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German Pages [314] Year 2014
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand
Band 7 Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Michael Sauer, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John, Marko Demantowsky und Alfons Kenkmann
Tobias Arand / Manfred Seidenfuß (Hg.)
Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses
Mit 5 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0278-6 ISBN 978-3-8470-0278-9 Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung Wolfgang Hasberg Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik . . . .
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I. Sektion: Vorstellungen – Was wissen wir darüber, was Lehrer und Schüler über Geschichte wissen und können? Georg Kanert Motivationale Beweggründe für die Wahl des (Geschichts-) Lehrerberufs und des Studienfachs Geschichte . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Kohler »Wo Geschichte näherrückt« – Schülervorstellungen über die Konstruktion von Geschichte im Museum . . . . . . . . . . . .
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Stefanie Paufler-Gerlach »So nah und doch so fern: Schülervorstellungen zum (Lernort) Museum«. Methodologische Überlegungen und ausgewählte Beispiele zum Dissertationsprojekt . . . . . . . . . . . . . .
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Indre Döpcke »Umweltgeschichte – habe ich noch nie unterrichtet.« – Vorstellungen von Lehrpersonen zu einer relevanten Dimension des Fachs Geschichte . 117
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Inhalt
II. Sektion: Reflexionen – Überlegungen zu grundsätzlichen Fragen der Geschichtsdidaktik in Theorie und Praxis Oliver Plessow Vom Rand in die Mitte der Disziplin: historisches Lernen in der non-formalen beziehungsweise »außerschulischen« Jugendbildung und sein Stellenwert in der Geschichtsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . 135 Lena Deuble und Lisa Konrad Geschichtsunterricht in situ – videogestützte Beobachtungen als Chance der geschichtsdidaktischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Robert Dittrich Historische Bildung? – Von der »Renaissance« des Bildungsbegriffs und seiner Relevanz für die geschichtsdidaktische Forschung . . . . . . . 169 Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht: Entwicklung eines Kurzinstruments für die Wirksamkeitsmessung . . . . . . . . . . . . . . 191
III. Sektion: Geschichtskultur – Studien zu Geschichte und Geschichtsbewusstsein als gesellschaftliche Konstruktionen Frank Britsche Erinnerungsfeiern als geschichtskultureller Ausdruck historischen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Sebastian Wemhoff Geteiltes Gedächtnis? Geschichtskultur in Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
IV. Sektion: Vernetzungen – Geschichte in den digitalen Medien und ihre Nutzung für das historische Lernen Manuel Altenkirch Geschichtsschreibung im digitalen Medium – Konstruktion von Geschichte in der »Wikipedia« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Jonathan Peter Collaboration und R¦sistance – der Kampf der Erinnerung im World Wide Web . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Inhalt
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Christoph Pallaske »Bei der Arbeit musste man viel selber denken.« – Individuelles Geschichtslernen mit digitalen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Plenum Sebastian Barsch Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
V. Sektion: Miteinander statt nebeneinander – Geschichte lernen in der globalisierten und multiethnischen Gesellschaft Manuel Köster Identitätsbalance bei widersprüchlichen Identitätsbezügen. Historisches Textverstehen in der multiethnischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 299
Vorwort
Im Oktober 2012 fand in Ludwigsburg zum ersten Mal nach mehrjähriger Pause wieder eine Tagung des geschichtsdidaktischen Nachwuchses in der »Konferenz für Geschichtsdidaktik« (KGD) statt. Die Organisation der Tagung lag in den Händen der Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Ludwigsburg. Anders als die vorangegangenen Tagungen war diese keine Klausurtagung, sondern auch an die interessierte Öffentlichkeit gerichtet. Die Organisatoren der Tagung entschieden sich in Absprache mit dem Nachwuchs in der KGD auch für eine weitere, im Gegensatz zu den bisherigen Gepflogenheiten stehende inhaltliche Änderung: So stand die Tagung diesmal unter keiner übergeordneten Fragestellung, sondern unter dem bewusst offengehaltenen Motto »Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses«. »Neue Wege« soll an die Publikation des Göttinger Pädagogen und Geschichtsdidaktikers Erich Wenigers aus der Nachkriegszeit erinnern, dem für die Konstituierung der Didaktik der Geschichte ein maßgeblicher Beitrag zugeschrieben wird und der so Neues in die Wissenschaftslandschaft einbrachte. Der zweite Bezugspunkt für das Tagungsthema und die Tagungsstruktur ist im Kontext der letzten Jahrestagung der KGD zu sehen, die aus gutem Grunde im September 2013 in Göttingen stattfand, weil hier im Jahre 1973 die erste Tagung der »Konferenz für Geschichtsdidaktik« ausgerichtet wurde. Deshalb sollte dem nach Jahren aufgelaufenen bunten Strauß der doch sehr unterschiedlichen Forschungsvorhaben eine möglichst offene Arena geboten und diese Buntheit auch dem Publikum bewusst gemacht werden. Lediglich durch eine Vorsortierung der Beiträge in einzelne Sektionen wurde vonseiten der Organisatoren inhaltlicher Einfluss auf den Gang der Tagung ausgeübt. Dass diese Entscheidung zwar gut begründet, doch in der Konsequenz für die Herausgeber der Tagungsdokumentation bei der Konzeption des Bandes nicht unproblematisch war, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. So endet hier, anders als bei anderen Tagungsdokumentationen, die Möglichkeit der inhaltlichen, methodischen und stilistischen Einflussnahme der Herausgeber auf
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Vorwort
die einzelnen Beiträge dort, wo die Verantwortung der betreuenden Doktorväter und -mütter beginnt. So haben sich die Herausgeber für diesen Tagungsband weitgehend darauf beschränkt, bereits im Vorfeld zu beraten und in Einzelfällen von einer Veröffentlichung abzuraten. Dies betraf zum einen vorgestellte Projekte, die noch zu sehr in den Anfängen steckten, zum anderen bereits fast abgeschlossene Dissertationen, für die dieser Tagungsband kein angemessenes Podium mehr hätte bieten können. Die Autoren wurden weiterhin angehalten, in ihren Beiträgen Bezug auf Wolfgang Hasbergs (Köln) Einführungsvortrag »Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik« zu nehmen und das besondere Innovationspotenzial des Forschungsvorhabens herauszustellen. Bei einer solchen Breite an Fragestellungen und Methoden, wie sie auf dieser Tagung vorgestellt wurden, kann es nicht ausbleiben, dass eine Dokumentation auch Widersprüchlichkeiten, Fragwürdigkeiten, Zweifelhaftes enthalten muss. Doch sind nicht gerade Widersprüche, offene Fragen, Zweifel Kennzeichen einer tatsächlich diskursiven Wissenschaft, die einer konsensualen oder häufig auch nur pseudokonsensualen Wissenschaft immer vorzuziehen sein wird? Dennoch, oder vielleicht besser gerade deswegen, sind die Herausgeber der Meinung, dass die hier versammelten Tagungsbeiträge eine wichtige Grundlage für die dringend notwendige Diskussion der gerade bei einer Nachwuchstagung sehr naheliegenden Frage bilden können: Wie sieht die Zukunft der Geschichtsdidaktik denn nun aus beziehungsweise wie sollte, wie könnte sie aussehen? Nach dem schon genannten Einführungsvortrag von Wolfgang Hasberg, der Positionsbestimmungen der Disziplin herausarbeitet, wird die erste Sektion »Vorstellungen – Was wissen wir darüber, was Lehrer und Schüler über Geschichte wissen und können?« durch Beiträge von Georg Kanert (Heidelberg), Christian Kohler (Münster), Stefanie Paufler-Gerlach (Aachen) und Indre Döpcke (Oldenburg) vertreten. Kanerts Studie »Motivationale Beweggründe für die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs und des Studienfachs Geschichte« versucht auf Grundlage einer Befragung angehender Geschichtslehrkräfte die Annäherung an ein in der Tat kaum erforschtes Untersuchungsfeld. Zwar ist die Rezeption von Geschichte im Museum ein nicht ganz so unbearbeitetes Feld, doch rücken Kohler und Paufler-Gerlach in ihren Beiträgen beide Schülervorstellungen über die Konstruktion von Geschichte im Museum mit den Lernenden die Hauptzielgruppe der Geschichtsdidaktik in den Vordergrund. Der wachsenden Bedeutung von Umweltgeschichte wird die Studie Döpckes »›Umweltgeschichte – habe ich noch nie unterrichtet‹ – Vorstellungen von Lehrpersonen zu einer relevanten Dimension des Fachs Geschichte« gerecht. Die zweite Sektion, »Reflexionen – Überlegungen zu grundsätzlichen Fragen der Geschichtsdidaktik in Theorie und Praxis« wird durch Oliver Plessow (Kassel), Lena Deuble und Lisa Konrad (Hannover), Robert Dittrich (Köln)
Vorwort
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sowie Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein (Tübingen) vertreten. Oliver Plessow schaut »Vom Rand in die Mitte der Disziplin« und erforscht das »Historische Lernen in der non-formalen beziehungsweise außerschulischen Jugendbildung und seinen Stellenwert in der Geschichtsdidaktik«. Die Methode der Videografie steht bei Lena Deuble und Lisa Konrad im Mittelpunkt des Beitrags »Geschichtsunterricht in situ – videogestützte Beobachtungen als Chance der geschichtsdidaktischen Forschung«. Einer sehr grundsätzlichen Aufgabe stellt sich Robert Dittrich, wenn er den Wert der historischen Bildung unter dem Titel »Historische Bildung? Von der ›Renaissance‹ des Bildungsbegriffs und seiner Relevanz für die geschichtsdidaktische Forschung« diskutieren möchte. Ein valides Instrument für die »Wirksamkeitsvermessung« möchten Christiane Bertram,Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein zum Thema »Zeitzeugenbefragung im Geschichtsunterricht« entwickeln. Die dritte Sektion stand unter dem Titel »Geschichtskultur – Studien zu Geschichte und Geschichtsbewusstsein als gesellschaftliche Konstruktionen«. Aus dieser Gruppe sind in diesem Band Frank Britsche (Leipzig) und Sebastian Wemhoff (Münster) vertreten. Frank Britsche beschäftigt sich mit »Erinnerungsfeiern als geschichtskultureller Ausdruck historischen Bewusstseins« am Beispiel von Erinnerungsfeiern im Leipzig des 19. Jahrhunderts, Sebastian Wemhoff unter der Fragestellung »Geteiltes Gedächtnis?« mit der wechselvollen Geschichtskultur Straßburgs im 19. und 20. Jahrhundert. Gut repräsentiert ist die vierte Sektion, »Vernetzungen – Geschichte in den digitalen Medien und ihre Nutzung für das historische Lernen« durch Manuel Altenkirch (Heidelberg), Jonathan Peter (Kassel) und Christoph Pallaske (Köln). Ein sehr populäres Medium untersucht Manuel Altenkirch, indem er sich der »Geschichtsschreibung im digitalen Medium« am Beispiel der »Wikipedia« annimmt, während sich Jonathan Peter mit »Collaboration und R¦sistance« als Gegenstand populärer Websites beschäftigt. Christoph Pallaske stellt mit der Lernplattform »segu« unter dem Titel »›Bei der Arbeit musste man viel selber denken‹ – individuelles Geschichtslernen mit digitalen Medien« ein selbst entwickeltes Arbeitsmedium vor. Zwischen die Sektionen war eine Plenumsveranstaltung eingeschaltet, die sich dem Thema »Inklusion und historisches Lernen« widmete. Hier ist Sebastian Barsch (Köln) mit dem Beitrag »Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf« vertreten. Die fünfte Sektion stand unter dem Motto »Miteinander statt nebeneinander – Geschichte lernen in der globalisierten und multiethnischen Gesellschaft«. Vertreter dieser Sektion ist nur Manuel Köster (Münster). Köster widmet sich unter dem Titel »Identitätsbalance bei widersprüchlichen Identitäten« dem »Historischen Textverstehen in der multiethnischen Gesellschaft«.
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Vorwort
Aus der sechsten Sektion, »Schauen – Film als Gegenstand und Medium historischen Lernens« hat es zum Bedauern der Herausgeber aus unterschiedlichen Gründen kein Vortrag als Beitrag in den Tagungsband geschafft. Zum Schluss gilt es, allen Dank auszusprechen, ohne die dieser Tagungsband nicht denkbar gewesen wäre. Bei der Erstellung dieses Bandes haben tatkräftig mitgewirkt: Wolfgang Weidner, der die Manuskripte sortiert und den Redaktionsrichtlinien angeglichen hat, Annekatrein Löw M. A., die ein wissenschaftliches Lektorat des Bandes vorgenommen hat. Beide haben in vielen Stunden akribischer Arbeit das Erscheinen dieses Bandes überhaupt erst möglich gemacht. Dafür sei Ihnen der herzliche Dank der Herausgeber ausgesprochen. Herzlich gedankt werden soll an dieser Stelle auch der KGD, die diesen Tagungsband finanziert hat, sowie den Sponsoren und Unterstützern der Tagung, die ebenfalls einen großen Beitrag zum Gelingen der Unternehmung geliefert haben: die »Stiftung Kunst, Kultur und Bildung der Kreissparkasse Ludwigsburg«, die »Freunde der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg«, die Rektorate der Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Ludwigsburg sowie der Klett-Verlag Stuttgart. Manfred Seidenfuß Heidelberg Im Sommer 2014
Tobias Arand Ludwigsburg
Einführung
Wolfgang Hasberg
Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik1
»Venio Romam iterum crucifigi«, lautete bekanntlich die Antwort des auferstandenen Christi, als er Petrus auf dessen Flucht aus Rom unweit des Lateran auf der Via Appia begegnete, der ihn fragte: »Quo vadis?«2 Nicht die mangelnde Bereitschaft, um der Geschichtsdidaktik willen ein schweres Schicksal zu erdulden, ließ es geraten erscheinen, nicht dieses bedeutungsschwere Wort als Titel für den vorliegenden Beitrag zu wählen. Vielmehr die Fahrlässigkeit, mit der diese Wendung nicht selten in Gebrauch genommen wird, auch in geschichtsdidaktischen Zusammenhängen.3 Es geht darin ja nicht allein um die Frage nach der Zukunft. Die Zukunft des Petrus liegt in der Umkehr, die ihm – vordergründig betrachtet – zum Verhängnis wird, in Wirklichkeit aber das Heil des Märtyrertodes einträgt. Lateinkundige werden gestutzt oder bemerkt haben, dass im Titel die Zeitdimensionen »Vergangenheit« und »Zukunft« miteinander verknüpft werden. Versucht werden soll, die sich auftuende Spannung, die aus einem Zeitunterschied hervorgeht und folglich einen diese Zeitdifferenz überbrückenden Sinnentwurf erfordert, aus dem Blickwinkel des »Nachwuchses« zu beantworten. Dahinter steht die Prämisse, dass nur Zukunft hat, was Herkunft besitzt. Voraussetzung, Zukunft verantwortlich zu gestalten, ist, gelegentlich innezuhalten und sich Rechenschaft über das Errungene, aber auch das Versäumte zu geben. Das gilt für die Disziplin insgesamt, das gilt vor allem aber für den 1 Nachwuchsarbeit findet nicht vor allem auf entsprechenden Konferenzen statt, sondern im täglichen Austausch. Deshalb sei an dieser Stelle allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für den Anteil gedankt, den sie durch den diskursiven Austausch an diesem – wie an vielen anderen – Ausführungen haben. Stellvertretend hervorgehoben sei, zumal er in Ludwigsburg nicht anwesend war, Wolfgang Labonde. 2 Acta Pauli et Theclae, ed. Lipsius, Richard Adelbert, in: Acta apostolorum apocrypha, Bd. 1, hrsg. v. Max Bonnet/Richard Adelbert Lipsius. Leipzig 1891. Deutsche Übersetzung bei Oscar von Gebhardt: Die lateinischen Übersetzungen des Acta Pauli et Theclae. Leipzig 1902, oder bei Edgar Hennecke (Hrsg.): Apokryphen, Tübingen 1904. 3 Joachim Rohlfes: Quo vadis? In: Olaf Hartung/Katja Köhr (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift Karl Heinrich Pohl. Bielefeld 2008 , S. 9 – 25.
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Wolfgang Hasberg
»Nachwuchs«, denn man wird ja »Historiker, wie man auch Zahnarzt wird, indem man eine spezialisierte Ausbildung durchläuft; man bleibt Historiker, wie man Zahnarzt bleibt, wenn die eigene Arbeit bei den eigenen Patienten (oder Lesern) Anklang findet.«4 Wenn dem so ist und auch für den Geschichtsdidaktiker gilt, dann muss man sich gerade, wenn man am Anfang des Weges steht, klar darüber werden, welchen Ansprüchen es gerecht zu werden gilt, um Geschichtsdidaktiker zu werden, zu bleiben und davon auch noch seine Adressaten zu überzeugen. Es gehört schon so etwas wie ein Bekenntnis dazu, sich einer scientific community anzuschließen – nicht nur, aber, wie es scheint, ganz besonders auf dem Feld der Geschichtsdidaktik. Wenn an dieser Stelle also Betrachtungen über die Zukunft der Geschichtsdidaktik angestellt werden, ruhen diese auf dem Bekenntnis, Geschichtsdidaktiker zu sein – was freilich nicht möglich ist, ohne zuvor zu klären, was Geschichtsdidaktik ist. Nimmt man die folgenden Betrachtungen aber – zumindest zu einem Teil – als Bekenntnis, ist der Brückenschlag zu Augstinus’ »Confessiones« nicht mehr weit, der in seiner für das Abendland so wirkmächtigen Schrift bekanntlich seine Verfehlungen vorträgt, die ihn bis zu seiner Gotteserkenntnis begleitet haben.5 Ob die folgenden Betrachtungen Offenbarungserlebnisse werden evozieren können, muss wohl bezweifelt werden. Darum aber geht es an dieser Stelle auch nicht in erster Linie. Der Rekurs auf Augustinus führt vielmehr auf die bereits verfolgte historische Fährte zurück. Denn sich seiner Lebensgeschichte zu versichern, gehört für Augustinus zu seinem Bekenntnis vor Gott und den Menschen. Soweit muss man nicht gehen. Man muss nicht die eigene Lebensgeschichte ausbreiten. Gleichwohl soll versucht werden, aufgrund der Basis des eigenen Miterlebens einige Schlaglichter auf die Disziplin und ihre Entwicklung zu werfen. Auf alle Fälle handelt es sich bei den folgenden Betrachtungen implizit um »Confessiones«, die manch einer als unzeitgemäße Betrachtungen erachten mag. Aber bekanntlich sind unzeitgemäße Betrachtungen gelegentlich von lang dauernder Wirkmächtigkeit.6
4 Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Berlin 1995, S. 17. 5 Die »Bekenntnisse« des nordafrikanischen Rhetors und Bischofs Aurelius Augustinus, eine der grundlegenden Kirchenväterschriften, veröffentlichte dieser 397/398 n. Chr. 6 Bezug genommen ist an dieser Stelle offenkundig auf Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874). In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abtl., Bd. 1, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin 1972, S. 239 – 330.
Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik
1.
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Paradigma – Maßeinheit wissenschaftlicher Entwicklung
Wer den Zustand einer wissenschaftlichen (Teil-)Disziplin beschreiben will, tut gut daran, sich einen Orientierungsrahmen zu verschaffen, mit anderen Worten: sich einer Theorie zu bedienen. Wissenschaftstheorien gibt es viele. Insofern es bei den vorliegenden Betrachtungen um Veränderungen in der Zeit geht, empfiehlt es sich, eine Theorie heranzuziehen, welche Kategorien zur Verfügung stellt, die Veränderungen der Wissenschaft(en) in der Zeit beschreibbar werden lassen. Thomas S. Kuhns (1922 – 1996) Buch zur »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« kann dabei hilfreich sein, die Bedingungen von Veränderungen zu erklären, die in der Didaktik der Geschichte stattgehabt haben. Dabei erscheint der Essay des US-amerikanischen Wissenschaftstheoretikers keineswegs so atemberaubend, wie es ihm gelegentlich unterstellt wird. Schließlich folgt er einer einfachen Revolutionstheorie, wonach auf einen Normalzustand eine Krise folgt, die durch eine Revolution überwunden und in einen neuen Normalzustand überführt wird.7 Ob es opportun ist, dem wissenschaftlichen »Nachwuchs« die Regeln wissenschaftlicher Revolutionen zu erläutern, mag aus der Sicht der Älteren bezweifelt werden. Vielleicht aber täten ein paar Revolutionen der Geschichtsdidaktik durchaus gut. Zudem kann man der Auffassung sein, dass Revolutionen – zumindest in dem Sinne, wie Th. S. Kuhn sie definiert – die Jugendlichkeit bewahren können. Doch darum geht es hier nur am Rande. Dass eine Theorie von solcher Allgemeinheit, wie sie Th. S. Kuhn mehr skizziert denn ausgemalt hat, auf verschiedene Bereiche und so auch auf die Wissenschaft zu übertragen ist,8 ist nicht das, was sie im vorliegenden Zusammenhang interessant macht. Es ist vielmehr die Theorie von der wissenschaftlichen Revolution als einem Wandel von Paradigmata, die sie berücksichtigenswert erscheinen lässt. Dabei ist »Paradigma« ein derart schillernder Begriff, dass Th. S. Kuhn ihn erst im Postskriptum der zweiten Auflage seines epochemachenden Bändchens einigermaßen klar zu umreißen vermochte. Allerdings liege gerade in seiner begrifflichen Unschärfe seine heuristische Potenz, meint der Verfasser. Und ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Wer sich auf die Suche begäbe, exakte Regelsysteme historischer oder geschichtsdidaktischer Forschung zu erkunden, dessen Fassungsvermögen würde allzu bald bersten. Er wird daher nach einem gemeinsamen Nenner, nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen haben, um die Übersicht nicht zu verlieren. Vielleicht ist es das, was Th. S. Kuhn 7 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. (Frankfurt a. M. 1969), 2., rev. Aufl. Frankfurt a. M. 1976 (engl. Orig. Chicago 1962/1970). Vgl. Ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 1978. 8 Skepsis an einer solch weiten Übertragbarkeit und an ihrer Rezeption für die Geschichtsdidaktik äußerten bereits Horst Jung/Gerda von Staehr : Didaktik der Geschichte. Köln 1983, S. 27 – 32.
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Wolfgang Hasberg
mit Paradigma meint, wenn er vier Elemente auflistet, aus denen es sich zusammensetzt:9 1. Symbolische Verallgemeinerung (Formel = Begriff im engeren Sinne), 2. Bindung an (gemeinsame) Auffassungen (leitende Hinsichten = Begriff im weiteren Sinn), 3. Werte (die den Erkenntnisprozess steuern und allgemeiner sind als symbolische Verallgemeinerung), 4. Musterbeispiele wissenschaftlicher Praxis (Methodologie, Methodik). Diese vier Elemente machen einen umfassenden Begriff von Paradigma aus, den Th. S. Kuhn später als »disziplinäre Matrix« bezeichnete.10 Das kann man mit Hilfe von Jörn Rüsen in eine bislang weitgehend unberücksichtigt gebliebene »disziplinäre Matrix der Geschichtsdidaktik« übersetzen, die an dieser Stelle in modifizierter Form wiedergegeben wird:
Abb.: Disziplinäre Matrix historischen Denkens nach J. Rüsen in einer Bearbeitung von W. Hasberg.11 9 Kuhn 1976 (Anm. 7), S. 194 – 198; Ders.: Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigmas. In: Ders. 1978 (Anm. 7), S. 389 – 420, nennt nur drei Elemente des Paradigmas: Symbolische Verallgemeinerung, Modelle und Musterbeispiele. 10 Insbesondere Kuhn 1976 (Anm. 7), S. 392 f. 11 Zuerst bei Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze
Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik
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Vermutlich würde die Anwendung dieser Matrix differenziertere Befunde zutage fördern als die ursprüngliche von Th. S. Kuhn, die zum einen weitläufiger ist, das heißt über die disziplinäre Matrix hinausreicht, und andererseits das, was J. Rüsen »leitende Hinsichten« nennt, stärker ausdifferenziert. Deshalb soll hier am Paradigma-Begriff festgehalten werden, zumal der verfügbare Raum und die vorgegebene Zielsetzung, kontroverse Diskussionen anzuregen, einen eher feuilletonistischen Zugriff empfehlen. Bleiben wir also einstweilen bei dem ursprünglichen Paradigma-Begriff und nutzen ihn, indem wir danach fragen, 1. welche bindenden Auffassungen in der Geschichtsdidaktik gültig sind, 2. welche symbolischen Verallgemeinerungen/Verdichtungen sich in der Geschichtsdidaktik erkennen lassen, 3. welche Werte die Wissenschaftsdisziplin Geschichtsdidaktik bestimmen, 4. welchen methodologischen Grundsätzen oder methodischen Mustern die Geschichtsdidaktik folgt.
2.
Geschichtsdidaktik heute – eine normale Wissenschaft?
