway nun auch auf den vormals kaum erschlossenen Wiesen und Feldern in der Bronx, Queens und Brooklyn neue Siedlungen entstehen – die sogenannten Subway Suburbs.35 Diese gigantischen Häuserkomplexe, die überall an den Rändern der Stadt aus dem Boden schossen, waren in der Tat Passagiersiedlungen – ihre Bewohner waren von der täg­liche Benutzung der Subway abhängig, um zu ihren Arbeits- und Ausbildungsstätten zu gelangen. Die Passagierzahlen, und damit die Überfüllung im System, stiegen somit weiter rasant. Verzögert wurden die dringend benötigten Erweiterungen des Streckennetzes nun zusätz­lich durch die Infla­tion infolge des E ­ rsten Weltkriegs und den Wirtschaftskrisen der 1920er und 1930er Jahre. Machten die Betreiber der Subway anfangs durchaus lukrative Gewinne, so stellte sich die Opera­tion eines unterirdischen Transitsystems nun als ökonomisches Desaster heraus. Allein z­ wischen 1915 und 1925 verdreifachten sich die Kosten des Betriebs. Zudem erschwerte ein Mangel an Material und Arbeitskräften die Konstruk­ tion weiterer Linien. Besonders problematisch war eine Vertragsklausel, die den Betreibern die Erhöhung der Ticketpreise untersagte. Der ursprüng­liche Preis von fünf Cent blieb somit bis zum Jahre 1948 stabil, trotz mehrfacher schwerer Infla­tionen. Dies ermög­lichte zwar nahezu allen Bevölkerungsschichten eine intensive Nutzung der Subway, brachte die Unternehmer aber in andauernde finanzielle Bedrängnis. So musste beispielsweise die BMT im Jahre 1918 Konkurs

33 Vgl. Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. 37. 34 Die Prozesse, die letzt­lich zum Abschluss der Dual Contracts führen sollten, sind von einer solchen Vielschichtigkeit, dass ihnen der Subwayhistoriker Peter Derrick eine eigene umfangreiche Monographie widmet: Tunneling the Future: The Story of the Great Subway Expansion that saved New York, New York: New York University Press 2001. So verdienstvoll diese Arbeit für eine Technik- und Wirtschaftsgeschichte der Subway ist, für die hier vorliegende Untersuchung sind die juristischen und administrativen Details der Verträge von eher randständiger Bedeutung. 35 Vgl. Hood: »The Impact of the IRT on New York City«; Hood: 722 Miles, S.  101 ff.

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anmelden und sich unter dem Namen Brooklyn-­Manhattan Transit Corpora­tion (BRT ) neu konstituieren.36 Angesichts dieser Entwicklungen wurde auch für den z­ wischen 1917 und 1925 amtierenden Bürgermeister New Yorks, John Francis Hylan (1868 – 1936), offenkundig, dass nur die öffent­liche Hand in der Lage war, das Streckennetz zu erweitern.37 Da sich die Aufteilung des Systems an unterschied­liche Betreiber als ineffektiv und kostspielig erwies, strebte man zudem eine Vereinigung unter einer einzigen Institu­tion an. Da dies in Anbetracht der wirtschaft­lichen Krise der 1920er aber keine Op­tion der nahen Zukunft war, entschied sich die öffent­liche Verwaltung zunächst für die Schaffung eines eigenen Streckennetzes. Dieses sollte nun nicht nur durch die Stadt finanziert, sondern infolge gesetz­ licher Änderungen auch betrieben werden können. Der Spatenstich für das auf den Namen Independent City Owned Subway System (IND ) getaufte System erfolgte im Jahre 1925. In Betrieb genommen wurden die ersten Strecken sieben Jahre ­später. Während man die Eröffnung der ersten Linie im Jahre 1904 sowie die Expansion in den Folgejahren noch mit fest­lichen Zeremonien begleitet hatte, erschien dies nun kaum mehr angebracht. Gänz­lich ohne offiziellen Ritus begannen die Züge der IND am 10. September 1932 um eine Minute nach Mitter­ nacht 38 zu rollen. Die gigantische Euphorie der Anfangstage war längst verflogen. Stattdessen war die überfüllte Subway in den Augen der Passagiere nun symptomatisch für die Zumutungen und Strapazen des urbanen Alltags sowie für eine korrupte und unfähige Stadtregierung, die sich eher in politischen Ränkespielen verlor als sich den Problemen New Yorks zu widmen. Stattdessen war es das Automobil, das spätestens ab den 1920er Jahren die Subway als Symbol für Fortschritt und Wohlstand ablöste.39 Auch für die Ingenieure und Planer hatte der öffent­liche Nahverkehr längst an Faszina­tion verloren. Stattdessen war es nun die autogerechte Stadt, welche die Verheißungen von Prosperität und einem besserem Leben verkörperte. Nicht zuletzt versprach die Automobilisierung der Bevölkerung eine Erweiterung der Siedlungsfläche der Stadt und damit neue Einnahmequellen für die Immobilienhändler und Investoren.

36 Vgl. Hood: 722 Miles, S. 193. 37 Vgl. Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. 85 ff. 38 Vgl. [Anonym]: »Gay Midnight Crowds Rides First Trains in New Subway«, The New York Times (10. September 1932). 39 Vgl. Hood: 722 Miles, S. 183 ff; Brooks, Michael: Subway City. Riding the Trains, Reading New York, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1997, S. 114 f. Mehr zum Einfluss des Automobils vgl. Goddard, Stephen B.: Getting There: The Epic Struggle between Road and Rail in the American Century, Chicago: University of Chicago Press 1996.

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In den ersten Jahren der Amtszeit von Bürgermeister Fiorello LaGuardia (1882 – 1947) wurden zwar noch weitere Strecken der IND eröffnet, im Jahre 1940 war die Expansion des Systems aber im Wesent­lichen abgeschlossen. Mit einem Streckennetz von mehr als 1200 Kilometern und einem jähr­lichen Aufkommen von 2,3 Milliarden Passagieren sollte die New Yorker Subway dennoch über viele Jahrzehnte die größte und meistgenutzte Untergrundbahn der Welt bleiben.40 Im gleichen Jahr konnte zudem end­lich die von langer Hand vorbereitete Verstaat­lichung und Vereinigung der drei Teilsysteme vollzogen werden. Dieser Schritt versprach trotz der massiven Investi­tionen im Zuge des Rückkaufs der Anlagen von den privaten Betreibern eine Kostenreduk­tion der ohnehin stark bezuschussten Unternehmen wie auch eine höhere Effizienz im Betrieb. Im Zuge dieser größten Bahnfusion in der Geschichte der USA versammelte das neugegründete New York City Transit System (NYCTS) im Jahre 1940 nahezu 35.000 Angestellte unter einer Dachorganisa­tion.41 Im Juni 1953 schuf man mit der New York City Transit Authority (NYCTA) eine noch umfassendere Institu­tion, in der nun nicht nur die Subways, sondern auch alle Busse und Straßenbahnen unter einem Management zusammengefasst wurden. Mit ihrer Gründung gelangt die nahezu ein halbes Jahrhundert andauernde Phase der Expansion und Standardisierung des Systems zu einem Abschluss. Zwar war unangefochten, dass durch die Subway eine neue Form urbaner Kultur ermög­licht wurde, welche die Zirkula­tionsbewegungen der Subjekte entscheidend beschleunigt wie kanalisiert hatte. Zudem hatte sie innerhalb weniger Dekaden die bau­liche Struktur der Stadt so radikal verändert wie nie zuvor. Die utopische Gesellschaft, die sie dabei hervorbringen hatte sollen, blieb jedoch aus. Spätestens nach zwei Weltkriegen und mehreren schweren Rezessionen war die Desillusionierung in Bezug auf die Heilversprechen einer totalen Maschinisierung aller Lebensbereiche nicht mehr zu leugnen. Auch für die Technikhistoriker der Subway stellt dieser Moment eine epochale Schwelle dar, die den beginnenden Niedergang des Systems markiert.42 Galt die New Yorker Subway im Jahre 1953 trotz erster Defizite in der Wartung und Reinigung noch als modern und sicher, 40 Vgl. Hood: 722 Miles, S. 239. 41 Dennoch blieb die Subway trotz weiter steigender Passagierzahlen ein Verlustgeschäft. So subven­tionierte die öffent­liche Hand New York umgerechnet jede Fahrt in der Subway mit 14 Cents. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der bis dato größten Finanzkrise der Stadt sollte im Jahre 1947 der Bürgermeister La Guardia nun auch den Fahrpreis auf zehn Cent verdoppeln, nachdem er über mehr als 40 Jahre und mehrere Infla­tionen konstant geblieben war. 1953 sollte er sich im Zuge der Gründung der New York City Transit Authority (NYCTA) noch einmal auf fünfzehn Cent erhöhen. Vgl. Ebd. 42 Vgl. Ebd., S. 254.

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wandelte sie sich in den nächsten Dekaden zur gefähr­lichsten und marodesten Untergrundbahn der Welt. Doch nicht nur in der technischen und ökonomischen Geschichte der Subway stellen die 1950er Jahre eine Epochenwende dar. Sie markieren zugleich den Höhe- wie Umschlagspunkt in den Subjektivierungsweisen ihrer Passagiere. Während sich in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts die Subjektform des fordistischen Angestelltenpassagiers als Leitbild herausbildete, erodierte ­dieses Modell im Zuge des ökonomischen und sozia­len Niedergangs der Stadt in den 1960er Jahren. Verzeichnete das System um 1950 noch einen histo­ rischen Rekord seiner Nutzerzahlen, setzte kurz danach ein massiver Exodus der Passagiere ein. Nicht nur begannen die Menschen die Subway zu meiden, viele New Yorker verließen die Stadt gleich ganz und zogen in die sich überall eta­ blierten suburbanen Siedlungen, die nur mit Automobilen zu erreichen waren.43 Wenn der Abschluss der Expansion und Standardisierung des Subwaysystems und das Ende des Maschinenzeitalters historisch zusammenfallen, ist dies alles andere als ein Zufall. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs äußerten zahlreiche Philosophen, Publizisten und Soziologen Bedenken und Zweifel an einer Kultur, in deren Maschinencharakter sie eine neue Form sozia­ler Kontrolle und Zerstörungskraft erkannten, die ihre Subjekte entfremdete und in neue Abhängigkeiten drängte.44 Spätestens mit der sich etablierenden Gegenkultur ab Mitte des 20. Jahrhunderts verdichtete sie sich zu einer drastischen Kritik an der durchtechnisierten und -ra­tionalisierten Gesellschaftsorganisa­tion. Für Denker wie Lewis Mumford oder Herbert Marcuse war es dabei besonders die Passagierkultur der Subway, an der diese Zurichtungen deut­lich wurden. Die Abrechnungen mit dem Maschinenzeitalter sowie die Prozesse der Krise und Erosion der Passagierkultur werden jedoch Gegenstand späterer Kapitel sein. Hier stehen stattdessen die Prozesse der Normierung der Passagiermassen im Vordergrund, die sich für die erste Hälfe des 20. Jahrhunderts als hegemoniale Regierungstechniken wie Subjektivierungsinstanzen erwiesen. Zielte in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Kritik der Massengesellschaft auf die Skandalisierung ihrer Uniformität, stellte sich dies zu Beginn des Maschinenzeitalters noch ganz anders dar. Die Euphorie ob der neuen Mög­lichkeiten und Erfahrungen der Maschine war zu ­diesem Zeitpunkt noch weitestgehend ungebrochen. Die neue Kultur, die sich um 1900 überall in den west­lichen Metropolen formiert, ist neben der Maschinisierung des Sozia­len auch durch das bislang ungekannte Ausmaß der Verdichtung der Körper gekennzeichnet. Die vermassten 43 Vgl. Jackson, Kenneth T.: Crabgrass Frontier: The Suburbaniza­tion of the United States, New York: Oxford University Press, USA 1987. 44 Vgl. Hughes: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, S. 13.

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Subjekte erscheinen damals jedoch noch nicht als normiert und gleichgeschaltet, sondern als chaotischer und bedroh­licher Mob. Die sich in den überfüllten Großstädten überall deut­lich abzeichnende neue Qualität der Massengesellschaft erfährt in den Territorien maschinellen Transits ihre endgültige Evidenz. Nirgendwo wird die Erosion tradi­tionell-­bürger­licher Umgangsformen und sozia­ler Verhältnisse so offenkundig wie hier. Hier waren es besonders die Passa­giermassen der Subway, deren vermeint­lich irra­tionales Verhalten und transgressive Praktiken Anlass zu größter Sorge gaben.

2. Die Entdeckung der Passagiermassen Die Herausforderungen, welche die maschinell-­technischen Apparaturen der Sta­tionen und Waggons für die frischgebackenen Passagiere bereithielten, waren äußerst vielfältig. Sie reichten von neuen Gerüchen und visuellen Eindrücken bis zu den Erfahrungen bislang ungekannter Beschleunigung und Deterritorialisierung. Während wir uns diesen Sinnesregimen s­ päter detailliert widmen werden, sollen hier die sozia­len Erfahrungen der massiven Verdichtung der Körper und die daraus resultierenden neuen Formen sozia­ler Interak­tion im Fokus stehen. So ging die kollektive Erfahrung rasanter Mobilität unter der Erde zugleich mit der Entkopplung der etablierten Subjektcodes der oberirdischen Stadt einher. Wie wir bereits gesehen haben, war die Subway für die ersten Passagiere gleichermaßen unterbestimmt wie überwältigend. Die Differenz zu den altbekannten Lebenswelten der überirdischen Stadt schien dabei so markant zu sein, dass es alles andere als klar war, ob ihre kulturellen Ordnungsmuster hier überhaupt gelten würden. So legten die Passagiere eine Vielzahl normüberschreitender Praktiken an den Tag, die nicht nur der maschinellen Logik des Systems zuwiderliefen, sondern auch den etablierten Subjektcodes des bürger­lichen Zeitalters. Diese neuen Formen kollektiven Verhaltens erschlossen sich jedoch nicht mehr durch die Beobachtung der einzelnen Passagiere. In den maschinellen Gefügen des überfüllten Systems erschienen die Passagiere stattdessen als unend­liche Masse. Sie waren, wie es ein Journalist der New York Times formuliert: »Endless legions of passengers in mass forma­tions.«45 Wenn die Verdichtung zahlreicher Körper nicht nur in der Subway, sondern in zahlreichen anderen Institu­tionen des frühen 20. Jahrhunderts als zunehmend problematisch erscheint, so ist ihre Diskursivierung unter dem Begriff der Masse nicht ohne politische Aufladungen. Die Diskurse und Theorien über die 45 Poore, Charles G.: »Times Quare Becomes Biggest Tube Sta­tion«, The New York Times (13. März 1927). Auch zitiert in: Brooks: Subway City, S. 109.

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Merkmale der sich im Verlauf des Maschinenzeitalters etablierenden Massenkultur erweisen sich in solchem Maß als ideolo­gisch imprägniert, dass das Konzept der Masse hier nicht sinnvollerweise als analytische Kategorie in Anschlag gebracht werden kann. Stattdessen soll es im Folgenden darum gehen, nachzuvollziehen, wie dieser Begriff in den Charakterisierungen der neuen Organisa­ tions- und Interak­tionsformen des subterranen Transits Verwendung findet. Wie dabei deut­lich wird, entfaltet sich in diesen Beschreibungen oftmals eine Spannung z­ wischen dem Verständnis der Passagiermasse als homogene Entität einerseits und ihrer Segmentierung hinsicht­lich Klasse, Hautfarbe, Alter und Geschlecht andererseits. Die Fragen, die sich die Zeitgenossen in der Charak­ terisierung des neuen Kollektivsubjekts der Masse stellen, sind unter anderem: Ist die Masse eine singuläre Einheit oder eine heterogene und fragmentierte Ansammlung von Individuen? Welche neuen Formen kollektiver Praktiken und Verhaltensformen bringen die Massen hervor? Welche Formen von Steuerung und Kontrolle müssen sich etablieren, um sie in die maschinellen Logiken der Subway zu integrieren? Wenn die Merkmale und Funk­tionen der Passagiermassen im Verlauf des Maschinenzeitalters zu einem zentralen Problemfeld avancieren, wird dies im Folgenden vor allem hinsicht­lich dreier Dimensionen dargestellt werden: erstens die Codierung der Masse als barbarischer und affektgesteuerter Mob, zweitens die Praktiken der Normüberschreitung der vermassten Subjekte sowie drittens die Konflikte und sozia­len Ordnungen innerhalb der Passagiermassen. Mob und Menge Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unternimmt man in den sich eta­ blierenden Wissensfeldern der Soziologie und Psychologie Versuche, die bislang weitestgehend unbekannte Art kollektiver Subjektivität der Masse zu beschreiben und ihr Verhalten zu erklären.46 Die sonderbare Form des gesellschaft­lichen Zusammenhalts, die in ihr wirksam wird, erfährt dabei durchaus unterschied­liche Bewertungen. Während die marxistische ­Theorie die Masse immer wieder als potenziell revolu­tionäres Subjekt in den Blick nimmt, die das Versprechen der praktischen Umsetzung revolu­tionärer Theorien in sich trägt,47 dominieren in dieser Zeit jedoch vor allem kulturkritische Beschreibungen der Masse. 46 Hillmann, Karl-­Heinz: »Masse«, Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl., Stuttgart: Kröner 2007, S.  536 – 537. 47 Karl Marx konstatiert beispielsweise 1847 in »Das Elend der Philosophie«: »Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter

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Als besonders einflussreich kann dabei die Studie La Psychologie des Foules des franzö­sischen Sozia­lpsychologen Gustave Le Bon aus dem Jahre 1895 gelten. Bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen wird sie in den USA unter dem Titel The Crowd: A Study of the Popular Mind veröffent­licht und sofort ein Bestseller.48 Die Merkmale, die Le Bon den Massen zuschreibt, sind allerdings alles andere als positiv. Basierend auf seiner Interpreta­tion der Geschehnisse der franzö­sischen Revolu­tion und der Pariser Commune entwirft er ein Bild der Masse als irra­ tionaler, impulsiver und potenziell bedroh­licher Mob. Während Le Bon zufolge die einzelnen Subjekte durchaus vernünftige und berechenbare Verhaltensmuster an den Tag legen könnten, wandelten sie sich in ihrer Amalgamierung zur Masse in eine unkalkulierbare Menschenflut. Diese sei ebenso gewalttätig wie impulsiv und leicht verführbar und stellte so das düstere Gegenbild einer ra­tional-­libertären Gesellschaftsordnung dar.49 Lässt sich Le Bons Studie aus heutiger Sicht vor allem als Zeugnis der Verachtung und Angst der bildungsbürger­lichen Eliten vor den Massen der Arbeiter und Angestellten lesen, so erweist sie sich doch als äußerst wirkmächtig. Neben Gabriel Tarde, Max Weber und Robert Ezra Park baut auch Sigmund Freud in seinem 1921 erschienenen Essay zur Massenpsychologie und Ich-­Analyse in weiten Teilen auf den Konzep­tionen Le Bons auf. Freuds Beurteilung der sich überall in der west­lichen Kultur formierenden »Menschenhaufen«50 ist dabei ähn­lich kritisch: Die Vermassung evoziert bei den einzelnen Subjekten den Rückgang individueller Beherrschtheit sowie eine starke Neigung zu Affektausbrüchen: »Die Masse ist impulsiv, wandelbar und reizbar.«51 Aus Sicht der New Yorker Zeitgenossen war diese Charakterisierung der Masse als triebgeleiteter Mob durchaus auch für die Passagiere der Subway zutreffend. Vor allem die Tumulte und das Chaos der Eröffnungstage galten als Beleg dafür, dass die Passagiermassen ein unvorhersehbares Verhalten an den Tag

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verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situa­tion, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.« Marx, Karl: »Das Elend der Philosophie«, Das Kapital, Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Bd. 4., Berlin/DDR: Dietz 1962, S. 63 – 182, hier S. 180 f. Le Bon, Gustave: The Crowd: A Study of the Popular Mind [1896], Minneapolis: Filiquarian Publishing, LLC 2006. Vgl. Barrows, Susana: Distorting Mirrors: Visions of the Crowd in Late Nineteenth Century France, New Haven: Yale University Press 1981. Freud: »Massenpsychologie und Ich-­Analyse«, S. 34. Ebd., S. 40.

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Abb. 11 und Abb. 12: Die Passagiere als Affenmenschen und Teile der Urhorde. Diese Zeichnungen begleiten einen ausführlichen Essay in der New York Times, der unter dem Titel »Darwin Defied in Our Subways« den Versuch unternimmt, die Evolutionstheorie anhand 53 des Regresses der New Yorker Passagiere zu widerlegen.

legen konnten, wie Panik oder Schock. Zudem gaben die als unzivilisiert codierten Praktiken der einzelnen Passagiere in der Masse, wie Drängeln und Stoßen, Anlass zur Sorge. Beschwerden über Rauchen und Spucken der Passagiere waren ebenso an der Tagessordnung wie Belästigungen oder handgreifliche Auseinandersetzungen. Dies alles galt als Indiz dafür, dass die anonyme Vermassung der Körper in den Waggons und Stationen zu einer Art zivilisatorischer Regression führte. Dieses Phantasma der barbarischen Masse hatte bereits Le Bon in Anschlag gebracht und konstatiert: »Ferner steigt durch die bloße Zugehörigkeit zu einer organisierten Masse der Mensch mehrere Stufen auf der Leiter der Zivilisation herab. In seiner Vereinzelung war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, das heißt ein Barbar.«52 Wie wirkmächtig diese Deutung der vermassten urbanen Subjekte als regressiver und triebhafter Mob auch in der Subway war, wird daran deutlich, dass sich dieses Motiv in unzähligen Karikaturen der Epoche wiederfindet (Abb. 11 und Abb. 12).53 Ins Bild gesetzt wird dieses Motiv ebenso in einer Zeichnung in der Evening Sun aus dem März 1913 (Abb. 13), dem gleichen Monat, in dem Duchamps ikonisches Gemälde Nude Descending a Staircase, No. 2 in der New Yorker Armory Show für Furore sorgte: Indem die Passagiermasse als bedrohliche wie barbarische Form der Vergesellschaftung in den Blick gerät, führte sie zugleich vor Augen, dass die Vermassungen wie Technisierungen des sozialen Miteinanders die Genese völlig neuer 52 Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1982, S. 17. Leicht abgewandelt auch zitiert in Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, S. 40 f. 53 De Casseres, Benjamin: »Darwin Defied In Our Subways«, The New York Times (16. April 1922), S. 52.

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Abb. 13: J. F. Griswold: The Rude Descending a Staircase (1913).

Alltagspraktiken erforderlich machten. Wie im Folgenden gezeigt wird, wurde dies nicht zuletzt dadurch evident, dass sich die anonyme Verdichtung der Körper in der Subway offenbar in besonderem Maße für Experimente in der Überschreitung bürgerlicher Subjektordnungen der Gefasstheit, Moralität und Scham eignete. Transgression und Infrastrukturerotik Begibt man sich auf die Suche nach Spuren dieser transgressiven Praktiken, wird man in einer Vielzahl von Filmen, Musikstücken und Tänzen fündig, mit der die Passagiere vornehmlich in den ersten Jahren nach der Eröffnung ihre neue Maschine feierten. Gerade die damals ungemein populären Subway Songs machen deutlich, wie die Territorien unter der Erde als Orte der Transgression etablierter Geschlechterverhältnisse erlebt werden. Diese Quellen zeugen von einem neuen technisch imprägnierten Romantizismus des Maschinenzeitalters, in dem sich nun auch die Interieurs der Subways, Automobile oder Aufzüge für erotische Phantasmen eignen. Dabei lassen sich erste Formationen moderner »Maschinenerotik« bereits im späten 19. Jahrhundert finden. Sie koppeln sich dort vor allem an die Sinnesempfindungen und maschinellen Ästhetiken der

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Eisenbahnen und Fahrräder.54 Während diese noch allermeist auf die Stimula­ tion durch die Mechanik der Apparaturen beschränkt sind, erlauben die Subway Songs auch Einblicke in die gesellschaft­lichen Veränderungen und die bislang ungekannten romantischen Interak­tionsformen, die durch die technische Verdichtung und Vermassung der Körper produziert wurden. Bereits mit der Eröffnung der Subway im Oktober 1904 erlangten die als Notenblätter zum Nachspielen verkauften Lieder eine ungemeine Beliebtheit. Mit Titeln wie Come Take a Ride Underground (1904) (Taf. 1) oder Subway Glide (1907) richteten sie sich vor allem an die weiße Mittelschicht und verbanden eingängige Walzerrhythmen und Umgangssprache mit einer subtil schlüpfrigen Liebesgeschichte.55 Ihr primäres Sujet war die zufällige Begegnung zweier Passagiere inmitten der zusammengepferchten Menschenmassen der Subway, die sich nun als romantische und potenziell erotische Situa­tion entfaltet. Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist die Ballade »The Subway Express» aus dem Jahre 1907.56 Sie schildert die Romanze einer jungen Frau und eines jungen Manns in einem überfüllten Zug auf dem Weg vom der Südspitze Manhattans hinauf in die Bronx: Boy It was in no sheltered nook It was by no babbling brook When romantic’lly we met Girl Ah, the scene I can’t forget We were thrown together in the Subway Express Boy You were clearly all at sea As you wildly clutched at me When around that curve we swung 54 Vgl. Asendorf, Christoph: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Berlin (West): Anabas-­Verlag 1984, S. 76 ff; ­Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 2004, S. 74. Zum Zusammenhang von Erotik und Fahrradfahren vgl.: Lessing, Hans-­Erhard: Fahrradkultur 1 – der Höhepunkt um 1900, Vorwort zur Neuauflage von Dr. med. Schiefferdecker: Das Radfahren und seine Hygiene (Stuttgart 1900), Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1982. 55 Zumindest am Anfang mieden die Komponisten Slang und Dialekte und die als anzüg­lich und proletarisch verschrienen Rhythmen des Ragtime. Vgl. Stalter, Sunny: »The Subway Crush: Making Contact in New York City Subway Songs, 1904 – 1915«, The Journal of American Culture 34/4 (2011), S. 321 – 331, hier S. 322. 56 The Subway Express ist ursprüng­lich ein Song aus dem Musical Fascinating Flora (1907) mit der Musik von Jerome Kern und einem Text von James OʼDea. Vgl. auch Hood: 722 Miles, S. 99 f.

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Girl Yes, and though I’d lost my tongue I made a hit with you, you must confess. Boy Yes, you hit me in the back And as around and round you flew I inquired if I could tender a supporting arm to you. Girl To which I answered »No, Sir!« When the guard yelled »Move up closer!« And clearly there was nothing else to do. Boy When we first met down at Spring Street And then upon my word Girl I felt I’d known you all my life When we reached Twenty Third Boy You won my heart at Harlem Girl At the Bronx I murmured yes, Boy We lost no time in that hour sublime On the Subway Express.

Wenn die Affekte, die in den Songs thematisch werden, vor allem um die Leidenschaft und Liebe auf den ersten Blick ­zwischen zwei sich zufällig begegnenden Stadtbewohnern kreisen, ist dies natür­lich kein genuin neues Motiv. Es taucht bekanntermaßen bereits in den Schilderungen der Flanerie im 19. Jahrhundert auf. In der Masse der Passanten auf den Boulevards ist die flüchtige Begegnung mit dem anderen Geschlecht, die Charles Baudelaire in seinem ikonischen Gedicht An eine, die vorüberging (1860) schildert, jedoch gänz­lich anderer Art als in der Subway. Die Passagiere, die in den Waggons auf dichtem Raum aneinandergepresst sind, erfahren die Moderne nicht als flüchtig und ephemer, sondern als im höchsten Maße intime und beklemmende Situa­tion der Immobilität.57 57 Diese Charakterisierung der Moderne als Fluid findet sich nicht erst bei Berman und Baumann. Schon Baudelaires Verständnis der Moderne war bekanntermaßen stark durch die Idee der Bewegung charakterisiert: »Die Modernität ist das Vergäng­ liche, das Flüchtige, das Zufällige«. Baudelaire, Charles: »Der Maler des modernen Lebens«, Sämt­liche Werke/Briefe Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst: 1857 – 1860, München/Wien: Hanser Verlag 1989, S. 213 – 258, hier S. 226. Vgl. ebenso: Baumann,

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Ganz ähn­lich wie in den Aufzügen scheinen sich diese Situa­tionen anonymer Vermassung jedoch ganz besonders gut dafür zu eignen, erotisch aufgeladen zu werden.58 Dass gerade die Technizität wie Künst­lichkeit der Subway als besonders reizvolles Setting erlebt wird, bekundet sich u. a. in einem Song mit dem bezeichnenden Titel I Lost My Heart in the Subway (When I Gave My Seat to You) aus dem Jahre 1935. Hier heißt es: »There was no bench, there was no park / There was no moon above, / An unromantic thoroughfare was where I found my love.«59 Diese Schilderung der Subway als hinsicht­lich ihrer Umgangsnormen noch weitgehend unterbestimmtes Terrain lässt sich als Hinweis auf ihre liminale Qualität lesen.60 Die Räume des Transits erweisen sich in den Augen der Passagiere als sonderbar entrückte Sphären, die sich der eindeutigen Zuordnung von Privat­heit und Öffent­lichkeit entziehen. Gerade diese Ambivalenz und die Anonymität inmitten der Menschenmassen sind es, die einen Raum für experimentelle Praktiken im Umgang der Passagiere miteinander eröffnen und Momente von Transgression und Intimität zulassen. Wenn Freud den Zusammenhang z­ wischen der libidinösen Disposi­tion der Individuen und ihrem Verhalten in der Masse betont, die nicht zuletzt in einer »Affektsteigerung«61 der Subjekte mündet, so scheint sich diese Behauptung für die Zeitgenossen zumindest in der Subway zu bestätigen. Dass diese Unbestimmtheit in den maschinellen Ensembles auch Raum für Frivolität bietet, wird bereits in dem allerersten Film über die New Yorker Subway thematisch: 2 A. M. in the Subway aus dem Jahre 1905 (Abb. 14). In dieser nur einige Sekunden dauernden Bildfolge erregt das unzüchtige Verhalten einiger flirtender Passagiere die Aufmerksamkeit von zwei Polizisten. Sie beobachten, wie eine der Frauen ihr Kleid rafft und ihre gestreiften Seidenstrümpfe den Mitreisenden zur Schau stellt. Dieses für die damalige Zeit hochgradig obszöne Verhalten muss letzt­lich durch das Eingreifen der Staatsgewalt unterbunden werden.

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Zygmunt: Liquid Modernity, Oxford: Polity Press 2000; Berman, Marshall: All That Is Solid Melts Into Air: The Experience of Modernity, New York: Verso 1991. Vgl.: Bernard: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweg­lichen Ort der Moderne, S. 264. Musik und Text von Fred Fischer und Bob Emmerich. Zitiert aus: Groce, Nancy: New York, Songs of the City, New York: Billboard Books 1999, S. 120. Vgl. auch ­Fitzpatrick, Tracy: Art and the Subway: New York Underground, Piscataway, New Jersey: Rutgers University Press 2009, S. 41. Zum Begriff der Liminalität siehe ausführ­licher: Turner, Victor: The Ritual Process: Structure and Anti-­Structure, Chicago: Aldine 1995. Freud: »Massenpsychologie und Ich-­Analyse«, S. 51.

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Abb. 14: Filmstills aus »2 A. M. in the Subway«,(Regisseur: G. W. Bitzer, American Mutoscope and Biograph Company, 1905.) Als wichtiges kulturelles Zeugnis ist dieser Film mittlerweile 62 Teil der Sammlungen der Library of Congress.

Indem diese Quellen das frivole, romantische oder galante Verhalten der Passagiere thematisieren, operieren sie zugleich als normative Instrumente in der Aushandlung der sozialen Umgangscodes in der Subway. Bemerkenswert dabei ist, dass das transgressive Verhalten der Menschen in diesen neuen technischen Umwelten weder eindeutig glorifiziert noch gebrandmarkt wird. Vielmehr findet sich in den Songs ein durchaus nuanciertes Verständnis der neuen Zumutungen wie Befreiungsmomente, die die Subjektkultur der Passagiere mit sich brachte. Ebenso kommen in den neuen romantischen Umgangsformen, die in den Subway Songs und Filmen zelebriert werden, die Umwälzungen traditioneller Muster des Intimen und der Paarbeziehung um621900 zum Ausdruck. Sie sind nicht zuletzt ein Effekt der Migrationsbewegungen in die westlichen Metropolen, in deren Folge junge Menschen ihre Beziehungen und Eheschließungen nun nicht mehr primär durch ihre Eltern regeln lassen.63 Auch die neuen Territorien der Subway eröffnen für die jugendlichen Protagonisten der Songs einen neuen unbestimmten Raum ohne Überwachung durch traditionelle Instanzen. Dass die Songs auch Verhaltenscodes für die Passagiere beinhalten, die diese neuen Situationen an bestehende kulturelle Muster anschließen, wird auch dadurch deutlich, dass ihre romantischen Narrative zwar in einem neuen Setting und mit rasanter Geschwindigkeit ablaufen, die grundsätzlichen Normen sozialer Interaktion jedoch kaum verletzen. Das demonstrative Beharren der Subway Songs auf heteronormativen Rollenmodellen wie dem des Gentlemans und Kavaliers lässt alle anderen möglichen Formen transgressiven sexuellen Verhaltens in den Hintergrund treten. Neben diesen Momenten gilt es offenbar noch einen weiteren unbestimmten Aspekt infrastrukturierter Erotik zu bannen: das libidinöse Lust- bzw. Unlustempfinden durch die mechanischen Erschütterungen des Schienentransits. 62 Vgl. auch Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 55. 63 Vgl. Boyer, Paul S.: Urban Masses and Moral Order in America, 1820 – 1920, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1992, S. 252 ff.

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Bereits Freud hatte in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1904/1905 behauptet, dass es einen Zusammenhang z­ wischen den Bewegungsempfindungen in der Eisenbahn und sexueller Erregung gäbe.64 Dieses erregende Körper­gefühl durch die maschinellen Turbulenzen in den Waggons wird auch in einem der bemerkenswertesten Produkte der Populärkultur dieser Epoche aufgegriffen: dem Subway Express Two-­Step.65 Dieser Paartanz, der in den Monaten nach der Eröffnung des Systems ungemein populär ist, imitiert in seiner Choreographie die phy­sischen Schwingungen in der Subway. Dabei greift er Momente des unbeabsichtigten Körperkontakts durch die Erschütterungen der Waggons auf und hilft so, diese Situa­tionen als zufällige und harmlose Momente des neuen Daseins als Passagier zu normalisieren. Zugleich zeigt der Subway Express Two-­Step, dass die Form der stummen Koopera­tion, die die Passagiere erlernen müssen, den komplexen Bewegungen und Interak­tionen eines Tanzes nicht unähn­lich sind. Indem die Subway Songs und Tänze die transgressiven Erfahrungen des Passagierseins popularisieren und vereindeutigen, stellen sie wichtige Subjektcodes für die Bewohner New Yorks bereit. Durch sie lernten die Menschen, welche Körpertechniken und Interak­tionsformen für ihre neue Rolle als Passagiere notwendig waren. Zugleich schildern diese Quellen die zufälligen Begegnungen von Passagieren unterschied­lichster Herkunft als aufregende, aber kaum bedroh­liche Erfahrung. Dass die Verdichtungen der Körper in den unterirdischen Territorien jedoch auch zahlreiche Situa­tionen von Gewalt und Angst evozierten, thematisieren die Songs, Filme und Tänze allerdings nicht. Wenn diese Momente hinter den dominanten Diskursen der neuen Massenerfahrung eher verborgen bleiben, wird die ideolo­gische Konnota­tion des Begriffs der Masse deut­lich: Er neigt dazu, eine Homogenität der vermassten Subjekte zu unterstellen und die Spannungen, Widersprüche und Exklusionen zu übersehen, die in dieser Vergesellschaftungsform wirksam werden.66 Auch die frühen Theoretiker der Masse, wie Freud und Le Bon, betonen ausschließ­lich die Momente der Konformität und kollektiven Unterordnung der Individuen unter das Primat der Masse und

64 Vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1976, S. 73 f. Zu diesen Aspekten siehe auch: A ­ sendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, S. 78; Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 74 f. 65 Vgl. Cumo, Christopher: Science and Technology in Twentieth Century American Life, Westport, Connecticut: Greenwood Publishing Group 2007, S. 41; Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 40. 66 Vgl. McPhail, Clark: »Crowd Behavior«, Blackwell Encyclopedia of Sociology, London: Blackwell 2007, S. 880 – 883.

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befeuern so ihre kulturkritischen Argumenta­tionen.67 Dementgegen zeigt sich gerade in der New Yorker Subway, dass die Frage nach der Zugehörigkeit zur Masse immer wieder Gegenstand heftigster Debatten und Aushandlungsprozesse ist. Wenn diese im Folgenden skizziert werden, so wird dabei deut­lich werden, dass im Gegensatz zu den Annahmen Le Bons und Freuds die Teilhabe an der Masse durchaus auch emanzipatorische Potenziale bereithielt. Inklusion und Exklusion Schaut man auf die Veränderungen der sozia­len Zusammensetzung der Passagiermassen im Verlauf des Maschinenzeitalters sowie auf die Konfliktlinien der Exklusion und Inklusion, so fällt auf, dass diese vor allem entlang der Kategorien sozia­len Geschlechts, ras­sischer Zuschreibung und ökonomischen Kapitals verlaufen. Wenn sich gerade in den Jahren nach der Eröffnung eine große Anzahl der Menschen ihr Anrecht auf Zugehörigkeit zu den Passagiermassen hart erkämpfen müssen, trifft dies im Besonderen auf die weib­lichen Passagiere zu. Zwar eröffnen die sich um 1900 etablierenden Subjektkulturen in den west­ lichen Metropolen auch Frauen neue Freiheiten, zugleich sahen sie sich unzähligen Momenten von Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt: von aggressiven Blicken bis zu Beleidigungen und sexuellen Übergriffen.68 Diese Zwiespältigkeit weib­licher Metropolenerfahrung z­ wischen Transgression und Exklusion betont ebenso Brooks und konstatiert: »Women were not so much welcomed into the modern city as channeled into particular parts of it.«69 Die Ambivalenzen in den genderspezifischen Erfahrungen und Subjektordnungen metropolitaner 67 Vgl. Die Einleitung von Reimut Reiche in: Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-­Analyse / Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, vor allem S. 15 ff. 68 Darauf, dass die Territorien welt­licher Metropolen alles andere als genderneutrale Räume sind, haben bereits zahlreiche Autorinnen und Autoren aufmerksam gemacht. Zum Einstieg in diese Diskussionen empfiehlt sich: Frank, Susanne: Stadtplanung im Geschlechterkampf: Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen: Leske + Budrich 2003; Ernst, Waltraud: »Mög­lichkeiten (in) der Stadt: Überlegungen zur Öffent­lichkeit und Privatheit geschlecht­licher Raumordnungen«, in: Feministisches Frauenkollektiv (Hrsg.): Street Harassment: Machtprozesse und Raumproduk­tion, Wien: Mandelbaum 2008, S. 75 – 93; Roller, Franziska: »Flaneurinnen, Straßenmädchen, Bürgerinnen: Öffent­licher Raum und gesellschaft­liche Teilhabe von Frauen.«, in: Margarete Hubrath (Hrsg.): Geschlechter-­ Räume: Konstruk­tionen von »gender« in Geschichte, Literatur und Alltag, Köln: Böhlau 2001, S.  251 – 265. 69 Brooks: Subway City, S. 173.

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Abb. 15.: Ein allein für weibliche Passagiere reservierter Subwaywaggon der IRT mit männlichem Aufsichtspersonal (1909).

Räume wurden in den überfüllten Waggons und Stationen in vielerlei Hinsicht intensiviert.70 Die anonyme Masse der technisch verdichteten Körper in der Subway stellte auch ein privilegiertes Setting für unerwünschte körperliche Annäherungen, exhibitionistische Praktiken und andere sexualisierte Übergriffe dar. Angesichts dieser Erfahrungen wurden bereits wenige Wochen nach der Eröffnung Forderungen nach allein für Frauen reservierten Waggons laut. Diese sollten als Schutzräume fungieren und möglichen Belästigungen männlicher Passagiere Einhalt gebieten. Als die IRT im Jahre 1909 tatsächlich begann, probeweise den jeweils letzten Wagen der Züge für weibliche Passagiere zu reservieren (vgl. Abb. 15), waren es jedoch ausgerechnet Aktivistinnen von Frauenrechtsgruppen, die dies vehement ablehnten.71 Die Equality League of Self-Supporting Women 72 protestierte mit dem Hinweis darauf, dass sich weibliche Passagiere oft 70 Diese Momente der Angsterfahrung werden vor allem auch Gegenstand des fünften Kapitels sein, in dem mit Hilfe der Beschwerdebriefe der New Yorker Passagiere die weiblichen Erfahrungswelten der Passagiere rekonstruiert werden. 71 Brooks: Subway City, S. 173. 72 Vgl. DuBois, Ellen Carol: »Equality League of Self-Supporting Women«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 281.

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genauso schlecht benahmen wie Männer. Clifton Hood zufolge brachte dies eine Vertreterin dieser Bewegung folgendermaßen auf den Punkt: »Get into a suffragette car? Never! I am no better than the men, and the cars that are good enough for them are good enough for me.«73 In den Augen der Frauenrechtlerinnen stellte jeg­liche Andersbehandlung spezifischer Passagiergruppen nichts weniger als eine Form von Segrega­tion dar. Die Subway sollte dementgegen ein demokratischer und offen zugäng­licher Raum sein, was sich gerade in der Inklusion und Gleichbehandlung mög­lichst aller New Yorker manifestierte.74 Das starke Beharren weib­licher Passagiere auf ihrer Zugehörigkeit zur Massenkultur verdeut­licht auch, wie fragil und umkämpft ihre Subjektposi­tionen nicht nur in der Subway waren. Nun weiterhin Teil der Massen, entwickelten zahlreiche weib­liche Passagiere Körpertechniken, um sich den Zudring­lichkeiten inmitten der dichtgedrängten Körper zu erwehren. Glaubt man den Überlieferungen, erwies sich eine Vorgehensweise als besonders effektiv: Im Falle eines unzüchtigen Berührens verwendeten Frauen ihre Haarnadeln, um diese mit einem beherzten Zustoßen in das Fleisch der ungebühr­lichen Hand zu unterbinden.75 Phänomene wie diese machen deut­ lich, dass die neuen Mög­lichkeitsräume der Stadt umkämpfte Territorien darstellten, in denen die Praktiken und Zugäng­lichkeiten permanent ausgehandelt und erstritten werden mussten. Die Subways bildeten dabei keine Ausnahme.76 Zwar waren die Diskurse über die Passagiermassen in dieser Zeit vor allem maskulin konnotiert, allerdings sprechen die reinen Zahlen in der Nutzung der Subway eine andere Sprache. Dass nahezu die Hälfe der Passagiermassen aus Frauen bestand, ist nicht zuletzt dadurch begründet, dass im Verlauf des Maschinenzeitalters ihr Anteil an der berufstätigen Bevölkerung New Yorks stetig zunahm.77 Die Anzahl der New Yorkerinnen, die beispielsweise als Sekretärinnen, Telefonistinnen oder Verkäuferinnen in Manhattan angestellt waren, überschritt im Jahre 1920 bereits zwei Millionen.78 Als Arbeitskräfte waren sie trotz aller Strapazen und Konflikte auf die Subway angewiesen und machten einen integralen Teil der Passagiermassen aus. 73 74 75 76

Ohne Quellenangabe zitiert in Hood: 722 Miles, S. 119. [Anonym]: »No Cars for Women Only«, The New York Times (4. August 1909). Vgl.: Brooks: Subway City, S. 179 f. So wurden Frauen auch im Bereich der Beschäftigungspolitik der Subwaybetreiber diskriminiert. Wurden in Reak­tion auf den Arbeitskräftemangel während des ersten Weltkriegs zunächst auch Frauen an den Kassen und Einlässen beschäftigt, so verloren sie ihre Anstellungen nach Ende des Krieges jedoch sofort wieder. Vgl. Ebd., S. 174. 77 Alle Zahlen entnommen aus: Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. 125 ff. 78 Brooks: Subway City, S. 174.

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Das System erwies sich jedoch nicht nur hinsicht­lich der Geschlechterordnungen als umkämpfter Raum, sondern auch im Hinblick auf die Hautfarbe der Passagiere. In den informellen Formen der Diskriminierung gegen Schwarze und Latinos, die damals in der Subway weit verbreitet waren, wird deut­lich, dass die maschinellen Ensembles des Transits oftmals als verstärkendes Vehikel der sozia­ len Spannungen in New York City und der amerikanischen Gesellschaft allgemein fungierten.79 Im Vergleich zu den Bundesstaaten des amerikanischen Südens, die im Zuge der Durchsetzung der Jim Crow Laws eine Segrega­tion nach »Rassen« in allen öffent­lichen Verkehrsmitteln obligatorisch machten,80 stellten die Transitsysteme New Yorks in der Tat einen Schmelztiegel dar, der Passagiere unterschied­lichster Hautfarbe auf engstem Raum versammelte. Zwar waren auch im unterirdischen New York rassistische Beleidigungen und Übergriffe ein alltäg­liches Phänomen, der Zugang zu den Sta­tionen und Waggons wurde Nichtweißen jedoch nicht verwehrt. Dies mag allerdings weniger mit den libertären Überzeugungen der New Yorker Eliten zu tun haben, als mit der Tatsache, dass jene ebenso zahlende Kunden darstellten. Angesichts der dramatischen finanziellen Misere war man auf alle Passagiere dringend angewiesen. Die Zugäng­lichkeit des Systems war sicher auch dem Umstand geschuldet, dass die Subway vor allem die Zirkula­tion der arbeitenden Bevölkerung ermög­lichen sollte. Da diese sich jedoch aus Menschen aller Hautfarben rekrutierte, schien eine Segrega­tion schlicht unpraktisch. Dies galt allerdings nur für ihre Rolle als Passagiere. Ähn­lich wie Frauen wurde auch Schwarzen und Latinos lange Zeit die Anstellung bei den Betreiberfirmen der Subway verweigert.81 Dass Menschen aller Hautfarben von Beginn an Teil der Passagiermassen waren, unterstreicht die damalige Bedeutung dieser Zirkula­tionsapparatur als libertäre Errungenschaft. Die neue Kollektivität als Masse, die die Subway produzierte, nivellierte die Differenzen hinsicht­lich Hautfarbe, Klasse oder Geschlecht zumindest teilweise, wie auch Brooks betont: »The paradox of the subway was that it was a relatively unsegregated place in a society characterized by a high degree of racial segrega­tion.«82 79 Im Archiv des Transitmuseums findet sich vor allem ab den 1950er Jahren eine Fülle von Zeugnissen eines individuellen wie strukturellen Rassismus, die im fünften Kapitel näher beleuchtet werden. 80 Vgl. ausführ­lich: Barnes, Catherine A.: Journey from Jim Crow: The Desegrega­tion of Southern Transit, New York: Columbia University Press 1983. 81 Erst mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg im Jahre 1941 wurden sie nun auch als Kontrolleure, Schaffner oder Zugführer beschäftigt. Vgl. Brooks: Subway City, S. 183. 82 Dies hinderte die Betreiberfirmen jedoch nicht, hinsicht­lich der Beschäftigungspolitik ein hohes Maß an Rassismus an den Tag zu legen. So war es schwarzen New Yorkern beispielsweise bis 1942 untersagt, als Busfahrer zu arbeiten. Vgl. Ebd.

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War schon zur Eröffnung 1904 die Zusammensetzung der Passagiermassen sehr heterogen, so diversifizierte sie sich mit der Expansion des Systems noch weiter. Vor allem nach dem ersten Weltkrieg nahm der Anteil von Nichtweißen und Unterprivilegierten im System massiv zu.83 Während sich entgegen der Prophezeiungen der sozia­len Reformer der Migra­tionsdruck auf die Armensiedlungen beständig erhöhte, ermög­lichte es die Subway vielen Familien, aus den überfüllten Slums in die Vororte zu ziehen. Dort fanden sie zwar komfortablere Lebensbedingungen, allerdings waren sie von nun an auf das täg­liche Pendeln ins Zentrum der Stadt angewiesen. Diese neuen Angehörigen der New Yorker Commuter Culture waren vor allem Migranten der zweiten und dritten Genera­ tion, deren Eltern sich noch zu Fuß den Weg durch die überfüllte Stadt zu den Fabriken und Manufakturen gebahnt hatten.84 War die Subway in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts auch oftmals überfüllt, schmutzig und laut, operierte sie doch rund um die Uhr sicher und zuverlässig und entwickelte sich so rasch zu einem ebenso profanen wie unerläss­ lichen Teil des täg­lichen Lebens. Dank einem sehr günstigen Fahrpreis von fünf Cent und einer extrem niedrigen Verbrechensrate wurde die Subway im Verlauf des Maschinenzeitalters zu einem Medium, das auch den Ärmsten der Stadt die Nutzung erlaubte. So begann spätestens in den 1920ern eine Ära, die man in Anlehnung an Hood als goldenes Passagierzeitalter bezeichnen kann.85 Durch die sich immer weiter ausbreitenden unterirdischen Röhrensysteme des Transits erlebten die Menschen ihre Stadt nun auf bislang ungekannte Weise und erfuhren eine Erweiterung ihres Ak­tionsraums. Diese Erfahrung war in vielerlei Hinsicht tatsäch­lich libertär, insofern dass sie neue Handlungsräume erschloss wie auch neue Erlebnisweisen des Urbanen mög­lich machte. Zwar war die Subway primär aus Überlegungen zur Zirkula­tionssteigerung von Arbeitskraft entstanden, sie beförderte aber ebenso neue Kulturen des Massenvergnügens: von den Theatern und Varietés am Broadway und Times Square bis zu den Vergnügungsetablissements an den Stränden Brooklyns. Eine Flut von Passagieren aus allen Teilen der Bevölkerung machte nicht nur die überirdische Stadt, sondern auch die Erfahrung des Transits selbst zu einem Erlebnis voller »excitement and urban color that embodied both New Yorks grit and its endless opportunities.«86 Diese Beschreibung soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Massenkultur der Passagiere auch zahlreiche Formen von Exklusion evozierte. Dies betraf nicht nur körper­lich Behinderte sowie alte und gebrech­liche Menschen, 83 84 85 86

Vgl. Hood: 722 Miles, S. 94 f. Vgl. Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 81. Vgl. Hood: 722 Miles, S. 15 ff. Ebd., S. 214.

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denen die Nutzung allein durch die materielle Beschaffenheit des Systems mit ihren langen Treppen und überfüllten Gängen massiv erschwert wurde. Zudem waren Bettler und Obdachlose, die vor allem in Zeiten von Infla­tion und ökonomischen Krisen zu tausenden Schutz und Almosen in der Subway suchten, den Betreibern wie den Benutzern ein Dorn im Auge. Als es im Jahre 1933 gelang, sie per Gesetz aus dem System zu verbannen, löste dies kaum Proteste aus, sondern wurde von den Passagieren als humane Maßnahme begrüßt, die den Transit etwas weniger strapaziös gestaltete.87 In dem Maße, wie die Subway zur Alltagserfahrung von Millionen von Passagieren wird, schwindet auch ihre Bedeutung als Symbol von Fortschritt, Beschleunigung und Freiheit. In ähn­licher Weise wandelt sich nun auch das Bild der Passagiermasse. Galt sie zu Beginn des Maschinenzeitalters noch als bedroh­licher und unzivilisierter Mob, so wird sie mehr und mehr zu einem Sinnbild für die durchra­tionalisierte und konformistische Angestelltenkultur.88 Jedoch scheinen in den zeitgenös­sischen Beschreibungen der Künstler und Kulturtheoretiker auch immer wieder Momente ihrer Heroisierung auf. Fasziniert vom Spektakel den heterogenen Massen in den Waggons und Sta­tionen schreibt beispielsweise der amerikanische Schriftsteller Christopher Morley im Jahre 1923: Some day a great poet will be born in the subway — spiritually speaking; one great enough to show us the terrific and savage beauty of this multitudinous miracle. As one watches each of those passengers, riding with some inscrutable purpose of his own (or an even more inscrutable lack of purpose) toward duty or libera­tion, he may be touched with anger and contempt toward individuals; but he must admit the majesty of the spectacle in the mass.89

Während Morley die Passagiermassen als ebenso furchteinflößend wie würdevoll beschreibt, überwiegt in den ersten Jahren des Systems noch ihre Codierung als irra­tionale, gewalttätige und asozia­le Meute. Die Verbindung aus einer massiven Überlastung des Systems, den ungewohnten und überwältigenden Erfahrungsräumen des Transits sowie der Zusammendrängung von Passagieren unterschied­lichster Herkunft bildete in den Augen der Betreiber eine hochgradig explosive Mischung. Auch die Ingenieure der Subway waren überzeugt, dass, falls es nicht gelänge, diese Situa­tion zu entschärfen, das System früher 87 Vgl. Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 94 f. 88 Diese Verschiebung im Bild der Masse und die sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer deut­licher abzeichnende Kritik an der normierten Massengesellschaft wird ausführ­licher im vierten Kapitel behandelt. 89 Morley, Christopher: Christopher Morley’s New York, New York: Fordham University Press 1988, S. 116.

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oder ­später kollabieren würde. Um dies abzuwenden, erschienen letzt­lich zwei Strategien als erfolgversprechend: zum einen die Erweiterung des Systems, zum anderen die Disziplinierung der Passagiermassen. Bereits das Chaos und die Ausschreitungen des Eröffnungsabends hatten deut­lich gemacht, dass das reibungslose Funk­tionieren der Subway vor allem von dem ra­tionalen und konformen Verhalten der Passagiere abhing. Zugleich hatte sich gezeigt, dass der Appell an die Vernunft der Passagiere und die Hoffnung auf ihre Einsichtigkeit nur begrenzt Erfolg versprach. Die undisziplinierten Praktiken der Passagiere drohten das ohnehin schon überlastete System weiter zu gefährden. Besonders problematisch war, dass die chaotischen Zustände beim Verlassen und Betreten der Waggons regelmäßig zu Verzögerungen in der Zugabfolge führten. Da man die maximale Anzahl an Zügen einsetzte, summierte sich dies oft zu Kaskadeneffekten, welche die Zirkula­tion des gesamten Systems empfind­lich störten.90 Der undisziplinierte Mob wurde damit nicht nur zum Albtraum der Politiker und Polizisten, sondern auch der Ingenieure und Subwayunternehmer. Sie alle trieb die Frage um, wie man die Passagiere in einen gleichmäßigen und gerichteten Zirkula­tionsstrom versetzen konnte, der mit den Anforderungen der technischen Apparaturen harmonierte. Dies konnte jedoch nur gelingen, wenn sich die Passagiere trotz der Strapazen des Transits als Elemente eines maschinellen Gefüges begreifen und der Opera­tionslogik der Subway ausliefern würden. Das wiederum erforderte eine radikale Transforma­tion ihrer Subjektivität, die sich nicht mehr an den tradi­tionellen Modellen bürger­licher Individualität orientierten konnte. Im Gegensatz zu deren Idealen von romantisch-­tugendhafter Autonomie ging es nun um die Hervorbringung von Subjekten, die sich selbst als steuerbare, effiziente und entemo­tionalisierte Akteure entwarfen und sich so mit den technischen Modalitäten der Infrastruktur kompatibel machten. Anders gesagt: Sie mussten sich in ein Stück Frachtgut verwandeln. Diese Transforma­tionen wurden vor allem durch die Implementierung von Verfahren aus den Ingenieurwissenschaften und der Logistik erreicht. Sie erlaubten es, die einzelnen Subjekte als funk­tionale Elemente einer übergeordneten maschinellen Struktur in den Blick zu nehmen. Bevor wir uns jedoch diesen Subjektivierungen der Passagiere detailliert widmen, muss zunächst genauer beleuchtet werden, was d ­ ieses Wissen der Ingenieurswissenschaft und Logistik genau auszeichnete und wie es solch einen gesellschaft­lichen Einfluss erlangte.

90 Vgl. Arnold, Bion J.: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City, New York City: Public Service Commission 1909 Report No. 2, S. 13. Sowie Hood: 722 Miles, S. 115.

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3. Der Code des Maschinellen und das Wissen der Logistik Der menschliche Körper wird daraufhin untersucht, bis zu welchem Grad er in einen Mechanismus verwandelt werden kann.91 Sigfried Giedion

Wenn es darum geht, zu verstehen, warum das Prinzip der Maschine in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu solch einem dominanten Modell der Industriegesellschaften avanciert, muss man zunächst einen Einblick in die Prozesse geben, die sich bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den aufstrebenden Ingenieurwissenschaften entfalten. Dort formiert sich in dieser Zeit ein spezifisches Set an Wissensformen, das man als Code des Maschinellen bezeichnen kann.92 Basierend auf den Erfahrungen im Entwerfen, Konstruieren und Implementieren von neuen Maschinen in den Feldern der Elektrotechnik, der Chemie und des Motorenwesens ist ­dieses neue und sehr erfolgreiche Wissensdispositiv im Wesent­lichen durch fünf Axiome gekennzeichnet: (1) die Prämisse von Effizienz als berechenbare und mög­lichst sparsame Opera­tionsform, (2) die politische Neutralität technischer Rationalität, (3) die System-­Gestalt von technischen Apparaturen, (4) das Primat von Standardisierung sowie (5) das Prinzip der Modularisierung. Diese Annahmen kumulieren in der Idee der Maschine als funk­tionales Gefüge von normierten und austauschbaren Subelementen, die unter spezifischen Regeln operieren müssen, um ihre effiziente Funk­tionalität zu ermög­lichen.93 Zwar erweisen sich diese Paradigmen für die Erschaffung komplexer technischer Systeme als hochgradig praktikabel, sie sind jedoch zunächst weder politisch noch sozia­l konnotiert. Bemerkenswert ist aber, wie sich diese Modelle um 1900 aus den Wissensbereichen der Technik herausbewegen und sich nach und nach als leitende Prinzipien gesellschaft­licher Organisa­tion etablieren. Befördert wird dies in hohem Maße durch die einschneidenden Transforma­tionen der materiellen Kultur und dort vor allem in den Zirkula­tionstechnologien des Transports, der Produk­tion, der Kommunika­tion und des Städtebaus.94 Besonders die Eisenbahnen und Telegraphen bewirken eine Neustrukturierung raum-­zeit­licher 91 Giedion, Sigfried: Die Herrschaft der Mechanisierung: Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt am Main: Euro­päische Verlagsanstalt 1982, S. 122. 92 Vgl. Reckwitz’ Konzep­tion des »Codes des Sozio-­Technischen« in: Das hybride Subjekt, S. 338 f. 93 Ebd., S. 339. 94 Ebd., S. 275.

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Ordnungsmuster, die von den Menschen als »Time–space Compression« erlebt wird.95 Nicht zuletzt durch die Einführung von Untergrundbahnen in den west­ lichen Metropolen gelangen sie nun zur vollen Entfaltung und werden zu Alltagserfahrungen von Millionen von Menschen. Wenn im Zuge der Verbreitung dieser neuen Technologien die Prinzipien der Maschine aus den Ingenieurswissenschaften in den Bereich des Sozia­len diffundieren, so betrifft dies neben dem Feld der Mobilität zunächst vor allem auch die Sphäre der Erwerbsarbeit. Gerade hier bewirkt die Implementierung des maschinellen Codes eine radikale Umstrukturierung der Abläufe und Organisa­ tion in den Fabriken und Verwaltungen. Entscheidende Plausibilitätsimpulse erhalten diese Ideale maschineller Logik durch die Vertreter des sogenannten Efficiency Movement, welche in den west­lichen Industriena­tionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitreichenden Einfluss gewinnen. Ihre Ideen sollten ­später als Taylorismus bzw. Scientific Management globale Wirksamkeit erreichen. Dabei stellt die Veröffent­lichung der Schrift Principles of Scientific Managements des amerikanischen Ingenieurs Frederick Winslow Taylor (1856 – 1915) im Jahre 1911 einen entscheidenden Schritt in der Durchsetzung maschineller Logik im Bereich der Arbeitsorganisa­tion dar. Jedoch war Taylor weder der Einzige noch der Erste, der diese Ideen vertrat. Der Historiker John M. Jordan hat in seiner Analyse der Ideologie des Maschinenzeitalters herausgestellt, dass das Denken Taylors vor dem Hintergrund einer breiten gesellschaft­lichen Bewegung verstanden werden muss, die unter dem Label des Efficiency Movement die Paradigmen des Maschinellen in alle Bereiche der amerikanischen Kultur implementieren wollte.96 Ihre Anhänger fungieren so gewissermaßen als die Erben jener sozia­ len Reformer, die bereits Dekaden zuvor die Stadt unter dem Paradigma der Hygiene radikal umgestalteten. Ausgebildet als Ingenieure oder Technokraten sahen die Vertreter des Efficiency Movement in den Modellen ­ra­tional-­maschineller Organisa­tion die idealen Instrumente zur Schaffung einer neuen Gesellschaft, die mit Hilfe wissenschaft­lich-­technischer Verfahren eine bislang ungekannte kulturelle und ökonomische Blüte erreichen sollte.97 Ihr Leitprinzip der Effizienz in betrieb­lichen Arbeitsprozessen, welches auf der Identifizierung und Eliminierung überflüssiger bzw. impraktikabler Ressourcen und Abläufe basiert, 95 Zum Konzept der »Time–Space Compression« siehe ausführ­licher: Harvey, David: The Condi­tion of Postmodernity, Cambridge, Mass.: Blackwell 1990, S. 260 ff. Vgl. Ebenso: Kern: The Culture of Time and Space, 1880 – 1918. 96 Jordan: Machine-­Age Ideology: Social Engineering and American Liberalism, 1911 – 1939, S.  33 ff. 97 Zur Wirkmächtigkeit dieser Idee vgl. ausführ­licher: Alexander, Jennifer Karns: The Mantra of Efficiency: From Waterwheel to Social Control, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2008.

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war dabei zugleich technische wie ökonomische und ­sozia­le Programmatik. Die Verfahren der Effizienzsteigerung versprachen nicht die Optimierung sozio-­ technischer Systeme, sondern auch deren Wachstum und Expansion.98 Dass Taylor im Rückblick als der einflussreichste Vertreter dieser Bewegung gilt, ist auch darauf zurückzuführen, dass er die Idee der Maschinisierung der Gesellschaft mit einer Radikalität vertrat, die ihresgleichen suchte. Nicht nur ging es ihm darum, Prozessabläufe so zu optimieren, dass die Erfordernisse des Systems absoluten Vorrang vor den Bedürfnissen der individuellen Subjekte hatten. Wie Hughes betont, war Taylor auch bestrebt, ein Modell sozio-­technischer Organisa­ tion zu entwickeln, »in der sich die mechanischen und die menschlichen Teile praktisch nicht voneinander unterscheiden ließen.«99 Zwar stellten die Vertreter des Efficiency Movement zentrale Akteure in der Übertragung des maschinellen Codes auf die Bereiche sozia­ler Organisa­ tion dar, sie waren jedoch längst nicht die einzigen. Nur drei Jahre nach der Publika­tion von Taylors wegweisender Studie führte der amerikanische Industriemagnat Henry Ford (1863 – 1947) für alle Fließbandarbeiter seiner Autofabrik in Dearborn standardmäßig den Acht-­Stunden-­Tag und einen täg­lichen Lohn von fünf Dollar ein. Wenn dieser Moment als symbo­lische Geburtsstunde des Fordismus gelten kann, wie David Harvey meint, sollte es doch mehrere Jahrzehnte dauern, bis er sich als hegemoniales Akkumula­tionsregime in den west­ lichen Industriena­tionen endgültig etabliert hatte.100 Fords allerdings schon im Jahre 1922 formulierte Vision einer ra­tionalistischen Gesellschaftsordnung, die nicht nur auf Massenproduk­tion wie -konsum­tion setzte, sondern auch neue Formen der Organisa­tion, Reproduk­tion und Kontrolle von Arbeitskraft beinhaltete, wurde bereits damals von vielen seiner Zeitgenossen geteilt.101 Fords 98 Jordan: Machine-­Age Ideology: Social Engineering and American Liberalism, 1911 – 1939. Jedoch können bereits die Bewegungsstudien und Experimente Frank Bunker ­Gilbreths (1868 – 1924) zur Effizienzsteigerung des Mauerwesens aus dem Jahre 1890 als entscheidende Momente in der Übertragung des maschinellen Codes auf die Arbeitsorganisa­tion gelten. Vgl. Harvey: The Condi­tion of Postmodernity, S. 125 f; Nelson, Daniel: Managers and Workers: Origins of the Twentieth-­Century Factory System in the United States, 1880 – 1920, Madison: University of Wisconsin Press 1996, S. 65 ff. 99 Hughes: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, S. 193. 100 Vgl. Harvey: The Condi­tion of Postmodernity, S. 125 ff. 101 Ford, Henry: My Life and Work, New York: Doubleday, Page & Co. 1922. Zur Wirkung dieser Ideen siehe auch: Biggs, Lindy: The ra­tional Factory: Architecture, Technology, and Work in America’s Age of Mass Produc­tion, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996; Hounshell, David: From the American System to Mass Produc­tion, 1800 – 1932: The Development of Manufacturing Technology in the United States, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1985; Gartman, David: From Autos to Architecture: Fordism

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Ideen basierten dabei ebenso wie die Taylors auf der Überzeugung, dass die Übertragung maschineller Prinzipien der Effizienz und Standardisierung auf die Sphären der Arbeit, des Wohnens und der Freizeit zu allgemeiner Prosperität und einer besseren Gesellschaft führen würde. Im Zuge der Durchsetzung dieser Ideen avancierten die Ingenieure und Maschinenbauer zu zentralen Protagonisten der gesellschaft­lichen Transforma­ tionen des Maschinenzeitalters. Dies gilt im besonderen Maße für Amerika, wo die ikonische Figur des Ingenieurs nun in gewisser Weise das Erbe des Pioniers antritt. Dessen Frontier sind nicht mehr die unentdeckten Weiten des Westens, sondern die Freilegung der Kräfte der Maschinen und der Natur.102 Auch Hughes erkennt im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts den Aufstieg einer neuen heroischen Spielart des Ingenieurs: des Systembauers.103 Wird der Code des Maschinellen nun auch in der Subway zum Einsatz gebracht, so sind es hier ebenso Ingenieure ­dieses Typs, die ihr Wissen um die Organisa­tion komplexer soziotechnischer Abläufe auf die chronisch überlastete Subway anwenden. Wie im Fortlauf des Kapitels deut­lich werden wird, war dies neben dem Industriedesigner John Vassos, dem Architekten und Ingenieur J. Vickers und den Mitgliedern des City Club of New York vor allem der Ingenieur Bion J. Arnold. Ihnen gelingt es, die Passagiermassen in normierte Einheiten zu verwandeln, deren Verteilung gemessen, quantifiziert und somit letzt­lich auch gesteuert werden konnte. Wenn im Zuge dessen die Passagiere der Subway als außengeleitete und funk­tional äquivalente Subjekte in den Blick kommen, fungieren die Wissensregime der Ingenieurswissenschaften auch als wirkmächtige Instanzen der Subjektivierung. Das Wissen darüber, wie man den Passagiermob in eine berechen- und steuerbare Menge überführen konnte, speist sich neben den klas­sischen Ingenieurswissenschaften noch aus einem weiteren Reservoir: der Logistik. Ihre Expertise in der Organisa­tion komplexer Mobilitätsketten und raum-­zeit­licher Ordnungsverfahren wird sich in den ersten Dekaden des and Architectural Aesthetics in The Twentieth Century, New York: Princeton Architectural Press 2009. 102 van Laak, Dirk: »Infra-­Strukturgeschichte«, Geschichte und Gesellschaft Heft 3/2001/27. Jg. (2001), S. 367 – 393, hier S. 390. 103 Hughes hat dabei neben Taylor und Ford vor allem den Unternehmer und Erfinder Samuel Insull (1859 – 1938) im Blick, der die ersten integrierten Stromnetze in Chicago implementierte und die Elektrifizierung der USA entscheidend voranbrachte. Vgl. ausführ­licher seine Arbeiten in: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, S. 190 f; »The Electrifica­tion of America: The System Builders«, Technology and Culture 20/1 (1979), S. 124. Zu Insull vgl. auch die einschlägige Studie: Wasik, John F. F.: The Merchant of Power: Sam Insull, Thomas Edison, and the Crea­ tion of the Modern Metropolis, New York: Palgrave Macmillan 2008.

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Maschinenzeitalters nicht nur als zentrale Ressource für die Strukturierung der Passagiermassen erweisen, sondern auch in zahlreichen anderen gesellschaft­ lichen Bereichen Anwendung finden, von den Verwaltungen und Fabriken bis zu den Warenhäusern und Haushalten. Wenn die Disziplin der Logistik im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu solch einem wirkmächtigen Steuerungsinstrument gesellschaft­licher Prozesse avanciert, dass Paul Virilio sogar von einer »logistischen Epoche«104 spricht, scheint es hier angebracht, zunächst einen k­ urzen Blick in die Grundprinzipien und histo­rischen Forma­tionen dieser Wissensmodelle zu werfen. Während logistische Kulturtechniken schon von den Babyloniern und in der Antike angewendet wurden, beginnt die Wirkungsgeschichte der Logistik, wie wir sie heute kennen, erst im Zuge der Industrialisierung.105 Entscheidende Impulse zu ihrem Aufstieg wurden bereits im 18. Jahrhundert in den Organisa­tionsprinzipien der Post verwirk­licht, die komplexe wie regelmäßige Transportketten etablierte, universell gültige Tarifsysteme einführte sowie die Modalitäten des Sammelns und Verteilens standardisierte.106 Im 19. Jahrhundert waren es vor allem die Betreiber der Dampfschiffe und Eisenbahnen, für die Fragen der Optimierung von Taktungen, 104 Virilio, Paul: »Percep­tion, Politics and the Intellectual: Interview with Niels B ­ rügger«, in: John Armitage (Hrsg.): Virilio Live: Selected Interviews, Theory, Culture & Society Book Series, London: Sage Publica­tions Ltd 2001, S. 82 – 96, hier S. 91. Vgl. auch Virilio, Paul: The Logistics of Percep­tion, New York: Verso 1989. 105 Zu den Wissensformen der Logistik aus wissenschafts- bzw. kulturhistorischer Perspektive siehe Beniger, James: The Control Revolu­tion: Technological and Economic Origins of the Informa­tion Society, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2009; Vahrenkamp, Richard: Die logistische Revolu­tion: Der Aufstieg der Logistik in der Massen­konsumgesellschaft, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2011; Jahns, ­Christopher und Schüffler, Christine: Logistik: Von der Seidenstraße bis heute, Wiesbaden: ­Springer Gabler Verlag 2008. Vor allem aber erweist sich die Arbeit von Andreas Klose zur Ideen- und Kulturgeschichte des Containers als ungemein inspirierend wie informativ. Klose, Alexander: Das Container-­Prinzip: Wie eine Box unser Denken verändert, Hamburg: Mare Verlag 2009. Siehe auch: Levinson, Marc: The Box: How the Shipping Container Made the World Smaller and the World Economy Bigger, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 2006. Auch die Forschungen von Monika Dormann und Gabriele Schabacher zur Geschichte der Logistik sind ausgesprochen hilfreich. Siehe bspw.: Dommann, Monika: »Handling, Flowcharts, Logistik. Zur Wissensgeschichte und Materialkultur von Warenflüssen«, in: David Gugerli u. a. (Hrsg.): Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte: Zirkula­ tionen, Bd. 7, Zürich: diaphanes 2011, S. 75 – 103; Schabacher, Gabriele: »Raum-­Zeit-­ Regime: Logistikgeschichte als Wissenszirkula­tion ­zwischen Medien, Verkehr und Ökonomie«, Archiv für Mediengeschichte 8 (2008), S. 135 – 148. 106 Klose: Das Container-­Prinzip, S. 170 f. Siehe dazu im Detail: Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751 – 1913, Berlin: Brinkmann U. Bose 1993.

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Anschlüssen und Verteilungen zu zentralen Problemfeldern wurden.107 Zudem übernahm die Transportlogistik entscheidende Erkenntnisse aus den Verfahren militärischer Nachschubversorgung, die vor allem im 18. Jahrhundert zum Gegenstand zahlreicher theoretischer Abhandlungen werden.108 Nicht zuletzt findet das logistische Wissen in der industrialisierten Produk­tion und Distribu­ tion von Lebensmitteln eines seiner zentralen Anwendungsfelder. Dies betrifft neben dem Bereich der Backwaren vor allem die Organisa­tion der Schlachthöfe.109 In der dort ab 1800 stattfindenden »Mechanisierung des Todes« (Gideon) durch die Implementierung effizienzsteigender Verfahren in den Prozessen der Fleischverarbeitung werden wichtige Erfahrungen über die ra­tionale Organisa­ tion von maschinellen Herstellungs- und Verteilungsabläufen gewonnen. Wie wir sehen werden, wurden diese letzt­lich auch für die Steuerung der Passagiere in der New Yorker Subway in Anschlag gebracht. Zwar kommen die Wissensformen der Logistik zu Beginn des Maschinenzeitalters in immer mehr Bereichen der Gesellschaft zum Einsatz, sie firmieren jedoch zunächst nicht unter ­diesem Begriff.110 Ihre Verfahren und Organisa­ tiontechniken konvergieren erst in den 1960er Jahren unter dem Schlagwort der Logistik,111 allerdings bewahrheitet sich auch hier die Erkenntnis des Historikers Joachim Radkau: »Viele Konzepte existieren bereits, bevor es einen Begriff dafür

107 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. 108 Klose: Das Container-­P rinzip, S. 167 f. Vgl. ausführ­licher auch die Standardtexte: Morgenstern, Oskar: »Note on the Formula­tion of the Theory of Logistics«, Naval Research Logistics Quarterly 2/3 (1955), S. 129 – 136; Van Creveld, Martin L: Supplying War: Logistics from Wallenstein to Patton, Cambridge, Mass.: Cambridge University Press 1980. 109 Brantz, Dorothee: Slaughterhouse City: Paris, Berlin, and Chicago, 1780 – 1914, Baltimore: Johns Hopkins University Press [Im Erscheinen]; Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung, S. 197 ff. 110 Dem Oxford English Dictonary zufolge findet der eng­lische Ausdruck Logistics erst am Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt Verwendung und stammt von dem französichen logistique (von loger, dt: unterbringen) ab, womit wohl vor allem die Unterbringung von Soldaten gemeint zu sein schien. Klose zufolge beruht der Begriff der Logistik auf dem griechischen Verb logizomai (berechnen, überlegen, bedenken). Die Konjunktur des Begriffes sollte im Deutschen wie Eng­lischen erst um 1920 an Fahrt gewinnen und in den nächsten Dekaden zum Gegenstand unzähliger Abhandlungen und Lehrbücher werden. Zur Begriffsgeschichte siehe ausführ­licher: Klose: Das Container-­Prinzip, S. 165 ff sowie Dommann, Monika: »Material Manövrieren: Eine Begriffsgeschichte der Logistik«, Via Storia 2 (2009), S. 13 – 27. 111 Sarasin, Philipp und Kilcher, Andreas: »Editorial«, in: David Gugerli u. a. (Hrsg.): Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte: Zirkula­tionen, Bd. 7, Zürich: diaphanes 2011, S. 8 – 10, hier S. 76.

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gibt.«112 So verbergen sich unter der heutigen Disziplin der Logistik eine Vielzahl ingenieurwissenschaft­licher, ökonomischer und technischer Praktikenkomplexe.113 Ihre gemeinsame Grundierung finden sie jedoch in einem spezifischen Verständnis von Ra­tionalität, das sich in einer mög­lichst effizienten Organisa­tion von Prozessabläufen ausdrücken soll. Was die Kategorie der Effizienz genau besagte, war zwar in den jeweiligen Kontexten unterschied­lich, immer ging es jedoch um die Reduk­tion von Kosten, Ressourcen oder Zeit. Eine entscheidende Rolle kam dabei den Verfahren der Standardisierung und Berechenbarkeit zu, die eine bis dato unerreichte Optimierung der Zirkula­tionsströme ermög­lichte. Damit findet die Logistik ihren eigent­lichen Gegenstandsbereich: die Organisa­ tion von Mobilität, sei es von Informa­tionen, Material, Kapital, Energie oder eben Menschen. Dass sich in den Augen der Zeitgenossen die Subway für die Anwendung logistischer Regime besonders eignete, wurde unter anderem dadurch sinnfällig, dass sich die Passagiere in den unterirdischen Territorien in einer im höchsten Maße artifiziellen wie gestaltbaren Umgebung bewegten. Die Disziplin der Logistik versprach auch deshalb ein besonders wirkmächtiges Instrument für die Produk­tion geordneter Zirkula­tion in der Subway zu sein, da sie selbst eine Art Bewegungslehre darstellt. Im Falle der New Yorker Subway wurden die Wissensregime der Logistik vor allem aus dem Feld der Ingenieurswissenschaften zur Entfaltung gebracht und mit dem Code des Maschinellen verbunden. Diese Synthese erlaubte es, die Passagiere ähn­lichen Verfahren der Messung und Berechnung zu unterziehen wie die Gleisanlagen und Waggons. Damit fungierte die Logistik gewissermaßen als Übersetzungsinstanz ­zwischen den sozio-­ökonomischen und technischen Logiken des Systems. Indem sich die Wissensformen logistischer, ingenieurwissenschaft­licher und betriebswirtschaft­licher Provenienz verschalten und überlagern, formiert sich ein machtvolles Dispositiv, das die Passagiere als infrastrukturierte Subjekte konstituiert. Die Elemente des maschinellen Subjektcodes werden im Folgenden einzeln beleuchtet werden: Von der Quantifizierung und Berechenbarkeit durch statistische Verfahren bis zu den Normierungen der Passagierkörper und dem Blackboxing ihres Innenlebens. Unter dieser Perspektive 112 van Laak, Dirk: »Infrastruktur und Macht«, in: François Duceppe-­Lamarre und Jens Ivo Engels (Hrsg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte, München: R. Oldenbourg 2008, S. 106 – 114, hier S. 132. Ein ähn­liches Schicksal lässt sich auch für den Begriff der Infrastruktur konstatieren. Vgl. van Laak, Dirk: »Der Begriff ›Infrastruktur‹ und was er vor seiner Erfindung besagte«, Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), S. 280 – 299. 113 Dommann: »Material Manövrieren: Eine Begriffsgeschichte der Logistik«. ­Andersson, Åke E.: »The Four Logistical Revolu­tions«, Papers in Regional Science 59/1 (1986), S.  1 – 12.

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erschienen die Zirkula­tionsbewegungen der Passagiere auf ganz ähn­liche Weise regulierbar wie die Taktungen der Züge. Die Art und Weise, wie unter dieser logistisch-­technischen Perspektive die Menschen in der Subway in den Blick genommen wurden, folgte dabei genau den oben skizzierten Merkmalen des Codes des Maschinellen. Über allem schwebte ein Geist logistischer Sach­ lichkeit, der nicht zuletzt deswegen plausibel und erfolgreich war, weil er sich als dezidiert unpolitisch und objektiv präsentierte.