Während langfristige Entwicklungen in der Geschichtsdidaktik eher stiefmütterlich behandelt werden,12 liegen Analysen zum gegenwärtigen Stand der Diszum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nicht-narrativistische Faktoren. In: Internationale Schulbuchforschung 17 (1996), S. 501 – 544, hier S. 518. Modifiziert zuletzt bei Wolfgang Hasberg: Historiker oder Pädagoge? In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 159 – 179, hier S. 176 – 179. 12 Neben den Sammelbänden von Klaus Bergmann/Gerhard Schneider (Hrsg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1982, u. Paul Leidinger (Hrsg.): Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Stuttgart 1988; Siegfried Quandt: Deutsche Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Paderborn 1978; Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Geschichtsdidaktik(er) im Griff des Nationalsozialismus? Münster 2005; Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945. Berlin 2008, liegen Spezialstudien vor, wie Hilke Günther-Arndt: Geschichtsunterricht in Oldenburg 1900 – 1930. Oldenburg 1980; Jochen Huhn: Politische Geschichtsdidaktik. Kronberg/ Ts. 1975; Marko Demantowsky : Die Geschichtsmethodik in der SBZ und DDR. Idstein 2003; Heike Mätzing: Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus. Hannover 1999 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 96); Friedemann Neuhaus: Geschichte im Umbruch. Frankfurt a. M. u. a. 1998; Ulrich Baumgärtner : Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte. Idstein 2007 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 21); Reinhard Krammer : Intention und Prozess im Geschichtsunterricht. Innsbruck 2008; Monika Fenn: Zwischen Gesinnungs- und Sachbildung: die Relevanz der Kategorie Heimat in Volksschulunterricht und Lehrerbildung in Bayern seit 1945. Idstein 2008 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 23); Sven Pflefka: Zwischen nationaler Gewissheit und transnationalen Hoffnungen: Geschichtsdidaktisches Denken dies- und jenseits der nationalen Kategorie in der Spätphase des Wilhelminischen Kaiserreiches und in der Weimarer Republik. Idstein 2011 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 27). Zuletzt sieh Bernd Mütter : Die
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Wolfgang Hasberg
ziplin vielfältig vor, sei es in den »Berichten zum Stand der Disziplin«, wie der oder die Vorsitzende der KGD sie im turnusmäßigen Abstand der Zweijahrestagungen vorträgt, oder wie Horst Kuss, Michael Sauer, Joachim Rohlfes und andere die (kurzfristige) Entwicklung seit etwa 1970 in ihren eher der Gelegenheitsliteratur zuzurechnenden Schriften skizziert haben.13 Bernd Schönemann hat 2007 die Entwicklung dieser Zeitspanne als eine der »erweiterten Perspektiven« beschrieben, wobei er fünf solche Erweiterungen ausmacht:14 1. Lernzielorientierung 2. empirische Forschung 3. lernmethodische Wende 4. nationale Dezentrierung 5. Hinwendung zur Geschichtskultur Auffallend ist zunächst, dass die namhaft gemachten Innovationen, zumindest die ersten drei, – auch wenn B. Schönemann das nicht in dieser Weise realisiert – von außen an die Geschichtsdidaktik herangetragen wurden. Für die lernmethodische Wende mag man das bezweifeln, indes steht auch in Frage, ob eine solche in der Geschichtsdidaktik tatsächlich stattgehabt hat. Dass sie eine nationale Dezentrierung vollzogen hat, scheint dagegen weniger zweifelhaft,15 Entstehung der Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin in der Epoche der Weltkriege. Oldenburg 2013 (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft, Bd. 14). Als eine Art Geschichte mit spezifischem Topos kann auch betrachtet werden: Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung, 2 Bde. Neuried 2001. 13 U. a. von Horst Kuss: Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland (1945/49 – 1990). Eine Bilanz. In: GWU 45 (1994), S. 735 – 758 u. 46 (1995), S. 3 – 15; Joachim Rohlfes: Streifzüge durch den Zeitgeist der Geschichtsdidaktik, 50 Jahre GWUJahrgänge. In: GWU 51 (2000), S. 224 – 240 u. Michael Sauer : Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht heute. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer für mehr Pragmatik. In: GWU 55 (2004), S. 212 – 232. Vgl. auch Bodo von Borries: Geschichtsdidaktik am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Wie weiter? Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2001, S. 7 – 32. Wenig erhellend zuletzt Michael Klöcker : Aktuelle Weiter- und Fortführungen der Geschichtsdidaktik (Fazit 2003). In: Ders.: Religionen und Katholizismus, Bildung und Geschichtsdidaktik. Frankfurt a. M. 2011, S. 587 – 606, u. Anke John: Disziplin am Scheideweg. Die Konstituierung einer universitären Geschichtsdidaktik in den 1970er-Jahren. In: Michele Barricelli/Axel Becker/ Christian Heuer (Hrsg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelt und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert. Schwalbach/Ts. 2011, S. 192 – 213. 14 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik in erweiterten Perspektiven. Versuch einer Bilanz nach drei Jahrzehnten. In: Saskia Handro/Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Identität – Bildungsgeschichte – Politik. Karl Ernst Jeismann zum 50jährigen Doktorjubiläum. Münster 2007 (ZfL-Texte, Bd. 18), S. 9 – 30. 15 Zumindest hat die Geschichtsdidaktik eine internationale Ausweitung erfahren, die seit 1980 von der »Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik« und seit 2012 partiell von der »International Society of History Didactics« (ISHRD) getragen wird. Dass es einen ein-
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allerdings ist fraglich, ob diese in der Praxis der Geschichtsvermittlung angelangt ist. Bleibt die Hinwendung zur Geschichtskultur, die an späterer Stelle zu erörtern sein wird. Selbstverständlich wird man mit einer solch summarischen Auflistung von Erweiterungen immer hadern und in Zweifel ziehen können, ob es sich um paradigmatische Veränderungen handelt. Denn die hinter diesen Beobachtungen liegende systematische Schablone wird nicht transparent. Sie scheint in erster Linie inhaltlich bestimmt zu sein und damit quer zum Paradigma-Begriff von Th. S. Kuhn zu liegen, dem hier gefolgt werden soll.
2.1
Bindende Auffassungen der geschichtsdidaktischen Forschung seit 1970
Der Anfang der Epoche, die um 1968/1970 begann, geht auf ein vielfältiges Ursachenbündel zurück. Es waren gesellschaftliche, erziehungswissenschaftliche und geschichtswissenschaftliche Veränderungen, die das bis dahin gültige Paradigma der Didaktik des Geschichtsunterrichts bereicherten und zu einer Verbreiterung führten, die letztlich das Gegenstandsfeld erheblich veränderten und erweiterten.16 Das lässt sich besonders gut an den verschiedenen Auflagen von J. Rohlfes »Umrisse einer Didaktik der Geschichte« studieren, die neben den geschichtswissenschaftlichen Innovationen zunächst eine lerntheoretische und ab der dritten Auflage eine lernziel- und curriculumtheoretische Perspektiverweiterung widerspiegeln.17 Eine bindende Auffassung von dem, was Geschichtsdidaktik sein könnte, findet sich in dieser Phase nicht. Vielmehr sind es unterschiedliche erste Bezugspunkte, von denen aus Geschichtsdidaktik betrieben wird.18 Neben dem heitlichen, gleichförmigen Diskurs weder gibt noch geben kann, zeigen Elisabeth Erdmann/ Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Facing – Mapping – Bridging – Diversity. Foundation of a European Discourse on History Education, 2 Bde. Schwalbach/Ts. 2011 u. bereits Karl Pellens/ Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hrsg.): Historical culture – Historical communication. Frankfurt a. M. 1994, u. Dies. (Hrsg.): Geschichtskultur – Geschichtsdidaktik. Internationale Bibliographie. Paderborn 1984. 16 Annette Kuhn: Geschichtsdidaktik seit 1968. Zur Entstehungsgeschichte einer schwierigen wissenschaftlichen Disziplin. In: Bergmann/Schneider (Anm. 12), S. 415 – 443; Joachim Rohlfes: Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik 1953 – 1969. In: Ebd., S. 381 – 414; Ders.: Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik von den 50er bis zu den 80er Jahren. In: Leidinger (Anm. 12), S. 154 – 170; Horst Kuss: Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der alten Bundesrepublik. Zur Entstehung der neuen Geschichtsdidaktik und zur Reform des Geschichtsunterrichts seit 1970. In: Uwe Uffelmann (Hrsg.): Historisches Lernen im vereinten Deutschland. Nation – Europa – Welt. Weinheim 1994 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 61 – 88; Kuss (Anm. 13); Ders.: Historisches Lernen im Wandel. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der alten und neuen Bundesrepublik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 41 (1994), S. 21 – 30, u. Hasberg (Anm. 12), Bd. 1, S. 439 – 445. 17 Joachim Rohlfes: Umrisse einer Didaktik der Geschichte. 3. Aufl. Göttingen 1971. 18 Zu dieser Untergliederung sieh Hasberg (Anm. 12), Bd. 1, S. 98 – 100.
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traditionellen Ansatz einer unterrichtspraktischen Geschichtsdidaktik, die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom Geschichtsunterricht definiert und als eine »Brückenschlagsdisziplin zwischen Pädagogik und Geschichtswissenschaft« betrachtet (J. Rohlfes u. a.), etablierte sich eine schülerorientierte Geschichtsdidaktik. Deren Ausgangspunkt sind die Bedürfnisse der Schüler. Diese Richtung war frühzeitig mit Namen wie Peter Schulz-Hageleit19 und vor allem Peter Knoch (1935 – 1994)20 verbunden. Nicht beim Schüler, sondern bei der Gesellschaft nahmen die geschichtsdidaktischen Reflexionen und Untersuchungen der kritisch-emanzipatorischen Geschichtsdidaktik ihren Ausgang, die sich vor allem die Mündigkeit des Einzelnen auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Dazu zählen nicht nur der Kritischen Theorie verpflichtete Protagonisten wie Annette Kuhn, Horst Jung oder Gerda von Staehr und (später) Valentine Rothe – Namen, die dem »Nachwuchs« heute wohl nur mehr kaum geläufig sind –,21 sondern auch gemäßigtere Vertreter wie Klaus Bergmann (1938 – 2002), der – was selten hinreichende Beachtung findet – Geschichtsdidaktik selbst als Sozialwissenschaft betrieben sehen wollte.22 Neben diesen drei Positionen kristallisierten sich weitere heraus, von denen vor allem die Beachtung verdient, die sich am konsequentesten an der Geschichtswissenschaft und deren Struktur orientiert, obwohl sie nicht die Geschichte, sondern zunächst die kritische Urteils-
19 War die Dissertation von Peter Schulz-Hageleit: Wie lehrt man Geschichte heute? Heidelberg 1973, noch denkpsychologisch ausgerichtet, sind seine jüngeren Werke deutlich psychoanalytisch und humanistisch angelegt, sieh Peter Schulz-Hageleit: Geschichte, Psychologie und Lebensgeschichte. Fünf Aufsätze. Berlin 1988; Ders.: Was lehrt uns die Geschichte? Ders.: Geschichte, Psychologie und Lebensgeschichte. Acht Aufsätze. Berlin 1995; Ders.: Grundzüge geschichtlichen und geschichtsdidaktischen Denkens. Frankfurt a. M. u. a. 2002 u. Ders.: Geschichtsbewusstsein und Zukunftssorge. Herbolzheim 2004. 20 Peter Knoch/Hans H. Pöschko (Hrsg.): Lernfeld Geschichte. Materialien zum Zusammenhang von Identität und Geschichte. Weinheim/Basel 1983 u. Peter Knoch: Spurensuche Geschichte. Anregungen für einen kreativen Geschichtsunterricht, Bd. 1: Von der Vorgeschichte zum Frühmittelalter. Stuttgart 1988, S. 3 – 8. 21 Vgl. Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte. 3. Aufl. München 1980 (1. Aufl. Ebd. 1971); Dies.: Geschichtsdidaktik in emanzipatorischer Absicht. Versuch einer kritischen Überprüfung. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn u. a. 1980, S. 49 – 81; Dies./Valentine Rothe: Geschichtsdidaktisches Grundwissen. Ein Arbeits- und Studienbuch. München 1980; Horst Jung: Studienbuch Geschichtsdidaktik. Determinanten und Positionen des historischen Lernens. Stuttgart 1978; Ders./Gerda von Staehr : Historische Friedensforschung und historisches Lernen. Marburg 1986; Dies.: »Endzeit« und historisch-utopisches Lernen. Didaktische Grundlagen. Münster 1993; Valentine Rothe: Werteerziehung und Geschichtsdidaktik. Ein Beitrag zu einer kritischen Werteerziehung im Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1987 (Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien, Bd. 45). 22 Programmatisch der Aufsatz von Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft. In: Süssmuth (Anm. 21), S. 17 – 47. Zusammenfassend sieh den Sammelband von Ders.: Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 1998.
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fähigkeit und alsbald das Geschichtsbewusstsein in ihr Zentrum rückten.23 Rolf Schörken war es im Übrigen, der zunächst vom Geschichtsbewusstsein sprach, um dessen nicht wissenschaftsförmige Gestalt in den Blick zu bekommen.24 Erst später schloss Karl-Ernst Jeismann (1925 – 2012) sich dieser Auffassung an und machte es letztlich, spätestens 1976 auf dem Mannheimer Historikertag, zu einer bindenden Auffassung, dass die Morphologie, Genese, Struktur und Pragmatik des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft es seien, die den Boden geschichtsdidaktischer Forschung ausmachten.25 Wie bunt das Spektrum von Auffassungen war, die sich verbindlich zu machen suchten, lässt sich in besonderer Dichte an dem legendären Sammelband von Hans Süssmuth ablesen, der 1980 einen Großteil der farbigen Palette in sich versammelte.26 Wer dagegen den Sammelband zur Hand nimmt, der 1987 zum Jubiläum und gleichzeitig zum Ende der Zeitschrift »Geschichtsdidaktik« erschien, und darin den Abgesang auf die kritisch-emanzipatorische Geschichtsdidaktik von A. Kuhn liest, bekommt eine Ahnung davon, wie stark sich die bindende Auffassung vom »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft« als leitende Hinsicht der Geschichtsdidaktik durchgesetzt hatte.27 Und J. Rohlfes’ im selben Band eher zaghaft gestellte Anfrage, ob das Geschichtsbewusstsein nicht doch eher Leerformel als Fundamentalkategorie sei, verhallte ungehört.28 Mit dem Tod der zwölf Jahre lang innovative Trends setzenden Zeitschrift »Geschichtsdidaktik«, die 1976 auf dem Mannheimer Historikertag von dem 23 Vgl. etwa den Beitrag von Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts. In: Günter C. Behrmann/Karl-Ernst Jeismann/ Hans Süssmuth: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978, S. 50 – 76, in dem das Geschichtsbewusstsein noch keineswegs die prominente Rolle einnimmt, die ihm ab 1980 in den Arbeiten von K.-E. Jeismann zukam. 24 Rolf Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewusstsein. In: Hans Süssmuth: Geschichtsunterricht ohne Zukunft? In: GWU 23 (1972), S. 81 – 89. Vgl. dazu Ders.: Geschichte im Alltag. Über einige Funktionen des trivialen Geschichtsbewußtseins. In: GWU 30 (1979), S. 73 – 89, u. Ders.: Geschichte in der Alltagswelt. Wie uns Geschichte begegnet und was wir aus ihr machen. Stuttgart 1981. 25 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9 – 33. 26 Süssmuth (Anm. 21). 27 Ursula A. J. Becher/Klaus Bergmann (Hrsg.): Geschichte – Nutzen oder Nachteil für das Leben? Düsseldorf 1986 (Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien, Bd. 43). Sieh darin den Beitrag von Annette Kuhn: Hat die kritische Geschichtsdidaktik versagt?, S. 120 – 122. Vgl. auch Annette Kuhn: Aufgaben und Chancen einer kritisch-kommunikativen Geschichtsdidaktik. In: Göran Behre/Lars-Arne Norborg (Hrsg): Geschichtsdidaktik – Geschichtswissen hat – Gesellschaft. Stockholm 1985, S. 26 – 34, wo angesichts der »Trendwende« der 1980erJahre noch einmal die Potenz des Ansatzes beschworen wird. 28 Joachim Rohlfes: Geschichtsbewußtsein: Leerformel oder Fundamentalkategorie? In: Becher/Bergmann (Anm. 27), S. 50 – 52.
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aufmüpfigen »Nachwuchs« ins Leben gerufen worden war, der damals noch Bergmann, Kuhn, Pandel oder Rüsen hieß, zu denen als Autoren aber auch zünftige Historiker wie Joachim Radkau oder Hans Mommsen hinzustießen,29 just mit dem Sterben dieses »revolutionären« Publikationsorgans kam es einerseits zu einer Dominanz der wissenschaftsorientierten Geschichtsdidaktik, die sich auf dem Fundament des (eher schmalen) Werkes von K.-E. Jeismann30 und der in diesen Jahren erscheinenden Historik von J. Rüsen31 gründete. Andererseits entstanden in dieser Zeit unterrichtspraktische Zeitschriften wie »Praxis Geschichte« (1987) und vor allem »Geschichte lernen«, die erstmals Ende 1987 erschien, und zwar als originäres Nachfolgeorgan der Zeitschrift »Geschichtsdidaktik«, wie im Editorial der ersten Ausgabe nachzulesen ist.32 Bemerkenswert daran ist, dass die von den Herausgebern der Zeitschrift »Geschichtsdidaktik« als bindend vertretene Auffassung von der Einheit von Theorie und Praxis historischen Lernens zugunsten einer einseitigen Praxisorientierung aufgegeben wurde. Ein Teil von ihnen gründete das dem »Nachwuchs« vielleicht kaum noch bekannte »Jahrbuch für Geschichtsdidaktik«, das einerseits die mit dem Bankrott des Schwann-Verlags aufgegebene Reihe »Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien« fortsetzen und offenkundig das Theoriedefizit der neuen Zeitschrift kompensieren sollte, das allerdings in unregelmäßiger Folge nicht mehr als vier Bände hervorbrachte.33 Seither sind die wissenschaftlichen Anstrengungen der Geschichtsdidaktik von ihren pragmatischen Bemühungen um die Vermittlung geschichtlicher Inhalte, aber auch der geschichtsdidaktischen Essentials nicht nur publikationstechnisch weitgehend getrennt. Zurückzukommen ist auf die andere, bereits genannte Veränderung in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, nämlich auf die allmählich sich durchsetzende Dominanz einer an der Zentralkategorie »Geschichtsbewusstsein« orientierten Geschichtsdidaktik. Dass sie indes keineswegs eine die gesamte Disziplin bindende Kraft entwickeln konnte, zeigt sich daran, dass zwar die kritisch-emanzipatorische Geschichtsdidaktik trotz ihrer publizistischen Bemühungen bis an die Grenzen der Jahrtausendwende inzwischen nahezu gänzlich an Einfluss 29 Gerhard Schneider : Wie die Zeitschrift GESCHICHTSDIDAKTIK entstand – Erinnerungen eines Beteiligten. In: Becher/Bergmann (Anm. 27), S. 157 – 165. 30 Sieh die in Anm. 23 – 25 aufgeführten Publikationen. 31 Jörn Rüsen: Grundzüge der Historik, 3 Bde. Göttingen 1983, 1986, 1989. 32 Geschichte lernen 1 (1987), S. 1. 33 Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988; Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Verstehen und Verständigen. Pfaffenweiler 1991; Klaus Fröhlich (Hrsg.): Geschichtskultur. Pfaffenweiler 1992 (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd. 3); Bodo von Borries/Hans-Jürgen Pandel/Jörn Rüsen (Hrsg.): Zur Genese historischer Denkformen. Pfaffenweiler 1994 (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd. 4).
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verloren hat und letztlich zum Erliegen gekommen ist, dass aber schülerorientierte und vor allem unterrichtspragmatische Auffassungen nicht nur immer weiter existiert haben, sondern geradezu fröhliche Urstände feiern, wie der Blick auf zwei neue Reihen des renommierten Kohlhammer-Verlags zeigt, die laut Verlagsauskunft auf die besonderen Bedürfnisse von PH-Studierenden (in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik) zugeschnitten sind.34 Neben der Fortexistenz solcher, einen Teil der Disziplin bindenden Auffassungen lassen sich zudem neuere ausmachen. Da wäre zum einen der vielleicht als »humanistische Geschichtsdidaktik« zu bezeichnende Ansatz, wie er vor allem von Peter Schulz-Hageleit seit den frühen 1980er-Jahren verfolgt und zuletzt immer umfangreicher theoretisch begründet und hin zu einem Geschichtsunterricht als »historische Lebenskunde« entwickelt wird.35 Daneben ließe sich die terminologisch schwer zu fassende Auffassung nennen, die historisches Lernen als einen Sonderfall von Lernen behandelt und es in den Bahnen der Conceptual-Change-Forschung erkundet.36 Mag die personelle Basis der aufgeführten »Schulen« auch begrenzt sein – ihre Existenz gibt immerhin zu erkennen, dass von einer einheitlichen, bindenden Auffassung von Geschichtsdidaktik nur in eingeschränkter Weise die Rede sein kann und dass – wie 34 Herausgehoben werden muss in diesem Zusammenhang der Band von Gerhard Fritz (Hrsg.): Geschichte und Fachdidaktik. Ein Studienbuch für Studierende Grund-, Haupt- und Realschule (Einführungen in das Geschichtsstudium an Pädagogischen Hochschulen, Bd. 2). Stuttgart u. a. 2012. Neben der Reihe, der dieser Band zugehört, richtete der KohlhammerVerlag 2010 die Serie »Geschichte im Unterricht« ein. Deren Bände, eingeleitet von Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. Stuttgart 2010, haben zu Recht massive Kritik erfahren. 35 Peter Schulz-Hageleit: Grundzüge geschichtlichen und geschichtsdidaktischen Denkens. Frankfurt a. M. u. a. 2002, u. Ders.: Geschichtsbewusstsein und Zukunftssorge. Unbewusstheiten im geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Diskurs. Geschichtsunterricht als »historische Lebenskunde«. Herboltzheim 2004. In diesen Kreis gehören auch die Publikationen des Berliner Vereins Cultus e. V., beispielsweise der wenig überzeugende, da von der geschichtsdidaktischen Entwicklung sich ohne Begründung abhebende Band von Jörg Kayser/Ulrich Hagemann (Hrsg.): Urteilsbildung im Geschichtsund Politikunterricht. 2. Aufl. Baltmannsweiler 2010, der aufgrund seiner Aufnahme in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung (Bonn 2005) weite Verbreitung erfahren hat. Vgl. auch die online veröffentlichte Dissertation von Jörg Kayser : Die Förderung historisch-politischer Urteilskompetenz. Fachdidaktische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen einem didaktisch-theoretischen Modell und seinen unterrichtspraktischen Möglichkeiten (online verfügbar unter : http://www.epubli.de/oai/kobv.de-opus-tuberlin/2744, aufgerufen am 15. 02. 2013), die auf einer ausgesprochen selektiven Literaturauswahl basiert. 36 Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies. (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 48 – 62. Die Ergebnisse des Oldenburger Graduiertenkollegs »Didaktische Rekonstruktion« sind für den Bereich des historischen Lernens spärlich geblieben, sieh als Beispiel das weiterhin unabgeschlossene Projekt von Achim Jenisch: Schülerzeichnungen zum historischen Wandel. In: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Münster 2006, S. 111 – 125.
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im zweiten Fall – über ein interdisziplinäres Graduiertenkolleg Auffassungen von historischem Lernen kursieren, die, konsequent zu Ende gedacht, die Geschichtsdidaktik in ihrem Status als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft zumindest gefährden.37
2.2
Symbolische Verallgemeinerung oder Verdichtung in der Geschichtsdidaktik seit 1970
Fragt man danach, welche symbolischen Verallgemeinerungen oder Verdichtungen sich in der Geschichtsdidaktik seit 1970 ausmachen lassen, und versteht darunter nicht Formeln, wie Th. S. Kuhn in seiner naturwissenschaftlichen Manier, sondern die zu Begriffen verdichteten Theorien, die sozusagen selbst sprechend sind, deren Artikulation mit anderen Worten einen weitreichenden Gegenstandsbereich eröffnet, der für die Mitglieder der scientific community ohne Zweifel zu den Kernbereichen zählt, die es zu erforschen gilt, dann scheint dazu bereits einiges gesagt. Denn dass das Geschichtsbewusstsein eine solche symbolische Verallgemeinerung darstellt, quasi ein Dach, unter dem sich nahezu die gesamte Wissenschaftsgemeinde versammeln kann, wird kaum jemand bestreiten wollen. Sie wird gerne als Zentralkategorie beschworen, der allerdings in den späten 1980er oder frühen 1990er-Jahren eine zweite zur Seite getreten ist, die Geschichtskultur nämlich, die von zahlreichen Fachvertretern als gleichrangig anerkannt wurde.38 Das kann man bezweifeln, und das wurde mit guten Gründen bezweifelt, alldieweil, wenn Geschichtskultur die äußere Seite des Geschichtsbewusstseins oder die »praktisch wirksame Artikulation von historischem Bewusstsein« ist – um eine leicht missverständliche Formulierung J. Rüsens zu gebrauchen39 –, dann lässt sich rasch erkennen, dass Geschichtskultur das Medium ist, in dem sich das Geschichtsbewusstsein zu erkennen gibt. Erkenntnisgegenstand geschichtsdidaktischer Forschung kann dann weiterhin – 37 Vgl. Ulrich Kattman u. a.: Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion – Ein Rahmen für naturwissenschaftsdidaktische Forschung und Entwicklung. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 3 (1997), S. 3 – 18. 38 Den Begriff »Geschichtskultur« begann J. Rüsen spätestens ab 1989 zu einem heuristischen Konzept zu entwickeln, sieh Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989 (Grundzüge einer Historik, Bd. 3), S. 109 – 120; den Begriff verwendet er indes bereits früher in seinen Schriften. Wegweisend wurden die Beiträge, die 1994 in der ersten Auflage des Bandes von Jörn Rüsen: Historische Orientierung. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008, S. 233 – 284, versammelt sind. 39 Rüsen 2008 (Anm. 38), S. 235. Dabei muss klargestellt werden, dass die praktische Wirksamkeit der Artikulation historischen Bewusstseins keine Effizienz meint, sondern allein, dass sie sich in Handlung zum Ausdruck bringt, wobei die Handlungspraxis durchaus einen Sprechakt meinen kann.
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bei aller Ausweitung der Forschung auf geschichtskulturelle Phänomene, in denen sich Geschichtsbewusstsein artikuliert – das Geschichtsbewusstsein bleiben. Dieses historische Bewusstsein, das man nicht anders als in seinen geschichtskulturellen Entäußerungen fassen kann, bleibt mithin zentraler Erkenntnisgegenstand; Geschichtskultur dagegen wäre in einem solchen Verständnis die Infrastruktur, die es zu erforschen gilt, um zum Geschichtsbewusstsein vorzustoßen.40 Nicht um diese Debatte zu einem Ende zu bringen, wird sie an dieser Stelle erwähnt, sondern um vor Augen zu führen, dass diese Diskussion nicht geführt wurde, obwohl divergierende Auffassungen zum Verhältnis beider Kategorien vorliegen. Ohne Mühen lassen sich Publikationen auflisten, in denen von konträren Auffassungen in dieser Frage keinerlei Kenntnis genommen wird.41 Das gibt es in anderen Wissenschaftsdisziplin auch, nur springt es in einer so kleinen Wissenschaftsgemeinschaft wie der Geschichtsdidaktik umso eher ins Auge und hat zur Folge, dass – wie nur an diesem einen Beispiel aufgezeigt werden sollte – wissenschaftliche Kontroversen zu zentralen Begrifflichkeiten im geschichtsdidaktischen Diskurs kaum zu verzeichnen sind. Man könnte das als Ausdruck eines gefestigten Paradigmas nehmen, wie es im Status einer Normalwissenschaft nach Th. S. Kuhn durchaus üblich ist. Das verstellte allerdings den Blick darauf, dass der Verzicht auf eine kontroverse Verständigung nicht zu einer symbolischen Verallgemeinerung oder Verdichtung, sondern zur Diffusion führt, insofern mit demselben Terminus unterschiedliche Begriffskonzepte bezeichnet werden. 40 Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur. Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. 10 Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 3 (2004), S. 198 – 207; Ders.: Geschichtskultur in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht. In: Informationen für Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 67 (2004), S. 43 – 59, u. Ders.: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? Überlegungen zu zwei (un-) vereinbaren Konzeptionen zum Umgang mit Gedächtnis und Geschichte. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006, S. 32 – 59. 41 So beispielsweise Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Forschungskonzept der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 78 – 86; Ders.: Geschichtskultur als Wiederholungsstruktur? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 34 (2006), S. 182 – 191; Elisabeth Erdmann: Geschichtsbewußtsein – Geschichtskultur. Ein ungeklärtes Verhältnis. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 35 (2007), S. 186 – 195; Marko Demantowsky : Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), S. 11 – 20; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtskultur als Aufgabe der Geschichtsdidaktik. In: Vadim Oswald/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/ Ts. 2009, S. 19 – 33, u. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtskultur. In: Michelle Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 147 – 159, nimmt kaum Kenntnis vom geschichtsdidaktischen Diskurs, setzt sich vor allem nicht kritisch mit diesem auseinander.