4. Normierung und Normalisierung Passengers are human cargo.114 Paul Fawcett

War die Subway ursprüng­lich als Infrastruktur konzipiert, welche die massive Überfüllung der Stadt beenden sollte, wurde bereits in den Tagen nach der Eröffnung offenkundig, dass die Kapazitäten bei Weitem nicht ausreichten, um die Massen an Passagieren aufzunehmen. In den folgenden Monaten sollte nun die volle Tragweite dieser Überlastung deut­lich werden. Zunächst sind es vor allem die Passagiermassen der Rush Hours, die das System an seine Grenzen bringen. In der Zeit von acht bis zehn Uhr morgens und von vier bis sechs Uhr abends muss die Subway mehr als ein Drittel des gesamten Passagieraufkommens des Tages bewältigen.115 Lange Schlangen an den Eingängen und den Plattformen, überlastete Züge, Chaos und Tumulte wurden so Teil des Alltags für Millionen von New Yorkern. Damit wurde auch ersicht­lich, dass die Prognosen der Ingenieure und Technokraten hinsicht­ lich der Auslastung völlig illusorisch waren. Geplant für eine maximale Anzahl von 600.000 Passagieren pro Tag, wurde ­dieses Maß nahezu sofort überschritten und erreicht im Jahre 1908 eine täg­liche Auslastung von mehr als 800.000. Zwar versuchen die Betreiber, jeden nur verfügbaren Zug auf die Gleise zu setzen, eine Abnahme der Überlastung erreichen sie damit jedoch nicht.116 114 Erster Satz der Einführung aus dem aktuellen Standardwerk der Passagierlogistik: Fawcett, Paul: Managing Passenger Logistics: The Comprehensive Guide to People and Transport, London: Kogan Page Publishers 2000. 115 Diese und die folgenden Zahlen sind entnommen aus: Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. 31 ff. 116 Neben dem allgemein wesent­lich höheren Passagieraufkommen sind es vor allem die Verteilung und Auslastung der Express-­Züge, die wesent­lich stärker ausfallen als antizipiert. Offensicht­lich müssen die New Yorker Passagiere oftmals weite Strecken unter der Stadt zurücklegen, um zu ihren Arbeitsstätten zu gelangen. Vgl. Ebd., S. 31.

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Langsam ahnten nun sowohl die Betreiber als auch die Passagiere, dass ihnen wohl nichts anderes übrig blieb, als sich an diese permanente Überfüllung zu gewöhnen, beziehungsweise Strategien zu entwickeln, um diese zu bewältigen. Während die Passagiere Kulturtechniken der Abschottung und höf­lichen Gleichgültigkeit herausbilden mussten,117 sahen sich die Logistiker und Ingenieure der Subway mit der Herausforderung konfrontiert, das vermeint­lich unberechenbare Verhalten des Passagiermobs zu strukturieren. Angesichts der massiven Überlastung beauftragte im Jahre 1907 die neue Verkehrsaufsichtsbehörde namens Public Service Commision den renommierten Ingenieur Bion J. Arnold (1861 – 1942) mit der Aufgabe, das System der IRT auf ineffiziente Opera­tionsformen zu untersuchen und Vorschläge für die Verbesserung des Betriebsablaufs zu machen. Die Ergebnisse, die Arnold und seine Mitarbeiter in einer siebenteiligen Serie von Berichten vorlegten, geben ein eindring­liches Zeugnis von der Durchsetzung jener Effizienzparadigmen, die letzt­lich auch die Passagiere als logistisch-­maschinelle Teile der Infrastruktur erfassen und strukturieren sollten.118 Befeuert vom Geist des Efficiency Movement unterzog Arnold alle Bereiche der Subway einer minutiösen Analyse, von den Gleisanlagen, Antriebs- und Signalsystemen bis hin zu den Sta­tionen und Waggons. Er maß Bremswege und Zugabstände, kalkulierte die maximal einsetzbare Anzahl von Zügen und erfasste die Luftzirkula­tionen und Temperaturschwankungen in den Sta­tionen und Tunneln. In jedem noch so kleinen Aspekt des Systems sollten versteckte Schwachstellen aufgespürt und beseitigt werden.119 Wenn sich für Arnold die Subway als komplexes maschinelles Gefüge darstellte, so hing ihr effizientes Funk­tionieren von einer mög­lichst passgenauen Integra­tion und Adap­tion all ihrer einzelnen Elemente ab. Es waren allerdings nicht nur die technischen Apparaturen, die getaktet, strukturiert und abgestimmt werden mussten, sondern vor allem auch die Praktiken der Passagiere. 117 Dies wird im vierten Kapitel näher beleuchtet. 118 Vgl. Arnold, Bion J.: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City, New York City: Public Service Commission 1909. Diese Reports sind Teil des Bestandes des New York Transit Museum Archives und können u. a. dort eingesehen werden. 119 So gelang es Arnold beispielsweise, durch eine komplexe Reorganisa­tion der Signal­ anlagen eine nahezu zehnprozentige Erhöhung der Zirkula­tionsgeschwindigkeit der Züge während der Rushhour zu erreichen, wie er nicht ohne Stolz immer wieder hervorhebt. Auch wies Arnold mit Hilfe hochkomplexer Berechnungen nach, dass durch eine minimale Veränderung der Bremssysteme der Züge eine höhere Geschwindigkeit erreicht werden könnte, die zwar im Einzelfall nur vier bis fünf Sekunden ausmachte, sich jedoch in der Summe in einer signifikanten Erhöhung des Zirkula­tionsvolumens der Passagiere niederschlagen würde. Vgl. Arnold: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City Report 6.

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Abb. 16: Die Auslastung eines Zuges auf der Fahrt von Borough Hall bis Bronx Park. Die Überlastung der Kapazität zeigt sich auch an der von Arnold vorgenommenen Erweiterung der Rasterung nach oben, die nun sprichwörtlich die Skala sprengt.

Um den undisziplinierten Passagiermob überhaupt strukturieren und in die maschinelle Logik der Subway integrieren zu können, musste ihn Arnold zunächst in eine abzählbare Menge verwandeln. Es galt, Techniken zu implementieren, die in der Lage waren, die einzelnen Passagiere sowie ihre Verteilung und Zirkulation im System zu messen und zu regulieren. So etablierte Arnold mit Hilfe zahlreicher Mitarbeiter ein engmaschiges Netz administrativer Kontroll- und Überwachungsinstanzen. Sie ermöglichten es, die Passagiere nicht nur allgemein zu zählen, sondern das Transitaufkommen bis hinein in die einzelnen Stationen, Plattformen und Züge minutiös zu erfassen. Man erhob die Loading Times der Passagiere und die Auslastungen der Züge zu allen Tages- und Jahreszeiten und erfasste die Verteilung der Menschen bis in die einzelnen Waggons. Visualisiert wurde diese Art Mengenlehre der Passagiere in komplexen Diagrammen (Abb. 16).

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Das Wissen, das Arnold so über die Passagiere gewinnt, ist dadurch ausgezeichnet, dass es nicht nur die einzelnen Subjekte in den Blick nimmt, sondern vor allem eine Art Gesamtpopula­tion der Passagiere konstituiert. Damit wird eine Perspektive etabliert, die elementar für jene Herrschaftstechnik ist, die Michel­ Foucault mit dem Begriff der Bio-­Macht umschrieben hat.120 Dieses Konzept, das vor allem im Spätwerk Foucaults einen prominenten Platz einnimmt, bezeichnet eine neue Form von Subjektivierung und sozia­ler Ordnung, die sich im 18. Jahrhundert herausbildet und auf der zahlenmäßigen Erfassung der Bevölkerung basiert. Diese Bevölkerung ist jedoch nicht einfach als die Summe aller zu regierenden Subjekte zu verstehen. Mit ihrer Entdeckung kommen auch neue Merkmale in den Blick, die über quantifizierende Verfahren gewonnen werden: »Eine Bevölkerung hat eine Geburtenziffer, eine Sterb­lichkeitsziffer, eine Bevölkerung hat eine Alterskurve, eine Alterspyramide, sie hat eine Krankheitsziffer, einen Gesundheitszustand, eine Bevölkerung kann zugrunde gehen oder sich ausbreiten.«121 Vereinfacht gesagt, produzieren die Verfahren der Biopolitik eine spezifische Form von Wissen, das primär »über statistische Durchschnittsermittlungen gebildet und durch gemittelte Abläufe oder klassifikatorische Raster repräsentiert wird.«122 Indem auch Arnold die chaotischen Passagiermassen in ein System von Tabellen und Mittelwerten überführt, kann er ihnen normierende und homogenisierende Eigenschaften zuschreiben. So sind die Dinge, die man von den Passagieren weiß, vor allem Durchschnittswerte: die Anzahl der durchschnitt­lichen Fahrten im Jahr, durchschnitt­liche Reisezeiten, Tageshäufigkeiten und vieles mehr. Die Idee der Normalität generiert sich aus den statistischen Verteilungen, die einen Normalwertbereich (normal range) konstituieren, der sich als Toleranzzone um einen errechneten Mittelwert darstellt. Das, was so als normales Verhalten der Passagiere erscheint, ist Ergebnis von Verfahren, welche die Signatur objektiver Ra­tionalität und Werturteilsfreiheit in sich tragen. 1 20 Siehe vor allem: Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977; Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung: Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik: Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Eine gute Einführung dazu ist: Gehring, Petra: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt am Main: Campus 2006. 121 Foucault, Michel: »Die Maschen der Macht«, in: Jan Engelmann (Hrsg.): Botschaften der Macht: Der Foucault-­Reader, Stuttgart: Deutsche Verlags-­Anstalt 1999, S. 172 – 186, hier S. 184. 122 Sohn, Werner: »Bio-­Macht und Normalisierungsgesellschaft: Versuch einer Annäherung«, in: Werner Sohn und Herbert Mehrtens (Hrsg.): Normalität und Abweichung: Studien zur ­Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen/ Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 9 – 29, hier S. 21.

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Diese herausragende Rolle statistischer Erhebungen im Zuge der Entfaltung biopolitischer Herrschaftstechniken in der modernen Normalisierungsgesellschaft hat auch Jürgen Link immer wieder hervorgehoben.123 Er umreißt ihre Paradigmen in einem regelrechten Hauptwortstakkato: »Homogenität, Kontinuität, Eindimensionalität, Skalierbarkeit, Quantifizierbarkeit, statistische ­Verdatbarkeit, Vergleichbarkeit mit der Normalverteilung, normalistische Prognos­tik und Regulierbarkeit.«124 Was Arnolds Verfahren statistischer Erfassung so bemerkenswert macht, ist nicht zuletzt seine gelungene Anwendung jener sozia­len Ordnungsverfahren, die man im Anschluss an Michel Foucault als Normalisierungstechniken bezeichnen kann.125 Ihr zentrales Merkmal ist die Herstellung von Normen und Normierungen über Verfahren der Quantifizierung und Vereinheit­lichung. Indem die Massen von Passagieren durch die von Arnold entwickelten Verfahren in ein Raster der Verteilung überführt und berechnet werden können, erscheinen sie nun weniger als irra­tionaler Mob denn als steuerbare Menge. Damit wird nicht nur eine neue Perspektive auf das System etabliert, sondern es werden auch die Passagiere in einer neuen Weise in den Blick genommen. Dass man nun die Flut der Passagiere in Rastern und Verteilungskurven abbilden konnte, erlaubte, die Schwankungen des Passagieraufkommens genau abzubilden und daraufhin detaillierte Prognosen zu erstellen. Dies betraf beispielsweise die Varia­tionen der einzelnen Monate oder Wochentage.126 1 23 Link hat seine Konzep­tionen in einer Vielzahl von Publika­tionen entwickelt, umfassend aber vor allem in seinem Hauptwerk: Versuch über den Normalismus: wie Norma­lität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1999. Allerdings ist die Rezep­tion und Interpreta­tion Foucaults bei Link komplex und nicht unumstritten. Zur Kritik siehe u. a. Bartz, Christina und Krause, Marcus: »Einleitung: Spektakel der Normalisierung«, in: Christina Bartz und Marcus Krause (Hrsg.): Spektakel der Normalisierung, Paderborn: Fink 2007, S. 7 – 24. 124 Link, Jürgen: »›Normativ‹ oder ›Normal‹? Diskursgeschicht­liches zur Sonderstellung der lndustrienorm im Normalismus, mit einem Blick auf Walter Cannon«, in: Werner Sohn und Herbert Mehrtens (Hrsg.): Normalität und Abweichung: Studien zur ­Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 30 – 44, hier S. 41. 125 Die Literatur, die sich infolge der Arbeiten Foucaults und Links gerade ab den 1990er Jahren dem Themenkomplex Normalismus und Normalisierung widmet, ist mittlerweile kaum noch zu überschauen. Gute Einstiegspunkte sind jedoch: Bartz/ Krause: »Einleitung: Spektakel der Normalisierung«; Sohn, Werner und M ­ ehrtens, Herbert: Normalität und Abweichung: Studien zur ­Theorie und Geschichte der Normali­ sierungsgesellschaft, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. 1 26 So findet Arnold heraus, dass der Dezember den passagierreichsten Monat darstellte während im Juli die Waggons am wenigsten überfüllt waren. Kalkulierte man die Passagierzahlen pro Wochentag, so zeigte sich, dass der Sonntagsverkehr

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Wenn Arnold und seine Mitstreiter nun in der Lage sind, ­sozia­le Normalität über Messungen und Toleranzbereiche herzustellen, markiert dies das Auftreten einer neuen Art von Norm. Diese fungiert nun nicht mehr als sozia­les Verhaltensregulativ oder mora­lisches Orientierungssystem, sondern tritt als quantifizierbare Norm statistischer Wahrschein­lichkeiten und industrieller Standards in Erscheinung. Dieser Bereich der Normung, der die Standardisierungen von Maßen, Gewichten und Zeit bis hin zu den industriellen Größennormen umfasst, operiert Link wie Foucault zufolge als wirkmächtige Instanz der Subjektivierung. Wie wir sehen werden, verkoppeln sich die Verfahren industriell-­ technischer Normung und statistischer Normalisierung zu einem komplexen Steuerungsinstrument, das auch das Verhalten der Passagiere in konforme und abweichende Praktiken einteilt. Dabei bilden die Verfahren Arnolds in mehrfacher Hinsicht eine Norm ab. Zunächst repräsentieren sie ­sozia­le Normalität, indem sie ein alltäg­liches und sich wiederholendes Moment des Lebens von Millionen von Passagieren erfassen. Wenn Arnold und seine Mitarbeiter die Passagierpopula­tionen über Visualisierungsinstrumente wie das weiter oben abgebildete Diagramm sichtbar machen, können sie damit auch Extremsitua­tionen und Anormalitäten identifizieren. Dies betrifft vor allem die massiven Überlastungen des Systems zu den Rush Hours sowie irreguläre Taktungen und unzureichende Kapazitäten. Die so gewonnenen Daten können für die Effizienzsteigerung der Zirkula­tion produktiv gemacht und auf ihrer Basis umfassende Adap­tionen vorgenommen werden. Zwar ließen sich mit Hilfe dieser Methoden eine Vielzahl von Optimierungen erreichen, um die Zirkula­tion der Züge zu erhöhen und die Überfüllung zu reduzieren. Ein Element erwies sich jedoch als besonders ineffizient: das Verhalten der Passagiere. Dies betraf neben ihrer schieren Masse vor allem ihre zu langsamen und chaotischen Bewegungen beim Betreten und Verlassen der Waggons. So stellte Arnold frustriert fest: »the delay at the sta­tion platform is caused largely by the passengers getting of slowly from crowded cars.«127 Das Drängeln und Stoßen sowie die allgemeine Undiszipliniertheit der Passagiere führte immer wieder zu massiven Störungen des Betriebsablaufs. Da man im System die maximal mög­liche Anzahl von Zügen einsetzte und die Taktung am geringsten war, am Montag jedoch mit Abstand die stärkste Überlastung des Systems verzeichnet wurde. Bemerkenswerterweise sieht Arnold die Ursache dieser Schwankung darin begründet, dass am Montag die New Yorker einkaufen gehen würden, stimuliert von den Werbeannoncen in den Sonntagszeitungen. Vgl. Arnold: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City Report No. 6, S. 12. 1 27 Ebd. Report No. 1, S. 5.

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dementsprechend eng war, summierten sich diese Praktiken zu erheb­lichen Verzögerungen, welche die Überfüllung noch intensivierte. Dass es in der Effizienzsteigerung des Systems allerdings auf die Abstimmung und Optimierung jedes noch so kleinen Details ankam, macht Arnold in einem Abschnitt unter der programmatischen Überschrift The Value of One Second deut­lich.128 Basierend auf komplexen Berechnungen und detaillierten Auflistungen der einzelnen Systemabläufe insistiert er, dass selbst die Reduk­tion des Aufenthalts der Züge in den Sta­tionen um eine einzige Sekunde eine entscheidende Erhöhung der Passagierkapazitäten im gesamten System bedeutete. Wenn es also gelänge, die devianten Praktiken der Passagiere zu unterbinden, wäre die zentrale Quelle von Ineffizienz und mangelnder Zirkula­tion abgestellt. Arnolds Entdeckung eines statistischen Zusammenhangs z­ wischen dem individuellen Verhalten der Passagiere und der Gesamtleistung des Systems mag heute vielleicht banal erscheinen. Dennoch ermög­lichte sie etwas absolut Entscheidendes: Sie codierte die einzelnen devianten Praktiken der Passagiere als nicht zu unterschätzende Störungen des Gesamtsystems. Damit sprach Arnold zwar einerseits den einzelnen Subjekten eine durchaus relevante Handlungsmacht zu, machte aber andererseits ihre Disziplinierung und Normierung umso dring­licher. Infolge dieser Erkenntnisse rückte die Frage ins Zentrum, wie man mög­ lichst effizient auf die Praktiken und Bewegungen der Passagiere einwirken konnte. Dabei kam eine altbewährte Herrschaftstechnik in den Blick, die Foucault als »Disziplinen des Körpers«129 bezeichnet hat. Knapp gesagt besteht ihre Funk­tion vor allem darin, Subjekte zu produzieren, die als lernfähige, disziplinierte und produktive Individuen in die jeweils hegemonialen gesellschaft­ lichen Institu­tionen der Ökonomie, Politik oder Kultur integriert werden können. Ähn­lich wie die Verfahren libertärer Herrschaft und gouvernementaler Zirkula­tionsregime lässt sich die Genese dieser Herrschaftstechniken bereits über hundert Jahre vor dem Maschinenzeitalter verorten. In den Institu­tionen des Gefängnisses, der Schule, der Kaserne und des Hospitals entfalten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts jene Dispositive, die bekanntermaßen von Michel Foucault als zentrale Instanzen der Disziplinierung beschrieben wurden.130 Die Durchsetzung dieser Regime ist zugleich untrennbar mit der Entwicklung polizei­licher Institu­tionen verbunden, die einen unmittelbaren Zugriff 128 Ebd., S. 45. 129 Foucault: Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit Band 1, S. 168. 130 Siehe unter anderem: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Vgl. dazu Schneider, Ulrich Johannes: Michel Foucault, Darmstadt: Primus 2006, vor allem S. 47 ff, S. 118 ff. und S. 167 ff.

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auf die Körper der Subjekte erlauben. Dies schien auch Arnold bewusst zu sein, wenn er für den massiven Einsatz von staat­lichen Ordnungskräften zur Durchsetzung des geordneten Be- und Entladens plädierte: »suitable police regula­tion upon the platforms of the sta­tion should be provided in order to properly control such individuals as may, through selfish motives, interfere with the prompt closing of the doors.«131 Sehr zum Ärger Arnolds waren jedoch weiterhin die uniformierten Sta­ tionsaufseher dafür zuständig, die Passagiere mit lauten Rufen und gelegent­licher Gewaltanwendung in und aus den Waggons zu treiben. Eine eigene unabhängige Transitpolizei erhielt die Subway erst im Jahre 1953 im Zuge der Gründung der New York Transit Authority.132 Bis dahin verfügten die einzelnen Betreiber der IRT und BMT über jeweils eigene private Sicherheitsdienste. Allein die von der Stadt betriebene IND stellte bereits zu ihrer Eröffnung 1932 unbewaffnete Beamte ein, die man von den Anwärterlisten der New Yorker Polizei rekrutierte. Sie wurden 1933 der New York State Railway Police unterstellt und erhielten in den folgenden Jahren immer mehr polizei­liche Befugnisse. Ihre primäre Aufgabe war zwar weiterhin die Sicherstellung des geordneten Ein- und Aussteigens sowie die Durchsage der Haltestellen, auf den Strecken der IND hatten sie aber zudem das Recht, Passagiere zu verhaften. Diese sogenannten Special Patrolmen erlangten bald einen Ruf als brutale und rigorose Ordnungshüter, deren oftmals rabiate Praktiken in der Koordina­tion der Passagiermassen Gegenstand zahlloser Beschwerden wurden.133 Sie disziplinierten die Passagiere nicht nur mit körper­licher Gewalt, sondern vor allem mit befehlsgleichen Kommandos. Gerade die Anweisungen »Watch your Step!« und »Step Lively!«, mit denen die Aufseher unentwegt die Massen anfeuerten, wurden rasch zu einem Sinnbild für die Passagiererfahrung der New Yorker.134 Die Paradigmen der Normierung und Effizienzsteigerung hielten jedoch auch bald im Umgang ­zwischen Ordnungshütern und Passagieren Einzug. So wurde ab 1917 das Verhalten der Sta­tionsbeamten zum Gegenstand von Verordnungen, die deren Kommandos normierten und kodifizierten. In d ­ iesem Jahr veröffent­lichte die BRT ein Kommuniqué mit dem bezeichnenden Namen 131 Arnold: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City Report No. 1, S. 6. 132 Zu einer ausführ­licheren Geschichte der Transit Police siehe das fünfte Kapitel. 133 Vgl. New York City Transit Authority: The New York City Transit Police Department: History and Organiza­tion, Dezember 1990, Interner Bericht, einsehbar im Archiv des New York Transit Museums. 134 Bereits kurz nach der Eröffnung fanden sie sich auf Plakaten, Postkarten und nicht zuletzt in unzähligen Subway Songs wieder. Vgl. Stalter: »The Subway Crush«, S.  325 f.

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Efficiency Bulletin, das einen standardisierten Höf­lichkeitscode (Standard Courtesy Code) für das Personal vorschrieb.135 Er bestand im Wesent­lichen aus einer langen Liste von zu erlernenden Ausdrücken, wobei die jeweiligen Anweisungen immer mit »Please!«, »Excuse me!« oder »I am sorry!« gekoppelt werden sollten. Diese Formeln mussten in der Adressierung der Passagiere standardmäßig verwendet werden. Ausdrück­liches Ziel war die Steigerung der Gehorsamsrate der Passagiere durch die Vereinheit­lichung und Vereinfachung der Kommandos. Um den ungeheuren Lärm der Maschinen zu übertrumpfen, wurde zudem bereits sehr früh mit Lautsprecherdurchsagen experimentiert, die jedoch selten zu verstehen waren.136 Neben diesen Strategien in der Disziplinierung der Passagiere lassen sich rückblickend noch zwei weitere Strategien ausmachen, die auf die Homogenisierung und Konformität des Verhaltens der Massen abzielten. Dies betrifft zunächst die Installa­tion von Zeichensystemen, wie Warnhinweise, Richtungsanzeiger oder Verbotsschilder. Sie hielten in den Dekaden nach der Eröffnung verstärkt Einzug in die Territorien der Subway und riefen dabei eine Vielzahl von Konflikten hervor, die im dritten Kapitel näher beleuchtet werden. Mindestens ebenso wirkmächtig war jedoch die Implementierung von Verhaltensanforderungen in die technischen Apparaturen der Subway selbst. Diese Inskrip­ tionen, mit denen die Ingenieure und Designer versuchten, die Interak­tionen der Passagiere mit den Elementen des Systems zu steuern und deviante Praktiken zu verunmög­lichen, sollen nun genauer untersucht werden.

5. Passagierparcours Aus Sicht der Betreiber, Logistiker und Ingenieure war es für die optimale Funk­ tion der Subway entscheidend, dass sich ihre Passagiere mög­lichst schnell und reibungslos durch das System bewegten. Dies machte angesichts der gewaltigen Massen, die tagtäg­lich in die Subway drängten, nicht nur eine kontinuier­liche Optimierung der einzelnen räum­lichen Segmente nötig, sondern auch ihr effizientes Ineinandergreifen. Die jeweiligen Arrangements des Systems, die Eingänge, Wartebereiche, Plattformen und Waggons, stellten in den Augen der Ingenieure und Logistiker eine Art Parcours dar, den die Passagiere in mög­lichst gleichmäßigem Rhythmus durchlaufen sollten. Unter dieser Perspektive zergliedert sich der alltäg­liche Transit in eine komplexe Sequenz 135 [Anonym]: »Courtesy Phrases Standardized«, B. R. T. Monthly (1917), S. 2 – 7. 136 Vgl. Sansone, Gene: New York Subways: An Illustrated History of New York City’s Transit Cars, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997, S. 175 ff.

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raum-­zeit­licher Bewegungsabläufe, mit jeweils eigenen Territorien, Normen und Anforderungsprofilen. Diese operieren jedoch nicht autonom, sondern bilden eine Choreographie vielfältigster Mensch-­Maschine-­Interak­tionen. Erst in ihrem störungsfreien Zusammenwirken kann das volle Potenzial der Infrastruktur entfaltet werden. Im Folgenden wird dieser Parcours der Passagiere durch die einzelnen Bereiche des Systems rekonstruiert und werden diese Bereiche auf ihre technischen und ästhetischen Transforma­tionen sowie ihre Wirksamkeit als Steuerungsinstanzen untersucht. Dies geschieht entlang ihrer sequenziellen räum­lichen Anordnung: von den Eingängen und Kontrollbereichen samt Drehkreuzen zu den Sta­tionen und Waggons. All diesen Orten ist gemein, dass sie ein spezifisches Wissen über die Passagiere generieren und in ihre Apparaturen und Gestaltungen inskribieren. Zudem unterlaufen nicht nur die Interieurs der Subway, sondern ebenso ihr Mobiliar, wie Sitzordnungen, Beleuchtungen und Schleusensysteme, in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts einige entscheidende Veränderungen. Im Zuge dessen setzen sich die Paradigmen des Maschinenzeitalters, wie Standardisierung, Automatisierung und Effizienz, auch in der Materialität und Gestaltung der Subway durch. Diese Dynamiken werden vor allem daraufhin in den Blick genommen, welche Skripte und Subjektcodes hier wirksam werden. Sie sind für die Frage danach, wie sich der Passagier in den Augen des logistisch-­technischen Regimes der Subway wandelt, von entscheidender Bedeutung. So war nicht nur die Idee der Subway als hygienische Zirkula­tionsapparatur eine Utopie des späten 19. Jahrhunderts, auch ihre Gestaltung trug noch ganz die Signatur des Viktorianischen Zeitalters. Zwar hatten die ursprüng­lichen Architekten des Systems, Heins & LaFarge, bereits zahlreiche modernistische Elemente integriert und eine ästhetische Strategie funk­tionaler Sakralität verfolgt. Dennoch waren die gestalterischen Präferenzen des City Beautiful Movement noch allgegenwärtig, beispielsweise in Gestalt von Keramikmosaiken, verzierten Eisenarbeiten und ornamentalen Eingängen.137 Galten diese zur Zeit ihrer Konstruk­tion als hochmodern und visionär, umweht sie wenige Jahre s­ päter bereits eine anachronistische Aura. Diese Verschiebung des ästhetischen Paradigmas zugunsten einer ornamentlosen Formsprache ging mit einem zunehmend funk­tionalistischen Verständnis von Architektur einher.138 Auch der Historiker Reyner Banham sieht in dieser Dynamik ein entscheidendes Merkmal des sich 137 Giovannini, Joseph und Amash, Carissa: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, New York: Stewart, Tabori & Chang 2004, S. 4 f. Siehe dazu ausführ­lich Kapitel I. 5. 138 Vgl. Wilson/Pilgrim/Tashjian: The Machine Age in America, S. 149 ff.

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entfaltenden Maschinenzeitalters: »Was die moderne Architektur kennzeichnet, das ist zweifellos ein neues Raumgefühl und die Maschinenästhetik.«139 Die Durchsetzung dieser funk­tionalen Imperative wird bereits daran sichtbar, dass man nur Monate nach der Inbetriebnahme der Subway die ersten der 133 luxuriösen Eingangspavillons wieder demontierte. Inspiriert von den Designs der Budapester Metro und bewundert für ihre filigrane Konstruk­tion aus Eisen und Glas galten die Kioske zwar als Meisterwerke der Ingenieurskunst, die dem Status der Subway als Monument des Fortschritts angemessen Rechnung trugen.140 Allerdings beförderte ihre ausladende Struktur die weitere Verstopfung der ohnehin bereits überfüllten Gehwege und blockierte den Blick der Passanten und Automobilisten auf den vorausliegenden Verkehr. Zudem hatte man die Stauungen und Ausschreitungen in den ersten Tagen des Systems noch sehr gut in Erinnerung. Dem Primat funk­tionaler Zirkula­tion folgend begann man bereits im Jahr nach der Eröffnung die ersten Eingänge wieder rückzubauen. Auch hier wird eine Verschiebung in den Subjektcodierungen des Passagiers deut­lich. So kam es nun offenbar weniger darauf an, bei den eintretenden Passagieren ein Gefühl des Erhabenen hervorzurufen, als vielmehr ihre Fluktua­tionen ­zwischen überirdischer Stadt und unterirdischem System zu beschleunigen. Dementsprechend betrat man die Subway nun durch einfache Treppen, deren Posi­tion durch vergleichsweise spartanisch gestaltete elektrische Lampen signalisiert wurde.141 Am Ende der Treppen angekommen, erwartete die Passagiere ein meist überfüllter Eingangsbereich, wo eine Kontrollinstanz die Passage in die Subway regulierte. Wurde die Rechtmäßigkeit des Zugangs anfangs noch durch Sta­ tionsaufseher kontrolliert, fanden die Passagiere ab Anfang der 1920er Jahre dort eine Apparatur vor, die in vielfältiger Weise die Paradigmen des Maschinenzeitalters verkörperte: das automatische Drehkreuz bzw. die Vereinzelungsanlage, wie diese Technologie im Fachjargon deutscher Ingenieure bezeichnenderweise genannt wird.142 Wie der nächste Abschnitt zeigt, sollte sich diese Vereinzelung nicht nur in phy­sischer, sondern auch in sozia­ler Hinsicht manifestieren. Zudem sollte sich diese Maschine für Verfahren der Steuerung und Messbarkeit der Passagiere als wirkmächtig erweisen. 139 Banham: Die Revolu­tion der Architektur: ­Theorie und Gestaltung im ­Ersten Maschinenzeitalter, S. 6. 140 Vgl. Giovannini/Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 5 ff. 141 Der letzte Pavillon wurde im Jahre 1967 abgerissen. Vgl. Brooks: Subway City, S. 67. 142 Bspw. in: Müller, Klaus-­Rainer: »Defini­tionen zum Sicherheitsmanagement«, ITSicherheit mit System, Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag 2003, S. 13 – 23.

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Vereinzelungsanlagen Wie immer musste man für den Eintritt bezahlen. Dies ist die historische Schwelle der Glücksseligkeit: Geschichte gibt es dort, wo ein Preis bezahlt werden muss.143 Michel De Certeau

In den ersten Jahren nach der Eröffnung der New Yorker Subway im Jahre 1904 gestaltete sich das Betreten des Systems noch ganz ähn­lich wie der Besuch eines Theaters oder Kinos.144 Am Ende der Treppeneingänge angekommen, erwartete die Passagiere ein meist überfüllter Eingangsbereich. Dort stellten sie sich an, kauften ein papiernes Ticket an einem Schalter und bahnten sich anschließend ihren Weg zum Einlass, wo ein Sta­tionsaufseher das Ticket halbierte und Zugang zur Sta­tion gewährte. Angesichts der Überlastung des Systems durch eine unvorhergesehene Flut von Passagieren bildeten sich an den Eingängen jedoch fortwährend Menschenaufläufe. Immer wieder arteten sie in Tumulte aus und konnten nur durch den Einsatz von Polizei aufgelöst werden.145 Angesichts dieser unhaltbaren Zustände begannen die von den Verheißungen der Automatisierung infizierten Ingenieure des Systems fieberhaft mit einer neuen und vielversprechenden Apparatur zu experimentieren. Dieses anfangs noch als »Passimeter«146 bezeichnete Gerät besaß schon alle Grundelemente des späteren automatischen Drehkreuzes: Bestehend aus einem einfachen Halsgerüst und vier bronzenen drehbaren Holmen konnte es von einem einzelnen Sta­tionsaufseher mit Hilfe eines Fußpedals freigeschaltet werden. In den Nachtstunden erlaubte zudem ein Seilzug die Opera­tion bequem vom Ticketschalter aus. Die zahlreichen Vorteile ­dieses Geräts werden in einer Werbeanzeige der Perey Company angepriesen – jener Firma, die ein Patent auf diese Geräte angemeldet hatte und sie letzt­lich auch im gesamten System installieren sollte. Die Anzeige versprach vollmundig die Steuerung der Passagiermassen allein durch eine Fußbewegung : »One woman clerk can make change and pass 45 to 50 passengers per minute, all the while protected in a warm, well-­lighted and safe 143 De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 213. 144 Hood: 722 Miles, S. 221 f. 145 [Anonym]: »Rush Hour Blockade Jams Subway Crowds«, The New York Times (29. Oktober 1904). 1 46 Vgl. State of New York Transit Commission: »First Annual Report (April 25, 1921 – December 31, 1921)«, S. 52.

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booth. The attendant has absolute mastery of the crowd, through the foot pedal control on the turnstile.”147 Entgegen diesen Versprechungen der Massenkontrolle erwies sich diese Konstruk­tion anfangs jedoch als äußerst fehleranfällig und wurde zunächst kaum eingesetzt.148 Erst im Jahre 1921 unternahmen die Betreiber einen neuen Anlauf, da technische Innova­tionen nun eine elektrisch betriebene Variante des Drehkreuzes erlaubten. Hier wurde durch einen Münzeinwurf ein Kontakt ausgelöst, der das Drehen des Kreuzes ermög­lichte.149 Jedoch stellte sich auch diese Technologie als nicht unproblematisch heraus. Gerade bei den frühen Modellen führten Abweichungen von den inskribierten idealen Passagierkörpern immer wieder zu Störungen: »it invited considerbale conges­tion when fat passengers sought to make the passage.«150 Dass die Betreiber dennoch an der kräftezehrenden Weiterentwicklung der Apparate festhalten, wird vor dem Hintergrund der damaligen ökonomischen Situa­tion der Subway verständ­lich. Eine starke Infla­tion infolge des ersten Weltkriegs sowie die vertrag­liche Festschreibung des Fahrpreises auf fünf Cent brachte die Subwaybetreiber an den Rand des Ruins.151 Doch auch hier versprachen die Verfahren ra­tional-­logistischer Effizienzsteigerung Abhilfe. Neben den Optimierungen der Betriebsabläufe unter den Imperativen der Standardisierung und Kostenersparnis stand vor allem die Automatisierung einzelner kritischer Elemente des Systems im Zentrum dieser Bestrebungen. Sie erlaubte nicht zuletzt die Reduk­tion von Arbeitskräften. Die im Jahre 1921 erfolgte Umstellung auf automatisierte Systeme zur Kassierung des Fahrpreises und zur Einlasskontrolle resultierte in Hunderte von Entlassungen. So benötigte man statt vormals vier Angestellten pro Eingang nun nur noch zwei: Eine Aufsicht für die Drehkreuze und eine Person für die neu installierten Wechselkabinen, die den Passagieren gegebenenfalls ihr Fahrgeld in Nickel wechselte.152 147 [Anonym]: »Anzeige der Perey Manufacturing Company«, Electric Railway Journal 58/13 (1921), S. 169. 148 Auch spätere Modelle mit einem Antrieb durch Druckluftpumpen stellten sich als zu laut, teuer und wartungsintensiv heraus. Diese Informa­tion stammt aus einem weder datierten noch mit dem Namen des Autors versehenen 16-seitigen Manuskript mit dem Titel A History of Turnstiles in the New York City Subways aus dem Archiv des New York Transit Museums (NYCTM: File: Turnstiles). 1 49 Vgl. State of New York Transit Commission: »First Annual Report (April 25, 1921 – December 31, 1921)«, S. 52. 150 [Anonym]: »I. R. T. Tests Turnstiles; Ticket Choppers May Be Eliminated if New Devices Work Well.«, The New York Times (23. Januar 1921). 151 So entsprach der Realwert des sogenannten »Nickel-­Fares« in den 1920ern selten mehr als 2,5 Cent. Vgl. Hood: 722 Miles, S. 221. 152 Vgl. Ebd., S. 222.

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Abb. 17: Aushang von November 1921, der den Passagieren den richtigen Umgang mit den Drehkreuzen beibringen sollte.

Gerade hinsichtlich der Verfügbarkeit der Münzen zeigte sich in den Monaten nach der Installation der Drehkreuze ein überraschendes Phänomen: Nahezu alle Passagiere der Subway hatten rasch die Gewohnheit angenommen, ihr Fahrgeld passend parat zu halten. So wurde der Durchgang durch die Schleusen beschleunigt und die Überfüllung der Eingangsbereiche erheblich reduziert. Diese erfolgreiche Disziplinierung scheint dabei für die Betreiber so eindrücklich gewesen zu sein, dass man nicht müde wurde, in Anzeigen und Pressemitteilungen immer wieder darauf hinzuweisen.153 Ihr Erfolg bei den Passagieren mag der Faszination für den Automatismus dieser Apparaturen ebenso geschuldet sein wie den massenhaften Aushängen, mit denen die Menschen mit dieser neuen Technologie vertraut gemacht werden sollten (vgl. Abb. 17). Inspiriert von diesen Effizienzgewinnen rüstete man nun das ganze System inklusive der Hochbahnen mit Drehkreuzen aus.154 Ab dem Jahre 1931 hielt zudem 153 Siehe bspw.: [Anonym]: »96 Out of 100 Have Nickels Ready«, Electric Railway Journal 59/1 (1922), S. 56. 154 So stellte die BMT Anfang der 1920er Jahre auf Drehkreuzsysteme um und installierte 234 Modelle des Typs »Coinpassor« in ihren Stationen. Die IND sollte bereits zu

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Abb. 18 und Abb. 19: Links: Die Iron Maiden bzw. High Entrance/Exit Turnstile (HEET), ca. 1934. Ausgestellt im New York Transit Museum. Rechts: Entwurfszeichnung des Drehkreuzes von John Vassos im Auftrag der Perey Company, ca. 1932.

ein weiteres Modell Einzug in das System: die sogenannte High Entrance/Exit Turnstile bzw. HEET. Sie bestand aus einer hohen robusten Drehtür in einem Metallkäfig und konnte nur in eine Richtung durchlaufen werden (Abb. 18). Diese massive Struktur, die unter Referenz auf ein mittelalterliches Foltergerät von den Passagieren auf den Namen Iron Maiden getauft und bald berühmt wie berüchtigt wurde, erlaubte nun sogar gänzlich unbemannte Stationen. Durch ihre Höhe und Robustheit konnte sie im Gegensatz zu den Drehkreuzen nicht einfach überwunden werden. Glaubt man den Überlieferungen, wurden die Iron Maiden von den Passagieren mit Argwohn betrachtet: Man fürchtete, in ihnen eingesperrt oder gar verletzt zu werden, und dies schien gelegentlich durchaus der Fall gewesen zu sein.155

ihrer Eröffnung 1932 alle Stationen mit dem gleichen Modell ausstatten. In regelmäßigem Abstand wurden diese Modelle ausgetauscht und mit aktuelleren Versionen ersetzt, welche beispielsweise schmaler, schneller oder weniger reparaturanfällig waren. Zudem wurde sogar eine kleine Anzahl von Drehkreuzen eingeführt, die für Linkshänder gedacht waren. Vgl. A History of Turnstiles in the New York City Subways, unveröffentlichtes Manuskript aus dem Archiv des New York Transit Museum, S. 7. 155 Dennoch sollte man mangels besserer Alternativen erst im Jahre 1991 beginnen, diese Apparaturen aus dem Verkehr zu ziehen. Vgl. McClain, Noah: »Social Control,

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Um diesen Ängsten zu begegnen, erhielt in den dreißiger Jahren der berühmte Industriedesigner John Vassos (1898 – 1995) von der Perey Company den Auftrag, einen neuen Typus des Drehkreuzes zu entwerfen, der den neuen ästhetischen wie funk­tionalen Paradigmen des amerikanischen Maschinenzeitalters Rechnung tragen sollte (Abb. 19). Vassos gab den vormals klobigen Geräten eine metallene Stromlinienverkleidung und ersetzte die horizontalen viergliedrigen Drehkreuze durch drei Metallarme, die vertikal montiert wurden.156 Dies war nicht nur robuster, sondern erlaubte auch einen schnelleren Durchgang. Sein Entwurf wurde ein großer Erfolg und gilt bis heute als ikonische Verkörperung des Industriedesigns dieser Ära. In den Augen der Subwaybetreiber wie auch der Drehkreuzhersteller verkörperte diese Apparatur genau die Prinzipien von Geschwindigkeit, Bewegung und Effizienz, die sie anstrebten.157 Mit der Einführung dieser neuen Schleusensysteme beim Betreten und Verlassen der Subway sollte sich das räum­liche Arrangement der Sta­tionen entscheidend transformieren. Neben den Drehkreuzanlagen wurden überall massive Eisenbarrieren errichtet, die den Fluss der Passagiere durch die Schleusen effizient steuern und verteilen sollten.158 Diese Maßnahmen in der Regulierung der Zirkula­tionsströme der Passagiermassen erwiesen sich als so erfolgreich, dass sie bald auch in zahlreichen anderen Untergrundbahnen der Welt nachgeahmt wurden. Für die New Yorker wurde die Passage durch diese Schleusensysteme in einem solchen Ausmaß sinnbild­lich für ihre Zugehörigkeit zu den Passagiermassen, Object Interven­tions and Social-­Material Recursivity (unpublished Manuscript, 2008)«, S. 13 ff. 156 Vgl. Schwartz, Danielle: »Modernism for the Masses: The Industrial Design of John Vassos«, Archives of American Art Journal 46/1 – 2 (2006), S. 4 – 23, hier S. 11. 157 Vgl. Wilson/Pilgrim/Tashjian: The Machine Age in America, S. 83. 158 Dass diese Maßnahmen für das effiziente Funk­tionieren unerläss­lich sind, wird bereits in einem der frühesten Patente für diese Drehkreuzsysteme betont: »In addi­tion, suitable barriers must be placed when the turnstile is installed to direct the flow of people through it.« Siehe die Patentbeschreibung für: G-E automatic Electric Turnstile, Pre-­Bulletin 44316, General Electric Company, September 1923, S. 2.« Einsehbar im Archiv des New York Transit Museums (File: Turnstiles). Zudem wurden massive Türen (sogenannte Slam Gates) neben den Drehkreuzapparaturen installiert, die den Durchgang für Passagiere mit Kinderwagen oder sperrigen Lasten erlauben sollten. Sie konnten jedoch nur auf Anweisung des Sta­tionspersonals geöffnet werden und waren verschlossen, wenn die Eingänge unbemannt waren. Auch wurden automatische Sicherheitsausgänge neben den HEETs implementiert, die beim Eintreten eines Notfalls zur Anwendung kommen sollten. Vgl. McClain: »Social Control, Object Interven­tions and Social-­Material Recursivity (unpublished Manuscript, 2008)«, S. 13 f.

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dass sie auch Eingang in die amerikanische Literatur fand. So bemerkt der Protagonist Herzog im gleichnamigen Roman des amerikanischen Nobelpreisträgers Saul Bellow von 1964: Innumerable millions of passengers had polished the wood of the turnstile with their hips. From this arose a feeling of communion – brotherhood in one of its cheapest forms. This was serious thought Herzog as he passed through. The more individuals are destroyed […] the worse their yearning for collectivity.159

Wenn im Verlauf des Maschinenzeitalters der täg­liche Gang durch diese Apparaturen zu einem kollektiven Ritus von Millionen von Passagieren wird, stellt sich einerseits die Frage, welche Skripte in diese Artefakte implementiert wurden, sowie andererseits, welche Praktiken die Passagiere im Umgang mit ihnen entwickelten. Hinsicht­lich der erstrebten Effekte, die diese Apparaturen bewirken sollten, finden sich einige Hinweise in den Anforderungen der Auftraggeber an John Vassos. Seine Aufgabe in der Gestaltung der neuen Drehkreuze war ausdrück­lich »to include new features that would eliminate unnecessary staff, increase entrance capacity, and control the flow of people as they went in and out of the turnstiles.«160 Allerdings antizipierte Vassos auch mög­liche psychische Eigenschaften der Subjekte, die diese Apparaturen durchlaufen sollen. Nach eigener Auskunft versuchte er sich während der Gestaltung der Drehkreuze auch die mög­lichen Praktiken und Empfindungen der zukünftigen Benutzer genau vorzustellen. Dabei war es vor allem eine Angststörung, deren Vermeidung ihm besonders am Herzen lag: »Here my knowledge of the aichmophobic’s reac­tion – fear of pointed objects – guided me, and I produced a simple contrivance with gently curving surfaces, with any disturbing design around the feet of the user eliminated.«161 Neben diesen antizipierten Nutzerbildern richteten sich die Inskrip­ tionen zudem auf die devianten Praktiken der Sta­tionsbeamten, die immer wieder verdächtigt wurden, das kassierte Fahrgeld in die eigene Tasche zu stecken.162 Dementgegen versprachen die Drehkreuze eine maschinelle Unbestech­lichkeit, keinerlei Ermüdung und eine geringe Störanfälligkeit.

159 Bellow, Saul: Herzog, New York: Penguin 2003, S. 192 f. 160 Schwartz: »Modernism for the Masses«, S. 11. 161 Zitiert in: Ebd. Spätere Versionen, wie das Modell #97 (eingeführt 1946) oder das Modell #107 (eingeführt 1968), erlaubten auch die Benutzung in beide Richtungen, sodass die Drehkreuze nun als Eingangs- wie Ausgangsschleusen operierten. 162 Hood: 722 Miles, S. 222.

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Die Regulierungen des Zugangs, die sich mit den Drehkreuzen etablieren, sind auf den ersten Blick ziem­lich simpel: Man erlangt die rechtmäßige Befugnis zum Betreten des Subwayterritoriums durch einen Münzeinwurf. Schaut man jedoch genauer hin, so finden sich hier weitere Skripte. Diese adressieren zunächst die Körper der Passagiere, als dass sie in der Lage sein müssen, in die Apparaturen zu passen, die Münzen einzuwerfen usw.163 In diesen Paradigmen der effizienten und ökonomischen Zirkula­tion, die diese Technologie realisiert, wird darüber hinaus ein Modell des idealen Passagiers inskribiert. Dieser verfügt nicht nur über einen funk­tionierenden und normierten Körper, der mit den Apparaturen der Drehkreuze kompatibel ist, sondern auch über das passende Fahrgeld sowie das Wissen darüber, wie diese Technologie funk­tioniert. Nur wenn all dies zusammenkommt, kann der Zugang zum System reibungslos gewährt werden. Darüber hinaus verbirgt sich in den Inskrip­tionen der Drehkreuze noch ein weiteres Element. Wenn im Deutschen die Drehkreuze mit dem Terminus der Vereinzelungsanlage bezeichnet werden, so ist dies durchaus sprechend.164 Diese Apparaturen leisten genau dies: Sie separieren die Passagiermassen in sequenzierte Einheiten und erlauben eine kontrollierte und messbare Zirkula­tion in und aus dem System.165 Mit der Installa­tion von Zählmaschinen in den Drehkreuzen kann darüber hinaus eine zweifelsfreie Zählung der Passagiere erfolgen und können die Ingenieure und Logistiker mit einer Fülle an Datenmaterial versorgt werden. Mussten Arnold und seine Mitarbeiter d ­ ieses biopolitische Wissen noch mühsam selbst erheben, so erlauben die Quantifizierungsmaschinerien der Drehkreuze nun eine quasi endlose Datengenese, mit deren Hilfe man die Zirkula­tionen und Verteilungen der Körper bis ins Detail erfassen kann. Damit 163 Des Weiteren verlangen die Drehkreuze, dass man keinerlei Gegenstände bei sich hat, die ein bestimmtes Volumen überschreiten. War dies der Fall, konnten zwar die Tore neben den Drehkreuzen verwendet werden, allerdings nur mit Einschränkungen. Im Besonderen betrifft dies die erschwerte Zugäng­lichkeit für Kinderwägen und macht damit deut­lich, wie diese Skripte nun doch auch genderspezifisch wirkten. 164 Die Schleuse kann sicher ebenso gut als zentrale Infrastruktur und Chiffre der Moderne gelten, wie dies Giorgio Agamben für das Lager behauptet. Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Umso bemerkenswerter ist, dass eine umfassende historische bzw. kulturtheoretische Betrachtung dieser Technologie der Vereinzelung bislang fehlt. Allerdings arbeitet der Architekturhistoriker Moritz Gleich an einer Disserta­tion zu ­diesem Thema. Wichtige Impulse bieten zudem: Hagemann, Anke: »Filter, Ventile und Schleusen: Die Architektur der Zugangsregulierung«, in: Volker Eick, Jens Sambale und Eric Töpfer (Hrsg.): Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik, Bielefeld: transcript 2007, S. 301 – 328. 165 Hagemann, Anke: »Drehkreuz«, archplus 191/192 (2009), S. 38 – 39.

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erfüllt sich in vielerlei Hinsicht der Traum gouvernementaler Regierungstechniken, den chaotischen Strom der Passagiere in eine messbare Popula­tion zu verwandelten. Diese neue biopolitische Funk­tion der Tür um 1900 betont auch Bernhard Siegert, wenn er herausstellt, dass mit den Erfindungen von Drehund automatischen Schiebetüren der Mensch »nicht mehr als persona adressiert, sondern als ›nacktes Leben‹ behandelt, [ge]formt und kontrolliert«166 wird. Wenn sich diese Vereinzelungsanlagen als wirkmächtige Steuerungsinstrumente erweisen, mit denen es gelang, die Masse sowohl in eine Menge verwandeln wie auch ihre Zirkula­tion räum­lich und zeit­lich zu strukturieren, so stellt sich die Frage, woher ­dieses Wissen eigent­lich stammt, mit dem die Passagiere hier regiert werden. Begibt man sich auf die Suche nach Vorläufern dieser Apparaturen, so wird man gleich an mehreren Orten fündig. Zunächst erscheinen die Schleusenapparaturen als ideale Verkörperungen jenes Geistes der Mechanisierung, den bereits Sigfried Giedion beschrieben hat.167 Ihm zufolge lässt sich die Genese dieser Idee in den Schlachthäusern des 19. Jahrhunderts lokalisieren, bevor sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Siegeszug in eine Vielzahl von Bereichen menschlichen Alltags antrat. Jedoch erweist sich nicht nur die mechanische Zerlegung der Tiere als eine Art invertierter Vorläufer der Produk­tionsbänder in den fordistischen Fabriken, auch die Schleusensysteme finden zuerst hier Verwendung. Sie erlauben die serielle Vereinzelung, Tötung und Zerlegung von Schweinen, Schafen und Rindern und bewirken dadurch eine bislang ungekannte Effizienzsteigerung. Auch die Perey Company selbst verweist auf die Herkunft dieser Technologie aus dem Bereich der Viehhaltung.168 Den Ursprungsmythos der Drehkreuze verortet das Unternehmen allerdings bereits im Großbritannien des ersten Jahrtausends nach Christus. Dort verwendeten Rinderbauern Holzkreuze auf Stelen, um sich eine einfache Passage durch die Viehumzäunungen zu ermög­lichen, die für die Tiere zu schmal war (vgl. Abb. 20). Zudem betont das Unternehmen, dass das von Vassos entwickelte Modell diese Herkunft wieder aufgreifen würde und die Querstreben dieser Apparatur einem seitwärts montierten dreibeinigen Melkschemel ähneln würden.169 166 Siegert, Bernhard: »Türen. Zur Materialität des Symbo­lischen«, Zeitschrift für Medienund Kulturforschung 2010/1 (2010), S. 151 – 170, hier S. 169. (Hervorhebung im Original). 167 Vgl. Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung, S. 259 ff, sowie: Brantz, Dorothee: »On the Nature of Urban Growth: Building Abattoirs in 19th-­Century Paris and Chicago«, Cahiers Parisiens 5 (2009), S. 17 – 30. 168 Das Unternehmen nennt sich heute Perey Turnstiles Inc. Vgl. [Anonym]: »History Perey Turnstiles, Inc.«, http://www.turnstile.com/history/ (letzter Zugriff: 10. 6. 2013). 169 Vgl. Ebd.

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Abb. 20: Ein Drehkreuz in den Rinderweiden auf Block Island, Rhode Island.

Ihre historischen Vorläufer haben die Passagierschleusen ebenso in den räumlichen Arrangements der Bahnhöfe, die bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vor den Untergrundbahnen in die westlichen Metropolen Einzug hielten. Auch wenn diese noch nicht über automatische Drehkreuze verfügten, so operierten sie dennoch als selektive Transitzonen zwischen den Territorien der Stadt und des Verkehrs.170 Im Falle der Subway wiederholt sich diese Anordnung gewissermaßen en miniature. Ihre primäre Funktion, die Regulierung von Zirkulationsbewegungen zwischen den maschinellen Gefügen des Systems und dem Stadtraum, wird durch die Automatisierung beschleunigt, ihre Effizienz gesteigert und die Segmentierung in verschiedene Klassen abgeschafft. Ihre ursprüngliche Eigenschaft als biopolitisches Steuerungselement bleibt jedoch erhalten. Dass diese Schleusen somit die gesellschaftliche wie architektonische Leitdifferenz von innen und außen realisieren, mag zunächst banal erscheinen. Jedoch markiert die Passage dieser Apparaturen immer auch den Übergang zu einem anderen Territorium, das mit eigenen Normen, Gesetzen und Verhaltensanforderungen codiert ist.171 Damit fungieren die Drehkreuze als Vorläufer der Personenschleusen, die sich im 20. Jahrhundert vielfältig ausbreiten werden, nicht zuletzt in Laboranlagen und Krankenhäusern. Gemein ist ihnen eine spezifische hygienische Funktion, indem sie bestimmten als unrein codierten Elementen die Zugänglichkeit verwehren sollen. Als biopolitische Maschinen verdeutlichen sie auch für Siegert den Wandel der »Auffassung von Architektur als einer thermodynamischen Maschine«172 sowie den »Wechsel von der nomologischen Funktion der Tür zur Kontrollfunktion.«173

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Vgl. ausführlicher dazu: Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 152 ff. Vgl. ausführlicher Siegert: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«. Ebd., S. 167. Ebd.

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Diese Verschiebung der Handlungsmacht von den Subjekten zur Türmaschinerie realisiert sich in doppelter Weise: Einerseits sorgt sie als Agent von Sicherheit und Kontrolle für die Aufrechterhaltung der öffent­lichen Ordnung, andererseits richtet sie sich auf den Körper der Passagiere und ist bestrebt, deren Unversehrtheit zu garantieren.174 Während man die erste Funk­tion als Security bezeichnen kann, trägt die zweite die Insignien von Sicherheit im Sinne von Safety.175 In den Vereinzelungsapparaturen der Subway verbinden sich nun beide zu einem machtvollen Dispositiv der Crowd Control.176 Versprachen in den Augen der Ingenieure die automatisierten Vereinzelungsanlagen eine bislang unerreichte Effizienz in der Kontrolle und Strukturierung der Massen, so machten ihnen die Passagiere allerdings immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Zwar betonten die Hersteller ausdrück­lich: »The intending passenger cannot pass without paying the Company«,177 allerdings brachte die Einführung dieser Schleusensysteme zahlreiche subversive Praktiken hervor, um auch ohne Bezahlung Zugang zum System zu erhalten. Glaubt man den Überlieferungen, so reichten diese Techniken der De-­inskrip­ tion 178 vom einfachen Überspringen der Barrieren und dem illegalen Zugang durch die Notausgänge bis zur Praxis des »piggy backing«, bei der sich in einem unübersicht­lichen Moment zwei Passagiere gemeinsam in die Arme des Drehkreuzes zwängten und sich so zumindest ein Ticket sparen konnten. Zudem fanden die Passagiere rasch heraus, dass die Mechanismen der Drehkreuze oftmals vor dem Einrasten zurückgedreht werden konnten und so ein schnelles Durchschlüpfen mög­lich machten.179 174 Vgl. Hagemann: »Filter, Ventile und Schleusen: Die Architektur der Zugangsregulierung«, S. 304. 175 Zu dieser hilfreichen Unterscheidung siehe: Caduff, Carlo: »Anticipa­tions of Biosecurity«, in: Andrew Lakoff und Stephen J. Collier (Hrsg.): Biosecurity Interven­tions: Global Health & Security in Ques­tion, New York: Columbia University Press 2008, S.  257 – 277. 176 Vgl. Hagemann: »Drehkreuz«. 177 [Anonym]: »Anzeige der Perey Manufacturing Company«. 178 Vgl. Akrich, Madeleine und Latour, Bruno: »Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-­menschlicher Konstella­ tionen«, in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-­Netzwerk-­Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 399 – 408. 179 Die Rekonstruk­tion dieser devianten Praktiken der Passagiere im frühen 20. Jahrhundert erweist sich als schwierig. Nicht nur geben die Akten und Formulare der Betreiberfirmen kaum Zeugnisse von diesen Taktiken, auch stellte das Know-­How im Überwinden dieser Barrieren eine Form von Alltagswissen dar, das primär münd­ lich tradiert wurde. In Interviews mit pensionierten Subwayangestellten gelang es dem amerikanischen Soziologen Noah McClain jedoch, einige Hinweise auf diese

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Allerdings scheinen diese devianten Praktiken in den ersten Dekaden des Systems relativ wenig verbreitet gewesen zu sein, nicht zuletzt aufgrund des extrem geringen Fahrpreises von fünf Cent. In ihren Plädoyers für die Installa­tion der automatischen Vereinzelungsanlagen betonen die Ingenieure zwar immer wieder ihre Vorzüge für die Strukturierung und Beschleunigung der Bewegungsabläufe der Passagiere sowie die Einsparung an menschlicher Arbeitskraft. Das Unterbinden des Schwarzfahrens wird aber kaum thematisiert.180 Erst mit der Erhöhung des Fahrpreises im Jahre 1948 werden die Praktiken des »Fare Beating« mehr und mehr zum Problem und rücken verstärkt ins Visier der Ingenieure und Technokraten.181 Bis dahin füllten sich die Drehkreuze zuverlässig mit den Münzen der Passagiere. Diese fanden sich nach dem Passieren der Einlassschleusen nun in den Sta­tionen wieder. Auch hier war es das oberste Gebot, eine mög­lichst störungsfreie Passage der Massen durch die oftmals labyrinthischen Anlagen zu erreichen. Funk­tionale Räume Waren die Interieurs der Sta­tionen zu Beginn noch den Gestaltungsprinzipien des viktorianischen Zeitalters verpflichtet und oftmals mit Mosaiken und anderen ornamentalen Elementen ausgestattet, so hielt auch hier rasch der Geist modernistischer Ra­tionalität Einzug. Kaum hatten die Architekten der ersten Segmente des Systems, Heins & LaFarge, ihre vertrag­lichen Verpflichtungen erfüllt, wurde im Jahre 1906 die Gestaltung an den hauseigenen Praktiken zu sammeln. Vgl. McClain: »Social Control, Object Interven­tions and Social-­Material Recursivity (unpublished Manuscript, 2008)«, S. 14 ff. Auch finden sich einige literarische Belege dieser Praktik, wie beispielsweise bei William S. Burroughs, dessen Roman Naked Lunch (1959) folgendermaßen beginnt: »I can feel the heat closing in, feel them out there making their moves, setting up their devil doll stool pigeons, crooning over my spoon and dropper I throw away at Washington Square Sta­tion, vault a turnstile and two flights down the iron stairs, catch an uptown A train …« Zitiert nach Burroughs, William S.: Naked Lunch. New York: Grove Atlantic 1992, S. 1. (Hervorhebung S. H.). 180 Auch erwähnt der erste Annual Report der Subwaybetreiber aus dem Jahre 1921 trotz seiner Detailfülle und einem Umfang von mehr als 500 Seiten d ­ ieses Phänomen nicht ein einziges Mal. Vgl. State of New York Transit Commission: »First Annual Report (April 25, 1921 – December 31, 1921)«. 181 Um sie zu unterbinden, hielt im Jahre 1953 ein neues automatisiertes Schleusensystem in das frisch vereinigte System Einzug, in der nun Tokens in den Drehkreuzen verwendet wurden. Im fünften Kapitel wird kurz skizziert werden, wie sich mit dieser Innova­tion eine Vielzahl neuer und höchst erfinderischer Taktiken etablieren.

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Architekten und Ingenieur Squire J. Vickers (1872 – 1947) übertragen. Als Verfechter des Efficency Movement und überzeugter Anhänger der ästhetischen Prinzipien des Maschinenzeitalters verwirk­lichte er in den kommenden 36 Jahren in der Subway ein ästhetisches wie funk­tionalistisches Gestaltungsregime, dass auf den Paradigmen nüchterner Formsprache und der Emphase ra­tionaler Strukturen beruhte.182 Diese Prinzipien bestimmte Vickers anläss­ lich eines Vortrags vor der Gesellschaft der Municipal Engineers of New York City im Dezember 1917 mit den Schlagworten der leichten Wartbarkeit, Hygiene, Klarheit und Langlebigkeit und deklarierte: »Bearing in mind the utilitarian nature of the subway, this severity of design seems to us the most appropriate treatment.«183 Diesem Programm folgend ist einer der ersten Schritte Vickers die Trans­ forma­tion der Sta­tionen auf Basis der Erkenntnisse und Vorschläge Arnolds. Bereiche mit erhöhtem Passagieraufkommen werden erweitert und Engpässe in den Korridoren verbreitert. Zugleich war man bemüht, scharfe Kanten und Ecken zu vermeiden, um den Fluss der Passagiere zu beschleunigen und trotz der Überfüllung die Verletzungsraten mög­lichst gering zu halten.184 Diese gestalterischen Interven­tionen waren zwar teilweise sehr aufwendig, versprachen aber eine entscheidende Steigerung der Kapazitäten. Im Zuge des Ausbaus des Systems installierte Vickers zudem in den neuen Sta­tionen Zwischengeschosse, die Raum für die Einlasskontrollen sowie für Wartebereiche und Toiletten boten. Möbliert wurden diese Bereiche mit einfachen und stabilen Holzbänken. Sie waren oftmals mit Trennlehnen ausgestattet, um das Hinlegen auf ihnen zu verhindern.185 Daneben waren es vor allem Verkaufsautomaten für Getränke und Süßigkeiten, die spätestens in den 1930er Jahren in diesen Bereichen nahezu ubiquitär Verbreitung fanden.186 Zugleich hielten unzählige Personenwaagen Einzug, die für 182 Zum Einfluss der Ideen des Scientific Management auf die Architektur dieser Zeit vgl. ausführ­licher: Guillén, Mauro F: The Taylorized Beauty of the Mechanical: Scientific Management and the Rise of Modernist Architecture, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 2009. 183 Vickers, Squire J.: »Design of Subway and Elevated Sta­tions«, The Municipal Engineers Journal 3/9 (1917), S. 114 – 120, hier S. 114. Siehe auch: Vickers, Squire J.: »The Architectural Treatment of Special Elevated Sta­tions of the Dual System, New York City«, Journal of the American Institute of Architects 3/11 (1915). 1 84 Vgl. Framberger, David J.: »Architectural Designs for New York’s First Subway«, Historical American Engineering Record: Interborough Rapid Transit Subway (Original Line) NY-122, New York City 1979, S. 365 – 412. 185 Vgl. Giovannini/Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 110 ff. 1 86 Angeb­lich wurde sogar der allererste Verkaufsautomat des amerikanischen Kontinents im Jahre 1888 auf einem Bahnsteig der New Yorker Elevated Trains installiert. Der Inhalt

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einen Penny das individuelle Gewicht maßen und ungemein populär waren.187 Da die Waagen den Passagieren erlaubten, sich selbst hinsicht­lich quantifizierender Verfahren zu erfassen, erscheint es im Rückblick als geradezu sinnfällig, dass sich diese Apparaturen allermeist in den Territorien des Transits wiederfanden – nicht nur in der Subway, sondern auch in den Bahnhöfen der Hochbahnen und des Fernverkehrs. Zudem beginnt man im Jahre 1921 mit der Installa­tion von Münztelefonen, die bald an nahezu allen Sta­tionen verfügbar waren und intensiv benutzt wurden.188 Da die Zwischengeschosse nicht nur als Wartebereiche, sondern zugleich als Zugänge für die Plattformen und Gleise fungierten, erwiesen sie sich nicht nur als sehr ökonomisch in der Konstruk­tion, sie erlaubten auch eine effizientere Verteilung der Passagiere auf die einzelnen Waggons. Damit führte ­dieses Raumarrangement zu einer immensen Erhöhung der Zirkula­tion in der Subway, wie Vickers nicht ohne Stolz immer wieder betonte.189 Während die City Hall Sta­tion unter dem Rathaus das unangefochtene Juwel des Systems war und mit großzügigen Raumarrangements und prachtvollen Ornamenten den ersten Passagieren den Atem verschlug, sollte Vickers Gestaltung der neuen Sta­tionen dagegen eher spartanisch und funk­tional ausfallen. Sie g­lichen eher »utilitaristischen Boxen«190 als Kathedralen des Fortschritts. Zwar waren die Sta­tionen nie absolut identisch, dennoch wurden die Prinzipien der Standardisierung auch hier mehr und mehr durchgesetzt.191 Dabei zielten all diese Bestrebungen darauf der Maschine waren Kaugummis der Marke Adams’ Tutti-­Frutti. Vgl. Ebd., S. 106. 187 Erst im Jahre 1972 sollten die Apparate, die sowohl einen hohen Wartungsaufwand hatten als auch wertvollen Raum wegnahmen sowie Hindernisse im Fluss der Passa­ giere darstellten, aus dem System verbannt werden. Vgl. Ebd. 188 Vgl. State of New York Transit Commission: »First Annual Report (April 25, 1921 – December 31, 1921)«, S. 132. Zudem lassen sich in der Subway schnell Indizien für die Ausbreitung der kommerziellen Massenkultur finden, die die Passagiere nun auch als Konsumenten adressierten. Dies betrifft zunächst die Werbetafeln, welche bereits in den Tagen nach der Eröffnung Einzug in die Interieurs der Sta­tionen und Waggons halten und die im dritten Kapitel näher diskutiert werden. 189 Vgl. Vickers: »Design of Subway and Elevated Sta­tions«, S. 116 ff. 190 Hood: 722 Miles, S. 93. 191 Beispielsweise verfügten die Sta­tionen allermeist über vier Treppenaufgänge zu den Bahnsteigen, von denen ursprüng­lich jeweils zwei als Ein- bzw. Ausgänge genutzt werden sollten. Die Aufgabe der Sta­tionsbeamten war es, mit Kommandos und gelegent­ licher Gewaltanwendung sicherzustellen, dass die Passagiere die richtigen wählten. Auch die überirdischen Sta­tionen wichen von d ­ iesem Design kaum ab und g­lichen meist auf den Kopf gestellten Versionen der unterirdischen Sta­tionen. Die BRT orientiert sich in ihren Sta­tionsdesigns weitestgehend an diesen Gestaltungen, die in den Augen der damaligen Ingenieure und Architekten als effiziente, moderne und funk­tionale Bauart erschien. Vgl. Framberger: »Architectural Designs for New York’s First Subway«.

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ab, das individuelle Verhalten der Passagiere zu disziplinieren und die Effizienz des Gesamtsystems zu erhöhen. In diesen wohldurchdachten Installa­tionen von Schleusen, Barrieren und Korridoren wird nun jene Disziplinartechnik wirksam, die Foucault als »Kunst der Verteilungen« bezeichnet hat.192 Diese Strategien des Anordnens der Individuen kommen bereits in den Disziplinarräumen des 18. und 19. Jahrhunderts zur Anwendung: in Schulen, Gefängnissen oder Fabriken. Wenn sie sich ­Foucault zufolge »gegen die ungewissen Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefähr­liche Anhäufung«193 richten, wird deut­lich, warum die Anwendung dieser Techniken auch im Hinblick auf die Passagiere plausibel erschien. Im Gegensatz zu den oben genannten Institu­tionen ging es hier jedoch nicht um eine Fixierung der Subjekte in einem stabilen Raum, sondern um eine Art Regierungskunst der verteilenden Zirkula­tion.194 Dies betraf vor allem die Produk­tion gewünschter Bewegungsrichtungen und -geschwindigkeiten der Passagiere ­zwischen den Eingangsschleusen und Waggons. Damit können die Gestaltungen Vickers als idealtypische Verfahren der Architekturideologie des Maschinenzeitalters gelten, in der das Prinzip der Zirkula­tion nicht nur für die Infrastrukturen des Transits in Anschlag gebracht wird. Ihre Funk­tionen und Gestaltungen halten ebenso Einzug in die Gestaltung der modernen Wohnhäuser, Wolkenkratzer, Fabriken und Büros.195 Auch Siegert konstatiert die grundlegende Neubestimmung der Architektur in dieser Epoche: »Das Bauen gehört nicht mehr ins Wohnen, sondern in die Passage. Die Existenz wird entworfen vom Transit her.«196 Als Vickers im Jahre 1925 mit dem Design der Sta­tionen für die neu gegründete IND begann, hatten sich die Imperative der Effizienz und des Funk­tio­ nalismus bereits nahezu überall durchgesetzt. Alle Ein- und Ausgänge waren nahe an den Gleisanlagen, was die Überfüllung auf den Plattformen wesent­lich reduzierte, und jede Sta­tion hatte eine individuelle farb­liche Codierung, die den Passagieren die Orientierung erleichtern sollte. Zudem legte man die Abstände 192 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 181 ff. 193 Ebd., S. 183. 194 Vgl. dazu Joyce, Patrick: The Rule of Freedom: Liberalism and the Modern City, ­London: Verso 2003, S. 210 ff. 195 Als eines der ikonischen Beispiele für diesen Transfer der Ästhetik des Transits auf das Bauen kann Le Corbusiers und Pierre Jeannerets transformables Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung gelten. Dort ist nicht nur die Ästhetik der Interieurs den modernen Schlaf- und Salonwagen nachempfunden, auch die Betten verschwinden tagsüber in den Schränken. 196 Siegert: »Türen. Zur Materialität des Symbo­lischen«, S. 164.

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z­ wischen den Stopps mit Hilfe mathematischer Berechnungen genau fest.197 Damit hatte man einen ebenso komplexen wie ra­tionalen Bewegungsraum geschaffen, den die Passagiere schnell und ungehindert von den Eingängen bis in die Waggons durchlaufen sollten. Während ab d ­ iesem Moment die räum­lichen Strukturen der Sta­tionen über Dekaden weitestgehend gleichblieben und sich allein die Inventare und visuellen Regime ändern sollten, unterliefen die Zugwaggons eine Vielzahl von Transforma­ tionen.198 In der Frage nach deren mög­lichst effizienter Auslastung und der damit verbundenen Optimierung der Interieurs geraten nun auch die Passagiere in neuer Weise in den Blick. Dabei wurden die Codierungen der Menschen als steuerbare Subjekte hier noch mit weiteren entscheidenden Komponenten angereichert. Indem sie nun zusätz­lich als normierte und homogeni­sierte Körper mit geblackboxten Innenleben codiert werden, entfaltet sich ein Subjektivierungsregime, das die Passagiere als funk­tional äquivalente Containerkörper entwirft. Containerkörper Weich, wie wir sind, bauen wir uns Boxen, die uns härter machen.199 Michel Serres

Bereits in der Planungsphase der Subway wurde deut­lich, dass die angestrebte Geschwindigkeit der Zirkula­tion einen völlig neuen Waggontypus notwendig machte.200 Bestand die Flotte der Untergrundbahnen in London oder Berlin 197 Vgl. Sansone: New York Subways, S. 179. 198 Zur Strukturierung der visuellen Regime in der Subway siehe Kapitel IV. 2. 199 Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 194. 200 Ähn­lich wie zu den meisten anderen technischen und architektonischen Elementen des Systems ließen sich hier unzählige Seiten mit detaillierten Rekonstruk­tionen der Diskurse, Experimente und Innova­tionen füllen. Im Folgenden sollen jedoch nur die technolo­gischen Entwicklungen Berücksichtigung finden, die als Subjektivierungsinstanzen für die Passagiere relevant waren. Eine umfassende Sammlung aller jemals gebauten Waggontypen für die Subway, samt Bauplänen und technischen Details, hat der Ingenieur Gene Sansone zusammengestellt: Sansone: New York Subways. Sansone zufolge fanden allein von 1904 bis zur Gründung der TA 1953 insgesamt mehrere Dutzend Passagierwaggontypen ihren Einsatz im System. Wenn in dieser Zeit die Ausgestaltung der Waggons, ihre Materialien, Technik und Interieurs zahlreiche Veränderungen durchliefen, wurde dies noch dadurch befördert,

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noch aus umgerüsteten Zügen der Hochbahnen, erforderte die New Yorker Subway einen Wagentyp, der schneller, stabiler und sicherer war als alle jemals zuvor gebauten Modelle.201 Aus Sicht der Logistiker bestand das zentrale Optimierungspotenzial der Waggons jedoch vor allem in der Beschleunigung ihres Be- und Entladens. Bereits Arnold hatte die ineffiziente Gestaltung der Zugänge zu den Waggons beklagt, da diese für die meisten Verzögerungen verantwort­ lich waren: »The crowded condi­tion of the car entrances and sta­tion platforms results in passengers leaving the cars in single file and with considerable difficulty and discomfort.«202 Neben der bereits erwähnten Disziplinierung der Passagiere durch Ordnungskräfte war es für Arnold ebenso dring­lich geboten, die materiellen Komponenten der Waggons zu optimieren. So plädierte er für den Umbau der Züge mit jeweils vier Türen an jeder Seite, über denen abwechselnd die Beschriftungen Entrance und Exit installiert werden sollten, die den Strom der Passagiere in Ein- und Aussteigende separierten. Auch sollte eine Reorganisa­tion der Sitzordnungen in den Waggons ihre Ladekapazität deut­lich erhöhen, was Arnold in Zeichnungen wie den folgenden anschau­lich machte (Abb. 21). Beeindruckt von diesen Modellen setzten die Betreiber der IRT in den folgenden Jahren zahlreiche von Arnolds Vorschlägen in die Tat um. Beispielsweise reformierte man die Signalanlagen und erhöhte die Anzahl der Waggons pro Zug. Ein Testlauf von acht nach Arnolds Vorgaben umgerüsteten Waggons im Februar 1909 zeigte jedoch, dass die Idee der Trennung von Ein- und Ausgängen wenig praktikabel war, da die Passagiere die Beschriftungen einfach ignorierten.203 dass jedes der drei Subwayunternehmen jeweils eigene Waggons für seine Strecken anfertigte und regelmäßig umbaute. Eine Vielzahl dieser Typen rollte oft über mehrere Jahrzehnte durch das System, da die prekäre finanzielle Situa­tion der Subway Neuanschaffungen oft verzögerte. Andere Modelle waren oftmals Prototypen mit wenigen Exemplaren, die aufgrund zahlreicher technischer Komplika­tionen umgerüstet oder rasch aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Auch ließ es sich der Hauptinvestor der IRT, August Belmont, nicht nehmen, einen exklusiven Privatzug für sich anfertigen zu lassen, mitsamt edlem Interieur aus Mahagoni, Badezimmer, Küche und eigens angefertigtem Porzellanservice. Getauft auf den Namen Mineola gilt er bis heute als einziger jemals gebauter privater Untergrundbahnwaggon. Vgl. Quinby, E. J.: »Minnie Was a Lady«, Railroad Magazine – The Magazine of Adventurous Railroading 67/1 (1956), S. 54 – 74. 201 Vgl. Sansone: New York Subways, S. 57. Waren die ersten Waggons noch Composite-­ Modelle (eine Mischung aus Holz und Stahl), stellte man rasch auf eine komplette Stahlummantelung um, die eine erhöhte Feuerfestigkeit und Stabilität garantierte. 202 Arnold: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City Report No. 3, S. 7. 203 Sansone: New York Subways, S. 68.

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Abb. 21: Die laut Arnold beste und effizienteste Anordnung der Sitze in den Waggons und den Zügen in den Stationen.

Immerhin sollten nun alle zukünftigen Waggons eine zusätzliche Mitteltür bekommen, was bereits die Effizienz der Zirkulation entscheidend steigerte.204 Während infolge der Analysen Arnolds die logistischen Paradigmen der technischen Optimierung, Berechenbarkeit und Standardisierung in immer mehr Bereichen zum Tragen kamen, wurde zugleich immer deutlicher, dass sich im Gegensatz zu den technischen Apparaturen die Passagiere als wesentlich resilienter gegenüber den Versuchen erwiesen, sie in die systemische Operationslogik der Subway zu integrieren. Um diesem Problem zu begegnen, sollten die Anrufungen und Ermahnungen der Aufseher und Ordnungskräfte durch technische Verfahren verstärkt und in alle Bereiche des Systems übertragen werden. Inspiriert vom Erfolg des neuen Mediums der Radioübertragung experimentierte man bereits um 1900 in den Hochbahnen mit Lautsprechersystemen, um die Kommandos des Personals in alle Waggons zu übertragen. Die Durchsagen aus den von den Waggondecken hängenden Megaphonen waren

204 Spätere Modelle implementierten Lüftungsklappen in den Dächern, verbesserte pneumatische Bremssysteme und vieles mehr. Ebd., S. 64.