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Mit Bedacht wurde an dieser Stelle zunächst ein originär geschichtsdidaktisches Begriffsfeld bemüht, denn ohne Zweifel sind – trotz ihres alltäglich breiten Hofes – Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur (im Gegensatz zu Erinnerungskultur oder Gedächtnisorte) »einheimische Begriffe« (Erich Weniger) der Geschichtsdidaktik, obgleich sie ursprünglich in einer alltagssprachlichen Sphäre angesiedelt waren und erst im Vollzug ihres wissenschaftlichen Gebrauchs eine theoretische Schärfung erfahren haben. Das gilt zum Teil auch für die narrative Geschichtstheorie, die weiten Teilen der Geschichtsdidaktik zum Fundament geworden ist, seit sie J. Rüsen in der Historik für den deutschsprachigen Bereich entfaltet hat und in geschichtsdidaktischen Kontexten etabliert wurde. Dabei sollen die Verdienste Hans-Jürgen Pandels an dieser Stelle nicht übergangen werden. Freilich ist damit nicht seine die Diskussion innerhalb der Geschichtsdidaktik weitgehend ausblendende Monografie zum »Historischen Erzählen« gemeint,42 sondern vielmehr sind hier seine früheren Arbeiten, insbesondere der programmatische Aufsatz in »Geschichte lernen«, der in dieser Form bis heute unerreicht ist, angesprochen.43 Wenn trotz der weitreichenden Rezeption immer wieder Plädoyers für die narrative Geschichtstheorie gehalten werden, ohne dass dabei neue Aspekte zutage träten,44 zeugt das nicht eben von einer symbolischen Verallgemeinerung. Vielmehr scheint manch einer zu befürchten, die epistemologischen Wurzeln der Disziplin seien in Vergessenheit geraten, wenn nicht jede Publikation im Fach zunächst darauf rekurrieren würde. Dagegen wäre es eben ein Zeichen für 42 Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010 (Methoden historischen Lernens, Bd. 15). Wie wenig darin an geschichtsdidaktischer Literatur genannt und kritisch verarbeitet wird, ist nicht nur ärgerlich, sondern zeugt von einer nachhaltigen Ignoranz gegenüber den Leistungen der eigenen Disziplin! Ein ähnlich unsauberer Umgang mit den vorliegenden Diskussionsbeiträgen findet sich bei Hans-Jürgen Pandel: Erzählen. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2007, S. 408 – 424. 43 Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. In: Geschichte lernen 2 (1987), S. 8 – 12. Vgl. dagegen den Rückschritt bei Josef Memminger : Geschichtserzählungen. Über den Umgang mit einer (umstrittenen) Textgattung im Geschichtsunterricht. In: Geschichte lernen 150 (2012), S. 2 – 9, der pragmatischer, aber nicht mehr von der Narrativität als Strukturprinzip historischen Denkens und Lernens aus argumentiert, obwohl er den Aufsatz von H.-J. Pandel zu kennen vorgibt. 44 Michelle Barricelli: »The Story we’re going to try and tell«. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7 (2008), S. 140 – 153, u. neuerdings Ders.: Narrativität. In: Barricelli/Lücke (Anm. 41), S. 255 – 280, u. Jörg van Norden: Was machst Du für Geschichten? Didaktik eines narrativen Konstruktivismus. Freiburg i. Br. 2011 (Geschichtsdidaktik, Bd. 13), der – wie andere – die Diskussion um das narrative Prinzip historischen Denkens und Lernens nicht weiterführt. Vgl. dazu Wolfgang Hasberg: Jutta oder Johanna – oder wer macht hier Geschichte(n)? Grundlegende Bemerkungen zur Narrativität historischen Lernens. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4 (2013), S. 55 – 82.
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eine symbolische Verallgemeinerung, dass sich der Verweis auf die fundamentalen Grundlagen erübrigte und der Verzicht auf deren explizite Nennung nicht sogleich das Verdikt nach sich ziehen würde, die Grundfesten der scientific community zu missachten. In Variation tritt eine solche vor-paradigmatische Attitüde vor allem dann auf, wenn Begriffe aus anderen Wissenschaftskontexten entlehnt und auf ihre geschichtsdidaktische Fertilität hin geprüft werden, indem sie an den theoretischen Essentials gemessen werden. Das ist eine Praxis des Borgens, aber keine »lasche Borgepraxis«, die H.-J. Pandel in gewohntem Rundumschlag als für die Geschichtsdidaktik typische Form der Rezeption ausgemacht zu haben glaubt.45 Dass es eine solche – wie in vermutlich allen Wissenschaftsdisziplinen – auch gibt, sei unbestritten. Das zeigt sich unter anderem an dem sich derzeit im Aufwind des emotional turns befindlichen Begriffs der »Empathie«. Es klingt einigermaßen bedenklich, wenn uns Frank Baring, der sich in seiner Gießener Dissertation mit der Konjunktur des Empathie-Begriffs u. a. im anglo-amerikanischen Raum beschäftigt hat, anempfiehlt, den Begriff in dieser Form in den deutschsprachigen Diskurs zu implementieren;46 wird hier doch nicht deutlich, welche Vorzüge ein auf diese Weise mehrfach gefilterter Begriff gegenüber den in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik – zugestandenermaßen nicht zu einer symbolischen Verallgemeinerung verdichteten – Empathie-Begriff oder gar gegenüber dem hermeneutischen Verstehensbegriff besitzt. »Lasche Borgepraxis« herrscht im Übrigen nicht nur in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik. Das ist offenkundig ein internationales Phänomen, wie in frappanter Form auf einer internationalen Tagung im September 2012 in Rom deutlich wurde, auf der sich eine Referentin mit Empathie und Multiperspektivität als geschichtsdidaktische Kategorien befasste und deren Entstehen mit dem Aufkommen der new history in England gleichsetzte beziehungsweise Multiperspektivität als Ausfluss der 1989/90 stattgehabten weltpolitischen Umbrüche klassifizierte.47 Eine solche Kontextualisierung greift deutlich zu 45 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktische Begriffe: Lieber borgen als bilden? In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2006, S. 9 – 14. Zur »Dekonstruktion« ist alles Nötige gesagt, sieh Wolfgang Hasberg: Die Entzauberung der Hrosvith von Gandersheim. In: Ders./Wolfgang E. J. Weber (Hrsg.): Geschichte entdecken. Karl Filser zum 70. Geburtstag. Berlin 2007 (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 4), S. 211 – 242. Zur »laschen Borgepraxis« im Allgemeinen sieh Robert Dittrich: Begriff und Erkenntnis der »laschen Borgepraxis« in der Geschichtsdidaktik. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Münster 2010 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 21), S. 205 – 220. 46 Frank Baring: Empathie und historisches Lernen. Frankfurt a. M. u. a. 2011. 47 Eleni Apostolidou: History Education for the Present, the Past and the Future (1Àre Conf¦rence de l’Association Internationale de Recherche en Didactique de l’Histoire et des Sciences Sociales: Historie et Sciences Sociales et Sciences Sociales enseignees: Realisation et Perspectives).
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kurz, insofern die deutschsprachige Herkunft der Begrifflichkeiten außer Betracht bleibt. Das mag im beschriebenen Fall allein auf sprachliche Bedingungen zurückzuführen sein, indiziert aber eine »lasche« Praxis des Umgangs mit Begriffen, wie er in der Geschichtsdidaktik tatsächlich allzu häufig anzutreffen ist, die lieber Begriffe aus anderen Disziplinen importiert, anstatt auf die eigenen zu setzen und sie auszudifferenzieren. Im transnationalen Diskurs potenzieren sich die mit einem laschen Begriffsumgang verbundenen Gefahren noch einmal deutlich, weil auf ein gemeinsames Begriffsrepertoire nicht zurückgegriffen werden kann, da die Bezugsdisziplinen dessen, was hierzulande als Geschichtsdidaktik betrieben wird, von Land zu Land variieren. Diesbezüglich besteht dringender Handlungsbedarf – nicht zuletzt um die Erträge der eigenen Disziplin nicht auf dem Altar eines internationalen Wissenschaftsenglisch zu Opfer tragen zu müssen, das mit seiner sprachlichen Hegemonie zugleich wissenschaftliche Methoden und Zugriffsweisen transportiert und dekretiert.48 Ungeachtet nationaler Attitüden lässt sich im internationalen Diskurs, sofern von einem solchen überhaupt die Rede sein kann, eine begriffliche Verwirrung ausmachen, die eine symbolische Verdichtung nicht zu erkennen erlaubt. Wenn Wissenschaft nur dann Wissenschaft ist, wenn sie international ist,49 dann gehört es zu den Aufgaben der nachfolgenden Generation, diesen Diskurs, dem Walter Führohr mit Gründung der »Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik« 1980 den Weg bereitet hat, fort- und weiterzuführen. Dabei wird es vermutlich ein schwieriges Unterfangen sein, die epistemologischen Ansätze und Erträge der deutschen Geschichtsdidaktik angemessen zu wahren. Gelingen kann es nur, wenn der »Nachwuchs« sich der Geschichte des eigenen Faches gewahr wird und als scientific community die gemeinsamen Werte zu tradieren sucht.
2.3
Gemeinsame Werte im Wandel der Zeit
Werte sind – so führt Th. S. Kuhn aus – verbindlicher als symbolische Verallgemeinerungen oder bindende Auffassungen. Das zahlt sich vor allem in Krisensituationen aus, wenn die Zuflucht zu den gemeinsamen Werten sich als eine
48 Vgl. Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg: Bridging Diversity. Towards a European Discourse on History Education. In: Dies. (Anm. 15), S. 345 – 379. 49 Bodo von Borries: Ziel: Schulischer Geschichtsunterricht als Denkanstoß zu lebenspraktischem Geschichtsumgang. In: Ders.: Historisch denken lernen. Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen/Farmington Hills 2008 (Studien zur Bildungsgangforschung, Bd. 21), S. 1 – 16, hier S. 13.
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letzte Bastion der Verständigung erweist.50 Dabei handelt es sich wohl am ehesten um die Prinzipien, von denen die Forschung einer scientific community übereinstimmungsgemäß ausgeht, im Gegensatz zu den Kategorien, die den bindenden Auffassungen zuzurechnen sind. Welches aber sind die Prinzipien der Geschichtsdidaktik? Das ist keineswegs leicht zu beantworten. Über Prinzipien historischen Denkens ließe sich wohl weitaus problemloser Verständigung erzielen: Narrativität, (Multi-)Perspektivität, Selektivität, Reziprozität und dergleichen würden im geschichtsdidaktischen Diskurs wohl große Zustimmung erheischen. Ist geschichtsdidaktisches Denken aber eine eigenständige Erkenntnisweise, folgt es notwendig anderen, eigenen Prinzipien?51 Wirft man zur Klärung der Problematik einen Blick in die Handbuchliteratur, stößt man im jüngsten Produkt dieser Gattung auf ein ganzes Kapitel »Fachdidaktische Prinzipien«, in dem Narrativität und Multiperspektivität, zugleich aber auch Historische Kompetenzen und deren Graduierung sowie Prinzipien guten Geschichtsunterrichts thematisiert werden.52 Diese »fachdidaktischen« entpuppen sich bei genauerer Hinsicht als Prinzipien historischen Denkens, mit denen das »innerunterrichtliche […] Geschehen« und damit der »engere Wirkbereich von Fachdidaktik« erfasst werden soll.53 Als solche sind sie für die Didaktik der Geschichte allenfalls Prinzipien zweiter Ordnung. Andere, wie Multiperspektivität, sind von derartiger Allgemeinheit, dass sie ohne inhaltliche Füllung keineswegs Prinzipien historischen, geschweige denn geschichtsdidaktischen Denkens sind.54 Es bleibt die Frage: Welches sind die Ausgangspunkte des wissenschaftlichen Bemühens der Geschichtsdidaktik? Insofern die Didaktik der Geschichte sich als eine forschende, als eine Wissenschaftsdisziplin betrachtet, gelten für sie dieselben Prinzipien wie für andere Wissenschaften auch: Neutralität (Aristoteles) beziehungsweise Wertefreiheit (K. Popper). Aber damit sind lediglich formal-logische Prinzipien auf höchstem Abstraktionsniveau, mit anderen Worten, die »Regeln guter wissenschaftlicher 50 Kuhn 1976 (Anm. 7), S. 196 f. Deshalb ist es schwer nachzuvollziehen, warum Kuhn 1987 (Anm. 7), S. 393, die Werte nicht mehr als ein Element des Paradigmas betrachtet. 51 Ob Prinzipien geschichtsdidaktischen Denkens aus den Prinzipien historischen Denkens abzuleiten sind, wie Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel: Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Zur empirischen Untersuchung fachspezifischer Kommunikation im historisch-politischen Unterricht. Stuttgart 1976 (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, Bd. 13), S. 31, für das geschichtsdidaktische Kategoriensystem in Anspruch nehmen, mag zunächst bezweifelt, muss aber zugleich einem entsprechenden Dialog überantwortet werden. 52 Barricelli/Lücke (Anm. 41), Bd. 1, S. 203 – 363. Mit fachdidaktische sind an dieser Stelle offenkundig geschichtsdidaktische gemeint. 53 So expliziert in der Einleitung der Herausgeber, sieh Barricelli/Lücke: Zur Einleitung, in: Dies. (Anm. 41), S. 9 – 21, hier S. 15. 54 Vgl. etwa die äquivalenten Artikel in Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. 3. völlig neu bearb. Aufl. Schwalbach/Ts. 2005.
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Praxis« benannt, auf die an späterer Stelle zurückzukommen sein wird. Wissenschaft ist bekanntlich »ein systematisch d. i. nach Principien geordnetes Erkenntniß«, wobei »diese Principien […] übrigens empirisch oder a priorisch seyn« können.55 Dabei unterscheidet der Königsberger Aufklärer die principa domestica und die principia peregrina einer Wissenschaft, das heißt: die einheimischen und die aus anderen Wissenschaften entlehnten Prinzipien.56 Was aber sind die epistemologischen Werte, die einheimischen Prinzipien, an denen sich geschichtsdidaktische Forschung ausrichtet? Das hängt offenkundig davon ab, ob man Geschichtsdidaktik als (empirische) Sozialwissenschaft, als pädagogisch-didaktische, als genuin historische Teildisziplin oder als Kulturwissenschaft betreibt. Je nachdem, welcher Idee ein geschichtsdidaktischer Ansatz folgt, müssten die grundlegenden Prinzipien variieren. Die einschlägigen Einführungen und Kompendien geben darüber allerdings in aller Regel keinen Aufschluss. Man wäre also auf eine eigenständige Analyse der in ihnen implizit vorhandenen Prinzipien verworfen, wollte man eruieren, welchen Werten die Geschichtsdidaktik realiter folgt. Ein solches Unterfangen kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht durchgeführt werden. Es kann nur vermutet werden, dass es zu den gemeinsamen leitenden Hinsichten gehört, – nach Regeln der Rezeption und Vermittlung von Vergangenheit/Geschichte zu suchen, – dass dazu die (individuelle wie kollektive) Genese des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft untersucht wird, wozu Voraussetzung ist, die Struktur desselben zu erforschen, – um die Funktionen der Geschichte (Legitimation, Identität, Orientierung) oder »engagierte Besonnenheit« (K.-E. Jeismann) zu erkunden, und schließlich – eine Pragmatik für die Vermittlung von Vergangenheit/Geschichte an unterschiedlichen Lernorten zu entwickeln, die Praxis anleiten, aber nicht vorwegnehmen will.57 Im Rückgriff auf die disziplinäre Matrix der Geschichtsdidaktik J. Rüsen ließen sich womöglich weitere Essentials aufführen, die in den Bereich der Muster55 Carl Christian Erhard Schmid: Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften (4. Aufl. Jena 1798), ND 4. Aufl. Darmstadt 2005, hrsg. von Norbert Hinske, S. 596. Vgl. dazu Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781). In: Ders. Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 2, S. 695 – 712. 56 Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), in: Werke in sechs Bänden (Anm. 55), Bd. 4, S. 173 – 620, hier S. 494 – 498. 57 Es wird vermutet, dass die grundlegenden Ausführungen von K.-E. Jeismann u. a. auf dem Mannheimer Historikertag 1976 durchaus so etwas, wie einen Grundkonsens bilden, sieh Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, dem sich weite Kreise der aktuellen Geschichtsdidaktik subsumieren lassen, auch wenn – wie oben dargelegt – durchaus abweichende Positionen existieren.
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beispiele hinüberleiten, da sie zugleich die Elemente geschichtsdidaktischen Denkens benennen: – prinzipielle und grundlegende historische Lernbedürfnissen erforschen, – geschichtsdidaktische Perspektiven als (hypothetische) Antworten auf die ausgemachten Bedürfnisse entwerfen, – theoretisch und empirisch solche geschichtsdidaktischen Perspektiven konzipieren und evaluieren, – systematisch Theorien des historischen Lehrens und Lernens entwickeln, – Kategorien und Prinzipien historischen Lehren und Lernens benennen.58 Ob die aufgelisteten Essentials tatsächlich Werte darstellen, an denen sich die geschichtsdidaktische Forschung orientiert, kann nur vermutet, keineswegs belegt werden. Dass die Didaktik der Geschichte über kein ausgewiesenes Wertesystem, über keinen konsensualen Katalog von Prinzipien verfügt, muss bedenklich erscheinen, wenn zutrifft, was Th. S. Kuhn annimmt, dass nämlich die gemeinsamen Werte den Halt bieten, der notwendig ist, wenn eine wissenschaftliche Disziplin in Bedrängnis gerät.59 Da wirkt die Hoffnung tröstlich, bei der vorgenommenen Auflistung handele es sich tatsächlich um einen unausgesprochenen Konsens, um eine Übereinkunft, die infolge des seit 1980 ausgebliebenen epistemologischen Diskurses schwerlich als Verständigung bezeichnet werden kann. Der Mangel an einer Diskussion um die eigene Selbstvergewisserung und um die eigenen Erkenntnismöglichkeiten ist es, der es so schwer macht, das Paradigma der Geschichtsdidaktik zu fassen.
2.4
Musterbeispiele oder Methodologie der Geschichtsdidaktik
Dieser Mangel gilt für alle Bereiche. Was in Bezug auf die gemeinsamen Werte und Prinzipien zu sagen war, lässt sich deutlicher noch im Bereich der Methoden namhaft machen. Denn was Musterbeispiele geschichtsdidaktischer Forschung anbetrifft, sieht die Lage ganz ähnlich aus. Allenthalben, bis in die unmittelbare Gegenwart,60 hallen die Klagen ob des fehlenden methodologischen Diskurses 58 So die Ausdifferenzierung der disziplinären Matrix von J. Rüsen bei Wolfgang Hasberg: Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik – Präfiguration einer Wissenschaftsdisziplin? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 28 (2001), S. 215 – 230, u. zuletzt Ders.: Historiker oder Pädagoge (Anm. 11), S. 176 f. 59 So Kuhn 1976 (Anm. 7), S. 196 – 199 u. 220. 60 Matthias Martens: Rekonstruktion historischer Sinnbildung: Zum Nutzen qualitativer Forschung für die geschichtsdidaktische Lehr-/Lernforschung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 233 – 250, hier S. 234.
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nach. Ein Wehgeschrei, das nicht erst K. Bergmann 1980 angestimmt hat,61 sondern das in regelmäßiger Wiederkehr angehoben wird, ohne dass je eine heilende Diskussion in Gang gekommen wäre. Dabei zählen Musterbeispiele zur Bewältigung der disziplinspezifischen Probleme zu den entscheidenden Elementen des Paradigmas einer wissenschaftlichen Disziplin. Die Methodologie aber ist ein bereits seit Langem unterbelichtetes Feld der Geschichtsdidaktik. Die nicht geführte Diskussion kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden.62 Zwei Aspekte sind es, die es festgehalten zu werden verdienen: Zum einen verfügt die Didaktik der Geschichte über keine eigenständige Methodik. Eine solche Feststellung kann ohne Bedauern getroffen werden, zumal die Geschichtsdidaktik dieses Schicksal mit vielen anderen Disziplinen teilt. Zum anderen hängt das Methodenrepertoire einer wissenschaftlichen Disziplin zuvörderst von ihrem Erkenntnisinteresse ab. Diesbezüglich ließe sich womöglich Einigkeit dahingehend erzielen, dass es die Regelhaftigkeiten der Rezeption und Vermittlung von Vergangenheit/Geschichte sind, die auf geschichtsdidaktischem Wege – was immer das ist – erkundet werden sollen. Wie, also: mit welchen Methoden oder auf welchen Wegen, diese Ziele zu erreichen sind, darüber besteht offenkundig Uneinigkeit. Symptomatisch für die Situation, in der die Disziplin sich befindet, erscheinen die beiden geschichtsdidaktischen Sektionen auf dem Mainzer Historikertag 2012. Da gab es zum einen eine Veranstaltung, die sich mit grundlegenden – manche würden sagen: theoretischen – Aspekten der Geschichtsdidaktik befasste. Dabei ging es um das Anliegen, »Geschichte als Ressource des Menschseins in der Migrationsgesellschaft« zu erkunden und zu erklären, »warum ein solches Ideal im Prozess des historischen Lernens unweigerlich Konflikte auslöst.«63 Geschichte in der »Wanderungsgesellschaft« als »Ressource für Anerkennung, Diversität und Authentizität« (M. Barricelli) zum Einsatz zu bringen – so war dabei zu hören – setzte voraus, die »soziokulturelle Komplexität in der Migrationsgesellschaft« (J. Straub) nicht allzu sehr zu entflechten, weil in eben dieser das Individuum (mit und ohne Migrationshintergrund) eingebunden ist. »Shared History«, Schnittstellen- oder intersektorale Geschichte, sind dann die Schlüsselwörter,64 auf deren Basis Geschichte nicht als kollektive Sinnvermitt61 Bergmann 1980 (Anm. 22), S. 44 – 46. 62 Wolfgang Hasberg: Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Problemanzeige zur Methodologie einer Wissenschaftsdisziplin. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 59 – 77. Eine nachhaltige Diskussion konnte auch der Band von Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002, insbes. die Einleitung von Saskia Handro/Bernd Schönemann: Ebd., S. 3 – 10, nicht entfachen. 63 Programmheft zum 49. deutschen Historikertag 2012, o. O. o. J., S. 54 f. 64 Zum Ansatz vgl. Martin Lücke: Diversität und Intersektoralität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Barricelli/Lücke (Anm. 41), Bd. 1, S. 136 – 146.
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lung, sondern als individuelle Suchhilfe nach »Anerkennung, Diversität und Authentizität« betrieben wird. An die Stelle sinnstiftender Makrogeschichten (beispielsweise Nationalgeschichte), treten dann die Mikrogeschichten, weil sich allein in ihnen die Überschneidungen finden, die von den Beteiligten (beispielsweise Schülern im Geschichtsunterricht) als eigen (an-)erkannt werden (können). Wie weit dieses neue, sozialwissenschaftlich oder vielmehr sozialpsychologisch fundierte Konzeption theoretisch trägt, bleibt der Diskussion aufgegeben, die einstweilen noch aussteht. Ganz anders die zweite geschichtsdidaktische Sektion auf dem Mainzer Historikertag, in der es um Ressourcen von Geschichtslehrkräften für den Geschichtsunterricht ging.65 Vom Geschichtsunterricht wurde dabei kaum gehandelt. Im Mittelpunkt standen berufsbiografische Aspekte. Wie aber ermittelt der Historiker die (berufs-)biografischen Erfahrungen der Lehrerschaft und deren Einfluss auf den Geschichtsunterricht? Ganz einfach: Er bedient sich der Methoden der empirischen Sozialforschung respektive der Psychologie. Handelt es sich dabei um qualitative Studien, kommt ihm das entgegen, denn deren Auswertungsverfahren sind im letzten hermeneutisch und dem Historiker somit vertraut. Nicht zuletzt wohl deshalb setzen sie sich in zunehmendem Maße in den geschichtsdidaktischen Qualifikationsarbeiten, aber auch in anderen Bereichen der Forschung durch.66 Das erreichte Ausmaß stimmt skeptisch, weil qualitative Untersuchungen des vorliegenden Zuschnitts erkenntnistheoretisch den Status explorativer Hypothesen nicht überschreiten.67 Damit soll weder für eine quantitative Wende plädiert noch für eine grundsätzliche Abkehr von diesem Forschungsparadigma geworben werden. Es soll lediglich auf die Dominanz dieses Ansatzes und die daraus entfließenden Konsequenzen hingewiesen werden, die sich verstärken würden, folgte man tatsächlich dem Rat, diese in der angloamerikanischen Forschungstradition noch ungleich stärker verankerte Richtung ausgiebiger zu rezipieren.68 Mit den Methoden – das sollte nicht 65 Programmheft (Anm. 63), S. 74 f. 66 Auskunft darüber geben u. a. die einschlägigen Sammelbände von Hilke Günther-Arndt/ Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Münster 2006, sowie von Jan Hodel/ B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07«. Bern 2009; u. Dies. (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 09«. Bern 2011. 67 Wolfgang Hasberg: Im Schatten von Theorie und Praxis – Methodologische Aspekte empirischer Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 9 – 40. 68 Bodo von Borries: Angloamerikanische Lehr-/Lernforschung. Ein Stimulus für die deutsche Geschichtsdidaktik? In: Marko Demantowsky/Bernd Schönemann (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Positionen. 3. Aufl. Dortmund 2007, S. 65 – 91, u. Ders.: Lehr-/Lernforschung in europäischen Nachbarländern – ein Stimulus für die deutschsprachige Geschichtsdidaktik? In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 10), S. 13 – 49.
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unterschätzt werden – verändern sich auch die Erkenntnisinteressen oder, anders ausgedrückt, die gemeinschaftsbildenden Werte oder Paradigmata einer scientific community. Damit kehren wir zur diversitätsbeflissenen und intersektoralen Konzeption der Geschichtsdidaktik zurück, die sich – nicht anders als die Vorläufer der 1970er-Jahre – in die Abhängigkeit der Konzepte ihrer Bezugswissenschaften begibt. Auch darin kann prinzipiell kein Defizit erblickt werden, solange man sich der Konsequenzen bewusst bleibt. Mit den Konzepten werden auch die Methoden rezipiert. Der Inhalt, die Vergangenheit/Geschichte, dagegen werden austauschbar beziehungsweise an der Autobiografie der Beteiligten ausgerichtet. Welche Rolle spielt da noch der Historiker ? An dieser Stelle gilt es Vorsicht walten zu lassen. Für biografische Geschichte ist nicht die Geschichtswissenschaft, dafür sind Psychologen und, mit Einschränkungen, Soziologen zuständig. In seinem schönen Buch zum Sonntag von Bouvines bemerkt der französische Sozialhistoriker Georges Duby gleich eingangs, es gäbe zwei Spuren, denen man nachgehen könne, um das Ereignis in seiner Bedeutung zu vermessen, dem »Gedächtnis der Menschen unserer Zeit« oder den Quellen. Seine Begründung, nicht der Verlockung der aktuellen Spuren zu folgen, begründet er damit, dass »[…] eine solche Forschungsarbeit […] die außerordentlich spannende Untersuchung eines Bewußtseins von der Geschichte in die Wege leiten (könnte); sie verlangte jedoch wissenschaftliche Methoden und Instrumente, die mir nicht vertraut sind.«69 Um die Erkundung des historischen Bewusstseins kommt die Geschichtsdidaktik nicht umhin, wenn dieses zum paradigmatischen Kern der Disziplin zählt. Und ganz so bescheiden wie der französische Kollege muss man nicht sein. Aber sprengen wir damit nicht das Methodenrepertoire des Historikers? Begeben wir uns damit nicht auf Forschungsfelder, für die uns keine gediegene Ausbildung angediehen wurde? Oder, noch grundlegender gefragt: Muss ein Geschichtsdidaktiker Historiker sein?
2.5
Didaktik der Geschichte – eine Normwissenschaft?
Man mag mit B. Schönemann die geschichtsdidaktische Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte »als Modernisierung einer zuvor traditionalistisch verfassten Schulfachdidaktik […] charakterisieren.« Und »wenn es als Kriterium erfolgreicher Wissenschaftsentwicklung gelten kann, dass eine Disziplin im Prozess 69 Georges Duby : Der Sonntag von Bouvines. 27. Juli 1214. Berlin 1988, S. 8 (franz. Orig. Paris 1973).