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jedoch so unverständ­lich, dass man diese Technik bald wieder deinstallierte.205 Zudem wurden die Betreiber immer wieder mit Beschwerden über die mangelnde Beleuchtung und unerträg­liche Hitze in den Waggons konfrontiert. Die angespannte Finanzlage der Betreibergesellschaften ließ jedoch oftmals nur eine äußerst spartanische Ausstattung der Waggoninterieurs zu.206 Nichtsdestotrotz sollten auch hier die Paradigmen der Automatisierung Einzug halten. Der ganze Stolz der Ingenieure war die im Jahre 1915 eingeführte Technologie zum ferngesteuerten bzw. automatischen Öffnen und Schließen der Waggontüren. Sie erforderte nur noch einen einzigen Zugbegleiter, was ähn­lich wie im Falle der automatischen Drehkreuzsysteme zu massiven Entlassungswellen des Personals führte.207 Der weiter rasant ansteigenden Überfüllung und Verstopfung konnte man so jedoch kaum Einhalt gebieten. Stattdessen brach die Subway weiter einen Kapazitätsrekord nach dem anderen.208 An dieser Überlastung sollten auch die erfolgreich umgesetzten Vorschläge Arnolds nichts ändern, trotz der Tatsache, 205 Ebd., S. 149. 206 Zudem verfügte vor den 1970ern kaum ein Subwaysystem der Welt über Klimaanlagen. Stattdessen wurden Ventilatoren und Lüftungsöffnungen eingesetzt, die besonders im Sommer die Passagiere kühlen sollten, was jedoch selten wirk­lich funk­tionierte. Die ersten Waggontypen der BRT waren infolge der knappen Budgets wesent­lich spartanischer, hatten nur fünfzehn in der Mitte der Decke installierte Lampen und keine Deckenventilatoren. Erst in den 1940ern rüstete man die Waggons um, installierte zusätz­liche Lampen über den Sitzen und vier Ventilatoren. Auch waren sie wesent­lich robuster, breiter und länger als die Modelle der IRT und konnten dementsprechend höhere Passagierkapazitäten wie Geschwindigkeiten erreichen. Vgl. Ebd., S. 155. Typen ab dem Ende der 1930er Jahre erreichten zudem Geschwindigkeiten von mehr als 90 km/h. Giovannini/Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 210; Sansone: New York Subways, S. 155 ff. Zudem wurden im Zuge der Vorbereitung für die New Yorker Weltausstellung 1939 neue Modelle eingeführt, die nun auch mit Anzeigensystemen für Strecken und Richtungen ausgestattet waren. Vgl. Ebd., S. 98. 207 Ursprüng­lich bestand die Besatzung eines normalen Zugs mit 10 Waggons aus sechs Angestellten, einem Zugführer und fünf Zugbegleitern, die für das manuelle Öffnen und Schließen der Türen zuständig waren Im Jahre 1915 entwickelten die Konstrukteure der Pullman Company jedoch eine Technologie namens MUDC (Multible Unit Door Control), die es mit Hilfe von elektrischen Batterien erlaubte, alle Türen des Zuges von einem Schaltpult aus zu öffnen und zu schließen. So reduzierte man die Belegschaft ­zwischen 1919 und 1939 um durchschnitt­lich zwei Drittel. Vgl. Hood: 722 Miles, S. 222. 208 Hatte man im Jahr von Arnolds Erhebungen bereits die Marke von 800.000 Passa­ gieren täg­lich durchstoßen, so sollte das System sechs Jahre ­später bereits 1,2 ­Millionen Passagiere zu bewältigen haben. Vgl. Hood: »The Impact of the IRT on New York City«, S. 147.

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Abb. 22: Proposed BRT Subway Car Passenger Load During Rush-Hour Service (1913). Diese Zeichnung aus dem Archiv des New York Transit Museums zeigt die erwünschte Passagierkapazität in den ab 1915 eingesetzten Standardwaggons der BRT.

dass man so die Taktung von 29 auf 33 Züge pro Stunde erhöhen konnte. Angesichts der weiter ansteigenden Passagierzahlen versuchten die Ingenieure fieberhaft, mit immer neuen Vorschlägen und Analysen die Effizienz des Subway zu steigern. Dabei fanden die logistischen Imperative des Maschinellen bald auch Anwendung in den Gestaltungen der Waggoninterieurs, die nun hinsichtlich einer normierten Maximal- und Idealbelastung entworfen wurden. Wenn man im Zuge dessen begann, die Passagiere idealtypisch in den Waggons zu verteilen, kamen auch ihre Körper auf eine neue Weise in den Blick (Abb. 22). Dieser Entwurf zeigt deutlich, wie sich die Standardisierung der Ladekapazität der Waggons mit der Normierung der Passagierkörper verbindet. Bereits Arnold hatte im Zuge der Berechnung des maximalen Fassungsvermögens vorgeschlagen, den Normumfang des Passagiers auf ein wenig mehr als 30 mal 45 cm (12 × 18 inch) festzulegen.209 Im Jahre 1914 definierte die Public Service Commission zudem einen Platzstandard von 0,37m2 (4 Square Feet) für die stehenden Passagiere.210 Diese normierenden Verfahren sind ein weiterer zentraler Moment in der maschinellen Codierung der Passagiersubjekte. Indem der Körper des Passagiers allein hinsichtlich seiner Messbarkeit in den Blick genommen wird, verschwinden seine individuellen Merkmale hinter der logistischen Codierung als normiertes Frachtgut. 209 Arnold: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City Report No. 3, S. 33. 210 Des Weiteren wurde das Volumen an Luft, welches jedem Passagier zugestanden wird, im Jahre 1916 von dem Subway Ingenieur Daniel L. Turner auf 0,52 Kubikmeter (18,5 ft3) festgelegt. Vgl. Statement of D. L. Turner, Deputy Engineer of Subway Construction, Appendix IV, S. 191, Report of Commission on Building Districts and Restriction, 1916. Erneut abgedruckt in: The City Club of New York: Subway Overgrowding, New York City 1930, S. 5 f. Vgl. auch: Levine, Richard: »Seeking Bearable Level of Subway Discomfort«, The New York Times (1987).

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Diese Subjektcodes werden nun produktiv gemacht und in der Gestaltung einer Vielzahl von technischen Elementen der Subway inskribiert: von den Sitzordnungen und Raumabständen bis hin zu den Eingangsschleusen und Zeichenregimen. Damit formiert sich ein machtvolles Körperdispositiv, das um den errechneten Idealkörper des Passagiers einen Normalbereich festlegt und Abweichungen über einen bestimmten Toleranzwert sank­tioniert. Indem die Norm so eine Unterscheidung z­ wischen normalen und anormalen Körpern erzeugt, produziert sie den Ausschluss all jener Körper, die außerhalb des Normalbereichs fallen. Dass diese Exklusionen, die vor allem Behinderte und alte Menschen betrafen, nicht in den damaligen Diskursen in Erscheinung traten, kann auch als Indikator für die Wirkmächtigkeit dieser Normalisierungsinstanzen gedeutet werden. Indem die Passagierkörper nun unter dem technischen Terminus von Load beschrieben, quantifiziert und normiert werden, konstituiert sich ein Wissens­ regime, das nicht nur von allen individuellen Merkmalen der Passagiere abstra­ hiert, sondern auch ihre Innenleben ausblendet bzw. blackboxed. Das Verfahren des Blackboxing, welches in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts in der Kybernetik zu einem Leitmodell aufsteigt, operiert als Methode zur Reduk­ tion von Komplexität. Indem man ein System allein auf Input und Output hin betrachtet und ihre internen Funk­tionen abdunkelt, erlaubt dies eine einfachere Handhabung.211 Dieses Moment des Blackboxing kommt hier gleich auf mehreren Ebenen zum Tragen. So ist nicht nur die Subway selbst eine Ansammlung von Containern, die durch die dunklen und unüberschaubaren Röhren unter der Stadt rasen, auch ihre Passagiere werden als Containersubjekte verstanden, als eine Masse von zirkulierenden Black Boxes.212 Nicht unähn­lich zu den in dieser Zeit prominenten Beschreibungen, wie der Charakterpanzer Wilhelm Reichs oder das stahlharte Gehäuse Max Webers, wird so die Grenze ­zwischen dem Innenleben der Subjekte und ihrer weitgehend technisierten Umwelt verfestigt. Diese Ideen finden sich zudem auch in den Wissensmodellen des Behaviorismus, der die menschliche Psyche als unergründbare Apparatur codiert und sich 211 Zur Geschichte und Funk­tion des Blackboxings vgl. ausführ­licher: Klose: Das Container-­P rinzip, S. 211 ff. Zur Defini­tion ­dieses Prinzips in der Actor-­Network Theory siehe: Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirk­ lichkeit der Wissenschaft, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 373. 212 Zum Begriff des Containersubjekts vgl.: Klose, Alexander: »Who do you want to be today? Annäherungen an eine ­Theorie des Container-­Subjekts«, in: Insa Härtel und Olaf Knellessen (Hrsg.): Das Motiv der Kästchenwahl: Container in Psychoanalyse, Kunst, Kultur, Psychoanalytische Blätter 31, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S.  21 – 38.

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allein auf die Analyse ihres Inputs und Outputs beschränkt. Wenn das Verfahren des Blackboxing zudem eine notwendige Bedingung für die Normierung der Passagiersubjekte darstellt, so erlaubt es zugleich ihre Homogenisierung. Dies verwirk­licht sich vor allem durch eine spezifische Form der Abstrak­ tion, in der die Passagiere von Zuschreibungen ihrer Hautfarbe, Klassenlage oder Geschlecht enthoben werden. Stattdessen erscheinen sie als normierte materiell-­logistische Entitäten, die in das maschinelle Ensemble des Transits integriert werden können.213 Während die logistischen Regime die emo­tionalen Zustände und subjektiven Erfahrungswelten der Passagiere konsequent ausblenden, werden diese jedoch in der Kunst und in den Humanwissenschaften dieser Zeit zu einem zentralen Thema, wie im vierten Kapitel ausführ­licher dargestellt wird. Zwar kommen die Passagiere in den Wissensregimen der Logistik nun allein als außengeleitete und normierte Containersubjekte in den Blick, die durch Modelle von Input und Output gesteuert werden sollen, jedoch wäre es falsch, dies als Verfahren einer Entsubjektivierung zu deuten. Im Gegenteil ist gerade die Erfassung des Einzelnen als verding­lichtes Frachtgut eine Technik, die den Passagieren klare Subjektposi­tionen zuweist und sie mit normierten Merkmalen und Anforderungsprofilen ausstattet.214 Die Normierung der Passagiere als funk­tionale Einheiten des Gesamtsystems erlaubte auch die Anwendung einer weiteren zentralen Wissenstechnik aus dem Feld der Logistik: der Modularisierung. Vereinfacht gesagt, ermög­lichte sie die Segmentierung komplexer Systeme in jeweils kleinere Einheiten zur Optimierung der Leistung und Steuerung der gesamten Struktur. Dafür waren vor allem zwei Momente von Bedeutung: die Normierung der einzelnen Elemente sowie ihre Codierung als funk­tional äquivalent. Diese Verfahren bildeten die Voraussetzung für ihre dynamische Anordbarkeit, Gruppierung und potenzielle Ersetzbarkeit. Dies mag im Rückblick trivial erscheinen, diese Wissenstechnik stellte jedoch eine entscheidende Entwicklung in der Maschinisierung der amerikanischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. So betont der Kultur­wissenschafter John G. Blair:

213 Dass dies selbstverständ­lich auch Befreiungsgrade bereithält, wird im dritten Kapitel näher beleuchtet. 214 Die Momente der Entsubjektivierung sind zumindest Foucault zufolge allenfalls in literarischen Techniken mög­lich, wie beispielsweise bei Nietzsche oder Bataille sichtbar wird. Vgl. Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 27. Erst bei ­Agamben werden die Phänomene des entsubjektivierten blanken Lebens außerhalb von Schreibtechniken thematisch. Vgl. Agamben: Homo sacer.

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The American emphasis shifted from whole to part, or more precisely, from a predictable whole sanc­tioned by tradi­tion to an assemblage of parts. […] Assuming that compatibility of components could be assured, the major conceptual leap was to a whole as an aggregate of individual subcomponents.215

Blair zufolge lässt sich das Organisa­tionsprinzip der Modularisierung in einer Vielzahl kultureller Phänomene des Maschinenzeitalters entdecken: von der Gliederung der Lehre an den Eliteuniversitäten und dem Aufbau amerikanischer Fabriken bis zur Struktur von Wolkenkratzern, Poesie, Blues oder Jazz. Die ungeheure Durchsetzungskraft modularer Strukturierungen in allen Bereichen der Kultur geht mit der Entfaltung maschineller Logiken Hand in Hand. Dieses Verständnis lässt sich ebenso in den Konzep­tionen der Passagiermasse finden, deren einzelne Mitglieder nun als funk­tional äquivalent verstanden wurden. So rückte mit der Normierung der Körper auch die Frage nach ihrer mög­ lichst optimalen Anordnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Ingenieure. Während man einerseits mög­lichst vielen Passagieren einen komfortablen Transit ermög­lichen wollte, erlaubte andererseits eine geringe Anzahl von Sitzen eine höhere Ladekapazität der Waggons, was besonders zu den Rush Hours dringend nötig war. Dabei folgten die ursprüng­lichen Sitzarrangements in den Hochbahnen meist noch dem sogenannten Euro­päischen Modell – einer Anordnung, in der je zwei Doppelsitze vis-­à-­vis angeordnet waren.216 Aus Sicht der Logistiker erwiesen sich diese jedoch mehr und mehr als unpraktisch: Sie nahmen wertvollen Raum weg und verlangsamten das Ein- und Aussteigen. Ähn­liches galt für das Amerikanische Modell, in welchem die Sitzreihen in Fahrtrichtung ausgerichtet waren und bei deren Änderung einfach umgeklappt werden konnten.217 Befeuert von den Imperativen der effizienten Kapazitätssteigerung begann man nun mit verschiedenen Sitzarrangements zu experimentieren. Im Ergebnis wurden bei der IRT die Quersitze nach und nach durch längslaufende Sitze ausgetauscht. In der Mehrzahl der Waggons der BRT wurden die Sitze nach dem Manhattan-­Modell organisiert, das mit seinen längslaufenden Sitzen an den Enden der Waggons und seinen querstehenden Doppelsitzen in der Mitte 215 Blair, John G.: Modular America: Cross-­Cultural Perspectives on the Emergence of an American Way, Westport, Connecticut: Greenwood Press 1988, S. 2. Ich danke ­Alexander Klose für den Hinweis auf diese Arbeit. 216 Dieses Raummodell basierte auf der klas­sischen Konstruk­tion der Zugabteile, welche sich wiederum an den Kutschen und Sänften orientierten. Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 70 f. 217 Dies war beispielsweise bei den Waggons der 900 BU 900 Serie der Fall. Vgl. ­Sansone: New York Subways, S. 128 f.

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einen Kompromiss ­zwischen Komfort und Funk­tionalität bilden sollte.218 Diese beiden Sitzarrangements erwiesen sich rasch als Erfolgsmodelle und wurden richtungsweisend für alle weiteren Waggonkonzepte der New Yorker Subway. Während die Ingenieure und Konstrukteure diese Modelle allein unter logistischen Gesichtspunkten implementierten, sollten sie unter der Hand auch die Interak­tionsformen der Passagiere strukturieren. Bereits Wolfgang Schivelbusch hat auf die ­sozia­le Wirkmacht der Sitzarrangements im Transit aufmerksam gemacht.219 Er konstatiert das langsame Verschwinden der euro­päischen Sitzordnungen in den Eisenbahnabteilen und Kutschen um 1850. Bildeten diese Anordnungen ursprüng­lich einen kommunikativen Raum, der entscheidend an der Entwicklung der kulturellen Form des Reisegesprächs beteiligt war, so beginnt diese im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu verschwinden: »Das vis-­à-­vis Verhältnis der Reisenden, in dem einmal ein bestehendes Bedürfnis nach Kommunika­tion institu­tionalisiert war, wird zunehmend unerträg­lich, weil es keine Basis mehr für s­ olche Kommunika­tion gibt.«220 Die ­sozia­le Situa­tion des direkten Gegenübers wird als zunehmend inadäquat empfunden, auch deshalb, weil sie nun Gefühle von Unbehagen und Pein­ lichkeit provoziert. Die sich in der Subway etablierenden Raumkonfigura­tionen der durchgehenden Längssitze sowie des Manhattan-­Modells lassen durch den weiten Abstand allerdings kaum Interak­tionen mit den Gegenübersitzenden zu. Sie erlauben bestenfalls ein gerichtetes Gespräch an den Sitznachbarn. Die ­sozia­le Entlastung, die d ­ ieses Arrangement schaffen sollte, wurde jedoch dadurch konterkariert, dass die Waggons meist massiv überfüllt waren und man mit den anderen Passagieren auf dichtestem Raum zusammengedrängt war.221 Bald klagten die New Yorker, dass diese Überfüllung im Bereich der Tiertransporte ein schweres recht­liches Vergehen darstellen würde, den Menschen in der Subway aber täg­lich zugemutet wurde.222 Vielleicht ahnten die Passagiere hier, woher die Wissensmodelle stammten, mit denen sie regiert wurden. Zugleich wurden die Betreibergesellschaften nicht müde, nach immer neuen Verfahren zu suchen, um die Passagierkapazitäten zu erhöhen.223 Die Paradigmen 218 Vgl. Ebd., S. 144. 219 Siehe: Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 67 ff. 220 Ebd., S. 71. 221 Dass dies zugleich eine neue und bedroh­liche s­ ozia­le Situa­tion war, welche die Eta­ blierung von Kulturtechniken der Isola­tion und Apathie notwendig machte, wird im dritten Kapitel genauer erläutert werden. 222 Vgl. Dwyer, Jim: Subway Lives. 24 Hours in the Life of the New York City Subway, New York: Crown 1991, S. 74 f. 223 Im Zuge der Planungen für die von der öffent­lichen Hand betriebene IND wurden ab den späten 1920ern eine Vielzahl von mög­lichen Kombina­tionen von

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der Normierung erwiesen sich dabei nicht nur als vielversprechend in der Organisa­ tion der Passagierkörper, sondern auch für die Waggons selbst. Waren die technischen Spezifika­tionen der Teilsysteme in den ersten Jahren der Subway noch sehr heterogen, hatten sich die Modelle der BMT, IRT und IND in weiten Teilen angeg­lichen als die drei Streckennetze im Jahre 1953 unter dem Dach der Transit Authority vereinigt wurden.224 Die Prozesse der Normierung und Homogenisierung, welche die technischen Elemente wie die Subjekte unter diesen Instanzen durchlaufen, zeigen darüber hinaus, wie sich die technischen Normen der Subway auf die Passagiere übertrugen. Die maschinelle Codierung des Passagiers als ra­tional agierendes, normiertes und berechenbares Containersubjekt fungierte dabei als logistische Antwort auf die ständig steigenden Kapazitätsanforderungen, mit denen das System konfrontiert war. Auf Basis dieser Prinzipien sollte es nun sogar gelingen, die Umgangsnormen der Subjekte zu normieren und in eine Art Containerethik zu überführen. Wie dies genau geschah, soll im Abschluss d ­ ieses Kapitels gezeigt werden. Sitzarrangements und Türen für die neuen Waggons diskutiert und komplexe Modelle und Testreihen durchgeführt. Neben jeweils vier Türen an jeder Seite entschied man sich für eine Mischung aus längslaufenden und querlaufenden Sitzen und reduzierte die Standardbreite pro Sitz um 3,8 cm, um noch mehr Passagiere aufnehmen zu können. Auch erhöhte man die zulässige Maximalbeschleunigung des neuen Modells R1. Dabei kommen die vom Geist logistischer Ra­tionalität und berechenbarer Effizienz beflügelten Ingenieure zu dem Ergebnis, dass man bei einer Implementierung von vier Doppeltüren pro Waggon die Dauer des Be- und Entladens der Passagiere um nahezu vier Sekunden verkürzen kann. Hochgerechnet auf das gesamte System würde dies die Zirkula­tionsgeschwindigkeit so rasant erhöhen, dass man einen zusätz­lichen Zug einsetzen könnte. Dies bedeutete immerhin 3000 Passagiere mehr pro Stunde. Vgl. Sansone: New York Subways, S. 184 ff. 224 Vgl. Ebd., S. 181 ff. Die R11 bis R16, die ersten neuen Modelle nach dem Zweiten Weltkrieg und die letzten vor der Gründung der NYCTA im Jahre 1953, markierten in vielerlei Hinsicht Höhepunkt der Design- und Technologieparadigmen des Maschinenzeitalters. Mit einem Körper aus glänzendem rostfreien Stahl und einer futuristischen Form, Bullaugenfenstern in den Türen und neuen Antriebs- und Bremssystemen galt dieser Typ in den Augen der Zeitgenossen als »the subway car of tomorrow.« (Giovannini/Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 210.) wDa sich jedoch in ­diesem Jahren bereits die ökonomische Krise abzeichnete, die in den folgenden Dekaden zum Niedergang des Systems führen sollte, wurden diese Modelle aus Kostengründen nie im großen Stil implementiert. Zwar unterliefen auch die nachfolgenden Waggontypen ab den 1950er Jahren einige technische Innova­ tionen, diese waren jedoch infolge der Krise des Systems weit weniger spektakulär. Stattdessen sollten sich die Paradigmen ra­tional effizienter Zirkula­tion als sehr beständige Imperative in der Ausgestaltung der technischen Containerwelten der Subway erweisen.

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6. Abstand und Anstand: Eine Containerethik Wie bereits mehrmals ausgeführt, blieb trotz der Bestrebungen der Ingenieure die massive Überfüllung der Waggons über Dekaden hinweg ein zentrales logistisches Problem. Zwar hatte man sich bereits kurz nach der Eröffnung von dem Slogan »A Seat for each Passenger!« verabschiedet, allerdings war die Frage, ob und wie man die Überladung der Waggons effektiv unterbinden konnte, noch immer ungeklärt. Der Lösung ­dieses Problem nahm sich nun eine Gruppe von Ingenieuren und Planern des New Yorker City Club an, einem Zusammenschluss aus einflussreichen Technokraten, Politikern und Ingenieuren, die sich wie Arnold und Vickers den Leitideen des Efficiency Movements verbunden fühlten. Der City Club legte im Jahre 1930 eine vielbeachtete Studie vor, in der die Probleme des »Subway Overgrowding« minutiös dokumentiert sowie Lösungsvorschläge aufgezeigt wurden.225 Dabei werden die Verfahren der Quantifizierung, Ra­tionalisierung und Standardisierung als Allheilmittel der chaotischen Zustände beschworen: »it is not to late now to set up standards.«226 Besonderes Anliegen des City Club war die Einführung eines ­verbind­lichen Standards zur Maximalbeladung der Waggons. Dieser sollte jedoch nicht allein den technischen Anforderungen genügen, sondern auch im Hinblick auf Gesundheit, Komfort und Sicherheit der Passagiere entworfen werden. In der Bestimmung ­dieses Standards griff man auf die logistischen Instrumentarien in der Erfassung der Passagiermassen aus Arnolds Studie von 1908 zurück. Im Unterschied zu Arnold beschrieb der City Club die Zustände im Systems jedoch nicht nur als ineffizient, sondern zugleich als »inhuman«227 und »evil«.228 Dabei gab man der Sorge um die fragilen Körper der Passagiere Ausdruck und beklagte die Strapazen und Verletzungen, die ihnen von Seiten der rabiaten Ordnungshüter wie Mitpassagiere zugefügt werden: »The actual physical injuries incurred from violent methods used by stronger passengers in boarding and leaving trains and the strong-­arm methods of guards who pack the passengers in, are numerous and serious.«229 Indem die Mitglieder des City Club einerseits die Passagiere als normierte Menge erfassen, aber andererseits auch die Perspektive der einzelnen Subjekte einnehmen, stellen sie in gewisser Weise die Erben der sozia­len Reformer des 225 The City Club of New York: Subway Overgrowding. Dass die Studie selbst keinerlei Namen ihrer Verfasser nennt, scheint den Anspruch ra­tionaler Wissenschaft­lichkeit und Objektivität noch unterstreichen zu wollen. 226 Ebd., S. 5. 227 Ebd., S. 4. 228 Ebd., S. 18. 229 Ebd., S. 4.

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späten 19. Jahrhunderts dar. Allerdings wird hier der Passagier nicht mehr als mora­lischer Heros antizipiert, sondern erscheint als erschöpftes Subjekt, dem mit Rücksicht auf die Strapazen des täg­lichen Transits eine Minimalethik zugestanden werden soll. So formuliert der City Club ein Set von Minimalstandards utilitaristischer Passagierrechte, die in vier Prinzipien dargelegt werden: 1: Every Passenger should have some handle or support that he can grasp to steady himself. 2: Every standing passenger should have enough room to move his arms freely, for instance, to reach to his pockets for a handkerchief if necessary. 3: Every standing passenger should be far enough from his neighbor so that his face shall not be directly before that of another person. 4: There should be room enough for a passenger to move freely towards an exit as the train approaches his destina­tion.230

In den Augen des City Clubs basieren diese Festlegungen nicht primär auf ra­tio­nal-­logistischem Kalkül, sondern zielen auf die Festlegung eines »standard of human decency«.231 Bezeichnenderweise ist dieser für die Ingenieure des City Club allerdings mathematisch genau berechenbar. Unter Berücksichtigung dieser vier Prinzipien können nun komplexe Verteilungsszenarien für die Passagiere in den Waggons modelliert werden: Man experimentiert mit mög­lichen Varia­ tionen in den Ausgestaltungen der Interieurs und analysiert die Bewegungen der Passagiere beim Ein- und Aussteigen. Im Ergebnis sollte jedem Passagier ein Raumvolumen von 0,24 Kubikmetern (8.5 ft3) zugesprochen werden: ein Wert, der minutiös über die Dimensionen der Waggons und der durchschnitt­ lichen Belegung errechnet wurde.232 Diese Verteilungsethik wird zudem in Diagrammen veranschau­licht, die auch zeigen, wie die Passagiere nun allein als normierte und abstrakte Körper in den Blick kommen, die in Forma­tionen und Reihungen in den Waggons angeordnet werden können (vgl. Abb. 23). Diese errechneten Verteilungen der Körper stellen eine bemerkenswerte Ra­tionalisierung der Zumutbarkeit menschlicher Nähe dar. Sie sind Ausdruck einer Containerethik, die bestrebt ist, eine Mindestdefini­tion der Würde der Passagiere über quantifizierbare »Territorien des Selbst«233 herzustellen. Dass es sich bei den Standardisierungsvorschlägen des City Club um eine Form logistisch-­technokratischer Ethik handelt, wird auch daran deut­lich, dass hier 230 Ebd., S. 7. 231 Ebd. 232 Vgl. Ebd., S. 5. 233 Vgl. Goffman, Erving: Das Individuum im öffent­lichen Austausch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 83 ff.

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Abb. 23: Die Verteilung der Passagiere nach den Prinzipien der Containerethik des City Club (1930).

eine Norm erarbeitet und begründet wird, die sich auf eine quasi natür liche und universelle Würde der Passagiersubjekte beruft. In dieser Kopplung von Abstand und Anstand gelingt nun etwas Entscheidendes: Man ist in der Lage, die technische Norm der Maximalbeladung der Waggons mit einer sozialen Norm körperlicher Nähe in Beziehung zu setzen. Hier haben wir also einen Moment, der besonders eindringlich zeigt, wie die Paradigmen des Maschinellen unmittelbar die Sphären des menschlichen Miteinanders strukturieren. Indem sich die Bereiche technischer Normierung, sozialer Norm und logistischer Normalisierung miteinander verschalten, bringen die maschinellen Dispositive der Subway infrastrukturierte Körper hervor, die berechenbar, fügsam und produktiv gemacht werden können. Dass sich die Entfaltung dieses Prozesses normierender Abstraktion allerdings über mehrere Dekaden erstreckt, wird auch deutlich, wenn man die Darstellungen der Waggoninterieurs aus den Abbildungen 21 und 22 vergleicht. Lassen sich in Ersterer bei genauem Hinsehen noch Individualisierungen der einzelnen Passagierkörper erkennen, so sind diese in Letzterer einige Jahre später

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bereits identische containerähn­liche Entitäten, die in Reih und Glied angeordnet werden. Die kunstvolle Verteilung der normierten Körper der Passagiere im Raum und die erfolgreiche Disziplinierung ihrer Praktiken erlaubt zudem ihre genauere statistische Erfassung. Dabei ist es vor allem diese Verschränkung der sozia­len und technischen Norm, die es gestattet, eine direkte Linie z­ wischen den individuellen Passagieren und der bio-­politischen Gesamtheit der subterranen Bevölkerung zu ziehen. Dieser Wirkungsweise der Norm kommt auch innerhalb des foucaultschen Theoriemodells eine entscheidende Scharnierfunk­tion zu: Durch sie wird es mög­lich, ­zwischen der Disziplinierung der Körper und der Biomacht der Bevölkerungsregulierung zu vermitteln: Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebenso gut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will. […] Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden.234

Im Bestreben des City Club, den einzelnen Subjekten spezifische Körperpraktiken zuzugestehen, wie das Recht, sich festzuhalten, oder die Mög­lichkeit, in die eigenen Taschen zu greifen, wird eine Herrschaftstechnik sichtbar, welche die Passagierkörper auf eine ganze spezifische Art diszipliniert wie normiert. Diese Verfahren leisten zwei Sachen zugleich: Sie unterwerfen einerseits die Subjektkörper und ihre Praktiken unter ein rigides sozio-­technisches Regime. Andererseits sind sie bestrebt, die Kräfte der Individuen zu entfalten und nütz­lich zu machen. Die Disziplinartechnologien, die Foucault in den Institu­tionen des 18. Jahrhundert entdeckt, gelangen so zwar auch hier zur Anwendung, jedoch mit einer entscheidenden Verschiebung. Während die Soldaten, Kranken oder Delinquenten vor allem in Hinblick auf ihre vitale Produktivität adressiert wurden, werden die Passagiere nun als Elemente einer technischen Apparatur codiert. War der Körper in den früheren Disziplinarregimen noch ein Organismus, der gemäß seiner natür­lichen Kräfte und organischen Leistungsfähigkeit produktiv gemacht werden musste, erscheint er nun als normiertes Element einer maschinellen Vorrichtung, deren technischen Anforderungen er genügen muss, um transportierbar zu sein. Infolgedessen ist letzt­lich auch für den City Club das zentrale Argument zur Verbesserung des Systems nicht die Sorge um das Wohlergehen der Passagiere, sondern die Schwächung ihrer Arbeitskraft infolge der Strapazen des Pendelns. Dies wird spätestens dann offenkundig, wenn die Verfasser unter der Überschrift »The Great Economic Loss to the Riding Public« schreiben: 2 34 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesungen am Collège de France (1975 – 76), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 298.

Abstand und Anstand  |

Who can estimate the reduc­tion of work capacity of an employee who has to travel for an hour in the morning with the struggling mass that is forced into our inadequate transit facilities? If it could be measured in money values, it would undoubtedly run into many millions of dollars – lost – wasted. How much happiness is destroyed, how much leisure time is spoiled by the terrific nervous strain involved into getting home after a hard day’s work! To translate these things into charts is impossible, but their economic and social importance cannot be overestimated – and they are on the loss side of the ledger.235

Diese Zeilen sind in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich: Hier bedauert man nicht nur ausdrück­lich die unmög­liche Inwertsetzung und statische Messung des verlorenen Glücks der Passagiere (um sie dann dennoch mit Millionen von Dollars zu beziffern), sondern formuliert ihr Elend vor allem als ökonomisches Problem. Dies mag jedoch ein strate­gisches Argument sein, um ihren Forderungen Gewicht zu verleihen. Dass die Ideen des City Club zur Begrenzung der Waggonbeladung letzt­lich nicht berücksichtigt werden, liegt auch daran, dass die Betreiber auf jeden zahlenden Kunden angewiesen waren und nicht daran dachten, den Zugang zu reglementieren. Dennoch erweisen sich die Subjektivierungsinstanzen der Quantifizierung und Normierung, des Blackboxing und der Ra­tionalisierung, welche sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Subway entfalten, als erstaun­lich stabile Momente im Subjektverständnis der Passagiere. Wenn im Zuge ihrer Eta­ blierung der täg­liche Transit eine banale Alltagssitua­tion von Millionen von New Yorkern wird, ist diese Einübung und Normalisierung das Ergebnis einer komplexen historischen Dynamik. Wie d ­ ieses Kapitel gezeigt hat, kommt dabei den neuen logistischen wie technischen Regimen der Jahrhundertwende eine entscheidende Rolle zu. Ganz ähn­lich wie die Arbeiter in den Fabriken, deren einzelne Arbeitsschritte in den Analyseverfahren des Scientific Management erfasst, bewertet und gesteuert wurden, werden nun auch die Passagiere codiert und ihre Praktiken optimiert. Erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verkompliziert sich diese Perspektive, indem man nun auch die individuellen Disposi­tionen heterogener Passagiergruppen mit wissenschaft­lichen Methoden adressiert. Zudem beginnt man ab den 1970er Jahren verstärkt, die einzelnen Passagiere nach ihrem Befinden zu befragen und diese Erfahrungen in Managemententscheidungen zu berücksichtigen.236 Allerdings stellen die quantifizierenden Verfahren der Logistik in der Erfassung und Steuerung der Passagiere 235 The City Club of New York: Subway Overgrowding, S. 5. 236 Beispielsweise in: Bronzaft, Arline L., Dobrow, Stephen B. und O’Hanlon, Timothy J.: »Spatial Orienta­tion in a Subway System«, Environment and Behavior 8/4 (1976),

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bis heute dominante Instrumente dar. Ihr Erfolg beruht dabei nicht zuletzt auf der Annahme ihrer ra­tional-­wissenschaft­lichen Objektivität und politischen Neutralität. Während in den bislang skizzierten Diskursen und Verfahren die Passagiere vor allem als logistische Subjekte perspektiviert werden, stellte die Subway jedoch ebenso eine neue s­ ozia­le wie sinn­liche Situa­tion dar. Auf Seiten der Passagiere verlangte die immense Überfüllung in den Waggons und die daraus resultierende Enge und höchste Nähe zu den Mitreisenden die Mobilisierung von Abschottungstechniken, deren Ausmaß selbst den City Club in Erstaunen versetzte: »That such condi­tions prevail, might suggest that the citizens of the city are apathetic to a horrible experience occurring daily and inevitable in the lives of a vast number of them. It is impossible to believe that such apathy exists.«237 Dementgegen ließe sich behaupten, dass das unbeteiligte Verhalten der Passa­ giere eine angemessene Reak­tion auf ihre logistische und durchra­tionalisierte Umwelt darstellt. Die Techniken der Abschottung, die die Menschen dabei mobilisieren, verstärken die Grenze ­zwischen den Innenwelten der Subjekte und ihrer Umgebung. Das, was man auf den ersten Blick als apathisches Verhalten der Passagiere deuten mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein komplexes Arrangement an kulturellen Techniken, mit denen die Subjekte diese Erfahrungswelten zu bewältigen versuchten. So stellten die Territorien der Subway eine komplexe und ungewohnte Sinneslandschaft bereit, welche die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Passagiere auf spezifische Weise strukturierte. Dem Versuch, diese Sinnestechniken des Transits zu rekonstruieren, ist das nächste Kapitel gewidmet. Hier soll gezeigt werden, dass die logistischen Regime der Subway entscheidend an den Erfahrungsmodalitäten ihrer Benutzer beteiligt sind. Dies betrifft im Besonderen die Praktiken des Blicks.

S. 575 – 594; Saegert, Susan: »Crowding: Cognitive Overload and Behavioral Constraint«, Environmental Design Research 2 (1973), S. 254 – 261. 2 37 The City Club of New York: Subway Overgrowding, S. 10.

KAPITEL III. SINNESTECHIKEN Statt Ausdruck – Signale, statt Substanz – Bewegung! 1 Helmut Lethen

Wie alle subjektiven Erfahrungen unterlaufen auch die Sinngebungen visueller, akustischer und olfaktorischer Reize historische Veränderungen. Bereits Marx hatte diese Dynamik betont und proklamiert: »Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.«2 Diese Transformationen in der Geschichte der Sinne sind allerdings oftmals schwer nachzuzeichnen, nicht zuletzt, wenn es darum geht, zu verstehen, wie diese Wahrnehmungen von den Subjekten gedeutet wurden.3 Dennoch versucht sich dieses Kapitel an der Rekonstruktion der Sinneswelten der Passagiersubjekte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor allem im ersten Teil soll danach gefragt werden, welchen Eindrücken die Passagiere in den Territorien unter der Stadt ausgesetzt waren und welche Taktiken sie entwickelten, um diese zu bewältigen. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich dieser Rekonstruktion über die Analyse der visuellen Regime der Subway. Hier werden Zeichensysteme wie Beschilderungen, Karten und Werbung in den Blick genommen und auf ihre Inskriptionen und historischen Dynamiken hin befragt. Eine genauere Analyse dieser Artefakte erlaubt es dabei einerseits, Rückschlüsse auf die Praktiken und Wahrnehmungen der Passagiere zu ziehen, wie auch andererseits, verschiedene Subjektkonstitutionen der Passagiere aufzudecken, die in ihnen wirksam werden. Das eingangs zitierte Credo des Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen, mit dem er den Paradigmenwechsel gesellschaftlicher Ordnung durch die Etablierung von Subjektcodes der Neuen Sachlichkeit auf den Punkt bringt, erweist sich dabei auch für die New Yorker Subway als durchaus treffend. Während das Primat der Bewegung bzw. der Zirkulation bereits in den letzten Kapiteln beleuchtet wurde, steht hier die Verschiebung der Wahrnehmung zugunsten 1 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 46. 2 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Bd. 40, Berlin/DDR: Dietz 1962, S. 541 f. 3 Smith, Mark M.: »Producing Sense, Comsuming Sense, Making Sense: Perils and Prospects for Sensory History«, Journal of Social History 40/4 (2007), S. 841 – 858.

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der Idee des Signals im Vordergrund. Dies meint nicht nur das Bestreben der Passagiere, ihre sozia­len Interak­tionen zu entemo­tionalisieren und ihre Mimik und Gestik mit dem Ausdruck des Unbewegten und Unbeteiligten zu versehen. Es zeitigt auch die Etablierung eines neuen sozia­len Steuerungsmodells, das die Subjekte vor allem über visuelle Signale und Zeichensysteme adressiert. Wie wir sehen werden, betreffen die Subjektivierungen der Passagiere unter dem Code des Maschinellen nicht nur ihre Normierung und Quantifizierung durch die logistisch-­technischen Regime der Subway. Sie strukturieren ebenso die Wahrnehmungsformen und sozia­len Interak­tionen der Subjekte und unterwerfen sie einem neuen Ra­tionalitätstypus. Wenn sich dieser mit den Schlagworten des Reizschutzes, des industriellen Bewusstseins oder der Neuen Sach­lichkeit umreißen lässt, dann zeigt sich auch hier die Containerisierung der Passagiere. Die von den Menschen in der Subway mobilisierten Kulturtechniken der Verkapselung erscheinen so als Formen emo­tionalen Containments.4 Zugleich formieren sich die Praktiken der Abschottung und Entemo­tionalisierung zu einem Komplex von Subjektcodes, die man mit Lethen als »Verhaltenslehre der Kälte« umreißen kann. Diese dienen als wichtige Orientierungshilfen angesichts der Zumutungen in der modernen Massengesellschaft: »Sie empfehlen Techniken der Mimikry an die gewalttätige Welt und legen alles darauf an, den Menschen in seiner schutzlosen Objektheit abzuschirmen.«5 In dieser Technisierung des Sozia­len wiederholt sich auch das Modell des Containersubjekts. Während die logistischen Verfahren und Steuerungsregime der Subway die Passagiere als geblackboxte und normierte Entitäten in den Blick nehmen und damit die Grenze ­zwischen dem Innenleben und dem Außen der Subjekte noch einmal deut­lich verstärken, vollzieht sich auf der Ebene der Selbstpraktiken der Passagiere eine ähn­liche Bewegung. Eine Rekonstruk­tion dieser Prozesse wird deut­lich machen, wie sich in der Subway eine machtvolle Subjektivierungsinstanz entfaltet, die man als infrastrukturiertes Sinnesdispositiv beschreiben kann. Bevor wir uns jedoch diesen Phänomenen zuwenden, gilt es einige Anmerkungen zu den durchaus beträcht­lichen Schwierigkeiten zu machen, die mit der historischen Rekonstruk­tion subjektiver Sinneseindrücke verbunden sind. Die 4 Zum ursprüng­lich auf den britischen Psychoanalytiker Wilred R. Bion (1897 – 1979) zurückgehenden Konzept von Container und Containment siehe ausführ­licher: Kennel, Rosemarie: »Bions Container-­Contained-­Modell – und die hieraus entwickelte Denktheorie«, in: Insa Härtel und Olaf Knellessen (Hrsg.): Das Motiv der Kästchenwahl: Container in Psychoanalyse, Kunst, Kultur, Psychoanalytische Blätter 31, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 69 – 85. Sowie Klose, Alexander und Potthast, Jörg: »Container/Containment: Zur Einleitung«, Tumult 38 (2012), S.  8 – 12. 5 Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 36.

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kulturellen Wahrnehmungstechniken der Passagiere nachzuzeichnen, ist nicht nur eine schwierige, sondern auch eine riskante Aufgabe. Wie der franzö­sische Sinneshistoriker Alain Corbin betont, gilt es dabei einige Fallgruben zu meiden.6 So erfordert es zunächst ein unbedingtes Misstrauen gegenüber einem positivistischen Narrativ von der Evolu­tion der Sinn­lichkeit. Ähn­liches gilt für die Idee ihrer historischen Verfeinerung und Zivilisierung, wie sie beispielsweise Norbert Elias vertritt. Genauso wenig lässt sie sich als Geschichte einer fortlaufenden Disziplinierung oder immer komplexer werdenden Dressur der Subjekte verstehen. Zudem stellt einen gerade die Frage nach der historischen Dynamik und Genealogie der Sinne vor ein besonderes Problem: Während Soziologen und Ethnographen auf eine Vielzahl von bewährten Methoden zurückgreifen können, ist eine Erkundung auf dem Feld einer Sinnesgeschichte im höchsten Maße auf sprach­liche Tradierungen angewiesen. Dies birgt die Gefahr, diese Quellen für bare Münze zu nehmen und einfach anzunehmen, dass der damalige Diskurs identisch mit den Wahrnehmungs- und Gefühlsstrukturen der Passagiere war.7 Leicht ist man verführt, von den meist sprach­lichen Quellen auf die tatsäch­lichen Empfindungen zu schließen. Damit übersieht man jedoch unter anderem, dass gerade sinn­liche Erlebnisse oftmals schwer in Schrift zu übersetzen sind. Dies gilt besonders für historisch neue und bislang unbekannte Sinneseindrücke. Auch schambesetzte oder allzu banale Empfindungen sind oftmals bestenfalls an den Rändern des Diskurses aufzuspüren. Dieses Problem wird uns wieder begegnen, wenn wir uns der Analyse der Beschwerderegime im fünften Kapitel widmen. Wenn hier dennoch eine historische Beschreibung der Sinneswelten der Passagiere versucht wird, um über diesen Weg Hinweise auf ihre Subjektivität zu erlangen, müssen auch die mit ihnen verbundenen sozia­len Normen, Werte und Imagina­tionen freigelegt werden. Wie die amerikanische Anthropologin Mary Douglas herausgestellt hat, sind in einer Vielzahl von Kulturen jeweils spezifische Eindrücke des Geruchs an die jeweils vorherrschenden Vorstellungen von Hygiene gekoppelt.8 Ebenso ist die Art und Weise, wie sich in historischen Subjektkulturen spezifische Wahrnehmungsdispositive herausbilden, 6 Corbin, Alain: »Zur Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung«, Wunde Sinne: Über die Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-­Cotta 1993, S. 197 – 211. 7 Zur Kritik einer rein auf Text ausgerichteten Analyse des Kulturellen und Sozia­len und ihrer Artefakte vgl.: Howes, David: »Introduc­tion«, in: David Howes (Hrsg.): Empire of the Senses: The Sensual Culture Reader, Oxford: Berg 2005; Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2005, S.  137 ff. 8 Vgl. Douglas, Mary: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollu­tion and Taboo, London: Routledge 2002, S. 7 ff.

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entscheidend von der konkreten Beschaffenheit der materiellen Umwelten abhängig. Dies hat Corbin am Beispiel des Geruchssinns besonders deut­lich herausgearbeitet.9 Dabei konnte er rekonstruieren, dass man gerade in den west­lichen Metropolen des 18. und 19. Jahrhunderts massive Anstrengungen unternahm, den Umgang mit Gerüchen zu regulieren oder sie gleich ganz aus der urbanen Sinneslandschaft zu verbannen. Diese Kontrolle der städtischen Sinnesdispositive bzw. ihre Desodorierung kann als bemerkenswert erfolgreiche Regierungstechnik verstanden werden. Mit ihr gelang es, sowohl die materielle Umwelt der Stadt wie auch die Wahrnehmungsstrukturen ihrer Bewohner radikal zu verändern. Ähn­liche Momente lassen sich auch für die Subjektivierungen der New Yorker Passagiere konstatieren, deren Sinneseindrücke in höchstem Maße durch die Technizität ihrer Umwelt geprägt sind. Während eine breit angelegte Geschichte dieser Maschinisierung der Sinne ein eigenes Thema wäre, soll doch hier zumindest eine Form der Wahrnehmung etwas genauer beleuchtet werden, und zwar die des Sehens. So war und ist die Subway eine im höchsten Maße visuell strukturierte Sinneslandschaft. Wie im Folgenden dargestellt wird, sollte sich in den Territorien der Subway die bereits von Simmel diagnostizierte Verschiebung der Sinne in den modernen Metropolen zugunsten eines Primats des Sehens noch weiter zuspitzen. Während diese visuellen Eindrücke, wie auch die auditiven und olfaktorischen Reize, vor allem als strapaziös und überfordernd erlebt werden, entwickeln die Passagiere spezifische Kulturtechniken der Sinnesmodula­tion und -abschottung, um diese zu bewältigen. Die Präferenz des Sehens in der hier unternommenen Analyse der Wahrnehmungsstrukturen der Passagiere ist dabei auch der Quellenlage geschuldet. So ist es vor allem visuelles Material, wie Dokumente und Fotografien, das im Archiv des Transit Museums aufbewahrt wurde. Wenn stattdessen kaum Tonaufnahmen oder gar Geruchs- oder Tasteindrücke erhalten sind, trägt dies auch der Dominanz des Visuellen in der Subway Rechnung. Dennoch soll auf den folgenden Seiten zumindest kursorisch auf die Sinnesempfindungen des Hörens und Riechens eingegangen werden, bevor wir uns im darauf folgenden Abschnitt primär den Strategien des Blickes widmen. Der zweite Teil des Kapitels wird sich dann detailliert den visuellen Regimen, wie Beschilderungen, Werbungen, Verbotsschildern etc., zuwenden und zeigen, wie diese für die Steuerung wie mora­lische Erziehung der Passagiere produktiv gemacht wurden.

9 Vgl. Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft: Eine Geschichte des Geruchs, Berlin: Wagenbach 2005.

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1. Ökonomien der Wahrnehmung Im Versuch, die sinn­lichen Erfahrungen der Passagiere in den ersten Dekaden des Systems zu rekonstruieren, operiert diese Unternehmung im Fahrwasser einiger wegweisender Studien zu den kulturellen Formen menschlicher Wahrnehmung, wie die Arbeiten Alain Corbins, Michel Serres und Jonathan Crarys.10 Wie bei all diesen Autoren wird auch hier vorausgesetzt, dass die Formen anthropolo­ gischer Wahrnehmungen alles andere als natür­lich gegeben sind. Stattdessen stellen sie wie die menschliche Natur überhaupt ein komplexes kulturelles Konstrukt dar. Dies meint einerseits, dass sie durch die jeweiligen Umwelten und Lebenskontexte beeinflusst und mitgeformt werden. Es bedeutet andererseits aber auch, dass die Subjekte selbst aktiv daran beteiligt sind, historische und situative Wahrnehmungspraktiken herauszubilden. Wir haben es demnach sowohl mit der Frage nach den jeweils dominanten Wahrnehmungsdispositiven zu tun sowie mit dem Problem, wie diese Sinnesregime und Wissensformen von den Passagiersubjekten befolgt, adaptiert oder unterlaufen werden. Diese Kulturtechniken der Wahrnehmung, Anpassung, Sensibilisierung und Abschottung der Sinne sind wiederum zentrale Merkmale der Subjektkonstitu­tion der Individuen. Dies stellt auch die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Susan Stewart heraus, wenn sie schreibt: »the opening and modula­tion of the senses takes part in a dynamic that is at the core of subjectivity«11 Auf den folgenden Seiten wird es also darum gehen, sowohl die Deutungen und Normalisierungen der Wahrnehmung auf Seiten der Subjekte zu adressieren, als auch die Wahrnehmungsdispositive und sinn­lichen Regime im System nachzuzeichnen. Dabei wäre es trotz der dominanten Codierungen der Passagiere als ausgelieferte, steuerbare und normierte Masse falsch, sie allein als passive und fatalistische Subjekte zu charakterisieren. Wie bereits im zweiten Kapitel deut­lich wurde, erlaubten die Infrastrukturen der Subway auch neue und als transgressiv empfundene Formen der Wahrnehmung und Erfahrung. Diese müssen jedoch vor allem vor dem Hintergrund der massiven Umwälzungen der Subjektkulturen und sinn­lichen Wahrnehmungen in den west­ lichen Metropolen um 1900 gedeutet werden.12 Hier können Georg Simmel 10 Vgl. u. a.: Crary, Jonathan: Techniques of the Observer: On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge, Mass.: The MIT Press 1992; Corbin: Pesthauch und Blütenduft; Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 11 Stewart, Susan: »Remembering the Senses«, in: David Howes (Hrsg.): Empire of the Senses: The Sensual Culture Reader, Berg: Oxford 2005, S. 59 – 69, hier S. 60 f. 12 Auf diese Momente haben bereits eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren aufmerksam gemacht. Vgl. beispielsweise: Cowan, Alexander F. und Steward, Jill (Hrsg.):

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und Walter Benjamin nicht nur als Theoretiker der Sinnesregime moderner Metropolenkultur gelten, sondern auch als ihre frühen Chronisten. Viele der von ihnen beschriebenen Merkmale urbaner Wahrnehmungsstrukturen finden sich in den subterranen Röhren und Waggons in gesteigerter Form wieder. Vor allem betrifft dies die Momente der Maschinisierung und Containerisierung der Sinneswahrnehmungen. Wenn also im Rahmen d ­ ieses Abschnitts der Einfluss der Umgebung des Transits auf die Sinne des Passagiers skizziert werden soll, gilt es zunächst auf die um 1900 von Simmel diagnostizierte Reizabstumpfung zu verweisen, die für ihn die Folge der starken und flüchtigen Sinneseindrücke des großstäd­ tischen Lebens ist.13 Diese führt zu einer Verschiebung der Bedeutsamkeit der einzelnen Sinne: Hierin muss ein für die Soziologie der Großstadt bedeutendes Moment liegen. Der Verkehr in ihr, verg­lichen mit dem in der Kleinstadt, zeigt ein unermeß­liches Übergewicht des Sehens über das Hören Anderer, […] vor allem durch die öffent­lichen Beförderungsmittel.14

Dass es für Simmel eine Vorherrschaft des Auges in den Metropolen um 1900 und besonders deren Transitapparaturen gibt, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass in ihnen die anderen Sinne marginalisiert werden. Dieses Moment der Modula­tion der einzelnen Sinne geht mit dem Erfordernis einher, die Wahrnehmungen zu fokussieren und die Aufmerksamkeit auf spezifische Eindrücke richten zu können. Auch für den Historiker Jonathan Crary wird die Kulturtechnik der Aufmerksamkeit in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts

The City and the Senses: Urban Culture Since 1500, Farnham: Ashgate Publishing 2007; Crary, Jonathan: Suspensions of Percep­tion: Atten­tion, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, Mass.: The MIT Press 2001; Frisby, David: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin, Rheda-­Wiedenbrück: Daedalus 1989; Kaschuba, Wolfgang: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der euro­päischen Moderne, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004. 13 So betont Simmel: »Der Mensch ist ein Unterschiedswesen, d. h., sein Bewusstsein wird durch den Unterschied des augenblick­lichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewusstsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfasst, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen.« Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben [1903]«, in: Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 116 – 131, hier S. 116 f. 14 Simmel, Georg: Soziologie, Berlin: Duncker & Humblot 1983, S. 486.

Ökonomien der Wahrnehmung  |

zu einer zentralen Ressource.15 Mit dem Soziologen Herbert A. Simson lässt sich sogar von einer »Ökonomie« der Aufmerksamkeit wie der Wahrnehmung allgemein sprechen.16 Dies meint den Sachverhalt, dass die Subjekte in einer Umwelt voller überbordender Sinneseindrücke gezwungen sind, spezifische Wahrnehmungsprägnanzen herausbilden, die durchaus ra­tionalen Kalkülen folgen.17 Einer Fülle von Eindrücken und Informa­tionen ausgesetzt, werden sie einerseits genötigt, auszuwählen und Präferenzen zu bilden, andererseits müssen sie auch in der Lage sein, Reize zu ignorieren, abzublenden oder ihre Reak­tionen auf sie zu verzögern: »Hence a wealth of informa­tion creates a poverty of atten­tion and a need to allocate that atten­tion efficiently among the overabundance of informa­tion sources that might consume it.«18 Als Resultat der obigen Ausführungen lässt sich die transitorische Wahrnehmung der Passagiere zunächst mit den bereits von Simmel bestimmten Disposi­tionen von Flüchtigkeit, Blasiertheit und Reizabstumpfung beschreiben. Für ihn erwächst sie aus der »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.«19 Wie wir sehen werden, ist die Subjektivität der Passagiere zunehmend durch das Bestreben von Distanz und Autonomie gegen ihre Umwelt gekennzeichnet. Dies führt zur Entstehung dessen, was man in Anlehnung an Wolfgang S ­ chivelbusch als industrialisiertes Bewusstsein bezeichnen kann.20 Dieser Begriff verweist einerseits auf die Herausbildung komplexer Verfahren des Reizschutzes, andererseits zeichnen sich die Subjekte durch die bereits von Simmel beschriebene 15 Crary: Suspensions of Percep­tion, S. 281 ff. 16 Simon, Herbert A.: »Designing Organiza­tions for an Informa­tion-­rich World«, Interna­tional Library of Critical Writings in Economics 70 (1996), S. 187 – 202. Zum ähn­ lich konnotierten Begriff des Affekthaushalts siehe Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisa­tion: Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den welt­lichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 272 ff. 17 Ein ähn­liches Wahrnehmungsmodell vertritt auch Ernst Cassirer. Vgl.: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum [1931]«, in: Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1985, S.  93 – 117; Philosophie der symbo­lischen Formen: Erster Teil: Die Sprache, Hamburg: Meiner Verlag 2010. 18 Simon: »Designing Organiza­tions for an Informa­tion-­rich World«, S. 40 f. Vgl. auch darauf aufbauend: Wu, Fang und Huberman, Bernardo A.: »Novelty and Collective Atten­tion«, Proceedings of the Na­tional Academy of Sciences 104/45 (2007), S.  17599 – 17601. 19 Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben [1903]«, S. 116. (Hervorhebung im Original). 20 Siehe dazu genauer: Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 2004, S. 142 ff.

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»gesteigerte Sensibilität«21 sowie eine spezifisch »ästhetische Reak­tionsweise«22 gegenüber selektiven Sinneseindrücken aus: Es ist von einer noch gar nicht genug beachteten Bedeutung für die ­sozia­le Kultur, dass mit der sich verfeinernden Zivilisa­tion offenbar die eigent­liche Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt.23

Abstumpfung und Blasiertheit gehen also mit einer Empfindsamkeit einher, die Aversion und Distanzierung begünstigt und s­ ozia­le Nähe nur in Ausnahmefällen erlaubt. Dabei ist es eine der entscheidenden Leistungen Simmels, diese veränderte Sinnesökonomie des modernen Subjekts in Wechselwirkung mit der Modifika­tion seines Sozia­lverhaltens zu setzen. Dieser Einsicht folgend sollen in ­diesem Kapitel auch diese Dimensionen der Sinneseindrücke der Passagiere in den Blick genommen werden. Wie anhand des Riechens und Anblickens besonders deut­lich werden wird, fungieren die Sinne ebenso als s­ ozia­le Ordnungsinstanzen. Sie bestimmen die Formen von Nähe und Distanz und werden zugleich als Instrumente von Sank­tionierung und Disziplinierung wirksam. Wie wir darüber hinaus sehen werden, resultieren diese komplexen Sinnesanforderungen oftmals in Praktiken der Isolierung, Abschottung und Vermeidung, wie beispielsweise dem Lesen, welches sich rasch als beliebte Barriere sozia­ler Interak­tion in der Subway etabliert. Bestrebt, ihre Erfahrungen des Transits kontrollieren zu können, versuchen die Passagiere in der Implementierung von Artefakten fragile Territorien des Privaten zu schaffen. Im vorigen Kapitel ist bereits angeklungen, dass die artifiziellen Territorien unter der Stadt einen im hohen Maße ungewohnten Raum darstellen, der zahlreiche neue Wahrnehmungsanforderungen bereithielt. Die hohe Geschwindigkeit in den lauten und schlecht belüfteten Containern sowie die Erfahrung des zusammengedrängten Eingesperrt-­Seins vieler unterschied­lichster Menschen auf engstem Raum führt gerade bei den ersten Passagieren zu einer Überwäl­ tigung ihrer Sinnesempfindungen. Dies betrifft nicht nur die Erfahrungen der Vermassung wie der Ort- und Orientierungslosigkeit des Transits. Auch die Hitze und Dunkelheit wie das Ausgeliefertsein der Geruchslandschaften und technischen Apparaturen lassen die Subway in den Augen der Passagiere immer wieder als industriellen Hades erscheinen.

21 Simmel: Soziologie, S. 489. 22 Ebd. 23 Ebd.

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Im Hades der Namen Schon Walter Benjamin hat die Territorien des urbanen Untergrunds als eine moderne Inkarna­tion der antiken Unterwelt ausgewiesen. In seinen Notizen zum Passagen-­Werk beschreibt er die Pariser Metro als »ein anderes System von Galerien, die unterirdisch durch Paris sich hinziehen, wo am Abend rot die Lichter aufglühen, die den Weg in den Hades der Namen zeigen.«24 Mit ­diesem Ausdruck verweist Benjamin auf die Unübersicht­lichkeit und Orientierungslosigkeit angesichts der Komplexität der subterranen Zeichensysteme. Der Hades der Namen ist damit sowohl als Erfahrungsraum der Reizüberforderung als auch der Konfusion und Isola­tion gekennzeichnet. Auch für die bis dato ungekannte Einsamkeit und Apathie der Passagiere trotz engstem körper­lichen Kontakt findet Benjamin drastische Worte: »Ein jeder haust hier einzeln, die Hölle ist sein Hofstaat.«25 Dies galt allerdings nicht nur für die Pariser Metro. Auch in der New Yorker Subway weckten die Erfahrungen sinn­licher Überlastung und räum­licher Fragmentierung sowie die Unheim­lichkeit der Maschinerie zahlreiche Assozia­­ tionen mit dem infernalen Reich der Ausgestoßenen und Verdammten. Bis heute erweist sich diesseits wie jenseits des Atlantiks das Bild der Hölle als erstaun­lich persistenter Topos urbaner Mythologien.26 Für die Passagiere des Maschinenzeitalters waren diese Assozia­­tionen nicht zuletzt aufgrund der Dunkelheit, des Gestanks und den hohen Temperaturen, mit denen sie tagtäg­lich konfrontiert waren, naheliegend. Glaubt man den damaligen Berichten, wurden die unterirdischen Gefilde der Subway vor allem in den Sommermonaten als unglaub­lich warm erlebt.27 Das System, das bereits seit der Eröffnung stark überlastet war, begann sich nun buchstäb­lich heiß zu laufen. Dies lag einerseits an der Körperhitze von Millionen Passagieren, andererseits an den großen Elektromotoren, die in ihren unzähligen Starts und Stopps gigantische Mengen an Abwärme erzeugten. Zudem hatten die Ingenieure die ersten Tunnel und Sta­tionen mit wasserdichtem Material ausgekleidet, was zwar die elektrischen Systeme trocken 24 Benjamin, Walter: Das Passagen-­Werk, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 135. 25 Ebd. 26 Vgl. Brooks, Michael: Subway City. Riding the Trains, Reading New York, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1997, S. 1; Pike, David L.: Subterranean Cities. The World beneath Paris and London, 1800 – 1945, Ithaca: Cornell University Press 2005; Pike, David L.: Metropolis on the Styx. The Underworlds of Modern Urban Culture, 1800 – 2001, Ithaca: Cornell University Press 2007. 27 Soper, George A.: The Air and Ventila­tion of Subways, New York City: John Wiley & Sons 1908, S. 130 ff.

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Abb. 24: V. P. Whitney: »Dante Tries The Subway; Finds The Air Hotter Than He Found It In Hades.« aus der New York World vom 26. Juni 1905.

hielt, allerdings auch die Hitze staute.28 Diese Erfahrungen nahm auch die New York World im Jahre 1905 zum Anlass, einen Cartoon zu veröffentlichen, der den bezeichnenden Titel trägt »Dante tries the Subway; finds the air hotter than he found in the Hades« (Abb. 24) Wie aus dieser Abbildung hervorgeht, scheint die Metapher des Hades für die damaligen Passagiere aus mehreren Gründen passend für die Subway gewesen zu sein. Neben der Hitze betraf dies auch den Moment des Ausgeliefertseins an eine höllische Maschine. So fragt Dante verwirrt beim Anblick der Passagiere: »Instructor, tell me what are these poor tortured people?« und bekommt die Antwort »They are condemmed […] to hang for half an hour in the morning and in the evening.« Die Unterordnung der Subjekte unter das ihnen fremde und abstrakte Organisationsprinzip des Maschinellen evozierte offenbar Erfahrungen der Angst 28 Vgl. dazu ausführlich: Walker, James Blaine: Fifty Years of Rapid Transit, 1864 – 1917, North Stratford, New Hampshire: Ayer Publishing 1918, S. 263 ff.

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und des Kontrollverlusts, die im Bild der maschinellen Hölle verdichtet werden. Dazu trug bei, dass die Subway auch ein komplexes sozia­les Setting darstellte, in dem man den Mitpassagieren auf engstem Raum ausgeliefert war. Wenn, wie bereits Jean-­Paul Sartre bemerkte, die Hölle immer die anderen sind, so traf dies nicht zuletzt für die Passagiere zu. Neben den Ängsten vor Bedrohung und gewalttätigen Übergriffen galt die Assozia­­tion der infernalen Unterwelt auch in Bezug auf die Geruchslandschaften in den Waggons und Sta­tionen. Dabei war das Odeur des Systems alles andere als neutral, sondern eine Melange aus verbrauchter Luft, Körperausdünstungen, Maschinenabgasen und vielem mehr. Vor allem aber waren es die Körpergerüche der Mitreisenden, die bei den Passagieren immer wieder zum Gegenstand von Beschwerden und Klagen wurden. Während die besondere Situa­tion der Verdichtung ­zwischen unzähligen anderen Körpern immer wieder erhöhte Anforderungen an den Geruchssinn stellte, trug deren Interpreta­tion auch eine starke s­ ozia­le Konnota­tion. Schon Simmel betont, dass das Riechen anderer Menschen eine zentrale »sinn­liche Grundlage für die soziolo­gische Reserve des modernen Individuums bildet.«29 Gerade in modernen Großstädten stellt der Geruchssinn für ihn einen »dissoziierenden Sinn«30 dar, der die Antipathien z­ wischen Klassen und Hautfarben freilegt. Auch der britische Literat George Orwell hat die Funk­tion des Geruchs als zentrales Element sozia­ler Klassenordnungen deut­lich gemacht: Das wurde uns beigebracht – die unteren Klassen stinken. Und hier steht man offenbar vor einem unüberwind­lichen Hindernis. Denn kein Gefühl des Gefallens oder Missfallens ist so grundsätz­lich wie ein phy­sisches. Rassenhass, religiöser Hass, Unterschiede in der Erziehung, im Temperament, im Geist, sogar im mora­lischen Gesetz können überwunden werden, aber phy­sische Abstoßung nicht. Man kann Zuneigung empfinden gegenüber einem Mörder oder einem Sodomisten, aber nicht gegenüber einem Mann, dessen Atem stinkt […].31

Diese Funk­tion des Riechens als elementare gesellschaft­liche Ordnungsinstanz betraf allerdings nicht allein die Distanzierung von den Klassen der Arbeiter und sozia­l Benachteiligten. Sie wurde auch in Bezug auf die Hautfarbe mobilisiert. Besonders in den USA scheint das rassistische Vorurteil der stinkenden Afroamerikaner so stark gewesen zu sein, dass selbst Simmel im fernen Berlin davon gehört hatte.32 Und in der Tat sollte sich noch in den 1960ern eine Vielzahl von 29 Simmel: Soziologie, S. 490. 30 Ebd. 31 Orwell, George: Der Weg nach Wigan Pier, Zürich: Diogenes 1982, S. 125 f. (Hervorhebung im Original). 32 Vgl. Simmel: Soziologie, S. 496.

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Beschwerden der Subwaypassagiere finden, die ihrem Rassismus vor allem durch das Beklagen des Körpergeruchs von Schwarzen und Latinos Ausdruck gab.33 Damit liefern sie ein eindring­liches Zeugnis der Erkenntnis Simmels, dass die ­sozia­le Frage eben nicht nur eine ethische sei, »sondern auch eine Nasenfrage.«34 Wenn er zudem betont, dass die Sinneseindrücke der Großstadtbewohner dafür prädestiniert sind, Aversion und Abscheu hervorzurufen, so galt dies in der Subway in erhöhtem Maße. Der Ekel, den die Passagiere trotz aller Abschottungsversuche vor den schwitzenden Körpern ihrer Mitreisenden hatten, ging jedoch zugleich mit einer Pein­lichkeitsempfindung und Selbststigmatisierung des eigenen Geruchs einher.35 Erscheint im Zuge dessen die Bekämpfung des Körpergeruchs als Teil der Desodorierung des urbanen Raums, wird deut­lich, dass es kein Zufall war, wenn die Reklametafeln wie Verkaufsautomaten in der Subway vor allem Hygieneprodukte, wie Seifen, Deodorants, Mundwässer und Kaugummi, feilboten.36 Maschinenlärm und Waggongespräch Neben diesen olfaktorischen Reizen waren es auch die akustischen Eindrücke, die den Passagieren ein hohes Maß an Affektkontrolle abverlangten. Schaut man nach historischen Zeugnissen der Geräuschlandschaften in der Subway, wird schnell deut­lich, dass sie vor allem eins war: unsagbar laut. Die Motorengeräusche, Bremssysteme und die Reibung ­zwischen den Metallrädern und Schienen erzeugten eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse, die den Menschen bislang allenfalls aus den Fabriken der Schwerindustrie bekannt war.37 Neben dem donnernden Maschinenlärm waren auch die oftmals durch Lautsprecher 33 Siehe ausführ­licher dazu das fünfte Kapitel. 34 Simmel: Soziologie, S. 496. 35 Vgl. Jütte, Robert: Geschichte der Sinne, München: C. H. Beck 2000, S. 290 f. Mehr zur sozia­len Funk­tion des Ekels siehe: Menninghaus, Winfried: Ekel: ­Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. 36 Zur Werbung in der Subway vgl. ausführ­lich Kapitel III. 4. 37 Noch bis heute übertritt die New Yorker Subway das gesetz­lich zulässige Höchstmaß an Lärmbelastung, wie u. a. in folgender Untersuchung herausgestellt wird: Gershon, Robyn R. M. u. a.: »Pilot Survey of Subway and Bus Stop Noise Levels«, Journal of Urban Health : Bulletin of the New York Academy of Medicine 83/5 (2006), S.  802 – 812. Die Autoren dieser Studie bemaßen die durchschnitt­liche Lärmbelastung auf den Plattformen der Subway auf 86 Dezibel – mit Spitzenwerten von über 106 Dezibel. Diese Lautstärken gleichen in etwa denen einer industriellen Bohrmaschine. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die Züge zur damaligen Zeit noch wesent­lich lauter

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verstärkten Ansagen der Sta­tionsvorsteher und Zugbegleiter ein dominantes Kennzeichen der auditiven Landschaft im System. Angesichts dieser bislang ungekannten akustischen Eindrücke fand sich bereits am Tag nach der Eröffnung in der New York Times eine erste Beschwerde: Much is being said in jest about the new ailment which will result from travel in the Subway. There is no joke, however, in saying that horrible or terrible confined noises in the Subway will injure the hearing of thousands. Wise people will plug their ears with cotton until some inventive genius produces a guard that will do the business. It will be impossible for passengers to engage in conversa­tion, because they cannot be heard.38

Jenseits der Schilderung der offenbar als grauenvoll erlebten akustischen Umwelten ist an dieser Beschwerde auch bemerkenswert, dass hier das Aussterben des Reisegesprächs auf die industrielle Geräuschkulisse der Subway zurückgeführt wird. So hatte doch bereits Schivelbusch in den Eisenbahnen das Ende der Unterhaltung auf Reisen konstatiert.39 Dies betraf jedoch ausschließ­lich die gehobenen Klassen in den Abteilen, während in den Großraumwagen der dritten und vierten Klasse offenbar noch eine rege Kommunika­tion herrschte. Und selbst die Anforderungen der industriellen Sinneslandschaften der Subway scheinen mit dem Reisegespräch nicht endgültig Schluss machen zu können. Zwar lässt sich die transitorische Wahrnehmung der Passagiere mit Simmel als blasiert, flüchtig und distanziert beschreiben, deren primäre Anstrengung auf die Vermeidung von Kontakt abzielte. Dies galt jedoch nicht ausschließ­lich. So war es doch gerade die Isola­tion und Individualität der urbanen Subjekte, die neue Formen sozia­ler Interak­tion ermög­lichte: »weil es den Menschen auf sich selbst stellt, treibt es ihn zu engem, jenseits der sonstigen Unterschiede stehendem Zusammenschluss.«40 Das Reisegespräch ist für Simmel eine ganz besondere ­sozia­le Interak­tions­ form, die sich eben nur im Transit realisieren lässt. Sie kann sich durch eine außergewöhn­liche Intimität und Offenheit auszeichnen, in deren Rahmen man mit einer wildfremden Person unvermittelt vertraute Gespräche führen kann. Auch Simmels Lehrer, der Philosoph und Psychologe Moritz Lazarus (1824 – 1903), stellt dies für die »Waggongespräche« in den Eisenbahnen und Kutschen fest und konstatiert: »Die vorzüg­lichsten Gespräche werden, wie fast alle waren. Doch auch wenn im Verlauf der Jahrzehnte die Motoren gedämmt werden, sorgen ab den frühen 1970er Jahren die Klimaanlagen für eine weitere Lärmquelle. 38 Sedden, J. R.: »Auritis – A Subway Disease.«, The New York Times (29. Oktober 1904). 39 Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 73. 40 Simmel: Soziologie, S. 500.

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Dichter beweisen, unter ganz Fremden, auf Reisen, bei neuen Bekanntschaften geführt.«41 Simmel nennt drei mög­liche Rahmenbedingungen, die diese ­sozia­le Form ermög­lichen: die Gelöstheit vom gewohnten Milieu, die Gemeinsamkeit der momentanen Eindrücke und Erlebnisse und das Bewusstsein des baldigen und definitiven Auseinandergehens: Die Reisebekanntschaft verlockt oft von dem Gefühl aus, dass sie zu nichts verpflichtet, und dass man einem Menschen gegenüber, von dem man sich in wenigen Stunden für immer trennt, eigent­lich anonym ist, zu ganz merkwürdigen Konfidenzen, zu haltloser Nachgiebigkeit gegen den Äußerungstrieb, die uns in den gewöhn­lichen langsichtigen Beziehungen nur die Erfahrung ihrer Konsequenzen einzudämmen gelehrt hat […].42

Ermög­licht wird dies gerade durch die spezifische Temporalität dieser Begegnungen, die das Momentane und Gegenwärtige betont. Das Reisegespräch ist demnach nicht durch die Überwindung von Anonymität und Distanz gekennzeichnet, sondern ist vielmehr durch diese bedingt. Durch seine Situierung in den abgekapselten und deterritorialisierten Waggons ist es als jederzeit beendbar, flüchtig und folgenlos charakterisiert und kann gerade dadurch seine Intensität entfalten. Für die mitreisenden Passagiere lässt sich das unfreiwillige Mithören der Gespräche anderer eher als eine Spielart jener »Tyrannei der Intimität« beschreiben, die für den von Richard Sennett diagnostizierten Verfall der Öffent­lichkeit im 20. Jahrhundert so bezeichnend ist.43 Dies wird durch die Besonderheit des Ohrs verstärkt, das die auditiven Signale der Umwelt mehr oder weniger ungefiltert aufnehmen muss. Auch Simmel bestimmt das Wesen des Hörens sowohl als flüchtig, da es »mit dem Moment seiner Gegenwart auch schon vergangen ist«,44 wie als überindividualistisch, denn »was in einem Raume vorgeht, müssen eben alle hören, die in ihm sind, und dass der Eine es aufnimmt, nimmt es dem Anderen nicht fort.«45 Man ist also der auditiven Umwelt, und damit dem Lärm der Großstadt und des Verkehrs akustisch ausgeliefert.46 Dabei sind gerade das 41 Lazarus, Moritz: Über Gespräche, Berlin: Henssel 1986, S. 14. 42 Simmel: Soziologie, S. 502. 43 Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffent­lichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main: Fischer 1986. 44 Simmel: Soziologie, S. 487. 45 Ebd., S. 488. 46 Die Berücksichtigung dessen, wie ein urbaner Raum klingt, wurde von Stadtplanern und Architekten allerdings lange Zeit weitgehend vernachlässigt. Erst in den letzten Jahren ist dem langsam mehr Beachtung geschenkt worden (u. a. durch den kanadischen Komponisten Murray Schafer), sodass mehr und mehr Architekten die

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unfreiwillige Teilhaben an den Gesprächen anderer und die zumeist daraus resultierende Aversion kennzeichnend für die Subjektform des Passagiers. Dies führt auch dazu, dass man sich nun bevorzugt schweigend in den Territorien des Transits bewegt. Zugleich sollte während der ersten Dekade in den als oftmals unsagbar laut empfundenen Geräuschkulissen der Subway ein Element fehlen: Musik. Wie die Anthropologin Susie J. Tanenbaum herausgearbeitet hat, war Straßen­musik spätestens seit der Kolonialzeit ein weitverbreitetes Element des öffent­lichen Lebens in New York.47 Obwohl öffent­liches Musizieren infolge der Einwanderungswellen um 1900 in den Straßen, Parks und Plätzen eine Blütezeit erlebte, war sie in den Hochbahnen bereits ausdrück­lich verboten. Während Musik auch bei der Eröffnung des Subway eine entscheidende Rolle spielte, sollte sie schon am nächsten Tag aus dem System verbannt werden.48 In den 1930ern verhängte der ansonsten als liberal geltende Bürgermeister La Guardia sogar einen stadtweiten Bann auf Livemusik und Straßenperformances. Dieser wurde offenbar rigoros durchgesetzt und sollte erst nach mehr als drei Dekaden etwas gelockert werden. Tanenbaum zufolge scheinen die Verbote der Musik in den Sta­tionen und Waggons vor allem mit einer Absicht durchgesetzt worden zu sein: dem Sicherstellen der geordneten und gleichmäßigen Zirkula­tion der Passagiere im System.49 Während so die Sinneseindrücke des Hörens in den Hintergrund treten, sind es vor allem die visuellen Reize, die bei den Passagieren neue Techniken der Wahrnehmung hervorrufen. Wenn diese Momente in dem nächsten Abschnitt genauer beleuchtet werden, soll es dabei weniger um die Verfasstheit transitorischen Sehens allgemein gehen als vielmehr um die spezifischen Strategien des Blickes, die von den Passagieren mobilisiert werden. Wie wir sehen werden, fungierten die vielfältigen Kulturtechniken des Anblickens, Wegschauens und Starrens zugleich auch als Instrumente sozia­ler Kontrolle.

Soundscapes ihrer Gebäude berücksichtigen. Vgl. Thibaud, Jean-­Paul: »The Sonic Composi­tion of the City«, in: Michael Bull und Less Back (Hrsg.): The Auditory Culture Reader, Oxford und New York: Berg 2003, S. 329 – 342. Wie der Historiker Daniel Morat konstatiert, galt diese Vernachlässigung auch lange Zeit für die histo­ rische Forschung des Hörens. Morat, Daniel: »Geschichte des Hörens. Ein Forschungsbericht«, Archiv für Sozia­lgeschichte 51 (2011), S. 695 – 716. 47 Tanenbaum, Susie J.: Underground Harmonies. Music and Politics in the Subways of New York, Ithaca: Cornell University Press 1995. 48 Bemerkenswerterweise fand sich das Musizierverbot unter den gleichen Paragraphen wie die Untersagung des Betteln und Hausierens. Vgl. Ebd., S. 40. 49 Vgl. Ebd.

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2. Strategien des Blickes The First Commandment: »Thou Shalt Not Stare.«50

Ähn­lich wie für die Sinneseindrücke des Hörens und Riechens entfalten sich in den Territorien der Subway komplexe Dispositive der Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Diese sind zugleich technischen wie situativen Dynamiken unterworfen und zeichnen sich zudem durch eine hohe geschicht­liche Wandelbarkeit aus. Auf diesen Moment weist auch die Kulturwissenschaftlerin Regula Burri hin: »Der Blick ist unter dieser Perspektive als ein historisch-­kulturelles Phänomen zu verstehen, weil jede Epoche ihr eigenes Verhältnis zum Sehsinn und damit ein spezifisches Blickregime entwickelt, das auch durch technische Entwicklungen geprägt wird.«51 Wenn dies stimmt, müsste sich zeigen lassen, dass sich für die Subwaypassagiere des Maschinenzeitalters jeweils eigene Sinnesdispositive und Aufmerksamkeitsökonomien des Blickes herausgebildet haben. Und in der Tat lassen sich unzählige Zeugnisse dieser neuen visuellen Techniken in der Subway finden. Diese lassen sich grob in zwei Bereiche unterteilen. Sie umfassen zum einen das Entziffern der materiell-­semiotischen Zeichensysteme, wie Beschilderungen, Hinweisschilder, Wegweiser oder Werbeplakate. Zum anderen strukturieren sie die Praktiken des Sehens und Angesehen-­Werdens ­zwischen den Passagieren. Während dem erstgenannten Moment in den darauffolgenden Abschnitten ­dieses Kapitels nachgegangen wird, sollen hier zunächst die komplexen Strategien des Blickes und die dadurch realisierten sozia­len Interak­tionen der Passagiere skizziert werden. Die Sonderstellung des Blickes in den anonymisierten Interak­tionsformen moderner Metropolen betont bereits Simmel.52 Er stellt heraus, dass gerade das Auge ein hochgradig sozia­les Sinnesorgan ist, welches durch die Mög­lichkeit des Sich-­Anblickens eine einzigartige gesellschaft­liche Leistung vollbringt. Es ist nicht nur durch die visuellen Eindrücke des Transits gefordert, sondern kann ­sozia­le Wechselwirkung mit den Mitreisenden hervorbringen. Dabei ist die sinn­liche Wahrnehmung des Gegenübers, welche in dieser Form nur in 50 Dwyer, Jim: Subway Lives. 24 Hours in the Life of the New York City Subway, New York: Crown 1991, S. 121. 51 Burri, Regula Valérie: Doing Images: Zur Praxis medizinischer Bilder, Bielefeld: transcript 2008, S. 17. Siehe dazu auch ausführ­licher den sehr inspirierenden Aufsatz: Duden, Barbara und Il­lich, Ivan: »Die skopische Vergangenheit Europas und die Ethik der Opsis. Plädoyer für eine Geschichte des Blickes und Blickens.«, Historische Anthropologie 3/2 (1995), S. 203 – 221. 52 Vgl.: Simmel: Soziologie, S. 484 ff.