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dynamischen Wandels sie selbst bleibt und trotz einer Vielzahl perspektivischer Weiterungen ihre Gegenstandsgewissheit behält, dann sind die letzten drei Jahrzehnte Geschichtsdidaktik ganz sicher nicht umsonst gewesen.«70 Weitgehend gewiss ist, dass das »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft« im Zentrum des Forschungsinteresses steht. In welchem Verhältnis dazu aber die Geschichtskultur steht, ist durchaus kontrovers. Und dass ein entsprechender Diskurs nicht ausgefochten, sondern umgangen wird, ist sicher kein Zeichen von Gegenstands- oder gar Selbstgewissheit. Gleichwohl ist das Maß an symbolischer Verallgemeinerung hoch, womöglich gerade deshalb, weil die Disziplin sich seit Jahrzehnten jedwedem epistemologischen Diskurs entzieht. Darunter leidet gewisslich die Selbstgewissheit bezüglich der bindenden Werte, Standards oder Prinzipien, und ebenso die in Bezug auf die Methoden, die forschend zum Einsatz gebracht werden. Auf Musterbeispiele, die Th. S. Kuhn für den Zusammenhalt einer Disziplin für derart wichtig erachtet, dass er sie für grundlegender hält als die gemeinsamen Werte,71 stößt man in der Geschichtsdidaktik kaum. Wo ist das Beispiel für die typische geschichtsdidaktische Studie? Ist es Hilke Günther-Arndts Untersuchung zum Geschichtsunterricht in Oldenburg, für die dergleichen behauptet wurde?72 Oder Bodo von Borries’ große repräsentative Erhebung zum Geschichtsbewusstsein der Jugendlichen?73 Größer könnte der Unterschied des methodischen Zugriffs für geschichtsdidaktische Untersuchungen wohl kaum sein. Zusammendenken ließe sich beides womöglich in der disziplinären Matrix der Geschichtsdidaktik, wie sie J. Rüsen entworfen hat, die in der Disziplin indes so gut wie keinen Widerhall gefunden hat (sieh weiter oben), eben weil der epistemologische Diskurs fast gänzlich zum Erliegen gekommen ist. – Das alles spricht eher für einen vor-paradigmatischen Zustand, in dem die Geschichtsdidaktik befangen ist. Allerdings: »Wenn der Wissenschaftstheoretiker die gesammelten Beispiele bisheriger Tätigkeit der Gemeinschaft untersucht, kann er mit gutem Grund hoffen, ein System von Zuordnungsregeln konstruieren zu können, das in Verbindung mit den bekannten symbolischen Verallgemeinerungen alle diese Beispiele erfaßt«, meint Th. S. Kuhn. Geht man bis auf die Anfänge geschichtsdidaktischer Reflexionen zurück, reichen die wissenschaftsgeschichtlichen Wurzeln der Disziplin bis in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts zurück.74 Dabei ist durchaus umstritten, ob nicht bis in die Weimarer Phase hinein 70 Schönemann (Anm. 14), S. 29 f. 71 Kuhn: Einleitung, in: Ders. 1978 (Anm. 7), S. 31 – 45, hier S. 41. 72 Bernd Mütter: Die Geschichte des Geschichtsunterrichts als Forschungsproblem. Überlegungen zu Hilke Günther-Arndt: Geschichtsunterricht in Oldenburg 1900 – 1930 (Oldenburg 1980). In: GWU 36 (1985), S. 642 – 657. 73 Bodo von Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Weinheim 1995. 74 Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiogra-
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lediglich von einer »geschichtsdidaktischen« Dimension der Geschichtswissenschaft gesprochen werden kann und erst – so Bernd Mütter – die Konstituierung der geisteswissenschaftlichen Geschichtsdidaktik durch Erich Weniger (1894 – 1961) den entscheidenden Schub einer Verwissenschaftlichung darstellt, nach dem erst eigentlich von einer Didaktik der Geschichte die Rede sein könne.75 Zur historischen Einordnung des gegenwärtigen Zustandes empfiehlt es sich daher, einen zumindest flüchtigen Blick auf diese beiden Phasen zu werfen, die für die Konstituierung der Geschichtsdidaktik als bedeutsam erachtet werden.
3.
Geschichtsdidaktik gestern – Konturen einer Protowissenschaft
3.1
Präfiguration einer Wissenschaftsdisziplin
Geht man schrittweise zurück und beachtet dabei das bereits namhaft gemachte Defizit an disziplinhistorischen Untersuchungen zu weiter zurückliegenden Epochen, kann in aller Kürze zunächst die Weimarer Phase anhand der kuhnschen Paradigma-Theorie vermessen werden, die aus unterschiedlichen Blickrichtungen als eine Konstituierungs- oder gar Präfigurationsphase betrachtet wurde.76 Erstmals haben sich hier die bindenden Auffassungen zu einem weit streuenden Spektrum ausgebildet, bei dem die professionellen Bindungen an die Universitätshistorie, den Gymnasialunterricht beziehungsweise die pädagogische Verortung im Elementarschulwesen zugunsten einer stärkeren Anbindung an geschichtsdidaktische Kategorien aufgelöst, keineswegs abgelöst wurden. Die Diskussionslinien blieben weiterhin fast hermetisch getrennt. Und durchsetzen konnte sich letztlich keiner der diversen Ansätze. Das gilt auch für die geisteswissenschaftliche Geschichtsdidaktik, die von E. Weniger 1925/26 begründet, phisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765 – 1830). Stuttgart/Bad Cannstatt 1990 (Fundamenta Historica, Bd. 2). 75 Mütter (Anm. 12), S. 45 – 74, insbes. S. 67. 76 Vgl. Mütter (Anm. 12), S. 281 – 293, u. schon die einzelnen Studien bei Ders.: Historische Zunft und historische Bildung. Weinheim 1995 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 2), sowie Horst Kuss: Geschichtsunterricht zwischen Kaiserreich und Republik. Historisches Lernen und politischer Umbruch 1918/19. In: GWU 55 (2004), S. 422 – 441, u. Ders.: Geisteswissenschaftliche Geschichtsdidaktik in neuer Perspektive. In: Vom Historismus zum HisTourismus. Verabschiedungsfeier für Professor Dr. Bernd Mütter am 24. Oktober 2003. Oldenburg 2004, S. 37 – 43. Mit deutlich anderem Akzent sieh Hasberg (Anm. 12), Bd. 1, S. 245 – 252, u. Ders.: Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik – Präfiguration einer Wissenschaftsdisziplin? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 28 (2001), S. 215 – 230.
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zwar nach 1945 breite Zustimmung erlangen, zwischen 1925 und 1945 jedoch kaum Wirkung entfalten konnte. Durchgesetzt haben sich letztlich auch nicht die Versuche von Kurt Sonntag oder Siegfried Kawerau, das historische Bewusstsein zu einer Art symbolischen Größe zu machen.77 Der Geschichtsunterricht blieb für die überragende Mehrheit der am Diskurs Beteiligten der Gegenstand, den es zu erforschen und vor allem anzuleiten und zu gestalten galt. Dabei wurden ihm im gymnasialen und Elementarschulwesen durchaus unterschiedliche Funktionen zugeschrieben. Diente er zum einen als Hilfswissenschaft des Sprachunterrichts, war er andererseits Gesinnungsfach. Folglich waren es auch unterschiedliche Werte, denen die diejenigen folgten, die sich mit dem historischen Lernen in der Schule befassten. Die einen waren fest am (positivistischen) Historismus rankescher Prägung orientiert, die anderen an der herbartianischen Pädagogik. Die einen suchten den Geschichtsunterricht zu verbessern, um die Schüler erkennen zu lassen, wie es »eigentlich gewesen ist«, die anderen, um sie zu erziehen zu Vaterlandsliebe und Loyalität, vor allem gegen Neuerungen. Trotz aller Verschiedenheit war der geschichtsdidaktische Diskurs der Weimarer Zeit, der noch keineswegs die Züge einer scientific community trug, in Bezug auf seine bevorzugte Forschungsmethodik einförmiger als in der Gegenwart. Im Wesentlichen ging es darum, den Geschichtsunterricht zu verbessern, indem aus Geschichtswissenschaft oder Pädagogik heraus Unterrichtsanregungen entwickelt wurden. Ganz gelegentlich gründete man diese auf eigene Erfahrungen oder Unterrichtsbeobachtungen, die selten systematisch angestellt wurden. Immerhin wurde gelegentlich auf die Notwendigkeit verwiesen, es gelte das historische Bewusstsein mit empirischen Mittel auch außerhalb des Unterrichts zu erforschen, um grundlegende Kenntnisse darüber zu gewinnen, wie es beschaffen sei und wie es sich beeinflussen ließe.78 Entsprechende Bemühungen – vornehmlich von Pädagogen angeleitet – fanden durchaus Eingang in den Diskurs, wenngleich sie keineswegs einen bedeutenden Stellenwert erlangen konnten. Auch im methodischen Bereich tat sich mithin zu jener Zeit bereits ein breiter Spalt auf, und zwar durch die Öffnung hin zur Bildungspsychologie (K. Sonntag) und zur Soziologie (S. Kawerau) einerseits und die damit verbundene empirische und – in geringfügigem Maße – experimentelle (M. Fehring) Forschung.
77 Siegfried Kawerau: Die psychologischen Voraussetzungen geschichtlichen und politischen Verständnisses; Schulreform 6 (1927), S. 209 – 218 u. 245 – 251, u. Kurt Sonntag: Das geschichtliche Bewußtsein des Schülers. Ein Beitrag zur Bildungspsychologie. Erfurt 1932. 78 Kawerau (Anm. 77).
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Paradigmatische Grundlagen
Schwieriger noch lässt sich die paradigmatische Verfassung in der Anfangsphase der Reflexionen zur »Distribution historiographisch erzeugten Wissens« beschreiben. Denn bindende Auffassungen und symbolische Verallgemeinerungen sucht man vergeblich, weil es dem entsprechenden Diskurs an einer wissenschaftssystematischen Verortung mangelte.79 Gleichwohl lässt sich eine weit verbreitete Auffassung benennen, die es wert ist, aufgeführt zu werden, weil sie einen heute vernachlässigten Blick auf die Geschichtsdidaktik zum Vorschein bringt. Jüngst hat es H.-J. Pandel noch einmal betont: Die Historiomathie, die im Rahmen der Methodikvorlesungen zur Geschichte vorgetragen wurde, enthält die Regeln des Lehrens und Lernens der Historiografie.80 Bedeutsam daran ist, dass sie auch den (autodidaktischen) Umgang mit der Historiografie beinhaltet. Dieser Aspekt ist im Zuge der Degeneration der Geschichtsdidaktik im 19. Jahrhundert bis heute weitgehend verloren gegangen. Allerdings entstammten die frühen »Geschichtsdidaktiker«, die allesamt Historiker waren, einem Umfeld, in dem sich die disziplinäre Spezialisierung allererst ausbildete. Erst allmählich gelang es der Geschichte, sich als universitäres Fach zu etablieren. Da kann es nicht wundernehmen, dass die Historiker – sofern sie nicht ohnehin noch Rhetoriker waren – sich noch für das gesamte Feld der Geschichte verantwortlich fühlten. Dass dazu auch geschichtsdidaktische Aspekte gehörten, die, unmittelbar mit der Verwissenschaftlichung der Geschichte, Berücksichtigung fanden, erklärt, warum die Geschichtsdidaktik ein originärer Bestandteil der Geschichtswissenschaft ist. Das schloss Anleihen bei der Pädagogik nicht aus, die der Geschichte in Bezug auf ihre wissenschaftliche Etablierung deutlich nachhing. Allerdings ist kaum auszumachen, aus welcher Provenienz das Postulat zur erfahrungswissenschaftlichen Absicherung vermittlungsmethodischer Vorschläge hervorging. Fest steht: sie halten – wenn auch in bescheidenem Maße – Eingang in die distributionstheoretische Reflexion des späten 18. Jahrhunderts.81 Gelegentlich wird angeraten, Observationen zu machen, um die Angemessenheit von Vermittlungsmaßnahmen oder auch »den Fortgang der Seele, in Erwerbung neuer Kenntnisse und Fertigkeiten« zu eruieren.82 Reflexe davon finden sich bekanntlich in den Vorworten der Weltgeschichten, die gelegentlich an Kinder adressiert wurden. Darin wird indes auf persönliche Erfahrung, nicht auf systematische Erhebungen verwiesen. Dafür ist 79 Pandel (Anm. 74), insbes. S. 128 – 130. 80 Ebd., insbes. S. 220 – 224. 81 Ebd., S. 200 – 211. Vgl. Ders.: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/ Ts. 2013, S. 16 – 20. Vgl. die relativierenden Ausführungen bei Hasberg (Anm. 12), Bd. 1, S. 192 – 199. 82 Zitat von L. v. Schlözer, zusammenfassend sieh Hasberg (Anm. 12), Bd. 1, S. 192 – 199.
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der Diskurszusammenhang insgesamt noch allzu unsystematisch und institutionell noch allzu ungefestigt. Die Teilnehmer des Diskurses bildeten allenfalls als Historiker eine Gemeinschaft, die erst begann, wissenschaftlich zu werden und sich noch keineswegs auf dem Weg der Spezialisierung befand. Von daher ist es offenkundig, dass ein eigenständiges Paradigma für das Lehren und Lernen der Geschichte zu dieser Zeit noch nicht ausgebildet werden konnte.
3.3
Offenes Paradigma oder vor-paradigmatischer Status?
Andererseits fällt auf, dass die Frühphase geschichtsdidaktischer Reflexion durchaus Gemeinsamkeiten mit der paradigmatischen Verfassung der Weimarer Zeit und der Gegenwart aufweist: Bindende Auffassungen werden aus Geschichtswissenschaft und Pädagogik und zunehmend auch aus den Sozialwissenschaften und der Psychologie importiert. Die Zahl der symbolischen Verallgemeinerungen in der Geschichtsdidaktik ist entweder zu klein oder ihre Verbindlichkeit allzu gering ausgebildet, als dass sie die scientific community so weit zu festigen vermöchten, dass sie die eigenen Errungenschaften – die unzweifelhaft vorhanden sind – mit Selbstbewusstsein nach außen trüge. Stattdessen werden allzu schnell außerdisziplinäre Impulse aufgegriffen und Traditionen preisgegeben, wenngleich nicht jeder Import schon einer »laschen Borgepraxis« gleichkommt. Die Anfälligkeit gegenüber Außeneinflüssen, die rasch einschüchternd wirken – wenn etwa der Erinnerungsdiskurs hofiert wird, anstatt ihm forciert das Konzept Geschichtskultur entgegenzusetzen –, ist gewiss eine Folge der fehlenden Prinzipien geschichtsdidaktischer Forschung wie auch einer Methodologie, die keinesfalls ein eigenständiges Methodenrepertoire aufweisen, aber begründen müsste, in welcher Weise die zum Einsatz gebrachten Methoden auf den geschichtsdidaktischen Erkenntnisprozess bezogen sind. Wie aber ist dieser Erkenntnisprozess beschaffen? Das haben weder die Historiomathen des 18. Jahrhunderts erklärt, obwohl sie recht genaue Vorstellungen über die Rolle der Historiomathie besaßen, noch die Weimarer Didaktiker, die einerseits geisteswissenschaftlichen Verfahrensweisen frönten, andererseits empirische Methoden forderten. Die mangelnde Selbstvergewisserung in Methodenfragen, wie in epistemologischen Belangen insgesamt, hat notwendigerweise ein »offenes Paradigma« zur Folge, wie es die historische Rückschau veranschaulicht hat. Das wirft schließlich die Frage auf, inwieweit eine wissenschaftliche Teildisziplin mit einem derart offenen Paradigma überlebensfähig ist. Wird sie nicht immer der Spielball anderer Disziplinen bleiben, die Einfluss auf sie zu gewinnen suchen? Wird sie nicht immer wieder den methodischen Offerten erliegen, die andere an sie herantragen? Kann sie ein Ensemble von Prinzipien entwickeln, die der
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eigenen Forschung ein unvergleichliches Gepräge geben? Und schließlich: Kann es ihr gelingen, die Akzeptanz anderer Disziplinen zu erwerben und auf diesem Weg ihre eigenen symbolischen Verallgemeinerungen in einen transdisziplinären Diskurs einzuspeisen?
4.
Geschichtsdidaktik morgen – symbolische Verdichtung oder Revolution?
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass bei dem Versuch, die Geschichtsdidaktik gestern – aus wohl verständlichen Gründen summarischer – und die Geschichtsdidaktik heute – zugestandenermaßen pointiert – zu beschreiben, augenscheinlich eine Disziplin nachgezeichnet wurde, die im Wandel der Zeiten in einem vor-paradigmatischen Status befangen geblieben ist oder – will man es positiver ausdrücken – einem ausgesprochen offenen Paradigma folgt. Soll es im Folgenden um die Geschichtsdidaktik von morgen gehen, scheint – mag es auch dramatisch klingen – die Feststellung evident, dass wir uns an einem Scheideweg befinden.83 Nicht dass sich die Geschichtsdidaktik als einheitlicher Tross im Gleichschritt für denselben Weg zu entscheiden hätte, den sie zukünftig beschreiten will. Aber jeder Einzelne, der am Diskurs teilhaben will, hat sich zu entscheiden und diese Entscheidung begründet zu vertreten. Insbesondere für den »Nachwuchs« erscheint das eine ebenso unverzichtbare wie bedeutsame – manche würden sagen: für Karrierewege, ich sage: für die von den materiellen Interessen des Brotgelehrten freie wissenschaftliche – Positionierung und nachhaltig fundierende Entscheidung. Von einem Wendepunkt zu sprechen, erscheint berechtigt angesichts von zwei Gefahren: Eine dringt von außen auf die Geschichtsdidaktik ein; eine zweite ist intradisziplinär angesiedelt; beide Bedrohungen allerdings greifen – wie zu zeigen sein wird – ineinander über. Die Versuche der Einflussnahme von außen sind immens und nicht ohne Nachhall. Dabei kommen die Initiativen aus unterschiedlichen Provenienzen. Zu erinnern wäre einerseits an den Vorstoß von Martin Sabrow, der – nach seinen abgewiesenen Ambitionen, in der Geschichtsdidaktik Fuß zu fassen, einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte annehmen musste – der Geschichtsdidaktik 83 Vgl. John (Anm. 13), bei der nicht recht deutlich wird, warum die Geschichtsdidaktik sich gerade heute am Scheideweg befindet, denn aufgeführt werden konstitutionelle Schwächen, v. a. das Ausgreifen auf den außerschulischen Bereich, die (angebliche) Praxisferne sowie eine personell und institutionell unbefriedigende Situation in den Hochschulen, die für die Bewältigung der neuen Bildungsdebatte nach PISA offenkundig keine günstige Basis darstellen.
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einen Spiegel vorhielt und zur Umkehr gemahnte. Seine Analyse der Sachlage enthält manches Richtige, sein Rat, zu einer unterrichtsbezogenen Fachmethodik zurückzukehren, war vermessen und in der Sache unangemessen, zieht er implizit doch die Notwendigkeit der Grundlagenforschung zum historischen Lernen in Zweifel.84 Mehr braucht an dieser Stelle zu diesem Vorstoß nicht angemerkt zu werden; die Unhaltbarkeit des wohlgemeinten Ratschlags ist bereits an anderer Stelle deutlich herausgestellt worden.85 Dass Initiativen mit wohlgemeinten Ratschlägen aus dem Umfeld der historisch-empirischen Forschung trotz unverhohlener Unkenntnis des geschichtsdidaktischen Diskurses ungebrochen anhalten, lässt sich in einer der letzten Nummern der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte« beobachten, in der eine Referentin der »Bundeszentrale für politische Bildung« Reflexionen »Zur Zukunft des historischen Lernens« anstellt. »Historisches Lernen«, so resümiert sie gedankenklar, »sollte den Umgang mit Geschichte zum Gegenstand machen.« Das wird diejenigen, die sich intensiv mit dem historischen Lernen befassen, eben die Geschichtsdidaktiker, nicht sonderlich überraschen, wohl aber der Umstand, dass diese Einsicht allein auf den Umgang mit Zeitgeschichte, genauer mit der NS-Geschichte gründet, deren Vermittlung sich verändern müsse, weil die Zeitzeugen aussterben.86 Der historisch gebildete Geschichtsdidaktiker, der weitere Strecken überblickt als die Zeitgeschichte und historisches Lernen folglich nicht auf diese begrenzen kann, muss erschaudern. Eingebettet findet der Beitrag sich in eine Reihe von Aufsätzen, in denen Erziehungswissenschaftler Yad Vashem als Erinnerungsort analysieren, Sozialwissenschaftler das Verhältnis von »Erinnerung und Fiktion« beleuchten und die längst populäre Studie des Berliner Politologen Klaus Schröder zu den mangelhaften zeitgeschichtlichen Kenntnissen der Jugendlichen vorgestellt wird.87 Dass sich Wissenschaftler anderer Disziplinen mit Geschichte und deren Vermittlung befassen, ist nicht neu. Hinzuweisen ist allerdings auf deren im Vergleich zur Geschichtsdidaktik deutlich höhere Außenwirkung; zum anderen darauf, dass bei ihnen geschichtsdidaktische Erkenntnisse und Befunde allenfalls eine marginale, in aller Regel aber überhaupt keine Rolle spielen. Vielleicht 84 Martin Sabrow: Nach dem Pyrrhussieg. Bemerkungen zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik. In: Zeithistorische Forschungen 2 (2005), S. 268 – 273. 85 Bernd Schönemann: Zum Stand der Disziplin. In: Ders./Hartmut Voit (Hrsg.): Europa in historisch-didaktischen Perspektiven. Idstein 2007 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 22), S. 11 – 20, hier S. 16 f. 86 Hanna Huhtasaari: Zur Zukunft des historischen Lernens. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32 – 42 (2012), S. 13 – 19, Zitat S. 18. 87 Uriel Kashi: Yad Vashem – Gedenken im Wandel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32 – 42 (2012), S. 7 – 13; Sandra Nuy : Erinnerung und Fiktion. In: Ebd., S. 27 – 33, u. Monika DeutzSchroeder u. a.: Ungleiche Schwestern? Demokratie und Diktatur im Urteil von Jugendlichen. In: Ebd., S. 19 – 27.
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wären Analyse und Fazit »zur Zukunft des historischen Lernens« von Hanna Huhtasaari ein wenig differenzierter ausgefallen, hätte sie einen Blick in die geschichtsdidaktische Literatur geworfen oder zumindest darin einheimische Begriffe wie Re- und Dekonstruktion oder Multiperspektivität aus dieser heraus rezipiert.88 Auf die Begrenzung auf die moderne, eigentlich auf die Zeitgeschichte in solchen originär erziehungs- oder sozialwissenschaftlichen Studien sei nur am Rande hingewiesen. Entscheidender ist im vorliegenden Zusammenhang die Feststellung, dass das Feld historischen Lernens und das der Vermittlung von Geschichte nicht allein von der Geschichtsdidaktik bestellt wird. Die Unübersichtlichkeit erhöhte sich noch einmal beträchtlich, zöge man Geschichtsschulbücher sowie die unterrichtspraktische Literatur ins Kalkül, die nicht nur ein niemals zuvor erzieltes Ausmaß angenommen haben, sondern deren ausgesprochen heterogene Autorenschaft ihre Vorschläge nicht selten ohne jeden Bezug auf die geschichtsdidaktische Literatur und Forschungslage verfasst. Eine Positionierung in einem solch engen Geflecht von Einflussgrößen erscheint nicht nur für den »Nachwuchs« vonnöten. Ein entsprechendes Sensorium auszubilden, scheint in den Zeiten nach PISA schon deshalb dringlich geboten, weil die Fühler, welche die »Allgemeine Didaktik« nach dem, was manche »Fachdidaktik« und früher »Spezielle Didaktik« nennen beziehungsweise nannten, ausstrecken, zur gefährlichen Zange zu werden drohen, seit die Allgemeine Didaktik sich wie zur Tarnung das Gewand der Bildungswissenschaften übergeworfen hat. Dass die Bildungswissenschaft als Familie (im Sinne L. Wittgensteins) betrachtet werden könne, in deren verwandtschaftlichen Banden die lehrerausbildenden Disziplinen sich zusammenfinden könnten,89 erscheint als eine gefährliche Denkmöglichkeit angesichts des Umstandes, dass selbst Geschwister keineswegs ununterbrochen miteinander harmonieren und dass innerhalb von Familien durchaus hierarchische Verhältnisse herrschen. Wer übernimmt den Elternpart, wer den der Kinder? Die Rollenverteilung scheint längst geklärt, liest man die Ausführungen zur vermittelnden Rolle der Bildungswissenschaft(en) von Ewald Terhart in der »Zeitschrift für Pädago88 Vgl. Huhtasaari (Anm. 86), S. 15, wo für die Rolle der De-Konstruktion bei der Vermittlung von Geschichte auf Dirk Lange: Politikgeschichtliches und geschichtspolitisches Lernen. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2002), S. 1 f., verwiesen wird. Die in der entsprechenden Fußnote aufgelisteten Vertreter der Geschichtsdidaktik stehen indes keineswegs für den Ansatz der Dekonstruktion. Ein Hinweis auf die Herkunft des Prinzips der Multiperspektivität und damit der Verweis auf Geschichtsdidaktik, oder gar Klaus Bergmann, fehlt völlig. 89 So Marko Demantowsky : Die Didaktik der Geschichte als »Fachdidaktik« – Abgrenzungen, Vereinnahmungen, Selbstverständnis. In: Marko Demantowsky/Volker Steenblock (Hrsg.): Selbstdeutung und Fremdkonzept. Die Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer im Gespräch. Bochum/Freiburg 2011, S. 39 – 52, hier S. 45 f.
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gik«.90 Die Gefahr eines Rückfalls in die alte Dominanz der Allgemeinen Didaktik gegenüber den speziellen Didaktiken ist keine ferne Schimäre, sondern eine ernsthafte Bedrohung. Sollten wir tatsächlich mit den Bildungswissenschaftlern gemeinsame Sache machen? Uns als Bildungswissenschaftler, nicht als Historiker verstehen? »Fachdidaktik« ist ein Kollektivsingular ohne reale Entsprechung.91 Es kann sie aus zweifachem Grunde nicht geben: zum einen, weil die »Fachdidaktiken« aufgrund ihrer systematischen Ausgestaltung grundverschieden sind. Und das leitet sich aus dem zweiten Grund her, nämlich dem, dass sie – zumindest kann man das für die Geschichtsdidaktik ohne jeden Zweifel behaupten – integraler Teil der jeweiligen Bezugswissenschaft sind, insofern sie aus deren Bedürfnis heraus entstanden sind, deren Befunde zu verbreiten. Wie bereits dargelegt, waren geschichtsdidaktische Aspekte bereits in der Spätaufklärung Bestandteil der Methodologie der Geschichtswissenschaft und wurden in den entsprechenden Vorlesungen behandelt. Denn wer wissen will, wie man narratives Wissen distribuiert, benötigt unweigerlich Kenntnisse über die Adressaten, damit die Aufbereitung derart erfolgen kann, dass die Rezipienten das Vermittelte aufzunehmen in der Lage sind.92 Es geht mithin schlicht um die Rezeption und Vermittlung von Geschichte in allen ihren Facetten, worum es der Geschichtsdidaktik zu tun ist. Wohlgemerkt: der Didaktik der Geschichte, nicht der »Fachdidaktik Geschichte«, denn die Gemeinsamkeiten mit den »Fachdidaktiken« anderer Fächer sind gering im Vergleich mit ihrer Verbundenheit mit der Geschichtswissenschaft, aus der sie herrührt und deren Teil sie ist. Die Vermittlung – und folglich die Rezeption – gehören wesentlich zur Geschichte, die darauf aus ist, das von ihr historiografisch erzeugte Wissen zu verbreiten, wie spätestens 1752 Johann M. Chaldenius in seiner »Lehre vom Kanal« dargelegt hat.93 Eine zweite Wegkreuzung, an der der Kurs bestimmt werden muss, ist die methodische Ausrichtung der Geschichtsdidaktik. Der Trend geht seit Ende der 1990er-Jahre unverkennbar in Richtung qualitative Forschung.94 Dabei entsteht 90 Zur zwischen den Disziplinen vermittelnden Rolle der Bildungswissenschaften sieh Ewald Terhart: »Bildungswissenschaften«: Verlegenheitslösung, Sammeldisziplin, Kampfbegriff ? In: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012), S. 22 – 39. 91 Vgl. zum Folgenden schon Wolfgang Hasberg: Geschichtsbewusstsein – Geschichtskultur – Kulturwissenschaft. Geschichtsdidaktik in der Lehrerausbildung. In: Tobias Arand/Klaus Scherberich (Hrsg.): Schule – Europa – Technik. Aachen 2003, S. 19 – 38, hier S. 21. Vgl. auch Demantowsky (Anm. 89), insbes. S. 43. 92 Zur Bedeutung des narrativen Paradigmas sieh Pandel (Anm. 74), S. 39 – 97. 93 Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird, Leipzig 1752 (ND Köln/ Weimar/Wien 1985), S. 159 f. 94 Vgl. Wolfgang Hasberg: Im Schatten von Theorie und Pragmatik. Methodologische Aspekte
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nicht nur das Problem der mangelnden Verallgemeinerbarkeit der zumeist explorativ angelegten Untersuchungen, die keinesfalls durch quantitative Evaluationen ergänzt werden. Zumindest ist kein solcher Fall bekannt. Die Gefahr besteht auch in den begrifflichen Neuschöpfungen, die sich häufig als innovative Terminologie entpuppen, aber eben dadurch, dass sie Altbekanntes in neue Worte kleiden, den Diskurs erschweren, weil dadurch das Anknüpfen an bereits Erforschtes nicht nur ungebührlich erschwert, sondern weitgehend verhindert wird. Wer weiß schon etwas mit historischer »Materialisierung«, »Individuierung« oder »Vergemeinschaftung« anzufangen, die Mathias Iffert auf der Basis von zwei biografischen Interviews als Dimensionen der Inhaltsstruktur des Geschichtsbewusstseins ausgemacht hat? Dass das Buch so gut wie gar nicht rezipiert wurde, mag auch an solchen Verständigungsschwierigkeiten liegen.95 Es steht hier indes nur als prägnantes Beispiel für andere. Vor allem macht auch das Zusammenführen der unüberschaubar vielen und unübersichtlich andersartigen Befunde der qualitativen wie der quantitativen empirischen Forschung Probleme.96 Ihre Inkohärenz, Disparität und Diffusion macht ihre Einbindung in den Theoriediskurs ebenso wie ihre pragmatische Wendung so schwierig. Dabei macht sich schmerzlich bemerkbar, dass die Didaktik der Geschichte eben nicht über eine disziplinäre Matrix verfügt, die der Rezeption Anleitung zu geben vermöchte. Die einstweilen ungelöste Rezeptionabilität empirischer Befunde in der Geschichtsdidaktik ist das eine mit der »empirischen Wende« (B. Schönemann) einhergehende Problem; das andere ist womöglich ungleich tiefgreifender. Es betrifft die Methodologie der Didaktik der Geschichte und damit ihren paradigmatischen Zuschnitt als Ganzes. Der Geschichtsdidaktiker, der sich der Geschichtskultur widmet, möge sich nicht »in historischer Detailforschung« verzetteln, warnt B. Schönemann. Stattdessen solle er sich »auf gesamtgesellschaftliche Problemzusammenhänge im Umgang mit Geschichte« konzentrieren und damit das Alleinstellungsmerkmal der Geschichtsdidaktik im Auge behalten.97 Dass der gesamtgesellschaftliche Umgang mit Geschichte ganz gewiss kein Alleinstellungsmerkmal der Geschichtsdidaktik ist, wurde bereits ausgeführt. Es kann auch nicht darum gehen, dass der Geschichtsdidaktiker empirischer Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 8 (2007), S. 9 – 40, u. Carlos Kölb: Geschichtsbewusstsein – Empire. In: Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1 (Anm. 41), S. 112 – 120. 95 Mathias Iffert: Die Inhaltsstruktur des Geschichtsbewusstseins. Hamburg 2005. Zur Einordnung vgl. die Rezension von Wolfgang Hasberg. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 35 (2007), S. 30 – 32. 96 So schon Hasberg (Anm. 12), Bd. 2, S. 421 – 449. Vgl. auch Rohlfes (Anm. 3), S. 21 – 23, u. Ders.: Geschichte und ihre Didaktik. 3. erw. Aufl. Göttingen 2005, S. 392 – 394, u. Schönemann (Anm. 14), S. 15 – 19. 97 Schönemann (Anm. 14), S. 29.
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keine historischen Detailstudien betreiben dürfe. Er ist geradezu dazu verpflichtet, wenn er Geschichtsbewusstsein in der Vergangenheit untersuchen will. Nicht die Methode, das auf die Regelmäßigkeiten der Vermittlung und Rezeption von Vergangenheit/Geschichte gerichtete Erkenntnisinteresse ist es, das die Didaktik der Geschichte von den anderen Dimensionen der Geschichtswissenschaft (Historik, historisch-empirische Forschung) unterscheidet.98 Damit sind indes wieder Methodenfragen verbunden. Denn die Regelhaftigkeiten historischen Lehrens und Lernens zu erkunden, setzt den Einsatz geeigneter Verfahrensweisen voraus. Derzeit stehen Qualifikationsarbeiten hoch im Kurs, die einzelne Aspekte des historischen Bewusstseins (Identität) oder Kompetenzen historischen Denkens (Lesefähigkeit, Schreiben von Geschichte u. v. m.) untersuchen, ohne eine explizite Referenz zu historischen Inhalten herzustellen.99 Daneben existieren Studien, die sich in der Aufarbeitung geschichtskultureller Aspekte der Vergangenheit erschöpfen oder in bildungsgeschichtliche oder -soziologische Gefilde abgleiten.100 Welchen Beitrag sie zur Lösung genuin geschichtsdidaktischer Fragestellungen leisten, bleibt dabei häufig im Dunkeln. Nahezu völlig aus der Mode gekommen sind solche Untersuchungen, in denen die geschichtsdidaktische Potenz einzelner Gegenstandsbereiche ausgeleuchtet wird. Insgesamt überwiegen, das zeigen auch die in diesem Band versammelten Beiträge, qualitativ-empirische Zugänge, zumindest den Markt der Nachwuchsforschung. Es wäre ein schöner Schein, wollte man als Geschichtsdidaktiker auf allen diesen Feldern mit der nötigen Professionalität aufwarten können. Man muss sich schon entscheiden, ob man Sozialwissenschaftler, Psychologie oder Historiker sein will. Es hat den Anschein: Der Geschichtsdidaktik kommen die Historiker abhanden!101 Gewinnt derzeit offenkundig die empirische Forschung, vor allem in ihrem qualitativen Gewand, die Oberhand, so führt das nicht zur symbolischen Verdichtung, sondern zur Revolution, das heißt, die Geschichtsdidaktik wandelt 98 Vgl. Hasberg (Anm. 62), S. 63 – 66. 99 Um nur einige neuere zu nennen, sieh Johannes Mayer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Idstein 2009; Matthias Marten: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 1); Kristina Lange: Historisches Bildverstehen oder wie lernen Schüler mit Bildquellen? Berlin/Münster 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 7); Olaf Hartung: Geschichte – Schreiben – Lernen. Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht, Berlin/Münster 2013 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 9). 100 Dazu nur ein Beispiel, sieh Barbara Hanke: Geschichtskultur an höheren Schulen von der Wilhelminischen Ära bis zum Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Westfalen. Berlin/Münster 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 6). 101 Vgl. schon Wolfgang Hasberg: Mediävistik als Avantgarde. Kulturwissenschaftliche Strömungen in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik. In: Archiv für Kulturgeschichte 93 (2011), S. 303 – 332, hier S. 332.
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sich zunehmend zu einer empirischen Sozialwissenschaft mit psychologischen Anteilen. Ob sie damit gut beraten ist, scheint zweifelhaft in mehrfacher Hinsicht. Denn auf diesem Wege läuft sie Gefahr – sich dem methodischen Dilettantismus hinzugeben, weil sie nicht nur die Methodenarrangements, sondern zugleich die Erkenntnisinteressen ihrer Bezugsdisziplinen zu übernehmen droht, – sich vollends von der Geschichtswissenschaft abzulösen, in der sie nach wie vor mehr geduldet als gelitten ist. Vielleicht ist es gar diese intradisziplinäre Respektlosigkeit, die sie in die Arme der Nachbardisziplinen treibt, die ihr zwar keineswegs höhere Achtung entgegenbringen, die sie aber gerne unter ihre Fittiche nehmen. Am größten ist dabei die Gefahr, sich im Strudel kulturwissenschaftlicher Breite und postmoderner Beliebigkeit selbst zu verlieren. Das einzige, was dagegen feit, ist ein paradigmatisches Bekenntnis und die Ausbildung eines flexiblen Paradigmas, welches das unzertrennbare Eingebundensein in die Geschichtswissenschaft und die unverzichtbare Nähe zu den Bezugswissenschaften berücksichtigt. Die Unverzichtbarkeit der disziplinären Einbindung in die Geschichtswissenschaft ist dabei bereits ein Bekenntnis, das wohl kaum mehr von der ganzen Breite der scientific community geteilt wird. Um ein solches Bekenntnis – sei es zustimmend, sei es ablehnend – kommt niemand umhin, der sich der Forschungsgemeinschaft anschließen will. Das gilt insbesondere für den Nachwuchs. Und mit seiner Entscheidung werden auch die Wegweiser ausgerichtet, denen die Disziplin in Zukunft folgen wird. Ein zweites Bekenntnis, das jedermann, der am disziplinären Diskurs teilzuhaben wünscht, ohne Wenn und Aber abzuverlangen ist, betrifft die Wissenschaftlichkeit.
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Gute wissenschaftliche Praxis – oder: ein Lob auf die deutsche Fußnote
Fälle wie der des fränkischen Möchtegern-Wissenschaftlers Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg oder der ehemaligen Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, als auch die kaum weniger spektakulären Verfahren um Veronica Saß und Silvana Koch-Mehrin lassen es geraten erscheinen, abschließend einige Bemerkungen hinzuzufügen, die wie eine Mahnung an den »Nachwuchs« zu erscheinen drohen, aber an die Disziplin als Ganze zu richten sind. Nicht erst die erwähnten Plagiatsfälle haben den Stein ins Rollen gebracht, sondern die Deutsche Forschungsgesellschaft, die 1998 »Regeln der guten wis-
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senschaftlichen Praxis« aufstellte und für alle Antragsteller verbindlich machte.102 Nicht minder emsig waren der Deutsche Hochschulverband und die Deutschen Fakultätentage, die angesichts der zunehmend in die Öffentlichkeit tretenden Plagiatsfälle eine gemeinsame Resolution erarbeiteten. Die beiden ersten der insgesamt elf Regeln besagen, a) dass »Originalität und Eigenständigkeit […] grundsätzlich die wichtigsten Qualitätsmerkmale jeder wissenschaftlichen Arbeit« sind und b) dass »alle Qualifikationsarbeiten […] ein korrektes und sorgfältiges Recherchieren und Zitieren beziehungsweise Verweisen« erfordern.103 Abgesehen davon, dass auch der zweite Punkt für alle wissenschaftlichen, nicht nur für Qualifikationsarbeiten zu gelten hat, scheint gerade die Spannung zwischen diesen beiden Polen den Anreiz für wissenschaftliche Unredlichkeit auszumachen: Der Anspruch auf Originalität kann den Drang zu korrektem Zitieren nachhaltig vermindern. Übersehen werden darf dabei auf keinen Fall der Hinweis auf das sorgfältige Recherchieren. Nicht erst mit dem nachlässigen Zitieren oder Plagiieren, sondern bereits bei der nachlässigen Recherche beginnt die wissenschaftliche Unredlichkeit, die gegebenenfalls durch das bewusste Unterschlagen nur noch gesteigert wird. Guter wissenschaftlicher Praxis stehen – auch in der Geschichtsdidaktik – Zitierzirkel entgegen, die wider besseren Wissens den Diskurs durch Machtgebärden schmälern und verflachen. Wer den Erkenntnisfortschritt seiner Wissenschaftsdisziplin befördern will, der muss solche Gräben überspringen, der muss sich (durch gutes Recherchieren und sauberes Zitieren) in die Tradition seines Faches stellen, und zwar um den Preis, keine großen Würfe, sondern kleine Schritte zu machen. Führt aber gute wissenschaftliche Praxis zu guter Wissenschaft? Die Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Diskurses haben sich in den letzten Jahren durch immer weitere Eingriffe und wissenschaftsinterne Regulierungsverfahren verkompliziert. Die Gefahren von Auftrags- und Drittmittelforschung, von Fundraising und Overhead brauchen an dieser Stelle nicht ausgeführt zu werden, sie betreffen den »Nachwuchs« eher marginal. Dagegen mag er bereits von maximalen Publikationszahlen und impact factors geblendet sein, die bei Einstellungsgesprächen und Berufungsverhandlungen längst eine ausschlaggebende Rolle spielen. Publikationen in hoch »gerankten« Zeitschriften sind inzwischen mehr wert als eine gute Monografie. Als Zeitschrift »gerankt« zu werden, setzt voraus, Artikel möglichst in einem »Double-blind«-Verfahren begutachten zu lassen. Längst sind auch geschichtsdidaktische Zeitschriften dazu übergegangen. Der Wahn der Anonymität geht soweit, dass Selbstzitatio102 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Bonn o. J. 103 Gute wissenschaftliche Praxis. Eine Resolution des DHV und der Fakultätentage. In: Forschung & Lehre 19 (2012), S. 634 – 636, Zitate S. 635.
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nen geschwärzt werden, damit der Gutachter auf keinen Fall in Erfahrung bringen kann, an welchen Stellen der Autor seine Position verändert und gegebenenfalls von der scientific community gelernt hat. Zumindest in den Geistesoder Kulturwissenschaften muss ein solches Vorgehen auf das Höchste befremden, zumal es zwei Folgen hat, die den wissenschaftlichen Fortschritt massiv behindern: Zum einen muss der Autor jede seiner Prämissen von Neuem begründen, nicht nur wenn Fußnoten geschwärzt werden, sondern grundsätzlich. Selbst die Koryphäe eines Faches kommt nicht umhin, ihr ganzes, lang währendes Studium der Forschungsliteratur auszubreiten, weil ihr aufgrund der Anonymität eine redlich erworbene Souveränität nicht zugestanden wird. Das führt zweitens zu kleinschrittiger Argumentation und behindert durch verfahrensbedingte Redundanz den Fortschritt maßgeblich, ohne dass die Transparenz der Begutachtung sich erhöhte. Denn dafür fehlen nicht selten die Kriterien, die bisweilen kaum präziser ausgewiesen werden als es die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis tun. Welchen Nutzen sollen anonyme Begutachtungsverfahren in den Geisteswissenschaften bewirken? Ist geistes- und wohl auch sozialwissenschaftliche Forschung nicht immer mit Personen verbunden gewesen, die einmal gefeiert, ein andermal gefeuert wurden? Wird geisteswissenschaftlicher Fortschritt nicht auch oder vor allem durch den Lernprozess der Einzelnen bewirkt? Gilt es nicht vielmehr, in der Sache zu streiten und um Erkenntnisse zu ringen, als der Nivellierung das Wort zu reden? Dafür – so das Plädoyer – sollte der »Nachwuchs« sich einsetzen, nicht für eine Standardisierung, die durch andere Disziplinen propagiert und durch die betriebswirtschaftliche Durchdringung der einstmaligen universitas studiorum104 vorangetrieben und durch entsprechende Bonussysteme goutiert wird. Denn wozu führt das alles? Zur Objektivierung von Forschung? Zumindest zu deren Ranking, das gerne als Qualitätssicherung ausgegeben wird. Allerdings wurde kürzlich festgestellt, dass in (vermeintlich) guten Zeitschriften veröffentlichte Publikationen nicht notwendig gut sind.105 Maßstab für die Güte einer Zeitschrift ist bekanntlich der impact factor, die Anzahl der Zitationen, die Aufsätze einer Zeitschrift in den beiden Jahren nach Erscheinen erfahren. Dabei zeigten Untersuchungen allerdings, dass nur einige wenige Aufsätze tatsächlich zitiert werden, dass die große Zahl ebenso wenig Berücksichtigung in der Fachwelt findet, wie die aus anderen Zeitschriften. Nahezu zwei Drittel der tatsächlich erfolgten Zitationen lassen sich nicht durch den impact factor einer Zeitschrift erklären. Oder, anders gesagt: »Eine sehr kleine Zahl von Aufsätzen
104 Wolfgang E. J. Weber : Geschichte der europäischen Universität. Stuttgart 2002, S. 235 – 245. 105 Margit Osterloh/Bruno Frey : Heißt »gut« publiziert auch gute« Publikation? Über die Rolle des Impact Factors in der Wissenschaft. In: Forschung & Lehre 20 (2013), S. 546 f.
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generiert die größte Zahl der Zitate.«106 Selbst wenn sich diese an mathematischen Periodika gewonnenen Daten nicht auf die Geschichtsdidaktik übertragen ließen, ergäben sich zwei Probleme: zum einen die Messperiode von gerade einmal zwei Jahren. Besitzen nicht gerade die Aufsätze den größten Wert, die noch lange oder vielleicht erst lange nach ihrer Publikation zitiert werden? Wie viele Aufsätze haben überhaupt erst lange nach ihrem Erscheinen für Aufsehen gesorgt? Zum anderen kann schwerlich durch die bloße Zahl der Nennungen der Wert eines Gedankengutes beziffert werden. Ist die Güte eines Artikels unabhängig davon zu gewichten, ob er zustimmend oder ablehnend erwähnt wird? Wohl kaum! Daher gehört es wohl zu den Aufgaben des »Nachwuchses«, solchem Wildwuchs positivistischen Gewichtens durch nominalskalenfundiertes Ranking energisch entgegenzutreten. Was aber macht dann den Wert einer wissenschaftlichen Publikation aus? Die logisch stringente und mehr oder minder souveräne Gedankenführung auf der Basis der Forschungstradition selbstverständlich, abgebunden auf dem Fundament methodisch gesicherter Forschung und rückgebunden durch die Fußnote natürlich. Ihr, der guten alten Fußnote soll am Ende die Ehre gebühren. Nicht erst seit der causa Guttenberg wissen wir um die Brisanz der Fußnote, welche nicht nur bayerische Grafen zu Fall bringen kann. Es war nicht des Schwindelwissenschaftlers Großvater, Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg, der mit seinem Buch »Fußnoten«, das weder Fußnoten enthält, noch sich mit solchen befasst,107 diese Mechanik des wissenschaftlichen Belegens erfunden hat. Sie ist deutlich älter. Und es bedurfte eines US-amerikanischen Kollegen, uns die – wie er zu Unrecht titelt – tragischen Anfänge der Fußnote und deren kurioses Schicksal zu erzählen. Der Princeton-Historiker Anthony Grafton war es, der über das Medium der Fußnote ein Stück Historiografiegeschichte rekonstruierte.108 Ihre Anfänge liegen – ohne dass Vorstufen in Antike und Mittelalter zu vergessen wären – um 1700, als Historiografie und Philologie sich zu einer Einheit verbanden, die den Grundstock der kritischen Geschichtswissenschaft bildete, wie sie sich vor allem seit Leopold von Ranke (1795 – 1886) herausbildete, der bereits 1824 den originalen Quellenbeleg einforderte, ohne selbst dem strengen Postulat immer zu folgen. Damit aber ist nur eine Funktion der Fußnote benannt, nämlich den Beleg der empirischen Triftigkeit zu erbringen. Eine 106 Ebd., S. 547. 107 Karl Theodor zu Guttenberg: Fußnoten. 7. Aufl. Stuttgart 1973. 108 Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Berlin 1995, S. 35; Vgl. Ders.: The footnote from De Thou to Ranke. In: History and Theory 33 (1994), S. 53 – 76. Vgl. dazu Reinhard Stauber: Fußnote und Wissenschaft. Anthony Graftons Historiographiegeschichte aus der Perspektive des unteren Seitenrandes. In: GWU 48 (1997), S. 344 – 349, u. die Rezensionen von Ulrich Marsch. In: H-Soz-u-Kult (Juli 1997) (online verfügbar unter : http://www.h-net.org/revies/showrev.php?id=16099, aufgerufen am 15. 02. 2013).
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zweite besteht in der Auseinandersetzung mit den bereits vorhandenen Werken der Historiografie. Weniger die Anfänge als vielmehr das Schicksal der Fußnote ist tragisch. Nach ihrer ersten Blüte im 18. Jahrhundert verlor sie ihre prominente Rolle im 19. und sank im 20. zur bloßen Routine hinab, bis sie allmählich der Lächerlichkeit preis gegeben wurde109 und im 21. Jahrhundert von einem amerikanischen Belegsystem verdrängt zu werden droht, das nur mehr Autor und Erscheinungsjahr (selten eine Seitenzahl) in runden Klammern in den Text integriert. Zur Recht wurde kürzlich gegen eine solche Zitierweise polemisiert. Der anonyme Autor wendet sich gegen das bloße name-dropping und fordert, die angeführten Referenzen inhaltlich zu charakterisieren und zu kritisieren.110 Darin besteht in der Tat das Minimum an wissenschaftlicher Redlichkeit und Respekt, das der Autor seinen »Vordenkern« entgegenbringen muss. Wissenschaftliche Redlichkeit setzt – wie gesehen – nicht nur korrektes Zitieren, sondern ebenso genaues Recherchieren voraus. Eben das erkennen zu lassen, dazu dient die Fußnote, die durchaus ein Genre eigener Art darstellt. Wird nur affirmativ zitiert? Werden konträre Auffassungen oder gedankliche Vorläufer verschwiegen? Lassen die Ausführungen tatsächlich eine intime Kenntnis des Referenzwerkes, eine Auseinandersetzung des Autors mit demselben gar erkennen? Ganz so beliebig, wie A. Grafton in seiner süffisanten Art insinuiert,111 ist die Auswahl dessen, was zitiert wird, keineswegs. Darüber wacht – oder sollte wachen – die scientific community, die sich ihrer Traditionslinien bewusst ist und die ihre paradigmatischen Standards setzt, an denen sich die Einheit von Text und Fußnoten auszurichten hat. Dabei spielen die Fußnoten eine fundamentale Rolle, insofern sie zu erkennen geben respektive erlauben, auf welchem Fundament das Ausgesagte ruht. Je tiefer und breiter das Fundament, desto gewichtiger das Haus, das auf ihm errichtet werden kann, ohne dass es zum Einsturz kommt! Fußnoten lassen erkennen, welche Mühen der Autor auf sich genommen, ob er hinreichend recherchiert hat,112 ob er die Standards und die Tradition beherrscht. Wissenschaft ist Kernerarbeit, vielleicht vor allem das Schreiben der Fußnoten, was gelernt sein will. Aber das gehört zum Geschäft des Historikers und Geschichtsdidaktikers dazu wie – um zum Ausgangsbeispiel zurückzukehren – das 109 Vgl. die süffisante Zusammenfassung seiner Ergebnisse bei Grafton 1995 (Anm. 108), S. 225 – 228. Wenn Stauber (Anm. 108), S. 347, die Tragik des Anfangs in Zweifel zieht, weil die Fußnote »in den erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhundert« verortet sei, hat er Recht, allerdings bezieht sich die Tragik, die Grafton meint, wohl eher auf die Theatralik mit der ihre Bedeutsamkeit u. a. bei L. v. Ranke beschworen wurde und – wie im Text vermerkt – auf das Schicksal der Fußnote. 110 N. N.: »Müller 1993 hat dazu irgendwas gesagt«. Über Literaturangaben und wissenschaftlichen Stil. In: Forschung & Lehre 20 (2013), S. 298. 111 Grafton 1995 (Anm. 108), S. 228. 112 Ebd., S. 348.
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Bohren zur Praxis des Zahnarztes. Kann es sein, dass – wie A. Grafton mutmaßt –, »das hochtourige Sirren des Zahnarztbohrers« dem »leise(n) Gemurmel der Fußnote« entspricht, dass der Schmerz, den der Bohrer verursacht, der Langweile entspricht, die das Lesen der Fußnoten hervorruft? Sind Schmerz und Langeweile der Preis der modernen Technik? Lästig aber notwendig?113 So mag der Zahnarzt denken, der sein Geschäft als Broterwerb betreibt, nicht aber der philosophische Kopf, der Wissenschaftler, der nach Erkenntnis strebt, wie wir ihn in der Geschichtsdidaktik brauchen.114 Für ihn eröffnen Fußnoten alte und neue Horizonte. Für ihn ist das Gemurmel der Fußnoten wie das Singen der Sirenen: betörend und verführerisch! Wer richtig hinhört, dem droht, sich in den Frequenzen zu verlieren. Wer sich fest an die disziplinäre Matrix seiner Disziplin bindet, der kann dem Gesang wie Odysseus widerstehen. Wer aber wie Orpheus mit seiner eigenen Leier den Sirenen begegnet, der kann sie womöglich übertönen. Im Spiele der Leier also gilt es sich zu üben, das Schreiben der Fußnoten zu beherrschen. Die alten Lieder muss man können, bevor man die neuen spielt, die selbst die Sirenen bezirzen!
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Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik
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Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989 (Grundzüge einer Historik, Bd. 3). Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Neuaufl. Schwalbach/Ts. 2008. Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik, 3 Bde. Göttingen 1983, 1986, 1989. Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nicht-narrativistische Faktoren. In: Internationale Schulbuchforschung 17 (1996), S. 501 – 544. Martin Sabrow: Nach dem Pyrrhussieg. Bemerkungen zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik. In: Zeithistorische Forschungen 2 (2005), S. 268 – 273. Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung, 3. völlig neu bearb. Aufl. Schwalbach/Ts. 2005. Michael Sauer : Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht heute. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer für mehr Pragmatik. In: GWU 55 (2004), S. 212 – 232. Friedrich Schiller : Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 4, hrsg. v. Wolfgang Riedel. München, S. 749 – 767. Carl Christian Erhard Schmid: Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften (4. Aufl. Jena 1798). ND 4. Aufl. Darmstadt 2005. Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988 (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd. 1). Gerhard Schneider : Wie die Zeitschrift GESCHICHTSDIDAKTIK entstand – Erinnerungen eines Beteiligten. In: Ursula A. J. Becher/Klaus Bergmann (Hrsg.): Geschichte – Nutzen oder Nachteil für das Leben? Düsseldorf 1986 (Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien, Bd. 43), S. 157 – 165. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik in erweiterten Perspektiven. Versuch einer Bilanz nach drei Jahrzehnten. In: Saskia Handro/Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Identität – Bildungsgeschichte – Politik. Karl Ernst Jeismann zum 50jährigen Doktorjubiläum. Münster 2007 (ZfL-Texte, Bd. 18), S. 9 – 30. Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Forschungskonzept der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 78 – 86. Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Wiederholungsstruktur? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 34 (2006), S. 182 – 191. Bernd Schönemann: Zum Stand der Disziplin. In: Bernd Schönemann/Hartmut Voit (Hrsg.): Europa in historisch-didaktischen Perspektiven. Idstein 2007 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 22), S. 11 – 20. Rolf Schörken: Geschichte in der Alltagswelt. Wie uns Geschichte begegnet und was wir aus ihr machen. Stuttgart 1981. Rolf Schörken: Geschichte im Alltag. Über einige Funktionen des trivialen Geschichtsbewußtseins. In: GWU 30 (1979), S. 73 – 89. Rolf Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewusstsein. In: GWU 23 (1972), S. 81 – 89. Peter Schulz-Hageleit: Wie lehrt man Geschichte heute? Heidelberg 1973. Peter Schulz-Hageleit: Was lehrt uns die Geschichte? Pfaffenweiler 1989. Peter Schulz-Hageleit: Geschichte, Psychologie und Lebensgeschichte. Fünf Aufsätze. Berlin 1988.