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direkter Nähe mög­lich ist, von entscheidender Bedeutung. Hier erweist sich das reziproke Anblicken des Anderen als prägnanter sinn­licher Eindruck, der von besonderer Intimität und Nähe ist: »Das Auge entschleiert dem Anderen die Seele, die ihn zu entschleiern sucht.«53 Für Simmel ist diese Nähe nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der Blick auf den anderen selbst ein Ausdruck ist, den man nur an der Reak­tion des anderen erkennen kann. Der Blick auf das Gegenüber wird so Spiegel und Erkenntnis des eigenen Selbst. Damit erweist sich das Anblicken als vertrau­licher Akt, der gerade im flüchtigen Kontakt zu einer Vielzahl von Menschen mit der Absicht der Distanzwahrung vermieden wird. Als »Vogel-­Strauß-­Politik«54 lässt sich das Wegsehen und Vermeiden des Augenkontakts als Ausdruck des Selbstschutzes und des Wunsches nach Anonymität der Passagiere deuten. So kann doch gerade in der Subway das bewusste Anstarren des anderen als Aggression und Angriff interpretiert werden. Die Hülle der Anonymität und Isola­tion, die die Passagiere um sich erzeugen, wird brüchig und bedarf Techniken, das eigene Gesicht mit dem Ausdruck des Unbewegten und Distanzierten zu versehen. Nur mit der Kontrolle des Blickes ins Unbestimmte oder mit dem Ausdruck des uninteressierten Betrachtens lässt sich die s­ ozia­le Distanz zum anderen einhalten und die räum­liche Nähe ertragen. Als stummes Einverständnis mit dem Gegenüber ist das gegenseitige Anblicken zwar geduldet, der Augenkontakt oder das Gespräch aber mög­lichst zu vermeiden.55 Für Simmel ist dies eine historisch neue Verhaltensweise, die wesent­lich durch die Entwicklung des modernen Transits befördert wird: Vor der Ausbildung der Omnibusse, Eisenbahnen und Straßenbahnen im 19. Jahrhundert waren Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen. Der moderne Verkehr gibt, was den weit überwiegenden Teil aller sinn­lichen Rela­tionen ­zwischen Mensch und Mensch betrifft, diese in noch immer wachsendem Maße dem bloßen Gesichtssinne anheim und muss damit die generellen soziolo­gischen Gefühle auf ganz veränderte Voraussetzungen stellen.56 53 Ebd., S. 485. 54 Ebd. 55 Die Fähigkeit des Schweigens inmitten großer Menschenmassen kann als Kulturtechnik bezeichnet werden, die vor allem durch die Urbanisierung befördert wird: »Reden ist Natur, Schweigen ist Kunst« stellte auch schon Moritz Lazarus fest: Über Gespräche, S. 21. 56 Simmel: Soziologie, S. 486. Auch Walter Benjamin zitiert in seinem Aufsatz zum Flaneur diese Beschreibung Simmels, allerdings eher um den Habitus des Flaneurs davon abzuheben. Vgl.: Benjamin, Walter: »Der Flaneur«, Aura und Reflexion: Schriften

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Diese Diagnose des stummen Blicks der Passagiere teilt Simmel mit Erving Goffman, der jedoch zudem in der Steigerung des Anblickens, dem Starren, einen ungehörigen und transgressiven Akt öffent­lichen Miteinanders erkennt. Wenn Goffman das Anstarren der Mitpassagiere als Verstoß gegen ­sozia­le Normen beschreibt, so gilt dies allerdings nur, wenn man von der Person, die man unverhohlen anblickt, bemerkt wird: Dabei ist davon auszugehen, dass direktes Anstarren zwar zu vermeiden ist, dass man aber vor denen, die man nicht anstarrt, sein Anstarren nicht zu vermeiden braucht. Eine verbreitete Maßnahme zum Schutz davor, beim Anstarren ertappt zu werden, besteht darin, dass man so tut, als verschaffe man sich einen Überblick, wobei es dann so aussieht, als fiele der Blick bloß durch einen Zufall gerade in dem Moment auf das Opfer, in dem d­ ieses den, der sich einen Überblick verschafft, ansieht.57

Bemerkenswert an dieser detaillierten Beschreibung des komplexen Regelwerks visueller Interak­tionen ist, dass mehr als ein halbes Jahrhundert nach Simmels Beobachtung das direkte Anblicken der Mitpassagiere offenbar als wesent­lich pein­licher und ungebühr­licher gilt als noch um 1900. Das stumme Anblicken ist nun durch Kulturtechniken des Ausweichens und Vermeidens des Ansehens ersetzt worden. Diese Verschiebung weist auch darauf hin, dass diese Praktik nun zunehmend als aggressiver und übergriffiger Akt empfunden wird. Zugleich operiert das Starren als Instrument der wechselseitigen Disziplinierung der Passagiere. Wenn diese Praktik bei den Angestarrten das Gefühl der Scham evoziert, kann man sie dazu einsetzen, ­sozia­le Kontrolle herzustellen und abweichendes Verhalten sozusagen augenblick­lich zu sank­tionieren.58 Goffman gibt dafür ein eindring­liches Beispiel, wenn er die Biographie eines Kleinwüchsigen zitiert, der sich mit Hilfe dieser Praktik den Zudring­lichkeiten der Mitpassagiere in der New Yorker Subway erwehrt: »Ich hatte meine Standardverteidigung – kaltes Starren, so konnte ich es mit dem Grundproblem aufnehmen – lebend in die Untergrundbahn hinein und wieder heraus zu gelangen.«59 Angesichts dieser komplexen Eindrücke sahen sich gerade die frühen Subway­ passagiere gezwungen, Techniken zu entwickeln, die ihre sinn­liche Ökonomie zur Ästhetik und Kunstphilosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 269 – 299, hier S. 271. 57 Goffman, Erving: Das Individuum im öffent­lichen Austausch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 178 f. 58 Goffman, Erving: Verhalten in sozia­len Situa­tionen: Strukturen und Regeln der Interak­ tion im öffent­lichen Raum, Gütersloh: Bertelsmann 1971, S. 88. 59 H. Virscardi Jr.: A Man’s Stature, New York: John Day 1952, S.70, zitiert in Ebd., S. 89.

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neu strukturierten. In der Bestrebung, die Dauer und Strapazen des Transits zu minimieren oder gar gänz­lich zum Verschwinden zu bringen, bildeten sie Praktiken der Kontempla­tion und Selbstbezogenheit heraus. Allen voran sollte sich das Lesen als jene Kulturtechnik erweisen, die es am besten ermög­lichte, sich von den sozia­len wie visuellen Anforderungen des Transits zu emanzipieren. Dies setzte jedoch eine gewisse Gelassenheitskompetenz auf Seiten der Passagiere voraus, wie auch die Umweltpsychologin Susan Seagert betont: »The experienced subway rider, for example, may learn to read on a crowded subway, but not, I suspect, without learning to increase control of his atten­tion.«60 Bereits Schivelbusch hat herausgestellt, dass die Praktiken der Reiselektüre mindestens genauso alt sind wie die Eisenbahn selbst.61 Ihr Erscheinen mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Subway war bereits eine Reak­tion auf das Verschwinden des Reisegesprächs, vor allem in den Abteilen der gehobenen Klassen. Im Unterscheid zu den sinn­lichen Erfahrungen der Eisenbahnreise oder der Hochbahnen bietet sich jedoch in den unterirdischen Röhren kein panoramischer Ausblick, sodass das Lesen noch stärkere Verbreitung fand. Glaubt man der New York Times, war die Zunahme der Lektürepraktiken bereits am Eröffnungstag der New Yorker Subway augenschein­lich: »›Mark my words‹, said the observant citizen, ›the Subway is going to boom the newspaper business. When you get in, there’s nothing to look at except the people, and that’s soon a tiresome job.‹«62 Diese Prophezeiung sollte sich in den Folgejahren in der Tat bewahrheiten. Im Jahr 1919, wenige Monate nachdem die Subway die Rekordmarke von einer Milliarde Passagieren jähr­lich durchbrach, erschien mit der New York Daily News die erste kleinformatige Boulevardzeitung der Stadt. Im Gegensatz zu den großformatigen Ausgaben der New York Times erlaubte ihre kompakte Form eine einfachere Handhabung in den Waggons und war dementsprechend vor allem bei den Pendlern sehr beliebt.63 Die Veralltäg­lichung des Lesens antwortet so auf die komplexe sozio-­materielle Situa­tion in den Sta­tionen und Waggons. Wenn sich innerhalb kürzester Zeit die Aufmerksamkeitsökonomien der Passagiere auf Zeitungen, Magazine und Bücher ausrichten, so auch darum, weil sie eine Selbstbezüg­lichkeit ermög­lichen, die angesichts der Strapazen des Transits dringend erforder­lich war. Sie bildete in gewisser Weise einen materiellen 60 Saegert, Susan: »Crowding: Cognitive Overload and Behavioral Constraint«, Environmental Design Research 2 (1973), S. 254 – 261, hier S. 256. 61 Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 62. 62 [Anonym]: »Things Seen and Heard Along the Underground«, The New York Times (28. Oktober 1904). 63 Vgl. Dwyer: Subway Lives. 24 Hours in the Life of the New York City Subway, S.  153 f; Rivo, Steve: »Daily News«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 307 – 308.

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Abb. 25.: Stanley Kubrick: Life and Love on the New York City Subway. Passengers reading in a Subway Car. 1946.

Reizschutz, der half, ungewollten Kontakt zu vermeiden: »The Newspaper is the chador of the subway car, the perfect psychic veil, armor against unwanted intimacy. No one is fully dressed in the subway without something to read.«64 Wie stark sich die Zeitung als unverzichtbares Inventar zahlreicher Passagiere durchgesetzt hatte, bezeugt auch eine Fotoserie aus dem Jahre 1946 des damals noch minderjährigen Regisseurs Stanley Kubrick (Abb. 25). Damit werden die Sinnestechniken des industriellen Bewusstseins, die sich bereits bei den früheren Eisenbahnpassagieren etabliert hatten, in den Territorien der New Yorker Subway in verstärkter Form wirksam. Zugleich wird deutlich, dass sich die Kulturtechniken der Sinnesmodulation und des Containment als zentrale Strategien der Passagiersubjekte erwiesen, um die Anforderungen maschinellen Transits zu bewältigen. Dies betraf sowohl ihre Wahrnehmungen wie auch ihre sozialen Interaktionen. Auch Goffman beobachtet diese neuen Verhaltensmuster in den Metropolen der amerikanischen Ostküste und bringt sie als »civil inattention« auf den Begriff.65 Diese höfliche Gleichgültigkeit 66 bestand 64 Dwyer: Subway Lives. 24 Hours in the Life of the New York City Subway, S. 153. 65 Goffman, Erving: Relations in Public: Microstudies of the Public Order, New York: HarperCollins Publishers 1972, S. 385 ff. 66 Der Begriff des »civil inattention« wird in den Übertragungen Goffmans ins Deutsche meist als »höfliche Unaufmerksamkeit« übersetzt. Wie jedoch Hubert A. Knoblauch

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aus dem gegebenenfalls kommunizierten Signal des Bemerkens der umgeben­ den Personen, um sie danach vollständig zu ignorieren. Diese Praktiken, die in Warteräumen und Aufzügen ebenso wie ­zwischen den Passagieren der Subway mobilisiert werden, sind dabei meist non-­verbaler Natur: das kurze Anblicken der Mitreisenden, das Ausweichen und mög­lichst berührungsfreie Navigieren in der Masse, das Aufstehen von einem Sitz für Ältere oder Frauen usw. Trotz des Bestrebens der Vermeidung körper­liche Berührungen ­zwischen den Passagieren passierten diese jedoch aufgrund der unruhigen Fahrt und der Überfüllung zwangsläufig. Sie wurden jedoch nicht als Unhöf­lichkeit gedeutet, sondern als ein zu akzeptierendes Moment urbanen Alltags.67 Dies erforderte aber auch eine Modula­tion der Sensibilität des Berührungssinns.68 Dass die Passagiere eine bemerkenswerte Indifferenz gegenüber den zahlreichen Sinnesanforderungen des Transits herausbildeten, lässt sich als weiterer Indikator des Containments verstehen, das dem Kulturtheoretiker Hannes Böhringer zufolge eine inhärente Funk­tion des Containers ist: Und wo immer er abgestellt wird, wirkt er wie ein Magnet der Gleichgültigkeit. Er färbt auf Ladung und Umgebung ab. Die Dinge in und um ihn herum verlieren ihren Halt aneinander, erscheinen isoliert und fremd, sie werden ebenfalls zu indifferenten Behältern von austauschbaren Bedeutungen, inneren Funk­tionen und äußeren Verkleidungen.69

Im Subjektcode der Containerisierung entfaltet sich also eine Spielart jener distanzierten Sach­lichkeit, die auch Lethen als Reak­tion auf eine neue urbane Mobilitätskultur bestimmt: »Der Verkehr verwandelt Moral in Sach­lichkeit und herausstellt, trifft der Begriff der »höf­lichen Gleichgültigkeit« das Gemeinte besser, sodass im Folgenden diese Übersetzung bevorzugt wird. Knoblauch, Herbert A.: »Erving Goffmans Reich der Interak­tion – Einführung«, in: Erving Goffman: Interak­ tion und Geschlecht, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2001, S. 7 – 49, hier S. 21 f. 67 Dieses Verhalten wird auch von Lyn Lofland beschrieben und als »Cooperative Motility« bezeichnet. Es meint: »the idea that strangers work together to traverse space without incident.« Lofland, Lyn H.: The Public Realm: Exploring the City’s Quintessential Social Territory, Piscataway, New Jersey: Transac­tion Publishers 1998, S. 29. 68 Dass die Erfahrung des Körperkontakts im Strom der Passagiermassen als unvermeidbar und damit als tolerabel erscheint, ist sicher auch der Tatsache geschuldet, dass »der Berührungssinn, phänomenolo­gisch gesehen, vornehm­lich im Modus des Fließens und Strömens agiert«, wie Hartmut Böhme herausgestellt hat. Böhme, Hartmut: »Der Tastsinn im Gefüge der Sinne: Anthropolo­gische und historische Ansichten vorsprach­licher Aisthesis«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundes­ republik Deutschland (Hrsg.): Tasten, Bd. 7, Schriftenreihe Forum., Göttingen: Steidl, S. 185 – 210, hier S. 191. 69 Böhringer, Hannes: Orgel und Container, Berlin: Merve 1993, S. 12.

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erzwingt funk­tionsgerechtes Verhalten.«70 Dies trifft jedoch nicht nur für die Eindrücke zu, die von den Mitpassagieren ausgehen und deren es sich durch Techniken der Isola­tion und Abschottung zu erwehren gilt. Der nächste Abschnitt wird zeigen, dass sie auch in Bezug auf die vielfältigen Zeichensysteme mobilisiert werden, die nach der Eröffnung rasch überall in der Subway Verbreitung finden.

3. Visuelle Regime Bereits die ersten Passagiere der Subway waren beim Betreten des Systems mit einer Fülle von visuellen Signalen konfrontiert: mit Richtungsanzeigen, Warnhinweisen, Werbung und vielem mehr. Sie gaben den Menschen nicht nur Informa­tionen, die für ihre Passage durch das System von entscheidender Bedeutung waren, sondern forderten von ihnen auch spezifische Verhaltensweisen ein. Wie zu zeigen sein wird, fungierten diese Artefakte zudem als zentrale Subjektivierungsinstanzen der Passagiere. All diese Funk­tionen rechtfertigen es, von diesen Zeichensystemen als visuelle Regime zu sprechen. Wie die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-­Medick hervorhebt, erlaubt die Verwendung ­dieses Begriff eine Fokussierung auf die subjektivierenden Qualitäten der Wahrnehmung: »Ins Visier kommt damit der umfassendere Bedingungszusammenhang von Visualisierungsvorgängen in ihren kulturspezifischen Techniken und Praktiken, aber auch in ihren gesellschaft­lichen Machtverhältnissen, wie sie sich nicht zuletzt in Formen des ›Blicks‹ verkörpern.«71 Die visuellen Regime, die im Verlauf des Maschinenzeitalters überall im System installiert werden und dabei in höchstem Maße semiotischen wie materiellen Dynamiken unterliegen, lassen sich als Formen von Technologie verstehen, die in vielfacher Weise produktiv werden. So verbinden die Zeichensysteme die virtuelle Ebene von Informa­tion und Wissensformen mit den realen Bewegungen und Interak­tionen der Passagiere. Damit konstituieren sie die Räume der Subway als hybride Settings, in denen sich Architektur und Zeichen ­­ sowie Text und Territorium zu komplexen Gefügen verschränken. Dies betonen auch die franzö­sischen Soziologen Jérôme Denis und David Pontille: »The signboards or the street nameplates can thus be seen as utter components of the performance 70 Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 45. 71 Bachmann-­Medick, Doris: »Was heißt ›Iconic/Visual Turn‹?«, Gegenworte 20 (2008), S. 10 – 15, hier S. 12. Den Begriff des visuellen Regimes verwendet zudem Nanna Verhoeff in ihrer Analyse von Bildschirmen im öffent­lichen Raum, wenn auch leicht anders konnotiert. Vgl: Verhoeff, Nanna: Mobile Screens: The Visual Regime of Naviga­tion, Amsterdam: Amsterdam University Press 2012.

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of modern public spaces. Urban signs both order physical spaces and configure the ac­tion of their dwellers.«72 Diese Konfigura­tionen operieren vor allem über die Bereitstellung spezifischer Skripte, die nicht nur entscheidend an der sozia­len wie semiotischen Ordnung im Transit beteiligt sind, sondern auch versuchen, die Praktiken und mora­lischen Einstellungen der Passagiere zu steuern. Wenn Madeleine Akrich herausstellt, dass Skripte sowohl auf die Konfigura­tion der Benutzer abzielen sowie auf den Raum, in dem sie sich bewegen,73 trifft dies auf die visuellen Regime der Subway in besonderem Maße zu. Schaut man genauer auf die Zeichenregime der Wegweiser, Hinweisschilder, Transitkarten und Reklametafeln, stößt man auf eine Fülle von heterogenen Inskrip­tionen, die die Passagiere in durchaus vielfältiger Weise adressieren. Dies reicht von Spuckverboten und Ratschlägen zur Etiquette bis zu patriotischen und konsumistischen Apellen. Gerade Letztere werden auf Seiten der Passagiere wütende Proteste auslösen. Um diese Momente angemessen erfassen zu können, ist zunächst eine Klassi­ fika­tion der Zeichensysteme in der Subway notwendig.74 So lassen sich erstens ­­Zeichen mit einer primären Orientierungsfunk­tion ausmachen, wie Wegweiser, Transitkarten oder Identifika­tionsschilder für die Sta­tionen und Linien. Gerade in den ersten Jahrzehnten der Subway sind diese Artefakte immer wieder Gegenstand von Beschwerden. Vor allem die unkoordinierten und oftmals widersprüch­ lichen Ausschilderungen der drei unabhängigen Teilsysteme sorgen immer wieder für Frustra­tion auf Seiten der Passagiere. Zweitens finden sich in der New Yorker Subway Zeichensysteme, die Warnungen oder Verbote kommunizieren. Sie geben auch Hinweise über verbotene oder gefähr­liche Verhaltensformen sowie Fahrplanänderungen oder Störungen. Mit der Plakatserie der Subway Sun findet sich in der New Yorker Subway noch ein besonderes Artefakt. So transportieren diese Aushänge in hunderten Auflagen über mehrere Dekaden hinweg nicht nur Nachrichten der Subwaybetreiber, sondern sie versuchen die 72 Denis, Jérôme und Pontille, David: »The Graphical Performa­tion of a Public Space. The Subway Signs and their Scripts«, Urban Plots, Organizing Cities (2010), S.  11 – 22, hier S. 12. 73 Akrich, Madeleine: »Die De-­Skrip­tion technischer Objekte«, in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-­ Netzwerk-­Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 407 – 428. 74 Schaut man in die Literatur zur logistischen Organisa­tion von Zeichensystemen, findet man eine unübersicht­liche Vielfalt mög­licher Klassifika­tionsvorschläge. Die folgende Einteilung orientiert sich in weiten Teilen an: Zeng, Q. u. a.: »Performance Evalua­tion of Subway Signage: Part I-Methodology«, Transporta­tion Research Board 90th Annual Meeting (2011), ftp://ftp.hsrc.unc.edu/pub/TRB2011/data/papers/11 – 0588. pdf (letzter Zugriff: 5. 12. 2012).

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Passagiere auch mit Werten und Normen wie Pünkt­lichkeit, Fahnentreue und Höf­lichkeit zu erziehen. Drittens wird bereits am Tag nach der Eröffnung eine Vielzahl von Reklameschildern in der Subway installiert. Diese zielen darauf ab, die Sphären des Transits in die Konsumkultur der expandierenden Metropole New Yorks zu integrieren, trotz der massiven Wiederstände der Passagiere. Wenn in den folgenden Abschnitten diese drei Typen von Zeichensystemen nacheinander genauer beleuchtet und ihre historischen Dynamiken aufgezeigt werden, so geschieht dies jeweils im Hinblick auf ihre diskursiven, performativen sowie normativen Skripte. So sind all diese Artefakte zunächst durch eine diskursive Funk­tion gekennzeichnet, d. h., sie sind dazu da, um mit den Passagieren zu kommunizieren, sei es durch Verbote, Warnungen oder Richtungsanzeigen. Unter dieser Perspektive operieren die Zeichensysteme vor allem als Texte und führen eine diskursive Ordnung in die Umwelten der Passagiere ein.75 Indem sich so die Raumordnungen der Stadt mit den Schriftordnungen des Transits überblenden, werden die Fahrpläne, Ausschilderungen und Transitkarten zu essenziellen Instrumenten der Naviga­tion wie Imagina­tion des urbanen Untergrunds. Neben ihrer Diskursivität sind diese Skripte zugleich performativ, indem sie nicht nur Informa­tionen geben, sondern konkret darauf abzielen, die Praktiken der Passagiere zu strukturieren. Dies betrifft vor allem ihre mög­lichst reibungslosen und gleichmäßigen Zirkula­tionen durch das System. Das Subjektverständnis, dem diese Idee zugrunde liegt, codiert die Passagiere als reaktive Subjekte, die durch eben diese Regime navigiert und kontrolliert werden können. Zugleich werden in die Zeichensysteme auch Handlungsskripte inkorporiert, die darauf abzielen, die Interak­tionen mit der materiellen Umgebung, den Mitpassagieren oder dem Subwaypersonal zu strukturieren. Zuletzt zeichnen sich diese visuellen Regime durch einen normativen Charakter aus. Indem sie Verbote, Empfehlungen und Verhaltensnormen kommunizieren, fungieren sie auch als Instanzen der Subjektivierung. Wie zu zeigen sein wird, entwerfen sie dabei ein Idealbild des Passagiers, dessen antizipierte Merkmale weit über den ordnungsgemäßen Umgang mit den Maschinerien des Subwaysystems hinausgehen. Vor allem am Beispiel der Subway Sun sowie den Werbetafeln wird deut­lich werden, dass die visuellen Regime des Transits durchaus heterogene Subjektmodelle bereitstellen, welche die Menschen in der Subway nicht allein als Passagiere adressieren, sondern ebenso als Steuerzahler, Konsumenten oder Patrioten. Damit propagieren sie zugleich gesamtgesellschaft­ liche Normen und Werte, zu denen sich die Subjekte verhalten müssen. 75 Denis/Pontille: »The Graphical Performa­tion of a Public Space. The Subway Signs and their Scripts«, S. 5.

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Wenn all diese Skripte der visuellen Regime darauf abzielen, die diskursiven Wahrnehmungen, performativen Praktiken und normativen Subjektposi­tionen der Passagiere zu strukturieren, so sind doch ihre Geltung sowie ihre Wirksamkeit zunächst nicht ausgemacht. Damit die Imperative, die in den Zeichenregimen inskribiert sind, auch beachtet und befolgt werden, müssen sie mit Autorität und Legitima­tion ausgestattet sein. Dies geschah zum einen durch das starke Bedürfnis der Passagiere nach Sicherheit und Orientierung. Zum anderen waren diese Beschilderungen qua ihrer sichtbaren Autorschaft durch die Subwaybetreiber mit einer imperativen Kraft ausgestattet, die im Zweifelsfall durch polizei­liche wie juristische Instanzen durchgesetzt werden konnte. Dies trifft insbesondere für die zahlreichen Verbots- und Hinweisschilder zu, die in den Sta­tionen und Waggons geradezu ubiquitär verbreitet waren. Nur wenn die Passagiere die Autorität dieser ­­Zeichen anerkannten und ihren Skripten folgten, konnten sie in die sozia­len und semiotischen Ordnungsmodelle der Subway integriert werden. Dass sie dies aus freien Stücken taten, ist nicht zuletzt den Erfahrungen von Fremdheit und Orientierungsverlust geschuldet, wie Gillian Fuller betont: »Graphical signage cools down the anxiety of unfamiliar terrains and replaces it with a familiar authority—the sovereign structures of transit systems.«76 Die Funk­tionen der Orientierung und Selbstvergewisserung setzten jedoch auf Seiten der Subjekte eine spezifische Kompetenz voraus, diese Zeichensysteme in ihrer diskursiven, performativen und normativen Funk­tion zu entschlüsseln. Dies mag zunächst banal klingen, allerdings erweisen sich diese Decodierungspraktiken als in hohem Maße voraussetzungsvoll. Um die Beschilderungen, Karten und Hinweise zu entziffern und sinnhaft werden zu lassen, ist nicht nur eine Vertrautheit mit der Sprache und den Piktogrammen erforder­lich, dies setzt auch ein grundlegendes Verständnis der Organisa­tion moderner urbaner Räume voraus. Zugleich macht dies eine Vorstellung der technischen Funk­tionsweise subterranen Massentransits notwendig, um diese ­­Zeichen auch in Beziehung zur oberirdischen Stadt setzen zu können. Erst wenn dies gegeben ist, können die visuellen Regime ihre performative wie normative Wirkung entfalten. Dass diese Kulturtechnik von den ersten Passagieren jedoch erst mühsam erlernt werden musste, verdeut­licht der nächste Abschnitt ­dieses Kapitels. Gleichzeitig wird gezeigt, wie schwer die Etablierung eines effizienten und standardisierten Orientierungssystems zu realisieren war. Dies betrifft zwar im Besonderen die New Yorker Subway, allerdings finden sich auch in den Frühphasen der Pariser, Londoner oder Berliner Systeme immer wieder Schilderungen der Verwirrung 76 Fuller, Gillian: »The Arrow-­Direc­tional Semiotics: Wayfinding in Transit«, Social Semiotics 12/3 (2002), S. 231 – 244, hier S. 223. Zu der Funk­tion von Zeichensystemen an Flughäfen vgl.: Fuller, Gillian: Aviopolis. A book about Airports, London 2004.

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und Orientierungslosigkeit der Passagiere.77 Dies sollte dazu führen, dass neben der Hölle auch das Labyrinth zu einer dominanten Metapher für die Erlebniswelten des urbanen Untergrunds wurde. Semiotische Labyrinthe »Die Stadt«, so verfügte Walter Benjamin in seinen Notizen zum Passagen-­Werk, »ist die Realisierung des alten Menschheitstraums vom Labyrinth.«78 Galt dies bereits für das Paris des 19. Jahrhunderts, kam man mit dem Bau der Untergrundbahnen in den west­lichen Metropolen mehrere Dekaden s­ päter ­diesem Traum noch ein ganzes Stück näher. Gerade das New Yorker Subwaysystem mit seiner beständig wachsenden Komplexität aus verschiedenen Betreibern, dutzenden Linien, hunderten Sta­tionen und einem ausgeklügelten Netz von lokalen und Expresszügen rief bei den Passagieren immer wieder Desorientierung und Konfusion hervor. Wie bereits weiter oben beschrieben, war dies zunächst der ungewohnten rasanten Geschwindigkeit sowie der spezifischen Territorialität der Subway geschuldet. Wie stark das Gefühl der Orientierungslosigkeit in den subterranen Apparaturen des Transits war, wird bereits am Eröffnungstag offenkundig. So berichtet die New York Times: »›The funniest thing to me‹, said an employee of the Subway at Grand Central, ›is the ques­tions the people ask. Summarized, they are: Where am I at? They want to know whether they are on the east or west side of the city, which is up town and which is down.‹«79 Diese verwirrenden Erfahrungen der Deterritorialisierung wurden nicht zuletzt durch die Heterogenität der Beschilderungen evoziert, mit denen die Passagiere adressiert wurden. Dabei ist bemerkenswert, dass im Zuge der Expansion der Subway die Imperative der Normierung und Effizienz zwar überall ihre Wirkung entfalteten, der Bereich des Designs der Karten, Wegweiser und Beschilderungen davon aber weitestgehend ausgenommen blieb. Während die Paradigmen des Maschinenzeitalters rigoros in die Gestaltungen der Waggons und Sta­tionen implementiert wurden, erwiesen sich die Beschilderungen und Orientierungszeichen als anachronistische Artefakte inmitten eines Systems, das in technischer Hinsicht als das Avancierteste der Welt galt. Beschwerden der Passagiere über die Unübersicht­lichkeit und das Chaos der Zeichensysteme 77 Vgl. dazu ausführ­licher Bobrick, Benson: Labyrinths of Iron. Subways in History, Myth, Art, Technology, & War, New York: Henry Holtand Company, Inc. 1994; Pike: Metropolis on the Styx. The Underworlds of Modern Urban Culture, 1800 – 2001. 78 Benjamin: Das Passagen-­Werk, S. 541. 79 [Anonym]: »Things Seen and Heard Along the Underground«.

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waren schon zur Eröffnung laut geworden und sollten in den nächsten Dekaden massiv zunehmen.80 Zudem wurde in den ersten Jahren der Subway noch eine Vielzahl anderer Zeichensysteme installiert, wie Aushänge, Warnungen oder Werbe­tafeln. Dass diese oftmals direkt neben oder über den Orientierungsschildern angebracht waren, unterstützte den labyrinthischen Eindruck des Systems noch. Um den Passagieren die Orientierung zu erleichtern, waren bereits die ersten Architekten des Systems, Heins & LaFarge, bestrebt, jede Sta­tion unterschied­ lich zu gestalten und mit einem jeweils eigenen Charakter zu versehen. Dies schloss auch die Verwendung mög­lichst verschiedener Stile für die Ausschilderungen mit ein. Als gemeinsames gestalterisches Prinzip sollten großformatige ornamentale Keramikmosaike dienen, in denen die Namen der Sta­tionen und Fahrtrichtungen eingelassen wurden.81 Auch wenn diese Gestaltung bereits zur Eröffnung als unpraktisch und anachronistisch empfunden wurde, wagte es der Nachfolger von Heins & LaFarge, Squire J. Vickers, nicht, sie gänz­lich aufzugeben. In der Hoffnung, die Unübersicht­lichkeit dennoch ein wenig einzudämmen, ersetzte er die oftmals verspielten Motive, Schriften und Ornamente mit einer klaren und schmucklosen Beschilderung. Währenddessen nahm das Dickicht der ­­Zeichen im Zuge der Erweiterung des Systems und der Eröffnung des Streckennetzes der BRT weiter zu. Für die Gestaltung der IND ließ Vickers die Ornamente endgültig hinter sich und installierte stattdessen einen komplexen visuellen Code, nach dem jeder Sta­tion eine spezifische Farbe zugeordnet war. Dessen Systematik blieb den Passagieren jedoch weitgehend verschlossen. Dass die visuellen Orientierungssysteme in der Subway für die damaligen Passagiere verwirrend und überfordernd waren, betont auch ein Report des New Yorker City Club aus dem Jahre 1907. Er bemängelt vor allem die zu wenigen und schlecht posi­tionierten Ausschilderungen in den Waggons und Sta­tionen, die immer wieder zu Verspätungen führen würden: »The insufficiency of these is shown by the number of ques­tions that are asked of the guards, resulting in 80 Vgl. Giovannini, Joseph und Amash, Carissa: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, New York: Stewart, Tabori & Chang 2004, S.  138 ff. 81 Heine & LaFarge gaben diesen Beschilderungen oftmals kleine Ornamente bei, die auf die Geschichte der Sta­tionsumgebung verwiesen, wie beispielsweise ein Bibermotiv in der Sta­tion Astors Place, das auf den Ursprung der New Yorker Millio­ närsfamilie Astor im Pelzhandel anspielte. Zu den Ornamenten in der Subway vgl. das umfassende Kompendium aus dem NYTMA: Coppola, Philip Ashforth: Silver Connec­tions: A Fresh Perspective on the New York Area Subway Systems, Bd. 3, Maplewood, New Jersey: The Four Oceans Press 1988.

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Abb. 26: Zeichensysteme in der New York City Subway in den 1940ern. Zahlreiche überlappende Aushänge trugen ebenso zum labyrinthischen Charakter des Systems bei wie eine beständig wuchernde Anzahl von Hinweisschildern.

delays to the trains.«82 In den Augen der Logistiker des City Clubs galt die Kommunikation mit anderen Passagieren oder dem Subwaypersonal als Indiz für die Mangelhaftigkeit der Zeichensysteme. Sie strebten stattdessen ein Ideal des Passagiers an, der so kompetent in der Entzifferung und Befolgung der Skripte in den Beschilderungen war, dass er auf soziale Interaktion vollständig verzichten konnte. Dass die Passagiere aber in der Navigation der unterirdischen Labyrinthe auf regen Austausch angewiesen waren, wurde auch dadurch begünstigt, dass nicht nur die Gestaltungen der Beschilderungen stark voneinander abwichen, sondern auch die Informationen selbst oftmals widersprüchlich waren (Abb. 26). Richtungen und Stationsnamen sowie die verwendeten Abkürzungen waren uneindeutig, Schilder wurden oftmals überklebt oder halbherzig übermalt.83 82 The City Club of New York: New York City Transit: A Memorandum adressed to the Public Service Commission of the First District, New York City 1907, S. 19. 83 Vgl. Shaw, Paul: Helvetica and the New York City Subway System, Cambridge, Mass.: The MIT Press 2011, S. 9 ff.

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Zwar versuchten die Betreiber immer wieder, Richtlinien für das Design und die Posi­tionierung der Beschilderungen durchzusetzen, die Sta­tionsaufseher und Wartungsarbeiter hielten sich jedoch kaum daran. Stattdessen verwendeten sie häufig improvisierte Beschilderungen oder schwer entzifferbare handschrift­ liche Aushänge. Dies trieb nicht nur die vom Geist systemischer Gestaltung imprägnierten Architekten und Designer zur Verzweiflung, sondern auch Millio­ nen von Passagieren.84 In ­diesem Labyrinth scheinen auch die Transitkarten keine große Hilfe gewesen zu sein: Nicht nur fehlten sie meist in den Sta­tionen, auch verging nach der Eröffnung mehr als ein Jahrzehnt, bis die Betreiber überhaupt begannen, portable Karten an ihre Passagiere zu verteilen. Stattdessen überließen sie die Herstellung und Verteilung lieber verschiedenen Firmen, wie Hotels, Kaufhäuser oder Reiseagenturen.85 Als die IRT und BRT nach vielen Jahren doch begannen, eigene Karten zu entwerfen, hätten diese hinsicht­lich ihrer Gestaltung kaum unterschied­licher sein können. So entschieden sich die Designer der BRT im Jahre 1919 für eine hochabstrakte Transitkarte, die auf Straßen, Orientierungspunkte oder Maßstabsangaben völlig verzichtete und nichts als die ovalen Umrisse Manhattans mitsamt Linien und Sta­tionen zeigte (Abb. 27). Im Gegensatz dazu war die von der IRT herausgegebene Version kaum mehr als eine einfache Straßenkarte, in die der Streckenverlauf eingefügt wurde (Abb. 28).86 In diesen frühen Transitkarten wird so bereits der Dualismus ­zwischen Abstrak­tion und Genauigkeit offenkundig, zu denen sich alle Kartengestalter verhalten müssen.87 Zudem zeigten beide Karten Manhattan nicht eingenordet, sondern mit dem Westen nach oben. Dies sollte auch bei allen weiteren Auflagen bis zum Jahre 1924 so bleiben. Erst in ­diesem Jahr veröffent­lichte die BMT eine neue Version, die nicht nur wesent­lich übersicht­licher war, sondern nun auch Manhattan vertikal von Norden nach Süden darstellte. Allerdings scheinen auch diese Transitkarten in den Augen der damaligen Passagiere kaum hilfreich gewesen zu sein und fanden dementsprechend wenig Verbreitung. Erschwerend kam hinzu, dass die Betreiber der einzelnen Teilsysteme primär ihre eigenen Strecken in den Karten verzeichneten und die Linien der anderen Unternehmen allenfalls rudimentär berücksichtigten oder gleich gänz­lich ignorierten. 84 Vgl. Ebd., S. 130 ff. 85 Vgl. Giovannini/Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 159. 86 Vgl. Ovenden, Mark: Transit Maps of the World, London: Penguin 2007, S. 32. 87 Ovenden: Transit Maps of the World, S. 33. Siehe auch: Wood, Denis: The Power of Maps, New York: The Guilford Press 1992.

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Abb. 27: Die erste Transitkarte der BRT aus dem Jahre 1919.

Abb. 28: IRT Transitkarte aus dem Jahre 1905. Karten dieser Art wurden allerdings zunächst nur vereinzelt in den Zügen ausgehängt und erst ab den 1920ern an die Passagiere verteilt.

Währenddessen waren es die Untergrundbahnen in Europa, die die entscheidenden Veränderungen in der graphischen Gestaltung der Zeichensysteme und Transitkarten durchsetzen.88Neben der Pariser Metro war es vor allem die London Underground, die beflügelt von neuen Techniken der Abstraktion einen großen Schritt in Richtung Modernisierung und Standardisierung ihrer Zeichenregime

88 Sweeny Lithograph Co. (1919). Municipal Railway-Broadway Line through the Heart of Manhattan. Rapid Transit Company Collection. Teil der Lionel Pincus and Princess Firyal Map Division der New York Public Library. Entnommen aus: Giovannini/ Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 164.

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Abb. 29: Harry Becks ikonische Transitkarte aus dem Jahr 1933, auf der er London als komplexes Schaltkreissystem präsentierte und die sofort ein Erfolg bei den Passagieren der London Underground war.

unternahm.89 Insbesondere die im Jahre 1932 von dem Elektroingenieur Harry Beck entworfene Karte für das Londoner System kann als Meilenstein in der Geschichte des Informationsdesigns gelten (Abb. 29). Beck entschied sich für eine revolutionäre Gestaltung mit einem strengen geometrischen Raster, das die Topographien des überirdischen London radikal verzerrte oder gar gänzlich negierte. Zudem vergrößerte er das Stadtzentrum und vereinheitlichte die Abstände zwischen den Stationen. Bis heute gilt Becks Karte als wegweisende Umsetzung der Ästhetik des Maschinenzeitalters und als Vorbild für Informationsdesigner weltweit: »although it was not the first, nor the last, it is indisputably the archetypical Underground map.«90 89 Zugegebenermaßen war dies in einem kohärenten System wie London wesentlich leichter als in New York, wo die Technokraten, Gestalter und Ingenieure der jeweiligen Teilsysteme weitestgehend autonom agierten. Vgl: Wolmar, Christian: The Subterranean Railway: How the London Underground Was Built and How it Changed the City Forever, London: Atlantic Books 2005. 90 Hadlaw, Janin: »The London Underground Map: Imagining Modern Time and Space«, Design Issues 19/1 (2003), S. 25 – 35, hier S. 25. Für Details zur Bedeutung von Becks Karte siehe auch: Leboff, David und Demuth, Timothy: No Need to Ask!: Early Maps of London’s Underground Railways, Middlesex: Capital Transport Publishing

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In der Zwischenzeit änderte sich am Informa­tionsdesign der New Yorker Subway jedoch kaum etwas. Obwohl aufgrund des weitverbreiteten Straßenrasters New Yorks eine Übertragung von Becks Methode aus heutiger Sicht naheliegend erscheinen mag, machte es für die damaligen Betreiber offenbar wenig Sinn, d ­ ieses Modell zu adaptieren. Allerdings zeichnete sich im Zuge der Expansion des Systems vor allem ab den späten 1930er Jahren eine verstärkte Nachfrage der Passagiere nach Kartenmaterial ab. Dies veranlasste die IRT zur Überarbeitung ihrer Transitkarten, in denen Becks Prinzipien aber bestenfalls halbherzig inkorporiert wurden. Dennoch sollten ab dieser Zeit die verschiedenen Transitkarten der jeweiligen Betreiber ein unverzichtbares Element der visuellen Regime in der Subway werden. Nicht nur hielten sie Einzug in die Interieurs aller Sta­tionen und Waggons, ihre portablen Versionen wurden auch millionenfach Teil der Passagierinventare. Die verwirrende Heterogenität der Ausschilderungen in den Sta­tionen und Waggons blieb jedoch auch nach der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und dem Zusammenschluss der drei Systeme unter dem Dach der Transit Authority im Jahre 1953 weitestgehend unverändert. Hatten sich die Prinzipien der Standardisierung und Ra­tionalisierung überall sonst im System durchgesetzt, hielt man aus Kostengründen an den verschiedenen Gestaltungspraktiken der ehemaligen Teilsysteme fest. Im Jahre 1957 veranlasste dies schließ­lich einen Designer namens George Salomon (1920– 1981) zum Verfassen eines wütenden Pamphlets, in dem er eine radikale Überarbeitung der visuellen Regime der Subway forderte.91 Als glühender Verfechter des Geistes der Normierung und Effizienzsteigerung kritisierte Salomon die Ausschilderungen und Karten mit scharfen Worten und listete akribisch all ihre Mängel auf: vom Wirrwarr der Beschriftungen, Codes und Symbole bis zu den Widersprüch­lichkeiten und Doppelungen in den Namen der Sta­tionen und Linien (Abb. 30).92 Für Salomon kumulierten diese Missstände in einer visuellen Kakophonie, die nicht nur ästhetisch katastrophal war, sondern auch bestenfalls nur noch

1999; Garland, Ken: Mr. Beck’s Underground Map, Harrow Weald: Capital Transport 1994. Eine gute Deutung gibt auch: Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit: über Zivilisa­tionsgeschichte und Geopolitik, München: Carl Hanser 2003, S. 96 ff. 91 Salomon, Georg: »Out of the Labyrinth. A Plea and a Plan for improved Passenger Informa­tion on the New York Subways (Unpublished Manuscript)«. 92 Zum Beispiel zählt er auf: »There are four subway sta­tions called 14th Street, five called 23rd Street. The Sixth Avenue line has a sta­tion called Seventh Avenue. The 207th Street sta­tion of the Eighth Avenue line is on Broadway: the 207th Street sta­tion of the Broadway-­Seventh Avenue line is on Tenth Avenue.« Siehe Ebd.

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Abb. 30: Montage einiger der von Salomon identifizierten Elemente des visuellen Chaos. Für ihn galt es vor allem, sie zu standardisieren, wenn man den labyrinthischen Charakter 93 der Subway reduzieren wollte.

von Experten durchschaut werden konnte. Vor allem aus Sicht der Zugereisten waren93die unübersichtlichen Transitkarten »the most bewildering thing in 93 Abbildungen entnommen aus: Salomon, Georg: »Out of the Labyrinth. A Plea and a Plan for improved Passenger Information on the New York Subways (Unpublished Manuscript)«. Die Abbilderungen basieren leider nur auf Schwarz-Weiß-Kopien und geben weder die Farbgestaltung noch die materielle Qualität der Arbeit Salomons

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a ­bewilderingcity.«94 Selbst für geübte Passagiere stellte das Durcheinander der Zeichensysteme eine beständige Quelle von Frustra­tion dar. So verfasst Salomon eine ganze Liste an Zumutungen, die die Passagiere angesichts ­dieses semiotischen Chaos ertragen müssten: Loss of time and energy in retracing steps, cost of rides taken in error, inconvenience of asking the way, fear of getting lost, inconvenience of being blocked by persons not sure of their way, nervous stain, sometimes, danger as a result of all these.95

Hier imaginiert Salomon ein Passagiersubjekt, das sich angesichts der uneinheit­lichen Beschilderungen als dermaßen überfordert, verängstigt und verstört erweist, dass es letzt­lich eine Gefahr für sich selbst und seine Umwelt darstellt. Als einzigen Ausweg aus ­diesem Labyrinth schlug Salomon eine grundlegende Umgestaltung des gesamten visuellen Regimes der Subway vor. Die Terminologie der Sta­tionen und Routen sollte dabei ebenso radikal vereinheit­licht werden wie die Designs, Materialität und Posi­tionierungen der Beschilderungen und Transitkarten. Nur mit der rigorosen Durchsetzung der gestalterischen Prinzipien von Effizienz, Klarheit und Konsistenz könnte es gelingen, das System von einem »bewildering puzzle« in ein »intelligible easily remembered system« zu verwandeln.96 Trotz d ­ ieses eindring­lichen Plädoyers und des alarmistischen Tonfalls machte Salomons Vorschlag offenbar wenig Eindruck auf die Transit Authority. Immerhin durfte er aber eine neue Version der Transitkarte des Systems entwerfen, die im Jahre 1958 veröffent­licht wurde (Abb. 31). Salomons Entwurf war nicht nur die erste Karte, in der alle Linien des nun vereinigten Subwaysystems abgebildet waren. Sie stellte auch eine radikale Interpreta­tion der Stadt als maschinelles System dar.97 Stark beeinflusst von den Prinzipien Becks verzerrte er nicht nur die Topographie New Yorks zugunsten der besseren Darstellbarkeit der Strecken, sondern blendete auch ihre überirdischen Merkmale, wie Parks und Straßen, konsequent aus. Als eine Art bildgebendes Verfahren der Maschinenästhetik präsentiert die Karte die Stadt als abstraktes und komplexes Set von Schaltkreisen, deren Entzifferung ein hohes wieder. Sie kann aber im Original im Archiv des New York City Transit Museums eingesehen werden. 94 Salomon: »Out of the Labyrinth. A Plea and a Plan for improved Passenger Informa­ tion on the New York Subways (Unpublished Manuscript)«. 95 Ebd., S. 3. 96 Ebd., S. 6. 97 Giovannini/Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 163.

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Abb. 31: George Salomons Transitkarte von 1958.

Vorverständnis von moderner Urbanität sowie deren maschinellen Logiken und Ästhetiken verlangte. Dennoch erwies sich Salomons Karte als so erfolgreich, dass sie bis ins Jahr 1972 immer wieder neu aufgelegt wurde.

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Verbote und Warnungen Neben diesen Orientierungssystemen fanden sich die Passagiere auch mit einer wachsenden Anzahl von Verbots- und Hinweisschildern in den Territorien der Subway konfrontiert. Diese hatten das Ziel, auf die Praktiken der Benutzer einzuwirken und Verhaltensstandards zu etablieren, die das effektive Zirkulieren der Massen sicherstellen sollten. Allerdings lässt sich die genaue Anzahl und Verbreitung der verschiedenen Verbotsschilder heute nicht mehr rekonstruieren; bis auf wenige Verweise sowie einige Fotos aus dem Archiv des Transit Museums ist kaum etwas über sie überliefert. Dennoch kann man im Wesent­lichen zwei Kategorien von Warnhinweisen ausmachen: So finden sich zunächst Beschilderungen, die auf die Gefahr eines unachtsamen und leichtsinnigen Umgangs mit den technischen Apparaturen des Systems hinweisen. Dies betraf vor allem das Betreten der Gleise und Tunnel. Gerade in den ersten Jahren kam es immer wieder zu Todesfällen, da Passagiere die rasante Geschwindigkeit der Züge falsch einschätzten oder das neue Terrain unter der Stadt auf eigene Faust erkunden wollten. Hood zufolge war es vor allem diese alarmierend hohe Todesrate, welche zur Installa­tion von großformatigen Warnhinweisen führte. Diese verkündeten in deut­lichen Lettern: »All Persons Are Forbidden To Enter Upon Or Cross The Tracks.«98 Neben diesen Vorschriften lassen sich aus den ersten Dekaden des Systems zahlreiche Hinweisschilder finden, die jene Praktiken der Passagiere adressieren, welche mit den Hygieneregimen der Subway kollidieren. Allen voran betrifft dies Verbote des Verschmutzens (No Littering!), Rauchens (No Smoking!) und Spuckens (No Spitting!) (Abb. 32). Offenbar stellten gerade die beiden letztgenannten Praktiken in den ersten Dekaden des Maschinenzeitalters ein massives Problem dar. Zwar war das Rauchen bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in den Hochbahnen und Omnibussen offiziell untersagt, befolgt wurde ­dieses Verbot allerdings kaum. Auch in den Jahren nach der Eröffnung der Subway blieb es in allen Transitsystemen New Yorks eine alltäg­liche Praxis.99 Erschwerend kam hinzu, dass in den Jahren z­ wischen 1910 und 1930 der Pro-­Kopf-­Verbrauch von Zigaretten in den USA um mehr als das Sechzehnfache anstieg.100 Dennoch schien sich über die Jahrzehnte zumindest in den Waggons sowie unterirdischen Sta­tionen das 98 Vgl. Hood, Clifton: 722 Miles. The Building of the Subways and How they transformed New York, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2004, S. 100. 99 Ebd., S. 116. 100 Davis, Donald F.: »North American Urban Mass Transit, 1890 – 1950: What if we thought about it as a Type of Technology?«, History and Technology 12/4 (1995), S. 309 – 326, hier S. 315.

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Abb. 32: Verbotsschild in der Subway, ca. 1937.

Rauchverbot halbwegs durchzusetzen, nicht zuletzt mit Hilfe des Ordnungspersonals und der Androhung drakonischer Strafen. Bemerkenswerterweise war es jedoch nicht das Rauchen, sondern die Praktik des öffentlichen Spuckens, das in den Augen der Betreiber das dringlichste Problem darstellte. Um dieses zum allergrößten Teil von männlichen Passagieren an den Tag gelegte Verhalten zu unterbinden, wurden bis in die 1940er Jahre hinein zahlreiche Variationen dieser Verbotsschilder in allen Teilsystemen der Subway installiert. Das Aufkommen dieser seltsamen Praktik der Passagiere wie auch ihre Bekämpfung ist so komplex und erklärungsbedürftig, dass sie im folgenden kurzen Exkurs etwas genauer beleuchtet werden soll. Exkurs über das öffentliche Spucken Bereits wenige Wochen nach der Eröffnung des Systems empört sich die New York Times in einem Artikel mit der Überschrift One Real Danger of the Subway über das offenbar weit verbreitete Spucken der Passagiere: We refer to the nasty habit of spitting, the disgusting evidences of which are becoming more manifest as travel increases. […] If there is any place in the city where our severe ordinance

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against promiscuous spitting needs to be rigidly enforced it is in the closed Subway and I hope the police and Magistrates will show no mercy to the unforgivable offenders.101

Diese starken emo­tionalen Reak­tionen auf das öffent­liche Spucken sowie seine Codierung als ekelhaft und anstößig stellen ein symptomatisches Problem für die historische Rekonstruk­tion der Passagierpraktiken dar. Wenn die Einführung dieser Verbotsschilder und die Androhung hoher Strafen auf das damals weitverbreitete Spucken antwortete, so stellt sich die Frage, warum ­dieses Verhalten ab d ­ iesem Moment überhaupt als problematisch angesehen wurde. Schließ­lich galt es in den west­lichen Kulturen bis ins späte 19. Jahrhundert hinein weder als unhygienisch noch als unzivilisiert.102 In vielen Gesellschaften ist zumindest bei Männern das öffent­liche Ausspucken eine bis heute weit verbreitete Alltagspraxis. Um also zu verstehen, warum die Inskrip­tionen des Spuckverbots Einzug in die Subway halten, muss man einen genaueren Blick in die Geschichte der nordamerikanischen Tuberkulosebekämpfung werfen. Nachdem diese Krankheit lange Zeit als angeboren betrachtet wurde, setzte sich nach der wissenschaft­lichen Beschreibung des Tuberkulose-­Bazillus durch Robert Koch im Jahre 1882 die Erkenntnis durch, dass die Epidemie vor allem durch Keime übertragen wurde. Da Speichel rasch als primärer Infek­tionsträger identifiziert wurde, mobilisierten die amerikanischen Gesundheitsbehörden massiv Ressourcen, um die Ausbreitung von Tuberkulose einzudämmen. Trotz Aufklärungskampagnen und Appellen an die Veränderung persön­licher Hygiene­ praktiken sollte diese Krankheit um 1900 zur häufigsten Todesursache der amerikanischen Bevölkerung avancieren. Wie die Medizinhistorikerin Jeanne E. Abrams rekonstruieren konnte, begann man nun überall im Land panisch, Verordnungen gegen das öffent­liche Spucken zu erlassen.103 Als größte und am 101 [Anonym]: »One Real Danger of the Subway«, The New York Times (26. November 1904). 102 Bereits Norbert Elias hat sich in seinem Opus Magnum Über den Prozess der Zivilisa­ tion den Praktiken des öffent­lichen Spuckens gewidmet und gezeigt, dass diese bis weit in das 19. Jahrhundert nicht nur als normal galten, sondern aus gesundheit­lichen Gründen auch eingefordert wurden. Zudem scheint es über lange Zeit nicht nur Brauch, sondern ein ausgesprochenes Bedürfnis gewesen zu sein, so oft wie mög­ lich zu spucken. Erst in den letzten zwei Jahrhunderten wurde diese Praktik in den west­lichen Kulturen als mehr und mehr pein­lich und ekelhaft codiert und sollte mög­lichst im Verborgenen geschehen. Dazu stellt er fest: »Die Umgestaltung des Auswerfens und schließ­lich das mehr oder weniger vollkommene Verschwinden des Bedürfnisses danach ist ein gutes Beispiel für die Formbarkeit des Seelenhaushalts.« Elias: Über den Prozess der Zivilisa­tion, S. 310. 1 03 Abrams, Jeanne E.: »›Spitting Is Dangerous, Indecent, and against the Law!‹ Legislating Health Behavior during the American Tuberculosis Crusade«, Journal of the History of

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dichtesten besiedelte Stadt der USA stellte New York City das Epizentrum der Infek­tion dar. Hier hatte man bereits im Jahre 1896 eine Rechtsverordnung gegen Spucken in öffent­lichen Räumen verabschiedet. Weniger als zwanzig Jahre ­später waren nahezu 200 Städte in den USA ­diesem Beispiel gefolgt und hatten ihrerseits Spuckverbote erlassen, deren Missachtung mit hohen Geldbußen und Gefängnisstrafen belegt wurden. Allerdings provozierten diese Verordnungen oftmals erheb­liche Spannungen ­zwischen den Ideen individueller Freiheit und dem Schutz der Bevölkerung. Die Schwere der Krankheit rechtfertigte in den Augen der meisten Gesundheitsexperten jedoch die Unterordnung individueller Freiheitsansprüche unter dem Primat des Gemeinwohls.104 Stellte das öffent­liche Spucken zunächst allein einen Akt von Ignoranz und Fahrlässigkeit dar, so koppelten sich nun daran auch Zuschreibungen des Vulgären, Ekelhaften und Primitiven. Indem diese Praktiken mit mora­lischen Imperativen aufgeladen werden, folgen die Kampagnen nicht allein einem pragmatischen Ansatz zum Schutz der Bevölkerung. Wie Matthew Gandy herausstellt, perpetuieren sie zugleich Vorurteile gegenüber Armen und Arbeitern: »The control of TB [Tuberculosis] amplified middle-­class antipathy toward the ›lower classes‹ and heightened anxieties over immigra­ tion and racial mixing.«105 Dies galt besonders für New York City, wo im Jahre 1911 die Hälfte der infizierten Bevölkerung aus den unteren Klassen stammte und infolge der Krankheit oftmals weiter verarmte. Auch wenn das öffent­liche ­Spucken als typische Angewohnheit der ohnehin als lasterhaft, parasitär und vulgär stigmatisierten Arbeiterklasse betrachtet wurde, so waren diese Praktiken in Wirk­lichkeit in allen Klassen weit verbreitet.106 War um 1900 das öffent­liche Spucken in New York noch so akzeptiert, dass sich selbst die Polizei kaum an die Verbote hielt, wurden diese nach der Eröffnung der Subway mit Nachdruck durchgesetzt. So galten doch gerade die Terri­ torien industriellen Massentransits als Herde potenzieller Infek­tionen. Um die Medicine and Allied Sciences 68/3 (2013), S. 416 – 450. 104 Vgl. Ebd., S. 419 f. 105 Gandy, Matthew: »Life without Germs: Contested Episodes in the History of Tuberculosis«, in: Matthew Gandy und Alimuddin Zumla (Hrsg.): The Return of the White Plague: Global Poverty and the »New« Tuberculosis, London und New York: Verso 2003, S. 15 – 38, hier S. 29. Auch zitiert in Abrams: »›Spitting Is Dangerous, Indecent, and against the Law!‹ Legislating Health Behavior during the American Tuberculosis Crusade«, S. 6. 1 06 Abrams betont: »In practice, many fines and arrests for spitting in America were leveled at members of the middle/upper classes, some of whom at least appeared to view spitting as an acceptable practice.« Abrams: »›Spitting Is Dangerous, Indecent, and against the Law!‹ Legislating Health Behavior during the American Tuberculosis Crusade«, S. 17.

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Verbreitung von Tuberkulose so schnell wie mög­lich einzudämmen, war die Umerziehung der Passagiere dring­lichst geboten.107 Bereits zur Eröffnung 1904 warnt der Beauftragte der New Yorker Gesundheitsbehörde, Dr. Thomas Darlington: In the subway the danger of disease from expectora­tion is fully as great, if not greater, than on surface roads. When the sputum dries the germs it contains are free and become dangerous. We cannot have them blowing about the tunnel. A very close watch will be kept to see that this habit does not get a foothold on the underground system.108

Mit der Implementierung der Wahnhinweise und Verbotsschilder in der Subway etabliert sich so ein biopolitisches Regime, das die Passagiersubjekte in mehrfacher Hinsicht adressiert. Zum einen wird hier erneut die Idee der Steuerbarkeit der Passagiermassen offenkundig, deren Praktiken durch ebensolche Signale beeinflusst werden können. Zum anderen entfaltet sich ein Verständnis der Passagiere als potenzielle Gefahr für die öffent­liche Gesundheit. Dies wird vor allem in den Hygienedebatten deut­lich, die bereits unmittelbar nach der Eröffnung der Subway erneut aufflammen. Dass die Zirkula­tion und Qualität des Sauerstoffs im System tadellos war, hatte der Chemieprofessor Charles F. Chandler ja bereits im Zuge der Einweihung nachgewiesen.109 Allerdings wurden nun abermals Stimmen laut, die vor der Subway als idealem Ort der Ansteckung mit Keimen aller Art warnten.110 Infolge dieser Bedenken gab man nun erneut eine Untersuchung in Auftrag, die jedoch diesmal weitaus umfassender und personalaufwändiger war als zuvor. Geleitet wurde sie von dem berühmten Sanitärtechniker Dr. George A. Soper (1870 – 1948), der mit Hilfe eines umfangreichen Mitarbeiterstabs und neuester laborwissenschaft­licher Verfahren das System auf Keime aller Art untersuchte. Als er vier Jahre ­später seine mehr als 300 Seiten umfassende Studie vorlegt, kann Soper jedoch Entwarnung geben: 107 So betont der Abteilungsleiter der New Yorker Gesundheitsbehörde, Hermann M. Biggs, im Jahre 1908 nicht ohne Stolz: »All street cars, elevated and underground railways, ferryboats, public buildings, piers, etc., have been placarded with large signs prohibiting spitting. The sanitary police of the Department have constantly made arrests of persons violating the law, and the newspapers have aided by giving the matter proper publicity.« Department of Health: Brief History of the Campaign Against Tuberculosis in New York City, New York City 1908, S. 13. 108 [Anonym]: »Spitting in the Subway«, New York Tribune (19. November 1904). 109 Vergleiche dazu Kapitel I. 5. 110 Zahlreiche Mediziner stellten dabei heraus, dass gerade aufgrund des mangelnden Sonnen­lichts gefähr­liche Bazillen in der Subway perfekte Bedingungen vorfinden und sich rasant vermehren könnten. Vgl. [Anonym]: »Bacilli invade the Subway«, New York Tribune (19. November 1904) sowie [Anonym]: »Justice on the Trial of the Subway Germ«, The New York Times (17. Februar 1905).

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Abb. 33: Eines der letzten Zeugnisse des Spuckverbots in einem Subwaywaggon aus dem Jahre 1939, ausgestellt im New York Transit Museum, Brooklyn, New York.

Seine Analysen ergaben zweifelsfrei, dass es in der Subway nur halb so viele Mikroben pro Kubikmeter gab wie in den oberirdischen Arealen der Stadt.111 Obwohl so erneut die Tadellosigkeit der Hygieneregime unter Beweis gestellt war, betonte Soper zugleich, dass die Passagiere mit Abstand die größte Gefahr für die Kontamination des Systems darstellten. Sie trugen die Keime und Krankheiten in die unterirdischen Territorien, welche dort ein perfektes Milieu für ihre Verbreitung vorfinden würden. Vor allem die Kombination aus der Überlastung des Systems und dem unhygienischen Verhalten der Passagiermassen ließ die die Subway zu einem potenziellen Infektionsherd werden: It is practically certain when great crowds are packed together, as they often were in some stations and most cars, that dangerous bacteria are, at least occasionally, transmitted from person to person. An obvious feature of this danger lies in the fact that people talk, cough, and sneeze into one another’s faces at extremely short range under such circumstances.112

Damit findet sich auch hier das Motiv der bedrohlichen und infektiösen Passagiermasse wieder, die es durch appellierende Verfahren zu disziplinieren galt. Wenn man in den Augen der Betreiber schon kaum etwas gegen die Überfüllung des Systems tun konnte, so sollte man immerhin die Praktiken der Passagiere zivilisieren. Verbotsschilder und hohe Strafen schienen dafür ein adäquates Mittel zu sein (Abb. 33). 111 Soper: The Air and Ventilation of Subways. 112 Ebd., S. 136.

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Infolge der Kampagnen der Gesundheitsbehörden waren die Imperative des »Don’t Spit!« spätestens ab den 1920er Jahren erfolgreich in die Normensysteme der Passagiere integriert. Ob der starke Rückgang der Infek­tionsraten an Tuberkulose ab den 1930ern allerdings wirk­lich auf die erfolgreiche Durchsetzung der Spuckverbote zurückzuführen ist oder dies eher auf den gestiegenen Lebensstandard zurückzuführen sei, ist unter Medizinhistorikern bis heute umstritten.113 Auch wenn der ursprüng­liche Grund dieser Verordnungen langsam in Vergessenheit geriet, blieb die Codierung des öffent­lichen ­Spuckens als ekelerregend und obszön bestehen. Während noch vor dem Ende des Maschinenzeitalters die Verbotshinweise dieser Praktik langsam aus den visuellen Regimen verschwanden, waren die Warnungen über die Gefahren des Systems sowie des Rauchens und Verschmutzens weiterhin ein alltäg­licher Anblick für die Passagiere. Die Subway Sun Neben den Ausschilderungen und Hinweistafeln findet sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in den visuellen Regimen in der Subway noch ein weiteres Artefakt, das auf besondere Weise als Subjektivierungsinstanz der Passagiere wirksam wird: die Subway Sun. Sie war eine im Stil eines Zeitungsaufmachers gestaltete Plakatserie von Hinweisen und Stellungnahmen, mit denen die Betreiber der IRT die Belange des Unternehmens kommunizierten. Im Verlauf des Jahres 1918 wurden die Ankündigungen und Appelle der Subway Sun in jeden Waggon implementiert und waren seitdem ein fester Bestandteil der visuellen Regime im System. Ins Leben gerufen wurde die Plakatserie von dem Journalisten Ivy L. Lee (1877 – 1934), den die IRT als Verantwort­lichen für eine damals noch weitgehend unbekannte Aufgabe namens Public Rela­tions bestimmt hatte.114 Die Subway Sun, wie auch die parallele Posterserie The Elevated Express, waren für Lee ideale Instrumente, um die IRT als sympathisches

113 Vgl. Abrams: »›Spitting Is Dangerous, Indecent, and against the Law!‹ Legislating Health Behavior during the American Tuberculosis Crusade«, S. 447 f. 114 Vgl. Cutlip, Scott M: The Unseen Power: Public Rela­tions – A History, Hillsdale, N. J.: L. Erlbaum Associates 1994. Ivy Lee gilt neben dem Neffen Sigmund Freuds, Edward Barnays (1891 – 1995), als Vater der Public Rela­tions. In den Jahren vor seinem Tod 1934 arbeitete Lee zudem eng mit dem deutschen Chemiefabrikanten IG Farben zusammen und unterhielt enge Kontakte zu den Führungskadern der NSDAP. Vgl. dazu ausführ­licher: Hiebert, Ray Eldon: Courtier to the Crowd: the Story of Ivy Lee and the Development of Public Rela­tion, Ames: Iowa State University Press 1966.

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und bodenständiges Unternehmen darzustellen und im Zuge dessen für die Erhöhung des Fahrpreises zu werben (Vgl. Taf. 2 und Taf. 3).115 Diese Erhöhung war jedoch trotz der massiven Verluste, die alle Betreibergesellschaften vor allem nach Ende des ­Ersten Weltkriegs einfuhren, politisch nicht durchzusetzen. Jeder Politiker, der ein solches Vorhaben unterstützte, musste mit öffent­lichen Protesten und dem Verlust der Wählergunst rechnen. So gab auch Lee die Fahrpreiskampagne nach einigen Jahren entnervt auf. Die Poster der Subway Sun sollten aber zunächst bis 1932 ein fester Bestandteil der visuellen Regime bleiben. Ab 1947 sollte es eine Neuauflage der Subway Sun geben, die bis in die 1960er weiterhin die Passagiere mit Informa­tionen zu den polit-­ökonomischen Eigenheiten des Systems versorgte wie auch an die Verhaltensnormen der Passagiere appellierte.116 Die Form der Unternehmenskommunika­tion, die in ihr zur Anwendung kam, erscheint dabei im Rückblick als geradezu visionäre Strategie: Durch die Subway Sun war es mög­lich, direkt mit den Passagieren in Kommunika­tion zu treten und sie mit Informa­tionen über Details des Systems und die immensen Kosten des Betriebs aufzuklären. Dass Lee dabei eher auf Fakten und Statistiken setzte als auf einfache Slogans, lässt sich als weiteres Indiz für die damalige Evidenz logistischen Wissens deuten. Wenn im Folgenden die Bildsprache und die Inhalte dieser Poster kurz diskutiert werden, dann vor allem darum, weil in ihnen ebenso heterogene wie wirkmächtige Appelle sichtbar werden, welche die Passagiere mit einer Vielzahl von Anforderungsprofilen und Verhaltensrichtlinien konfrontieren.117 Zugleich transportieren sie ein spezifisches Bild des Passagiers, dessen idealtypische Praktiken weit mehr umfassen als nur das regelkonforme Verhalten in der Subway. Deut­lich wird dies bereits im dritten Poster der Subway Sun, das unter dem Titel The Call to War alle männ­lichen Passagiere ­zwischen 18 und 45 Jahren aufrief, sich für die militärische Einberufung zu registrieren (Taf. 4). Dies war jedoch 115 Eine Vielzahl von Exemplaren der Subway Sun und der Elevated Express findet sich in der Sammlung des New York Transit Museums. In den letzten Jahren hat zudem die Bibliothek der Universität Princeton Teile des Nachlasses von Ivy Lee digitalisert und online verfügbar gemacht (http://pudl.princeton.edu/collec­tions/pudl0036, letzter Zugriff: 15. 3. 2013). Darunter finden sich auch 385 Poster der Subway Sun und des Elevated Express. Die hier abgedruckten Beispiele entstammen allerdings dem Archiv des Museums (NYCTMA: File: Subway Suns). 116 Vgl. Brooks: Subway City, S. 94 ff. 117 Erstaun­licherweise erwähnen sowohl Brooks wie auch Fitzpatrick die Subway Sun und ihre Geschichte, widmen sich jedoch kaum den Appellen an die Passagiere, die diese transportieren. Vgl. Ebd., S. 96 ff; Fitzpatrick, Tracy: Art and the Subway: New York Underground, Piscataway, New Jersey: Rutgers University Press 2009, S. 208 ff.

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nur der Auftakt für eine ganze Serie von Postern, in denen die Passagiere der Subway als Patrioten adressiert werden (Taf. 5). Neben den Appellen an die Fahnentreue der Passagiere findet sich in den nahezu 400 verschiedenen Postern noch eine Vielzahl anderer Anrufungen. So empfiehlt man den Passagieren Ausflüge in die Zoos und an die Strände sowie regelmäßige körper­liche Ertüchtigung. Zugleich erinnert man sie regelmäßig an ihre staatsbürger­liche Pflicht der pünkt­lichen Einreichung ihrer Steuererklärung (Taf. 6). In einer Vielzahl von Postern stellt man zudem die Vorzüge der Subway gegenüber den sich rasant verbreitenden Automobilen heraus (Taf. 7). Ebenso nutzte man die Poster, um an den Anstand und die höf­lichen Umgangsformen der Passagiere zu appellieren. Man empfiehlt ein freund­liches und zuvorkommendes Miteinander (Taf. 8) und thematisiert dabei auch ungehörige Körperpraktiken, wie das Ausstrecken der Beine oder das Aufhalten der Waggontüren (Taf. 9). Wenn diese Poster die Passagiere mit einer Vielzahl von Imperativen und Handlungsempfehlungen adressieren, so wird damit ein Subjektideal propagiert, das sich nicht nur den spezifischen Anforderungen des technischen Systems unterwirft. Ebenso wird an ihre patriotischen und staatsbürger­lichen Pflichten appelliert sowie an die Zivilisierung ihrer Umgangsformen. All diese Momente codieren die Subway als öffent­lichen Raum, dessen Regeln und Normen eng mit denen der überirdischen Stadt verkoppelt sind. In all den heterogenen Apellen der Passagiere in der Subway Sun wird jedoch ein Moment ausgespart: ihre Anrufung als Konsumenten. Wie der letzte Abschnitt d ­ ieses Kapitels zeigen wird, sollte es allerdings nicht lange dauern, bis die Passagiere auch zum Ziel konsumistischer Subjektivierungsinstanzen wurden. Jedoch mobilisiert die Einführung dieser visuellen Regime zunächst starke Widerstände. Appelle des Konsums Zu ihrer Überraschung fanden die frischgebackenen Passagiere bereits zur Eröffnung zahlreiche Bohrlöcher in den edlen Keramikmosaiken der Sta­tionen vor, auf die man nur einen Tag ­später beginnen sollte, Reklame für Produkte aller Art zu montieren.118 Bemerkenswerterweise löste der Anblick dieser Werbebotschaften bei den städtischen Eliten wie den Passagieren einen Sturm von Entrüstung aus.119 Zahlreiche bedeutende Vertreter der Öffent­lichkeit ­bezeichneten die 118 [Anonym]: »McClellan Motorman of First Subway Train«, The New York Times (28. Oktober 1904). 119 Wie die New York Times berichtet, eskalierte der Streit drei Tage nach der Eröffnung im Rahmen eines Treffens der Transit Commission. Es kommt zu einem Eklat, als der

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Reklametafeln als Skandal und ihren Anblick als »cheap and nasty.«120 Innerhalb weniger Tage erging eine wahre Flut an Protestnoten und Boykotterklärungen gegen die Betreiber, die diese »Schandtat« und den »Horror« zu verantworten hatten.121 Zur gleichen Zeit stellte sich auch heraus, dass die IRT ihre Pläne nicht nur vor der Öffent­lichkeit, sondern sogar vor den Architekten des Systems geheim gehalten hatte. Angesichts dieser Nachricht forderten nun selbst die Vertreter kommunaler Kunstvereine die Passagiere zur gewaltsamen Zerstörung der Reklametafeln auf: Schließ­lich hätten sie alles Recht der Welt, sich gegen eine ­solche Barbarei notfalls auch handgreif­lich zur Wehr zu setzen.122 Dabei richtete sich die Wut der Passagiere nicht allein gegen die Plakatwerbungen, sondern gegen jeg­liche Form des Konsums in der Subway: von den Kiosken, welche Zeitungen, Schnittblumen und andere Waren anboten bis zu den Verkaufsautomaten für Kaugummi und Erfrischungsgetränke. Der allgemeine Aufschrei der Empörung gipfelte letzt­lich in einem Ultimatum des Bürgermeisters McClellan an die IRT, all diese Objekte innerhalb von 48 Stunden aus dem System zu entfernen. Sollte dies nicht geschehen, so drohte er mit der Entsendung seiner »Axe Brigade«, die aus den Ständen und Werbetafeln Kleinholz machen würde.123

Präsident der Municipal Art Society, Clavon Tomkins, eine Handvoll zerbrochener Keramikplatten auf den Versammlungstisch wirft, die er nach eigenen Angaben ­zwischen den Füßen der Arbeiter aufsammelte, die gerade mit der Installa­tion der Werbeschilder beschäftigt waren. Dabei ruft er: »Does the contract with the operating company permit the destruc­tion of the city property, and the defacement of one of the most completely elaborate and beautiful bits of work ever finished by a public commission in this fashion? It is a public disgrace and an outrage that the men who are hanging these hideous works of art should be allowed to continue this destruc­tion, and on behalf of the public generally and the taxpayers I ask that this outrage be stopped at one.« Am gleichen Tag ergehen weitere Beschwerden sowie eine Peti­tion der Handelskammer der Stadt, die androht, die beworbenen Firmen zu boykottieren, sollten sie ihre Aushänge nicht umgehend demontieren. [Anonym]: »Broken Tile Exhibit Halts Subway Signs«, The New York Times (4. November 1904). Siehe auch: Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 208. 120 Ausspruch des Transit Commisioner Charles Stewart Smith vom 19. November 1904, zitiert in: Hood: 722 Miles, S. 96. 121 Vgl. [Anonym]: »Architectural League condemns Subway Ads«, The New York Times (2. November 1904). 1 22 Vgl. Framberger, David J.: »Architectural Designs for New York’s First Subway«, Historical American Engineering Record: Interborough Rapid Transit Subway (Original Line) NY-122, New York City 1979, S. 365 – 412. 123 [Anonym]: »Company has 28 Hours to move Subway Signs«, The New York Times (4. Februar 1905).

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Auch wenn es damit zumindest zeitweise gelang, diese Artefakte aus den Territorien des Systems zu verbannen, wurde der Fall letzt­lich vor Gericht zugunsten der IRT entschieden. Die Vertreter der Stadt hatten den Subwaybetreibern vertrag­lich die Montage jeg­licher Objekte untersagt, welche die Lesbarkeit der Sta­tionsbeschilderungen für die Passagiere erschweren würden. Damit, so dachten sie, hätte man auch die Installa­tion von Werbung unterbunden.124 Die IRT interpretierte diese Klausel jedoch anders und montierte Werbeschilder zwar überall im System, jedoch nicht direkt über den bereits existierenden Zeichensystemen. Da dies in den Augen der Gerichtsbarkeit eine durchaus zulässige Praxis war, sollte Werbung in den folgenden Jahren nicht nur in die Sta­tionen, sondern auch in den Interieurs der Waggons, Eingänge und sogar auf Transitkarten Einzug halten.125 Im Rückblick mögen diese starken emo­tionalen Reak­tionen der Passagiere auf die Einführung der Reklametafeln befremd­lich erscheinen, war doch um 1900 Werbung in der überirdischen Stadt längst ein alltäg­licher Anblick.126 Dass ihre Installa­tion in der Subway jedoch eine Obszönität sondergleichen darstellte, verdeut­licht, wie wirksam die Codierung dieser Infrastruktur als bürger­liche Errungenschaft zu Beginn des Maschinenzeitalters noch war. Ihre Territorien stellten offenbar einen quasi-­sakralen Raum dar, dessen Profanisierung durch Reklame als Akt schamloser Barbarei verstanden wurde. Auf den ersten Blick scheint dieser Konflikt primär auf die Bedeutung und Ästhetik der Subway gerichtet zu sein. Er lässt sich jedoch auch als Symptom für einen tiefgreifenden Umbruch im Verständnis der Passagiersubjekte lesen. War der Passagier eben noch als mora­lischer Heros eines kommenden goldenen Zeitalters antizipiert worden, wird er nun als potenzieller Konsument für eine Vielzahl von Waren adressiert, von Erfrischungsgetränken bis zu Abführmitteln.127 Demzufolge 124 Vgl. Brooks: Subway City, S. 69 f. 125 Nicht unwichtig in der Gerichtsentscheidung war zudem, dass die prognostizierten Einnahmen durch die Reklame nahezu 1,5 Prozent der Schulden des Systems aufwiegen würden. Vgl. Ebd., S. 70. 126 Vgl. Hulser, Kathleen: »Outdoor Advertising«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 869 – 870. Die erste Werbeagentur der Welt, N. W. Ayer & Son, war bereits 1869 in Philadelphia gegründet worden und markierte den Beginn des Aufstiegs einer Industrie, die in der Zeit der Eröffnung der Subway bereits mehr als 95 Millionen Dollar im Jahr umsetzen sollte. Vgl. Glickman, Lawrence B.: »Introduc­tion: Born to Shop? Consumer History and American History«, in: Lawrence B. Glickman (Hrsg.): Consumer Society in American History: A Reader, Ithaca: Cornell University Press 1999, S. 1 – 16, hier S. 3. 127 Zum Begriff des Konsumentensubjekts siehe einführend den Eintrag »Consumer« in: Williams, Raymond: Keywords: A Vocabulary of Culture and Society [Revised Edi­ tion], New York: Oxford University Press, USA 1983, S. 78 ff.

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erscheinen aus Sicht der New Yorker sogar gewalttätige Zerstörungsakte legitim, um sich diesen konsumistischen Apellen zu erwehren. Zugleich wird in der Installa­tion der Reklame und den hysterischen Reak­ tionen darauf der Bruch z­ wischen der bürger­lichen und nach-­bürger­lichen Subjektkultur sichtbar. Wenn spätestens nach dem E ­ rsten Weltkrieg der Begriff der Consumer Culture zu einem dominanten Sujet soziolo­gischer Gegenwartsanalysen avanciert, so ist die formative Kraft dieser Entwicklungen bereits um die Jahrhundertwende überall spürbar.128 Dies wird auch in den Abwehrhaltungen und Polemiken der damaligen Intellektuellen deut­lich, die den emergenten Praktiken des Massenkonsums nicht zuletzt deswegen mit Misstrauen begegnen, da in ihnen die Gebrauchswerte der Waren zugunsten ihres symbo­lischen Charakters in den Hintergrund treten. Im Jahre 1899 erscheint mit Thorstein Veblens Studie The Theory of the Leisure Class bereits eine erste und bis heute wirkmächtige Kritik dieser Entwicklungen.129 Mit Hilfe des Begriffs der Conspicous Consum­tion analysiert und kritisiert Veblen darin besonders jene konsumistischen Praktiken, die auf die Demonstra­tion des sozia­len Status der Subjekte ausgerichtet sind.130 Damit liefert er die Blaupause für eine Diagnostik der sich entfalteten modernen Konsumkultur, die um 1900 für die Vertreter tradi­tioneller Wertvorstellungen als dekadent, artifiziell, unproduktiv und hedonistisch gilt. »Das Konsumsubjekt«, so bringt es auch Reckwitz auf den Punkt, »muss schließ­lich aus bürger­licher Sicht als parasitär erscheinen.«131 Ungeachtet dieser Widerstände wandelt sich die Präsenz von Werbung in der Subway innerhalb kürzester Zeit zu einem banalen und alltäg­lichen Anblick, der bei den Passagieren kaum noch emo­tionale Ausbrüche hervorruft. Schaut man zudem genauer in die Fotosammlungen des Archivs des New York Transit Museums, so geben diese ein eindrucksvolles Zeugnis davon, wie sich in den ersten Dekaden der Subway die Botschaften der Reklame nahezu ubiquitär im System ausbreiteten.132 Von den Plakatwänden in den Sta­tionen und Eingängen bis zu den sogenannten Car Cards in den Waggons erscheinen die Passagiere nun von einem dichten Wald an Reklameschildern umstellt, die für eine ständig anwachsende Vielfalt von Produkten werben: von Sportveranstaltungen und 128 Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt: Eine ­Theorie der Subjektkulturen von der bürger­lichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2010, S.  397 ff. 129 Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class, New York: Dover Publica­tions 1994. 130 Vgl. Ebd., S. 43 ff. 131 Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 400. 132 Das Archiv des Transit Museums verfügt über eine umfassende Sammlung von Fotografien. Hier relevant ist die Zusammenstellung mit dem Titel: NYCTA Photo Unit Collec­tion 2005.4.