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Wolfgang Hasberg
Peter Schulz-Hageleit: Geschichte, Psychologie und Lebensgeschichte. Acht Aufsätze. Berlin 1995. Peter Schulz-Hageleit: Geschichtsbewusstsein und Zukunftssorge. Unbewusstheiten im geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Diskurs. Geschichtsunterricht als »historische Lebenskunde«. Herboltzheim 2004. Peter Schulz-Hageleit: Grundzüge geschichtlichen und geschichtsdidaktischen Denkens. Frankfurt a. M. u. a. 2002. Kurt Sonntag: Das geschichtliche Bewußtsein des Schülers. Ein Beitrag zur Bildungspsychologie. Erfurt 1932. Reinhard Stauber : Fußnote und Wissenschaft. Anthony Graftons Historiographiegeschichte aus der Perspektive des unteren Seitenrandes. In: GWU 48 (1997), S. 344 – 349. Ewald Terhart: »Bildungswissenschaften«: Verlegenheitslösung, Sammeldisziplin, Kampfbegriff ? In: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012), S. 22 – 39. Wolfgang E. J. Weber : Geschichte der europäischen Universität. Stuttgart 2002.
I. Sektion: Vorstellungen – Was wissen wir darüber, was Lehrer und Schüler über Geschichte wissen und können?
Georg Kanert
Motivationale Beweggründe für die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs und des Studienfachs Geschichte
Der vorliegende Aufsatz gliedert sich in zwei Teile: Im ersten wird die eigene Studie mit ihrem Forschungsanliegen, den leitenden Fragestellungen und dem methodischen Design vorgestellt. Unabhängig davon folgt im zweiten Abschnitt die Betrachtung einer Fragestellung, die das erkenntnisleitende Interesse der Untersuchung erweitert. Es werden die motivationalen Bedingungsmerkmale der untersuchten Kohorte von Geschichtslehrkräften betrachtet, welche als grundlegende Ressourcen für das erfolgreiche Durchlaufen der zweiphasigen Ausbildung, bestehend aus Studium und Referendariat, angesehen werden.
1.
Die Studie: Untersuchung der Wirksamkeit der Geschichtslehrerausbildung
Für die aus den Ausbildungsinstitutionen entlassenen Lehrerinnen und Lehrer stellt der Berufseinstieg eine Phase dar, die bereits von einigen erziehungswissenschaftlichen Studien beleuchtet wurde.1 Diese bisherigen Untersuchungen sind ein markanter Verweis darauf, wie bedeutsam und anspruchsvoll die Berufseingangsphase, also die ersten zwei bis drei Jahre der Berufslaufbahn, sind. Schwierigkeiten, Belastungen, Beanspruchungen, Entwicklungsaufgaben dieser Phase werden durch die meist überfachliche, erziehungswissenschaftliche Folie skizziert – eine fachliche Konturierung bleibt gewöhnlich aus. Durch den Erwerb des in die Profession aufnehmenden Berechtigungswissens sind die Lehrkräfte nicht mehr in die strukturellen Zusammenhänge der zuvor besuch1 Sieh u. a. Gisela Müller-Fohrbrodt u. a.: Der Praxisschock bei jungen Lehrern. Formen – Ursachen – Folgerungen. Stuttgart 1978; Frank Lipowsky : Wege von der Hochschule in den Beruf. Eine berufliche Studie zum beruflichen Erfolg von Lehramtsabsolventen in der Berufseinstiegsphase. Bad Heilbrunn 2003; Uwe Hericks: Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe. Rekonstruktion zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern. Wiesbaden 2006; Manuela Keller-Schneider : Entwicklungsaufgaben im Berufseinstieg von Lehrpersonen. Münster u. a. 2010.
66
Georg Kanert
ten Ausbildungsinstitutionen eingebunden. Mit der Übernahme einer Lehrerstelle sind die Berufsnovizinnen und -novizen weitestgehend beruflich auf sich allein gestellt und müssen sich mit den Gegebenheiten des Systems »Schule« und in ihrer neuen Rolle als Lehrperson beziehungsweise Geschichtslehrkraft zurechtfinden. Das in der Ausbildung erworbene prozedurale und deklarative Handlungswissen muss sich in der Phase des Berufseinstiegs bewähren. Die eigene Studie hinterfragt, inwieweit die Berufsanfängerinnen und -anfänger mit diesem Wissen zugleich eine Expertise erworben haben, die sie in der Schulwirklichkeit mit ihren vielfältigen Anforderungen, Belastungen und pluralistischen Erwartungen bestehen und handeln lässt. Ausgehend von der Annahme, dass die Lehrerbildung entsprechende Wirkungen formt, die im Zuge von Wirksamkeitsuntersuchungen auch erhoben werden können, ist es das Anliegen der Studie, die Wirksamkeit der Geschichtslehrerausbildung bei baden-württembergischen Grund-, Haupt- und Realschullehrkräften zu untersuchen. Grundlegende Fragestellungen der Untersuchung sind u. a.: – Greifen die Berufseinsteigenden auf das Wissen zurück, das sie in ihrer Ausbildung erworben haben? – Und wenn ja, auf welche fachlichen und überfachlichen Wissensbestände können die Probanden nach ihrer Ausbildung zurückgreifen? – Welche Bedeutsamkeit und Handlungsrelevanz wird den abgefragten Wissensbeständen zugeschrieben? – Können Bereiche aufgedeckt werden, in denen die Berufsanfängerinnen und -anfänger rückblickend der Geschichtslehrerausbildung klare Defizite attestieren? – Lassen sich Effekte im Professionalisierungsprozess der Berufseinsteigenden von Erhebungs- zu Erhebungszeitpunkt aufzeigen? Für die Erhebung konnte eine Probandengruppe von 259 Geschichtslehrkräften (Anfangsstichprobengröße) gewonnen werden. Die Probandinnen und Probanden werden vom Ende des Referendariats über die Berufseinstiegsphase zur Phase der Stilbildung längsschnittartig begleitet. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer füllen einmal im Jahr einen Fragebogen aus.2 Messung und Differenzierung erfolgen mit Hilfe von Standards. Im Zuge der Bildung einiger überfachlicher Standardgruppen fand eine Orientierung an bereits validierten
2 Sieh zum Untersuchungsdesign und seinen Konstruktionsproblemen: Georg Kanert: Längsschnittuntersuchungen der Ausbildung von Geschichtslehrkräften. Notwendigkeit, Grenzen und Herausforderungen. In: Jan Hodel/Monika Waldis/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 12. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 12«. Bern 2013, S. 72 – 83.
Motivationale Beweggründe für die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs
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Standards bisheriger erziehungswissenschaftlicher Studien statt.3 So brauchbar diese Studien für die Konstruktion der generischen Kompetenzen der Geschichtslehrkräfte sind, so unfruchtbar ist der solitäre Blick durch die erziehungswissenschaftliche Folie für das Erheben von Fachlichkeit. Die Ausdifferenzierung von Standards, die Fachlichkeit in Skalen abbilden, war eine besondere Herausforderung bei der Konstruktion des Fragebogens. Wie genau fachliches und fachdidaktisches Wissen voneinander zu trennen sind, miteinander in Verbindung stehen und um welche Wissenstypen es sich dabei handelt, ist nur in Ansätzen erforscht.4 Nach Gary Fenstermacher lässt sich das Wissen, also ebenso das pädagogische Wissen und das Fachwissen, in ein formales und ein praktisches Wissen und Können, »formal versus practical knowledge«, ausdifferenzieren.5 Das Fachwissen der Geschichtswissenschaft basiert auf der Theorie und der Didaktik der Geschichte sowie der historischen Forschung. Wenn Forschung über Geschichtslehrkräfte nicht nur auf die Untersuchung von fachdidaktischen Wissensbeständen reduziert werden soll, müssen drei Bereiche berücksichtigt werden: erstens die Konstruktion von Standards zu historischer Forschung und Geschichtswissenschaft, zweitens Standardgruppen zur Geschichtsdidaktik, die zum einen geschichtsdidaktische Theorie und zum anderen den Geschichtsunterricht in den Blick rücken, und drittens Items, die die Gestaltung des Geschichtsunterrichts in Form von Methoden, Medien und Sozialformen abbilden.6 Mit der Operationalisierung fachlicher Standardgruppen, welche die drei Ebenen »Theorie«, »Planung« und »Handlung der Geschichtslehrertätigkeit« abbilden, wird bisher Unerforschtes in den geschichtsdidaktischen Diskurs eingebracht. Die gebildeten Standards werden mit Hilfe der drei Dimensionen »Verarbeitungstiefe«, »Bedeutsamkeit« und »Anwendungswahrscheinlichkeit« gemessen.7 Es wird danach gefragt, mit welcher Ausprägung, subjektiv eingeschätzt, ein Standard aufgebaut wurde, ob die Probandinnen und Probanden dem Standard eine subjektive Bedeutung
3 Vgl. Manfred Seidenfuß/Georg Kanert: Die Wirksamkeit der Geschichtslehrerbildung. Forschungsansätze und Forschungsergebnisse. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern – nationale und internationale Perspektiven. Göttingen 2013 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 5), S. 137 – 164. 4 Vgl. Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Stichwort. Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006), S. 469 – 520, hier S. 492. 5 Vgl. Gary D. Fenstermacher: The knower and the known: The nature of knowledge in research on teaching. In: Review of Research in Education 20 (1994), H. 1, S. 3 – 56. 6 Zur Konstruktion der fachlichen Standardgruppen sieh: Manfred Seidenfuß/Georg Kanert (Anm. 3). Siehe auch: Georg Kanert (Anm. 2). 7 Orientierung an Oser : Fritz Oser/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Die Wirksamkeit der Lehrerbildungssysteme. Chur/Zürich 2001.
68
Georg Kanert
zuschreiben und ob sie danach in Zukunft in ihrer Tätigkeit als Geschichtslehrkraft handeln werden.
2.
Motive für die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs und des Studienfachs Geschichte
2.1
Theorien zur Berufswahl
Die Wahl des Berufs ist eine grundlegende Entscheidung im Leben. Die Berufswahl wird letztendlich von zahlreichen Faktoren, wie z. B. der persönlichen Interessenslage, den eigenen Fähigkeiten, dem Herkunftsmilieu (sei es die Familie oder die »Peergroup«), dem eigenen Bildungsabschluss, dem Arbeitsmarkt und der individuellen Motivation beeinflusst. »[…] Berufsfindung steht in Verbindung, mitunter auch in Konflikt, mit anderen Lebensbereichen und diesen Kontext gilt es zu berücksichtigen, sollen Berufsfindungsprozesse sowohl aus ihrer strukturellen Rahmung […] (als auch aus) der Subjektperspektive heraus aufgezeigt und verstanden werden […]«.8 Die weiteren Ausführungen in diesem Abschnitt folgen den Ausführungen von Ingo Blaich.9 In den letzten Jahrzehnten wurde eine Vielzahl an Berufswahltheorien entwickelt. Je nach Abhängigkeit der Einflussfaktoren, die die Theorien der Berufswahl bedingen, werden unterschiedliche Schwerpunktbildungen ausgewiesen. So betont die Selbstkonzepttheorie, nach Donald Super, die Realisierung des eigenen Selbstkonzeptes innerhalb eines bestimmten Möglichkeitshorizontes. Dagegen ordnet die Kongruenztheorie, nach John Holland, individuelle Persönlichkeitsmerkmale Berufsfeldern zu, d. h. die Eignung und das Interesse für einen Beruf resultieren aus der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur. Dieser spezifischen Analyseebene können Berufswahltheorien gegenübergestellt werden, die die Mesoebene, auf der sich ein Individuum bewegt, beleuchten. Dazu zählen der milieutheoretische Ansatz, der die Berufswahl als Vermittlung von subjektiven, letztlich aber herkunftsgeprägten Ausbildungsvoraussetzungen mit Berufsanforderungen und Lebenszielen begründet,10 und die Berufswahltheorie der beruflichen Ambitionen nach Linda S. Gottfredson, bei der sich das berufliche Selbstkonzept durch Angleichung der Ansprüche und Realisierungschancen in der Ontogenese entwickelt und zur Be8 Ingo Blaich: Ratlos oder schlecht beraten? Diskontinuierliche Ausbildungsbiografien von Abiturienten. Dresden 2010, S. 10. 9 Ebd. 10 Vgl. Ulrich Beck u. a.: Berufswahl und Berufszuweisung. Zur sozialen Verwandtschaft von Ausbildungsberufen. Frankfurt a. M./New York 1979.
Motivationale Beweggründe für die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs
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rufswahl befähigt. Auf der Makroebene lassen sich die Allokations-/Segmentationstheorie, die besagt, dass die Berufswahl vom Angebot des Arbeitsmarktes bestimmt ist und gleichzeitig auch eine sozial differenzierende Zuweisung von Personen zu Berufsfeldern (Arbeitsmarktsegmenten) regelt, und die Laufbahntheorie, nach Martin Kohli, bei dessen strukturtheoretischem Ansatz objektiv vorgegebene Berufslaufbahnen als antizipatorische Struktur für die individuelle Berufswahlentscheidung wirken, verorten. Der Ansatz von D. Super wird an dieser Stelle näher beleuchtet: Es geht darum, eine individuelle Passung zwischen dem eigenen Selbstkonzept und dem zu wählenden Beruf herzustellen – der Beruf wird also danach gewählt, inwieweit er mit dem eigenen Selbstkonzept kompatibel ist. Diese Passung wird durch verschiedene, zum Teil auch in anderen Konzepten genannte Faktoren, die die Berufswahl beeinflussen, gefördert oder gehemmt. Beispielsweise ist der für den angestrebten Beruf notwendige Bildungsabschluss nicht vorhanden, die Entfernung oder der Anfahrtsweg zu einer Ausbildungsstätte, subjektiv betrachtet, zu groß oder die Erwartungshaltungen des familiären Umfeldes beeinflussen die Berufswahl. Möglicherweise müssen das Selbstkonzept oder die Wahl des Berufes aufgrund einer fehlenden Passung überdacht und verändert werden. Im Zuge dieses Strebens nach einer möglichst großen Deckungsgleichheit zwischen dem Selbstkonzept und dem gewünschten Beruf kommt es häufig zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Neuordnung des Selbstkonzepts. Deshalb wird dieser Ansatz auch als »entwicklungspsychologische Berufswahltheorie« bezeichnet. Zeichnen sich erst im Zuge der späteren Konfrontation mit der Berufspraxis Widersprüche zwischen der individuellen Anspruchshaltung und dem Wunsch nach subjektiver Erfüllung und Selbstentfaltung ab, so tritt das »Passungsproblem« und eine damit möglicherweise verbundene Neuordnung des Selbstkonzepts erst zu Karrierebeginn oder sogar noch später auf. Im Allgemeinen stellt die Berufs- beziehungsweise Ausbildungswahl »einen komplexen Entscheidungsprozess dar, in dem zahlreiche Faktoren wirksam werden können: – individuelle Ziele und Interessen, die durch Sozialisationsprozesse (auch in der Schule) beeinflusst sind; – die subjektive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten; – berufsrelevante Erfahrungen, Vorstellungen und Informationen; – die Anforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Berufs; – Anforderungen, Dauer und Kosten der Ausbildung; – Arbeitsplatzangebot und -sicherheit«.11
11 Klaus Ulich: »Ich will Lehrer/in werden«: Eine Untersuchung zu den Berufsmotiven von Studierenden. Weinheim/Basel 2004, S. 8.
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Georg Kanert
Diese Vielzahl von Faktoren, die die Berufswahl beeinflussen, weckt das Interesse, ob sich für die Wahl des Lehrerberufs charakteristische Motivmuster zeichnen lassen. 2.1.1 Motive12 für die Berufswahl Berufslaufbahnen zeichnen meist nicht mehr den »klassischen« Weg über Berufswahl, Ausbildung beziehungsweise Studium und die nachfolgende Berufstätigkeit, sie haben sich mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert immer mehr entgrenzt. »Diese Entwicklungen haben nicht nur die Arbeitswelt grundlegend verändert, sie haben auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Lebensführung der Individuen. Wir beobachten eine Erosion standardisierter Erwerbsbiografien und traditioneller Lebensverläufe. Damit stellen sich neue Anforderungen an die Lebensplanung und biografische Gestaltung. Während standardisierte Beschäftigungsverhältnisse und institutionalisierte Lebensläufe Strukturen und Ablaufschemata vorgeben, die den einzelnen entlasten, erfordern diskontinuierliche Arbeitsverhältnisse und Lebensläufe ein Mehr an aktiver Gestaltung und biografischem Selbstmanagement. Viele Jugendliche fühlen sich durch diese Anforderungen überfordert und versuchen, Zeit für die immer komplexer werdenden Entscheidungsprozesse zu gewinnen – in Form eines Moratoriums zwischen Abitur und Studium beziehungsweise Berufsausbildung. Dieses trägt gleichsam zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Übergänge bei und steigert so die Komplexität der Berufswahlentscheidung weiter.«13
Um diese Unsicherheiten, die viele Berufe und damit verbundene Lebensstile mit sich bringen, zu reduzieren, fühlen sich immer mehr junge Menschen von Berufen angezogen, die vermeintliche Sicherheit und Stabilität versprechen – dazu gehört auch der Beruf des Lehrers. Sicherheit verspricht der weitestgehend noch bestehende Beamtenstatus, Stabilität die meist nur auf Schulamtsbezirke beschränkte räumliche Flexibilität nach Einstellung. Dies sind nur zwei Überlegungen, die im Zuge der Berufswahl reflektiert werden dürften. Vielleicht verhaften manche junge Menschen nach dem Abitur an einem Lehrerberufsbild, das sie lediglich aus ihrer eigenen Schulzeit, also aus der Perspektive einer 12 Zum Motivbegriff: Ein Motiv ist der Antrieb für ein Verhalten, er gibt ihm Energie und Richtung. Vgl. Rita L. Atkinson u. a.: Hilgards Einführung in die Psychologie. 13. Aufl. Heidelberg 2001, S. 343. Zum Begriff der Motivation: »Motivation ist die Gesamtheit der in einem individuellen Gefüge wirksamen Motive«. Heinz Heckhausen: Motivation: Kognitionspsychologische Aufspaltung eines summarischen Konstruktes. In: Psychologische Rundschau, 28 (1977), S. 175 – 189, hier S. 175. 13 Helene Knauf/Mechthild Oechsle: Berufsfindung im Prozess: Wie tragfähig ist die Studienund Berufswahl. IFF Info 31. Bielefeld 2006, S. 2 (online verfügbar unter : http://www.be rufsorientierung-lebensplanung.de/pdf/Berufsfindung%20im%20Prozess_IFF%20Info%20 Endversion.pdf, aufgerufen am 05. 03. 2013).
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Motivationale Beweggründe für die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs
Schülerin oder eines Schülers, kennen, was aber nicht zwingend die Berufswirklichkeit einer Lehrkraft widerspiegelt, und wählen möglicherweise deshalb diesen Beruf. Die Tatsache, dass man sich mit der Wahl des Lehrerberufs auch für eine gewisse Determiniertheit entscheidet, sowie die Frage, inwieweit man überhaupt für diesen Beruf geeignet ist, werden dabei häufig ausgeblendet. Die Außensicht auf den Lehrerberuf sieht häufig triviale Motive, warum Menschen gerade diesen Beruf zu ihrer Profession machen. Allen voran werden die vielen Ferien, der Beamtenstatus und das Ausmaß an Freizeit genannt. Eine solche Reduktion auf einförmige Berufswahlschablonen, in die die Lehrkräfte hineingezwängt werden, bedarf einer differenzierten Erweiterung durch andere motivationale Beweggründe.
2.1.2 Die Studien- und Berufswahlmotive der Untersuchungsgruppe Im Zuge der vorliegenden Studie werden 13 mögliche Studien- und Berufswahlmotive erhoben. Diese lassen sich den von Uwe Rauin und Uwe Meier entwickelten vier Skalen zu Studien- und Berufswahlmotiven, »Lehrerstudium als Notlösung«, »Pragmatische Studien- und Berufswahlmotive«, »Hedonistische Studien- und Berufswahlmotive« sowie »Pädagogische Studien- und Berufswahlmotive«14 zuordnen. Studien- und Berufswahlmotive15 Ich hatte deshalb das Lehramtsstudium begonnen, weil …
Starke Starke Ablehnung/ Zustimmung/ Ablehnung Zustimmung
»Lehramtsstudium als Notlösung« … andere Studienwünsche nicht realisierbar waren. … ich zum jetzigen Zeitpunkt keine guten Alternativen habe.
182/70,2 %
27/10,4 %
199/76,8 %
16/6,2 %
… mir nahestehende Personen dazu geraten haben.
114/44,0 %
67/25,9 %
14 Vgl. Udo Rauin/Uwe Meier : Subjektive Einschätzungen des Kompetenzerwerbs in der Lehramtsausbildung. In: Manfred Lüders/Jochen Wissinger (Hrsg.): Forschung zu Lehrerbildung. Kompetenzentwicklung und Programmevaluation. Münster u. a. 2007, S. 103 – 131, hier S. 110. 15 Die Fragen zur Berufs- und Studienmotivation beziehungsweise zur Wahl des Faches Geschichte (Tabelle 2) wurden konstruiert in Anlehnung an Christian Brühwiler: Die Bedeutung von Motivation in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung. In: Oser/Oelkers (Anm. 7): S. 343 – 398, u. Frank Lipowsky : Wege von der Hochschule in den Beruf. Eine berufliche Studie zum beruflichen Erfolg von Lehramtsabsolventen in der Berufseinstiegsphase. Bad Heilbrunn 2003.
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Georg Kanert
(Fortsetzung) Studien- und Berufswahlmotive15 Ich hatte deshalb das Lehramtsstudium begonnen, weil …
Starke Starke Ablehnung/ Zustimmung/ Ablehnung Zustimmung
»Pragmatische Studien- und Berufswahlmotive« … ich in meinem bisherigen Umfeld bleiben kann. … Beruf und Familie gut vereinbar sind und auch Teilzeitarbeit ohne Probleme realisierbar ist.
160/61,8 %
34/13,1 %
52/20,1 %
139/53,6 %
26/10,1 %
166/64,1 %
65/25,1 %
104/40,1 %
11/4,2 %
198/76,5 %
… ich das Studium als leicht bewältigbar einschätze. … mir die Wissensvermittlung Freude bereitet.
130/50,2 % 3/1,2 %
34/13,1 % 231/89,2 %
»Pädagogische Studien- und Berufswahlmotive« … ich gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeite.
0/0,0 %
253/96,0 %
1/0,4 %
250/96,6 %
5/2,0 %
216/83,4 %
… ein sicheres und gutes Einkommen damit verbunden ist. … die Arbeitszeit geregelt ist, und ich über die Einteilung der Arbeitszeit selbst bestimmen kann. »Hedonistische Studien- und Berufswahlmotive« … ich weiterhin meine Neigungen und Interessen verfolgen kann.
… ich Kinder und Jugendliche bei ihrer Entwicklung unterstützen kann. … ich eine gesellschaftlich bedeutsame Aufgabe ausüben kann und die Gewissheit habe, etwas Sinnvolles zu leisten.
Tabelle 1: Studien- und Berufswahlmotive (intrinsische Motive grau hinterlegt).
Die im Fragebogen angebotenen fünf Antwortformate der Likert-Skala werden im Rahmen der Auswertung verdichtet (Gleiches gilt auch für die Antwortmöglichkeiten bei der Studienfachwahl Geschichte). Um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, werden die Ergebnisse der Standardausprägungen »starke Zustimmung« und »Zustimmung« sowie gleichfalls »starke Ablehnung« und »Ablehnung« zusammengeführt. Die Antwortmöglichkeit »neutral« wird dabei ausgeblendet. Die Resultate des intrinsischen Motivkomplexes fallen deutlich höher aus als die des extrinsischen. Den beiden pädagogischen Studien- und Berufswahlmotiven, »gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeiten« und »deren Entwicklung unterstützen«, stimmen nahezu alle Befragten zu (96,0 % beziehungsweise 96,6 % »starke Zustimmung«/»Zustimmung«). Ebenso weisen die anderen drei intrinsischen Motivlagen gegenüber den extrinsischen erkennbar höhere Werte auf: 89,2 % wählen den Beruf, weil ihnen Wissensvermittlung Freude bereitet, 83,4 % stimmen der Ansicht zu, dass der Lehrerberuf eine sinnvolle und gesellschaftlich bedeutsame Aufgabe ist, und 76,5 % sagen, dass sie mit dieser Tätigkeit einen Beruf wählen, der ihren Interessen und Neigungen
Motivationale Beweggründe für die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs
73
entspricht und diese im Zuge der Berufsausbildung weiter verfolgt werden können. Die markanten intrinsisch-pädagogischen Motivlagen werden auch von anderen Studien nachgezeichnet, in denen die Rangliste der Berufswahlmotive ebenso durch das Motiv der Freude und dem Wunsch, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten beziehungsweise gerne mit Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein, angeführt wird.16 Eine deutliche Schwerpunktbildung auf die intrinsische Motive bildet sich gleichermaßen in internationalen Studien ab: So zeigt die Studie TEDS-M 2008,17 dass die Probandinnen und Probanden der Teilnehmerländer auch »vor allem den intrinsisch-pädagogischen Aussagen stark«18 zustimmen und extrinsische Berufswahlmotive im Mittel eher abgelehnt werden. Die hohe Dominanz der intrinsischen Motive kann als ein Anzeichen dafür gedeutet werden, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Erhebung im Zuge ihrer Berufsfindung ganz bewusst für den Beruf des Lehrers entschieden haben – die Ergebnisse sind schließlich ebenso im Hinblick auf die Begrenztheit einer späteren Brauchbarkeit des Lehramtsstudiums für andere Berufsfelder zu betrachten. Andere Studiengänge bieten eine Vielfalt an späteren Berufsfeldern. Lehramtsstudierende müssen ihre Entscheidung im Hinblick auf ein ganz konkretes späteres Berufsziel im Voraus treffen. Den dominierenden Ergebnissen der intrinsischen Motivationslage folgt mit relativ hohem Prozentwert von 64,1 % das Item des Berufswahlmotivs, das den Lehrerberuf mit einem sicheren und guten Einkommen verbindet, d. h. knapp 16 Vgl. Klaus Steltmann: Motive für die Wahl des Lehrerberufs. In: Zeitschrift für Pädagogik 26 (1980), H. 4, S. 581 – 586; Detlef Oesterreich: Die Berufswahlentscheidung von jungen Lehrern. Berlin 1987; Ewald Terhart u. a.: Berufsbiographien von Lehrern und Lehrerinnen. Frankfurt a. M. 1994; Wilhelm Urban: Erwartungshaltungen, Berufsmotive, Berufsorientierung sowie Streß- und Copingverhalten angehender Lehrer. In: Johannes Mayr (Hrsg.): Empirische Erkundungen zum Studium an der Pädagogischen Akademie. Wien 1996, S. 5 – 22; Lipowsky (Anm. 15); Walter Herzog u. a.: Studien- und Berufswahlmotive aus biographischer Sicht: Ergebnisse einer Studie zu Karriereverläufen von Primarlehrpersonen. Beitrag zur Arbeitsgruppe 22 »Lehrer/in werden – und bleiben? Studien zur (Selbst-)Rekrutierung und zum Verbleib im Beruf« im Rahmen des Kongresses »Bildung über die Lebenszeit« in Zürich am 22. März 2004. Zürich 2004; Klaus Ulich: »Ich will Lehrer/in werden«. Eine Untersuchung zu den Berufsmotiven von Studierenden. Weinheim/Basel 2004. 17 TEDS-M: Teacher Education and Development Study : Learning to teach Mathematics. Teilnehmerländer : USA, Botswana, Schweiz, Chile, Norwegen, Deutschland, Philippinen, Singapur, Malaysia, Oman, Thailand, Taiwan, Georgien, Polen, Russland. 18 Sigrid Blömeke/Christiane Buchholtz/Rainer Lehmann: Demographischer, schulischer und motivationaler Hintergrund angehender Mathematiklehrkräfte für die Sekundarstufe I im internationalen Vergleich. In: Dies.: TEDS-M 2008. Professionelle Kompetenz und Lerngelegenheiten angehender Mathematiklehrkräfte für die Sekundarstufe I im internationalen Vergleich. Münster 2010, S. 137 – 168, hier S. 163 f.