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­ eater- und Filmproduk­tionen bis hin zu Hygieneprodukten, Süßwaren, ZigaTh retten, Bier und anderen Getränken. Damit zeichnen sie auch ein beeindruckendes Bild der sich in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts mit rasanter Wucht entfalteten Warenwelten der amerikanischen Konsumgesellschaft. Zugleich machen sie deut­lich, dass sich die Passagiere innerhalb weniger Jahre zu einer wertvollen Zielgruppe für eine Fülle von Produkten wandeln. Zudem erschienen sie nun als Subjekte, deren Bedürfnisse durch Werbung geformt werden konnten. In den Semantiken der Plakate, wie »Live the Simple Life!«, »Enjoy!« oder »A positive Cure for Constipa­tion!«, werden die Passagiere dabei oftmals direkt angesprochen und ihre vermeint­lichen Wünsche und Sehnsüchte adressiert. Wenn mit den Botschaften der Reklame eine weitere semiotische Ebene in die Territorien der Subway Einzug hält, wird damit einerseits der Passagier als Subjekt konsumistischer Apelle recodiert. Andererseits verdeut­licht dies, wie rasch sich die visuellen Regime des Systems denen der oberirdischen Stadt annähern. In dem Maße, in dem die Subway auch ästhetisch zu einem integralen Element New Yorks wird, erscheint sie umso weniger als zivilisatorische Errungenschaft denn als banaler Teil urbaner Alltagskultur. Einzug in die unterirdischen Gefilde der Subway finden damit auch die Praktiken der Flanerie, die sich laut Benjamin unter anderem durch das eifrige Lesen der urbanen Werbetafeln auszeichnen.133 Sowohl die Sta­tionen und Waggons der Subway wie auch die öffent­lichen Sphären der überirdischen Stadt werden so mit komplexen Oberflächenreizen angereichert, dessen beiläufige Entzifferung im Verlauf des Maschinenzeitalters zu einer alltäg­lichen Praxis urbaner Subjektivität wird.134 Dabei sind die neuen Wahrnehmungswelten, die sich den Bewohnern der west­lichen Metropolen, wie London, Paris oder eben New York, in dieser Zeit eröffneten, zu einem großen Teil auf das Erleben visueller Sinneseindrücke ausgerichtet: von Lichtreklame, Mode und Kino bis hin zu den Warenwelten in den Schaufenstern und Kaufhäusern.135 Wie Reckwitz betont, werden diese ästhetischen Erfahrungen so in die Komplexe konsumistischen Handelns integriert, denn auf die Betrachtung folgt oftmals die Auswahl und Benutzung der Waren.136 Dies gilt in gewisser 133 Benjamin beschreibt dabei zudem die Reklametafeln als »Heuschreckenschwärme von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern, werden dichter mit jedem folgenden Jahr werden.« Benjamin, Walter: Einbahnstrasse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 42. 134 Dies hat beispielsweise Janet Ward eindrucksvoll für die Metropolenerfahrung der Weimarer Republik gezeigt. Ward, Janet: Weimar Surfaces: Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 2001. 135 Vgl. dazu bspw.: Buck-­Morss, Susan: The Dialectics of Seeing: Walter Benjamin and the Arcades Project, Cambridge, Mass.: The MIT Press 1991, vor allem S. 110 ff. 136 Vgl. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 399 f.

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Weise sowohl für den Konsum von Gütern, die in der Subway beworben werden, als auch für den Transit selbst, der in gewisser Weise ja auch eine Konsumpraktik von Mobilitätsinfrastrukturen darstellt. Wenn die Subway so integraler Teil der konsumistischen Massenkultur in den Großstadtlandschaften New Yorks wird, betrifft dies nicht nur die ästhetischen Praktiken, welche die Passagiere herausbilden. Die Konstitu­tion des Passagiersubjekts als Adressaten einer fordistischen Konsumkultur erweist sich auch als erstaun­lich kompatibel zu seinen Codierungen in den Wissensregimen der Logistiker und Technokraten, die im zweiten Kapitel dargestellt wurden. Beide Zuschreibungsinstanzen teilen die gleichen Grundannahmen über ihre Subjekte: In den Augen der Logistiker wie der Werber wurden die Passagiere und Konsumenten vor allem als außen-­geleitet konstituiert. Auch die Idee der Passagiere als Masse wird hier insofern wiederholt, als dass sie nun vor allem als Adressaten von massenproduzierten Konsumgütern in den Blick genommen werden. Zugleich gab es hinsicht­lich der Strategien, mit denen die Marketingabteilungen der fordistischen Massenproduk­tion ihre Kunden erfassten, zahlreiche Überschneidungen mit den logistischen Regimen der Ingenieure. Dabei greift die sich formierende Marktforschung im Laufe der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts die Erhebungsmodelle der Massenlogistik begeistert auf. In der Adap­tion ihrer quantifizierenden Methoden ist sie nun in der Lage, normierte Zielgruppen zu kreieren sowie Verteilungskurven und Marktdynamiken zu errechnen. Damit wird der einzelne Kunde als funk­tional äquivalentes Element einer Mass Consumer Culture adressiert. Diese Verschränkung biopolitischer Regierungstechniken mit den Akkumula­tionsregimen der fordistischen Massengesellschaft bringt der amerikanische Historiker Jackson Lears wie folgt auf den Punkt: »Na­tional coopera­tions employed advertising agencies to represent factory-­produced goods to a mass market: the fables they fashioned merged personal and social health, individual and na­tion, creating narratives of adjustment to a single efficient system.«137 Wie stark die Subjektcodierungen des Konsumenten und Passagiers den gleichen Prinzipien der Standardisierung, Normierung und Quantifizierung folgen, wird anhand der Strategien der New York Subways Advertising Company besonders deut­lich. Gegründet im Zuge der Vereinigung der Systeme im Jahre 1940 bekommt diese Firma den Auftrag, die Plakatierung der ca. 35.000 Reklametafeln in den Sta­tionen und der unzähligen Werbeflächen in den Waggons des gesamten Systems zu koordinieren. Im Jahre 1941 beauftragte sie den Statistiker und Pionier der Meinungsforschung, Elmo Roper (1900 – 1971), mit einer Studie 137 Lears, T. J. Jackson: Fables of Abundance: A Cultural History of Advertising in America, New York: Basic Books 1994, S. 12.

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über die Wirksamkeit von Werbung in der Subway.138 In ihrer Durchführung bediente sich Roper bezeichnenderweise genau jener logistischen Verfahren der Messung der Passagiere, die bereits mehr als drei Jahrzehnte zuvor von Arnold entwickelt worden waren. Neben anderen Details fand Roper so heraus, dass das durchschnitt­liche Passagieraufkommen pro Monat bei 5.638.000 lag, jeder New Yorker im Schnitt 26 Fahrten pro Monat unternahm und die typische Fahrt genau 23,26 Minuten dauerte.139 Zudem wies er nach, dass 80 Prozent der weib­lichen Bevölkerung und 98,9 Prozent der männ­lichen Bevölkerung New Yorks die Subway nutzte. Dazu kamen monat­lich etwa 375.000 Besucher von außerhalb der Stadt. Ziel der Erhebungen war diesmal allerdings nicht die Effizienzsteigerung der Passagierzirkula­tionen, sondern die Produk­tion von Argumenten für potenzielle Werbekunden. Dass das System massiv überlastet war, wurde damit nicht als Problem mangelnder Kapazitäten geschildert, sondern als objektiver Beleg dafür, dass die Subway ein ideales Terrain für konsumistische Anrufungen darstellte. Die Ergebnisse von Ropers Analysen kamen im Jahre 1946 schließ­lich in einer Serie von Postern zum Einsatz, die zum Ziel hatten, Firmen für die Reklame in der Subway zu gewinnen. Diese Plakate sind in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Nicht nur gelten sie unter Designhistorikern als bedeutende Zeugnisse modernistischer Ästhetik,140 sie entwerfen auch ein spezifisches Bild des Passagiers und seiner Empfäng­lichkeit für visuelle Botschaften (siehe Taf. 10 und Taf. 12).141 Der Bildsprache, die in dieser Kampagne zum Einsatz kommt, haftet trotz des oftmals comicartigen Stils etwas durchaus Totalitäres an. Im Stakkato von Slogans wie »Selling…Selling…Selling…Sold« (Taf. 10) und »Repeti­tion means Remembrance« (Taf. 13) wird die Idee der Wiederholung als erfolgreiche Strategie der Anrufung deut­lich. Für die potenziellen Werbekunden wird ein Bild eines kondi­tionierbaren Passagiers entworfen, der sich den Versprechungen des Konsumismus allein durch die Dauer und die Redundanz der visuellen Signale ohne Widerstand ergibt. In ­diesem behavioristischen Subjektverständnis findet sich zudem die Idee des geblackboxten Containersubjekts wieder, dessen konsumistische Reak­tion sich als zwingende Konsequenz 138 Vgl. Roper, Elmo: Roper Surveys Subway Riders, New York: New York Subways Advertising Company 1941. 139 Ebd., S. 3 ff. 140 Vgl. bspw. Giovannini/Amash: Subway Style. 100 Years of Architecture and Design in the New York City Subway, S. 183 f. 141 Die folgenden Abbildungen sind Farbscans aus dem Archiv des New York Transit Museums und entstanden vermut­lich im Jahre 1946 (NYCTMA: File: Advertising (Cars)).

Visuelle Regime  |

auf die tagtäg­liche Konfronta­tion mit den Reizen der Werbebotschaften in der Subway darstellt. Zudem wird hier die Subway als geradezu panoptisches Territorium entworfen: Mit Slogans wie »No hiding place down there« (Taf. 11) wird dabei nicht nur den potenziellen Werbepartnern, sondern auch den Passagieren signalisiert, dass es letzt­lich unmög­lich sei, sich den Appellen der visuellen Regime zu entziehen. Spätestens in diesen Ikonographien zeigt sich, wie stark sich das Bild des Passagiers seit Beginn des Maschinenzeitalters gewandelt hatte. Erschienen die Menschen in der Subway zu Beginn noch als undisziplinierter Mob, so erweisen sich die Verfahren der Normierung, Qualifizierung und des Blackboxing als derart wirkmächtige Verfahren, dass die Passagiere nun vor allem als steuer- und berechenbare Subjekte in den Blick kommen. Nicht nur waren ihre Interak­tionen zunehmend versach­licht, auch ihr Verhalten ließ sich nun über statistische Verfahren prognostizieren und über visuelle und auditive S ­ ignale steuern. Die Subjektkultur der Passagiere erweist sich damit als integraler Teil eines gesamtgesellschaft­lichen Prozesses der Maschinisierung, der offenbar von solch einer Intensität und Stärke war, dass er sogar die Entwicklungen in Europa in den Schatten stellte. So konstatierte der franzö­sische Maler Francis Picabia im Jahre 1950 anläss­lich eines Besuches in New York: Ich bin wirk­lich zutiefst beeindruckt von der umfassenden maschinellen Entwicklung in Amerika. Die Maschine ist nicht mehr nur ein bloßes Anhängsel des Lebens. Sie ist wirk­lich ein Teil des menschlichen Lebens geworden – vielleicht sogar seine Seele.142

Wie das nächste Kapitel zeigen wird, teilte man in den USA zwar die D ­ iagnose Picabias über die Allgegenwart der Maschine und ihre Dominanz als gesellschaft­ liches wie individuelles Leitmodell, allerdings nicht mehr seine Begeisterung. Stattdessen formierte sich vor allem ab dem 1940er Jahren eine zunehmende Kritik an den Paradigmen des Maschinenzeitalters. Immer mehr amerikanische Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler meldeten Zweifel an der Maschinisierung aller Lebensbereiche an, die sich in ihren Augen nun mehr und mehr als Instrument der Kontrolle und Entfremdung darstellte. Dabei waren es erstaun­ lich oft die vermassten und isolierten Passagiersubjekte der New Yorker Subway, an denen sich diese Kritiken festmachten.

142 Zitiert in Hughes, Thomas P.: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, München: C. H. Beck 1991, S. 332.

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KAPITEL IV: KRISE UND KRITIK Die große Fahrt zur Freiheit, sie führte geradewegs ins Reich der Passagiere und Pendler.1 Wolfgang Sachs

In den Dekaden nach der umjubelten Eröffnung der Subway nahm die Euphorie nicht nur rasch ab, sondern begann sich sogar langsam in ihr Gegenteil zu verkehren. Versprachen die neuen Leitmodelle libertärer Subjektivität zunächst ungekannte Freiheitsgrade, zeichnete sich im Verlauf des Maschinenzeitalters eine zunehmende Skepsis an diesen Modellen ab. Wie dieses Kapitel deutlich machen wird, fungierten die Passagiere der New Yorker Subway dabei oftmals als Kristallisationspunkt der Kritiken an der Massengesellschaft und ihrer entemotionalisierten und technisierten Subjektkultur. Auch die Infrastruktur selbst, einst Herold von Prosperität und Emanzipation, erschien nun mehr und mehr als übermächtiges Gestell, dem es sich durch Kulturtechniken der Abschottung und des Reizschutzes zu erwehren galt. Zwar bargen die neuen Möglichkeiten urbaner Mobilität durchaus auch libertäre Momente und erschlossen die Weiten der Metropole als Ort des Vergnügens und Abenteuers, jedoch gerieten diese emanzipatorischen Effekte des Daseins als Passagier bald ins Hintertreffen. Was blieb, war die banale Alltagspraxis des Transits und ein steigendes Bewusstsein für die Strapazen und Zurichtungen, die vor allem die Pendler zu ertragen hatten. Adressierten die Logistiker und Technokraten die Massen vor allem als organisatorisches bzw. logistisches Problem und blendeten dabei ihre individuellen Dispositionen weitestgehend aus, begannen nun verstärkt Literaten wie bildende Künstler, eben diese Innen- und Erfahrungswelten zu thematisieren. Wie wir sehen werden, zeigen sie die Passagiere oftmals als vereinsamte, erschöpfte und in sich gekehrte Menschen, lesend oder apathisch vor sich hin starrend. Vor allem auf den Gemälden und Zeichnungen jüngerer New Yorker Künstler kommen die Leiden und Ängste der Passagiere in dramatischer Weise in den Blick. Dies gilt besonders für die künstlerischen Bewegungen, die sich um den Anspruch eines sozialen Realismus formieren und damit vor allem die Miseren der Pendlermassen in den 1 Sachs, Wolfgang: »Herren über Raum und Zeit. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche«, in: Barbara Mettler-Meiborn und Christine Bauhardt (Hrsg.): Nahe Ferne – Fremde Nähe. Infrastrukturen und Alltag, Berlin: Edition Sigma 1993, S. 59 – 68, hier S. 66.

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Röhren unter der Stadt darstellen. Manifestiert sich spätestens ab den 1940ern in den Dynamiken der bildenden Kunst eine Desillusionierung und zunehmende Skepsis gegenüber den Verheißungen des Maschinenzeitalters und vor allem der Subway, stellt sich die Frage nach der Stoßrichtung der Kritik, die hier sichtbar wird. Den verschiedenen Formen der Kritik, die sich im Verlauf des modernen Kapitalismus herausbilden und oftmals von ihm aufgegriffen und vereinnahmt werden, widmen sich auch die franzö­sischen Sozia­lphilosophen Luc Boltanksi und Ève Chiapello in ihrer monumentalen Analyse ­dieses neuen »Geistes des Kapitalismus.«2 Dabei unterscheiden sie primär zwei Formen kritischer Reflexion. Dies ist einerseits die Künstlerkritik, die auf den Verlust von Authentizität, der Unterdrückung von Selbstbestimmung und freiheit­licher Lebensführung sowie einer zunehmenden Entfremdung und Entzauberung abhebt. Dementgegen richtet sich die Sozia­lkritik auf den durch den Kapitalismus beförderten Egoismus und Opportunismus sowie auf die wachsende ­sozia­le Ungleichheit, Armut und Verelendung.3 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die von den oben genannten Künstlern mobilisierte Anklage gegen die Zumutungen der Subway auch in dem Sinn als Künstlerkritik gelten kann, als dass sie primär auf die bemitleidenswerten Erfahrungen der Entfremdung, Isola­tion und Entmündigung abzielt, die in der Passagierkultur sichtbar werden. Sowohl in den literarischen Texten Morleys und Whites wie den künstlerischen Arbeiten Deperos, Evans und Tookers wird ein Bild der Passagiersubjekte entworfen, die in der Masse ebenso isoliert wie normiert werden. Da diese Form der Kritik mit ästhetischen Strategien arbeitet, evoziert sie dabei eher eine emphatische Reak­tion als eine argumentative Auseinandersetzung.4 Für Boltanski/Chiapello ist diese emo­tionale Dimension jedoch eine unverzichtbare Bedingung für eine theoretisch-­kritische Reflexion: Die Versprach­lichung einer Kritik setzt eine leidvolle, als beklagenswert empfundene Erfahrung voraus, die entweder dem Kritiker selbst widerfahren oder die er im Schicksal eines anderen mitempfindet. […] Ohne diese erste, im Grunde sentimentale Gefühlsregung kann das Schwungrad der Kritik nicht in Gang kommen.5 2 Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006. 3 Ebd., S. 79 f. Zu einer durchaus skeptischen Diskussion dieser Konzepte vgl. Lazzerato, Maurizio: »Die Missgeschicke der ›Künstlerkritik‹ und der kulturellen Beschäftigung«, in: Gerald Raunig und Ulf Wuggenig (Hrsg.): Kritik der Kreativität, Wien: Turia + Kant 2007, S. 190 – 206. 4 Diesen Aspekt betont auch Susan Sontag in ihrem Essay: Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2010. 5 Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 79.

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Und in der Tat beginnt sich das Rad der Kritik an der Passagierkultur im Verlauf der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts immer schneller zu drehen. Dabei lässt sich nicht nur in der Literatur und bildenden Kunst eine zunehmend kritische Thematisierung der individuellen wie kollektiven Alltagserfahrungen des Maschinenzeitalters konstatieren. Auch eine Vielzahl amerikanischer Filmemacher, wie Gore Vidal oder Charlie Chaplin, thematisieren die Zurichtungen der Subjekte in den Gesellschaftmodellen fordistischer Massenproduk­tion und -konsum­tion.6 Zugleich mehren sich in den Diskursen der US-amerikanischen Sozia­l- und Kulturwissenschaften die Bestrebungen, ihre spezifischen Vergesellschaftungsformen zu beschreiben und zu erklären. Vor allem ab den späten 1940er Jahren erweist sich die Frage nach den Disposi­tionen des Subjekts in der fordistisch-­kapitalistischen Massenkultur als das Schlüsselthema kritischer Gesellschaftsanalysen.7 Sie werden zum einen dominantes Thema in der akademischen Soziologie, in der u. a. mit Riesmans The Lonely Crowd (1950), Mills White Collar (1951) oder Whythes The Organisa­tion Man (1956) innerhalb weniger Jahre eine Vielzahl detaillierter Zustandsbeschreibungen der urbanen Subjektkultur in den USA vorgelegt wird. Zugleich finden sich in den technikhistorischen Studien von Kulturtheoretikern wie Sigfried Giedion oder Lewis Mumford wegweisende Arbeiten zur Genese und Dynamik moderner hochtechnisierter Gesellschaften. Diese schlagen nicht nur meist einen technikskeptischen Ton an, oftmals ist es für sie auch die New Yorker Subway, in der die Leiden an der Maschinisierung und Vermassung des Sozia­len besonders deut­lich zutage treten. Auf den folgenden Seiten wird es jedoch zunächst darum gehen, diese Dimensionen der Kritik und Abrechnung mit der Passagierkultur anhand ausgewählter künstlerischer Posi­tionen genauer zu diskutieren. Daran anschließend werden die zunehmend pessimistischen Analysen aus dem Feld der Sozia­lwissenschaft und Kulturtheorie rekonstruiert. Dabei wird sich zeigen, dass sie in der Betonung der Entfremdung in der Masse und der technischen Übermacht vor allem die Insignien der Künstlerkritik im Sinne von Boltanski/Chiapello tragen. Wenn im Zuge dessen vor allem Autoren wie Riesman und Mumford Beachtung finden, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie eine weitreichende Verbreitung und Rezep­tion erfahren haben und symptomatisch für die Kritik der modernen Metropolenkultur 6 Vgl. Rubin, Martin: »The Crowd, the Collective, and the Chorus: Busby Berkeley and the New Deal«, in: John Belton (Hrsg.): Movies and Mass Culture, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1996, S. 59 – 94. 7 Vgl. detaillierter Steinmetz, George: »Hot War, Cold War: The Structures of Sociological Ac­tion, 1940 – 1955«, in: Craig Calhoun (Hrsg.): Sociology in America: A ­History, Chicago und London: University of Chicago Press 2007, S. 314 – 366.

Pathologien des Pendlers  |

am Ende des Maschinenzeitalters sind. Somit werden sich die letzten Abschnitte des Kapitels der sozioökonomischen Krise New Yorks am Ende des Maschinenzeitalters sowie dem beginnenden Exodus der Passagiere aus der Subway widmen. Bevor wir uns jedoch diesen Dynamiken zuwenden, soll zunächst etwas genauer auf einen Subjekttypus geschaut werden, der unter den vielfältigen Formatierungen des Passagiers im Verlauf des Maschinenzeitalters immer deut­ licher in den Vordergrund rückt: der Pendler. Im Zuge der Etablierung der sogenannten Commuter Culture avanciert die täg­liche Erfahrung des Transits zu den Büros und Fabriken zu einem zentralen Motiv moderner Urbanitätserfahrung, an der die Zumutungen der fordistischen Massengesellschaft besonders prägnant zutage treten.

1. Pathologien des Pendlers The commuter is the queerest bird of all.8 E. B. White

Zwar entwickelt sich erst mit der Expansion der Subway das berufsbedingte Pendeln zu einer weit verbreiteten Alltagspraktik der Einwohner New Yorks, die Genese des modernen Pendlersubjekts lässt sich allerdings bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vor ihrer Eröffnung verorten. So formiert sich die Commuter Culture bereits im Zuge der Expansion der Eisenbahn und des Entstehens der ersten Vororte, die durch diese Infrastruktur mit den umliegenden Siedlungen verknüpft waren. Auch der Ursprung des Begriffes »Commuting« stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Arbeiter der neuen Vororte begannen, täg­lich per Eisenbahn in die innerstädtischen Fabriken und zurück zu fahren.9 Spätestens den 1920er Jahren scheint diese Passagiererfahrung so dominant zu werden, dass sie nun auch vermehrt in das Blickfeld der Künstler und Schriftsteller rückt. Ihre Thematisierung ist dabei vor allem von einer Sympathie und Solidarität mit den Passagieren getragen, die sich diesen Mobilitätsregimen tagtäg­lich unterwerfen 8 White, E. B.: »Here is New York«, Essays of E. B. White, New York: HarperCollins 2006, S. 148 – 168, hier S. 152. 9 Die Eisenbahnbetreiber boten den Arbeitern daraufhin an, ihre Fahrkarten in ein sogenanntes Commuta­tion ticket umzuwandeln: eine Zeitkarte, die wesent­lich günstiger war als die jeweils einzelnen Fahrten. Vgl.: Paumgarten, Nick: »There and Back Again: The Soul of the Commuter«, The New Yorker 16. April (2007). Ausführ­licher zur Commuter Culture siehe: Bowbly, Rachel: »Commuting«, in: Matthew Beaumont und Gregory Dart (Hrsg.): Restless Cities, London, New York: Verso 2010, S. 43 – 58.

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müssen. Beispielsweise notiert der amerikanische Schriftsteller Christopher Morley beim Anblick der allmorgend­lich aus der Subway strömenden Pendlermassen: But as the crowd pours from the cars, and shrugs off the burden of the journey, you may see them looking upward to console themselves with perpendicular loveliness leaping into the clear sky. Ah, they are well trained. All are oppressed and shackled by things greater than themselves; yet within their own orbits of free movement they are masters of the event. They are patient and friendly, and endlessly brave.10

Die in diesen Zeilen zum Tragen kommende Ambivalenz ­zwischen der Unterdrückung und Zurichtung der Passagiere einerseits sowie dem würdevollen Ertragen der Strapazen des täg­lichen Pendelns andererseits, ist symptomatisch für die Bewertung ­dieses Phänomens in dieser Zeit.11 So findet sich eine ähn­ liche Charakterisierung des Pendlersubjekts auch in dem ikonischen Text Here Is New York (1948) des amerikanischen Literaturwissenschaftler und Essayisten E. B. White (1899 – 1985). Für ihn stellt sich die Stadt New York zunächst nicht als homogene Einheit dar, sondern versammelt eine Vielzahl heterogener Erfahrungs- und Alltagswelten mit jeweils eigenen Subjektkulturen. So ist es neben dem New York der Einheimischen und dem New York der Migranten und Glücksritter vor allem die Kultur der Berufspendler, welche für White symptomatisch für moderne Stadterfahrung ist. Bis auf wenige Ausnahmen erschöpft sie sich für die Pendler in der Wahrnehmung des Transits und dem Blick aus den Fenstern der Büros. Für White erscheinen sie damit als bemitleidenswerte Kreaturen, die die Stadt allein im funk­tionalen Zusammenhang ihrer Lohnarbeit erleben. Die Erfahrungen des Abenteuers und des Vergnügens, welche die metropolitane Kultur New Yorks ebenfalls bereithält, bleibt ihnen weitestgehend verwehrt. In der täg­lichen maschinengleichen Bewegung, in der die Arbeiter und Angestellten in die Arbeitsstätten und zurück fahren, fungieren sie als Antithese der Subjektformen des Vagabunden und Flaneurs: »The commuter dies with a tremedious milage to his credit, but he is no rover.«12 Zugleich bringen die Pendlermassen, die die Bevölkerung Manhattans tagsüber nahezu auf das Doppelte anschwellen lassen, auch eine spezifische 10 Morley, Christopher: »Thoughts in the Subway [org. 1921]«, Plum Pudding: a Literary Concoc­tion, Maryland: Wildside Press LLC 2005, S. 133 – 135, hier S. 134. 11 Beispielsweise hebt auch Siegfried Kracauer angesichts der Eröffnung der Berliner Untergrundbahn ­zwischen Neukölln und Gesundbrunnen den zwiespältigen Charakter des Ausgeliefert-­Seins der Angestellten und Arbeiter in den »proletarischen Schnellbahnen« hervor. Kracauer, Siegfried: »Proletarische Schnellbahn«, Aufsätze 1927 – 1931, Bd. 5.2., Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 179 – 180. 12 White: »Here is New York«, S. 153.

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Rhythmik der Stadt hervor. Die Metapher, die White für diese Temporalität findet, ist jedoch alles andere als schmeichelhaft. Ihm zufolge verwandeln die Pendlermassen New York in eine Stadt »that is devoured by locusts each day and spat out each night.«13 Schaut man zudem genauer in die genderspezifischen Zuschreibungen des Pendlersubjekts aus dieser Zeit, wird augenfällig, dass diese vor allem maskulin konnotiert sind. Auf den Punkt gebracht wird dies von E. B. White in einem kleinen Vierzeiler aus dem Jahre 1929: Commuter – one who spends his life In riding to and from his wife; A man who shaves and takes a train And then rides back to shave again.14

Wenn White in diesen Zeilen den Pendler als patriarchalen Versorger beschreibt, scheint hier noch einmal das vergangene Heilsversprechen des Passagiers als Heros pastoral-­bürger­licher Moralität auf. Tatsäch­lich aber bilden Frauen spätestens nach dem E ­ rsten Weltkrieg einen wesent­lichen Anteil der Angestelltenmassen. Als Sekretärinnen, Verkäuferinnen oder Verwaltungsmitarbeiterinnen sind sie auf das täg­liche Pendeln mit der Subway angewiesen. Diese Dimensionen werden in den Beschreibungen Whites und Morley jedoch kaum thematisch. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, widmen sich jedoch die bildenden Künste dieser Zeit durchaus auch den Erfahrungen der weib­lichen Passagiere.

2. Passagierbilder Die Passagiere erscheinen als homogene Massensubjekte, deren formierte Körper auf engstem Raum zusammengepresst sind. Umgeben von leeren Treppen und Röhren wirken sie unentrinnbar in den labyrinthischen Gängen der Subway gefangen. Die Arbeit Subway, Crowds to the Underground Trains (Taf. 15) des italienischen Malers, Schriftstellers und Designers Fortunato Depero (1892 – 1960), die während seines zweijährigen Aufenthalts in New York entstand, zeichnet ein besonders drastisches Bild des maschinellen Untergrunds der Stadt.15 Obwohl 13 Ebd., S. 152. 14 White, E. B.: »The Commuter«, The Lady is Cold and Other Poems., New York: Harper & Brother 1929, S. 26. 15 Zu einer detaillierteren Darstellung des künstlerischen Schaffens Deperos während seiner Zeit in New York vgl.: Chiesa, Laura: »Transna­tional Multimedia: Fortunato Depero’s Impressions of New York City (1928 – 1930)«, California Italian Studies Journal 1/2 (2010), S. 1 – 33.

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sich Depero den Ideen des italienischen Futurismus verpflichtet fühlt, findet sich hier keinerlei Spur technolo­gisch induzierter Euphorie. Stattdessen tragen die kalten Gesichter der Passagiere einen unbeteiligten Ausdruck zur Schau, während ihre Bewegungen und Körperhaltungen gleichgeschaltet und monoton erscheinen.16 Diesen stoischen Haltungen und unbewegten Mimiken der Passagiere widmet sich auch der amerikanische Fotograf Walker Evans (1903 – 1975) in seinem Zyklus Many Are Called aus den Jahren ­zwischen 1938 und 1941. In einer Serie von 89 Porträts gibt er ein eindrück­liches Zeugnis der heterogenen Zusammensetzung der Menschen in der New Yorker Subway sowie ihrer Techniken transitorischer Kontempla­tion und Selbstbezogenheit (Taf. 16 – Taf. 18). Die Intimität dieser Bilder erreichte Evans vor allem dadurch, dass er die Passagiere heim­lich fotografierte: Er versteckte seine Kamera unter einem weiten Mantel und posi­tionierte die Linse direkt unter einem Knopfloch, um unbemerkt Aufnahmen machen zu können.17 Zudem war er vor allem in den Zügen der IRT unterwegs, da deren spezifische Sitzordnungen mit Reihungen entlang der Längsseiten der Waggons den idealen Abstand boten, um die Passagiere frontal abzu­lichten, ohne dass diese Verdacht schöpften.18 Mehrere Kommentatoren von Evans Arbeiten haben auf die merkwürdige Ambivalenz hingewiesen, die diesen Passagierporträts anhaftet.19 Sie werden einerseits als hart arbeitende Individuen ins Bild gesetzt, die trotz der Torturen des Lebens im depressionsgeschüttelten New York eine Aura von Gefasstheit und Würde ausstrahlen. Andererseits sieht man den Gesichtern der Passagiere in diesen vermeint­lich unbeobachteten Momenten deut­lich die Spuren der Strapazen und Zumutungen an, denen sie tagtäg­lich ausgeliefert waren. Auch verweist Evans mit dem Titel Many are Called ganz direkt auf den Bibelvers »Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt« (Mt 22,14) und bemüht so das Motiv der Verdammten und Ausgestoßenen für die Menschen 16 Vgl. Fitzpatrick, Tracy: Art and the Subway: New York Underground, Piscataway, New Jersey: Rutgers University Press 2009, S. 78. 17 Wie Fitzpatrick rekonstruieren konnte, war Evans jedoch bei Weitem nicht der einzige Künstler, der mit einer versteckten Kamera in der Subway fotografierte. Auch Arthur Leipzig und Arthur Frank unternahmen verdeckte Explora­tionen in das System. Siehe ausführ­licher: Ebd., S. 124 ff. 18 Brooks, Michael: Subway City. Riding the Trains, Reading New York, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1997, S. 167 f. 19 Siehe bspw.: Rosenheim, Jeff L.: »Afterword«, Walker Evans: Many Are Called, New York: Yale University Press 2004, S. 197 – 204; Fineman, Mia: »Notes for Underground: The Subway Portraits«, in: Maria Morris Hambourg und Jeff L. Rosenheim (Hrsg.): Walker Evans, New York: Metropolitan Museum of Art 2000, S. 106 – 119.

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in der Subway. Weniger als eine Dekade ­später kommt in dem Gemälde The Subway (1950) des amerikanischen Malers George Tooker (1920 – 2011) ­dieses Moment der Bedrohung und des Ausgeliefertseins besonders deut­lich zum Ausdruck (Taf. 19). Die zentrale Figur des Bildes, eine weiße Frau mittleren Alters, ist umstellt von labyrinthischen Absperrungen und Schleusensystemen sowie den bedroh­ lichen Blicken einiger männ­licher Figuren. Ihr Gesichtsausdruck suggeriert die Erfahrung von Panik, Depression und Schmerz. Tooker zeigt die engen Gänge einer Subwaysta­tion als furchteinflößendes Einschließungsmilieu, das besonders für die weib­lichen Passagiere einen Angstraum darstellt.20 Sowohl die Architektur als auch die Präsenz der anderen Subjekte wirken beängstigend und brutal, das Passagiersein wird als entfremdende, klaustrophobische und potenziell gefähr­liche Erfahrung dargestellt. Sozia­le Interak­tion erscheint hier als eine um jeden Preis vermeidenswerte Praktik, die vereinzelten Subjekte begegnen sich mit Vorsicht und Misstrauen. In dieser Arbeit finden sich zahlreiche Motive der Kritik an der New Yorker Passagierkultur wieder. Die Ambivalenzen dieser Zirkula­tionsapparatur ­zwischen den Momenten von Befreiung und neuen räum­lichen Mög­lichkeiten sowie ihrer Erfahrung als bedroh­lich und verunsichernd schlägt hier nun eindeutig in Richtung der negativen Bewertungen des Passagierdaseins aus. Damit ist Tookers Gemälde symptomatisch für eine Vielzahl künstlerischer Werke in dieser Zeit, von Reginald Marchs Zyklus Subway Sunbeams (1922 – 1927) bis zu Ida Abelmans Wonders of our Time (1937).21 So unterschied­lich ihre Arbeiten im Einzelnen auch sind, lassen sich dennoch gemeinsame Motive in der Darstellung der Passagiere finden. Das dominante Bild, das diese Künstler von der Subway entwerfen, ist das eines Raums sozia­ler Entfremdung inmitten der eng zusammengedrängten Massen. Dieses Motiv der einsamen Masse wird jedoch nicht nur in den künstlerischen Arbeiten zur New Yorker Subway immer wieder mobilisiert, es erweist sich auch als dominante Chiffre einer wachsenden Kritik an der modernen Massengesellschaft. Befördert wird dies vor allem durch das gleichnamige Buch des Soziologen David Riesman. Da für die Zeitgenossen diese einsame Masse vor allem anhand der New Yorker Passagierkultur augenfällig wird, sollen die Diagnosen Riesmans und seiner Kollegen im Folgenden etwas genauer beleuchtet werden.

20 Für eine detaillierte Interpreta­tion von Tookers Bild, insbesondere in Bezug auf Genderidentitäten, siehe: Hauser, Katherine Jane: »George Tooker, Surveillance, and Cold War Sexual Politics«, GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 11/3, S.  391 – 425. 21 Vgl. ausführ­licher: Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 87 ff.

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3. Einsame Masse und muntere Roboter Kaum eine soziolo­gische Studie aus der Mitte des letzten Jahrhunderts hat solch einen Einfluss erlangt wie die Untersuchung David Riesmans über Die Einsame Masse aus dem Jahre 1950.22 Verfasst mit seinen Mitarbeitern Nathan Glazer und Reuel Denney avanciert die Analyse nahezu augenblick­lich nach ihrem Erscheinen zu einem Bestseller. Die so einfache wie prägnante These des Buches ist die, dass im Zuge der sich abzeichnenden Konsolidierung des Bevölkerungswachstums mit Beginn des 20. Jahrhunderts eine kulturelle Dynamik in Gang gesetzt wurde, infolgedessen sich die Charaktermerkmale der amerikanischen Bevölkerung stark wandeln. Dabei unterscheidet Riesman drei dominante Charaktertypen, die historisch mehr oder weniger aufeinander folgen: den tradi­tions-­geleiteten, den innen-­geleiteten sowie den außen-­geleiteten Typus.23 Waren die Sinnstrukturen und Handlungsroutinen der Menschen vor Beginn der Industrialisierung noch weitgehend durch Überlieferungen und Tradi­tionen bestimmt, breitet sich mit der Bevölkerungsexplosion des 18. und 19. Jahrhunderts ein neues Leitmodell aus: der innen-­geleitete Charakter. Dieser zeichnet sich durch eine starke mora­lische Orientierung an zu verinner­lichenden Normen und Werten aus. Sind diese erst einmal von den Eltern und anderen Autoritätsfiguren erfolgreich implementiert, bleiben sie meist lebenslang stabil, auch im Falle drastischer gesellschaft­licher Umwälzungen. Hier nennt Riesman u. a. die bereits von Max Weber beschriebene protestantische Ethik als Paradebeispiel für ein solches Leitmodell.24 Formiert sich der innen-­geleitete Sozia­lcharakter als Reak­tion auf die Auflösung tradi­tioneller Orientierungsmuster sowie eine zunehmende Arbeitsteilung und ­sozia­le Differenzierung, gerät er mit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls in die Krise. Die Transforma­tion kapitalistischer Erwerbsstrukturen und die daraus resultierenden neuen Formen moderner Vergesellschaftung bringen für Riesman 22 Riesman, David: The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character, New Haven: Yale University Press 2001. Die Studie erscheint acht Jahre s­ päter auf Deutsch und mit einem Vorwort von Helmut Schelsky als: Die einsame Masse: Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1958. 23 Riesman: Die einsame Masse, S. 40 ff. Riesmans Konzep­tionen des Charaktertypus sind zwar relativ einfach gezeichnet, weisen aber durchaus Überschneidungen zu den Begriffen des Typus und der Subjektform auf. Sie alle sind »Abstrak­tionen« (S. 45), »Konstruk­tionen« oder »Typen« (S. 47), die für eine analytische Gesellschaftsbeschreibung notwendig sind. 24 Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [org. 1920], hg. von Dirk Käsler, München: Beck 2010.

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zwangläufig eine Umorientierung von Tradi­tion und Inner­lichkeit auf äußer­ liche Orientierungsmuster mit sich. Der sich nun formierende Charaktertypus der Außenleitung ist für Riesman vor allem mit dem Aufstieg der fordistischen Massenkultur in den amerikanischen Metropolen verbunden. Wenn es vor allem die Großstädte wie New York und Boston sind, die sein Entstehen begünstigen, sind es dort zunächst die Vertreter gehobener Einkommensgruppen, die d ­ ieses 25 Modell übernehmen. Spätestens ab den 1940er Jahren erweist sich der außen-­ geleitete Sozia­lcharakter allerdings als immer dominanter und wird auch für die Arbeiter und Angestellten zum Leitmodell. Was Riesman mit dem Begriff der Außenleitung zu fassen versucht, ist die primäre Steuerung der Subjekte durch ihre jeweils aktuelle Umgebung. Dies geschieht einerseits durch die Peer-­Group, also die Freunde und Kollegen, andererseits durch Instrumente der Massenkommunika­tion, der Reklame sowie der politischen Propaganda. Um diese Differenz z­ wischen innen- und außengeleiteten Subjekten genauer zu bestimmen, greift Riesman bezeichnenderweise zu einer Metapher aus dem Bereich der Technik.26 Während die innen-­geleiteten Subjekte noch über einen Kreiselkompass verfügten, der ihnen Orientierung auf Basis ihrer eigenen Posi­tion ermög­lichte und sie so »auf Kurs«27 hielt, ist für die außen-­geleiteten dieser Kompass durch eine Radar-­Anlage ersetzt, mit dessen Hilfe die eigene Posi­tion anhand äußerer Signale bestimmt wird. Die Disposi­tionen ­dieses von Helmut Lethen auch als »Radar-­Typ«28 beschriebenen Sozia­lcharakters bringt Riesman wie folgt auf den Punkt: Die von den außen-­geleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit der sich verändernden Steuerung durch die von außen empfangenen Signale. Unverändert bleibt ledig­lich diese Einstellung selbst und die genaue Beachtung, die den von den anderen abgegebenen Signalen gezollt wird.29

Im Unterschied zur bürger­lichen Subjektkultur des 19. Jahrhunderts treten die Subjekte nun nicht mehr nur mit einer potenziellen Bereitschaft, sondern mit einem ausdrück­lichen Bedürfnis nach Lenkung auf. Zudem tritt anstelle der Verhaltenskontrolle durch Scham oder Schuldgefühle eine »diffuse Angst«.30 25 Vgl. Riesman: Die einsame Masse, S. 36. 26 Ebd., S. 32 f sowie S. 41. Den Moment des Verweises auf eine technische Metapher bemerkt auch Lethen: Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche ­zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 235. 27 Riesman: Die einsame Masse, S. 33. 28 Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 235 ff. 29 Riesman: Die einsame Masse, S. 38. 30 Ebd., S. 41.

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Diese setzt die Subjekte in eine ständige Alarmbereitschaft, um mög­liche Signale jederzeit empfangen und ihr Verhalten danach ausrichten zu können. Das riesmansche Narrativ der Umcodierung von einer Innen- zur Außenleitung stellt dabei auch die Frage nach der Autonomie der Subjekte. So ist die von ihm konstatierte hohe »Empfangs- und Folgebereitschaft«31 nicht einfach mit einem blinden Gehorsam oder einer reinen Reak­tion auf umwelt­liche Einflüsse gleichzusetzen. Vielmehr entbirgt sich die Autonomie und Selbstbestimmtheit in mindestens zweierlei Aspekten: Dies ist zum einen die Emanzipa­tion von tradi­tionellen Deutungshoheiten und Subjektivierungsinstanzen, wie die der ­Kirche, der Familie oder des Staates. Zum anderen sind die Anforderungsprofile der Subjekte in den Metropolen des Maschinenzeitalters so vielfältig, dass sich hier zwangsläufig Mög­lichkeiten der Wahl eröffnen.32 Wenn Riesman betont, dass die nach-­bürger­liche Subjektordnung zwar einerseits neue Befreiungsgrade und Wahlmög­lichkeiten eröffnet, diese jedoch mit der Fragilität sozia­ler Orientierung und individueller Persön­ lichkeitsentwicklung erkauft, treten damit die Ambivalenzen außen-­geleiteter Subjektivität offen zutage.33 Dass die Pluralität urbaner Lebensentwürfe und die Freisetzung der Subjekte aus starren Rollenmodellen auch neue Formen von Autonomie erlauben, hatte bereits Simmel erkannt.34 Auch in der Annahme Riesmans, dass der außen-­geleitete Charakter eine Reak­tion auf die Anforderung ist, »mit den sozia­len Erfordernissen der modernen städtischen Kultur fertigzuwerden«,35 finden sich deut­liche Anleihen an simmelsche Überlegungen. Hier soll es nun nicht darum gehen, Riesmans Analysen auf ihre Plausibilität hin zu diskutieren. Es kann aber konstatiert werden, dass seine Ausführungen 31 Ebd., S. 272. 32 Wie auch Helmut Lethen betont, liegt die Stärke und Originalität von Riesmans Ansatz darin, Außenlenkung und Autonomie der Subjekte zusammenzudenken. Siehe: Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 46. 33 Vgl. dazu ausführ­licher Ebd., S. 236 f. 34 Bspw. in Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben [1903]«, in: Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 116 – 131; Simmel, Georg: Philo­ sophie des Geldes, Gesamtausgabe Band 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S.  655 ff. 35 Riesman: Die einsame Masse, S. 256. Zudem ist es sicher auch Simmels Einfluss auf Riesman zu verdanken, dass hier trotz des Untertitels der Studie ausdrück­lich der Anspruch erhoben wird, eine historische Dynamik zu beschreiben, die nicht allein auf den nordamerikanischen Kontinent beschränkt ist. Da das Erscheinen ­dieses neuen Charakters in den globalen Entwicklungstendenzen von Kapitalismus, Industrialisierung und Verstädterung zu verorten sei, wie Riesman mehrmals betont, würde er sich über kurz oder lang weltweit ausbreiten. Vgl. Ebd., S. 138.

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bei den Zeitgenossen offenbar einen Nerv treffen. So lässt sich der augenblick­ lich einsetzende massive Erfolg ­dieses Buches auch darauf zurückführen, dass ­Riesman und seine Mitarbeiter hier Deutungsmuster bereitstellen, mit denen sich die Menschen der Zeit selbst entziffern und verorten können. Allein der Titel der Studie avanciert rasch zu einem prominenten Sinnbild moderner urbaner Angestelltenkultur und deren Sozia­lpathologien. Dabei scheint jedoch nirgendwo das Bild der einsamen Masse so augenfällig zu sein wie für die Passagiere der Subway. Bis heute wird sie in Bezug auf die im Transit beobachtbaren Formen sozia­ler Interak­tion mobilisiert – vor allem, um auf die Merkmale der Isola­tion und Steuerbarkeit der Subjekte zu rekurrieren.36 Und in der Tat finden sich in der Subway zahlreiche Phänomene, die sich mit den von Riesman diagnostizierten Dynamiken decken oder diese sogar noch zuspitzen. Dies gilt zunächst für die Kategorie der diffusen Angst, mit der die Subjekte auf die überwältigende Fülle von Orientierungsangeboten und potenziellen Sozia­lkontakten reagieren und die George Tooker eindrucksvoll in Szene gesetzt hat. Zugleich betrifft dies die sich in den visuellen Regimen der Subway inskribierte Steuerbarkeit der Passagiersubjekte durch äußere Signale. Zeichnen sich Riesman zufolge die modernen Metropolensubjekte durch eine neue Form von charakter­licher »Plastizität«37 aus, die s­ ozia­le Integra­tion über die Gestaltungen und Prägungen ihrer Praktiken und Wahrnehmungen bewerkstelligt, gilt dies für die Passagiere in besonderem Maße. Auch die Vorstellung der Entleerung der Subjekte von einer mora­lischen Inner­lichkeit zugunsten einer behavioristischen Sach­lichkeit findet sich in den logistischen und konsumistischen Wissensregimen der Subway wieder, die die Passagiere ebenso blackboxed wie normiert. Nur ein Jahr nach Riesmans einflussreicher Beschreibung der Massenkultur in den Metropolen des Maschinenzeitalters erscheint mit C. Wright Mills Studie White Collar – The American Middle Classes eine weitere wirkmächtige Analyse und Kritik dieser Phänomene.38 Ähn­lich wie bei Mills Freund und Kollegen Riesman sind es auch hier die amerikanischen Metropolen, und allen voran New York, in denen diese neuen Subjektkulturen am deut­lichsten sichtbar 36 Vgl. beispielsweise Walker, Robert H.: »The Poet and the Rise of the City«, The Mississippi Valley Historical Review 49/1 (1962), S. 85; Hosokawa, Shuhei: »Der Walkman-­Effekt«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1990, S. 229 – 251; ­Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 90 ff; Brooks: Subway City, S. 108 ff. 37 Riesman: Die einsame Masse, S. 138. 38 Mills, C. Wright: White Collar: The American Middle Classes, New York: Oxford University Press 1951. In deutscher Übersetzung erschienen als: Menschen im Büro: Ein Beitrag zur Soziologie der Angestellten, Köln-­Deutz: Bund-­Verlag 1955.

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werden.39 Stärker noch als Riesman sieht Mills die vermassten Angestelltensubjekte durch Angst und Einschüchterung getrieben.40 Er findet in der modernen Metropolenkultur eine Form gesellschaft­lichen Zusammenlebens verwirk­licht, die im Gegensatz zu Simmel und Riesman keinerlei Ambivalenzen z­ wischen Befreiung und Entfremdung mehr beinhaltet. Stattdessen kippen ihre sozia­ len Interak­tionsformen endgültig ins Patholo­gische. Damit stellt Mills dem modernen Subjekt eine Diagnose, die kaum kulturpessimistischer sein könnte: Die Vertrau­lichkeit und die persön­liche Note einer menschlichen Beziehung haben für ihn ihre eigent­liche Bedeutung verloren; häufig sind sie nur noch erkünstelte, unpersön­liche Machenschaften, bloße Dekora­tion. […] Körper­liche Nähe bei gesellschaft­lichem Abstand bewirkt, dass sich die menschlichen Beziehungen intensiv und unpersön­lich zugleich gestalten.41

Das Bild, das Mills vom Charakter der amerikanischen Angestelltenkultur zeichnet, ist das einer aller individuellen Gedanken beraubten und gleichgeschalteten Masse. Diese besteht aus normierten und automatisierten, aber zugleich hoch motivierten Maschinensubjekten. Sie sind nichts weniger als »muntere Roboter«.42 Nicht zufällig bringt Mills hier ähn­lich wie Riesman eine Metapher aus dem Bereich der Technik in Anschlag, um die Subjekte des Maschinenzeitalters zu charakterisieren. Gerade die Kopplungen moderner bürokratischer Regime und technischer Innova­tionen sind es, auf die die Vertreter der amerikanischen Soziologie in dieser Epoche immer wieder hinweisen, wenn sie die besondere Wirkmacht der modernen Massengesellschaft erklären wollen.43 Während sie diese vor allem in Hinblick auf die Nivellierungs- und Entfremdungstendenzen fordistischer Produk­tion und Konsum­tion kritisieren, widmen sich die Kulturtheoretiker der Zeit primär den Momenten der technischen Übermacht der Maschine. Bereits die Eindrücke des ­Ersten Weltkriegs hatten bei vielen Intellektuellen das Bewusstsein für die Ambivalenzen einer Kultur der Maschinisierung geschärft. Spätestens hier wurde deut­lich, dass die Maschinisierung der Gesellschaft mit 39 Nicht zuletzt deswegen, da Mills lange Zeit in New York gelebt und an der Columbia University unterrichtet hat. Vgl. Harrison, Marjorie: »Mills Charles Wright«, in: Kenneth T. Jackson (Hrsg.): The Encyclopedia of New York City, 1. Aufl., New Haven: Yale University Press 1995, S. 763. 40 Mills: Menschen im Büro: Ein Beitrag zur Soziologie der Angestellten, S. 327 ff. 41 Ebd., S. 343. 42 Ebd., S. 319. Im Original »Cheerful Robots«, Mills: White Collar: The American Middle Classes, S. 233. 43 Vgl. ausführ­licher: Steinmetz: »Hot War, Cold War: The Structures of Sociological Ac­tion, 1940 – 1955«.

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der des Krieges untrennbar verbunden war. Man erkannte, dass der Code des Maschinellen sowie die technischen Erfindungen zu einer neuen Form von militärischer Auseinandersetzung geführt hatten. Der erste totale Krieg unter dem Paradigma der Maschinisierung und der Materialschlacht hinterließ nicht nur horrende Opferzahlen. Er zeigte auch, dass die neuen Kriegsmaschinen, wie Panzer, Giftgas und automatische Gewehre, die Körper auf bislang ungekannte Art verstümmelten und zerstörten. Auch der Technikphilosoph Thomas P. Hughes macht darauf aufmerksam, dass eine Vielzahl von Forschungen und technischen Erfindungen, die als ­­Zeichen des Wohlstands in die privaten und öffent­lichen Räume einzogen, von Unternehmen der Rüstungsindustrie bezahlt und für die Entwicklung neuer Waffen und Strategien verwendet wurden.44 Einen Weltkrieg s­ päter sind nun die Stimmen derer, die die negativen Auswirkungen der Maschinisierung aller Lebensbereiche herausstellen, nicht mehr zu überhören. Immer mehr Intellektuelle, wie Lewis Mumford oder Sigfried Giedeon in den USA oder Martin Heidegger und Günther Anders in Deutschland, sehen in der Übermacht der modernen Technik eine neue Form von Kontrolle und Beherrschung verwirk­licht. Ihnen zufolge zwingt sie nicht nur die Subjekte in Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse, sondern gefährdet gar die Existenz der Menschheit selbst. Damit formulieren diese Denker eine radikale Absage an die Technikeuphorie und den Fortschrittsglauben, der in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts noch weitestgehend ungebrochen war. Im Folgenden sollen diese Posi­tionen anhand ausgewählter Schriften von Lewis Mumford sowie einem Seitenblick auf Sigfried Giedion und Herbert Marcuse herausgearbeitet werden. Dabei wird das besondere Interesse vor allem auf jenen Momenten liegen, in denen die Kritik der Übermacht der Maschinen enge Bezüge zur New Yorker Passagierkultur aufweist.

4. Die Subway als Megamaschine Die Arbeiten des New Yorker Kulturtheoretikers, Architekturkritikers und Technikhistorikers Lewis Mumford (1895 – 1990) erscheinen im Rückblick als geradezu paradigmatisch für den grassierenden Technikskeptizismus am Ende des Maschinenzeitalters. Verdichtet sich Mumfords Denken vor allem in seinen späten Büchern zu einem radikalen Kulturpessimismus, war seine Einschätzung der technischen Zivilisa­tion lange Zeit durchaus ambivalent. Vor allem seine frühen Schriften sind noch von einem utopischen Hoffnungsmoment 44 Hughes, Thomas P.: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, München: C. H. Beck 1991, S. 17.

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durchzogen, in dem er den neuen Technologien der Elektrizität, Mobilität oder Massenkommunika­tion auch emanzipatorische Potenziale zuspricht.45 Damit lassen sich anhand Mumfords Schriften nicht nur die Dynamiken der anfäng­ lichen Euphorie, späteren Ernüchterung und letzt­lichen radikalen Absage an die Phänomene des Maschinenzeitalters nachvollziehen. Auch seine Einschätzung der Subway und ihrer Passagiere wird im Verlauf seiner Kulturdiagnosen immer düsterer. Letzt­lich kumulierten Mumfords Überlegungen zur Technik im Konzept der »Megamaschine«, das er vor allem in seinem zweibändigen Opus M ­ agnum Der Mythos der Maschine (1967/1970) auf nahezu 800 Seiten entfaltet.46 ­Mumford zufolge lassen sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer wieder Momente beobachten, in denen sich hochkomplexe und ressourcenintensive Organisa­tionsformen herausbilden, die mit Hilfe hierarchischer Verwaltungen und autoritärer »Monotechnik« gigantische Projekte realisieren. Die erste jener Megamaschinen verortet Mumford bereits vor nahezu 5000 Jahren in den Pyramidenkonstruk­tionen des alten Ägypten.47 Im Verlauf seiner Tour de Force durch mehrere Jahrtausende Globalgeschichte findet er sie ebenso in den religiösen Großorganisa­tionen der frühchrist­lichen ­Kirchen, den Heeren des Mittelalters oder in den absolutistischen Herrschaftssystemen mitsamt ihren Feldzügen und Kolonisierungen. Dabei ist die Megamaschine zunächst als dispositive Organisa­tionsmacht zu verstehen, die erst in einem zweiten Moment technischen Ra­tionalitäten folgt.48 Sie besteht stattdessen aus der effizienten Kopplung einer Vielzahl heterogener Elemente wie der Akkumula­tion und Verdichtung von Ressourcen und Arbeitskraft, der Implementierung administrativer Verfahren sowie der Verwendung von komplexen Großtechnologien.49

45 Bspw. in: Mumford, Lewis: The Story of Utopias [1922], Whitefish, Montana: K ­ essinger Publishing 1962. 46 Mumford, Lewis: Mythos der Maschine: Kultur, Technik und Macht, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1977. 47 Vgl. Ebd., S. 219 ff. 48 Der Begriff der Maschine ist dabei ausdrück­lich weder allegorisch noch symbo­lisch zu verstehen, sondern im strikten Sinne. Die Maschine ist zunächst eine s­ ozia­le Forma­tion und erst in zweiter Instanz technisch konnotiert. Damit ist Mumfords Begriff der Maschine auch eine zentrale Inspira­tion für die Konzep­tionen Gilles Deleuze und Felix Guattaris. Vgl. dazu die Einführung dieser Arbeit sowie: Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Anti-­Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 179 ff. 49 Vgl. auch: Böhme, Hartmut, Matussek, Peter und Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft: Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S.  172 f.

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In den modernen Megamaschinen des 19. und 20.  Jahrhunderts sieht ­Mumford allerdings eine gänz­lich neue Qualität der Vermassung und Ausbeutung der Menschen verwirk­licht. Die industriellen Kriege, modernen Siedlungsformen und gigantischen Fabrika­tionssysteme s­ eien nun besser als je zuvor in der Lage, Ressourcen und Arbeitskraft zu akkumulieren und die Menschen unter dem zentralistischen Prinzip der Maschine zu subsumieren. Ihr Erfolg beruht dabei nicht zuletzt auf der Anwendung der Prinzipien moderner Verwaltung, Standardisierung und Automatisierung.50 Dass man nun am Endpunkt dieser Entwicklung angelangt sei, wird für Mumford sowohl anhand der Großtechniken der Atomenergie sichtbar, die er als »Pyramiden mit Klimaanlage«51 bezeichnet, wie an den monströsen Formen urbaner Akkumula­tion in der west­ lichen Hemisphäre: der »Megalopolis«.52 Gerade New York, deren radikale Metamorphose durch die Subways und Wolkenkratzer Mumford hautnah miterlebt hatte, verkörpert für ihn alle Fehlentwicklungen und Irrungen der modernen kapitalistischen Gesellschaft und ihrer entfremdeten Massenkultur. Schon 1934 bemerkt er, dass New York City nicht weniger geworden sei als: »the center of furious decay, which [is] called growth, enterprise, and greatness«.53 Waren die gigantischen Maschinen der Subway ursprüng­lich als Antwort auf das Chaos der Megalopolis geschaffen worden, wandeln sie sich in seinen Augen nun mehr und mehr zu Instrumenten normierender Macht und universeller Kontrolle.54 Bereits im Jahre 1919 hatte Mumford das System im Hinblick auf seine integrative Funk­tion für die Menschen der Stadt analysiert.55 Indem die Expansion der Subway vormals rurales Weideland an den Stadträndern praktisch über Nacht in Mietskasernensiedlungen verwandelte, fungierte sie ihm zufolge jedoch primär als Motor kapitalistischer Immobilienspekula­tion. Die Segnungen dieser neuen Zirkula­tionsmaschinerie würden so vor allem den ökonomischen Eliten zugutekommen, während die Bewohner der Subway Suburbs die tagtäg­lichen Strapazen des Pendelns zu ertragen hätten.56 50 Mumford: Mythos der Maschine: Kultur, Technik und Macht., S. 523 ff. 51 Ebd., S. 679. 52 Mumford, Lewis: The Culture of Cities [1938], San Diego, New York, London: Harvest/­ HBJ 1970, S. 229 ff. 53 Mumford, Lewis: »The Metropolitan Milieu«, in: Waldo Frank u. a. (Hrsg.): America and Alfred Stieglitz: A collective Portrait, Garden City. New York: Doubleday, Doran & Co. 1934, S. 33 – 58, hier S. 40. Zitiert aus: Brooks: Subway City, S. 114. 54 Mumford: The Culture of Cities [1938], S. 426. 55 Mumford, Lewis: »Attacking the Housing Problem on Three Fronts«, Na­tion 109/2827 (1919), S. 332 – 333. 56 Vgl. Ebd., S. 333.

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Auch in späteren Schriften verweist Mumford immer wieder auf die ungeheure gesellschaft­liche Wirkmacht der Subway. Sie erschafft nicht nur neue Formen ökonomischer Verwertung und administrativer Kontrolle, ihre mechanischen Umwelten produzieren auch neue ästhetische Erfahrungen und Gewohnheiten, die durchaus ambivalenten Charakter tragen.57 Je ­später Mumford über die Subway schreibt, desto mehr nimmt sie für ihn den Charakter einer menschenverachtenden Megamaschine an, in der die Passagiere nicht nur die brutalen »schwedischen Massagen«58 durch die Ordnungskräfte zu ertragen haben, sondern im »Mahlwerk« der Subway geradezu zerrieben werden.59 Im Jahre 1952, wenige Monate vor der endgültigen Vereinigung der drei Subwaysysteme unter dem Dach der Transit Authority, erscheint sie für Mumford nun endgültig als eine ähn­lich töd­liche und unmenschliche Technologie wie die Massenvernichtungswaffen von Hiroshima und Nakasaki. In seiner Aufsatzsammlung Arts und Technics nennt er die Subways und Highways in gleichem Atemzug mit der Atombombe, wenn er die Übermacht technischer Artefakte und Infrastrukturen beklagt: »the overdevelopment of subways and multiple express highways and atom bombs […] in our civiliza­tion today.«60 Dieser Vergleich mag uns heute vermut­lich irritieren. Dass er damals jedoch plausibel erschien, ist vielleicht vor dem Hintergrund der damaligen Desillusionierung von der Fortschrittseuphorie und der als allgegenwärtig empfundenen technischen Bedrohung verständ­licher. Besonders die unsagbaren Leiden und Schrecken des Zweiten Weltkriegs hatten die Zerstörungsmacht moderner Technik und militärischer Logistik vor Augen geführt. Unter ­diesem Eindruck äußern neben Mumford auch zahlreiche andere Philosophen und Intellektuelle der Zeit starke Zweifel an einer Kultur, in deren Maschinencharakter sie eine neue Form sozia­ler Kontrolle und Zerstörungskraft erkennen.61 Ähn­lich argumentiert auch der Schweizer Ingenieur, Architekturtheore­ tiker und Technikphilosoph Sigfried Giedion (1888 – 1968). Er veröffent­licht im Jahre 1948 mit seinem Mammutwerk Mechanisa­tion takes Command (dt.: Die Herrschaft der Mechanisierung) eine radikale Abrechnung mit dem Maschinenzeitalter und seinen unerfüllten Verheißungen eines besseren Lebens.62 Mit 57 Mumford: Technics and Civiliza­tion [1934], S. 333. 58 Mumford, Lewis: »The Intolerable City: Must It Keep on Growing?«, Harper’s 152 (1926), S. 283 – 293, hier S. 284. Siehe auch dazu Brooks: Subway City, S. 114 f. 59 Mumford: »The Intolerable City: Must It Keep on Growing?«, S. 285. 60 Mumford, Lewis: Art and Technics, New York: Columbia University Press 2000, S. 145. 61 Vgl. Hughes: Die Erfindung Amerikas: Der technolo­gische Aufstieg der USA seit 1870, S. 13. 62 Giedion, Sigfried: Mechaniza­tion Takes Command: a Contribu­tion to Anonymous History, Oxford, New York: Oxford University Press 1948. Giedion hatte diese Studie

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einer beeindruckenden Detailfülle und Fachkenntnis zeichnet er den Prozess der Maschinisierung von ihren Anfängen in der Antike bis zur sogenannten »Vollmechanisierung« durch die Ausbreitung von tayloristischer Betriebsführung und fordistischer Fließbandorganisa­tion nach. Ähn­lich wie Mumford beurteilt er das Resultat dieser Entwicklung jedoch als höchst bedenk­lich: So wird der Einzelne von der Produk­tion und Gesellschaft als ganzer immer abhängiger, und die Beziehungen sind viel komplexer und tiefer miteinander verflochten als je zuvor in irgendeiner Gesellschaft. Das ist einer der Gründe, warum der Mensch heute von den technischen Mitteln überwältigt wird. […] Niemals verfügte die Menschheit über so viele Mittel zur Abschaffung der Sklaverei wie heute. Doch die Versprechungen sind nicht gehalten worden. Das Einzige, was wir bis jetzt vorweisen können, ist eine ziem­lich beunruhigende Unfähigkeit, in der Welt oder bei uns selbst Ordnung herzustellen. Künftige Genera­tionen werden unsere Zeit vielleicht als die der mechanisierten Barbarei, der abstoßendsten Form der Barbarei, bezeichnen.63

Wenn Gideon am Ende seines epochalen Werkes eindring­lich vor den Gefahren technischer Übermacht und mechanisierter Barbarei warnt, dann tut er dies vor allem in Sorge über die in diesen Prozessen verstrickten und ausgebeuteten Subjekte. Trotz all des Kulturpessimismus, den Mumford und Giedion dabei an den Tag legen, wäre es doch falsch, ihnen eine grundsätz­liche Technikfeind­lichkeit zu unterstellen. Vielmehr richtet sich ihre Kritik vor allem auf die Großtechnologien und die durch sie realisierten kapitalistischen Verwertungslogiken. Zudem sind sie in ihrer negativen Einschätzung der modernen Massenkultur nicht allein. Stattdessen bewegen sie sich in einem Diskursfeld, in dem es von pessimistischen Subjektdiagnosen nur so wimmelt: von Reichs Charakterpanzer 64 und Fromms Man for Himself   65 bis zu den völlig entfremdeten Subjekten in Adornos und ­Hochheimers Dialektik der Aufklärung.66 vor allem in seiner Zeit an den Universitäten von Yale und Harvard verfasst und so auch zuerst in den USA veröffent­licht. Erst mehr als dreißig Jahre ­später sollte sie auf Deutsch erscheinen: Die Herrschaft der Mechanisierung: Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt am Main: Euro­päische Verlagsanstalt 1982. 63 Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung, S. 769 f. 64 Reich, Wilhelm: Charakteranalyse [org. 1933], Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989. 65 Fromm, Erich: Man for Himself: An Inquiry Into the Psychology of Ethics [org. 1947], New York und London: Routledge 1999. Auf Deutsch erschienen 1949 als: Den Menschen verstehen: Psychoanalyse und Ethik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004. 66 Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung [org. 1947], Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995.

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Trotz zahlreicher Differenzen eint all diese Untersuchungen, dass sich ihre Kritik primär gegen die Folgen moderner Massenproduk­tion und -konsum­tion richtet. Dass die Standardisierung der darin erzeugten Güter in enger Wechselwirkung mit der Vermassung der Subjekte steht, betonen auch Boltanski/ Chiapello: »Die Objekt- und Funk­tionsstandardisierung führt dazu, dass die Objektnutzung und folg­lich auch die Objektnutzer in ähn­licher Weise standardisiert werden. Ohne dass sie es unbedingt gewollt hätten oder sich dessen überhaupt bewusst wären, wird ihr Alltagsleben vermasst.«67 Der mehr oder weniger unterschwellige Tenor, der diesen Formen der Künst­ler­kritik von Riesman bis Giedion gemein ist, betrifft somit vor allem zwei Aspekte: In einem ersten Moment zielt er auf die Entfremdung, fehlende Menschlichkeit und entmündigende Technizität ab, die in der Subjektkultur des Maschinenzeitalters im Allgemeinen und bei den Angestellten und Passagieren im Besonderen zutage tritt. Im zweiten Moment richtet er sich gegen die Unterdrückung, die von der fordistischen Massengesellschaft und ihren Instanzen ausgeht.68 Dabei wird vor allem die Repression der menschlichen Freiheit, Kreativität, Individualität und Autonomie skandalisiert. Sie entzündet sich an der Diagnose kultureller Uniformierung und Technisierung, deren zentrales Empörungsmoment der Abbau der Differenz z­ wischen Maschinen und Menschen ist.69 Diese Dynamiken treffen in den Augen der Zeitgenossen nicht zuletzt auf die Nutzer der Subway zu, die unter den logistischen Regimen normiert und reguliert werden und dabei vor allem als Massensubjekte in den Blick kommen. Spätestens mit der sich etablierenden Gegenkultur der frühen S ­ echziger Jahre verdichtet sich diese Kritik an einer durchtechnisierten und -ra­tio­ nalisierten Gesellschaft zu einer breiten kulturellen Strömung. Ikonische Schriften wie Herbert Marcuses One-­Dimensional Man (1964) oder Guy Debords La Société du spectacle (1967) rechnen in drastischen Worten mit dem als inauthentisch und entfremdend empfundenen Leben im sogenannten Spätkapitalismus ab und werden von den aufkeimenden Protestbewegungen in den USA und Europa begeistert rezeptiert.70 Für Marcuse, der seine 67 Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 473 f. 68 In ­diesem Kontext muss auch das epochale Werk Masse und Macht des Schriftstellers Elias Canetti (1905 – 1994) aus dem Jahre 1960 erwähnt werden: Masse und Macht, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2010. Auch wenn ­dieses Buch eher als literarischer bzw. lyrischer Text denn als soziolo­gische Analyse verstanden werden muss, so sieht Canetti die Masse ebenso wie Riesman als alle Unterschiede nivellierend und durch ihre Dichte bestimmt. 69 Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 473. 70 Ebd., S. 476.

Die Subway als Megamaschine  |

­ auptgedanken zur Subjektivität des eindimensionalen Menschens während H seiner Zeit in New York in den späten 1940ern und frühen 1950ern entwickelt,71 stellen die Passagiere der Subway ein Paradebeispiel für die Zurichtungen der technolo­gischen Gesellschaft dar: Die Untergrundbahn während der Hauptverkehrszeit. Was ich von den Menschen sehe, sind müde Gesichter und Glieder, Hass und Ärger. Ich habe das Gefühl, in jedem Augenblick könnte jemand ein Messer hervorziehen – nur so. Sie lesen oder sind vielmehr vertieft in ihre Zeitung, ihr Magazin oder ihren Paperback. Und doch könnten ein paar Stunden s­ päter dieselben Leute, von Gerüchen befreit, gewaschen, fest­lich oder bequem gekleidet, glück­lich und zärt­lich sein, wirk­lich lächeln und vergessen (oder sich erinnern). Aber die meisten von ihnen werden wahrschein­lich zu Hause ein schreck­liches Beisammensein erleben oder schreck­lich einsam sein.72

Wie wir gesehen haben, steht Marcuse mit dieser Charakterisierung der New Yorker Passagierkultur als Sinnbild der Entfremdung und Vereinzelung in der kapitalistischen Massengesellschaft nicht allein da. Wenn sich diese Diagnosen vor allem ab den 1950ern zu einer breiten intellektuellen Abrechnung mit dem Maschinenzeitalter und ihren Leitideen verdichten, so werden diese oftmals aus der Perspektive des sich abzeichnenden Endes dieser Epoche formuliert. Dabei kommt es nicht von ungefähr, dass der Höhepunkt der Standardisierung und Vereinigung der New Yorker Subway in genau die ­gleiche Zeit fällt, in der auch die Paradigmen der Vermassung, Normierung und Maschinisierung des Sozia­len ihren Zenit erreichen. Die beiden letzten Abschnitte d ­ ieses Kapitels werden somit zeigen, dass die 1950er Jahre ebenso den Beginn einer tiefen Krise der Passagierkultur New Yorks und den Beginn eines schleichenden Verfalls der Subway markieren. Dies wird zum einen durch den Niedergang der amerikanischen Metropolen im Zuge den Exodus der Mittelschicht in die Vorstädte und die damit einhergehende ökonomische Rezession befördert. Zum anderen zeitigt das Ende des Maschinenzeitalters die Emergenz eines neuen technolo­gischen Ideals, in dem die Subway nun mehr und mehr als antiquiertes Relikt einer vergangenen Epoche erscheint. Stattdessen waren es nun neue Maschinen, wie das Automobil, welche die Hoffnungen und Fantasien der Menschen beflügelten.

71 Zur Entstehungsgeschichte ­dieses Buches vgl. ausführ­licher: Kātz, Barry: Herbert Marcuse and the Art of Libera­tion: An Intellectual Biography, New York: Verso 1982. 72 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994, S. 238.

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5. Abschied vom Maschinenzeitalter Infolge der neuen technolo­gischen Entwicklungen glauben sich die Menschen in den west­lichen Industriena­tionen der 1950er Jahren als Zeugen einer zweiten industriellen Revolu­tion. Als Herolde dieser neuen Ära galten einerseits die neuen chemischen Verfahren zur Herstellung von Kunststoffen und die hocheffizienten Verbrennungsmotoren. Ebenso waren es die Hochtechnologien der Atomenergie und Raumfahrt sowie die Transistoren und ersten Mikrochips, die bei den Zeitgenossen den Eindruck evozierten, am Beginn einer neuen zivilisatorischen Blüte zu stehen. Das dominante Wissensmodell des Maschinenzeitalters, das im Kern noch auf einer Idee des Mechanischen aufbaute, wurde so nach und nach durch die Leitideen komplexer kybernetischer Systeme ersetzt.73 Die alte Epoche der Maschinen, so schien es, konnte man nun guten Gewissens historisieren. Neben Mumford und Gideon ist es vor allem der Architekturtheoretiker Reyner Banham (1922 – 1988), für den die Mitte des 20. Jahrhunderts solch eine markante Zeitenwende darstellte, dass er sich bereits wenige Jahre ­später in der Lage sieht, die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts umfassend zu reflektieren und geschicht­lich einzuordnen.74 Am Ende seiner Abhandlung zur Th ­ eorie und Gestaltung im E ­ rsten Maschinenzeitalter konstatiert er zudem den Anbeginn einer neuen Epoche. Sie zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass die Megastrukturen und großtechnischen Systeme des alten Maschinenzeitalters zunehmend durch zahlreiche miniaturisierte Apparate komplementiert wurden.75 Diese ermög­lichen eine neue Qualität der Elektrifizierung und Maschinisierung des Alltags: von Radios und Telefonen bis zu elektrischen Rasierapparaten und Herzschrittmachern. Am augenfälligsten ist diese Entwicklung für Banham allerdings in den privaten Haushalten. Hatte Le Corbusier bereits in den 1920er Jahren die Wohnmaschine zur zukunftsweisenden Siedlungsform erklärt, wird diese Vision nun für einen immer größeren Teil der Bevölkerung Wirk­lichkeit. Gerade die amerikanischen Privathaushalte sehen den Einzug einer Vielzahl technolo­gischer 73 Zu dieser Transforma­tion siehe u. a. Vrachliotis, Georg: Geregelte Verhältnisse: Architektur und technisches Denken in der Epoche der Kybernetik, Wien: Springer-­Verlag 2012. 74 Banham, Reyner: Die Revolu­tion der Architektur: ­Theorie und Gestaltung im ­Ersten Maschinenzeitalter, Bauwelt Fundamente 89, Braunschweig/Wiesbaden: Friedrich Vieweg & Sohn 1964. Nach einer eng­lischsprachigen Erstveröffent­lichung in Kleinstauflage im Jahre 1960 erscheint die Studie einige Jahre s­ päter in einer überarbeiteten Version als: Theory and Design in the First Machine Age [1960], 2. Aufl., New York: Praeger 1967. 75 Vgl. Banham: Die Revolu­tion der Architektur: ­Theorie und Gestaltung im ­Ersten Maschinen­zeitalter, S. 280.

Abschied vom Maschinenzeitalter  |

Artefakte: von Fernsehern und Telefonen bis hin zu maschinellen Küchenhilfen, Staubsaugern und Waschmaschinen. Wie Banham trocken anmerkt, hätte diese neue Maschinisierung des Haushaltes dazu geführt, dass jede Hausfrau nun über mehr PS verfügte als ein Industriearbeiter zu Beginn des Jahrhunderts.76 Zu Recht räumt Banham ein, dass viele dieser Apparaturen bereits Dekaden vorher erfunden und zum Teil einem kleinen Kreis gesellschaft­licher Eliten zugäng­lich gewesen waren. Sie verbreiteten sich nun aber mit solch einer Wucht, dass man ihm zufolge diesen Transforma­tionen unmög­lich indifferent entgegenstehen konnte. Zugleich markiert diese Artefaktrevolu­tion eine Abkehr von den großen technolo­gischen Anlagen hin zu einer »Zurückführung der Maschinen auf einen dem Menschen angepassten Maßstab.«77 Dies entspricht in gewisser Weise auch den Forderungen Mumfords und Giedions. Während all diese Entwicklungen als ­­Zeichen des Anbeginns einer neuen Ära gedeutet werden, versucht man, diese Epoche auf den Begriff zu bringen. Banham selbst spricht von einem Zweiten Maschinenzeitalter, andere Autoren der Zeit schlagen Konzepte vor wie die Spätmoderne, die Hochmoderne oder das Nuklearzeitalter.78 Eher kritische Stimmen, wie die Vertreter der Frankfurter Schule oder die marxistisch inspirierten Intellektuellen in den USA, bevorzugen stattdessen den Epochenbegriff des Spätkapitalismus bzw. late capitalism.79 Wie immer man diese Phase auch bezeichnen mag, der Zeitraum z­ wischen den 1950er und den späten 1970er Jahren ist vor allem in den USA von durchaus widersprüch­lichen Tendenzen und Entwicklungen gekennzeichnet. Infolge des Zweiten Weltkriegs erlebt die Ökonomie des Landes einen ungeahnten Boom, der nicht zuletzt durch den New Deal und die Verabschiedung keynesianischer Förderungsprogramme befördert und verlängert wird. Während man so dem Ideal der Vollbeschäftigung immer näher kommt und die Mittelschicht stark 76 Ebd., S. 281. 77 Ebd. 78 Zur Begriffsgeschichte dieser Konzepte siehe ausführ­lich: Taylor, Peter James: Modernities: A Geohistorical Interpreta­tion, Minneapolis: University of Minnesota Press 1999. Siehe zudem: Kaika, Maria und Swyngedouw, Erik: »Fetishizing the Modern City: The Phantasmagoria of Urban Technological Networks«, Interna­ tional Journal of Urban and Regional Research 24/1 (2000), S. 120 – 138; Beck, Ulrich, Lash, Scott und Giddens, Anthony: Reflexive Moderniza­tion: Politics, Tradi­tion and Aesthetics in the Modern Social Order, Stanford, CA: Stanford University Press 1994; Scott, James C.: Seeing Like a State: How Certain Schemes to Improve the Human Condi­tion Have Failed, Yale University Press 1999. 79 Siehe bspw. Habermas, Jürgen: Legitima­tionsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973; Jameson, Fredric: Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham: Duke University Press 1991; Mandel, Ernest: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972.

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anwächst, nimmt auch die Suburbanisierung ein gigantisches Ausmaß an – mit fatalen Folgen für die urbanen Zentren. Das Ende des Maschinenzeitalters markiert somit auch den vorläufigen Abschluss des Wachstums und der kulturellen Hegemonie der west­lichen Metropolen. Mit der Suburbanisierung und den beginnenden Erosionen der urbanen Massenkultur beginnen Städte wie Paris, London und New York ihren langsamen Abstieg in eine lange Krisenphase, die von ökonomischer Depression, einem stetigen Exodus der Mittelschichten und sozia­ler Verelendung gekennzeichnet ist. Dies betrifft im besonderen Maße ausgerechnet New York City, die als einzige west­liche Großstadt nahezu unbeschadet durch den Zweiten Weltkrieg gekommen war. Um 1950 gilt sie noch unangefochten als die mächtigste und einflussreichste Metropole der Welt, allerdings nicht mehr für lange. Bereits mit dem Ende der Depression in den späten 1930er Jahren beginnt unter dem Bürgermeister La Guardia und seinem frisch ernannten Stadtplaner Robert Moses (1888 – 1981) eine Phase gewaltiger öffent­licher Investi­tionen, die die infrastrukturelle Landschaft der Stadt stark verändert. Die Schaffung öffent­ licher Einrichtungen wie Parks und Schwimmbäder sowie die neuen Highways und Brücken versinnbild­lichen in idealer Weise den Slogan der New Yorker Weltausstellung von 1939: »Building the World of Tomorrow!« Eine eigens für diese Ausstellung errichte Subwaylinie führt die mehr als 40 Millionen Besucher in eine gigantische Technikutopie New Yorks, in der es jedoch das Automobil ist, das das Leben in der zukünftigen Stadt bestimmt.80 Robert Moses, der sich (obwohl zeitlebens ohne Führerschein) als Visionär der Car Culture versteht und in den kommenden Dekaden New York nach ­diesem Paradigma radikal umbauten sollte, interessierte sich jedoch kaum für die Subway.81 Während er gigantische Summen in die neuen Infrastruktur­projekte des Individualverkehrs investiert, geht das System, welches in höchstem Maße von öffent­lichen Zuschüssen abhängig ist, meist leer aus. Doch nicht nur Moses, sondern auch die politischen Eliten, Technokraten und Unternehmer stehen der als störanfällig und teuer geltenden Subway zunehmend skeptisch gegenüber. Nicht zuletzt für die Passagiere ist die laute, strapaziöse und überfüllte 80 Vgl. ausführ­licher: Goddard, Stephen B.: Getting There: The Epic Struggle between Road and Rail in the American Century, Chicago: University of Chicago Press 1996, S.  164 f. 81 Als Standardwerk zu Robert Moses und den Transforma­tionen New Yorks zu dieser Zeit gilt das umfangreiche Werk von Robert A. Caro: The Power Broker: Robert Moses and the Fall of New York, New York: Vintage 1975. Zu einer kulturhistorischen und -theoretischen Einordnung und Interpreta­tion siehe auch: Berman, Marshall: All That Is Solid Melts Into Air: The Experience of Modernity, New York: Verso 1991, S.  290 ff.

Abschied vom Maschinenzeitalter  |

Infrastruktur mehr und mehr emblematisch für eine überkommene Lebensweise. Die Versprechungen des besseren Lebens liegen nun in den Einfamilienhäusern der von Highways durchzogenen Suburbias. Auch die Fabrikbesitzer und Investoren beginnen nun verstärkt, ihre Produk­tionsstätten aus den urbanen Ballungsgebieten auf das Umland auszulagern.82 Allen voran ist es der Industrie­magnat Henry Ford, der in drastischen Worten mit den Zumutungen der modernen Metropolen abrechnet: »The modern city is the most artificial and unlovely sight this planet affords. […] The ultimate solu­tion is to abandon it. We shall solve the city problem only by leaving the city.«83 Diese Einschätzung teilt Ford mit zahlreichen Intellektuellen der Zeit, mit denen er sonst kaum etwas gemein hat. So beschwört auch Lewis Mumford bereits 1939 in seiner Narra­tion zu dem Film The City die Freuden des Lebens fernab von den Elendsquartieren der industriellen Metropolen.84 Inspiriert von den Ideen der Gartenstadt sollte die Zukunft der west­lichen Kultur in den suburbanen Kleinsiedlungen liegen, umgeben von pastoraler Natur und zusammengehalten durch die imaginierte Idylle des kommunalen Lebens.85 Zugleich versprechen diese neuen Siedlungen einen technischen Komfort, der in starkem Kontrast zu den in die Jahre gekommenen und maroden Infrastrukturen der Großstädte steht. Während diese nun zunehmend als laut, bedroh­lich und unmenschlich kritisiert werden, bedeutet dies allerdings nicht das Ende des Glaubens an die erlösende Kraft technolo­gischer Errungenschaften. Statt Kino, Subway und Wolkenkratzer sind es nun die Individualisierungsapparaturen des Fernsehers, Automobils und hochtechnisierten Eigenheims, welche die Sehnsüchte der Menschen beherrschen und die Erfüllung ihres Differenzbegehrens versprechen. Allen voran war ist das Automobil, das dank der nun voll ausgebauten fordistischen Produk­tionsregime erschwing­lich genug für die Mittelstandshaushalte wird.86 Es erweist sich rasch als solch ikonische Maschine, dass sie Marshall 82 Vgl. Vance, Jr., James E.: The Continuing City: Urban Morphology in Western Civilisa­ tion, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1990, S. 434 ff. 83 Zitiert aus: Flint, Anthony: This Land: The Battle over Sprawl and the Future of America, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2008, S. 31. Flint selbst gibt keine Quelle ­dieses Zitats an, sodass die Zuschreibung hier nicht zweifelsfrei geklärt werden kann. 84 Der ca. 41 Minuten lange Film entstand 1938/1939 für die Aufführung im Rahmen der New Yorker Weltausstellung. Regie führten Ralph Steiner und Willard Van Dyke, produziert wurde er vom American Institute of Planners. 85 Vgl. Hall, Peter: Cities of Tomorrow: An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century, Chichester: Wiley-­Blackwell 2002, S. 86 ff. 86 Vgl. Goddard: Getting there, S. 195 ff.

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McLuhan im Jahre 1951 als die neue »mechanische Braut« der amerikanischen Bevölkerung ausweist.87 Die neue Kultur des Automobils ist es auch, die nach Jahrhunderten exponentiellen Wachstums der Stadt New York einen bislang unvorstellbaren Exodus beschert. Im Zuge einer ab den 1950ern einsetzenden gigantischen Migra­tionsbewegung entstehen nun überall um die Stadt riesige Vororte, die den Umfang der Subway Suburbs bei Weitem in den Schatten stellen. Die neuen Suburbias sind zudem nicht mehr über Schienen, sondern allein über Highways mit den urbanen Zentren verbunden. Infolge dieser Abwanderung beginnt im Jahre 1950 auch das Bevölkerungswachstum New Yorks zu stagnieren. Bis dahin hatte sich die Einwohnerzahl seit der Eröffnung der Subway mehr als verdoppelt und erreichte zu jener Zeit nahezu acht Millionen. Dieser Wert wird nun in den nächsten Dekaden sogar rückläufig.88 Vor allem nach der Eröffnung von Levittown im Jahre 1952, der ersten Suburbia im großen Stil und weniger als 90 Minuten Autofahrt von Manhattan entfernt, beginnt ein immer größerer Anteil der weißen Mittelschicht, der Stadt den Rücken zuzuwenden.89 Während man in den west­lichen Industriena­tionen eine Prosperität sondergleichen erlebt und die nun voll entfalteten fordistischen Akkumula­tionsregime für eine stabiles Wirtschaftswachstum und einen steten Anstieg des durchschnitt­lichen Lebensstandards sorgen, beginnen Teile der amerikanischen Innenstädte langsam zu veröden oder gar zu verelenden.90 Der letzte Teil ­dieses Kapitels wird deut­lich machen, dass die Abwanderung der New Yorker jedoch nicht nur die oberirdische Stadt betrifft – auch die Anzahl der Passagiere beginnt nun erstmals in der Geschichte der Subway abzunehmen.

6. Exodus der Passagiere Dass die Flut an Passagieren und die massive Überfüllung einmal tatsäch­lich zurückgehen würden, galt lange Zeit als unvorstellbar. Nach Dekaden exponentiellen Wachstums verzeichnete die New Yorker Subway noch in den Jahren 1946 und 1947 ihre historisch höchste Auslastung, die den Betrieb sogar kurzzeitig 87 McLuhan, Marshall: The Mechanical Bride: Folklore of Industrial Man, New York: The Vanguard Press 1951. 88 Vgl. Cudahy, Brian J.: Under the Sidewalks of New York: the Story of the greatest ­Subway System in the World, New York: Fordham University Press 1995, S. 123. 89 Vgl. ausführ­licher: Jackson, Kenneth T.: Crabgrass Frontier: The Suburbaniza­tion of the United States, New York: Oxford University Press, USA 1987, S. 234 ff. 90 Vgl. Harvey, David: The Condi­tion of Postmodernity, Cambridge, Mass.: Blackwell 1990, S. 129 f.

Exodus der Passagiere |

Abb. 34: Die Entwicklung der Passagierzahlen der New Yorker Subway zwischen 1940 und 2011.

profitabel machte. Den bis heute unerreichten Rekord erreichte das System am 23. Dezember 1946, als exakt 8.872.244 Passagiere die Subway benutzten,91 davon sicherlich viele, die noch im letzten Moment Weihnachtsbesorgungen zu erledigen hatten. Ab diesem Zeitpunkt nimmt die Nutzung jedoch kontinuierlich ab. Die Passagierzahlen, die nun Dank der Zähler der Drehkreuze genauestens verifiziert und durch die Verfahren Arnolds in Statistiken überführt werden können, geben mit jedem Jahr ein dramatischeres Bild von der Abwanderung der Passagiere (Abb. 34). Auch wenn sich der Rückgang der Passagierzahlen in den späten 1980er Jahren konsolidiert und seitdem wieder kontinuier lich zunimmt, erreichte die Subway nie wieder die Auslastungsraten des späten Maschinenzeitalters. Doch nicht nur der Zenit in der Auslastung des Systems kann als Markierung des Endes dieser Ära gelten. Dies trifft ebenso für den Moment der Vereinigung der Teilsysteme unter dem Dach der New York City Transit Authority (NYCTA ) am 15. Juni 1953 zu. Realisiert mit dem ausdrücklichen Ziel der Effizienzsteigerung und Kostendeckung beginnt die Transit Authority in den folgenden Jahren mit der intensiven Demontage der als redundant und antiquiert empfundenen Hochbahnverbindungen. Zugleich stellt sie die oftmals 91 Vgl. Cudahy: Under the Sidewalks of New York, S. XV.

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hochtrabenden Expansionspläne ein und beschränkt sich weitestgehend auf die Konsolidierung des Streckennetzes.92 Auch für die Technikhistoriker der Subway stellt dieser Moment eine epochale Schwelle dar, die den Niedergang in den kommenden Dekaden einläutet.93 Galt das System bis 1953 trotz erster Defizite in der Wartung und Reinigung noch als modern und sicher, kommt nun eine Krisendynamik in Gang, die dazu führt, dass die New Yorker Subway in den 1970er Jahren als gefähr­lichste und marodeste Untergrundbahn der Welt gilt. Auch mit mehreren Fahrpreiserhöhungen ist man nicht in der Lage, die massiven Defizite der Subway auszugleichen, die sich bereits seit dem Ende des E ­ rsten Weltkriegs infolge der prekäre Wirtschaftslage akkumuliert hatten. Jede erneute Erhöhung des Fahrpreises beschleunigt den Exodus der Passagiere weiter, während das System immer tiefer in die roten Zahlen rutscht. Das Primat der Kostenersparnis resultiert zudem in immer weniger Wartungen und Reparaturarbeiten, was sich nun auch in einer steigenden Störanfälligkeit bemerkbar macht. Dabei ist spätestens ab den späten 1950er Jahren der Subway ihr desolater Zustand auch anzusehen: Die Farbe und der Putz bröckeln von den Wänden der Sta­tionen, kaputte Beleuchtung oder Sitze werden spät oder gar nicht erneuert. Glaubt man den Quellen, sind die Reinigungsarbeiten nun so selten, dass nicht nur die Wände und Sitze immer mehr verschmutzen, sondern auch der Boden der Waggons und Sta­ tio­nen oftmals mit einer dicken Schicht von Müll bedeckt ist.94 Trotz der mit Verbotsschildern, Strafen und Patrouillen versuchten Durchsetzung des Spuckund Rauchverbots werden Rauchschwaden und verkeimte Oberflächen wieder ein alltäg­licher Anblick. Mit dem Exodus und der zunehmenden Verwahrlosung beginnen sich nun sowohl die demographische Zusammensetzung wie auch die Subjektforma­ tionen der Passagiere radikal zu verändern. Hatten die oberen Schichten die Subway bereits in den 1920ern zugunsten des Automobils verlassen, sind es nun vor allem die weißen Mittelschichten, die sich in Massen von Passagieren zu Automobilisten wandeln. Sie pendeln lieber auf den neuen Highways zur Arbeit als in den verschmutzten und störanfälligen Subways. Das Automobil wird somit auch zum vermeint­lichen Vehikel eines Auswegs aus der normierten Massengesellschaft und damit zur neuen Maschine der Verheißung. Mit der 92 Während man Schritt für Schritt mit der Einstellung der Elevated Lines fortfuhr, erweiterte man das System im Jahre 1956 noch bis nach Rockaway Beach. Vgl. Ebd., S.  130 ff. 93 Hood, Clifton: 722 Miles. The Building of the Subways and How they transformed New York, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2004, S. 254. 94 Fitzpatrick: Art and the Subway, S. 83.

Exodus der Passagiere  |

Automobilkultur vollzieht sich allerdings in vielerlei Hinsicht eine ähn­liche Bewegung wie Dekaden zuvor mit der Subway. Antizipiert als neue Befreiungsmaschine und Instrument zur Schaffung einer besseren Gesellschaft, setzt auch hier bald Ernüchterung und Kritik ein. Die anfäng­liche Begeisterung für das Automobil ist dabei auch auf das libertäre Versprechen dieser Apparatur zurückzuführen, eine neue Qualität von Autonomie und Selbstbestimmung zu ermög­lichen. Die Freiheit, die die Subjektform des Automobilisten zu dieser Zeit in sich trägt, steht dabei im deut­lichen Gegensatz zu den Zurichtungen und Alltagserfahrungen der Passagiere. Damit wird das Automobil in den Augen der Zeitgenossen zu einem privilegierten Weg, dem industriellen Hades der Subway zu entkommen und seine Individualität und Unabhängigkeit zu behaupten. Den zahlreichen New Yorkern, die sich diesen Traum nicht leisten konnten, blieb jedoch nichts anderes übrig, als sich weiterhin den maschinellen Zumutungen des Subwaytransits auszusetzen. Dieses Moment des fatalistischen Ausgeliefertseins der Passagiere betont auch Walter Benjamin und erkennt in den labyrinthischen Untergrundbahnen die Wiederkehr antiker Opferungsrituale: Die Metro beherbergt im Inneren nicht einen, sondern Dutzende blinder und rasender Stiere, in deren Rachen nicht jähr­lich eine thebanische Jungfrau, sondern allmorgend­lich tausende bleichsüchtige Dienstmädchen und unausgeschlafene Angestellte sich werfen müssen.95

Angesichts des beginnenden Niedergangs der Subway werden diese täg­lichen Rituale mehr und mehr zu einer Tortur, die bald auch massiven Protest unter den Passagieren hervorrufen. Dass sich die Dekaden nach der Vereinigung des Systems unter dem Dach der New York City Transit Authority im Jahre 1953 durch eine permanente Krise und einen massenhaften Exodus der Menschen aus dem System und der Stadt auszeichnen, bezeugt auch ein eher ungewöhn­ licher Quellentyp: mehrere tausend Beschwerdebriefe von New Yorker Subway­ passagieren aus der Zeit ­zwischen 1954 und 1968. Wie das nächste Kapitel zeigen wird, geben diese Briefe nicht nur ein deut­liches Zeugnis der zunehmenden Strapazen, Konflikte und Gefahren in der Subway. Sie fungieren auch als Instrumente der Anerkennung und Selbstbehauptung der Passagiere in Momenten der Krise.

95 Benjamin, Walter: Das Passagen-­Werk, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 136.

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KAPITEL V. STRATEGIEN DER EMPÖRUNG I used to feel so proud of our subways … Brief von Cecile G. Cutler an die Transit Authority vom 29. November 19641 The City has become a place to avoid whenever possible. Anonymer Brief an Bürgermeister Wagner vom 24. Juli 1964.2

Der Februar des Jahres 1965 war ein ganz normaler Monat für die Beschwerdeabteilung der New York Transit Police. Zwar meldete die New York Times am 10. Februar eine erneute exorbitante Zunahme der Kriminalität in der Subway: Die Verbrechensrate im System war im Jahr 1964 um ganze 52 Prozent angewachsen, im Vergleich zu nur neun Prozent im Rest der Stadt.3 Da die Steigerung aber einen nur geringfügig höheren Anstieg als in den Vorjahren darstellte und das System ohnehin als hochgradig gefährlich galt, hielt sich das Echo der Passagiere auf diese Meldung in Grenzen. Erst als am 12. März 1965 der 17-jährige Passagier Andrew A. Mormile durch eine Jugendgang in der Subway brutal ermordet wird, sollte die Flut der wütenden Beschwerdebriefe ungeahnte Ausmaße annehmen und die Stadt ein umfassendes Notfallprogramm zur Rettung der Subways beschließen.4 Im Februar bearbeitet die Behörde jedoch noch routiniert die Beschwerdebriefe aufgebrachter Passagiere, die in oftmals drastischen Worten von Belästigungen, 1 Brief von Cecile G. Cutler an die Transit Authority vom 29. November 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). Wenn hier und im Folgenden auf einzelne Briefe, Antwortschreiben oder Interne Gutachten verwiesen wird, so finden sich all diese in einem Konvolut im Archiv des Transit Museums in New York mit dem Titel »Miscellanea: Complaints.« Die Dokumente sind in insgesamt acht Boxen nach dem Datum ihres Eingangs geordnet, darüber hinaus jedoch nicht weiter inventarisiert. Sie werden im Folgenden wie oben zitiert als: (New York Transit Museum Archive (NYTMA), »Miscellanea: Complaints«, Box 1–8). 2 Anonymer Brief an Bürgermeister Wagner vom 24. Juli 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 3 Perlmutter, Emanuel: »Major Crime Up 52% in Subways and 9% Citywide«, The New York Times (10. Februar 1965). 4 Vgl. [Anonym]: »Negroes Slay Youth In Subway; One Of Many New York Murders«, The Gadsden Times (14. März 1965).

Strategien der Empörung  |

Vergehen, Angsterfahrungen und Überfällen in der Subway berichten und mehr Polizei einfordern. Unter den ca. 100 Dokumenten, die die Polizei in ­diesem Monat erreichen, finden sich beispielsweise Denunzia­tionen über das Schwarzfahren von Kindern und Jugend­lichen 5 oder Empörungen über das erneut um sich greifende Spucken der Passagiere.6 Auch gesteht eine Frau ihre Angst vor der wachsen Anzahl von »colored people and Puerto Ricans«, die in der Subway schlafen oder dösen würden, und fügt hinzu: »This is greatly adding to the fear of security. Your continuously, rigorous, handling of this problem will be greatly appreciated.«7 In einem Brief vom 17. Februar berichtet eine Frau zudem von einem traumatischen Erlebnis, das sie und ihr Ehemann am Vorabend in der Subway hatten. Sie wurden von mehreren betrunkenen Jugend­lichen angegriffen und betätigten in einem Anfall von Panik die Notbremse. Während die Angreifer allerdings durch die Tunnel fliehen können, hat der s­ päter eintreffende Polizist nur Verachtung für die Autorin übrig und nimmt den Vorfall noch nicht einmal auf. Trotz ihrer Wut und Frustra­tion fühlt sie jedoch, dass sie den Behörden schreiben muss, um von dem Vorfall zu berichten und mehr Sicherheit einzufordern. Sie endet ihren Brief mit den Zeilen: »we must get rid of ›fear‹ by showing the lawless element that we have law and order.«8 Am nächsten Tag erreicht die Beamten ein internes Protokoll über die erfolgreiche Festnahme einer Gruppe von jugend­lichen Kriminellen, die schon seit mehreren Monaten regelmäßig Passagiere in der Subway überfallen und ausgeraubt hatten.9 Tags darauf berichtet eine Frau namens Marlene Connor in einem langen Brief über ein Erlebnis mit einem Exhibi­tionisten in der Subway und schlägt die Sta­tionierung eines Polizisten in jedem Zug sowie die Installa­ tion von elektrischen Warnsystemen in allen Waggons vor.10 5 Siehe bspw. den internen Bericht der Transit Police an die Transit Authority: »Attempted Fare Eva­tions« vom 11. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4) oder den internen Bericht der Transit Police an die Transit Authority: »Letter of Complaint – Mrs. Rhoda Barky – Relative Fare Eva­tion« vom 11. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 6 Siehe den Antwortbrief der Transit Authority auf eine Beschwerde eines Passagiers namens Mr. Hoffman vom 2. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 7 Brief von Ellen Reiner an die Transit Authority vom 28. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 8 Brief von Mrs. Schwalbe an den Bürgermeister und die Transit Authority vom 17. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 9 Interner Bericht der Transit Police an die Transit Authority: »Arrest of 4 Males, Assault & Robbery – felonious Assault (Knife)« vom 18. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 10 Brief von Marlene Connor an die Transit Authority vom 19. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4).

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Ein Passagier namens Carl Heck sendet wenige Tage s­ päter einen wütenden Beschwerdebrief, in dem er im Namen aller Senioren aus Brooklyn, Queens und der Bronx seine Angst vor der Benutzung der Subway zum Ausdruck bringt. Zwar würden er und seine Freunde gern die Kaufhäuser und Restaurants in Manhattan besuchen, »but we would not dare to set foot in that jungle called the subway.«11 In den überlieferten Dokumenten aus d ­ iesem Monat findet sich darüber hinaus der Brief eines Passagiers, der sich Paul Stone nennt und sich darüber empört, dass die Toiletten in der Sta­tion der Christopher Street als regelmäßige Treffpunkte für Homosexuelle dienen.12 Als die Polizisten noch am gleichen Tag versuchen, den Verfasser zu kontaktieren, um ihn ausführ­licher zu befragen, stellt man allerdings fest, dass sich unter der angegebenen Absenderadresse kein Bewohner ­dieses Namens findet. Man befragt nun sogar die Hotelangestellten auf dem Nachbargrundstück, findet den Autor jedoch weder unter dem Personal noch in den Gästebüchern der letzten fünf Jahre.13 Die Behörde beschließt, der Denunzia­tion dennoch nachzugehen, jedoch finden die Beamten bei ihrer Inspek­tion der Toiletten keinerlei Hinweise auf Vergehen gegen die Sitt­lichkeit. Sie vermerken jedoch das Vorhaben einer verstärkten Überwachung dieser Sta­ tion sowie die Installa­tion von Verbotsschildern gegen Praktiken des »loitering«.14 Mitte des Monats erreicht die Transit Police außerdem ein elaborierter Bericht eines Mitarbeiters der Columbia University, der von einem gewalttätigen Überfall durch eine Gruppe farbiger Jugend­licher berichtet, bei der er nur knapp einer Erblindung entging. Allerdings hätten die Polizisten kaum Interesse an der Aufklärung gehabt und bemerkt, dass dies einen banalen und alltäg­lichen Vorfall darstellt, der es nicht wert sei, weiter verfolgt zu werden. Frustriert konstatiert der Verfasser: »And is there anyone under these dreadful circumstances who would disagree with a citizen’s right and inten­tion to carry with him a weapon of defense.«15 Dass zahlreiche Passagiere in den 1960er 11 Brief von Carl Heck an Bürgermeister Wagner vom 20. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 12 Brief von Paul Stone an die Transit Authority vom 8. Februar (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 13 Interner Bericht der Transit Police an die Transit Authority: »Investiga­tion Re: Letter Complaining of Loiterers in Toilets« vom 8. Februar, 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 14 Interner Bericht der Transit Police an die Transit Authority; »Investiga­tion Re: Anonymous Allega­tion of Loitering, Men’s Toilet, Northbound Platform, Christopher St. 7. Ave. Linen, IRT Division« vom 23. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 15 Brief von Morris W. Watkins an den Bürgermeister und die Transit Authority vom 13. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4).

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Jahren tatsäch­lich dazu übergehen sollten, sich für den Transit zu bewaffneten, wird in einem Dokument deut­lich, dass die Behörden zwei Tage vor ­diesem Brief erreicht und in dem man die erfolgreiche Rückgabe eines in der Subway verlorenen Revolvers vermerkt.16 Mögen diese Vorkommnisse aus heutiger Sicht mög­licherweise irritierend erscheinen, so sind doch keine der oben skizzierten Beschwerdebriefe und Dokumente aus dem Februar 1965 in den Augen der Behörde besonders außergewöhn­ lich. Stattdessen werden sie routiniert abgearbeitet und standardmäßig beantwortet und veraktet. Und in der Tat findet sich in den Jahren ­zwischen 1954 und 1968 in den überlieferten Quellen eine Vielzahl solcher und ähn­licher Beschwerdebriefe. Allenfalls ein Dokument aus ­diesem Monat erscheint für die Behörde bemerkenswert und zirkuliert entsprechend intensiv z­ wischen den Beamten: Dies betrifft einen internen Bericht der Transit Police über den Fund einer verlorenen Brieftasche in der Subway. Sie enthält neben dem Führerschein eines Passagiers namens Herman L. Reynolds, seiner Entlassungsurkunde aus der U. S. Army und mehreren Quittungen von Pfandleihern auch mehrere Zettel mit folgender Aufschrift: I have a gun. I want $2,000 in large bills. If you don’t, I will give it to you in the head. I am a drug user. Wait 15 minutes to sound alarm.17

Augenblick­lich beginnt die Transit Police unter Einbeziehung eines Graphologen mit den Ermittlungen. Jedoch verliert sich hier wie bei den anderen oben skizzierten Fällen die Spur dieser Begegnung der Passagiere mit den administrativen Gefügen der Macht. Allein diese wenigen Briefe, die in den Beständen des New York Transit Museum Archive aus d ­ iesem Monat überliefert sind, geben ein deut­liches Bild von der Erosion der Passagierkultur nach dem Ende des Maschinenzeitalters. Insgesamt finden sich jedoch ca. 8000 Seiten Material aus den Jahren z­ wischen 1954 und 1968. Wenn diese Flut von Beschwerden hier erstmals zum Gegenstand einer Analyse wird, so auch deshalb, weil sie einen außergewöhn­lichen Blick in die Subjektdisposi­tionen und Konfliktfelder der Subwaypassagiere dieser 16 Interner Bericht der Transit Police: »Investiga­tion Re: Lost Property – Bag with Gun« vom 11. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). Dies ist jedoch kein Einzelfall. Immer wieder finden die Beamten Feuerwaffen im System, können allerdings in den meisten Fällen keinen Besitzer ermitteln. 17 Interner Report der Transit Police an die Transit Authority: »Investiga­tion Re: Wallet found containing Threatening Notes« vom 25. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4).

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Zeit gibt. Indem die Passagiere in diesen Briefen selbst zu Wort kommen und zugleich in den Lichtkegel administrativer Prozeduren geraten, die ihre Erfahrungen rahmen und bewerten, werden sie gewissermaßen zu Wiedergängern jener »infamen Menschen« des vorrevolu­tionären Frankreich, die schon Michel Foucaults Interesse weckten.18 Die Lektüre d ­ ieses papiernen Stroms aus Empörungen, Anklagen, Proklama­ tionen und Denunzia­tionen sowie deren bürokratischen Bewertungen erlaubt das Nachspüren der subjektiven Erfahrungen der Passagiere in ihren Ausein­ andersetzungen mit den machtvollen Dispositiven der Subway. Die Aufzeichnungsmechanismen der Beschwerden operieren somit als Instanzen der Diskursivierung alltäg­licher und oftmals banaler Verstöße, wie auch extremer Verunsicherungen und Erfahrungen der Angst und Gewalt. Sie bilden damit einen gigantischen Katalog aller nur denkbaren Übel, Zumutungen und Vergehen des urbanen Untergrunds New Yorks. Zudem sind es trotz unterschied­ licher Gewichtung Passagiere nahezu aller Hautfarben, Klassen, Geschlechter sowie Bildungs- und Altersgruppen, deren Spuren in den Beschwerderegimen sichtbar werden. So findet sich beispielsweise in den Unterlagen sogar ein Brief des Medienphilosophen Marshall McLuhan, der auf offiziellem Briefpapier der Fordham University einen Vorschlag für einen effektiven Slogan zur Bekämpfung der grassierenden Verschmutzung New Yorks unterbreitete (vgl. Abb. 35 unten links). Für die hier unternommene Untersuchung zur historischen Dynamik der Subjektformen und -posi­tionen der Passagiere sind die Beschwerden und ihre bürokratischen Reak­tionen in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Wenn sich die Autorinnen und Autoren in den Briefen als zunehmend überforderte und fragile Subjekte entwerfen, so gilt dies zunächst in Hinblick auf ihre Erfahrung der materiellen Dimension des Transits. Zahlreiche Beschwerden zur brutalen Lautstärke der Maschinen, der Unverständ­lichkeit der Durchsagen, den dunklen Waggons und Sta­tionen sowie dem Gestank zeichnen die Subway als einen Erfahrungsraum, der höchste Anforderungen an die Wahrnehmungen stellt. Sie geben so Zeugnis von einer zunehmenden Fragilität der Subjektivität der Passagiere und der Brüchigkeit ihrer Techniken des Reizschutzes und des Containment. Zum anderen wird der Niedergang des Systems in einer dramatischen Zunahme von Konflikten ­zwischen den Passagieren deut­lich. Im Zuge des exponentiellen Anstiegs von Überfällen, Diebstählen, sexuellen Belästigungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen sind besonders die 1960er Jahre von einer Krisenhaftigkeit der Subjektposi­tionen der Passagiere 18 Foucault, Michel: »Das Leben der infamen Menschen«, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III: 1976 – 1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 309 – 332.

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geprägt. Darüber hinaus lassen sich die Briefe jedoch auch als Emanzipa­ tionsbestrebungen und Differenzbehauptungen lesen, mit denen die Menschen ihre individuellen Erfahrungen und Forderungen in die Diskurse der adminis­ trativen Infrastrukturregime einspeisen. Aufgrund der Fülle des Materials sowie der Schwierigkeiten, die sich in der Auswertung und Interpreta­tion dieser außergewöhn­lichen Quellen stellen, wäre für eine umfassende Analyse sicher­lich eine eigenständige Abhandlung angebracht. Nichtsdestotrotz sollen hier jedoch einige dominante Aspekte der Beschwerdeverfahren diskutiert werden. Sie werden zeigen, wie mit dem Ende des Maschinenzeitalters ein Prozess zunehmender Fragmentierung der einstmals so homogenen Massenkultur des Transits eingeleitet wird. Dieses Kapitel wird somit nicht nur darstellen, dass sich die Subway in dem Zeitraum ­zwischen 1954 und 1968 mehr und mehr in ein Territorium der Angst, Gewalt und Denunzia­tion verwandelt. Auch wird deut­lich werden, dass die Konfliktlinien ­zwischen den Passagieren vor allem entlang der Kategorien von Klasse, Alter, Hautfarbe und Geschlecht verlaufen. An allen diesen Fronten finden sich vor allem im Verlauf des Untersuchungszeitraums eine zunehmende Anzahl von Krisenphänomenen: Denunzia­tionen und Exklusionen von Armen, Bettlern und Obdachlosen, der Vandalismus von Jugend­lichen und Schulkindern, ansteigende Gewalt gegenüber Frauen, Homosexuellen und Juden sowie ein massiver Rassismus und eine systematische Diskriminierung von Schwarzen und Latinos. Auch nehmen im Zuge der stetigen Militarisierung des Systems durch Überwachungstechnologien und oftmals schlecht ausgebildete Polizisten die Beschwerden über die Brutalität und bürokratische Willkür der statt­lichen Ordnungskräfte zu. War die Masse in den Dekaden zuvor noch durch eine tendenzielle Nivellierung der ethnischen- wie Klassenzugehörigkeit der einzelnen Subjekte gekennzeichnet, so gewinnen die Differenz- wie Distink­tionsbestrebungen ab den 1950er Jahren ein neues Momentum. Mit der Zunahme der Gewalt und den Konflikten in der Subway ändert sich auch die s­ ozia­le Zusammensetzung der Passagiermassen. Während die Mittelschichten das System zugunsten des Automobils verlassen, bleiben nur die Teile der Bevölkerung Passagiere der Subway, für die sie eine alternativlose Form des Transits darstellt. Zusammen mit der zunehmenden Vernachlässigung der Subway durch die politischen Eliten der Stadt sollte dies dazu führen, dass sie ab der Mitte der 1970er Jahre den zweifelhaften Ruf als das mit Abstand gefähr­lichste Transitsystem der Welt genießen wird. So vielversprechend ­dieses Quellenmaterial im Hinblick auf diese Krise der Passagierkultur ist, so knüpfen sich doch an die Analyse dieser Subjektivierungsgefüge aus Selbstauskünften, Empörungen, Bittstellungen und Drohungen

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und ihren bürokratischen Reak­tionen zahlreiche Probleme. Ihre Auswertung stellt grundlegende Fragen nach der Repräsentativität, Darstellungsform und histo­rischen Situierung wie auch nach ihrer Bezüg­lichkeit zu anderen in dieser Arbeit verwendeten Materialien und Methoden. Zudem verweist sie auf die methodischen Grenzen und Grauzonen in der historischen Rekonstruk­tion von Subjektformen. Bevor jedoch diese Probleme sowie mög­liche Lösungen genauer diskutiert werden, soll im folgenden Abschnitt zunächst ein Blick in die weitestgehend desperate Forschungslandschaft zu dem Phänomen der Beschwerde geworfen werden sowie eine genauere Beschreibung und erste Einschätzung des Quellenmaterials erfolgen. Daran anschließend werden die Beschwerden in den Blick genommen, die sich auf die Verletzung und Störung expliziter wie impliziter Normen in der Subway beziehen. Dabei stehen die Briefe im Vorder­grund, die die Exklusion und Bestrafung einzelner Passagiere oder spezifischer Gruppen fordern und dabei auch vor Denunzia­tionen nicht zurückschrecken. Ebenso wird die diskursive Codierung der Subway als Angstraum beleuchtet werden, der vor allem infolge der Zunahme sexueller Übergriffe auf Frauen sowie des Vandalismus durch jugend­liche Passagiere zu einem zentralen Sujet der Beschwerden wird. Wie wir sehen werden, tragen diese Momente zur Destabilisierung der von den Passagieren mühsam erlernten Kulturtechniken der Abschottung und des Reizschutzes bei. Zugleich zwingt die drastische Zunahme dieser Vorfälle die staat­lichen Behörden zum Ausbau ihrer Sicherheitsregime. Dies führt jedoch zu vermehrten Beschwerden über bürokratische Willkür und die Brutalität der Polizei. Im Abschluss der Analyse werden dann die Strategien der Anrufung und rhetorischen Formen untersucht, mit denen sich die Passagiere in Beziehung zur Macht setzen und versuchen, ihren Anliegen Gewicht zu verleihen. Dabei wird das Augenmerk auf die bürokratische Verarbeitung und Beurteilung der Briefe gelegt. Hier wird deut­lich werden, wie sich im Wechselspiel ­zwischen den Beschwerdeführern und den Behörden komplexe Verfahren der Aushandlung von Subjektposi­ tionen etablieren. Diese zielen weniger auf die Beseitigung des Beschwerdegrundes ab als auf die wechselseitige Anerkennung von Passagieren wie Obrigkeiten. Damit wird ihre Funk­tion als zentrales Instrument der Stabilisierung der sozia­len Ordnung in der Subway offenkundig. Die Art und Weise, wie in den Beschwerderegimen die Momente von Überforderung, Angst und Hilflosigkeit in diskursive Apparaturen überführt und vereindeutigt werden, wird aufzeigen, welche zentrale Rolle diesen Verfahren in den Subjektivierungen der Passagiere zukommt.

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1. Beschwerdeforschungen Sucht man für die Auswertung dieser Dokumente nach Inspira­tion und Hilfestellung in den Forschungen der Geschichtswissenschaften, Soziologie oder Kultur­wissenschaften, so wird man feststellen, dass sie einen bislang weitestgehend vernachlässigten Quellentypus darstellen. Während sich im angloamerikanischen Raum kaum Literatur dazu findet,19 lassen sich in Deutschland immerhin eine Handvoll historischer Arbeiten entdecken, die sich dem Eingabesystem in der DDR widmen.20 Im Falle der franzö­sischen Forschung bieten die Arbeiten des Soziologen Luc Boltanski zu Leserbriefen an die Tageszeitung »Le Monde« aus den 1980er Jahren wertvolle Impulse für die Auswertung und Darstellung dieser Art von Quellen.21 Dies gilt ebenso für die von Michel

19 Zwar lassen sich durchaus eine Handvoll soziolo­gischer Studien zu Formen und Funk­tionen von »Complaining« finden, diese fokussieren allerdings keine offiziellen Beschwerden an Institu­tionen, sondern beleuchten eher die gemeinschaft­lichen Momente des informellen Beklagens sozia­ler Missstände oder prekärer Lebensund Arbeitsbedingungen. Vgl.: Baggini, Julian: Complaint: From Minor Moans to Principled Protests, London: Profile Books 2010; Hanna, Charles F.: »Complaint as a Form of Associa­tion«, Qualitative Sociology 4/4 (1981), S. 298 – 311; Weeks, John: Unpopular Culture: The Ritual of Complaint in a British Bank, Chicago und London: University Of Chicago Press 2004. 20 Dies betrifft vor allem die Disserta­tion Felix Mühlbergs: Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin: Dietz 2004 sowie Ina Merkels: Wir sind doch nicht die Mecker-­Ecke der Na­tion: Briefe an das DDR-Fernsehen, Köln: Böhlau 1998. Darüber hinaus sind in ­diesem Kontext erschienen: Becker, Peter und Alf Lüdtke (Hrsg.): Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte: Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin: Akademie Verlag 1997; Elsner, Steffen H.: »Flankierende Stabilisierungsmechanismen diktatorischer Herrschaft: Das Eingabenwesen in der DDR«, in: Christoph Boyer und Peter Skyba (Hrsg.): Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der CSSR, Dresden: Hannah-­Arendt-­Institut für Totalitarismusforschung 1999, S. 75 – 86; Rathje, Ulf und Schröder, Roswitha: »Bewertung von Eingaben der Bürger an den Präsidenten der DDR: Bestand DA 4 der Präsidialkanzlei«, Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 14 (2006), S. 65 – 70; Streubel, Christiane: »Wir sind die geschädigte Genera­tion: Lebensrückblicke von Rentnern in Eingaben an die Staatsführung der DDR«, in: Heike Hartung u. a. (Hrsg.): Graue ­Theorie: Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln: Böhlau Verlag 2007, S. 241 – 264. 21 Boltanski, Luc: »Bezichtigung und Selbstdarstellung: Die Kunst, ein normales Opfer zu sein«, in: Alois Hahn und Volker Kapp (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 149 – 169. Siehe auch: Schiltz, Marie-­Ange, Darré, Yann und Boltanski, Luc: »La Dénoncia­ tion«, Actes de la Recherche en Sciences Sociales 51/1 (1984), S. 3 – 40.

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Foucault und Arlette Farge herausgegebenen und kommentierten »Lettre de Cachet« des franzö­sischen Ancien Régime.22 Hilfreich für das Verständnis eines Teils der Briefe sind zudem die Erkenntnisse der anglo-­amerikanischen Denunzia­tionsforschung. Dabei bieten besonders die historischen Arbeiten Sheila Fitzpatricks und Robert Gellatelys fruchtbare Anknüpfungspunkte.23 Ihnen ist es zu verdanken, dass sich nach Jahrzehnten weitgehenden Desinteresses seit der Jahrtausendwende eine zunehmende Forschungsaktivität zu historischen Praktiken der Denunzia­tion konstatieren lässt. Diese Analysen fokussieren sich zwar primär auf totalitäre Regime, wie den deutschen Na­tionalsozia­lismus, die DDR sowie die stalinistische Sowjetunion. Jedoch erweisen sich die dort gewonnenen Erkenntnisse für die hier diskutierten Briefe durchaus als anschlussfähig. Dies trifft vor allem auf die Beschwerden zu, welche die Exklusion und Bestrafung bestimmter Passagiere oder Passagiergruppen fordern.24 22 Farge, Arlette und Foucault, Michel (Hrsg.): Familiäre Konflikte: Die »Lettres de Cachet«: Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main: ­Suhrkamp 1989. Bemerkenswerterweise ist diese Arbeit eine der wenigen Texte Foucaults, die nicht ins Eng­lische übertragen wurden. 23 Vgl. exemplarisch: Fitzpatrick, Sheila und Gellately, Robert: »Introduc­tion to the Practices of Denuncia­tion in Modern European History«, Accusatory Practices: Denuncia­tion in Modern European History, 1789 – 1989, Chicago und London: University Of Chicago Press 1997, S. 1 – 21; Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York: Oxford University Press 1999; Gellately, Robert: »Denuncia­tion as a Subject of Historical Research«, Historical Social Research 26/2/3 (2001), S. 16 – 29; Gellately, Robert: Backing Hitler, New York: Oxford University Press 2001. 24 Abgesehen von den Studien, die sich auf Beschwerdebriefe und Eingaben als histo­ rische Quellen stützen, findet sich vor allem ab den 1980er Jahren ihre intensive Thematisierung in der psycholo­gisch imprägnierten Managementliteratur. In diesen Arbeiten werden jedoch primär verhaltensökonomische Szenarien durchgespielt und versucht, diese besondere Form der Kundenkommunika­tion für Marketingaspekte fruchtbar zu machen. Demensprechend sind sie für die hier unternommene Analyse kaum brauchbar, dennoch kann folgende Literatur als repräsentativ für diese Analysen gelten: Blodgett, Jeffrey G., Wakefield, Kirk L. und Barnes, James H.: »The Effects of Customer Service on Consumer Complaining Behavior«, Journal of Services Marketing 9/4 (1995), S. 31 – 42; Clark, Gary L., Kaminski, Peter F. und Rink, David R.: »Consumer Complaints: Advice on How Companies Should Respond Based on an Empirical Study«, Journal of Consumer Marketing 9/3 (1992), S. 5 – 14; Kowalski, Robin M.: »Complaints and Complaining: Func­tions, Antecedents, and Consequences«, Psychological Bulletin 119/2 (1996), S. 179 – 196; Liefeld, John P., ­Edgecombe, Fred H. C. und Wolfe, Linda: »Demographic Characteristics of Canadian Consumer Complainers«, Journal of Consumer Affairs 9/1 (1975), S. 73 – 80; Marquis, Marie und Filiatrault, Pierre: »Understanding Complaining Responses

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Als wäre die Auswertung dieser Dokumente aufgrund der eher desperaten Forschungslage nicht schon herausfordernd genug, wird sie noch dadurch verkompliziert, dass wir es im vorliegenden Fall mit sehr unübersicht­lichen und lückenhaften Quellenbeständen zu tun haben. So haben bei Weitem nicht alle Briefe und Antworten in den Beständen des Archivs überdauert. Auch wenn die Briefe erst ab der Vereinigung des Systems und der Gründung der Transit Police überliefert sind, kann guten Gewissens angenommen werden, dass es schon zuvor einen regen Schriftverkehr z­ wischen den Passagieren und den Betreiberorganisa­ tionen sowie den Behörden gab. Während dieser jedoch als verschollen gelten kann, wird von 1954 bis 1968 die Archivierung der Briefe immerhin halbherzig vorgenommen.25 Dennoch fehlen die Akten im Zeitraum z­ wischen Juli 1958 und November 1962 aus ungeklärten Gründen vollständig und auch sonst lassen sich zahlreiche Lücken in den Archivierungen feststellen. So ist in vielen Fällen nur die ursprüng­ liche Eingabe erhalten, während die Antworten und internen Begutachtungen zu den Briefen nicht archiviert wurden. Ebenso häufig ist das Gegenteil der Fall: Während die innerbehörd­liche Kommunika­tion sowie die Antwortschreiben als Quelle vorliegen, sind die ursprüng­lichen Beschwerdeschreiben verloren gegangen. Wir haben es also mit oftmals fragmentarischen und undeut­lichen Spuren zu tun, die die längst vergangenen Begegnungen der Passagiere mit der Macht in den Archiven hinterlassen haben. Sie stellen eher »Diskursbruchstücke«26 dar als elaborierte Chroniken der Strategien staat­licher Ordnungsmacht. Nichtsdestotrotz umfasst der Quellenkorpus immerhin noch tausende Seiten an Briefen, Protokollen, Antwortschreiben, Gutachten und internen Memos. Aufgrund des fragmentarischen Materials ist eine primär quantitativ orientierte Auswertung der Quellen jedoch problematisch. Allerdings lässt sich konstatieren, dass über die Jahre sowohl die Anzahl der Briefe als auch der Umfang ihrer administrativen Bearbeitung tendenziell zunimmt: Während bis Mitte der 1950er Jahre allenfalls 20 bis 30 Briefe pro Monat erhalten sind, steigert sich dies bis zu den späten 1960ern auf durchschnitt­lich etwa 100 Briefe pro Monat (Abb. 35). through Consumers’ Self-­Consciousness Disposi­tion«, Psychology and Marketing 19/3 (2002), S. 267 – 292; Thøgersen, John, Juhl, Hans Jørn und Poulsen, Carsten Stig: »Complaining: A Func­tion of Attitude, Personality, and Situa­tion«, Psychology and Marketing 26/8 (2009), S. 760 – 7 77; Meffert, Heribert und Bruhn, M ­ anfred: »Beschwerdeverhalten und Zufriedenheit von Konsumenten«, in: Heribert ­Meffert (Hrsg.): Marktorientierte Unternehmensführung im Wandel, Wiesbaden: Gabler Verlag 1999, S. 91 – 118. 25 Wer diese Dokumente archiviert hat und wie sie in die Bestände des New York Transit Museums Archives gelangt sind, lässt sich trotz intensiver Recherchen der Archivarin leider nicht mehr zurückverfolgen. 26 Foucault: »Das Leben der infamen Menschen«, S. 314.

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Abb. 35: Dieses Diagramm zeigt die Anzahl der archivierten Dokumente pro Monat und basiert auf einer Erhebung, die der Autor gemeinsam mit der Archivarin des New York 27 Transit Museums, Carie Stumm, im Oktober 2011 vorgenommen hat.

Trotz der lückenhaften Überlieferung lassen sich über die Jahre wiederkehrende und dominante Themen ausmachen. Sie reichen von Fragen der Sicherheit und Bedrohung bis hin zu Beschwerden über Polizeibrutalität und Normübertretungen der Mitpassagiere. Zudem gibt es historische Momente, in denen Phänomene neu thematisiert werden während andere verschwinden oder in den Hintergrund rücken. Allerdings muss gleich vorweg betont werden, dass ein dominanter Tenor der Beschwerden die Forderung nach mehr Sicherheit und Kontrolle ist. Meist vor dem Hintergrund eines beängstigenden Erlebnisses verfasst, appellieren zahlreiche Passagiere an die staatlichen Organe, ihr Gewaltmonopol in der Subway durchzusetzen. Sie sollen hart gegen die Übeltäter durchgreifen, sie aus dem System exkludieren und bestrafen. Wer diese Regelübertreter in den Augen der Passagiere sind und welche impliziten oder expliziten Normen sie verletzen, ist jedoch durchaus vielfältig.27 Bearbeitet und archiviert werden die Briefe vor allem von einer Institution: dem New York City Transit Police Department. 1953 ins Leben gerufen im Zuge der Vereinigung der drei Teilsysteme, wird mit dieser Behörde eine weitestgehend 27 Wie bereits einleitend erwähnt, ist das hohe Aufkommen der Briefe im März und April 1965 vor allem durch den Anfang März erfolgten Mord an Andrew Mormile begründet, der eine wahre Flut an Beschwerden und Forderungen nach mehr Sicherheit in der Subway nach sich zog.

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autonom agierende Institu­tion geschaffen, die auch nicht mehr der städtischen Polizeidirek­tion unterstellt ist.28 Mit einer anfäng­lichen Personalstärke von 500 Beamten (darunter auch einige Frauen) patrouillieren sie in Uniform oder Zivilkleidung durch das System, verteilen Busgelder sowie Vorladungen und verhaften delinquente Passagiere. Von Beginn an ist ein zentraler Teil ihrer Aufgaben zudem das Aufnehmen von und Nachgehen der Beschwerden der Passagiere. Da diese jedoch bald ebenso stark zunehmen wie die Vergehen und Delikte im System, wird die Behörde bereits wenige Monate nach ihrer Gründung auf 852 Beamte aufgestockt.29 Angesichts der in den folgenden Dekaden rasant ansteigenden Verbrechensrate und einem wachsenden öffent­lichen Druck expandiert sie in den Folgejahren immer weiter und erhält zudem erweiterte Befugnisse.30 Verfügt sie im Jahre 1966 über 2272 Polizisten, sind es neun Jahre s­ päter schon über 3600 Beamte.31 Ende der 1970er Jahre bildete die Transit Police der New Yorker Subway die fünftgrößte Polizeitruppe der Vereinigten Staaten.32 Diese hohe Zahl an Personal ist nicht zuletzt der Flut an Beschwerden geschuldet, für deren Bearbeitung erstaun­lich viele bürokratische und personelle Ressourcen mobilisiert werden. Die Briefe, die die Transit Police ­zwischen 1954 und 1968 erreichen, sind dabei nicht nur im Hinblick auf ihren Inhalt und ihre Frequenz, sondern auch in ihrer Form und Materialität sehr heterogen. Es finden sich ebenso schnell niedergeschriebene und wütende Ausbrüche wie seitenlange Beschreibungen, in denen die Passagiere ihre Erfahrungen eines Überfalls oder einer bedroh­lichen Situa­ tion sowie ihre Denunzia­tionen detailliert ausformulieren. Während manche Briefe offenbar im Affekt geschrieben wurden und mit wilder Typographie, zahlreichen Ausrufezeichen oder hastig entworfenen Kritzeleien arbeiten, fertigen andere Passagiere lange Listen, Diagramme oder detaillierte Zeichnungen an. Die überwiegende Zahl der Briefe ist jedoch nicht nur mit Schreibmaschine geschrieben, meist wird auch personalisiertes Briefpapier oder der Briefkopf der 28 Verläss­liche Daten über die Geschichte der New York City Transit Police sind erstaun­ lich schwer zu erhalten. Die folgenden Informa­tionen entstammen zu weiten Teilen den einleitenden Informa­tionen zu den Memoiren des Polizisten Joseph Rivera: Vandal Squad: Inside the New York City Transit Police Department, 1984 – 2004, New York: powerHouse 2008. 29 Presseerklärung des Director of Public Rela­tions der Transit Authority vom 6. März 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 30 New York City Transit Police Department: Fiscal Report 1. Juli 1967 – 30. Juni 1968 (NYTMA, »Reports«, Box 7). 31 Transit Police Department, New York City Transit Authority, Manual of Procedure, 1975 (NYTMA, »Manuals«, Box 4). 32 Vgl. Cudahy, Brian J.: Under the Sidewalks of New York: the Story of the greatest Subway System in the World, New York: Fordham University Press 1995, S. XV.

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Abb. 36: Beispielseiten der Beschwerdebriefe der Subwaypassagiere (1964 – 1968).

33 Oben links: Brief von Cecile G. Cutler an die Transit Authority vom 29. November 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4); oben rechts: Brief von Sam W. Liske an Bürgermeister Lindsay vom 23. Mai 1967 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 7); unten links: Anonymer Brief an die Transit Authority vom 23. April 1967 (NYTMA,

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Firma verwendet, bei der die Verfasser angestellt sind.So scheint man auch in der visuellen Anmutung der Beschwerden darum bemüht zu sein, dem Anliegen mehr Gewicht zu verleihen (Abb. 36).34 Zwar wird s­ päter genauer auf die rhetorischen Strategien eingegangen werden, welche die Passagiere mobilisieren, um ihre Beschwerden zu legitimieren, jedoch soll bereits hier eine erste Vermutung über den sozia­len Hintergrund ihrer Verfasser angestellt werden. Auch wenn eine Pauschalisierung schwierig erscheint, so lassen doch die Gestaltungen der Briefe wie ihr Inhalt die Behauptung rechtfertigen, dass es meist die Passagiere der Mittelschichten sind, die zu d ­ iesem Instrument greifen, um ihre Erfahrungen und Anliegen zu kommunizieren. Zudem scheinen sie zu einem überwiegenden Teil weißer Hautfarbe zu sein, was sich unter anderem in der großen Zahl der Referenz zu »negro passengers« ausdrückt. Allerdings finden sich vor allem ab Mitte der 1960er Jahre mehr und mehr Briefe von New Yorkern anderer Hautfarben, die sich angesichts der zunehmenden Vorfälle polizei­licher Willkür und Brutalität an die Behörden wenden, um ihre Erfahrungen zu skandalisieren. Hinsicht­lich der Geschlechtszugehörigkeit lässt sich jedoch ein weitgehend ausgeg­lichenes Verhältnis ­zwischen Männern und Frauen konstatieren. Allerdings kommt gerade in den oftmals drastischen Schilderungen weib­licher Passagiere über ihre Erfahrungen sexueller Gewalt ein zentraler Aspekt des Beschwerdediskurses zum Vorschein: Er betrifft die Frage, welche Sprecherposi­ tionen und diskursiven Felder in den bürokratischen Apparaturen besondere Beachtung finden und welche marginalisiert oder ausgegrenzt werden. Dass diese Momente bedeutsam sind, betont auch Foucault, wenn er in seiner Defini­ tion der Dispositive festhält, sie umfassen »Gesagtes ebenso wie Ungesagtes.«35 So wird im Verlauf des Kapitels deut­lich werden, dass die impliziten Regeln des Beschwerdediskurses ebenso wenig das direkte Benennen von Erlebnissen sexueller Gewalt erlaubten wie die Widergabe des genauen Inhalts obszöner

»Miscellanea: Complaints«, Box 7); unten rechts: Brief von Marshall McLuhan an Bürgermeister Lindsay vom 12. Juni 1968 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 8). Aufgrund ihrer erst kürz­lich erfolgten Entdeckung sind die Briefe bislang weder Gegenstand archivarischer Registrierung noch inhalt­licher Auswertung geworden. Im Zuge einer mehrmonatigen Lektüre der Briefe im Archiv des Transit M ­ useums in den Jahren 2010, 2011 und 2014 konnte der Quellenkorpus jedoch erstmals umfassend gesichtet werden. 34 Brief von Eugene McEvoy an die Transit Authority vom 19. März 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 35 Foucault, Michel: »Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch)«, Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 391 – 429, hier S. 396.

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Graffiti.36 Auch die Berichte über Vergehen von Polizeibeamten halten erst ab den 1960er Jahren vermehrt Einzug in die diskursiven Forma­tionen der Beschwerden. Während jedoch immer wieder versucht wird, diese Eingaben herunterzuspielen oder ganz aus dem Diskurs zu verbannen, war es offenbar selbstverständ­lich, sexistische, homophobe oder rassistische Bezichtigungen und Denunzia­tionen zu äußern. Hier wird bereits erkennbar, dass die Art und Weise, wie die Passagiere ihre Emo­tionen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen, historischen Konven­tionen folgt. Die Kriterien, welche Formen der Beschwerde legitim erscheinen und welche nicht, sind dabei oftmals implizit. Im Nachvollzug der historischen Transforma­tionen der Briefe, wie ihrer bürokratischen Rahmungen, werden so auch Konjunkturen und Brüche sichtbar. Dies betrifft nicht nur die Phänomene, die in den Beschwerden zum Ausdruck kommen, sondern auch die Art und Weise, wie die Passagiere in den Briefen ihre Subjektposi­tion entwerfen und in der Kommunika­tion mit den Obrigkeiten strate­gisch in Anschlag bringen. Neben der Berücksichtigung der diskursiven Strukturen des Sagbaren und Unsagbaren gilt es zudem zwei weitere Missverständnisse in der Analyse dieser Quellen zu vermeiden: Dies betrifft zum einen ihre Interpreta­tion als Zeugnisse »authentischer« Subjektivität sowie zum anderen die Entkopplung der Quellen von ihrer historischen Situiertheit in Dispositiven der Macht und gouvernementalen Herrschaftstechniken. Auch Judith Butler warnt vor einer allzu naiven Herangehensweise an die Analyse von Selbstzeugnissen.37 Sie rät eindring­lich dazu, allen Versuchungen zu wiederstehen, sie als privilegierte Zugänge zu einer irgendwie echten, reinen oder kohärenten Subjektivität zu deuten. Dies bedeutet, dass sie ebenso wenig als Zeugnisse einer unverstellten Inner­lichkeit der Passagiere gelten können wie als objektive Beschreibungen der damaligen Zustände in der New Yorker Subway. Allerdings lassen diese Egodokumente durchaus Rückschlüsse über die Lebensumstände und Situa­tionen zu, in denen 36 Zudem lassen sich in den Quellen kaum Klagen über die Überfüllung des Systems finden. Zwar war trotz des fortwährenden Exodus der Passagiere die Subway noch massiv überlastet, allerdings lässt dies vermuten, dass sich dieser Zustand nun so weit normalisiert hatte, dass er nur noch in besonders schweren Fällen Anlass zu Empörung gab. Zugleich finden sich immer noch Beschwerden über Passagiere, die die Türen oder Treppen blockieren oder anderweitig die Zirkula­tion im System behindern. Vgl. bspw. den Brief von Mildred Cain an die Transit Authority vom 13. November 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2) oder den Brief von Morris Messing an die Transit Authority vom 4. Februar 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 37 Butler, Judith: Giving an Account of Oneself, New York: Fordham University Press 2005, vor allem S. 8 ff.

Beschwerdeforschungen  |

sich die Autorinnen und Autoren zum Zeitpunkt des Verfassens der Beschwerden befanden. Dabei sind es vor allem die anonymen Briefe, die in besonderer Form Auskunft über das Selbstverständnis der Passagiere geben. So ist das Schreiben eines Briefes in der einen oder anderen Weise immer mit einem Akt reflexiver Subjektivierung verbunden, der die Bedingungen der eigenen Sprecherposi­ tion offenlegt. In der narrativen Entfaltung des Beschwerdegrundes setzen sich die Autorinnen und Autoren unweiger­lich in Bezug zu einem Normensystem und machen ­dieses explizit. Judith Butler bringt ­dieses Moment der Kopplung von Narrativen des Selbst mit der Thematisierung seiner sozia­len Verortungen folgendermaßen auf den Punkt: When the »I« seeks to give an account of itself, it can start with itself, but it will find that this self is already implicated in a social temporality that exceeds its own capacities for narra­ tion; indeed, when the »I« seeks to give an account of itself, an account that must include the condi­tions of its own emergence, it must, as a matter of necessity, become a social theorist.38

Die Gefahr der Isolierung der Sprecherposi­tion der Subjekte von den Bedingungen ihrer Hervorbringung betonen auch die Historikerinnen Mary Fulbrook und Ulinka Rublack. Sie stellen heraus, dass es besonders in der Interpreta­tion dieser Art von Dokumenten unerläss­lich ist, sie mit anderen historischen Quellen und Forschungen zu kontrastieren.39 Nur so wird es mög­lich, sich der »exzentrischen Posi­tionalität« (Plessner) der Passagiere anzunähern, die in diesen Briefen sichtbar wird. Im Anschluss an eine dezentrierte Konzep­tion von Subjektivität, wie sie u. a. Foucault und Butler vertreten, müssen die hier vorliegenden Subjektentwürfe als dynamische, multible und in-­situ generierte Selbsterfindungen verstanden werden, die im höchsten Maße rela­tional operieren.40 Infolgedessen erscheinen die subjektiven Zeugnisse der Passagiere oftmals inkongruent oder widersprüch­ lich, was auch die Beamten, die diese Briefe bearbeiten, immer wieder beklagen. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass die Beschwerden zwar außergewöhn­ liche Einsichten in die Subjektkonstitu­tionen der Passagiere gewähren, jedoch zugleich mit taktischem Hintersinn verfasst werden. Im Gegensatz zu den meisten Tagebuchaufzeichnungen dienen sie eben nicht primär der eigenen Reflexion, sondern operieren im Hinblick auf eine autoritäre Instanz. Damit fungieren 38 Ebd., S. 7 f. 39 Fulbrook, Mary und Rublack, Ulinka: »In Rela­tion: The ›Social Self‹ and Ego-­ Documents«, German History 28/3 (2010), S. 263 – 272, hier S. 28 ff. 40 Vgl.: Butler, Judith: Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001; Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts: Vorlesung am Collège de France (1981/82), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

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sie als Medien einer kalkulierten Repräsenta­tion des eigenen Selbst und der Erfahrungen im Transit. Was die Passagiere dabei vor allem bezwecken, ist die Anerkennung ihrer Erlebnisse und die Legitimität ihrer Forderungen. Somit sind diese Briefe weit mehr als nur kathartische Instrumente um psycholo­gischen Stress zu bewältigen. Sie müssen stattdessen als direkte Appella­tionen an eine höhere Macht verstanden werden. Getragen sind sie vom Wunsch nach Bestätigung ihrer subjektiven Erfahrungen und der Stabilisierung ihrer Subjektposi­tion. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass viele der Briefe nicht nur an die Transit Authority adressiert werden, sondern sich auch direkt an den Bürgermeister New Yorks, Abgeordnete des amerikanischen Kongresses oder andere hohe Machtinstanzen richten. All diese Dimensionen gilt es also in der folgenden Analyse zu berücksichtigen und Genauigkeit und Sorgfalt in der Interpreta­tion der Briefe sowie ihrer administrativen Behandlung walten zu lassen. Nichtsdestotrotz stellen diese Dokumente eine außergewöhn­lich fruchtbare Quelle für eine historische Rekonstruk­tion der Subjektformen in der New York City Subway der 1950er und 1960er Jahre dar. Die besondere Qualität von solchen Egodokumenten stellen dabei auch Fulbrook and Rublack heraus: We can thus gain access to subjective experiences entirely without trying to access any particular individual self, while retaining a very lively sense of the individual personalities who not only experienced and witnessed, but explicitly bore witness to the events of their times and the effects these had on people’s percep­tions and responses.41

Versteht man die Beschwerderegime als Teil eines historisch kontingenten Infrastrukturdispositivs, so müssen sie auch in Bezug zu der politischen Ökonomie und kulturellen Dynamik der damaligen Zeit gesetzt werden. Sowohl die Subway wie die Stadt New York durchlaufen in diesen Dekaden erheb­liche Transforma­tionen: von einer zunehmenden Verwahrlosung des Systems bis zu einer Ausbreitung innerstädtischer Armut, dem Exodus der Passagiere und Bewohner und der sich immer deut­licher abzeichnenden Krise fordistischer Akkumula­tionsregime. Wie im Folgenden gezeigt wird, werden all diese und viele weitere Momente in den Beschwerdebriefen und ihren bürokratischen Verhandlungen sichtbar.

41 Fulbrook/Rublack: »In Rela­tion: The ›Social Self‹ and Ego-­Documents«, S. 265 f.

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2. Normen und Transgressionen This is not just a complaint letter. This is an accusa­tion against the city of New York which allows such lawlessness to exit in their subways. Brief von Abe Goldberg an die Transit Authority vom 29. Oktober 1963.42

Versucht man die Briefe nach dominanten Sujets zu ordnen, so lassen sich zunächst eine Vielzahl von Beschwerden finden, die den Verfall der mühsam etablierten Umgangsformen ­zwischen den Passagieren beklagen. Die Akte der Transgression der Normsysteme und Verhaltensimperative, die dabei zur Sprache kommen, sind jedoch äußert vielfältig. Sie reichen von ungebühr­lichen Körper­ praktiken und Verletzungen der Verhaltensimperative emo­tionalen Containments bis zu Belästigungen und gewalttätigen Übergriffen. Eine große Anzahl der Briefe skandalisiert darüber hinaus den zunehmend desolaten Zustand der materiellen Elemente des Systems, die Störung seiner visuellen Ordnungen sowie die Missachtung der Hygienerichtlinien. Über die Jahre erreicht die Transit Authority eine Fülle von Beschwerden über den miserablen Zustand der Waggons und Sta­tionen, den tagtäg­lichen Anblick von beschmierten Wänden und verschlissenen Sitzen sowie den sich überall anhäufenden Abfallbergen.43 Infolge der vernachlässigten Wartungen und Reparaturen beginnt die bislang als fortschritt­lich und tadellos geltende Hygienesitua­tion der Subway mehr und mehr zu erodieren. Mangelnde Reinigung und die nun wieder zunehmenden Praktiken des Spuckens, Rauchens, Vermüllens oder Urinierens lassen das System zusehends verwahrlosen, was immer wieder für wütende Beschwerden sorgt: »But, the subway is filthy! It is repugnant, filled with latrine odors of all sorts, generously spread with liquor and puddles of all sorts of heaved up, ­un-­ digested matter.«44 Obwohl diese Vergehen gegen den Sanitary Code von den Ordnungshütern mit hohen Busgeldern bestraft werden, finden sie im Zuge des Niedergangs 42 NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2. 43 Siehe bspw. den Brief von Fred James Wiebelt an die Transit Authority vom 5. April 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2) oder den Brief der Glendale Taxpayers’ Associa­tion Inc. an die Transit Authority vom 25. Januar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 44 Brief von K. Burke an die Transit Authority vom 31. Juli 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5).

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des Systems immer weitere Verbreitung.45 Glaubt man den Beschwerdebriefen, werden diese transgressiven Akte jedoch nicht nur von den Passagiere begangen, sondern auch von den Polizisten und Angestellten der Subway.46 Dass die Verbreitung dieser als ekelhaft und unhygienisch codierten Praktiken zugleich als Verletzungen zivilisatorischer Normen angesehen wird, lässt sich am Ausmaß der Empörung der Passagiere ablesen. In ihren zahlreichen Briefen finden sie oftmals drastische Worte für die Übeltäter: »It is most unsanitary to have spit and other filth disseminated in the closed areas of subways by these human scavengers.«47 Wie rasch sich angesichts dieser Zustände das Bild der Subway von einer alltäg­lichen Infrastruktur zum Symbol zivilisatorischen Niedergangs wandelt, wird auch im Brief eines offenbar neu zugezogenen New Yorkers aus dem Jahre 1965 deut­lich: »This is a totally new experience and a most disgusting one. Never have I met in the world such a group of discourteous and inconsiderate people. They are akin to pigs in front of a feed bin.«48 Hatte sich im Verlauf des Maschinenzeitalters ein komplexer Verhaltenscodex in der Subway etabliert, der den Menschen half, die neue und ungewohnte Situa­tion subterranen Transits zu bewältigen, so zeigten sich nun mehr und mehr Risse in den mühsam etablierten sozia­len Gefügen der Passagierkultur. Neben der Empörung über die Unzivilisiertheit der Passagiere und die Verwahrlosung werden auch die Störungen der Zeichensysteme zum Gegenstand zahlreicher Briefe. Dies wird zunächst in den Beschwerden über das Umstellen oder Überschreiben der Ausschilderungen durch Schulkinder deut­lich, was immer wieder für 45 Im Jahre 1957 zählt die Transit Police bereits 8741 Verstöße gegen des Rauchverbot sowie 1318 Verstöße gegen das Spuckverbot. Zudem werden 265 Fälle des Vermüllens (littering) und 669 Strafen für öffent­liches Urinieren gemeldet. Vgl.: Interner Report der Transit Police: »Unsanitary Condi­tions« vom 23. Mai 1958 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Im Jahre 1962 sollte die Zahl der Verstöße gegen das Rauchverbot auf 13.767 ansteigen. Vgl.: Interner Report der Transit Police an die Transit Authority: »Investiga­ tion re: Smoking on the transit system« vom 27. August 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). Zwei Jahre ­später waren es 14.460 Vorfälle, im Jahr 1965 bereits über 18.000. Vgl.: Interner Report der Transit Police an die Transit Authority: »Investiga­tion re: Smoking on the train« vom 4. September 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4); Interner Report der Transit Police an die Transit Authority: »Allega­tion re: Smoking and Spitting on the Transit System« vom 26. Juli 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 46 Vgl. den Brief von James Daly an die Transit Authority vom 17. Juli 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 47 Brief von Norman Zareko an das New York Department of Sania­tion vom 29. Mai 1958 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 48 Brief von David Kloss an die Transit Authority vom 17. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4).

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Konfusion sorgt.49 Ebenso finden sich Proteste über ungebühr­liche Werbung oder politische wie religiöse Agita­tionen in der Subway. Am meisten erregen sich die Passagiere jedoch über die ­­Zeichen und Symbole, die von den Mitpassagieren an die Wände der Sta­tionen und Waggons geschrieben wurden und die sich im Laufe der Zeit immer weiter ausbreiteten.50 Zwar treten gesprühte Graffiti erst in den 1970er Jahren in Erscheinung und lassen die global zirkulierenden Fotografien bemalter Waggons zu ikonischen Bildern des Niedergang New Yorks werden.51 Dennoch bedrohen die von den Passagieren geschaffenen Kritzeleien bereits Dekaden früher die hegemonialen Schrift-, Bild- und Symbolebenen der Subway.52 Dabei rufen sie eine ähn­lich starke Entrüstung hervor wie das Auftauchen der Werbetafeln und Reklameschilder mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor. Bereits in den frühesten überlieferten Briefen finden sich Denunzia­tionen gegenüber Passagieren, die die Wände und Reklameschilder mit Zeichnungen und Slogans überziehen.53 Die oftmals hastig geschriebenen Worte und Kritze­ leien stellen sowohl für die Passagiere wie auch die Betreiber hochgradig obszöne Artefakte dar, deren Verbreitung dementsprechend hart bestraft wird. Die Inhalte, die in den Beschwerden die meiste Aufmerksamkeit erfahren, sind dabei sexueller oder rassistischer Natur. Hier stößt man auf ein bemerkenswertes 49 Siehe bspw. den Brief von Richard Kawanagh an die Transit Authority vom 5. Mai 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 50 Siehe bspw. den internen Bericht der Transit Police an die Transit Authority: »Campain literature posted at subway entrances« vom 25. Juli 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6) sowie den Brief von Harry Schwart an die Transit Authority vom 1. August 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 51 Die Literatur zur Graffitikultur New Yorks wie der Subway ab den 1970er Jahren ist mittlerweile kaum noch zu überblicken. Besonders einschlägig sind jedoch: Austin, Joe: Taking the Train: How Graffiti Art Became an Urban Crisis in New York City, New York: Columbia University Press 2002; Castleman, Craig: Getting Up: Subway Graffiti in New York, Cambridge, Mass.: MIT Press 1982; Sloan-­Howitt, Maryalice und Kelling, Goerge L.: »Subway Graffiti in New York City: ›Getting Up‹ vs. ›Meaning It and Cleaning It‹«, Security Journal 1/3 (1990), S. 131 – 136. In der theoretischen Reflexion dieser Phänomene gilt als Klassiker: Baudrillard, Jean: Kool Killer oder Der Aufstand der ­­Zeichen, Berlin: Merve 1978. 52 Zu einer genaueren kulturphilosophischen Diskussion der Kritzelei, die sich eindeutigen Klassifika­tionen als Bild, Schrift oder Zeichen ­­ entzieht, siehe: Driesen, Christian: »Die Kritzelei als Ereignis des Formlosen«, in: Christian Driesen u. a. (Hrsg.): Über Kritzeln: Graphismen ­zwischen Schrift, Bild, Text und Zeichen, ­­ Berlin: Diaphanes Verlag 2012, S. 23 – 37. 53 Siehe bspw. den Brief von Rose Schwewe an die Transit Authority vom 21. Februar 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1) oder den internen Report der Transit Authority an die Transit Police: »Complaints about Man Drawing Obscene Pictures« vom 23. Februar 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1).

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Phänomen: Zwar sind die Beschwerden zu diesen Vergehen ungemein zahlreich, jedoch wird es meist ausdrück­lich vermieden, den genauen Inhalt oder Wortlaut der Graffitis wiederzugeben. In dieser schamhaften Markierung als etwas Unsagbares zeigt sich auch die Bedrohung und Verunsicherung, die von diesen Kritzeleien ausging. Sie erscheinen in solchem Maß als nicht diskursfähig, dass sich über die Jahre allenfalls eine Handvoll Passagiere trauen, sie zumindest verfremdet zu reproduzieren. Sichtbar wird dieser Moment diskursiven Tabus beispielsweise in folgendem Brief aus dem Jahre 1958: I noticed a drawing over an advertisement on the back of the motorman’s cab, depicting, the male and female’s private parts and the words »Boy, girl, F_ _ _ _ _ _ _ .« How can these filthy, obscene and indecent writings, drawings, etc. go unnoticed by your many employees, supervisors and such?54

Neben diesen offenbar undarstellbaren ­­Zeichen sind es vor allem Graffiti rassistischen und antisemitischen Inhaltes, deren Entfernung immer wieder lautstark gefordert wurde. Slogans wie »Kill all Kikes«55 oder »Gas all Jews Now«56 – oftmals ergänzt durch Hakenkreuze 57 – waren im System weitverbreitet und sorgten immer wieder für Empörungen, sei es von einzelnen Passagieren wie von Behörden und Organisa­tionen.58 Ein weiteres Moment visueller Obszönität ging offenbar von der Literatur aus, die von den unzähligen Kiosken und Verkäufern in der Subway vertrieben wurde. Unter dem Druck et­licher Beschwerden sowie öffent­lichen Protesten der Anti-­Pornographie-­Bewegung begann die Transit Authority im Jahre 1965 eine weitreichende Kampagne zur Beseitigung dieser als höchst gefähr­lich eingestuften Druckerzeugnisse.59 Besonderen Fokus legte die Behörde dabei auf Magazine mit Fotografien halbnackter Frauen oder Artikel über anstößige oder 54 Brief von James J. Duff an die Transit Authority vom 12. April 1958 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 55 Brief von Ben Benowitz an die Transit Authority vom 27. Juni 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 56 Brief des Vorsitzenden der Jewish War Veterans of the U. S. A. an die Transit Authority vom 3. Juni 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 57 Siehe bspw. den Brief von Samuel Kupfer an das Board of Transporta­tion vom 5. Mai 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 58 Siehe bspw. den Brief der Anti-­Defama­tion League an die Transit Authority vom 27. Januar 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 59 Vgl. den internen Bericht der Transit Police an die Transit Authority: »Meeting at City Hall Re Sec­tion 484-H of the Penal Law» vom 4. November 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5).

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gesetzeswidrige Formen von Liebe, Sex oder Gewalt. Die Zeitschriften, die im Zuge dieser Ak­tion konfisziert wurden, trugen dabei so bezeichnende Titel wie Dude, Inmate, Police Detectives oder Secret Confessions.60 Begründet wurde ihre Verbannung mit der sich dadurch versprochenen Reduk­tion der Kriminalität im System.61 Darüber hinaus war die Subway auch hinsicht­lich politischer und religiöser Propaganda ein hochgradig umkämpfter Raum. So finden sich immer wieder Beschwerden über religiöse Agita­tionsversuche durch Plakate, Predigten und das Verteilen von Flugblättern,62 mit dem Ergebnis, dass diese missionierenden Passagiere verwarnt und aus dem System entfernt wurden.63 Auch der illegale Zutritt zum System durch das Umgehen oder Überlisten der Schleusensysteme sorgte regelmäßig für Protestbriefe zahlender Passagiere. Mit der im Jahre 1953 erfolgten Umrüstung der Zutrittsmodalitäten von Geldmünzen auf spezielle Subwaytoken, die in die Drehkreuze geworfen werden mussten, um Zugang zum System zu erhalten, mehrten sich auch die Versuche, diese Apparaturen zu umgehen oder zu überlisten. Finden sich während des Maschinenzeitalters noch kaum Zeugnisse dieser subversiven Praktiken, so nehmen sie mit jeder weiteren Erhöhung des Fahrpreises zu. Die Passagiere erwiesen sich dabei als höchst erfinderisch: Sie hebelten die Absperrungen mit Metallstäben aus, fälschten Token und Generalschlüssel zum System oder entwickelten Körpertechniken, um die Drehkreuze zu umgehen. Zudem entfalteten sich um die Token komplexe Mikroökonomien organisierter Fälscherringe und Schwarzmarkthändler.64 60 Clark, Alfred E.: »City starts Drive on Subway Smut«, The New York Times (21. März 1965). 61 Allerdings ruft diese Ak­tion bei einigen Passagieren auch Wiederspruch hervor. Sie fühlen sich durch diese Maßnahmen an George Orwells Roman 1984 erinnert. Vgl. bspw. den Brief von Thomas E. Walsh an den Bürgermeister vom 24. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 62 Brief von A. Witty an die Transit Authority vom 30. Oktober 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 63 Vgl. den internen Bericht der Transit Police: »Proselytism on trains« vom 18. Juni 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Zudem finden sich auch Beschwerden über almosensammelnde und missionierende Nonnen, die von einem Passagier namens Mr. Fondiller mit der Begründung vorgetragen werden, dass er Anhänger einer säkularen Kultur sei. Der Polizeichef vermerkt in seinem Report dazu ­trocken: »Perusal of department records revealed that it is a fetish with Mr. Fondiller to make this complaint, noting two identical complaints received in the prior year.« Interner Report der Transit Police an den General Manager der Transit Authority: »Investiga­ tion re: Viola­tion of Transit Authority Rule, Nuns soliciting Alms« vom 14. August 1967 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 7). 64 Zu diesen subversiven Taktiken und den Versuchen ihrer Bekämpfung siehe ausführ­ lich: Höhne, Stefan: »Tokens, Suckers und der Great New York Token War«, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2011), S. 143 – 158.

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Neben den Verstößen gegen offizielle Richtlinien kommen in den Briefen auch immer wieder die Verletzungen impliziter Umgangsnormen zur Sprache. Dies betrifft beispielsweise die Klagen über männ­liche Passagiere, die ihre Beine zu weit spreizen oder sich weigern, einer alten oder schwangeren Frau ihren Sitzplatz anzubieten.65 Auch die Nichteinhaltung des stillschweigenden Abkommens, seine Füße nicht auf den Sitz zu legen, evoziert oftmals Empörung.66 Zu den ungeschriebenen Normen scheint es ebenso zu gehören, in der Subway nicht einzuschlafen. Zahlreiche Beschwerden berichten von diesen Praktiken und verlangen von den Ordnungsmächten, diese sogenannten »Sleeper« aufzuwecken, aus dem System zu entfernen und zu bestrafen.67 Um diese Praktiken zu unterbinden und eventuelle Normverletzungen sofort entdecken und ahnden zu können, machen zahlreiche Passagiere in ihren Briefen Vorschläge zur Implementierung diverser Sicherheitsmaßnahmen, von Kameraüberwachung bis hin zu Kampfhunden.68 Bezeichnend an den Beschwerden über die Normverletzungen anderer Passagiere sind auch die Subjektposi­tionen, die sich die Autorinnen und Autoren dabei selbst zuweisen. In der Skandalisierung dieser Vergehen betonen sie immer wieder, anständige und gesetzestreue New Yorker zu sein, die wissen, wie man sich im System zu verhalten hat: »We dress nicely, we do not push or shove, we get off in time for our exit, we sit on one seat and not spread out on two. I only men­tion these rules of ›public transporta­tion etiquette‹ which perhaps you could print and post up along with the ads.«69 Diese Strategie, die Sprecherposi­tion durch Hinweise auf die eigene Konformität mit den impliziten und expliziten Normen und Regeln der Subway zu stärken, wird in einem Großteil der Briefe auf die eine oder andere Art mobilisiert. 65 Siehe bspw. den Brief von Marie Kuwashima an die Transit Authority vom 10. Mai 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6) oder den Brief von Joseph Calderon an die Transit Authority vom 18. August 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 66 Siehe bspw. den Brief von Loretta Knudsen an die Transit Authority vom 17. Oktober 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 67 Siehe den Brief von Agnes Hunter an die Transit Authority vom 6. Juni 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1) oder den Brief von Harry Hirsch an die Transit Authority vom 2. Juni 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Bereits im Jahr 1955 nahm die Transit Police 4169 schlafende Passagiere fest. Vgl. den internen Report der Transit Police an die Transit Authority vom 1. Mai 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Diese Zahl sollte sich in den nächsten Jahren nahezu verdoppeln. 68 Siehe bspw. den Brief von Alon Lemaco an Bürgermeister Wagner vom 23. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 69 Anonymer Brief an die Transit Authority vom 14. Februar 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6).