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Georg Kanert
unter zwei Drittel der Probanden sind sowohl stark pädagogisch motiviert und sehen auch die finanzielle Attraktivität des Lehrerberufs bezüglich der Höhe und Sicherheit des Einkommens. Immerhin noch 53,6 % schätzen die gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Möglichkeit, auch in Teilzeit arbeiten zu können. Anhand der erhobenen Daten wird ersichtlich, dass die sehr hohe intrinsische Motivation (bei den pädagogischen Motiven nahezu 100 %) mit guten Ergebnissen der extrinsischen Motivation (in der vorliegenden Studie bei den pragmatischen Studien- und Berufswahlmotiven) vereinbar ist. Auch Frank Lipowsky kommt zu dem Ergebnis zweier unabhängiger Berufsmotivationsfaktoren.19 Im Verlauf der Auswertung der Potsdamer LAK-Studie über die zweite Phase der Lehrerbildung konstruieren Schubarth u. a. drei Berufsmotiv-Typen (Intrinsischer Typ, Extrinsischer Typ und Mischtyp). Auch in dieser Untersuchung überwiegt der Mischtyp mit 60 % deutlich. Die Lehrkräfte, bei denen sich die Antworten merklich bei den intrinsischen bzw. extrinsischen professions- und fachbezogenen Motiven verdichten, machen lediglich ca. ein Viertel der Gesamtpopulation aus (Intrinsischer Typ 21 %, Extrinsischer Typ 18 %).20 Bei den sehr hohen pädagogisch-intrinsischen Motivlagen erstaunt, dass immerhin über ein Viertel der Befragten aussagt, sich für das Lehramtsstudium entschieden zu haben, weil ihnen nahestehende Personen dazu geraten haben. Wie oben ausgeführt, schließt sich diese Kopplung von intrinsischen und extrinsischen Motivlagen nicht aus. Da es sich hier aber um ein Item aus der Skala der Berufswahlmotive »Lehrerstudium als Notlösung« und nicht um ein pragmatisches Motiv handelt, ist dieser Umstand kritisch zu betrachten – immerhin 25,9 % der Testpersonen lassen sich bei ihrer Berufswahl von Außenstehenden leiten. Interessant wäre dahingehend die Frage, mit welchen Argumenten Verwandte oder Freunde ihre Ratschläge untermauern. Dass es sich auch hier eher um pragmatisch ausgerichtete Argumente handeln dürfte, bleibt spekulativ. Möglicherweise drückt sich in den hohen Ergebnissen des intrinsischen Motivationsbereichs auch das Phänomen des sozial Erwünschten aus. Dieser Vermutung könnte mit den bereits skizzierten Studien entgegnet werden, die zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der intrinsischen Motivlagen kommen und damit die Validität der eigenen Ergebnisse belegen. Die Erhebung der Berufswahlmotive steht in einem Zusammenhang mit den Belastungen im Lehrerberuf. Die Vermutung liegt nahe, dass diejenigen, die den Lehrerberuf aus rein pragmatischen Gründen heraus wählen oder den Weg, Lehrer zu werden, als »Notlösung« beschreiten, im späteren Beruf belasteter sind 19 Vgl. Lipowsky (Anm. 16), S. 162. 20 Vgl. Wilfried Schubarth u. a.: Endlich Praxis! Die zweite Phase der Lehrerbildung. Potsdamer Studien zum Referendariat. Frankfurt a. M. 2007, S. 56 f.
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als diejenigen, die vorwiegend intrinsisch-pädagogisch motiviert sind. Die Studien von Michael Behr sowie von Uwe Schaarschmidt und Andreas Fischer belegen, dass Lehrkräfte, die den Beruf tendenziell mehr aus Notlösungs- beziehungsweise pragmatischen Gründen wählen, im Beruf unzufriedener und deutlich beanspruchter sind.21 Lipowsky sagt in diesem Zusammenhang, dass eine niedrigere intrinsische Motivation für den Lehrberuf auch Vorteile haben kann. Falls ein Lehramtsanwärter nach seinem Referendariat keine Stelle bekommen sollte, dürfte sich eine weniger ausgeprägte intrinsische Berufsmotivation »eher abschwächend auf die Bindung an den Lehrerberuf auswirken und eine berufliche Neuorientierung erleichtern«22. Ergebnisse einiger Studien23 bescheinigen »[…] Frauen im Vergleich zu Männern eine geringere extrinsische Motivation – in der Regel über Arbeitszeiten, Einkommen, Status u. ä. operationalisiert – […] den Lehrerberuf zu ergreifen […]. Stattdessen stünde bei ihnen ein größeres pädagogisches Interesse im Vordergrund.«24 Ein höheres pädagogisches Interesse bei Frauen lässt sich auch in der vorliegenden Studie feststellen. Die weiblichen unterscheiden sich von den männlichen Probanden bei den pädagogischen Studien- und Berufswahlmotiven zwischen 2 und 14 Prozentpunkten (»starke Zustimmung«/»Zustimmung«). Dagegen sind bei zwei Motiven die Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Probanden besonders auffallend: 62,7 % der Frauen benennen das pragmatische Studien- und Berufswahlmotiv – die gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die problemlose Realisierbarkeit von Teil21 Vgl. Michael Behr: Berufsmotivation Lehramt. Die Schwäbisch Gmünder Skalen zur Berufsmotivation Lehramt und erste Ergebnisse der Korrelationsstudie Berufsmotivation und Persönlichkeit bei Lehramtsstudierenden. Poster auf der 7. Tagung »Pädagogische Psychologie« der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Fribourg 1999. Nach: Lipowsky (Anm. 16), S. 93, u. Uwe Schaarschmidt/Andreas W. Fischer : Bewältigungsmuster im Beruf. Persönlichkeitsunterschiede in der Auseinandersetzung mit der Arbeitsbelastung, Göttingen 2001, S. 76. 22 Lipowsky (Anm. 16), S. 93. 23 Vgl. Klaus Ulich: Traumberuf Lehrer/in? Berufsmotive und die (Un)Sicherheit der Berufsentscheidung. In: Die Deutsche Schule 92 (2000), S. 41 – 53.; Walter Herzog u. a.: Studienund Berufswahlmotive aus biographischer Sicht: Ergebnisse einer Studie zu Karriereverläufen von Primarlehrpersonen. Beitrag zur Arbeitsgruppe 22 »Lehrer/in werden – und bleiben? Studien zur (Selbst-)Rekrutierung und zum Verbleib im Beruf« im Rahmen des Kongresses »Bildung über die Lebenszeit« in Zürich, am 22. März 2004 (online verfügbar unter : http://www.paedkongress04.unizh.ch/downloads/publikationen/AG22_Herzog_et_ al.pdf, aufgerufen am 25. 10. 2012); Detlef Urhahne: Die Bedeutung domänenspezifischer epistemologischer Überzeugungen für Motivation, Selbstkonzept und Lernstrategien von Studierenden. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 20 (2006), H. 3, S. 189 – 198; Rainer Bodensohn u. a.: Studierende drängen in das Lehramt! Haben wir Anlass zur Kompetenzbeobachtung und Studierendenauswahl? Studie über Studienanfänger an der Universität Koblenz-Landau in Landau. Landau 2007. 24 Blömeke/Buchholtz/Lehmann (Anm. 18), S. 139.
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zeitarbeit als ausschlaggebend für die Berufswahl. Das lässt sich dahingehend interpretieren, dass sich fast zwei Drittel der weiblichen Probanden schon bei der Berufswahl mit der Vereinbarkeit des angestrebten Berufes und dem Wunsch, eine Familie zu gründen, befassen. Bei den Männern sind es lediglich 33,3 %. Bei dem pragmatischen Motiv, dass mit dem Lehrerberuf ein sicheres und gutes Einkommen verbunden ist, lässt sich ein gegenteiliges Bild zeichnen. 81,3 % der Männer stimmen diesem Motiv zu, dagegen nur 57,7 % der Frauen. Das von einigen Studien präzise skizzierte Bild, dass Frauen im Vergleich zu Männern eine niedrigere extrinsische Motivlage aufweisen, bestätigt sich bei den Geschichtslehrpersonen. Lediglich bei dem Studien- und Berufswahlmotiv, das die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beziehungsweise die Möglichkeit der Teilzeitarbeit formuliert, und dem Motiv, dass nahestehende Personen zu dieser Berufswahl geraten haben (»starke Zustimmung/Zustimmung«: Frauen 26,9 %, Männer 24,0 %), ist eine höhere extrinsische Motivlage zu erkennen. Für das Durchlaufen der Lehrerausbildung spielt die Motivation eine ausgeprägte Rolle. Mehrere Studien haben nachgewiesen, dass eine intrinsische Motivation deutlich positivere Auswirkungen auf die Studienleistungen hat als eine rein oder überwiegend extrinsische Motivation.25 Motivierte Studierende sind eher bereit, sich in beruflich bedeutsame Inhalte einzuarbeiten als weniger motivierte. Sie reflektieren sich und ihren gesamten Ausbildungsprozess kritischer und suchen von sich aus nach Verbesserungen und Lösungen, wenn sie mit Schwierigkeiten konfrontiert werden. »Es scheint deshalb plausibel zu sein, dass diese in der Lehrerausbildung bessere Leistungen erbringen, höhere professionelle Kompetenzen aufbauen und demzufolge die beruflichen Anforderungen besser bewältigen werden als gleich begabte, aber wenig motivierte Studierende.«26 Ein Zusammenhang zwischen den Motiven und der Ausbildung der Lehrkräfte wird trotz der Fülle von Literatur zu Studien- und Berufswahlmotiven bei Lehrern27 nur von sehr wenigen Untersuchungen hergestellt.28 Im Zuge der 25 Vgl. Andreas Helmke/Friedrich-Wilhelm Schrader : Determinanten der Schulleistung. In: Detlef H. Rost (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim 1998. S. 60 – 67; Hans Schiefele: Brauchen wir eine Motivationspädagogik? In: Zeitschrift für Pädagogik 39 (1993), H. 2, S. 177 – 186; Andreas Krapp: Die Bedeutung von Interesse und intrinsischer Motivation für den Erfolg und die Steuerung schulischen Lernens. In: Gerhard W. Schnaitmann (Hrsg.): Theorie und Praxis der Unterrichtsforschung. Donauwörth 1996, S. 87 – 110; Niels Brouwer/Steven ten Brinke: Der Einfluss integrativer Lehrerausbildung auf die Unterrichtskompetenz (I). In: Empirische Pädagogik 9 (1995), H. 1, S. 3 – 31; Dies.: Der Einfluss integrativer Lehrerausbildung auf die Unterrichtskompetenz (II). In: Empirische Pädagogik 9 (1995), H. 1, S. 289 – 330. 26 Brühwiler (Anm. 15), S. 343. 27 Literatur zur Studien- und Berufswahlmotiven bei Lehrkräften sieh u. a.: Klaus Steltmann: Motive für die Wahl des Lehrerberufs. In: Zeitschrift für Pädagogik 26 (1980), H. 4, S. 581 –
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Auswertung der Daten wurde angenommen, dass die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter mit einer hohen intrinsischen Studien- und Berufsmotivation höhere Werte bei der Verarbeitungstiefe der Standards aufweisen als die Lehrpersonen mit einer geringen intrinsischen Studien- und Berufsmotivation. DieseVermutung lässt sich weder falsifizieren noch verifizieren, da nahezu die gesamte Stichprobe hoch intrinsisch motivierte Probandinnen und Probanden aufweist. 2.1.3 Studienfachwahl Geschichte Die Studienordnungen der Pädagogischen Hochschulen im Land BadenWürttemberg sehen verpflichtend die Wahl bestimmter Fächer beziehungsweise Fächerkombinationen vor. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass eine überlegte Fachwahl die späteren Einstellungschancen als Lehrerin beziehungsweise Lehrer befördert. Geschichte ist jedoch kein Mangelfach, hat deshalb keine einstellungsbefördernde Wirkung und wird zudem an Grund- und Hauptschulen in Baden-Württemberg in den Fächerverbünden MeNuK (Mensch, Natur und Kultur) und WZG (Welt, Zeit, Gesellschaft) auch von Geografen und Politologen unterrichtet. Auch deshalb ist es interessant, von welchen Motiven sich die Studierenden leiten lassen, sich für das Studienfach Geschichte zu entscheiden.
586; Willi Eugster : Eignung und Motivation für den Lehrberuf. Eine empirische Untersuchung über Persönlichkeitsmerkmale von Lehramtskandidaten. Wattwil 1984; Sylvia Zwettler : Warum Lehrer Lehrer werden. Wien 1985; Detlef Oesterreich: Die Berufswahlentscheidung von jungen Lehrern. Berlin 1987; Gertrude Hirsch u. a.: Wege und Erfahrungen im Lehrerberuf. Eine lebensgeschichtliche Untersuchung über Einstellungen, Engagement und Belastung bei Zürcher Oberstufenlehrern. Bern 1990; Christian Bergmann/ Ferdinand Eder : Wer interessiert sich für ein Lehramtsstudium? Leistungsmerkmale, Interessen und schulische Erfahrungen von Schülern, die einmal Lehrer werden wollen. In: Johannes Mayr : Lehrer/in werden. Innsbruck 1994, S. 47 – 63; Ewald Terhart u. a.: Berufsbiographien von Lehrerinnen und Lehrern. Frankfurt a. M. 1994; Herbert Flach u. a.: Lehrerausbildung im Urteil ihrer Studenten: Zur Reformbedürftigkeit der deutschen Lehrerbildung. Frankfurt a. M. u. a. 1995; Krapp (Anm. 5); Christian Brühwiler/Maria Spychiger : Subjektive Begründungen für die Wahl des Lehrberufes. In: Beiträge zur Lehrerbildung 15 (1997), H. 1, S. 49 – 58; Bernd Kersten/Annette Gasser-Dutoit: Zielstrebigkeit in der Primarlehrer-Ausbildung: Welche Studierenden wollen (nicht) Lehrer werden? In: Beiträge zur Lehrerbildung 15 (1997), H. 1, S. 59 – 68; Martin Wild-Näf: Die Ausbildungen für Lehrkräfte der deutschen Schweiz im Urteil der Studierenden. In: Jürgen Oelkers/Fritz Oser (Hrsg.): Schlussbericht des NFP »Wirksamkeit der Lehrerbildungssysteme in der Schweiz«. Nationales Forschungsprogramm 33. Bern 1999; Brühwiler (Anm. 15). 28 Vgl. u. a. Eugster (Anm. 27) und Hirsch u. a. (Anm. 27).
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Motive der Fachwahl Geschichte Ich studierte deshalb das Fach Geschichte im Lehramt, weil … … mich Geschichte interessiert. … ich die Anforderungen für das Fach Geschichte im Vergleich zu anderen Fächern gut erfüllen kann. … ich auf gute Kenntnisse aufbauen kann und ich mir davon positive Auswirkungen für das Studium und die Unterrichtstätigkeit verspreche. … ich das Fach in der Schule für besonders wichtig erachte. … ich gerne auch in anderen Bereichen der Geschichtsvermittlung tätig sein möchte. … ein Fach beim Lehramtsstudium belegt werden muss. Die Wahl des Faches spielte dabei nicht die wesentliche Rolle.
Starke Starke Ablehnung/ Zustimmung/ Ablehnung Zustimmung 2/0,8 % 229/88,4 % 66/25,5 %
80/30,9 %
39/15,1 %
130/50,2 %
8/3,1 %
177/69,4 %
53/20,4 %
84/32,5 %
200/ 77,2 %
23/8,8 %
Tabelle 2: Studienfachwahlmotive Geschichte.
Die Wahl des Studienfaches Geschichte erfolgt deutlich aus intrinsischen Motiven. 88,4 % wählen das Fach, weil sie Interesse an Geschichte haben. Untermauert wird diese Aussage durch die besondere Wertschätzung dieses Faches in der Schule: 69,4 % der Probandinnen und Probanden erachten das Fach Geschichte in der Schule als besonders wichtig. Diese beiden Ergebnisse werden durch den hohen Ablehnungswert von 77,2 % (»Starke Ablehnung«/»Ablehnung«) des extrinsischen Items »ein Fach beim Lehramtsstudium gewählt werden muss. Die Wahl des Faches spielte dabei nicht die wesentliche Rolle« validiert. So kann eine intrinsische Motivlage belegt werden. Das Fach wird nicht als »Notlösung« beziehungsweise aus etwaigen Zwängen einer Studienordnung heraus belegt. Das hohe Ergebnis von 88,4 % ist auch aus der Sicht der sozialen Erwünschtheit zu beleuchten. Möglicherweise sahen sich die Ausfüllenden unter einem gewissen Druck der Selbstdarstellung und orientierten ihre Verhaltensäußerungen an verbreiteten Erwartungen. Das Ergebnis des Motivs »ich gerne auch in anderen Bereichen der Geschichtsvermittlung tätig sein möchte« ist auffällig. 40,9 % der Studienteilnehmer haben sich für die Merkmalsausprägung »neutral« entschieden. Das lässt eine Interpretation dahingehend zu, dass sich ein großer Teil der Referendare zu diesem Zeitpunkt noch unsicher ist, ob sie möglicherweise darüber hinaus einmal in anderen Bereichen der Geschichtsvermittlung (z. B. Volkshochschulkurse, Museums- oder Stadtführungen usw.) tätig sein möchten.
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»Wo Geschichte näherrückt« – Schülervorstellungen über die Konstruktion von Geschichte im Museum
Museumsbesuche gehören zum schulischen Standard. Die empirische Forschung zum historischen Lernen in Museen stellt jedoch ein geschichtsdidaktisches Desiderat dar. Das Dissertationsprojekt, das an dieser Stelle vorgestellt wird, versucht einen Beitrag zur Behebung eben jenes Desiderates zu leisten, indem es Schülervorstellungen über die museale Darstellung von Geschichte als subjektive Lernvoraussetzungen, die das historische Lernen im Museum beeinflussen, modelliert und untersucht.1 Um einen aussagekräftigen Einblick in das Projekt zu geben, werden zunächst Forschungsstand und -frage skizziert und anschließend der theoretische Rahmen sowie das Untersuchungsdesign vorgestellt, bevor erste Ergebnisse der Untersuchung präsentiert werden. Insgesamt handelt es sich bei den folgenden Ausführungen nicht um die Präsentation einer abgeschlossenen Studie, sondern vielmehr um einen Werkstattbericht, der Einblicke in einen laufenden Forschungsprozess gewährt.
1.
Empirische Forschung zum historischen Lernen im Museum – ein Desiderat
In der geschichtsdidaktischen Literatur mangelt es nicht an theoretischen Überlegungen zum historischen Lernen im Museum. Zu nennen wären hierbei exemplarisch die Beiträge von Heinrich Theodor Grütter, Manfred Treml, Gerhard Schneider, Olaf Hartung oder auch Bodo von Borries.2 Beim Lesen fällt 1 Theorie und Empirie werden somit im hier skizzierten Dissertationsprojekt im Sinne der rüsenschen Matrix der Geschichtsdidaktik, auf die Wolfgang Hasberg in seinem einleitenden Beitrag rekurriert, verknüpft, aufeinander bezogen und daraus folgend Konsequenzen auf pragmatischer Ebene gezogen. Vgl. den Beitrag von Wolfgang Hasberg in diesem Band. 2 Vgl. Heinrich Theodor Grütter : Die historische Ausstellung. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 668 – 674; Ders.: Geschichte im Museum. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 707 – 713; Manfred Treml: Ausgestellte
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jedoch auf, dass sich der geschichtsdidaktische Diskurs hierzu seit beinahe 20 Jahren nur wenig weiterentwickelt und keine neuen Impulse aus der internationalen Forschung, die sich mit Lernen im Museum befasst, aufgegriffen hat. Auch die mittlerweile auf das museale Lernen übertragene Kompetenzdebatte konnte den Diskurs bisher wenig bereichern.3 In den genannten und auch in anderen Beiträgen wird unter Rückgriff auf fachwissenschaftliche und museologische Konzepte beschrieben, wie Geschichte im Museum dargestellt wird. Im Anschluss daran werden Thesen über Rezeptionsprozesse aufgestellt und normative Forderungen formuliert, wie Geschichte im Museum präsentiert werden sollte, um ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein und einen kompetenten Umgang mit dem geschichtskulturellen Medium der Ausstellung zu fördern. All diese Ausführungen kommen zudem in der Regel ohne Rückkopplung an Ergebnisse empirischer Untersuchungen aus, mit denen die aufgestellten Thesen und Forderungen begründet werden könnten. Ein Grund hierfür liegt darin, dass nicht nur die fachdidaktische Forschung, sondern auch die museale Besucherforschung in Deutschland bisher kaum empirische Erkenntnisse über die Rezeption musealer Ausstellungen und über museale Lernprozesse allgemein als auch über das historische Lernen im Speziellen hervorgebracht hat.4 Die wenigen empirischen Studien, die zum historischen Lernen im Museum existieren, Geschichte. Überlegungen zum visuellen Lernen in Ausstellungen und Museen. In: Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann/Hartmut Voit (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und Methoden historischen Lernens. Bernd Mütter zum 60. Geburtstag. Weinheim 1998 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 8), S. 90 – 212; Gerhard Schneider : Bemerkungen zum Historischen Museum als Lernort. In: Herbert Raisch/Armin Reese (Hrsg.): Historia Didactica. Geschichtsdidaktik heute. Uwe Uffelmann zum 60. Geburtstag. Idstein 1997, S. 185 – 206; Olaf Hartung: Aktuelle Trends in der Museumsdidaktik und ihre Bedeutung für das historische Lernen. In: Hans-Jürgen Pandel/Vadim Oswalt (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009, S. 127 – 138; Bodo von Borries: Präsentation und Rezeption von Geschichte im Museum. In: GWU 48 (1997), S. 337 – 343. 3 Vgl. exemplarisch Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 25). 4 Für einen Überblick über Evaluation und Besucherforschung in Museen samt Forschungsperspektiven vgl. Nora Wegner : Besucherforschung und Evaluation in Museen: Forschungsstand, Befunde und Perspektiven. In: Patrick Glogner/Patrick S. Föhl (Hrsg.): Das Kulturpublikum. Fragestellungen und Befunde der empirischen Forschung. Wiesbaden 2010, S. 97 – 152. Einen Überblick über die geschichtsdidaktische Forschung bietet u. a. Treml (Anm. 2), S. 198 – 200 u. S. 206 – 208. Auch der Tagungsband »Historische Kompetenzen und Museen« bietet einen Überblick über aktuelle Projekte und Forschungsfragen aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Vgl. Popp/Schönemann (Anm. 3). Einige Beiträge verdeutlichen allerdings zum einen erneut das oben skizzierte Problem, dass häufig Aussagen über Lernprozesse und -ergebnisse ohne empirische Fundierung getroffen werden. Zum anderen zeigt sich, dass die geschichtsdidaktische empirische Forschung zum musealen Lernen noch weitgehend explorativen Charakter besitzt und dass die Vielzahl von Kompetenz-Modellen nicht unbedingt zur Systematisierung und Vergleichbarkeit der Ergebnisse beiträgt.
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konzentrieren sich auf den Lernerfolg im Sinne eines Wissenszuwachses und der Erinnerung an bestimmte Ausstellungsobjekte. Dabei wird – wie z. B. bei der bekannten Untersuchung, die im Rahmen der Ausstellung »Geschichte und Kultur der Juden in Bayern« vorgenommen wurde5 – das Lernen im Museum auf seine kognitive Dimension verengt; ästhetische, emotionale und kommunikative Aspekte werden dabei ausgeblendet. Auch Evaluationsstudien – wie etwa die regelmäßig vom Haus der Geschichte in Bonn durchgeführten Besucherstudien6 – können aufgrund ihres methodischen und inhaltlichen Zuschnitts nur sehr begrenzt verallgemeinernde Erkenntnisse über museales Lernen entnommen werden. Noch weniger erforscht als die Lernergebnisse sind die Lernprozesse und besonders die sie beeinflussenden individuellen Lernvoraussetzungen. Dies verwundert umso mehr, als dass den meisten Ausführungen über das historische Lernen im Museum ein konstruktivistisches Lernverständnis zugrunde liegt, bei dem die subjektive Rezeption der Ausstellung durch die Lernenden unter Rückgriff auf ihr individuelles Vorwissen betont wird: »Verstehen von Ausstellungen ist […] nie reine Denotation, sondern immer auch Konnotation, Assoziation und Überlagerung mit schon vorhandenem Wissen.«7 Wenn Lernvoraussetzungen erforscht wurden, dann stand in der Regel das Vorwissen im Hinblick auf die in der Ausstellung gezeigten Inhalte im Zentrum des Interesses. Diese Untersuchungen unterstrichen wiederum durch die simple Erkenntnis »Wer viel weiß, lernt viel« die Bedeutung des Vorwissens für den Lernerfolg.8 Wie aber ist es um das Vorwissen über die Institution Museum selbst und über das Medium der historischen Ausstellung bestellt, die beide nicht nur Lernumgebung, sondern auch Lerngegenstand sind? Für einen kompetenten Umgang mit dem komplexen geschichtskulturellen Medium der musealen Ausstellung ist entsprechendes Erkenntniswissen notwendig. Diese den Lernprozess ebenfalls prägenden individuellen Lernvoraussetzungen, die erst einen solchen 5 Vgl. Haus der Bayerischen Geschichte (Hrsg.): Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in historischen Ausstellungen. Kolloquiumsbericht zu den Ergebnissen der Ausstellung »Geschichte und Kultur der Juden in Bayern«. München 1991; Siegfried Lamnek/Marek Fuchs/Otto G. Schwenk: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Ergebnisse der Besucherbefragung, 3 Bde. München 1991. 6 Vgl. Hermann Schäfer : Besucherforschung im Haus der Geschichte. In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Museen und ihre Besucher. Herausforderungen in der Zukunft. Berlin/Bonn 1996, S. 143 – 155; Ders.: Besucherforschung als Basis für neue Wege der Besucherorientierung. In: Beatrix Commandeur/Dorothee Dennert (Hrsg.): Event zieht – Inhalt bindet. Besucherorientierung von Museen auf neuen Wegen. Bielefeld 2004, S. 103 – 119. 7 Grütter (Anm. 2), S. 711. Grütter bezieht sich hierbei direkt auf die Überlegungen von Severin Heinisch. Vgl. Severin Heinisch: Ausstellungen als Institutionen (post-)historischer Erfahrung. In: Zeitgeschichte 15 (1988), S. 337 – 342, besonders S. 339. 8 Vgl. zusammenfassend Treml (Anm. 2), S. 199.