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Manchmal kippt sie auch in lange imaginäre Belehrungen anderer Passagiere. Deut­lich wird dies beispielsweise in folgendem Brief, der nebenbei auch einen nahezu umfassenden Katalog mög­licher Normverstöße in der Subway liefert: Don’t cut up subway seats or break or loosen subway bulbs where it [is] dark in cars. THINK before you do these awful things. Don’t spit or throw papers on subway cars. It’s unhealthy. Don’t smoke. Signs are there for you to read and obey the law. Be a good CITIZEN, respect your law officer. Don’t hold doors of subway cars. Leave it alone. Keep away from trouble makers. Don’t bother good people. Act your age. JAILS are full of bad people. Give an old age person your seat. Someday you may be old yourself. Don’t write on subway cars or busses. KEEP IT CLEAN, it’s for you to ride and enjoy clean subways and busses … If cars are crowded don’t go in and push. Wait for another train, avoid TROUBLEMAKERS … WOMEN keep away from fresh guys who push you and get near you … Move away from that kind old man … BE A GOOD CITIZEN NOT A BAD ONE. THINK, THINK, THINK,…70

Wie fragil die Subjektordnungen der Passagiere in diesen Jahren sind, wird auch daran sichtbar, wie rigoros die Regelverstöße und Normverletzungen von den Behörden geahndet werden. Dies zeigt das Beispiel einer offenbar schwer verängstigten Frau, die trotz des überfüllten Waggons ihren Nebensitz mit persön­ lichen Dingen in Beschlag nimmt und offensiv verteidigt, was den Zorn eines anderen weib­lichen Passagiers und einen dementsprechenden Beschwerdebrief nach sich zieht.71 Als wenige Tage ­später ein Polizist diese Frau in der Subway erkennt und sich neben sie setzen will, reagiert sie aggressiv und wird umgehend aus dem System entfernt, verhaftet und in eine psychiatrische Klinik eingeliefert.72 Auch andere offensicht­lich geistig oder körper­lich behinderte Passagiere werden massenweise Gegenstand von Beschwerden.73 Trotz des Bewusstseins für das Leiden dieser Menschen werden sie denunziert und ihre Exklusion gefordert. Dies geschieht in einem oftmals radikalem Ton: »I am hopeful that your organiza­ tion will get rid of this animal so that the subways will be safe to ride as usual.«74

70 Brief von Matteo Mahanga an die Transit Authority vom 23. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4), Versalschreibweise und Orthographie im Original. 71 Siehe den Brief von Dorothy Bartels an die Transit Authority vom 6. August 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 72 Siehe den internen Report der Transit Police vom 18. August 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 73 Vgl. bspw. den Brief von Clara De Luisi an die Transit Authority vom 21. Juli 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 74 Brief von Louis Halpern an die Transit Authority vom 30. März 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1).

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Indem in den Beschwerden die offiziellen wie impliziten Verhaltenserwartungen diskursiv werden und die Exklusion und Bestrafung transgressiver Subjekte eingefordert wird, offenbart sich die Subway als hochgradig fragiles wie normabhängiges Territorium. Die Forderung nach dem Ausschluss von Passagieren ist jedoch nicht nur im Falle beobachteter Normverletzungen ein zentrales Sujet der Beschwerdebriefe. Ebenso verlangen die Passagiere immer wieder die Exklusion ganzer Gruppen von Passagieren ungeachtet ihres Verhaltens. Dies betrifft vor allem Bettler, Teenager, Obdachlose, Schwarze, Latinos und Juden. Wie im nächsten Abschnitt dargestellt wird, können beide Fällen als Formen denunziatorischer Praktiken gelten. Denunzia­tionen Was macht eine Beschwerde zu einer Denunzia­tion? Folgt man der Defini­ tion Sheila Fitzpatricks und Robert Gellatelys, so lassen sich Denunzia­tionen zunächst sehr allgemein als spontane Kommunika­tion von Privatpersonen an den Staat oder andere Behörden (wie die K ­ irche, Ämter etc.) charakterisieren, die Vorwürfe an andere Individuen, Gruppen oder Institu­tionen erheben.75 Zugleich fordern die Denunzianten implizit oder explizit deren Bestrafung. Dabei berufen sie sich zumeist auf anerkannte Werte, Normen oder Gesetze und leugnen jeg­liches persön­liches Interesse an der Bestrafung der Denunzierten. Als Grund ihrer Anklage geben sie stattdessen ihre (staats)bürger­liche Pflicht oder ihr Interesse am Wohl der Allgemeinheit an. Zwar fallen bei Weitem nicht alle Beschwerden der Passagiere in diese Kategorie, aber es lässt sich doch eine Masse von Briefen finden, die den von F ­ itzpatrick und Gellately genannten Merkmalen entspricht. So stehen neben den Geisteskranken und Verwirrten zunächst vor allem bettelnde Passagiere im Fokus denunziatorischer Briefe. Auch wenn das Almosensammeln, Hausieren und Musizieren in der Subway bereits ab den 1930er Jahren unter Strafe gestellt war, sollten diese Praktiken doch nie ganz verschwinden. Im Zuge der ökonomischen Krise New Yorks beginnen sie in den 1950er Jahren wieder rapide zuzunehmen.76 75 Zudem werden Denunzia­tionen typischerweise schrift­lich verfasst und eher diskret an den Adressaten geliefert als öffent­lich verbreitet. Auch müssen Denunzianten von Informanten unterschieden werden, da Letztere eher beauftragte Mitarbeiter oder bezahlte Spitzel darstellen, die in längerfristigen Beziehungen zu den Autoritäten stehen. Vgl. Fitzpatrick/Gellately: »Introduc­tion to the Practices of Denuncia­tion in Modern European History«, S. 1 f. 76 Die Transit Police geht dementsprechend radikal gegen Almosensammler vor. Wenn sie im Jahre 1954 bereits 383 Verhaftungen von Bettlern vornimmt, so sind es zwei

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Regelmäßig erreicht die Transit Authority nun Beschwerden über Bettler, Händler und Mitarbeiter von Hilfsorganisa­tionen, durch deren Aktivitäten sich die Passagiere belästigt und genötigt fühlen:77»Why cannot passengers ride the Subways without being harrassed and badgered by these professional beggars?«78 Auch die zahlreichen fliegenden Händler, die im System Blumen, Zeitungen oder Süßigkeiten feilbieten, erregen sowohl den Unmut der Passagiere als auch der Ladenbesitzer, für die diese Praktiken eine Bedrohung ihres Lebensunterhalts darstellen.79 Legitimiert werden diese Bezichtigungen oftmals mit der Besorgnis, dass diese Aktivitäten Ungeziefer und Ratten anziehen und die Hygiene bedrohen würden.80 Beispielsweise denunziert ein Passagier einen Bretzelverkäufer mit folgender Begründung: »This is a very congested sta­tion and this vendor takes up some space. It is a sanitary viola­tion as the pretzels are not covered and take on dust and odors.«81 Hier wird deut­lich, dass die Grenze ­zwischen Denunzia­tionen und allgemeinen Beschwerden auch in der Selbstwahrnehmung ihrer Verfasser fließend ist. Dies stellen auch Fitzpatrick und Gellately in ihren Forschungen zu Denun­ zianten in totalitären Regimen heraus: They would mentally categorize their communica­tions as »letters« or »complaints«, avoiding any pejorative term associated with »denuncia­tion.« They were unlikely to feel that such an

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Jahre ­später bereits 1314 Festnahmen und Bußgelderlasse, die gegen Bettler und Händler erlassen werden. Vgl. den internen Report der Transit Police: »Professional Beggars working the Lexington Ave. Subway« vom 2. Februar 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Siehe bspw. den internen Report der Transit Police über eine Beschwerde von George G. Gerson vom 14. Dezember 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Eine andere Frau meint zu glauben, dass ein blinder Bettler angeb­lich gar nicht blind sei, was sie über alle Maßen empört. Das Protokoll ihrer offenbar höchst emo­ tionalisierten telefonischen Beschwerde vermerkt: »She was so aggravated over this incident, that when she arrived home, she sat right down and wrote a postal card to the mayor.« Interner Report der Transit Authority »Post Card to Mayor’s Office – Complaining about Beggars« zur Beschwerde von Beatrice Morris vom 15. Februar 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Brief von Frederik Allen Watson an die Transit Authority vom 11. Juni 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). Siehe bspw. den Brief von John Weiss im Namen der Ozone Tudor Civic Associa­tion an die Transit Authority vom 16. Mai 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6) oder den Brief von G. Cardnsis vom Camellia Flower Shop an die Transit Authority vom 16. Februar 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Brief von Mrs. M. Roozebom an den Bürgermeister von New York vom 3. März 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). Brief von J. Prissor an die Transit Authority vom 10. Juni 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1).

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act was shameful, and the idea that it might make them – or might make them appear – collaborators with the regime probably did not even occur to them.82

Wenn ­dieses Moment ebenso auf die Beschwerden der New Yorker Passagiere zutrifft, so verdeut­licht dies, dass auch in nicht-­totalitären Kontexten Denunzia­ tionen eine wichtige Kommunika­tionsform ­zwischen den einzelnen Subjekten und den bürokratischen Apparaturen darstellen. Dass sie bislang vor allen im Kontext absolutistischer Herrschaft oder totalitärer Regime analysiert wurden, ist sicher ihrer dominanten Deutung als Diskurskanal z­ wischen den machtvollen Staatsapparaten »oben« und den einfachen Menschen »unten« geschuldet, die aller anderen Partizipa­tionsformen beraubt sind.83 Jedoch finden sich auch in demokratischen und rechtstaat­lichen Kontexten immer wieder Momente, in denen die Behörden sogar ausdrück­lich zu Denunzia­tionen auffordern. Nicht zuletzt trifft dies für die Untergrundbahnen in den Metropolen zu, in denen den Passagieren auch immer wieder Belohnungen für Hinweise versprochen werden, die zur Verhaftung delinquenter oder nonkonformer Passagiere führen.84 Glaubt man den Briefen, scheint man in vielen Fällen die Praktiken der Bettler und Händler als solch drastische Störungen zu empfinden, dass man sich ihnen trotz der etablierten Techniken des Reizschutzes und der Containerisierung der Sinne nicht erwehren kann. So beschwert sich beispielsweise ein Passagier über einen Verkäufer wie folgt: »His ear-­spitting sales talk goes on for about six or seven minutes and if you have the misfortune to be near it is simply impossible to read a paper or even think.«85 Ebenso werden die künstlerischen Darbietungen in der Subway augenschein­lich als derart lästig oder gar bedroh­lich erlebt, dass sie das Verfassen ausführ­lichster Denunzia­tionen rechtfertigen. In einer Beschwerde über eine Gruppe musizierender und tanzender Jugend­licher heißt es: »It is offensive to transit patrons to have to suffer their noise, their urgent solicita­tion, their tasteless gyra­tions.«86 In der Frage, wie man diesen Praktiken Einhalt gebieten könnte, schlagen die Passagiere neben 82 Fitzpatrick/Gellately: »Introduc­tion to the Practices of Denuncia­tion in Modern European History«, S. 759. 83 Gellately: »Denuncia­tion as a Subject of Historical Research«, S. 19 f. 84 Siehe bspw. die Beispiele in: Janet Chan: »The new lateral Surveillance and a Culture of Suspicion«, Surveillance and Governance: Crime Control and Beyond, Bd. 10, Sociology of Crime, Law and Deviance 10, Bingley: Emerald Group Publishing Limited 2008, S. 223 – 239. 85 Brief von Leo Meyerowitz an die Transit Authority vom 17. Februar 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 86 Brief von John L. Young an die Transit Authority vom 13. Dezember 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1).

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dem harten Durchgreifen der Polizei auch immer wieder vor, in jedem Waggon Beschilderungen anzubringen, die bei Strafandrohung vor dem Kauf von Waren oder dem Geben von Almosen warnen.87 Der Glaube an die Kraft der visuellen Regime zur Disziplinierung der Passagiere war trotz aller Krisensymptome des Systems offenbar noch ungebrochen. Eine Vielzahl von denunziatorischen Briefen betrifft auch die Obdachlosen, deren Zahl im Zuge der ökonomischen Krise der Stadt stark ansteigt und die nun vermehrt Schutz in der Subway suchen. Ihre Präsenz scheint solch eine Wut auf Seiten der Passagiere hervorzurufen, dass sich zahlreiche Briefe finden lassen, welche die Exklusion dieser Menschen aus dem System und ihre Bestrafung fordern.88 Dementgegen bringen manche Passagiere in ihren Briefen aber auch ihre Sorge um die Obdachlosen zum Ausdruck und fordern die Transit Authority oder die Behörden auf, etwas gegen ­dieses Elend zu unternehmen.89 Zudem erheben einige Briefeschreiber schwere Vorwürfe und Anschuldigungen an die Transit Police, die in ihren Augen ein quasi-­faschistisches Regime ausübt und dessen brutale Behandlung und Ausgrenzung der Armen und Obdachlosen eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte darstellt.90 Diese Eingaben bleiben jedoch Einzelfälle. Zumeist zeigt sich in den Briefen eine deut­liche Differenzbehauptung ­zwischen den überwiegend aus der Mittelschicht stammenden Beschwerdeführern sowie den Armen und Obdachlosen. Dabei wird des Öfteren auch vorgeschlagen, den ohnehin kontinuier­lich ansteigenden Fahrpreis noch stärker zu erhöhen, um diese Gruppen aus der Subway fernzuhalten.91 87 Brief von George G. Gerson an die Transit Authority vom 29. November 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 88 Vgl. den internen Report der Transit Police an den General Manager der Transit Autho­rity: »Investiga­tion re: Vagrants and Sleepers« vom 20. November 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). In Reak­tion auf die Beschwerden widmet sich die Transit Police verstärkt diesen Vergehen. Werden im Jahre 1962 insgesamt 7.282 Verhaftungen unternommen, sind es im Folgejahr bereits 8.102. Vgl. den internen Report der Transit Police an den General Manager der Transit Authority: »Investiga­ tion re: Undesirables on E and F trains« vom 19. Februar 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2); Interner Report der Transit Police an den General Manager der Transit Authority: »Investiga­tion re: Allega­tion of Drunks, beggars and obscene writings« vom 12. Februar 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 89 Vgl. bspw. den Brief von Grace M. Covey an Bürgermeister Wagner vom 6. Mai 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 90 Vgl. bspw. den Brief von Taylor Mead an die Transit Authority vom 22. Januar 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 91 Gefordert wird dies bspw. im Brief von James K. Bugart an Bürgermeister Wagner vom 6. Juni 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3).

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An die Verachtung und Distink­tion, die in den denunziatorischen Briefen gegen die Armen der Stadt zum Ausdruck kommt, koppelt sich auch der Wunsch nach Bekämpfung und Bestrafung von Praktiken des Müßiggangs. Einerseits wird dies in den unzähligen Denunzia­tionen über untätige Polizisten und Subway­angestellten augenfällig: »I wish to ask you for your coopera­tion and rid the subway of loafers, lazy employees, and work dodgers who refuse to give the City a fair shake for a day’s pay.«92 Andererseits richtet sich der Hass vieler Beschwerdeführer auf die Menschen, die sich in den Sta­tionen und Eingängen aufhalten, ohne die hektische Betriebsamkeit an den Tag zu legen, die von den Passagieren offenbar erwartet wird. Wie schon im ersten Kapitel dargestellt wurde, gerieten die Praktiken der Faulenzerei und des Schlen­drians bereits im 19. Jahrhundert in den Fokus staat­licher Ordnungsmacht. Knapp ein Jahrhundert ­später erscheinen sie noch immer derart ungehörig und bedroh­lich, dass nun auch die Transit Police mit Verwarnungen und Platzverweisen gegen sie vorgeht. Diese Verfahren sind nicht zuletzt Ausdruck einer Gouvernementalität, die auf die Produktivitätssteigerung ihrer Subjekte abzielt und denen die Obdachlosen, Straßenhändler und Müßiggänger als suspekt und parasitär erscheinen. Die zahlreichen Konflikte, die im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre in der Subway verstärkt zutage treten, verlaufen jedoch nicht nur entlang der Kategorien ökonomisch-­sozia­ler Klassenzugehörigkeit. Mindestens ebenso prägnant zeigen sich die Verwerfungen z­ wischen den Passagieren verschiedener Hautfarben. Während in der einschlägigen Literatur die ethisch diverse »salt and pepper crowd« der Passagiere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch als relativ konfliktfrei und harmonisch beschrieben wird,93 zeichnen die Beschwerdebriefe nun ein gänz­lich anderes Bild. Deut­lich wird dies zum einen in einem starken Antisemitismus, der sowohl in Graffitis zutage tritt wie auch in Beschimpfungen und tät­lichen Angriffen, sei es von anderen Passagieren 94 oder dem Subwaypersonal.95 Zum anderen geben die Briefe ein drastisches Zeugnis des allgegenwärtigen Rassismus gegenüber nicht-­ weißen New Yorkern. Obwohl die Stadt im Gegensatz zum Süden der USA nie segregiert war, zeichnen die Beschwerden ein Bild der New Yorker Subway als Ort, in dem rassistische Übergriffe, Erniedrigungen und Polizeibrutalität alltäg­liche 92 Brief von John Bergers an die Transit Authority vom 22. Februar 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 93 Brooks, Michael: Subway City. Riding the Trains, Reading New York, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1997, S. 183 ff. 94 Vgl. den Brief von Anna Topoil an die Transit Authority vom 5. April 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 95 Vgl. den Brief von Alexander Brooks an die Transit Authority vom 21. November 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1).

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Momente darstellen. Sie zeugen von einem in dieser Zeit in den USA vorherrschenden gesellschaft­lichen Klima der Diskriminierung und Ausgrenzung, dass sich ab Mitte der sechziger Jahre auch in zahlreichen Protesten und sogenannten »Rassenunruhen« äußern sollte, wie beispielsweise in, Chicago Los Angeles oder New York.96 Auch in der New Yorker Subway nehmen die handgreif­lichen Auseinandersetzungen z­ wischen schwarzen und weißen Passagieren kontinuier­lich zu. Die oftmals rassistische Berichterstattung der Medien tut dabei ihr Übriges, um das Klima der Angst und des Misstrauens z­ wischen den Passagieren weiter anzuheizen. Als der US-amerikanische Kongress im Jahre 1964 mit dem Civil Rights Act die »Rassentrennung« endgültig abschafft, führt dies auch in New York City zu massiven Protesten. Dabei wird gerade anhand der Subway argumentiert, dass eine Segrega­tion dringend notwendig sei, um weiße Passagiere zu s­ chützen. Die Codierung der Subway als privilegierter Ort der Gewalt gegen Weiße findet sich auch in zahlreichen Beschwerdebriefen wieder, wie beispielsweise folgendem anonymen Schreiben aus dem Jahre 1965: »The negroes have a hate for the white and they have been admitting it on television, in the newspaper and they [have] proven it by stabbing us like as though they were killing jackrabbits. We are living in a city of fear.«97 In ähn­lichem Tenor berichten auch zahlreiche andere Briefe von Übergriffen oder Einschüchterungen durch farbige Passagiere und fordern ein hartes Durchgreifen der Polizei.98 Die Mehrzahl der Beschwerden bezieht sich jedoch nicht auf direkte Vorfälle, sondern dient den Autorinnen und Autoren als Instrument genereller Verdächtigungen und rassis­ tischer Äußerungen. Dabei finden sich oftmals Sentenzen wie: »the Negros in the city are getting too much educa­tion«99 oder: »this hostile race both men + woman cause trouble all the time, killing poor law-­abiding people, just because they happen to be White.«100 Hier wird deut­lich, dass die Denunzia­tionskultur der Subway in zumindest einem Aspekt von den klas­sischen Mustern abweicht. Wenn Foucault und Farge wie auch Gellately herausstellen, dass entgegen der Rhetorik der Denunzianten 96 Für einen Überblick vgl.: Abu-­Lughod, Janet L: Race, Space, and Riots in Chicago, New York, and Los Angeles, New York: Oxford University Press 2007. 97 Anonymer Brief an den Bürgermeister von New York vom 30. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 98 Vgl. bspw. den anonymen Brief an die Transit Authority vom 3. April 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 99 Interner Report der Transit Police über eine Beschwerde von Mrs. Betz: »Rowdy Negroes – Lack of Police Protec­tion« vom 10. Dezember 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 100 Brief von Beatrice Kay an die Transit Authority vom 31. März 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3).

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diese Praktik in vielen Kontexten zum eigenen Vorteil angewandt wird, wie das Beseitigen eines Konkurrenten, so scheint d ­ ieses Motiv hier weitaus weniger 101 dominant zu sein. Zwar mag den Beschwerdeführern an einem aus ihrer Sicht störungsfreien und komfortablen Transit gelegen sein, in den Briefen werden jedoch noch zahlreiche andere Motive sichtbar. Sie reichen von persön­ licher Genugtuung oder dem Interesse an Schadensersatz bis hin zu Loyalitätsbekundungen an den Bürgermeister oder andere Würdenträger. Vor allem aber erweist sich die Verachtung spezifischer Passagiergruppen sowie das Bestreben nach Anerkennung durch die Behörden als zentrale Triebfeder der Beschwerden. Wie auch die historische Denunzia­tionsforschung immer wieder betont, sind Diffamierungen wie Stigmatisierungen der einen oder anderen Form ein Element jeg­licher Form von Vergesellschaftung. Gerade die Denunzia­tionen von Juden, Homosexuellen und Nicht-­Weißen haben dabei eine lange Tradi­tion. Sie erfüllen jedoch nur auf den ersten Blick eine primär politische Funk­tion. Als performative Praktiken sind sie ebenso in sozia­ler und kultureller Hinsicht wirkmächtig. Dies gilt auch im Falle der Denunzia­tionen der New Yorker Passagiere, in denen auch Fragen von Loyalität, Solidarität und Identität verhandelt werden. So werden sie im Zuge der erstarkenden Bürgerrechtsbewegung auch als Instrumente der Skandalisierung rassistischer Übergriffe in Anschlag gebracht. Vor allem ab 1965 mehren sich die Beschwerden von schwarzen wie weißen Passagieren über rassistische Anfeindungen und Misshandlungen durch die Transit Police oder das Subwaypersonal. Sie reichen von eher kleineren Ereignissen, wie rassistischer Reklame 102 oder dem Nicht-­Einschreiten eines Zugbegleiters angesichts einer Frau, die ein beleidigendes Schild gegen »Negros« durch die Subway trägt,103 bis hin zu schwersten Misshandlungen eines Schwarzen durch eine ganze Gruppe von Polizisten.104 Diese Akte der Solidarisierung ­zwischen verschiedenen Passagiergruppen sind zwar eher selten, sie machen jedoch darauf aufmerksam, wie sich trotz der Fragmentierung der Passagiermasse immer wieder Momente kollektiver Verbundenheit und Solidarität etablieren. Dass in den Beschwerden eine Vielzahl von Mechanismen sozia­ler Hierarchisierung und Machtausübung diskursiv werden, zeigt auch, wie umkämpft die 101 Vgl. dazu ausführ­lich: Gellately: »Denuncia­tion as a Subject of Historical Research«, S. 24; Farge/Foucault (Hrsg.): Familiäre Konflikte: Die »Lettres de Cachet«: Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, S. 215 ff. 102 Siehe den Brief von Michael Merryman an die Transit Authority vom 16. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 103 Siehe den Brief von Hattie S. Adams an die Transit Authority vom 21. November 1954 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 104 Siehe den Brief von Natalie Raymond an Bürgermeister Lindsay vom 8. August 1967 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 7).

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Aneignungs- und Zugangsformen zu den Territorien urbaner Infrastrukturen waren. Neben der Klassenlage und der ethnischen Zugehörigkeit erweist sich auch die Kategorie des Geschlechts immer wieder als eine zentrale Differenz. Arbeiten im Kontext der historischen Geschlechterforschung haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass geschlechtsspezifische Raumzuweisungen besonders in jenen Momenten zum Gegenstand intensiver Diskursaktivitäten werden, in denen etablierte Subjektordnungen fragil werden.105 Wie im Folgenden dargestellt wird, trifft dies auch auf die Passagierkulturen New Yorks in den 1960er Jahren zu. So werden in den Beschwerden die oftmals impliziten Erwartungshaltungen, Selbstverständnisse und Anforderungen weib­licher Passagiere thematisch. Die darin vorgenommenen diskursiven Codierungen der Subway als »Angstraum«106 und privilegiertes Setting sexueller Gewalt verdeut­lichen nicht nur die sich überall abzeichnenden Brüche und Erosionen der Passagierkultur. Sie zeigen auch, welch starken impliziten Diskursregeln die Beschwerden über Angst und Gewalt in der Subway folgen. Angstdiskurse Dass sich nach dem Ende des Maschinenzeitalters die Subway für viele Passagiere mehr und mehr in ein gefähr­liches und angstbesetztes Terrain verwandelt, in dem man sich offenbar permanent dem Risiko eines Überfalls ausgesetzt sieht, wird in zahlreichen Beschwerden zum Ausdruck gebracht. Es zeigt sich zunächst in den Briefen, in denen mehr und mehr Ladenbesitzer beklagen, dass ihnen nun langjährige Kunden wegblieben, da diese sich fürchteten, die Subway zu benutzen.107 Auch berichten die Passagiere selbst, dass sie und ihre Freunde infolge eines traumatischen Ereignisses nun die Subway meiden würden: »I am sending you this letter because I feel very disturbed by this incident. So many of my friends have ceased attending the theatre and concerts in the evenings because of their fear of

105 Vgl. dazu ausführ­licher Roller, Franziska: »Flaneurinnen, Straßenmädchen, Bürgerinnen: Öffent­licher Raum und gesellschaft­liche Teilhabe von Frauen«, in: ­Margarete Hubrath (Hrsg.): Geschlechter-­Räume: Konstruk­tionen von »gender« in Geschichte, Literatur und Alltag, Köln: Böhlau 2001, S. 251 – 265, hier S. 253 f. 106 Zur Genese und kritischen Wendung des Angstraumdiskurses im deutschen Kontext vgl. Bürk, Thomas: Gefahrenzone, Angstraum, Feindesland: Stadtkulturelle Erkundungen zu Fremdenfeind­lichkeit und Rechtsradikalismus in ostdeutschen Kleinstädten, Münster: Westfä­lisches Dampfboot 2012, S. 264 ff. 107 Siehe bspw. den Brief von I. D. Brown an den Bürgermeister Wagner vom 2. September 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4).

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traveling in the subways.«108 Dabei sind es vor allem weib­liche Passagiere, die in eindring­lichen Worten ihre Erfahrungen gewaltsamer Übergriffe oder sexueller Belästigung schildern und mehr Polizeischutz einfordern.109 In diesen Zeugnissen wird zugleich deut­lich, dass viele New Yorkerinnen bereits ihr ganzes Leben lang immer wieder Opfer solcher Vergehen wurden, auch wenn dies im Gegensatz zu rassistischen Übergriffen kaum Gegenstand von öffent­lichen Debatten ist: I wish to report a situa­tion in the New York Subways which I have not read about in any newspaper. I was recently approached for the third time by a sexual pervert on the D-train of the IND line. The first two did not attempt to touch me but the third one did. These incidents all happened during the day and there was no Police officer around. I am old enough now to understand that these men are sick, but the first time it happened, I was only fifteen and was quite frightened by the experience.110

Ähn­lich wie in ­diesem Brief kommuniziert eine Vielzahl von Frauen ihre Erfahrungen des Ausgeliefertseins und der Bedrohung in der Subway, die sie teilweise noch nach Jahren verängstigen.111 Zugleich berichten weib­liche Passagiere stolz von ihren Strategien, mit denen sie sich gegenüber solchen Übergriffen zur Wehr setzen, wie beispielsweise mit Trillerpfeifen oder Haarnadeln.112 Glaubt man den oftmals lückenhaften Protokollen der Transit Police, so nehmen die Vorfälle männ­licher Gewalt gegen weib­liche Passagiere über die Jahre immer mehr zu.113 Angesichts des zunehmend als lebensgefähr­lich 108 Brief von Mrs. A. Schwalbe an den Bürgermeister Wagner vom 17. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). Siehe auch den Brief von Edith Arenson an die Transit Authority vom 3. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 109 Dabei erweisen sich die Toilettenräume in den Sta­tionen als im besonderen Maße gefähr­lich und angstbesetzt. Vgl. bspw. den internen Report der Transit Authority: »Complains of Drunken Man being in the Ladies Room on the Downtown Side of Delancey St. Sta­tion« vom 20. Februar 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 110 Brief on Lesley Goldberg an Bürgermeister Lindsay, 31. Dezember 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 111 Siehe bspw. den Beschwerdebrief von Mrs. A. Walter an die Transit Authority vom 13. Juni 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1) sowie die Briefe von Jacquelyn Lyles an die Transit Authority vom 8. August 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2) und von Robbin Bakers an den Bürgermeister von New York vom 6. August 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 112 Vgl. bspw. den Brief von Sally Klein an die Transit Authority vom 2. Dezember 1954 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 113 Bereits im Jahre 1954 verzeichnen die Behörden 257 Vorfälle von Exhibi­tionismus und sexueller Belästigung, wobei von einer vielfach höheren Dunkelziffer auszugehen

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geltenden Systems gehen nun auch viele New Yorker Unternehmen dazu über, ihre Mitarbeiterinnen mit Wachschutz bis in die Waggons zu eskortieren.114 Darüber hinaus fordern immer mehr Frauen die bereits in den Anfangsjahren der Subway probeweise eingeführten Waggons zurück, die allein für weib­liche Passagiere reserviert waren.115 In all diesen Berichten wird zudem eine diskursive Norm sichtbar, nach der es die Opfer solcher Übergriffe vermeiden, die Details der Vergehen zu schildern wie auch einen Eklat zu erzeugen oder gar Anzeige zu erstatten. Zum Beispiel vermerkt eine Frau nach der drastischen Schilderung einer sexuellen Belästigung durch eine Gruppe männ­licher Passagiere, die sie bezeichnenderweise in der dritten Person Singular verfasst: »She did not scream and did not want to make a commo­tion.«116 Dass der Diskurs über sexualisierte Gewalt hochgradig tabubehaftet war, zeigt sich nicht nur in den Beschwerdebriefen. Auch in den judikativen und bürokratischen Institu­tionen finden Übergriffe dieser Art bis in die späten 1960er Jahre kaum Beachtung. Nicht nur werden diese Vorfälle überhaupt erst ab 1967 recht­lich kodifiziert und als Vergehen geahndet, auch beginnt man erstmals im Jahre 1975 damit, diese Formen von Gewalt genauer statistisch zu erfassen und zu kategorisieren.117 Im Jahre 1980 sollte mit der vielbeachteten Studie Sex Crimes in the Subway von Anne Beller, Sanord Garelik und Sydney Cooper eine erste ist. Vgl. Interner Report der Transit Police: »Complaint of indecent Exposure« vom 20. April 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Die Transit Police beginnt jedoch erst im Jahre 1975 diese Vorfälle systematisch zu erfassen und nach verschiedenen Gesichtspunkten und Schweregraden zu kategorisieren. In einer Auswertung des Jahres 1977 von mehr als 1700 offiziell registrierten Vorfällen fallen diese etwa jeweils zur Hälfte in die Bereiche sexueller Entblößung und Unzüchtigkeit sowie die Kategorie ausgewiesener Belästigung und sexuellen Missbrauchs. Versuchte und tatsäch­liche Vergewaltigungen sind dagegen relativ selten, allerdings werden allein im Jahre 1977 mehr als 60 Vorfälle gemeldet. Vgl. Beller, Anne, Garelik, Sanford und Cooper, Sydney: »Sex Crimes in the Subway«, Criminology 18/1 (1980), S. 35 – 52, hier S. 37 f. 114 Siehe bspw. den Brief von R. W. Morgan (New York Telephone Company) an die Transit Authority vom 15. April 1958 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 115 Siehe bspw. den Brief von Grance Stryker an die Transit Authority vom 14. Januar 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 1 16 Brief von Pearl Jacobs an die Transit Authority vom 7. Mai 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 117 Im Bundesstaat New York wird sexueller Missbrauch erst im Jahre 1967 eine eigene Kategorie des Verbrechens. Zuvor galt diese Bezeichnung nur in Bezug auf minderjährige oder psychisch benachteiligte Opfer. Bei Erwachsenen konnten ­solche Vergehen nur unter der Bedingung verfolgt werden, dass sie als Vergewaltigung oder tät­licher Angriff eingestuft wurden. Die Überarbeitung des Strafgesetzes resultierte auch aus der

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detaillierte Untersuchung dieser Phänomene erfolgen.118 In ihr kommen die Verfasserinnen und Verfasser zu in ihren Augen erstaun­lichen Ergebnissen. Zunächst können sie zeigen, dass sich Zeugnisse von Exhibi­tionismus und »Frottage« (des Reibens an einem anderen Körper) bereits seit der Antike finden lassen. Allerdings formieren sie sich erst mit der Verdichtung der Körper in den Metropolen des 20. Jahrhunderts zu einem breiteren kulturellen Phänomen. Erste Versuche, diese Praktiken juristisch, administrativ wie psycholo­gisch zu erfassen und zu kategorisieren, unternimmt man jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Kernstück der Arbeit Bellers, Gareliks und Coopers besteht allerdings aus einer detaillierten Analyse des seit 1975 von der Transit Police erhobenen Datenmaterials. In seiner Auswertung können sie zeigen, dass sich Exhibi­ tionismus, Belästigungen und andere sexuelle Übergriffe in den allermeisten Fällen in den urbanen Untergrundbahnen ereignen. Verblüfft von der Erkenntnis, dass diese Infrastrukturen offenbar privilegierte Räume für derartige Vergehen darstellen, spekulieren die Autorinnen und Autoren über die mög­lichen Gründe für ­dieses Phänomen: But something peculiar to the physical setting of the subway seems to make it a preferred site for both these types of sex offenders, and metropolitan subway systems appear to have become a sort of endemic focus or reservoir for such behaviors in modern urban life.119

So scheinen die spezifische Territorialität der Subway mit ihren unübersicht­lichen und dunklen Arealen sowie die besondere s­ ozia­le Situa­tion einer anonymen Vermassung der Körper die zentralen Gründe dafür zu sein, dass damals wie heute mehr als drei Viertel der Opfer sexueller Übergriffe in New York weib­liche Passagiere der Subway sind.120 Dass diese Momente in den Beschwerdediskursen ab den 1960er Jahren immer präsenter werden, ist neben der eklatanten Zunahme dieser Vorfälle wohl vor allem der schleichenden Erosion des diskursiven Tabus sexueller Gewalterfahrung geschuldet. Mit der erstarkenden Frauenrechtsbewegung wächst in der Öffent­lichkeit auch das Bewusstsein für die impliziten sexuellen Ordnungen und Machtverhältnisse in den Metropolen.121 Infolgedessen trauen sich nun auch die Opfer dieser Übergriffe mehr und mehr, in ihren Briefen von diesen Vorfällen Einsicht, dass sexuelle Gewalt im Hinblick auf diese engen Kategorien oftmals schwer nachzuweisen war. Vgl. Beller/Garelik/Cooper: »Sex Crimes in the Subway«, S. 39. 118 Beller/Garelik/Cooper: »Sex Crimes in the Subway«. 119 Ebd., S. 36. 120 Ebd., S. 51; Gill, Martin: »Addressing the Security Needs of Women Passengers on Public Transport«, Security Journal 21/1 – 2 (2008), S.  117 – 133. 121 Vgl. Ernst, Waltraud: »Mög­lichkeiten (in) der Stadt: Überlegungen zur Öffent­lichkeit und Privatheit geschlecht­licher Raumordnungen«, in: Feministisches Frauenkollektiv

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zu berichten und mit Nachdruck die Präsenz von mehr Polizei im System einzufordern. Zugleich betonen sie, wie sehr die Gefähr­lichkeit des Systems gerade für Frauen zugenommen hat: »The Subways were a marvelous thing when they were built, but now they are used in every way possible to endanger the life and threaten the respect of every woman riding in them.«122 Wenn sich diese Konfliktfelder in den 1960er Jahren mehr und mehr zuspitzen und die Auseinandersetzungen ­zwischen den Passagieren immer aggressiver werden, so geschieht dies vor dem Hintergrund einer ohnehin rasant steigenden Kriminalitätsrate in der Subway. So bieten die trotz des Exodus der Passagiere weiterhin überfüllten Waggons nicht nur ideale Bedingungen für Taschendiebstähle, sie evozieren auch unzählige gewalttätige Auseinandersetzungen z­ wischen den Passagieren, sei es infolge eines gescheiterten Diebstahlsversuchs oder einer Anrempelei.123 Demzufolge machen die Briefe mit Schilderungen solcher Erfahrungen oder Forderungen nach mehr Polizei einen relativ großen Teil des Quellenkorpus aus. Zugleich mehren sich die Medienberichte zu diesen Vergehen und nehmen dabei einen zunehmend panischen Ton an. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, waren es jedoch nicht nur erwachsene Passagiere, die für diese Delikte verantwort­lich waren. »Terror in the Subways« Bereits in den ersten archivierten Beschwerden zeichnet sich ein Phänomen ab, dass sich im Verlauf der 1960er Jahre als ein zentrales Konfliktfeld ­zwischen den Passagieren erweisen wird: der Vandalismus und das transgressive Verhalten schwarzer wie weißer Jugend­licher.124 Glaubt man den Berichten der Transit Police, so richtet sich die Zerstörungslust der Teenager zunächst auf die materiellen Elemente der Subway.125 Neben der Beschädigung von ­Waggoninterieurs, (Hrsg.): Street Harassment: Machtprozesse und Raumproduk­tion, Wien: Mandelbaum 2008, S.  75 – 93. 122 Brief von Wanda A. Manfre an Bürgermeister Lindsay vom 28. November 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 123 Vgl. Fitzpatrick, Tracy: Art and the Subway: New York Underground, Piscataway, New Jersey: Rutgers University Press 2009, S. 183 ff. 124 Vgl. Katz, Leonard und John Cashman: »Terror in the Subways, New York Post (1965). Zitiert aus: Brooks: Subway City, S. 194. 125 Ein Gutachten der NYC Transit Authority listet ­zwischen September 1954 und März 1955 über 3000 Akte des Vandalismus von Schulkindern auf: Siehe das interne Gutachten der Transit Authority: »Vandalism by School Children« vom 28. April 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Auch finden sich in ­diesem Zeitraum bereits erste Zeitungsartikel über diese Vorfalle, wie bspw.: [Anonym]: »Incident in the Subway«, The Daily Mirror (8. Oktober 1955), S. 1.

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Drehkreuzen, Ausschilderungen und Warenautomaten ist es vor allem das Blockieren der Türen und das Betätigen der Notbremsen, das immer wieder zu schwerwiegenden Störungen im Betriebsablauf führt und dementsprechend hart verfolgt und bestraft wird.126 Zudem stellt das Entfernen von Glühbirnen und ihre Verwendung als Wurfgeschosse ein massives Problem dar. Dies resultiert nicht nur in Sachbeschädigungen umliegender Gebäude, sondern auch in zum Teil schweren Verletzungen anderer Passagiere.127 Dass das massenhafte Zerstören der Beleuchtungsanlagen in den ohnehin schon als dunkel empfundenen Sta­tionen und Waggons zur Beunruhigung und Angsterfahrung der Passagiere beiträgt, wird in zahlreichen Briefen wie dem folgenden deut­lich: »The subway sta­tions are dangerously dark. Personally, I don’t have to read on the trains, but they are too dark for safety in a town as lacking in Police as New York.«128 Über die Jahre mehren sich jedoch nicht nur die Beschwerden über den Vandalismus der jugend­lichen Passagiere. Die internen Berichte der Transit Authority belegen auch, dass es vor allem diese Altersgruppe ist, die randaliert, stiehlt oder schwarzfährt.129 Glaubt man den Quellen, beginnen sie darüber hinaus, sich regelrechte Kämpfe und Massenschlägereien zu liefern.130 Ein besonders bemerkenswerter Beleg dieser Auseinandersetzungen findet sich in einem anonymen Beschwerdebrief aus dem Jahre 1962. Er macht zugleich das durchaus ambivalente Moment ­zwischen Kritik und Anerkennung deut­lich, dass dem Instrument der Beschwerde inhärent ist (Abb. 37). 1 26 Vgl. den internen Report der Transit Authority: »Complains of Hoodlums« vom 17. November 1954 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Im Jahre 1663 summierten sich die jähr­lichen Schäden durch den Vandalismus von Schulkindern in der Subway bereits auf mehr als 100.000 Dollar. Dabei waren es vor allem die Reparatur und das Ersetzen von Sitzen, Beleuchtung, Feuerlöschern und Fensterglas sowie das Reinigen von »obscene writings«, die eine immense finanzielle Belastung für die Transit Authority darstellten. Vgl.: den Brief von Walter L. Schlager Jr. (General Manager der Transit Authority) an Mr. Diego Bernardete vom 3. April 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 127 Siehe bspw. den internen Report der Transit Authority vom 28. Juni 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1); den Brief von J. Salastin an die Transit Authority vom 8. Juli 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1) sowie den Brief von G. Lawrence Marchsand an die Transit Autority vom 26. Juni 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 128 Brief von Mrs. M. G. Townsend an die Transit Authority vom 27. Dezember 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 129 Siehe bspw. das interne Memo der Transit Police an die Transit Authority: »Supple­ mentary Report Re: Youth apprehended for Disorderly Acts on Transit System« vom 12. März 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 130 Vgl. bspw. den Brief von Harold B. Schleifer an die Transit Authority vom 26. Dezember 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2).

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Abb. 37.: Anonymer Brief an die Transit Police vom 3. November 133 1962. In einem internen Gutachten zu diesem Brief wird lakonisch vermerkt: »By his own admission, the writer of this anonymous letter is not very intelligent. Apparently he tried to remove the extinguisher without breaking the glass. If the class is broken by any easily available object, such as a shoe, the extinguisher can be 134 removed in a few seconds.«

Vor allem ab den 1960er Jahren nehmen diese Momente solch ein Ausmaß an, dass nun auch die Zeitungen vermehrt darüber berichten und regelmäßig empörte Leserbriefe über die Vergehen Jugendlicher in der Subway abdrucken.131 Zudem werden die Passagiere nun nicht mehr nur mit Stinkbomben oder Juckpulver attackiert, sondern oftmals auch ausgeraubt und schwer verletzt.132 Darüber hinaus attackieren jugendliche Passagiere die Polizisten und Angestellten der Subway oder organisieren Überfälle auf Kioske im System.135 Es sind jedoch nicht nur männliche 133

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131 Zeitungsartikel »Subway Prank» ohne Quellenangabe beigelegt zu einem Brief von Loretta Chernin an die Transit Authority vom 7. April 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). Siehe auch: [Anonym]:»Teens Held in Subway Mugging«, The Daily News (7. April 1965), S. 9. 132 Brief von Lily B. Smith an Mr. Stark, President des Brooklyn Council, vom 26. April 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 133 NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2. 134 Interner Bericht der Transit Authority: »Letter from High School Rowdy« vom 8. November 1962 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 135 Siehe bspw. den Brief von G. Werlinsky an die Transit Authority vom 22. Juni 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1) oder den Brief von M. Curna an Mr.

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Teenager, die für diese Akte verantwort­lich zeichnen. Zahlreiche Beschwerden berichten über Gruppen von Schulmädchen, die sich nicht nur untereinander gewalttätige Auseinandersetzungen liefern, sondern auch andere Passagiere brutal angreifen.136 Infolgedessen erreicht die Transit Authority mehr und mehr Briefe besorgter Eltern, die von Gewalt gegen ihre Kinder berichten oder sich einfach nur um deren Sicherheit sorgen.137 Einzelne Väter drohen sogar damit, im Falle ausbleibenden Polizeischutzes selbst Patrouillen und Milizen zu organisieren, um ihre Söhne und Töchter zu s­ chützen.138 Um dieser Probleme Herr zu werden, werden in den folgenden Jahren zahlreiche Koopera­tionen ­zwischen der Transit Authority sowie Schulbehörden, Elternräten und ähn­lichen Gruppen etabliert.139 Zugleich schreiben immer mehr Lehrer an die Behörden, suchen Hilfe und plädieren für mehr Polizeipräsenz, während sie zugleich eingestehen, dem Phänomen gegenüber hilflos zu sein.140 Eine pensionierte New Yorker Lehrerin konstatiert beispielsweise: »that ›Progressive Educa­tion‹ was a complete failure and was making little ›Hitlers‹ of teen agers.«141 Dennoch versucht man über Belehrungen, Apelle und eigens produzierte Radioprogramme die jugend­lichen Passagiere zu erziehen, allerdings mit eher zweifelhaftem Erfolg.142

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Bingham (Transit Authority) vom 31. Oktober 1954 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Vgl. auch den internen Bericht der Transit Authority: »Investiga­tion Resulting in the Arrest of Six Female Students Responsible for Unprovoked Assault« vom 14. Mai 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3) sowie den Brief von Jaye M. Abenanty an die Transit Authority vom 20. Juli 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). Siehe bspw. den Brief von Mrs. W. Murphy an die Transit Authority vom 22. November 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). Siehe bspw. den Brief von Nathan Bernstein an Bürgermeister Wagner vom 7. Dezember 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). Siehe bspw. den Brief von M. Ryan an den Direktor der Bronx High School of Science vom 16. März 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). Brief von Frank Woehr, Direktor der Manhattan High School of Avia­tion Trades an die Transit Authority vom 6. März 1957 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Interner Report der Transit Authority »Complaints that Transit Authority does not have enough Police Coverage of Subway Sta­tions« vom 26. Juni 1956 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). Siehe bspw. den internen Report des Director of Public Rela­tions der Transit Authority an den General Manager: »Radio Broadcast on Bus Vandalism Resulting from Meeting with Educa­tion Officials, Student Representatives and Transit Authority« vom 30. April 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). Dementgegen finden sich auch Briefe mit Vorschlägen, dass man die jugend­lichen Passagiere nicht nur verwarnen oder verhaften sollte, sondern von Polizeibeamten an Ort und Stelle körper­lich züchtigen lassen. Siehe bspw. den internen Report der Transit Authority

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Trotz vermehrter Razzien und Massenverhaftungen nehmen diese Vorfälle weiter rasant zu und führen zu einem wahren Sturm an Briefen, die die Subway als gewalttätigen und bedroh­lichen Raum beschreiben.143 Wie bereits eingangs des Kapitels geschildert, werden vor allem nach der Ermordung des Passagiers Andrew M ­ ormile im März 1965 die Rufe nach einer massiven Polizeipräsenz unüberhörbar.144 Zahlreiche Briefe zweifeln nun sogar an der Existenzberechtigung der Transit Police und fordern stattdessen den Ausruf des Ausnahmezustands sowie den Einsatz der Na­tionalgarde in der Subway.145 Diese Legitima­tionskrise zwingt die Behörden zu drastischen Maßnahmen, um ihr Gewaltmonopol wieder durchzusetzen. So sieht sich der damalige Bürger­meister New Yorks, Robert F. Wagner (1910 – 1991), gezwungen, im Fernsehprogramm zur besten Sendezeit eine Ansprache zur Sicherheit in der Subway zu halten. In dieser auch in zahlreichen überregionalen Zeitungen abgedruckten Rede kündigt er mit sofortiger Wirkung ein Notfallprogramm gegen die katastrophalen Zustände im System an. Für die Gruppe delinquenter Passagiere, die er dabei besonders im Blick hat, findet Wagner deut­liche Worte. Dies ­seien vor allem: »roughnecks and wolf packs of young brutes and sadists who have terrorized and tormented subway riders.«146 Um die Sicherheitsregime der Subway wiederherzustellen und den Exodus der Passagiere zu stoppen, verspricht der Bürgermeister zunächst die Implementierung zahlreicher technolo­gischer Neuerungen, wie Alarmsysteme und direkte Funkverbindungen z­ wischen den Zugführern und den Polizeista­tionen oder die probeweise Installa­tion von Überwachungskameras. Auch plant man die nächt­ liche Absperrung besonders dunkler und unübersicht­licher Bereiche der Sta­tionen. Eine weitere Maßnahme zur Verringerung des Überfallrisikos ist die Verdichtung der Passagierkörper in den Zügen. Diese erreicht man, indem man während der Nachtfahrten die Hälfe der Waggons verriegelt und so die Passagiere auf engstem Raum konzentriert. Damit erscheint die Überlastung des Systems nun weniger als logistisches Problem denn als erwünschtes Moment zur Produk­tion »Letter suggesting Plainclothesmen use Rubber Hose on Youth in Subway« vom 22. März 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 143 Interner Report des Deputy Chief der Transit Police an den General Manager der Transit Authority: »28 Youth Arrested – Unlawful Assembly» vom 13. Dezember 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 144 Vgl. [Anonym]: »Negroes Slay Youth In Subway; One Of Many New York Murders«; Brooks: Subway City, S. 194. 145 Vgl. den Brief von Jan Gabriel an die Transit Authority vom 5. April 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 146 Friedman, Larry: »Wagner Orders Policeman on Every Subway Train«, The Day (6. April 1965), S. 22.

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von Sicherheit. Allerdings führt dies oftmals zu solch einer Überfüllung, dass die Polizisten nicht mehr durch die Züge patrouillieren konnten, und wird demzufolge bald wieder abgeschafft.147 Darüber hinaus kündigt der Bürgermeister an, allen Feuerwehrmännern, Polizisten und Vollzugsbeamten die kostenlose Benutzung des Systems zu gestatten. Doch nicht nur sie sollen im Zweifelsfall eingreifen, um die Sicherheit im System zu erhöhen. Wagner appelliert zugleich direkt an die Passagiere: »It is not enough to complain. You, too, must act. You, too, must help advance the cause of safety in the subways and in the city at large.«148 Wenn hier die Passagiere als aktive Produzenten ihrer eigenen Sicherheit angerufen werden, so bleibt doch unklar, wie genau sie dies bewerkstelligen sollen. Der entscheidende Aspekt des Notfallprogramms betraf indessen die sofortige Vergrößerung der Transit Police. In den nächsten Wochen bildete man hastig über einhundert neue Rekruten aus und verstärkte die Patrouillen mit Polizisten anderer Abteilungen. Dies erlaubte die Ausstattung aller Züge ­zwischen acht Uhr abends und vier Uhr morgens mit Polizisten und wurde in zahlreichen Briefen der Passagiere dankend zur Kenntnis genommen.149 Mit dem zunehmenden Polizeiaufgebot in der Subway verschärfte sich aber zugleich ein Konfliktfeld, das sich in den Jahren zuvor bereits abgezeichnet hatte: die Erfahrungen polizei­licher Willkür, Brutalität und Machtmissbrauch. Ab dem Jahre 1966 erreichen die Transit Police nahezu täg­lich Beschwerdebriefe über das unangemessene, gewalttätige oder gar kriminelle Verhalten ihrer Beamten. Sie betreffen einerseits Schikanen und unberechtigte Verwarnungen sowie das unfreund­liche und rabiate Benehmen der Polizisten.150 Andererseits mehren sich aber auch die Proteste gegen sexuelle Übergriffe und brutale Misshandlungen.151 In der Skandalisierung dieser Vorfälle referieren erstaun­lich viele Passagiere auf die Praktiken diktatorischer Regime und bemühen Vergleiche zur Gestapo oder der stalinistischen Geheimpolizei.152 147 Vgl. den internen Bericht der Transit Authority: »Anti-­Crime Program – Closing Down of Rear Cars» vom 22. Oktober 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 1 48 »Address by Mayor Robert F. Wagner on Meeting the Problem of Crime in the Subways« Redemanuskript vom 5. April 1965, S. 7 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 149 Vgl. beispielsweise den Brief von Sylvia Zola an die Transit Authority vom 8. April 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 150 Siehe bspw. den Brief von Rita Guttman an den Bürgermeister Wagner vom 15. Dezember 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 151 Siehe bspw. den Brief von Brian A. Carey an den Chef der Transit Police vom 12. August 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6) oder den Brief von Roy Jaffee an Bürgermeister Lindsay vom 28. September 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 152 Siehe bspw. den Brief von Leon Lieberthal an die Transit Police vom 16. April 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2) oder das Telegramm von L. L. Marks

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Auf diesen Sturm von Anklagen und Empörungen reagiert die Behörde jedoch gelassen. Kaum jemals resultieren diese Beschwerden in disziplinarischen Maßnahmen oder gar personellen Konsequenzen.153 Werden die beschuldigten Beamten oder Subwayangestellten im Zuge der internen Ermittlungen befragt, so antworten sie meist mit der Aussage, sich nicht an diesen Vorfall erinnern zu können. Allenfalls wenn zweifelsfrei bewiesen werden kann, dass ein Polizist schwere Vergehen begangen hat, wie beispielsweise Raubüberfälle auf Passagiere, wird eine strafrecht­liche Verfolgung eingeleitet.154 Zwar gelang es mit dem Notfallprogramm in der Tat, die Kriminalitätsrate im System zu senken und auch die Flut der Beschwerden leicht abebben zu lassen, allerdings war dies nur von kurzer Dauer. In den Folgejahren sollten sich die Konflikte in der Subway weiter verschärfen und auch die Anzahl der Beschwerden wieder rapide zunehmen. Zudem bedeutet das Ende der Archivierung der Briefe im Jahre 1968 bei Weitem nicht das Ende des Niedergangs des Systems. Stattdessen beschleunigte sich die Spirale aus Verwahrlosung des Systems, der ökonomischen Krise der Stadt und dem Exodus der Passagiere in den nächsten Dekaden immer weiter. Dennoch geben bereits die Zeugnisse der Passagiere in den Jahren bis 1968 ein deut­liches Bild der Fragilität der Subjektkulturen in der Subway.

3. Fragile Subjekte The experience was frightening and made me very nervous and upset. Brief von Rica Whelehan an die Transit Authority vom 29. Januar 1964.155

Wenn sich in den Beschwerden die Subway als zunehmend umkämpftes wie bedroh­liches Territorium darstellt, so zeigt sich darin auch, wie radikal sich die Bedeutung der Subway innerhalb weniger Jahrzehnte gewandelt hat. Zu ihrer Einweihung als zivilisatorische Errungenschaft gefeiert und in den darauffolgenden Jahrzehnten als verläss­liche Infrastruktur veralltäg­licht, ist sie nun an Bürgermeister Lindsay vom 12. September 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 153 Siehe den internen Bericht der Transit Police an die Transit Authority vom 22. November 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 1 54 Siehe den internen Bericht der Transit Police an die Transit Authority vom 21. September 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 155 NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3.

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nichts weniger als die Verkörperung aller Übel und Barbareien metropolitanen Lebens. Sichtbar wird das auch in den dominanten Metaphern, welche die Passagiere für die Zustände im System in Anschlag bringen. Neben den Beschreibungen der Subway als Hölle, Inferno oder Todeszelle 156 ist es nun vor allem das Bild des Dschungels, das immer wieder bemüht wird.157 Passend zu dieser organizistischen Metapher werden die devianten Passagiere meist als »animals« beschrieben.158 Dass die sich zusehends verschlechternden Zustände in der Subway nicht nur zum Exodus der Passagiere beitragen, sondern auch als eine Ursache für den Bevölkerungsschwund New Yorks gelten können, wird in den Beschwerden ebenso deut­lich. So findet sich beispielsweise bereits im Jahre 1956 ein ausführ­ licher Brief mit der Überschrift »Why you are not only losing me but six of my friends«, in dem eine langjährige Nutzerin der Subway zahlreiche Erfahrungen der Belästigung beklagt, während denen die Ordnungskräfte tatenlos blieben: »As to your employees, they are the laziest, nastiest bunch of punks that I have ever met.«159 Am Ende des Briefes schwört sie, nie wieder einen Fuß in das System zu setzen. Dies ist bei Weitem kein Einzelfall. Im Verlauf der Jahre mehren sich die Stigmatisierungen New Yorks als »Rotten City« und Ort mora­lischen wie zivilisatorischen Verfalls, den es unter allen Umständen zu verlassen gilt.160 Dabei ist auffällig, mit welch drastischen Worten die Passagiere ihren Zustand psychischer wie phy­sischer Deforma­tion oder sensorieller Überforderung schildern. Regelmäßig beschreiben sie detailliert ihre Traumata infolge eines Überfalls oder einer bedroh­lichen Situa­tion und verweisen auf nachwirkende Schäden

156 Siehe bspw. den Brief von Phyllis Rollin an Bürgermeister Lindsay vom 2. September 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6) oder Foranoff, Anne: »Subway Alarm System to reduce Crime«, The New York Times (2. Februar 1965). 157 Siehe bspw. den Brief von Paul T. Rogers an Bürgermeister Wagner vom 27. Juni 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5), den Brief von Anne Fenaroff an Mayor Wagner vom 28. Januar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4) oder den Brief von Teresa McCaffrey Kistler an die Transit Authority vom 29. Mai 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 158 Siehe bspw. den Brief von Nathan Bernstein an Bürgermeister Wagner vom 7. Dezember 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2) oder den Brief von Louis Halpern an die Transit Authority vom 30. März 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 159 Brief von Irma M. Lasker an die Transit Authority (undatiert, Eingang vermerkt: Juli 1956, NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 160 Siehe bspw. den Brief von Rita Morais an die Transit Authority vom 19. Juni 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2).

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und ärzt­liche Behandlungen.161 Vor allem aber sind es die Erfahrungen von Panik und Angst, die in den Briefen zum Ausdruck kommen und in zahllosen Sentenzen wie der folgenden münden: »I find that the fright destroys me more than any possible material loss.«162 Männer wie Frauen beschreiben ihren Zustand mit Selbstdiagnosen see­lischer Erschütterung oder enden ihre Schilderungen einer traumatischen Situa­tion in der Subway mit Sätzen wie: »The shakeup and assault caused nervous and mental instability to my person«163 oder »I went home, sobbing and near physical breakdown.«164 So wahrhaftig und aufrichtig diese Schilderungen auch erscheinen mögen, so darf man jedoch nicht vergessen, dass diese Zeugnisse fragiler Subjektivität von den Passagieren oftmals durchaus kalkuliert eingesetzt werden, um ihrer Beschwerde Gewicht zu verleihen. Zwar sind die Briefe Ausdruck der immensen Verunsicherung von Passagieren aller Altersgruppen, Geschlechter, ethnischer Herkunft oder sozia­lem Status, trotz allen Unterschieden ist ihnen jedoch gemein, dass sie vor allem von dem Bedürfnis nach Anerkennung durch die herrschenden Institu­tionen getragen sind. Die vielfältigen rhetorischen Kniffe, Finten und Strategien, mit denen Passagiere die Legitimität ihrer Forderungen zu belegen versuchen, sollen im nächsten Abschnitt genauer beleuchtet werden. Dabei wird gezeigt, dass die zunehmende Krisenhaftigkeit der Subjektform des urbanen Passagiers auch in den Formen der Anrufung zum Ausdruck kommen, welche die Verfasserinnen und Verfasser in ihren Beschwerdebriefen mobilisieren.

161 Siehe bspw. den Brief von Anne Goldberg an die Transit Authority vom 15. August 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). Darin heißt es: »This incident, having been previously victimized, frightened me to the extent that it affected my throat and caused me laryngitis and I could scarcely speak above a whisper the next day.« 162 Brief von Raye Eilperin an Bürgermeister Lindsay vom 23. Juni 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 163 Brief von Seymour Epstein an die Transit Police vom 3. September 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 164 Brief von Mrs. C. L. Dean an die Transit Authority vom 5. November 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4).

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4. Wie schreibt man an die Macht? I am human ---- if you went through it ---you wouldn’t like it one bit ---- and there are thousands of people who feel the same way ---- of course, of this, I am sure you are also aware. Brief von Sydelle G. Carlton an die Transit Authority vom 14. Dezember 1956.165

Welche rhetorischen Strategien erweisen sich als besonders fruchtbar im Verfassen einer Beschwerde? Wie muss man es anstellen, dass die Forderungen und Vorwürfe die man erhebt, von den Autoritäten beachtet und anerkannt werden? Um die Frage zu beantworten und nachzuvollziehen, welche Funk­tion diesen Briefen zukam, gilt es zunächst zu verstehen, welche Bedeutung die Passagiere ihnen selbst zusprechen. Dafür ist ein Begleitschreiben einer New Yorker Lehrerin aus dem Jahre 1965 aufschlussreich, das sie einigen Beschwerden ihrer Schüler an die Transit Authority beilegt. Darin schreibt sie: »These letters have been written to you are their first efforts to make their voices heard; to communicate, as citizens, with the authorities that shape their world.«166 In diesen Zeilen sind bereits einige zentrale Momente der Beschwerden enthalten: der Glaube daran, dass die Briefe auch wirk­lich gelesen und ihre Verfasser angehört werden, die Legitimierung ihrer Sprecherposi­tion als Bürger der Vereinigten Staaten sowie die Anerkennung der Adressaten als machtvolle Akteure. Was hier allerdings nicht zur Sprache kommt, ist die doppelte Funk­tion der Beschwerde: Sie operiert zugleich als Affirma­tion wie auch Kritik der Macht. In ihr werden zunächst die Fehler und Vergehen der Autoritäten herausgestellt und skandalisiert. Zugleich wird jedoch unterstellt, dass die angerufenen Institu­tionen über die Kompetenz und Ressourcen verfügen, diese Probleme zu lösen. In dieser Spannung ­zwischen Hinterfragung und Legitimierung wird die inhärente Widersprüch­lichkeit deut­lich, die dem Instrument der Beschwerde anhaftet. In der Empörung gegenüber der Tatenlosigkeit der Autoritäten liegt zugleich auch das Eingeständnis, dass diese im Gegensatz zu den Verfassern der Briefe in der Lage s­ eien, etwas zu ändern. Oftmals wird ­dieses Moment sogar offen artikuliert und die Passagiere fordern

165 NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1. 166 Brief von Nancy Arnstein an die Transit Authority vom 7. April 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5).

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die Hegemonie der staat­lichen Dispositive förm­lich ein: »You have the power to correct this evil situa­tion.«167 Wenn sich die Beschwerden der Passagiere somit eher als Instrumente der Aufrechterhaltung sozia­ler Hierarchien denn als Formen ihrer Subversion erweisen, erfüllen sie damit eine ganz ähn­liche Funk­tion wie die Bittschriften der Pariser Bürger aus dem 18. Jahrhundert. In diesen sogenannten Lettres de Cachet forderten sie die Kanzlei des Königs oder die Polizei auf, ausgewählte Personen zu verhaften und einzusperren. Dabei sind es zumeist Familienmitglieder, denen man sich auf d ­ iesem Wege zumindest zeitweise entledigen will. Welche komplexen Beziehungen sich durch diese Briefe z­ wischen der absolutistischen Macht und den Untertanen entfalten, umreißen Michel Foucault und Arlette Farge wie folgt: Die Anrufung des Königs ist ein erstaun­licher Prozess: Ihn als Vermittler einzuschalten, heißt, ihn für sich einzunehmen (milde stimmen), seinen Blick, der sich gewöhn­lich auf die Staatsgeschäfte richtet, auf sich ziehen (mit Beschlag belegen), in seinen Augen existieren, erbitten, dass er sich auf die Einzelheiten von Lebensläufen einzulassen geruht, die normalerweise keine Berechtigung haben, aus der anonymen Masse hervorzutreten. An den König schreiben, ihn zum Handeln nötigen, bedeutet, in die Geschichte einzugehen und auf spektakuläre Art eine unbedeutende ­sozia­le Stellung auszugleichen.168

Wie wir sehen werden, findet in den Beschwerderegimen z­ wischen Passagieren und Behörden eine durchaus ähn­liche Form der Anrufung statt. Dementsprechend sind die meisten Verfasser bemüht, die Autoritäten unter Zuhilfenahme ausgesuchter Höf­lichkeit zu adressieren. Dabei mobilisieren sie oftmals eine elaborierte Choreographie rhetorischer Überzeugung: Man beginnt mit einer Geste des Danks oder Respekts, lobt die bisherigen Errungenschaften der Transit Authority oder des Bürgermeisters und versichert, den Behörden grundsätz­lich wohlgesonnen zu sein. Direkt im Anschluss erfolgt eine Selbstauskunft, durch die man bestrebt ist, die Zugehörigkeit zur gesellschaft­lichen Mitte zu signalisieren. Dies tut man beispielsweise durch den Verweis, dass man schon lange Passagier der Subway sei oder dass man einem respektablen Beruf nachgeht. Auch finden sich Verweise auf die persön­liche Bekanntschaft mit Führungspersön­lichkeiten aus Politik, Wirtschaft oder dem Management der Transit Authority.169 167 Anonymer Brief an Bürgermeister Wagner vom 1. Februar 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 168 Farge/Foucault (Hrsg.): Familiäre Konflikte: Die »Lettres de Cachet«: Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, S. 281 f. 169 Siehe bspw. den Brief von Maude E. Kelheller an die Transit Authority vom 19. März 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3).

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Darüber hinaus gibt es Schreiben, in denen sich Gruppen von Passagieren solidarisieren und gemeinsame Peti­tionen mit langen Unterschriftenlisten einreichen, durch die sie hoffen, ihrer Forderung nach mehr Polizei oder besserem Service Nachdruck zu verleihen.170 Oftmals senden die Passagiere ihre Briefe zudem nicht nur an die Transit Authority oder das Büro des Bürgermeisters, sondern zugleich auch an Senatoren, Mitglieder des amerikanischen Kongresses und die einschlägigen Tageszeitungen.171 Besonders in diesen Briefen verweisen die Passagiere auf ihre Parteizugehörigkeit oder betonen, dem jeweiligen Volksvertreter bei der letzten Wahl ihre Stimme gegeben zu haben.172 Wird im Anschluss an diese Selbstposi­tionierung die eigent­liche Beschwerde vorgetragen, so erfolgt dies meist in einem loyalen Tonfall. Dabei wird unterstellt, dass die Verfasser wie die angerufene Institu­tion durchaus gemeinsame Interessen haben und letzt­lich auf einer Seite stehen. Beispielsweise wird die Wichtigkeit des Anliegens damit begründet, dass der beklagte Missstand auch einen schlechten Eindruck bei den Besuchern und Touristen der Stadt machen würde.173 Ähn­lich verfährt man auch bei den Denunzia­tionen, die die Exklusion spezifischer Gruppen aus der Subway fordern, wie Homosexuelle, Bettler oder Farbige. In Formulierungen wie »Please make the subway safe for white middle-­ class taxpayers«174 wird deut­lich, wie die Verfasser darauf beharren, zum legitimen und relevanten Teil der Passagiermasse zu gehören. Gerade ihnen müssten die staat­lichen Ordnungsmächte doch gewogen sein. Diese Strategie bemühen zahlreiche Passagiere auch, um eine Strafe wegen Schwarzfahrens, Rauchens oder anderer Vergehen abzuwehren. In oftmals langen und persön­lichen Briefen schildern sie die außergewöhn­lichen Umstände ihres Vergehens, zeigen Reue oder beteuern ihre Unschuld. Eltern, deren Kinder bei Akten des Vandalismus oder Schwarzfahrens ertappt wurden, schreiben ebenfalls ausführ­lich an die Behörden. Sie versuchen, durch die Versicherung des bereits 170 Siehe bspw. die Peti­tion der Anwohner der Long Island University an den Bürgermeister Wagner vom 5. April 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2) oder den Beschwerdebrief an die Transit Authority vom 3. Dezember 1964, unterzeichnet mit »The Workers from the Esplanade Hotel« und einer langen Liste von Unterschriften (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 171 Siehe bspw. den Brief von D. E. Robinson an die Transit Authority vom 3. November 1954 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 172 Siehe bspw. den Brief von Irvong Ostrofsky an Noah Goldstein (Member of the Assembly) vom 20. August 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5). 173 Siehe bspw. den internen Report der Transit Police an die Transit Authority zur Beschwerde von Mr. Silby: »Investiga­tion re: Soliciting on the Transit System« vom 23. Januar 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 174 Brief von Roberta Micheals an den Bürgermeister vom 30. Oktober 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2).

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erfolgten pädago­gischen Effekts oder dem nachträg­lichen Beilegen des Fahrgeldes, die Strafe abzuwenden, allerdings ohne Erfolg.175 Mit der zunehmenden Verwahrlosung und der steigenden Kriminalitätsrate in den 1960er Jahren finden sich jedoch auch vermehrt Briefe, die von ­diesem Muster abweichen und stattdessen einen fordernden, anklagenden oder drohenden Ton anschlagen. Die Erfahrungen des Ausgeliefert-­Seins und der Hilflosigkeit der Passagiere münden dabei des Öfteren in wütende Beschimpfungen der Obrigkeiten, wie »Has everybody in N. Y.’s officialdom cracked up?«176 oder »Instead of Transit Authority the name should be Transit Perverts.«177 Die Wut und Frustra­tion, welche die Passagiere zum Ausdruck bringen, wird zudem oftmals mit Androhungen juristischer Klagen, Boykotten oder des Einbezugs der Presse untermauert.178 Angesichts der als unzureichend empfundenen Ordnungskräfte kündigen einige Autorinnen und Autoren auch an, sich nun end­lich selbst zu bewaffnen und auf eigene Faust das System von den delinquenten Passagieren zu reinigen.179 Gerade Letzteres wird oftmals in einer besonderen Kategorie der Briefe sichtbar: den anonymen Beschwerden. Diese circa 200 Briefe ohne personellen Absender, die in den Beständen des Archivs überdauert haben, machen zwar nur einen relativ geringen Teil des Quellenkorpus aus. Jedoch sind sie vor allem im Hinblick darauf höchst aufschlussreich, wie sich die Autoren selbst Subjektposi­tionen zuschreiben und die Legitimität ihrer Anliegen plausibilisieren. Zunächst ist bemerkenswert, dass die anonymen Passagiere ihre Briefe nahezu immer unterzeichnen. Das tun sie selbstverständ­lich nicht mit ihrem Namen, sondern mit einer Subjektposi­tion, die dem Anliegen trotz der Verweigerung identitärer Zuordnung Gewicht verleihen soll. Diese Signaturen sind auf den ersten Blick recht divers und reichen von eher neutralen Kennzeichnungen wie »night worker«180 oder »an honest paying passenger«181 bis hin zu emo­tionalen Selbstattribuierungen 175 Siehe bspw. den Brief von Berta Schwarz an die Transit Authority vom 11. April 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 176 Brief von Fred Roese an die Transit Authority vom 3. Juni 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 177 Brief von Jaqueline Bisagna an den Chairman der Transit Authority vom 2. Juni 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 1 78 Siehe bspw. den Brief von Louis Halpern an die Transit Authority vom 30. März 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 179 Siehe bspw. den anonymen Brief an den Bürgermeister Wagner vom 16. Februar 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 180 Interner Report der Transit Police an die Transit Authority: »Anonymous Complaint« vom 20. Februar 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 181 Anonymer Brief an die Transit Authority vom 8. April 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 5).

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wie »worried mother«,182 »a frightened victimized citizen«183 oder »terrified woman rider.«184 Bei genauerem Hinsehen erweisen sich doch die Selbstbeschreibungen des »citizen« und »taxpayers« als die Signaturen, mit denen die Passagiere am häufigsten ihre anonymen Briefe unterzeichnen. Diese scheinen als besonders gewichtige und anerkannte Subjektformen zu gelten, die die Rechtmäßigkeit der Beschwerde erhöhen sollen. Zugleich befinden sich diese Referenzen offenbar in einer historischen Dynamik. Nicht nur nehmen die anonymen Beschwerden in den 1960er Jahren generell zu, auch verschieben sich in ­diesem Zeitraum die Selbstbezeichnungen weg von einem dominanten Bezug auf die na­tionale Zugehörigkeit hin zur Legitima­tion des Verfassers über das Zahlen von Steuern. Statt einer Subjektform, welcher per Gesetz spezifische Rechte zugestanden werden, ist es nun die Referenz der Passagiere auf ihre ökonomische Partizipa­tion, von der sie sich eine höhere Wirkmächtigkeit ihrer Beschwerden versprechen. Zugleich referiert eine Vielzahl der anonymen Briefe auf die Tatsache, dass sich die Verfasser einer personellen Zuschreibung von Autorschaft entziehen wollen. Dies tun sie in Referenz auf ihre Angst («No name because I am a coward«185) oder im Hinblick auf die Generalisierbarkeit ihrer Forderungen. Sichtbar wird dies beispielsweise in einer Beschwerde über betrunkene »negros« in der Subway, die mit »One million middle class whites who paid their taxes of New York« unterzeichnet ist.186 Darüber hinaus bemühen die anonymen Beschwerdebriefschreiber in ihren Signaturen des Öfteren Referenzen auf ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Kollektiven, wie »Subway Riders on the Fourth Avenue Local Trains«187 oder »A Member of the Veterans of Foreign Wars.«188 Diese Taktiken der Verweigerung identitärer Zuordnung und dem Ausweichen auf eine kollektive Subjektposi­tion stellt die Bürokratien der Transit Police immer wieder vor arge Probleme. Ähn­lich wie bei den Passagieren, die falsche Namen und Adressen angeben, wird in den internen Bearbeitungen 182 Anonymer Brief an die Transit Authority vom 5. August 1963 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 2). 183 Anonymer Brief an die Transit Authority vom 22. Mai 1967 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 7). 184 Anonymer Brief an die Transit Authority vom 23. Januar 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 185 Anonymer Brief an das Büro des Bürgermeisters vom 10. September 1968 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 8). 186 Anonymer Brief an die Transit Authority vom 6. Januar 1968 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 8). 187 Anonymer Brief an die Transit Authority vom 5. März 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 188 Anonymer Brief an Bürgermeister Wagner vom 26. August 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3).

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dieser Briefe frustriert bedauert, dass man ihre Verfasser nicht identifizieren und kontaktieren kann, um der Beschwerde auf den Grund zu gehen.189 Das Unvermögen der administrativen Apparaturen, mit dieser Unschärfe der anrufenden Subjekte umzugehen, begründet sich nicht zuletzt in der Vervielfältigung und unklaren Repräsentativität der Autoren. Da es in den Beschwerden keinen eindeutigen Sprecher gibt, sondern dieser nur in einem Kollektivbegriff erkennbar ist – ein Bürger, Steuerzahler etc. – könnte potenziell jedermann der Verfasser sein. Dies ist von den Passagieren durchaus intendiert, die sich dadurch den bürokratischen Lichtkegeln der Administra­tionen entziehen und zugleich in einer Art selbstermächtigter Anwaltschaft sprechen können. Während die anonymen Briefe von der Transit Police zwar begutachtet werden, ihre Eingabe aber ansonsten weitgehend folgenlos bleibt, beginnt in allen anderen Fällen mit dem Eingang eines Briefes ein komplexer Prozess administrativer Bearbeitung. In ihm werden die beschwerenden Passagiere Prozessen der Identifika­tion, Befragung und Beurteilung ausgesetzt, die ihre Subjektposi­tionen festschreiben sollen. Wenn diese Verfahren im nächsten Abschnitt beleuchtet werden, so auch im Hinblick darauf, wie in den Beschwerderegime eine Fülle von Mikrophysiken der Macht sichtbar werden, die das oftmals schwierige und widersprüch­liche Verhältnis ­zwischen den Passagiersubjekten und den bürokratischen Dispositiven verdeut­lichen.

5. Anerkennung und Veraktung Ordnen Sie doch ihre Beschwerden, sagen Sie die wichtigste zuerst und absteigend die anderen, vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehr nötig sein, die meisten auch nur zu erwähnen.190 Franz Kafka

Versucht man die komplexen Prozesse des Durchgangs der Briefe durch die administrativen Instanzen der Transit Police nachzuvollziehen, so fällt zunächst auf, mit welch immensem Aufwand man sich den Beschwerden widmet. Nach der Datierung und dem Vermerk des Eingangs erfolgt zunächst eine interne Bewertung und Abwägung mög­licher Reak­tionen der Behörde. Besonders bei 189 Siehe bspw. den internen Bericht der Transit Authority »Anonymus Complaint« vom 20. August 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 190 Kafka, Franz: Amerika, Gesammelte Schriften Band II., New York: Schocken Books 1935, S. 26.

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Anschuldigungen gegenüber dem Personal der Transit Authority oder der Transit Police zirkulieren die Briefe z­ wischen verschiedenen internen Posten, bis sich ein Sachbearbeiter bereiterklärt, die Beschwerde zu bearbeiten. Dabei wird zunächst versucht, die Validität des Verfassers zu überprüfen, seinen Aufenthaltsort zu bestimmen und Mög­lichkeiten der Kontaktaufnahme zu eruieren. Im Versuch, die Beschwerdeführer ausfindig zu machen, lassen die Beamten der Transit Police nichts unversucht: Von Recherchen in Meldeämtern und dem Kontaktieren mög­ licher Nachbarn oder Verwandten bis zu mehrmaligem Aufsuchen des Wohnorts werden alle nur denkbaren Mög­lichkeiten ausgeschöpft. Dabei gelingt es durch die Namensrecherche in polizei­lichen Datenbanken auch, mög­liche Vorstrafen der Verfasser zu ermitteln oder sie gar als flüchtige Verbrecher zu identifizieren.191 Zudem werden notorische Beschwerdebriefschreiber i­ dentifiziert, deren Anschuldigungen offenbar niemals zutreffen und denen so eine Antwort verweigert wird.192 Handelt es sich um einen der oben erwähnten anonymen Briefe oder erweist sich der Name des Absenders als Täuschung, heißt dies allerdings nicht, dass die Bearbeitung sofort eingestellt wird. Stattdessen erstellt der zuständige Beamte einen internen Bericht zu dem Brief, vermerkt die Ergebnisse und ersucht bei seinem Vorgesetzten um die Erlaubnis der Archivierung des Vorgangs.193 Gelingt die Verifizierung des Verfassers jedoch, was bei den allermeisten Briefen der Fall ist, so beginnt die eigent­liche Bearbeitung der Beschwerden. Mit erheb­lichem Aufwand versucht man, einen persön­lichen Termin zu vereinbaren, um die Verfasser zu Hause oder an ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen und den Inhalt des Briefes vertiefend zu diskutieren.194 Die Passagiere reagieren auf den Wunsch der Transit Police nach einem weiterführenden Gespräch durchaus unterschied­lich. Oftmals sind sie überrascht, dass ihr Anliegen tatsäch­lich zur Kenntnis genommen wurde und stimmen dem Gesprächsangebot unumwunden und erwartungsvoll zu. Manchmal jedoch versuchen sie ein Gespräch um jeden Preis zu vermeiden: Sie streiten die Autorschaft ab oder beteuern, dass sie den Brief im Affekt geschrieben haben 191 Interner Bericht der Transit Police »Investiga­tion re: Officer Assaulting Passenger« vom 12. Juli 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). 192 Internes Memo der Transit Authority zum Brief einer Mrs. Cohen vom 8. Juli 1955 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 1). 193 Siehe bspw. den internen Report der Transit Police: »Investiga­tion Re: Letter Complaining of Loiterers in Toilets« vom 8. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 194 Da die Quellen hier durchaus Lücken aufweisen, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, ob d ­ ieses Prozedere wirk­lich in jedem Fall durchgesetzt wurde, allerdings lässt sich zumindest in den überlieferten Akten keinerlei Hinweis dazu finden, dass von ­diesem Verfahrensweg abgewichen wurde.

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und dass dessen Inhalt gegenstandslos sei. In anderen Fällen sind sie zu dem verabredeten Termin nicht zu Hause oder lassen sich von Nachbarn verleugnen. Vielleicht ahnen sie, dass diese Prozedur darauf abzielt, sie auf den Prüfstand zu stellen, ihre Anklagen kritisch zu bewerten und sie danach über die zahlreichen Sicherheitsmaßnahmen der Behörden zu belehren. Kommt das Gespräch jedoch zustande, wird es in internen Berichten ausführ­lich protokolliert und bietet oftmals interessante Einblicke in die Motive der Passagiere wie Beamten. So stellt sich erstaun­lich häufig heraus, dass die in den Briefen geschilderten Vorfälle übertrieben oder gar vollständig erfunden sind. Dabei lassen es sich die Beamten oftmals nicht nehmen, ihre persön­liche Einschätzung der Beschwerdeführer in die Berichte einfließen zu lassen. Beispielsweise vermerkt ein Polizist nach dem Hausbesuch bei einem Passagier namens Mr. Lazar, der sich über die mangelnde Polizei in der Subway beschwert: »The investigating officer found Mr. Lazar to be an over-­zealous and anxious individual who expressed great concern in the subject matter but who was unable to discuss the topic to any intelligible extent.«195 Auffällig ist zudem, wie viele Passagiere in den Befragungen keine konkreten Beispiele ihrer oft allgemeinen Klagen über den miserablen und gefähr­lichen Zustand des Systems geben können.196 Dies gilt in den Augen der Polizisten als wichtiges Indiz für die Fragwürdigkeit der Beschwerde. In den internen Beurteilungen, die die Polizisten über die Beschwerdeführer abgeben, wird deut­lich, dass es zu ihren Pflichten gehört, zunächst zu überprüfen, ob die Autorinnen und Autoren als normal und zurechnungsfähig angesehen werden können. Besonders in den Fällen, in denen direkt Polizisten oder andere Funk­tionsträger nament­lich beschuldigt werden, spielen diese Normalitätsurteile eine zentrale Rolle.197 Diese Verfahren geben ein anschau­liches Beispiel für die foucaultianisch imprägnierte These Judith Butlers, dass es vor allem diese Regime der Wahrheit sind, die für die Verfahren der Subjektivierung konstitutiv werden.198 Dabei stellt man in den überwiegenden Fällen allerdings fest, dass sich die persön­lich geäußerten Beschwerden mit denen der Briefe weitestgehend decken. 195 Interner Bericht der Transit Police »Sugges­tions to Curb Crime« vom 13. Juli 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 196 Vgl. exemplarisch den internen Report der Transit Authority »Investiga­tion Re: Bums Sleeping on Trains« vom 25. August 1966 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 6). Hier wird vermerkt: »Unable to furnish any further informa­tion concerning the subject, Mrs. Murphy launched into a lengthy discourse on other matters and displayed copies of such correspondences from various other agencies.« 197 Einen ähn­lichen Mechanismus der Beurteilung stellt auch Luc Boltanksi in der Analyse der Leserbriefe an die franzö­sische Tageszeitung Le Monde fest. Vgl. Boltanski: »Bezichtigung und Selbstdarstellung: Die Kunst, ein normales Opfer zu sein«, S. 162. 198 Butler: Giving an Account of Oneself, S. 22 f.

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Nach dieser Überprüfung erfolgt eine ausführ­liche Belehrung der Passagiere durch die Beamten. Ihnen wird versichert, dass die Obrigkeiten ihre Sorgen ernst nehmen und massive Anstrengungen unternehmen würden, um die Ursache der Beschwerde zu beseitigen. Dementsprechend finden sich in der überwiegenden Zahl der Protokolle abschließend Sentenzen wie diese: The complaints were informed that the Transit System is patrolled on a 24 hour basis … They were assured that special atten­tion will be given to the subject area … Both expressed satisfac­tion with the atten­tion given to this matter… Recommended that all papers be filed.199

In diesen wenigen Zeilen wird die zentrale Funk­tion der Beschwerden sichtbar: Auf den Dank für die Aufmerksamkeit, die die Beamten den Sorgen und Nöten der Passagiere gewidmet haben, folgt eine Geste wechselseitiger Anerkennung und Versicherung ­zwischen den Passagieren und Behörden. Dieser Akt der Anerkennung ist offensicht­lich für beide Seiten wesent­lich wichtiger als die Beseitigung der Beschwerdeursache. Zwar hoffen die Passagiere, dass ihre Anliegen den Bereich der Sprache durchbrechen und in tatsäch­lichen Ak­tionen und Verfahren münden, jedoch verlassen die Beschwerdebriefe in den wenigsten Fällen das Feld des Diskurses. So werden infolge der Gespräche immerhin vereinzelt Untersuchungen angestrengt und die beschuldigten Beamten von ihren Vorgesetzen befragt. Diese führen allerdings meist ins Leere. Oftmals geben die befragten Ordnungskräfte an, keine Erinnerung an den infrage stehenden Vorfall zu haben oder schildern ihn gänz­lich anders.200 Besonders im Falle der Beschwerden gegenüber Polizisten neigt man dazu, eher den Kollegen Glauben zu schenken als den Passagieren. Folg­lich vermerkt man am Ende der Berichte allermeist: »No derelic­tion noted on the part of any member of this department«201 oder »Investiga­tion has failed to substantiate the complainant’s allega­tions.«202 199 Siehe bspw. den internen Bericht der Transit Police: »Investiga­tion re: Concern for Citizen Riders« vom 16. Februar 1965 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 4). 200 Vgl. den internen Report der Transit Police an die Transit Authority: »Investiga­tion Re: Alleged Biased Attitude of Patrolman« vom 31. Mai 1967 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 7) oder den internen Report der Transit Police an die Transit Authority: »Investiga­tion Re: Alleged Improper Ac­tion of Patrolman« vom 23. Mai 1967 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 7). 201 Interner Report der Transit Police an die Transit Authority: »Investiga­tion re: Unreasonable Deten­tion of Passenger« vom 2. Februar 1967 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 7). 202 Interner Report der Transit Police: »Civilian Complaint« vom 10. Mai 1968 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 8).

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In der Tatsache, dass die Behörden so wenig Energie auf die Beseitigung des Beschwerdegrundes verwenden und zugleich intensive Ressourcen dafür mobilisieren, die Passagiere ausfindig zu machen und sie in Gesprächen zu beschwichtigen, wird auch die Bedeutsamkeit der Beschwerden für die Obrigkeiten offenbar. Zwar erscheinen einerseits die Sorgen der Passagiere in ihren Augen als größtenteils trivial, andererseits geht von den Anklagen und Vorwürfen offenbar eine undeut­liche Gefahr aus, die es zu bannen gilt. Verhallen sie ungehört, so birgt dies die Mög­lichkeit, dass die Beschwerde immer weitere Kreise zieht und das Ansehen der Institu­tion weiter diskreditiert. Zudem sind die Behörden auch auf ihre Legitima­tion durch die Öffent­lichkeit angewiesen. Dieses Moment der Reziprozität in der Anrufung der Macht und wechselseitigen Anerkennung stellen auch Farge und Foucault im Falle der Bittschriften an den absolutistischen Monarchen des Ancien Régime heraus: Die Bittschrift ermög­licht es nicht nur, die Ehre zu behalten, sondern vermittelt dem, der sie schreibt, das stolze Gefühl, von der wichtigsten Persön­lichkeit im Staat wahrgenommen zu werden. Beruht die im Übrigen nicht auf Gegenseitigkeit?203

In der Tat lassen sich auch die Prozeduren der New Yorker Beschwerderegime als eine Art doppelte Subjektivierung deuten: einerseits der Passagiere, andererseits der Institu­tion der Betreiber. So wird in den Beschwerden vor allem die Gültigkeit und Objektivität subjektiver Wahrnehmungen und Empfindungen verhandelt. Die Schilderungen der Passagiere durchlaufen in den bürokratischen Regimen verschiedenste Prozesse der Übersetzung: Sie werden registriert, gegenüberprüft, verifiziert oder falsifiziert, und danach entweder einfach archiviert oder es werden konkrete Schritte beschlossen. In den Prozessen um die Bearbeitung der Briefe findet im Erfolgsfall eine Synchronisierung der Subjektivierung des Passagiers mit jener der Subwaybetreiber statt. Hier wird also eine wechselseitige Subjektzuweisung unternommen, die die bestehenden Subjektivierungsordnungen und -entwürfe versucht zu stabilisieren. Dies kann als erfolgreiche Disziplinierung und Verfestigung der Passagier-­Subjekte interpretiert werden wie auch als Instrument zur Aufrechterhaltung der sozia­len Ordnungen in der Subway. Dies mag erklären, warum auch noch die unbedeutendsten und trivialsten Beschwerden in den Augen der Bürokraten Beachtung finden. Glaubt man den unzähligen Dankesschreiben, die die Transit Police nach den Besuchen erhält, so stellt diese kurze Begegnung mit der Macht ein geradezu erhebendes 203 Farge/Foucault (Hrsg.): Familiäre Konflikte: Die »Lettres de Cachet«: Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, S. 282.

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Moment dar. Die Erfahrung, dass die einzelnen Sorgen bedeutend genug sind, um die Aufmerksamkeit der staat­lichen Instanzen auf sich zu ziehen, produziert auf Seiten der Beschwerdeführer triumphale Hochgefühle wie auch Ehrfurcht und Ergebenheit. Wenn diese Verfahren vor allem darauf abzielen, bei den Passagieren den Glauben an die ­sozia­le Ordnung und die Autorität der staat­lichen Institu­tionen wiederherzustellen, so erweisen sie sich als durchaus effektiv. Die Wirkmächtigkeit dieser Prozeduren der Stabilisierung und Versicherung wird nicht zuletzt darin deut­lich, dass die Passagiere sie auch stellvertretend für andere Subjekte erbitten, wie beispielsweise in folgenden Zeilen: My mother for 20 years has been riding the subway to see her brother in the Bronx. She lives in Brooklyn. She is now afraid to ride the subway for fear of her life with all the terrible things that are going on. Could you please write her and tell her that everything is going to be alright and that she has nothing to fear.204

Und tatsäch­lich werden der Autor und seine ­Mutter von einem Polizisten zu Hause besucht und der polizei­lichen Präsenz im System versichert, was diese dankbar annehmen.205 Schaut man zusammenfassend auf die komplexen Verfahren der Beschwerde­ regime, wird deut­lich, dass hier eine Subjektivierungsmacht am Werke ist, die das althussersche Modell der Anrufung gewissermaßen invertiert. In seiner ikonischen Arbeit Ideologie und ideolo­gische Staatsapparate schildert Althusser eine Art Urszene: Er vergleicht das Verfahren der Subjektwerdung mit dem Ruf des Polizisten »He, Sie da!« auf der Straße. Das angerufene Individuum, das sich umwendet, wird gerade durch diese Wendung zum Subjekt, weil »es damit anerkennt, dass der Anruf ›genau‹ ihm galt«.206 In den Beschwerdebriefen findet gewissermaßen die umgedrehte Bewegung statt. Hier sind es die Subjekte, welche die Macht anrufen und nach der Versicherung und Anerkennung ihrer Subjektivität verlangen. Wenn die Historiker Alois Hahn und Volker Kapp zudem behaupten, dass sich die west­liche Moderne durch eine steigende Intensität sozia­ler Kontrolle auszeichnet, die mit einer Verfeinerung von Techniken der Selbstbeobachtung und Formen freiwilliger wie erzwungener Bekenntnisse der Subjekte einhergehen, so ist dies sicher eine streitbare These.207 In gewisser Weise 204 Brief von Jan Waxman an Bürgermeister Wagner vom 23. Juni 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 2 05 Siehe den internen Report der Transit Police: »Investiga­tion re: Female Afraid to Ride Subway« vom 13. Juli 1964 (NYTMA, »Miscellanea: Complaints«, Box 3). 206 Althusser, Louis: Ideologie und ideolo­gische Staatsapparate, Hamburg: VSA 2010, S. 89. 207 Vgl. Hahn, Alois und Kapp, Volker: »Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis«, in: Alois Hahn und Volker Kapp (Hrsg.): Selbstthematisierung und

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trifft sie zumindest für die Beschwerderegime der New Yorker Subway in weiten Teilen zu. Die Subjektivität der Passagiere wie Behörden erscheint hier jedoch als dezidiert reziprokes Verhältnis. Damit wird anhand der Beschwerdebriefe und ihrer administrativen Reak­tion offenkundig, dass die Subjektwerdung immer das Moment der Unterwerfung wie auch der Ermächtigung beinhaltet. So lassen sich in den Ansprüchen und Forderungen der Passagiere auch emanzipatorische Momente erkennen. Indem die Menschen die Anerkennung ihrer Erfahrungen einfordern und sie mit Nachdruck in den bürokratischen Diskurs einbringen, beharren sie auf ihrer Individualität und konstituieren sich als eigenständige Akteure, deren Posi­tion Beachtung verdient. In der Mobilisierung der Schrift entwerfen sie sich selbst als diskursive Rechtssubjekte mit einem »papiernen Körper« und einem »Herz aus Schrift«208 und zwingen dadurch die administrativen Dispositive der Subway, sich nach ihnen auszurichten. Zugleich werden in den administrativen Deutungen und Beurteilungen der Beschwerden durch die Behörden das komplexe Wechselspiel und die vielfältigen Mikrophysiken der Macht sichtbar, die sich z­ wischen den Passagieren und den bürokratischen Hegemonien entfalten. So fungieren die Bezichtigungen der Passagiere als beziehungsstiftendes Moment ­zwischen einer Vielzahl von Akteuren. Dazu gehören neben dem Beschwerdeführer und dem Adressat auch der oder die Beschuldigte sowie mög­liche Zeugen. Indem die Bürokratien in der Bearbeitung dieser Beschwerden bestrebt sind, z­ wischen all diesen Akteuren zu vermitteln und Momente wechselseitiger Anerkennung zu produzieren, stellen sie zentrale Instrumente zur Produk­tion sozia­ler Ordnung und Kontrolle dar. Damit sind sie auch als machtvolle Instanzen in der infrastrukturierten Subjektivierung der Passagiere wirksam. Wenn die Einstellung der Archivierung der Beschwerdebriefe und der Konsolidierung des Systems im Jahre 1968 das Ende des Untersuchungszeitraums dieser Studie markiert, bedeutet dies jedoch nicht, dass der Niedergang der Subway damit überwunden ist. Im Gegenteil: Die Erosion des Systems, die sich bereits in den 1950ern abzeichnet und in den 1960er Jahren Fahrt aufnimmt, sollte nun an den Rande des Kollapses führen. Glaubt man zeitgenös­ sischen Quellen, schlittern nun sowohl die Subway wie auch die Stadt in die wohl schlimmste Krise ihrer Geschichte, die nahezu zwei Jahrzehnte andauern wird. Dieser Niedergang, wie auch die neuen Subjektivierungsinstanzen, die sich in dieser Zeit herausbilden, sollen zu Beginn der Schlussbetrachtungen kurz skizziert werden. Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 7 – 8. 208 Siegert, Bernhard: Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle ­zwischen Spanien und Amerika, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 158.

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KAPITEL VI. SUBJEKTIVIERUNG UND CONTAINERISIERUNG – BEMERKUNGEN ZUM SCHLUSS »And the Story Goes on…« Die Subway von den 1970er Jahren bis heute Glaubt man den Medienberichten und Statistiken der Zeit, markiert das Jahr 1982 den absoluten Tiefpunkt in der Geschichte der New Yorker Subway.1 Beförderte sie in den Nachkriegsjahren nahezu sieben Millionen Passagiere pro Tag, waren es nun weniger als die Hälfte.2 Im Oktober dieses Jahres erreichten die Passagierzahlen gerade mal noch das Niveau von 1917.3 Zugleich lassen Unfälle, Streiks und fehlerhaftes Equipment immer öfter Teile der Infrastruktur zusammenbrechen.4 Mittlerweile war der Zustand der Subway so miserabel, dass eine Fahrt, die im Jahre 1910 noch zehn Minuten dauerte, nun über 40 Minuten in

1 Da die meisten Chronisten der Subway ihre Aufmerksamkeit auf die ersten Jahrzehnte des Systems richten, finden sich nur wenige Arbeiten zur Geschichte der Subway ab den 1960ern. Einen guten Überblick in die technischen und administrativen Entwicklungen des Systems geben jedoch die Aufsätze von Mark S. Feinman: The New York Transit Authority in the 1970s sowie The New York Transit Authority in the 1980s. Zugänglich unter http://www.nycsubway.org (letzter Zugriff: 3. 7. 2015). 2 Siehe: Subway Ridership Reporting, Interner Report der MTA vom 22. März 2012, erstellt von Rob Hickey (Unit Chief, Revenue Analysis) und Bill Amarosa, (Manager, Revenue & Ridership Analysis). Einsehbar im Archiv des New York Transit Museums und unter http://www.pcac.org/wp-content/uploads/2012/04/subwayridership-032212.pdf (letzter Zugriff: 12. 3. 2015). 3 [Anonym]: »Subway Ridership Hits 65 Year Low«, New York Daily News (1. Oktober 1982), S. 7. 4 Zu den Streiks der Transport Workers Union in dieser Zeit vgl. ausführlicher den Epilog in: Freeman, Joshua B.: In Transit: The Transport Workers Union in New York City, 1933 – 1966, 2. Aufl., Philadelphia: Temple University Press 1992, S. 337 – 346. Zur ökonomischen Situation vgl.: Freeman, Joshua B.: Working-class New York Life and Labor since World War II, New York: The New Press 2000, S. 156 f; Lichten, Eric: Class, Power, & Austerity: the New York City Fiscal Crisis, South Hadley, Mass.: Bergin & Garvey Publishers 1986; Quante, Wolfgang: The Exodus of Corporate Headquarters from New York City, New York: Praeger 1976, S. 56 ff; Zukin, Sharon: »Space and Symbols in an Age of Decline«, in: Anthony D. King (Hrsg.): Re-Presenting the City, Ethnicity, Capital and Culture in the 21st Century Metropolis, New York: New York University Press 1996, S. 43 – 59.

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Anspruch nehmen konnte.5 Welchen katastrophalen Eindruck das System auch bei den Passagieren mittlerweile machte, beschreibt eindrück­lich ein Artikel in der New York Times aus dem Januar 1982: The subway is frightful looking. It has paint and signatures all over its aged face. It has been vandalized from end to end. It smells so hideous you want to put a clothespin on your nose, and it is so noisy the sound actually hurts. Is it dangerous? Ask anyone, and, without thinking, he will tell you there must be about two murders a day on the subway.6

Tatsäch­lich brach die Kriminalitätsrate der Subway mittlerweile immer neue Rekorde. So registrierte die Transit Police nun mehr als 250 Straftaten pro Woche, weit mehr als in jedem anderen Transitsystem der Welt.7 War die Mordrate zwar noch weit geringer als die oftmals hysterischen Mediendiskurse der Zeit suggerieren, erreichte sie nun dennoch mit dreizehn Morden pro Jahr ein Rekordhoch.8 Während angesichts dieser Zustände die New Yorker in Scharen auf das Automobil umstiegen, errechneten die Logistiker der MTA panisch, dass bei einer Fortsetzung ­dieses Trends spätestens im Jahr 2002 der letzte Passagier der Subway den Rücken kehren würde.9 In dem Maße, in dem den Betreibern die Kontrolle des Systems immer mehr entgleitet, beginnen nun deviante Passagiergruppen, wie Kleinkriminelle oder Jugendgangs, eine immer stärkere Gegenmacht zu den institu­tionellen Regimen der Betreiber zu bilden. Zugleich drängen nun wieder vermehrt Obdachlose, Bettler und Dogensüchtige in das System. Glaubt man den Fotografien dieser Zeit, muss die Subway angesichts der maroden Anlagen, zerstörten Beleuchtungen und wachsenden Müllberge einen geradezu postapokalyptischen Eindruck vermittelt haben. Dies bezeugen beispielsweise die Bilder des jungen New Yorker Künstlers Bruce Davidson (Taf. 20)10 oder die Reportagen des späteren Kriegsfotografen 5 Vgl. Feinman: The New York Transit Authority in the 1980s. http://www.nycsubway. Feinman: The New York Transit Authority in the 1970s. Zugäng­lich unter http:// www.nycsubway.org (letzter Zugriff: 3. 7. 2015). 6 Theroux, Paul: »Subway Odyssey«, The New York Times (31. Januar 1982), http://www. nytimes.com/1982/01/31/magazine/subway-­odyssey.html (letzter Zugriff: 28. 6. 2015). 7 Feinman: The New York Transit Authority in the 1970s. Zugäng­lich unter http:// www.nycsubway.org (letzter Zugriff: 3. 7. 2015). 8 Statistiken über die Morde in der Subway sind trotz des starken Mediendiskurses kaum zu bekommen. Bezugnehmend auf Auskünfte der New York Transit Police nennt immerhin die New York Times einige Zahlen. Vgl. Theroux: »Subway Odyssey«. 9 [Anonym]: »Subway Ridership Hits 65 Year Low«. 10 Brathwaite, Fred und Geldzahler, Henry (Hrsg.): Bruce Davidson: Subway, New York: Aperture 2011, S. 32.

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Christopher Morris (Taf. 21).11 Sie porträtieren die Subway als eine subterrane Ruinenlandschaft, in der die von Rost, Schmutz und Graffiti überzogenen Sta­tionen und Waggons wie verfallene Monumente einer unerfüllten Zukunft anmuten. Wenn dieser Zeitraum als absoluter Tiefpunkt des Systems gelten kann, so ist doch bezeichnend, dass es nicht vollends kollabierte. Dies zeigt, dass die Subway für Millionen von New Yorkern nach wie vor ein solch unverzichtbarer Teil ihres Alltags war, dass sie sich weiterhin tagtäg­lich ihren Zumutungen aussetzten. Zudem verdeut­licht es, dass die Subway längst ein konstitutives Element New Yorks bildete, deren Kollaps den Zusammenbruch der städtischen Ordnung überhaupt bedeutet hätte. Wenn man im Jahre 1982 d ­ iesem Moment jedoch so gefähr­lich nahe kam wie niemals zuvor, stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, sowie, wie es gelang, diese Krise zu überwinden. Ende der 1960er Jahre erlebt die Subway trotz der bereits einsetzenden Krise noch eine letzte Hochphase der Standardisierung und Modernisierung. Im Jahr 1968 werden die ehemals unabhängigen Teilsysteme der Subway sowie alle Busse und Fähren New Yorks unter dem Dach der Metropolitan Transporta­tion Authority (MTA) vereinigt. Mit mehr als 60.000 Angestellten entsteht so eine der größten öffent­lichen Institu­tionen der USA, die in dieser Form bis heute weitestgehend unverändert geblieben ist. Kurz nach ihrer Konstituierung gelingt es der MTA zudem, von der US-amerikanischen Bundesregierung eine immense finanzielle Zuwendung von 600 Millionen Dollar zu erhalten, um den Verfall des Systems abzuwenden. Die Behörde investiert diese Summe allerdings zu weiten Teilen in ambi­tionierte Konstruk­tions- und Entwicklungsprojekte, die allesamt nicht fertiggestellt werden können.12 Während sich der Rückgang der Passagiere weiter intensiviert, erhält die Subway in den 1970er Jahren noch ein einheit­liches Beschilderungssystem für alle Linien und Sta­tionen, das in seiner klaren und formalisierten Gestaltung 11 Siehe ausführ­lich Conway, Richard: »Grit, Grime and Graffiti: Christopher Morris on the New York Subway, 1981«, Time (2014), http://time.com/3386935/grit-­grime-­and-­ graffiti-­christopher-­morris-­on-­the-­new-­york-­subway-1981/ (letzter Zugriff: 30. 6. 2015). 12 Dies betrifft u. a. auch weitere Konstruk­tionsarbeiten an einer neuen Linie am Ostufer Manhattans, der sogenannten Second Avenue Subway. Sie befindet sich bereits seit 1929 in der Planung und hat in den letzten Dekaden immer wieder kurze Phasen der Konstruk­tion erlebt, die aber allesamt wieder eingestellt wurden. Im Jahre 2007 hat man erneut mit der Fortführung der Arbeiten an dem mittlerweile weltweit größten unterirdischen Infrastrukturprojekt begonnen. Die endgültige Eröffnung dieser 17 Milliarden Dollar teuren Linie ist für 2017 angekündigt. Vgl. ausführ­licher: Nasri, Verya: »Design of Second Avenue Subway in New York«, Conference Paper des World Tunnel Congress: Underground Facilities for Better Environment and Safety – India 2008, S.  1372 – 1382, http://www.ctta.org/FileUpload/ita/2008/data/pdf/141.PDF. (letzter Zugriff: 11. 8. 2015).

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bis heute als beispielhaft gilt.13 Währenddessen geraten jedoch sowohl die MTA wie auch die überirdische Stadt immer mehr in wirtschaft­liche Bedrängnis. Der stetige Wegzug von Industrie und Handel führt zu einer immer tieferen Krise der fordistisch strukturierten Ökonomien der Stadt. 1975 zwingt der Einbruch der Steuereinnahmen die Stadtregierung New Yorks zu einer offiziellen Bankrott­ erklärung, während mittlerweile nahezu eine Million New Yorker vor allem aus den weißen Mittelschichten die Stadt verlassen hatte.14 Dieser sogenannte »White Flight« sowie die weiter rasant ansteigende Kriminalitätsrate bringen New York bald die Reputa­tion einer gesetzeslosen und unrettbar verlorenen Metropole ein. Dabei propagieren die Medien ein oftmals stark überzeichnetes Bild der Stadt als Ort des zivilisatorischen Ausnahmezustands. Vor allem die heruntergekommene und mit Grafitti überzogene Untergrundbahn wird zum Symbol des Niedergangs New Yorks und macht nun auch Schlagzeilen in interna­tionalen Zeitungen und Fernsehsendungen. Zeitgleich avanciert die Subway auch im Kino zu einem Sinnbild des Zerfalls öffent­licher wie mora­lischer Ordnung. Erfolgsfilme wie The Taking of Pelham 123 (1974) oder The Warriors (1979) zeigen das System als gesetzloses Territorium, das von marodierenden Gangs und gewalttätigen Banden beherrscht wird. Diese Momente werden auch in dem New Yorker Selbstjustiz-­Drama Death Wish aus dem Jahr 1974 thematisch. In einer ikonischen Szene wird der von ­Ac­tion Star Charles Bronson gespielte Protagonist auf einer nächt­lichen U-Bahnfahrt von zwei Kriminellen überfallen und mit dem Messer bedroht. Anstatt sich jedoch seinem Schicksal zu ergeben, zückt er einen Revolver, streckt beide nieder und exekutiert die bereits schwerverletzt am Boden liegenden Angreifer mit stoischer Miene. Dieses kinematographische Ausagieren der Rache- und Selbstermächtigungsfantasien zahlreicher New Yorker Passagiere sorgte nicht nur für volle Kinokassen und mehrere Fortsetzungen. Es sollte bald auch jenseits der Leinwand realisiert werden.

13 Vgl. Shaw, Paul: Helvetica and the New York City Subway System, Cambridge, Mass.: The MIT Press 2011, S. 38 ff. Zu den Konflikten um diese neuen visuellen Regime siehe auch: Höhne, Stefan: »How to Make a Map for the Hades of Names – Transit Maps and the Representa­tion of the City«, Cultural Histories of Sociabilities, Spaces and Mobilities 7/1 (2015), S. 83 – 98. 14 Zu der Geschichte New Yorks in diesen Jahren vgl. ausführ­licher die Beiträge in Mollenkopf, John H. und Castells, Manuel (Hrsg.): Dual City: Restructuring New York, New York: Russell Sage Founda­tion 1992; sowie: Greenberg, Miriam: Branding New York. How a City in Crisis was Sold to the World, New York City: Routledge 2008; Mollenkopf, John H.: New York City in the 1980s: A Social, Economic, and Political Atlas, New York: Simon & Schuster 1993.

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So schließt sich im Jahre 1977 eine Gruppe von Passagieren unter dem Namen The Magnificent 13 zu einer Organisa­tion zusammen, die wenig s­ päter als G ­ uardian 15 Angels weltweite Aufmerksamkeit erhält. Mit dieser Anfang der 1980er Jahre auf 220 Männer und Frauen angewachsenen Bürgerwehr, die uniformiert Tag und Nacht in der Subway patrouilliert und schlagzeilenträchtig sogenannte Citizen’s Arrests vornimmt, manifestiert sich auch ein neues Ideal des Passagiers.16 Ins Bild gesetzt werden diese wehrhaften Passagiersubjekte unter anderem von dem Fotografen Bruce Davidson, der die Ak­tionen der Guardian Angels im Jahre 1979 über mehrere Monate begleitet (siehe Taf. 22). In den von weiten Teilen der Öffent­lichkeit begeistert unterstützten Milizen treten die Passagiere nun nicht mehr als ausgelieferte und v­ erängstigte Subjekte in Erscheinung. Sie posi­tionieren sich stattdessen als selbstermächtigte Individuen, die als Vigilanten 17 Selbstjustiz üben und die Wiedererrichtung von Moral und Ordnung in der Subway selbst in die Hand nehmen. Als militante Produzenten von Sicherheit und Recht bilden sie einen radikalen Gegenentwurf zu den verängstigten und fragilen Subjekten der im letzten Kapitel diskutierten Beschwerdebriefe. Das Modell des wachsamen und wehrhaften Passagiermilizionärs erweist sich auch medial als solch ein Erfolg, dass sich die Guardian Angels bald auch in anderen Untergrundbahnen der Welt formieren, beispielsweise in Boston, Washington oder London. 18 Die Krise fordistischer Akkumula­tionsregime, die New York seit Jahren schwer erschütterte, erfasst nun auch andere urbane Zentren Nordamerikas und Europas und zog dabei auch ihre öffent­lichen Mobilitätsinfrastrukturen in Mitleidenschaft.19 Allerdings konnten die Passagiermilizen weder in diesen Städten noch in der New Yorker Subway den steil ansteigenden Verbrechensraten etwas 15 Zur Geschichte der Guardian Angels vgl. ausführ­licher: Kenney, Dennis Jay: »Crime on the Subways: Measuring the Effectiveness of The Guardian Angels«, Justice Quarterly 3/4 (1986), S. 481 – 496. 16 [Anonym]: »The Subway Savages«, New York Daily News (18. Januar 1980), S. 22. 17 Der Ausdruck Vigilante ist im Eng­lischen weitaus geläufiger als im Deutschen. Jedoch findet der Begriff des Vigilanten auch im deutschsprachigen Raum Verwendung, um Personen zu bezeichnen, die Selbstjustiz üben bzw. »das Recht in die eigenen Hände« nehmen. Vgl. ausführ­licher: Kowalewski, David: »Vigilantismus«, in: Wilhelm Heitmeyer und John Hagan (Hrsg.): Interna­tionales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 426 – 440. 18 Zu London vgl.: Webb, Barry und Laycock, Gloria: »Reducing Crime on the London Underground«, Crime Preven­tion Unit Paper 30 (1992), http://www.popcenter.org/ library/scp/pdf/189-Webb_and_Laycock.pdf (letzter Zugriff: 23. 8. 2015). 19 Einen prägnanten Überblick über diese Entwicklung gibt u. a. Clark, David: Urban Decline, New York: Routledge 2013.

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entgegensetzen.20 Zwar lassen die Subwaybetreiber die Guardian Angels zumindest temporär gewähren, da sie trotz der Unterminierung ihres Gewaltmonopols im System auf sie angewiesen sind, sie stehen ihnen aber grundsätz­lich misstrauisch gegenüber. Und in der Tat sollten sich nun bald die Aporien des sich selbstermächtigenden Passagiersubjekts zeigen, das notfalls auch mit Waffengewalt die Ordnung des Systems durchzusetzen bereit ist. So ereignet sich am 22. Dezember 1984 ein Geschichte machender Vorfall in der Subway, der bis heute kontrovers diskutiert wird. Am frühen Nachmittag ­dieses Tages wird der 32-jährige weiße Elektroingenieur Bernhard Goetz in einem Zug unter Manhattan von vier schwarzen Passagieren überfallen. Er setzt sich mit mehreren Schüssen aus einem illegal erworbenen Revolver zur Wehr, der die Angreifer schwer verletzt. Obwohl er sich seiner Verantwortung zuerst durch Flucht entzieht, finden seine Taten breiten Zuspruch in der Bevölkerung. Die Medien feiern Goetz in Sondersendungen und auf unzähligen Titelseiten als heroischen »Subway Vigilante«.21 Angesichts der unzumutbaren Zustände in der Subway und der als inkompetent geltenden Polizei sehen viele Passagiere in Goetz’ Ak­tionen einen vorbildhaften Akt und spenden über die Guardian Angels Tausende von Dollars für seine Kau­tion. Allerdings werden auch kritische Stimmen laut, die Goetz’ Handlung als brutale und unverhältnismäßige Selbstjustiz verurteilen. Spätestens als er vor Gericht von einer mehrheit­lich weißen Jury von allen Anklagepunkten freigesprochen wird und nur acht Monate Haft wegen illegalen Waffenbesitzes verbüßen muss, mehren sich die wütenden Proteste gegen das als rassistisch empfundene Urteil. So wird Goetz zum sicher­lich berühmtesten wie umstrittensten Passagier der Subway und zu einer Ikone all derer, die davon träumen, sich gegen die Zumutungen im System mit Waffengewalt zur Wehr zu setzen. Erst im Jahre 1988 setzt im Zuge der sich erholenden Wirtschaftslage der Stadt eine langsame Trendwende ein, die auch mehr Geld in die Kassen der MTA spült. Lang überfällige Reparaturen können nun durchgeführt werden und auch die New Yorker kehren wieder vermehrt in die Subway zurück. Zudem gelingt es den Betreibern, die sogenannten »Graffiti-­Kriege« durch massiven Polizei­einsatz und neue chemische Verfahren zu gewinnen. Dass die Verbrechensrate ab Beginn der 1990er Jahre in der Stadt wie auch der Subway zu fallen beginnt, lässt sich der umstrittenen Null-­Toleranz-­Politik des 20 Vgl.: »65 Cent Fare considered in Talks on Coping with Subway Crime«, The New York Times (27. September 1980), zitiert in: Feinman: The New York Transit Authority in the 1980s. http://www.nycsubway.org (letzter Zugriff: 23. 8. 2015). 21 Zu Bernhard Goetz vgl. u. a.: Fletcher, George P.: Notwehr als Verbrechen: der U-Bahn-­ Fall Goetz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Für eine breitere historische Einordnung d ­ ieses Falles siehe auch: Grayson, J. Paul: »Vigilantism in Canada and the United States«, Legal Studies Forum 16 (1992), S. 21 – 41.

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Bürgermeisters Rudolph Giuliani ebenso zuschreiben wie der sich erholenden Wirtschaft und der zurückgehenden Arbeitslosigkeit.22 Im Zuge des Booms der Finanzindustrie avanciert New York nun zu einer der führenden Global Cities in den Netzwerken post-­fordistischer Ökonomien.23 Auch wenn die Zuverlässigkeit wie Sicherheit des Systems nun wieder zunimmt, sollte die Subway ihren Ruf als gefähr­liches Territorium nur ­langsam abschütteln. Mit der Neuerfindung der Stadt als Touristen- und Finanzmetropole in den 1990er Jahren gewinnt jedoch auch das System wieder stark an Bedeutung.24 Dabei erweist sich die von Beginn an etablierte Betriebsdauer des Systems rund um die Uhr als hochkompatibel mit den neuen Rhythmen der flexibilisierten Arbeitsorganisa­tion in der postfordistischen Stadt. So unterstützt die Subway den Umbau der Ökonomien New Yorks, die nun zunehmend auf Touristen, prekäres Dienstleitungspersonal sowie Angehörige der sogenannten »Kreativen Klassen« abgestellt sind. Im Zuge der Reetablierung staat­licher Ordnungsmacht in der Subway verzeichnet die MTA bald auch einen starken Rückgang der Kriminalität. Dies nutzt sie für weitreichende Marketingkampagnen zur Propagierung der Renaissance des Systems mit Slogans wie: »The Subway. We’re coming back, so you come back«.25 Spätestens als die Passagierzahlen in den späten 1990er Jahren nahezu wieder an das frühe Nachkriegsniveau heranreichen, ist der Wiederaufstieg der Subway unbestreitbar. In den letzten Dekaden hat sich die Subway längst wieder als trivialer Teil des Alltags nahezu aller New Yorker etabliert und ihre Benutzung erinnert kaum noch an die Schrecken und Strapazen der Krisenzeiten. Die erfolgreiche Wiederherstellung der Kontrollregime wird dabei einerseits durch den Rückgriff auf bereits erprobte Verfahren der Überwachung und Disziplinierung erreicht. Die über Jahrzehnte erworbene Expertise in der Pazifizierung und Steuerung 22 Zur Diskussion dieser Dynamik vgl. exemplarisch: Dreher, Gunther und Feltes, Thomas (Hrsg.): Das Modell New York: Kriminalpräven­tion durch »Zero Tolerance«?; Beiträge zur aktuellen kriminalpolitischen Diskussion, Holzkirchen: Felix-­Verlag 1998; Harcourt, Bernard E.: Illusion of Order: the false Promise of Broken Windows Policing, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2004; Smith, Neil: »Giuliani Time: The Revanchist 1990s«, Social Text 57 (1998), S. 1 – 20; Smith, Neil: The New Urban Frontier: Gentrifica­tion and the Revanchist City, New York: Routledge 1996. 23 Vgl. Abu-­Lughod, Janet L.: New York, Chicago, Los Angeles: America’s Global Cities, Minneapolis: University of Minnesota Press 1999, S. 285 ff. 24 Vgl. ausführ­licher Greenberg: Branding New York. How a City in Crisis was Sold to the World, S. 146 ff. 25 Siehe »MTA Cites Cool, Cleaner Cars – Oh what a feelin’, subways!«, in: New York Daily News, 13. 1989, S. 13, zitiert in: Feinman: The New York Transit Authority in the 1980s. http://www.nycsubway.org (letzter Zugriff: 23. 8. 2015).

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der Passagiere kommt nun angesichts wachsender finanzieller wie personeller Ressourcen der MTA wieder routiniert und erfolgreich zur Anwendung. Zudem werden diese Kontrollverfahren durch Kameraüberwachung und verstärkte Verfolgung kleinerer Ordnungswidrigkeiten im Zuge der Anwendung des umstrittenen »Broken Windows« Modells ergänzt.26 Infolge der Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 und der darauf hin stark zunehmenden Militarisierung des urbanen Raums New Yorks etablieren sich weitere Subjektivierungsinstanzen der Passagiere. Beispielsweise wird mit der Installa­tion amerikanischer Flaggen in den Sta­tio­ nen sowie in allen Waggons des Systems wieder verstärkt an den Patriotismus der Passagiere appelliert. Zugleich werden auch vermehrt Personenkontrollen, Kameras und Sicherheitsschleusen installiert, um die als gefähr­lich eingestuften Passagiere sofort identifizieren und exkludieren zu können. Im Zuge der Eta­ blierung dieser Verfahren erscheint der Passagier aus Sicht der Ordnungskräfte einerseits als potenzielle terroristische Bedrohung, dem der Zugang zum System um jeden Preis verunmög­licht werden soll. Andererseits wird er nun als zentraler Akteur in der Bekämpfung des Terrorismus und der selbstständigen Aufrechterhaltung öffent­licher Ordnung propagiert.27 So lanciert die MTA im Zuge des weitreichenden Sicherheitsprogramms eine groß aufgelegte Kampagne, in denen tausende Plakate mit dem Slogan »If You See Something, Say Something!« die Nutzer auffordern, verdächtige oder nonkonforme Passagiere aller Art bei den Behörden zu melden. Diese Apelle wechselseitiger Kontrolle und die Aufrufe zur Denunzia­tion greifen somit Verfahren aus den Beschwerderegimen wieder auf und versuchen, sie für die Kontrolle des Systems produktiv zu machen. Zugleich wird die Verantwortung für die Ordnung im System nun auch an die Subjekte selbst delegiert, die sich verstärkt wechselseitig beobachten und disziplinieren sollen. Wenn so den Passagieren kommuniziert wird, dass sie selbst entscheidend für die Sicherheit in der Subway verantwort­lich sind, bekundet sich darin das Eingeständnis der begrenzten Handlungsmacht der institu­tionellen Ordnungsinstanzen. Diese »Responsibilisierung« der Nutzer lässt sich zudem als Zugeständnis an das Bestreben der Passagiere nach Selbstermächtigung deuten, wie sie unter anderem in den Passagiermilizen der Guardian Angels zutage getreten ist. Folgt man den Überlegungen der Politikwissenschaftlerin Susanne Krasmann, können diese Appelle an die Eigenverantwortung der Passagiere als paradigmatisch für neoliberale Subjektivierungstechniken überhaupt gelten: 26 Harcourt: Illusion of order, S. 154 ff. 27 Vgl. Molotch, Harvey: Against Security: How We Go Wrong at Airports, Subways, and Other Sites of Ambiguous Danger, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 2012, S. 50 ff.

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Diese Strategie der Responsibilisierung ist praktisch das subjektive Pendant zum Verantwortung delegierenden Staat: Während das Paradigma der Solidarität mit dem Programm des Wohlfahrtsstaates in den Hintergrund tritt, zieht mit der politischen Ra­tionalität des Neoliberalismus das Prinzip der Verantwortung atomisierter Individuen herauf.28

Zumindest bei den New Yorker Subwaypassagieren scheinen diese Imperative allerdings bislang kaum Eindruck zu machen.29 Trotz zahlreicher Kritik und des zweifelhaften Effekts dieser Kampagne adoptiert sie die US-amerikanische Regierung im Jahr 2010 und weitet sie auf das gesamte Land aus. Mittlerweile kommt sie auch in Teilen Australiens und Kanadas zum Einsatz.30 Doch auch jenseits dieser neuen Subjektivierungsinstanzen erweist sich die New Yorker Subway als modellhaft. So dienen die in ihr entwickelten technischen Innova­tionen wie auch die Steuerungsmodelle ihrer Passagiere als vorbild­lich für die mittlerweile mehr als 150 anderen Untergrundbahnen der Welt.31 Ihre Gestaltung und Organisa­tionsweise ist auch Leitbild für die mehr als 30 aktuell im Bau befind­lichen neuen Systeme. Wenn so in Zukunft auch immer mehr Menschen in den wachsenden Metropolen Chinas, Indiens oder Irans in subterrane Passagiere verwandelt werden sollen, bezeugt dies den fortwährenden Bedarf an diesen Technologien für urbane Ballungszentren. In der geschichtswissenschaft­lichen Perspektive einer »langen Dauer«32 auf die mehr als 150-jährige Wirkungsgeschichte der Untergrundbahnen stellt sich auch die Krise des New Yorker Systems in den 1970er und 1980er Jahren als relativ 28 Krasmann, Susanne: »Gouvernementalität der Oberfläche. Aggressivität (ab-)trainieren beispielsweise«, in: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozia­len, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 194 – 226, hier S. 198. 29 So konnte die MTA im Jahre 2008 weniger als sieben Anrufe pro Tag registrieren, und dies bei mehr als fünf Millionen Passagieren täg­lich. Zur Wirkung dieser Kampagne vgl. ausführ­licher: Molotch: Against Security: How We Go Wrong at Airports, Subways, and Other Sites of Ambiguous Danger, S. 53 ff. 30 Vgl. Fernandez, Manny: »A Phrase for Safety After 9/11 Goes Global«, The New York Times (10. Mai 2010). 31 Siehe ausführ­licher: Höhne, Stefan und Boyer, Bill: »Subway«, in: Ray Hutchinson (Hrsg.): Encyclopedia of Urban Studies, London: SAGE 2009, S. 784 – 786. 32 Zur Konzep­tion der »Longue Durée« als zeit­lich langsamste Entwicklungsform historischer Dynamiken in den Geschichtswissenschaften, die Prozesse über Jahrhunderte in den Blick nimmt, siehe einführend: Braudel, Fernand: »Geschichte und Sozia­lwissenschaften. Die longue durée«, in: Braudel, Fernand, Marc Bloch und Lucien Febvre: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 47 – 85; ­Armitage, David: »What’s the Big Idea? Intellectual History and the Longue Durée«, History of European Ideas 38/4 (2012), S. 493 – 507.

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kurze regressive Phase in einer ansonsten bemerkenswerten Konjunktur dieser Technologien dar, die bis heute anhält. Reichweiten und Ambivalenzen infrastrukturierter Subjektivierung Die Geschichte der Passagiere der New York City Subway hat gezeigt, dass die infrastrukturierte Produk­tion der Subjektivität der Passagiere bei Weitem nicht auf die Territorien der Subway begrenzt ist. So sind die Dynamiken des Passagiers untrennbar mit den jeweiligen historischen Kontexten New Yorks sowie größeren gesellschaft­lichen Prozessen verbunden. Die Subway stellt dabei weit mehr als nur eine abhängige Variable dieser Momente dar, sondern fungiert oftmals als Laboratorium neuer Regierungstechniken und sozia­ler Praktiken. Ebenso ist in der Untersuchung deut­lich geworden, dass die Dispositive der Subway zwar als wirkmächtige Maschinen der Emergenz spezifischer Instanzen der Subjektivierung fungieren, diese sich jedoch selten zu einem stabilen und eindeutigen Bild kristallisieren. Die hier diskutierten Formen des Passagiers stellen somit eher dynamische Korrelate verschiedenster Subjektivierungsweisen dar als unveränder­liche Entitäten. Wie auch Reckwitz betont, markieren Subjektformen vielmehr »ein Feld der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen bezüg­ lich dessen, was das Subjekt ist und wie es sich formen kann.«33 Demzufolge sind auch die in dieser Studie diskutierten Subjektformen des Passagiers mehr oder weniger Momentaufnahmen unter konkreten historischen Bedingungen. Versucht man dennoch, die hier diskutierten Ambivalenzen und Reichweiten infrastrukturierter Subjektivierung in der Subway zusammenfassend zu bestimmen, so zeigen sich eine Reihe von Dynamiken, die im Folgenden noch einmal kurz umrissen werden sollen. 1. Die Analyse hat immer wieder vor Augen geführt, dass in der Passagierkultur der New Yorker Subway zahlreiche Phänomene und Konflikte zutage treten, die zur gleichen Zeit oder wenig s­ päter auch in anderen Bereichen der Gesellschaft wirksam werden. Dies betrifft vor allem die um 1900 allerorten konstatierte Maschinisierung des Sozia­len oder die zur gleichen Zeit beobachtete immense Verdichtung der Körper zu dem neuen und ambivalenten Kollektivsubjekt der Masse. Dabei hat sich gezeigt, dass die Subway ein frühes Einsatzfeld für die Anwendung logistischer Verfahren in der Regulierung sozia­ler Situa­tionen der Vermassung darstellt. Indem die ingenieurwissenschaft­lichen Prinzipien der 33 Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt: Eine ­Theorie der Subjektkulturen von der bürger­lichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2010, S. 14.

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Normierung, Ra­tionalisierung, Modularisierung und Effizienzsteigerung auf die Passagiere übertragen werden, etabliert sich ein neues Wissens­dispositiv, das auch in die materiell-­technischen Elemente der Subway, wie Drehkreuze, Sitzordnungen oder die Sta­tionsinterieurs, inskribiert wird. Indem die Prozesse der Inskrip­tion und De-­Inskrip­tion der Zeichensysteme, der Vereinzelungsanlagen oder der Waggoninterieurs spezifische Anforderungen, Regularien und ­sozia­le Normen an die Passagiere herantragen, produzieren sie nicht nur ­sozia­le Ordnung, sondern fungieren auch als Instanzen der Subjektivierung. Dabei wird deut­lich, dass die Subjektcodes des Maschinellen nicht allein auf der Ebene diskursiver Zuschreibungen wirken, sondern auch die Wahrnehmungen, Affekte oder Körperpraktiken der Passagiere strukturieren. Dieses Programm der Maschinisierung des Sozia­len geht mit der Durchsetzung der Idee eines außen-­geleiteten Subjekts einher, das durch äußere Signale gesteuert werden kann. Deut­lich wird dies beispielsweise in den visuellen Regimen der Subway, die ebenso auf die Regulierung ihrer Körperpraktiken abzielen wie auf ihr Selbstverständnis als Patrioten, Arbeitnehmer oder Konsumenten. 2. Zugleich fungieren die Untergrundbahnen des 20. Jahrhunderts als entscheidende Instrumente in der Etablierung libertärer Regierungsformen. Indem sie eine verläss­liche und geordnete Zirkula­tion der Bevölkerung ermög­lichen, tragen sie zur Durchsetzung tayloristisch-­fordistischer wie ­später auch post-­ fordistischer Produk­tions- und Konsum­tionsformen bei. Damit erweisen sich diese Infrastrukturen als elementare Hintergrunderfüllung des urbanen Alltags, mitsamt seinen spezifischen Formen der Arbeit, des Vergnügens und des Familienlebens. Nicht zufällig setzt der Niedergang der Subway und der Exodus der Passagiere genau zu dem Zeitpunkt ein, als die politische Ökonomie New Yorks in die Krise gerät und damit die primäre Funk­tion des öffent­lichen Nahverkehrsmittels als Vehikel zur Zirkula­tion von Arbeitskraft infrage gestellt ist. 3. Zudem erweist sich die Subway als ein frühes Anwendungsgebiet biopolitischer Steuerungsmodelle, die auf die messbare Zirkula­tion großer Menschenmassen abzielen. Die Auflösung der Passagiere in eine räum­liche wie zeit­liche Abfolge von strukturierten Handlungen, die eingeübt, gemessen und prognostiziert werden können, erlaubt ihre Vereinheit­lichung und Vergleichbarkeit. Diese Verfahren operieren als zentrale Instrumente der Herstellung einer Normalitätsgesellschaft des Transits. Damit gelingt es sogar, eine Containerethik zu eta­ blieren, die ­sozia­le und technische Normen verknüpft. Die Herstellung sozia­ler Ordnung durch logistisch-­maschinelle Regierungstechniken etabliert aber auch libertäre Momente: Indem die Passagiere allein als normierte und geblackboxte Körper in den Blick genommen werden, verlieren die sonst so wirkmächtigen Zuschreibungen des Geschlechts oder der Hautfarbe zumindest vorübergehend ihre den sozia­len Raum bestimmende Bedeutung und eröffnen neue Freiheiten.

Bemerkungen zum Schluss  |

4. Allerdings entfalten sich auch zahlreiche Spannungen und Konflikte z­ wischen den Passagieren, die meist entlang der Kategorien von Geschlecht, Alter, Hautfarbe und Klassenzugehörigkeit verlaufen. Besonders für die weib­ lichen Passagiere stellt die Subway immer wieder einen herausfordernden und potenziell bedroh­lichen Raum dar. Ähn­liches gilt für nicht-­weiße Passagiere: Zwar ist die Subway im Unterschied zu anderen US-amerikanischen Transitsystemen des 20 Jahrhunderts nicht segregiert, jedoch werden auch hier Formen von Rassismus und Diskriminierung sichtbar. Die Kämpfe um die Teilhabe an urbanen Infrastrukturen zeigen sich ebenso in den zahlreichen Bemühungen, Bettler und Obdachlose aus der Subway zu exkludieren. In der vermeint­lichen Banalität und Alltäg­lichkeit des Transits treten die gesellschaft­lichen Spannungen besonders deut­lich zutage. Zugleich finden sich in diesen Auseinandersetzungen immer auch Momente der Devianz, Umnutzung oder Aneignung, in ­welchen sich neue und nicht-­intendierte Praktiken, Codes oder Subjektformen entfalten können. 5. Die Emergenzen neuer Subjektformen des Passagiers reagieren nicht nur auf gesamtgesellschaft­liche Dynamiken, sie formieren sich zudem oftmals in Beziehung zu bereits implementierten Subjektivierungsinstanzen in der Subway. So kann beispielsweise die Formierung des neuen militanten Passagiertypus des Subway Vigilante als Reak­tion auf die tiefreichenden Erschütterungen der sich über Dekaden mühsam etablierten Ordnungs- und Kontrollinstanzen der Subway gedeutet werden. Hatte sich das Subjektivierungsprogramm der Subway spätestens in den 1940er Jahren so weit durchgesetzt, dass die Passagiermassen nun nicht mehr als barbarische Horden, sondern als ikonische Verkörperungen des »eindimensionalen Menschen« erscheinen, gerät ­dieses Regime spätestens ab den 1960er Jahren seinerseits in eine tiefe Krise. Im Zuge einer radikalen Kritik an der gleichgeschalteten Massenkultur der ra­tionalen Moderne formieren sich nun erste Anzeichen eines tiefgreifenden gesellschaft­lichen Wandels. Mit dem Aufstieg der Counterculture und den Jugendrevolten der späten 1960er Jahre sollte das neu geweckte Distink­tions- und Selbstverwirk­lichungsbegehren der Individuen zur vollen Entfaltung gelangen.34 Dabei findet diese Transforma­ tion west­licher Subjektkultur seinen Ausdruck beispielsweise in der wachsenden Begeisterung für die neuen Lebensformen, die durch Automobile und suburbane Eigenheime mög­lich werden.35 Der Aufstieg der hedonistisch-­konsumistischen 34 Zu ­diesem Umbruch vgl. ausführ­licher u. a. Ebd., S. 441 ff. 35 Vgl. Sachs, Wolfgang: »Herren über Raum und Zeit. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche«, in: Barbara Mettler-­Meiborn und Christine Bauhardt (Hrsg.): Nahe Ferne – Fremde Nähe. Infrastrukturen und Alltag, Berlin: Edi­tion Sigma 1993, S.  59 – 68.

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Subjektkultur in den 1960er und 1970er Jahren und die damit einhergehenden Individualitätsbehauptungen gehen jedoch auch an den New Yorker Passagieren nicht spurlos vorüber. Ihr Aufbegehren gegen die Zurichtungen und Gleichschaltungen manifestiert sich beispielsweise in den neuen visuellen Regimen, die nun die Wände der Sta­tionen, Waggons und Interieurs erobern. Die Graffitis, die für den franzö­sischen Philosophen Jean Baudrillard einen veritablen »Aufstand der ­­Zeichen«36 darstellen, künden von den ästhetischen Aneignungsbegehren vor allem junger New Yorker. Doch auch in den militanten Passagiersubjekten der Gangs und Guardian Angels bezeugt sich ein emanzipatorischer Impuls, der auf die Etablierung und Durchsetzung selbstbestimmter Ordnungen jenseits staat­licher Kontrollorgane abzielt. Dass die Betreiber diesen Formen der Selbstermächtigung äußerst misstrauisch gegenüberstehen und bestrebt sind, diese Impulse zu pazifizieren sowie für eine Responsibilisierung der Passagiere zu mobilisieren, verdeut­licht, wie dynamisch und adaptiv die Subjektivierungsinstanzen der Passagiere oftmals operieren. Diese Perspektiven auf die Ambivalenzen infrastrukturierter Subjektivität sind mit der hier vorgenommenen Untersuchung gerade erst eröffnet. Zwar hat es die Fokussierung auf die New Yorker Subway ermög­licht, die spezifischen Merkmale und Dynamiken ihrer Passagierkulturen herauszuarbeiten, vergleichende Untersuchungen würden es jedoch erlauben, die Divergenzen wie auch Gemeinsamkeiten mit den Subjektformen anderer Untergrundbahnen in den Blick zu nehmen. Dies verspricht nicht zuletzt deswegen neue Erkenntnisse, da sich bereits in dieser Untersuchung gezeigt hat, dass die Zuschreibungen und Anforderungen an die New Yorker Passagiere regelmäßig weit über deren funk­ tionsgerechtes Verhalten in der Subway hinausreichen. Es sind oftmals gerade die sozio-­technischen Dispositive der Infrastrukturen, die Transforma­tionen des Sozia­len anstoßen oder maßgeb­lich befördern. Besonders deut­lich wird ­dieses Phänomen anhand der Containerisierung des Sozia­len. Diese Verfahren werden zwar verstärkt in der New Yorker Subway mobilisiert, können aber als wirkmächtiges Paradigma in der gesamtgesellschaft­ lichen Organisa­tion der technischen Moderne gelten. Wenn sich vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein sozia­les Dispositiv des Containers wie des Containment in den west­lichen Gesellschaften entfaltet, wie Alexander Klose und Jörg Potthast gezeigt haben, finden sich in der Transitlogistik der New Yorker Subway eine ihrer frühsten Anwendungsbereiche.37 36 Baudrillard, Jean: Kool Killer oder Der Aufstand der ­­Zeichen, Berlin: Merve 1978. 37 Vgl.: Klose, Alexander und Potthast, Jörg: »Container/Containment: Zur Einleitung«, Tumult 38 (2012), S. 8 – 12; Klose, Alexander: Das Container-­Prinzip: Wie eine Box unser Denken verändert, Hamburg: Mare Verlag 2009.

Bemerkungen zum Schluss  |

Bei aller Vielfältigkeit der Subjektformen des Passagiers in der New Yorker Subway sind in der Analyse immer wieder die Wirkmächtigkeit von Verfahren der Containerisierung wie des Containments zutage getreten. Sie zeigen sich beispielsweise in den logistischen Wissenstechniken der Normierung und des Blackboxing der Passagiere sowie den Vereinzelungsdiagnosen der Soziologie und Kulturtheorie am Ende des Maschinenzeitalters. Ebenso finden sie in den Wahrnehmungsmodellen der visuellen Regime Anwendung, in denen die Passagiere als durch äußere Signale steuerbar adressiert werden. Zugleich werden die Techniken der Containerisierung in den Verhaltenstechniken der Abschottung und Abkapselung produktiv gemacht, die auf die Verstärkung der Differenz ­zwischen den Innenwelten der Passagiere und ihren technischen Umwelten abzielen. Auch in den Beschwerdebriefen wird ­dieses Moment thematisch, wenn die Passagiere die Transgressionen eben dieser ra­tionalen Verhaltensmodelle emo­tionalen Containments beklagen. In den neueren Appellen an die Verantwortung und Wachsamkeit der Passagiere formiert sich zudem ein Ideal von sich nun wechselseitig steuernden und regulierenden Containersubjekten, die proaktiv an der Beseitigung von Störungen und Abweichungen mitarbeiten sollen. Im Bestreben der Betreiber, Teile der Kontrollinstanzen des Systems an die Nutzer zu delegieren, bekundet sich ein neues Ideal des Passagiers als »smarter« Container. Die vielfältigen Verfahren der Containerisierung und des Containments erweisen sich jedoch nicht nur als konstitutiv für die New Yorker Passagierkultur – sie lassen sich auch in zahlreichen anderen Bereichen des Sozia­len beobachten. Der Architekturtheoretiker Lieven de Cauter sieht in der immer weiter fortschreitenden Containerisierung der Subjekte sogar einen zentralen Indikator für einen allgemeinen »Anbruch der Kapsel-­Gesellschaft«.38 Für ihn avancieren die Verfahren der Containerisierung zu einem zentralen Programm moderner Gesellschaftsorganisa­tion überhaupt. Dabei deutet de Cauter die massenhafte Verbreitung von Technologien der mobilen Einschließung und Exklusion als Vorzeichen einer dystopischen Gesellschaftsordnung, deren Insignien die Zunahme von Kontrolle und sozia­ler Fragmentierung sowie die ubiquitäre Ausbreitung neoliberaler Verwertung und Ausbeutung sind.39

38 De Cauter, Lieven: »Die Kapsel und das Netzwerk: Bausteine zu einer allgemeinen ­Theorie«, Tumult 38 (2012), S. 77 – 85, hier S. 84. 39 Vgl. dazu auch: Klose, Alexander: »Who do you want to be today? Annäherungen an eine ­Theorie des Container-­Subjekts«, in: Insa Härtel und Olaf Knellessen (Hrsg.): Das Motiv der Kästchenwahl: Container in Psychoanalyse, Kunst, Kultur, Psychoanaly­ tische Blätter 31, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 21 – 38.

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Eine ähn­lich pessimistische Einschätzung der Containerisierung gibt auch der franzö­sische Philosoph Michel de Certeau im Kapitel Schiff und Kerker seiner Studie Die Kunst des Handelns.40 Wie der Titel schon vermuten lässt, beschreibt de Certeau den Passagier als hilflosen Gefangenen des Containers, der mit Betreten der Infrastruktur auf Gedeih und Verderb dem »Raster der technokratischen Disziplin«41 unterworfen wird: »Während er unbeweg­lich bleibt, wird der Reisende verstaut, nummeriert und kontrolliert im Planquadrat des Waggons, dieser vollkommenen Verwirk­lichung einer ra­tionalen Utopie.«42 Mag für de Certeau das Schiff noch die »Heterotopie par excellence«43 gewesen sein, die in vielerlei Hinsicht als Gegenort gesellschaft­licher Machtverhältnisse fungierte, markiert der Waggon nun die autoritäre Verwirk­lichung des hegelianischen Vernunftstaats. Als unentrinnbare »ra­tionalisierte Zelle«44 bildet er zugleich das Endstadium der Subjektivierungsinstanzen des Transits. Die völlige Unterordnung der Passagiere unter die ra­tional-­technischen Imperative der Containerisierung lässt das System nun selbst in den Hintergrund treten und den Charakter einer Blackbox annehmen. Für de Certeau eröffnen allein noch diese Momente sozia­ler wie kognitiver Entlastung ein Aufscheinen der Restsubjektivität der Passagiere. Die flüchtigen Momente des Innehaltens und der Tagträumerei erlauben eine letzte »Robinsonade der reisenden schönen Seele«45 inmitten der totalitären Kontroll- und Disziplinierungsregime des Transits. Mit ­diesem melancho­lischen Bild des Passagiers könnte diese Untersuchung enden. Allerdings bleibt in den pessimistischen Prognosen de Certeaus wie De Cauters unterbe­lichtet, dass sich in diesen Subjektivierungsregimen durchaus auch neue Freiheiten eröffnen können. Gerade anhand der New Yorker Subway sind die Ambivalenzen ­zwischen den Zumutungen, die den Passagieren abverlangt werden, und den Emanzipa­tionspotenzialen, die sich durch die Dispositive des Transits etablieren, immer wieder deut­lich geworden. So haben sich beispielsweise in der Rekonstruk­tion der Prozesse, die zum Bau der Subway führten, die immensen Hoffnungen und Erwartungen gezeigt, die mit dem zukünftigen Dasein als Passagier verknüpft waren. Zwar fällt diese Beurteilung ­später ambivalent aus, allerdings erkennt man immer wieder Momente der Autonomie und Selbstbestimmung, die mit der Nutzung dieser Infrastrukturen verbunden sind. 40 41 42 43

Vgl. De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. Ebd., S. 213. Ebd., S. 209. Ebd. Zum Begriff der Heterotopie vgl. Foucault, Michel: »Von anderen Räumen«, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 317 – 329, hier S. 327. (Hervorhebung im Original). 44 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 209. 45 Ebd., S. 213 f. (Hervorhebung im Original).

Bemerkungen zum Schluss  |

Dass sich ab den 1950ern die kritischen Diagnosen der Passagierkultur mehren, welche die Isola­tion und Entfremdung sowie das Ausgeliefertsein in den Apparaturen des Transits herausheben, könnte statt als Beleg für eine unumkehrbare lineare Entwicklung auch als Symptom einer periodisch sich abwechselnden Konjunktur von De-­Containerisierung und Re-­Containerisierung gelten. Deren Dynamiken umreißt Alexander Klose wie folgt: Jeder Festschreibung und Etablierung eines bestimmten Standards für Personenbeförderungsmittel – Geschwindigkeit, verfügbarer Raum pro Passagier, Verhaltensvorschriften, Logistik des Ein- und Aussteigens, aber auch Ziele und Zwecke der Beförderung – folgen De-­Containerisierungsbewegungen, sei es durch das Ausweichen auf andere Verkehrsmittel, sei es durch die Rückeroberung individueller Spielräume mittels devianter Verhaltensweisen.46

Auch in dieser Untersuchung ist immer wieder deut­lich geworden, dass sich das Beharren der Passagiere auf Selbstbestimmtheit unter anderem in Situa­tionen der Trägheit und des Eigensinns zeigt, in denen sich die Subjekte immer wieder den Anforderungen und Zumutungen des maschinellen Transits entziehen. Erscheinen sie in den Augen der Ingenieure, Logistiker und Ordnungskräfte primär als Störungsquellen, Querulanten oder unberechenbare Elemente eines fragilen technischen Systems, zeigt sich vielleicht gerade darin ein emanzipatorischer Aspekt. Diese Situa­tionen der Devianz eröffnen so den Blick auf die Momente der Beharr­lichkeit und Selbstbestimmung der Passagiere jenseits der Kontroll- und Subjektivierungsinstanzen urbaner Infrastrukturen. Folgt man dieser Spur, ist es doch zu bezweifeln, ob die Passagiersubjekte gänz­lich in den technischen Regimen aufgelöst werden, ähn­lich wie dies Foucault für das Menschenbild der modernen Humanwissenschaften prophezeit, das verschwindet »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.47 Wie nicht zuletzt die Geschichte der New Yorker Subwaypassagiere gezeigt hat, sind die Subjekte doch auch immer wieder eins: Sand im Getriebe.

46 Klose, Alexander: »Die Containerisierung des Passagiers«, Blätter für Technikgeschichte 75/76 (2014), S. 69 – 86, hier S. 72. 47 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 462.

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Taf. 1: Cover des Subway Hits »Come Take a Ride Underground«, Shapiro, Remnick and Company, New York, 1904.

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Taf. 2: The Subway Sun. Volume 2. Nummer 8, Mai 1919.

Taf. 3: The Subway Sun. Volume 23 Nummer 19, Mai 1920.

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Taf. 4: The Subway Sun. Volume 1. Number 3, 7. September 1918.

Taf. 5: The Subway Sun. Number 34A, [ca. 1924].

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Taf. 6: The Elevated Express. Volume 6. Number 9, April 1923.

Taf. 7: The Subway Sun. Volume 10. Number 3, [vermutlich September, 1927].

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Taf. 8: The Subway Sun. Nummer 52, [ca. 1924].

Taf. 9: The Elevated Express. Volume 11. Nummer 32, 1928.

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Taf. 10: Subway Carcard illustriert von Paul Rand (1947).

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Taf. 11: Subway Carcard illustriert von Erik Nitsche (1947).

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Taf. 12: Subway Carcard illustriert von E. McKnight Kauffer (1947).

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Taf. 13: Subway Carcard illustriert von Paul Rand (1947).

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Taf. 14: Subway Carcard illustriert von Sascha Maurer (1947).

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Taf. 15: Fortunato Depero: Subway, Crowds to the Underground Trains. 1930. Tinte auf Pappe, ca. 60 cm × 90 cm.

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Taf. 16 – Taf. 18: Passagierporträts aus der Fotoserie von Walker Evans: Many are Called (1938 – 1941).

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Taf. 19: George Tooker, The Subway, 1950. Temera auf Holz, 46 × 91.8 cm.

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Taf. 20: Bruce Davidson: USA. New York City. 1980. Subway.

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Taf. 21: Christopher Morris: »Discarded newspapers and trash on the floor of a subway car, 1981.«

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Taf. 22: Angehörige der Passagiermiliz »Guardian Angels« im Jahre 1979 (Foto: Bruce Davidson, 1980).

LITERATUR- UND QUELLENNACHWEISE Archivmaterial 1 [Anonym]: »96 Out of 100 Have Nickels Ready«, Electric Railway Journal 59/1 (1922), S. 56. [Anonym]: »Anzeige der Perey Manufacturing Company«, Electric Railway Journal 58/13 (1921), S. 169. [Anonym]: »Courtesy Phrases Standardized«, B. R. T. Monthly (1917), S. 2 – 7. [Anonym]: »Modern Martyrdom«, New York Herald (2. Oktober 1864). [Anonym]: »Negroes Slay Youth In Subway; One Of Many New York Murders.«, The Gadsden Times (14. März 1965). [Anonym]: A History of Turnstiles in the New York City Subways, Manuskript, undatiert, 16 Seiten. [Anonym]:»G-E automatic Electric Turnstile, Pre-Bulletin 44316, General Electric Company, September 1923, S. 2, File: Turnstiles. »Miscellanea: Complaints.« Konvolut von 8 Boxen mit ca. 8000 Beschwerdebriefen, internen Gutachten und Protokollen von Oktober 1954 bis Juni 1958 sowie vom Januar 1963 bis Dezember 1968. Box 1: Oktober 1954 – Dezember 1956 Box 2: Januar 1957 – Juni 1958 sowie Januar – Dezember 1963 Box 3: Januar – August 1964 Box 4: September 1964 – März 1965 Box 5: April 1965 – Januar 1966 Box 6: Februar – Dezember 1966 Box 7: Januar – Dezember 1967 Box 8: Januar – Dezember 1968 Arnold, Bion J.: Report No. 1 – 7 on the Subway of the Interborough Rapid Transit Company of New York City, New York City: Public Service Commission 1909. Chandler, Charles Frederick: Subway Air Pure as in Your Own Home, New York 1904. Coppola, Philip Ashforth: Silver Connections: A Fresh Perspective on the New York Area Subway Systems, Bd. 3, Maplewood, New Jersey: The Four Oceans Press 1988. Curtis, Samuel R.: »Omnibuses«, The New York Times (26. Mai 1860). De Casseres, Benjamin: »Darwin Defied In Our Subways«, The New York Times (16. April 1922), S. 52. Department of Health: Brief History of the Campaign Against Tuberculosis in New York City, New York City 1908.

1 Hier sind die in dieser Arbeit verwendeten Quellen aus dem New York Transit Museum Archive aufgeführt. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie Bücher aus der Bibliothek des Archivs werden hier allerdings nur aufgelistet, wenn sie anderweitig nicht (oder nur sehr schwer) zugänglich sind. Ansonsten finden sie sich in der allgemeinen Bibliographie.

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|  Literatur- und Quellennachweise

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Literatur- und Quellennachweise  |

Weber, Adna F.: »Rapid Transit and the Housing Problem«, Municipal Affairs 6 (1902), S.  408 – 417. Zolotow, Maurice: »Manhattan’s Daily Riot«, The Saturday Evening Post (April 1945).

Literatur

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|  Literatur- und Quellennachweise

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BILDNACHWEISE Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20:

Courtesy of New York Transit Museum. Entnommen aus Cudahy 1995. Entnommen aus Range 2002. Entnommen aus Brooks 1997. Entnommen aus Brooks 1997. Entnommen aus Brooks 1997. Entnommen aus Riis 2004. Entnommen aus Riis 2004. Entnommen aus Riis 2004. Entnommen aus Fischler 1976. Entnommen aus De Casseres 1922. Entnommen aus De Casseres 1922. Entnommen aus Brooks 1997. Entnommen aus Fitzpatrick 2009. Entnommen aus Range 2002. Entnommen aus Arnold 1909. Courtesy of New York Transit Museum. Foto des Autors. Entnommen aus Wilson/Pilgrim/Tashjian 1986. Entnommen von der Website der Perey Company: http://www.turnstile. com/history/ (letzter Zugriff: 2. 3. 2015). Abb. 21: Entnommen aus Arnold 1909. Abb. 22: Courtesy of New York Transit Museum. Abb. 23: Entnommen aus The City Club of New York 1930. Abb. 24: Entnommen aus Brooks 1997. Abb. 25: Courtesy of New York Transit Museum. Abb. 26: Entnommen aus Giovannini/Amash 2004. Abb. 27: Entnommen aus Giovannini/Amash 2004. Abb. 28: Entnommen aus Ovenden 2007. Abb. 29: Entnommen aus Ovenden 2007. Abb. 30: Courtesy of New York Transit Museum. Abb. 31: Entnommen aus Giovannini/Amash 2004. Abb. 32: Courtesy of New York Transit Museum. Abb. 33: Foto des Autors. Abb. 34: Einsehbar im Archiv des New York Transit Museums und unter http://www. pcac.org/wp-content/uploads/2012/04/subway-ridership-032212.pdf (letzter Zugriff: 12. 3. 2015). Abb. 35: Erstellt vom Autor sowie Carey Stumm vom New York Transit Museum Archive. Abb. 36, 37: Fotos des Autors im Archiv des New York Transit Museums.

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|  Bildnachweise

Taf. 1: Taf. 2 – 14: Taf. 15: Taf. 16 – 18: Taf. 19: Taf. 20: Taf. 21: Taf. 22:

Entnommen aus Fitzpatrick 2009. Courtesy of New York Transit Museum. Courtesy of Archivio Depero. Courtesy of Board of Trustees, Na­tional Gallery of Art Washington / Walker Evans Archive. Courtesy of Whitney Museum of American Art, New York. Courtesy Magnum Photos. Entnommen aus Conway 2014. Courtesy Magnum Photos.

DANK Zur Entstehung dieses Buches hat eine Vielzahl von Menschen beigetragen, denen ich für kritische Lektüren, Diskussionen, Ratschläge und Beistand zu besonderem Dank verpflichtet bin. Allen voran möchte ich meinen Dissertationsbetreuern Dorothee Brantz und Hartmut Böhme für all die unermüdliche Unterstützung, Beratung und Ermutigung danken, ohne die die Arbeit in dieser Form sicher nie zustande gekommen wäre. Für anregenden wissenschaftlichen Austausch danke ich zudem den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des transatlantischen Graduiertenkollegs »History and Culture of Metropolises in the 20th Century« (2008– 2010) am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin, den Mitgliedern des Kolloquiums von Hartmut Böhme am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin sowie der NYLON -Gruppe von Richard Sennett und Craig Calhoun an der New York University. Volker Berghahn verdanke ich einen inspirierenden Forschungsaufenthalt an der Columbia University, der diese Arbeit ein wichtiges Stück vorangebracht hat. Der kenntnisreichen Unterstützung von Carey Stumm während den Recherchen im New York Transit Museum Archive habe ich unzählige Einsichten und einige Entdeckungen zu verdanken. Zudem danke ich der Gesellschaft für Stadt- und Urbanisierungsforschung, die diese Arbeit mit einem ermutigenden Forschungspreis ausgezeichnet hat, sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und dem Center for Metropolitan Studies für die finanzielle Unterstützung der Druckkosten. Darüber hinaus möchte ich allen Freundinnen und Freunden, die mich während der Arbeit an diesem Buch unterstützt haben, sei es durch wissenschaftliche Hinweise, sei es durch Anteilnahme, Zuspruch oder Nachsicht, meinen tiefsten Dank aussprechen: Hillary Angelo, Martin Behnke, Stefan Bünnig, Thomas Bürk, Marian Burchardt, Thomas Deittert, Heike Delitz, Sasha DiskoSchmidt,Christian Driesen, Ray Daniels, Theresa Elze, Hanna Engelmeier, Alexander Friedrich, Alexander Klose, André Reichert, Jutta Schinscholl, Ulrich Johannes Schneider und René Umlauf. Nicht zuletzt gebührt mein Dank Janin Zingelmann und meinen Eltern, Cornelia und Frank Höhne. Sie haben nicht nur jede Zeile dieses Manuskripts gelesen, ohne ihren Ansporn und Trost hätte diese Arbeit wohl nie zu einem glücklichen Ende gefunden. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im Frühjahr 2016.

NAMENSREGISTER Arnold, Bion J. 148, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 170, 180, 183, 189, 245, 276 Beck, Harry 226, 227 Belmont Jr., August 41, 42, 81, 121, 179 Bronson, Charles 346 Chandler, Charles Frederick 93, 234 Darlington, Thomas 234 Davidson, Bruce 344, 346, 363 Depero, Fortunato 34, 249, 254, 255, 362 Evans, Walker 34, 250, 255, 256, 363 Ford, Henry 147, 148, 274 Giuliani, Rudolph 348 Goetz, Bernhard 347, 348 Green, Asa 48 Heins, George Lewis 90, 91, 162, 175, 223 Hylan, John Francis 122 Kubrick, Stanley 215 LaFarge, Christopher Grant 90, 91, 162, 175, 223 LaGuardia, Fiorello 117, 123 Le Bon, Gustave 128, 129, 136 Le Corbusier 110, 272 Lee, Ivy L. 236, 237 March, Reginald 257 Marcuse, Herbert 263, 269, 270 McAdoo, William 67, 98 McClellan Jr., George Brinton 7, 8, 40, 41, 79, 240

McDonald, John 37, 41, 81, 84 McLuhan, Marshall 285, 294 Mills, C. Wright 34, 250, 261, 262 Morley, Christopher 142, 249, 252, 254 Mormile, Andrew A. 280, 291, 322 Morris, Christopher 344, 363 Moses, Robert 273, 274 Mumford, Lewis 25, 34, 251, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 271, 274 Parsons, William 41, 82 Picabia, Francis 246 Riesman, David 34, 251, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 269 Riis, Jacob A. 69, 70, 71, 72, 75, 77 Roper, Elmo 245 Sage, Russell 37, 86, 104 Salomon, George 228, 229 Soper, George A. 235 Speer, Alfred 55, 56 Taylor, Frederick Winslow 145, 146, 148 Tooker, George 34, 256, 261, 363 Vassos, John 148, 167, 168, 169, 171 Vickers, Squire J. 148, 175, 176, 177, 178, 189, 223 Wagner, Robert F. 322, 323 Weber, Adna F. 74, 75, 76, 77 White, E. B. 34, 249, 252, 253, 254 Whitman, Walt 46

UWE LINDEMANN

DAS WARENHAUS SCHAUPLATZ DER MODERNE

Das Warenhaus ist ein zentrales Symbol der Modernisierungsprozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es revolutioniert nicht nur den Einzelhandel, sondern es ist ein Ort, an dem die Moderne in ihrer ganzen Heterogenität, Komplexität und Ambivalenz erfahren werden konnte. Das Buch widmet sich aus transnationaler Perspektive den Debatten, die zeitgenössisch über das Warenhaus geführt wurden. Wenn über das Warenhaus gesprochen wurde, ging es immer ums Ganze: die ganze Wirtschaft, das ganze Volk, den ganzen Staat. Das Buch zeigt, dass das Warenhaus mehr ist als nur ein Symbol. Es muss vielmehr als integraler Schauplatz der Moderne verstanden werden, an dem die Möglichkeiten und Bedingungen der modernen Kultur sowohl praktisch als auch theoretisch verhandelt wurden. 2015. 377 S. 5 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22534-6

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