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Umgang mit dem komplexen geschichtskulturellen Medium der musealen Ausstellung ermöglichen,9 wurden bisher wenig erforscht. Lediglich die Untersuchungen von Berit Pleitner, die in ihrem Habilitationsprojekt Vorstellungen von und Erwartungen an das Museum von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Museumspädagogen untersucht, konnten erste Erkenntnisse liefern. Die bisher publizierten Ergebnisse erlauben jedoch nur oberflächliche Einblicke in das Museumsverständnis der Schülerinnen und Schüler, etwa dass diese das Museum mit Geschichte in Verbindung bringen und es als Lernort wahrnehmen.10 Gleiches gilt für die Studie von Michele Barricelli, der im Rahmen eines Projekts auch Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern über Museen und das dortige historische Lernen im Vergleich zum Geschichtsunterricht erhoben hat. Die Ergebnisse lassen sich nicht unbedingt verallgemeinern, da die Jugendlichen im Projekt auf die Arbeit im und mit dem Museum vorbereitet worden waren.11 Gerade vor dem Hintergrund der in der geschichtsdidaktischen Literatur postulierten Forderung, dass das Lernen im Museum auch immer das Lernen über das Museum einschließen sollte,12 wären Untersuchungen der individuellen Lernvoraussetzungen im Hinblick auf die Institution Museum sowie auf das Medium der Ausstellung nötig, um diese bei der Gestaltung musealer Lernsituationen berücksichtigen und an sie anknüpfen zu können. Besonders im Hinblick auf die geschichtsdidaktische Kompetenz-Debatte, die die Bedeutung von transferfähigem Wissen betont, das bezogen auf die Institution Mu9 Wie im Rahmen der historischen Methode für den kritischen Umgang mit Quellen umfangreiches Erkenntnis- beziehungsweise Gattungswissen benötigt wird, bedarf auch der reflektierte Umgang mit historischen Darstellungen entsprechendes Wissen. Zur historischen Methode vgl. Saskia Handro: Historische Erkenntnismethoden. In: Hilke GüntherArndt (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 3. Aufl. Berlin 2009, S. 25 – 45, hier S. 33 – 36. Entsprechende, auf diesem Wissen aufbauende Fähigkeiten können auch als Gattungskompetenz oder geschichtskulturelle Kompetenz etc. modelliert werden, wie es in einigen geschichtsdidaktischen Kompetenz-Modellen der Fall ist. Vgl. für einen Überblick Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 207 – 235. 10 Vgl. Berit Pleitner : »Da kann man so viel lernen, gerade für junge Leute …«. Überlegungen zum Verhältnis von Jugendlichen und Museen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 5 (2006), S. 93 – 108; Dies.: Living History an britischen Museen. Eine empirische Studie mit Grundschülern. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Orte historischen Lernens. Berlin 2008 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 18), S. 99 – 113. 11 Vgl. Michele Barricelli: »Hat doch bei allen stattgefunden gehabt!« Empirische Erkundungen in einem Kooperationsprojekt von Schule und historischem Museum zum Thema »Migration 1500 – 2005. In: GWU 58 (2007), S. 724 – 742. Barricelli reflektiert in diesem Zusammenhang: »Das im Zuge der Kontrastierung gezeichnete, eher negative Bild vom alltäglichen (Geschichts-)Unterricht gibt Anlass zum Staunen, ist aber vermutlich auch einfach durch die positive Erlebnisqualität des Projekts situativ verdüstert worden.« Ebd., S. 737. 12 Vgl. exemplarisch von Borries (Anm. 2), S. 341.
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seum entsprechend über einzelne Ausstellungen hinausreichen und den Jugendlichen Kompetenzen für den außerschulischen Umgang mit Geschichte ermöglichen soll, wird die Schwere des Desiderates deutlich. Das Dissertationsprojekt knüpft durch die Untersuchung von Schülervorstellungen über die Darstellung von Geschichte im Museum hier an, indem Schülervorstellungen als Voraussetzungen für das Lernen im Museum verstanden und untersucht werden. Das Projekt lässt sich somit an der Schnittstelle zwischen musealer Besucherforschung und neuerer geschichtsdidaktischer Lehr-Lern-Forschung verorten, die unter Rückgriff auf kognitionspsychologische Theorien und Modelle die Bedeutung von Vorwissen für historische Lernprozesse betont. Richtete sich das Interesse der geschichtsdidaktischen Forschung zu Schülervorstellungen, welche in erster Linie mit dem Namen Hilke Günther-Arndt und dem Oldenburger Promotionsprogramm zur Didaktischen Rekonstruktion verbunden ist, bisher fast ausschließlich auf bestimmte thematische Inhalte des Geschichtsunterrichts,13 so liegt der Fokus des Dissertationsprojekts auf der Untersuchung von Schülervorstellungen zu einem geschichtskulturellen Phänomen.
2.
Ein Kontext-Modell des historischen Lernens im Museum
Da in der deutschsprachigen Forschung bisher kein Modell des historischen Lernens im Museum existiert, das zum einen auf empirischer Basis entwickelt wurde und zum anderen neben den etablierten geschichtswissenschaftlichen und museologischen stärker kognitionspsychologische Ansätze des historischen Lernens einschließlich der individuellen Lernvoraussetzungen berücksichtigt, war die Entwicklung eines entsprechenden Modells notwendig. Zur Behebung dieses theoretischen Desiderates wird im Rahmen des Dissertationsprojektes auf die angloamerikanische Forschung zum Lernen im Museum zurückgegriffen, die umfangreicher und differenzierter ist als die deutsche, da ihre Vertreter sowohl auf theoretischer Ebene als auch bei der empirischen Erforschung entsprechender Phänomene seit Jahren sehr viel aktiver sind. Zwar 13 Hilke Günther-Arndt: Conceptual Change-Forschung: Eine Aufgabe für die Geschichtsdidaktik? In: Dies./Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14), S. 251 – 277; Dies.: Fremdverstehen, Schülervorstellungen und qualitative Forschung. In: Bettina Alavi/Gerhard Henke-Bockschatz (Hrsg.): Migration und Fremdverstehen. Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen Gesellschaft. Idstein 2004 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 14), S. 215 – 224; Dies.: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies. (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 3. Aufl. Berlin 2008, S. 23 – 47.
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hat auch sie bisher kein spezifisches Modell für das historische Lernen in musealen Kontexten hervorgebracht, dafür aber allgemeine Modelle für das museale Lernen auf induktivem Weg entwickelt, die sich für die geschichtsdidaktische Forschung domänenspezifisch wenden lassen. Im Rahmen des Dissertationsprojektes dient das im angloamerikanischen Forschungsdiskurs stark rezipierte »Contextual Model of Learning« von John H. Falk und Lynn D. Dierking als theoretische Grundlage.14 Dieses Modell betont die Situiertheit von Lernprozessen und wurde auf Basis der Analyse einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen formuliert. Dabei identifizierten die beiden Autoren mehrere Faktoren, die das Lernen im Museum beeinflussen und ordneten sie drei Kontexten zu. Zum »Personal Context« gehören die individuellen kognitiven und motivationalen Lernvoraussetzungen, die soziale Interaktion in der personellen Vermittlung bezeichnen Falk und Dierking als den »Sociocultural Context«, während die Ausstellungsgestaltung den »Physical Context« des musealen Lernens bildet. Da es bewusst als flexibles Rahmenmodell konzipiert ist, eignet sich das Kontext-Modell als theoretischer Rahmen für Untersuchungen unterschiedlichen Zuschnitts und lässt sich auch für die geschichtsdidaktische Forschung adaptieren.15 Auch wenn es sich bei dem Kontext-Modell um ein Modell handelt, das die relevanten Faktoren im Lernprozess beschreibt, bildet es doch einen sinnvollen Rahmen für das hier skizzierte Forschungsprojekt. Erstens betont es die Bedeutung subjektiver Lernvoraussetzungen im Lernprozess und dadurch die Relevanz ihrer empirischen Erforschung; zweitens wurden die zu untersuchenden relevanten Lernvoraussetzungen auf empirischer Basis entwickelt, ohne nur theoretisch-normativen Überlegungen zu entspringen; dazu kommt drittens, dass mit dem »Sociocultural Context« und dem »Physical Context« auch diejenigen Aspekte berücksichtigt werden, die die Schülervorstellungen und somit die Lernvoraussetzungen prägen und somit bei der Beantwortung der Forschungsfrage ebenfalls eine Rolle spielen. Wie schon erwähnt, haben J. H. Falk und L. D. Dierking unter dem »Personal Context« die Lernvoraussetzungen der Lernenden subsumiert. Es finden sich 14 Vgl. Lynn D. Dierking: The Role of Context in Children’s Learning from Objects and Experience. In: Scott G. Paris (Hrsg.): Perspectives on Object-Centered Learning in Museums. Mahwah (NJ)/London 2002, S. 3 – 18; John H. Falk/Dies.: Learning from Museums: Visitor Experiences and the Making of Meaning. Lanham (MD) 2000; Dies.: The Museum Experience. Walnut Creek (CA) 2011; Dies./Marianna Adams: Living in a Learning Society : Museums and Free-Choice Learning. In: Sharon Macdonald (Hrsg.): A Companion to Museum Studies. Chichester 2011, S. 323 – 339; John H. Falk/Martin Storksdieck: Using the Contextual Model of Learning to Understand Visitor Learning from a Science Center Exhibition. In: Science Education 89 (2005), H. 5, S. 744 – 778. 15 So bezieht sich z. B. auch Stefanie Paufler-Gerlach auf das Modell von J. H. Falk und L. D. Dierking. Vgl. ihren Beitrag im vorliegenden Band.
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dort all die kognitiven und affektiven Faktoren, die unter dem Begriff der Schülervorstellung zusammengefasst werden können beziehungsweise die mit ihnen verknüpft sind. Unter dem Begriff »Schülervorstellung« werden an dieser Stelle umfangreiche Wissensstrukturen verstanden, die sowohl die Wahrnehmung als auch das interpretierende Verstehen von Phänomenen steuern und somit das Lernen beeinflussen. Sie können als persönliche Überzeugungen, subjektive Sichtweisen und Deutungsmuster verstanden werden, die sowohl kognitive als auch emotionale Aspekte umfassen.16 Da Schülervorstellungen auf Basis von Alltagserfahrungen gewonnen werden, handelt es sich im Kern um das episodische und das semantische Wissen einer Person.17 Unter Rückgriff auf kognitionspsychologische Ansätze lassen sich diese Wissensstrukturen als semantische Netzwerke beziehungsweise Schemata beschreiben und untersuchen.18 Es wird hypothetisch davon ausgegangen, dass für das historische Lernen im Museum sowohl Schülervorstellungen zum Museum als auch zur Geschichte eine Rolle spielen. Entsprechend können die subjektiven Lernvoraussetzungen in die Komplexe »Museum« und »Geschichte« unterteilt werden. Der Komplex »Museum« umfasst vier Schlüsselfaktoren. Die ersten beiden – »Vorwissen und Überzeugungen, bezogen auf die Institution Museum« und »Vorwissen und Überzeugungen, bezogen auf historische Ausstellungen« – machen den Kern dessen aus, was im vorgestellten Dissertationsprojekt als Schülervorstellungen über die geschichtskulturelle Institution Museum und über die Ausstellung als geschichtskulturelles Medium definiert wird. Bezogen auf historische Museen und Ausstellungen bilden sie die Grundlage dessen, was in der angloamerikanischen Forschung bisweilen als »Museum Literacy« bezeichnet wird, womit das Wissen und die Fähigkeit des Besuchers gemeint sind, sowohl die Sprache der Museumsobjekte und ihrer Inszenierung zu verstehen als auch die Vertrautheit der Besucher mit dem Museum als Institution.19 Die 16 Vgl. Günther-Arndt 2006 (Anm. 13); Günther-Arndt 2008 (Anm. 13), S. 27 – 32; Wolfgang Schnotz: Conceptual Change. In: Detlef H. Rost (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. 3. Aufl. Weinheim u. a. 2006, S. 77 – 82. 17 Vgl. Endel Tulving: Episodic and semantic memory. In: Ders./Wayne Donaldson (Hrsg.): Organization of memory. New York 1972, S. 381 – 403; Ders.: Memory and Consciousness. In: Canadian Psychology 26 (1985), S. 1 – 12. Vgl. ferner, auf historisches Wissen bezogen, Günther-Arndt 2008 (Anm. 13), S. 38 – 40. 18 Vgl. exemplarisch Walter Edelmann: Lernpsychologie. 6. Aufl. Weinheim 2000, S. 113 – 169; David E. Rummelhart: Schema and the Cognitive System. In: Robert S. Wyer/Thomas K. Srull (Hrsg.): Handbook of Social Cognition. Hillsdale (NJ) 1984, S. 161 – 188; Mary B. McVee/Kailonnie Dunsmore/James R. Gavelek: Schema Theory Revisited. In: Review of Educational Research 75 (2005), H. 4, S. 531 – 566; Wolfgang Schnotz: Aufbau von Wissensstrukturen. Untersuchungen zur Kohärenzbildung beim Wissenserwerb mit Texten. Weinheim 1994; Norbert M. Seel: Psychologie des Lernens. Lehrbuch für Pädagogen und Psychologen. 2. Aufl. München/Basel 2003, S. 47 – 67. 19 Vgl. Thomas J. Schlereth: Object Knowledge: Every Museum Visitor an Interpreter. In: Susan
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Erforschung dieser beiden Schlüsselfaktoren bildet den Schwerpunkt der Untersuchung. In Anlehnung an J. H. Falk und L. D. Dierking sind die »Bisherigen Erfahrungen mit Museen« als separater Faktor aufgenommen. Darunter fallen sowohl die verallgemeinerten Erfahrungen, die das Vorwissen und die Überzeugungen prägen, als auch die möglicherweise schon bei einem früheren Aufenthalt in dem zu besuchenden Museum gesammelten Eindrücke. Vierter und letzter Schlüsselfaktor ist der Aspekt »Motivation und Interesse«, der wiederum auf Museen und Museumsbesuche allgemein und speziell auf das Museum, das besucht werden soll, bezogen ist. Mit diesem Faktor werden nicht nur die kognitiven, sondern auch die affektiven Einflussfaktoren berücksichtigt und somit das historische Lernen im Museum nicht kognitiv verengt. Der Komplex »Geschichte« besteht ebenfalls aus vier Faktoren. In der Untersuchung wird sowohl das individuelle Geschichtsverständnis als auch das subjektive Verständnis davon, was Quellen und Darstellungen unterscheidet und jeweils auszeichnet, als wichtige, den Rezeptionsprozess und damit das museale historische Lernen beeinflussende Faktoren verstanden. Als dritten Faktor muss das »Vorwissen und Überzeugungen, bezogen auf das konkrete Ausstellungsthema« berücksichtigt werden, dessen Bedeutung für den Lernerfolg schon betont worden ist.20 Vierter und letzter Einflussfaktor bildet »Motivation und Interesse, bezogen auf Geschichte«,21 womit auch in diesem Komplex eine Erweiterung der kognitiven Dimensionen um affektive Aspekte erfolgt. Die einzelnen Schlüsselfaktoren sind innerhalb der Komplexe eng miteinander verbunden. Dies ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, wie eng etwa episodisches und semantisches Wissen miteinander verknüpft sind, weshalb die bisherigen Erfahrungen mit Museen beispielsweise die Vorstellungen über die Institution prägen und gleichzeitig Motivation und Interesse beeinflussen können und umgekehrt. Zudem können hypothetisch verschiedene Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren der Komplexe »Museum« und »Geschichte« angenommen werden. So wird hypothetisch davon ausgegangen, dass die Ausprägung der Meta-Konzepte »Geschichtsverständnis« sowie »Quellen- und Darstellungsbegriff« und die Ausdifferenzierung der Vorstellungen über die Institution Museum sowie über historische Ausstellungen zusammenhängen. Ob weitere Zusammenhänge innerhalb der beiden Komplexe als auch zwischen ihnen bestehen, soll anhand der Untersuchung herausgeK. Nichols (Hrsg.): Patterns in Practice: Selections from the Journal of Museum Education. Washington (DC) 1992, S. 102 – 111; Carol B. Stapp: Defining Museum Literacy. In: Susan K. Nichols (Hrsg.): Patterns in Practice: Selections from the Journal of Museum Education. Washington (DC) 1992, S. 112 – 117. 20 Vgl. Treml (Anm. 2), S. 199. 21 Zur Bedeutung von Motivation und Interesse für das historische Lernen vgl. überblicksartig Günther-Arndt 2008 (Anm. 13), S. 32 – 35.
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funden werden. Die vorliegende Arbeit versteht sich in der Hinsicht daher dezidiert als explorative Studie, die zudem keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt, sondern erste Einblicke in ein bisher wenig erkundetes Feld liefern möchte.
3.
Das Untersuchungsdesign
Der Lehrplan Geschichte für die Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen formuliert als ein Ziel des Faches, die Lernenden zur Dekonstruktion historischer Narrationen zu befähigen, die ihnen in geschichtskulturellen Angeboten, wie musealen Ausstellungen, begegnen.22 Darauf soll bereits in der Sekundarstufe I hingearbeitet werden.23 An welche Lernvoraussetzungen kann der Geschichtsunterricht der Oberstufe aber hierbei konkret anknüpfen? Die Untersuchung der Schülervorstellungen über die Darstellung von Geschichte im Museum bei Jugendlichen, die gerade in die Sekundarstufe II gekommen sind, kann somit nicht nur zur Behebung theoretischer und empirischer Desiderate beitragen, sondern auch aus unterrichtspragmatischer Sicht wichtige Erkenntnisse liefern. Das Untersuchungssample war also entsprechend zu bilden. Für die Untersuchung der Forschungsfragen werden quantitative und qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden der empirischen Sozialforschung im Sinne der Methodentriangulation kombiniert und die Ergebnisse aufeinander bezogen.24 In der quantitativen Erhebung wurden zunächst mit Hilfe eines Fragebogens 165 Schülerinnen und Schüler aus den zehnten Jahrgängen zweier Münsteraner Gymnasien befragt. Der Fragebogen bestand aus 28 Frageblöcken mit insgesamt 133 Items zu den Komplexen »Museum« und »Geschichte« sowie zusätzlich aus fünf personenbezogenen beziehungsweise sozialstatistischen Items. Mit der als Voruntersuchung konzipierten Befragung wurden drei Ziele verbunden: Erstens, Einblicke in die subjektiven Lernvoraussetzungen und besonders die sie beeinflussenden und mit ihnen zusammenhängenden Fakto22 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Frechen 2013, S. 10 f. 23 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan Geschichte für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Frechen 2007. 24 Vgl. Uwe Flick: Triangulation. Eine Einführung. 3. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 75 – 96; Udo Kelle/Christian Erzberger : Qualitative und quantitative Methoden: kein Gegensatz. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 6. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2008, S. 299 – 309; Philipp Mayring: Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Analyse. In: Forum Qualitative Sozialforschung 2 (2001), H. 1, 31 Absätze.
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ren zu erhalten, zweitens, mögliche Zusammenhänge zwischen einzelnen Variablen und Faktoren aufzudecken, und drittens, die Fälle auf Basis der Daten zu typisieren und so ein Sample für die quantitative Hauptuntersuchung zu generieren. Die Ergebnisse der Fragebogenerhebung werden zudem in der Fallanalyse im Anschluss an die qualitative Erhebung herangezogen. Der quantitativen Vorerhebung schloss sich zwei beziehungsweise drei Monate später die eigentliche Hauptuntersuchung mit einem Sample von elf Schülerinnen und Schülern an. Sie dient der tieferen Analyse der Schülervorstellungen im Komplex »Museum«, die über eine Fragebogenerhebung allein nicht erreicht werden kann. Weil sich in der Forschung zu Schülervorstellungen qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung bewährt haben, da sie Zugang zu subjektiven Sichtweisen und Deutungsmustern eröffnen,25 wurden in der Hauptuntersuchung episodische Einzelinterviews im Umfang von jeweils 20 bis 45 Minuten geführt. Diese von Uwe Flick entwickelte halbstandardisierte Interviewmethode ermöglicht den Zugang zum individuellen semantischen und episodischen Wissen von Personen.26 Hierfür werden die Befragten zum einen gebeten, von konkreten Erfahrungen zu erzählen, und zum anderen nach ihren daraus abgeleiteten verallgemeinerten Vorstellungen und Überzeugungen befragt. Über die wiederholte Aufforderung, Definitionen auf Basis bisher gemachter Erfahrungen zu artikulieren, ermöglicht diese Methode eine sinnvolle Annäherung an die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler. Da bei qualitativen Erhebungen die Verwendung von Stimuli als Ausgangspunkt für Erzählungen üblich ist, wurde die Befragung an zwei Montagen (Ruhetagen) in der Abteilung »Die Hansestadt« des Münsteraner Stadtmuseums vorgenommen. Das Stadtmuseum wurde deshalb ausgewählt, weil es mit seinem lokalgeschichtlichen Ausstellungsschwerpunkt sowie durch die Verwendung gängiger Inszenierungstechniken (vorwiegend Vermittlung der Objekte über Texte unterschiedlicher Ebenen und vereinzelt ergänzend durch MultimediaTerminals und Modelle) im Hinblick auf Inhalt und Gestaltung beinahe als prototypisch für die Art von Museen verstanden werden kann, die Schülerinnen und Schüler im Zuge des Unterrichts am häufigsten besuchen dürften. Einzelne Inszenierungen der Abteilung wurden gezielt in die Befragung einbezogen. Die Verwendung der Ausstellung diente dazu, gewisse Anreize zum Erzählen von Erfahrungen und zur Aktivierung der eigenen Vorstellungen bereitzustellen. Eine Interviewleitfrage lautete zum Beispiel: »Was ist für Dich an dieser Abteilung typisch für eine Ausstellung im historischen Museum?« Weitere Folge25 Vgl. exemplarisch Günther-Arndt 2004 (Anm. 13), S. 220. 26 Vgl. Uwe Flick: Das episodische Interview. In: Gertrud Oelerich/Hans-Uwe Otto (Hrsg.): Empirische Forschung und soziale Arbeit. Ein Studienbuch. Wiesbaden 2011, S. 273 – 280; Ders.: Psychologie des technisierten Alltags. Soziale Konstruktion und Repräsentation technischen Wandels in verschiedenen kulturellen Kontexten. Opladen 1996, S. 147 – 165.
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fragen waren: »Andere Museen haben auch Abteilungen zur mittelalterlichen Geschichte. Warum sehen die nicht so aus wie die hier?«, »Kannst Du mir von Ähnlichkeiten und Unterschieden zu anderen Ausstellungen berichten, die Du besucht hast?« und »Mittelalterliche Geschichte kann man nicht nur in Ausstellungen darstellen, sondern z. B. auch in Büchern oder Filmen. Was unterscheidet Deiner Meinung nach die museale Präsentation von Geschichte von anderen Darstellungen?« Die Antworten der Befragten enthielten meist auch Wertungen, die teilweise direkt oder indirekt Aufschluss über die jeweiligen Interessen zulassen. Der konkrete Rezeptionsprozess der Ausstellung wurde im Zuge der Interviews nicht erhoben, da sich das Forschungsinteresse nicht auf Lernprozesse, sondern auf Schülervorstellungen und damit auf individuelle Lernvoraussetzungen richtet.
4.
Ergebnisse und offene Fragen
Zum Abschluss sollen nun schlaglichtartig einige erste Ergebnisse skizziert werden, wobei der oben gewählte Fokus beibehalten wird und nur Erkenntnisse zu den subjektiven Lernvoraussetzungen im Komplex »Museum« umrissen werden. An dieser Stelle muss noch einmal betont werden, dass der Auswertungsprozess noch nicht abgeschlossen ist und dass es sich bei den im Folgenden präsentierten Ergebnissen lediglich um erste sich abzeichnende Tendenzen und nicht um abschließende Resultate der Untersuchung handeln kann. Die deskriptive Auswertung der Fragebogendaten27 zeigt im Hinblick auf die zum Bereich »Museum« zählenden subjektiven Lernvoraussetzungen zum Teil recht klare Antworttendenzen, wenn auch auf statistischem Wege manchmal keine klar interpretierbaren Antwortmuster oder Korrelationen zu erkennen sind. Dies mag unter Umständen dem Erhebungsinstrument geschuldet sein, es kann aber auch darauf hindeuten, dass die Schülervorstellungen in dem Bereich möglicherweise eher oberflächlich und unausgereift sind. Einigkeit scheint jedenfalls im Hinblick auf die Vorstellungen über die Institution Museum darin zu bestehen, dass es sich bei dem Museum um einen Lernort handelt, der mit Geschichte zu tun hat. Die Beobachtungen ähneln denen Berit Pleitners. Das wird vor allem auch an den Antworten eines der wenigen ohne Antwortvorgaben formulierten Items deutlich. Hier wurden die Schülerinnen und Schüler gebe27 Die Auswertung bestand in der Ermittlung der Häufigkeitsverteilung der Antworten, in der Systematisierung von Beobachtungen in Anlehnung an die explorative Faktorenanalyse, in der Ermittlung von Abhängigkeit einzelner Variablen über Kreuztabellen und Chi-QuadratTests. Zudem wurden unabhängige Stichproben aus dem Sample generiert und so die Ergebnisse u. a. in Abhängigkeit von Schulzugehörigkeit und Geschlecht der Befragten miteinander verglichen.
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ten, den Satz »Ein Museum ist für mich …« zu vervollständigen. Öfter fielen hier Antworten wie diese: »Ein Museum ist für mich ein Ort, an dem ich etwas lernen kann.« (AK1P15) oder »Ein Museum ist ein Ort, wo Geschichte näherrückt.« (AK2P21). Das letzte Zitat verdeutlicht zudem, dass der Museumsbesuch für viele der Befragten eine Art Zeitreise-Charakter besitzt, der eine emotionale Alteritätserfahrung ermöglicht. Die Auswertung der Interviews muss hier weitere Erkenntnisse liefern. Die Items, über die bisherige Erfahrungen mit Museen sowie Motivation und Interesse abgefragt wurden, lieferten hingegen gut zu interpretierende Ergebnisse. Auch hier seien einige Tendenzen angedeutet. Knapp ein Drittel der Schülerinnen und Schüler (30,3 %) gab an, dass die Aussage »Ich gehe gern ins Museum!« auf sie nicht zutrifft. 69,3 % sind demnach einem Museumsbesuch nicht grundsätzlich abgeneigt. Auffällig ist, dass die Mittelkategorie »teils-teils« von knapp der Hälfte der Befragten gewählt wurde. Dies kann darauf hindeuten, dass die Besuchsmotivation unter Umständen von der Ausstellungsgestaltung abhängen könnte. Darauf deuten auch die Antworten im schon genannten Item »Ein Museum ist für mich …« hin. Jeder fünfte Befragte (21,8 %) äußert sich hier abwägend, etwa in der Form »Ein Museum ist für mich manchmal sehr interessant aber leider oft auch sehr langweilig.« (AK3P03) oder »Ein Museum ist für mich manchmal langweilig, aber es kann, wenn es interessant gestaltet ist, sehr informativ und spannend sein.« (AK1P14). Erste Hinweise darauf, wie eine Ausstellung gestaltet sein sollte, um für die Jugendlichen interessant zu sein und sich somit möglicherweise positiv auf das museale Lernen auszuwirken, liefert der Fragebogen ebenfalls. Direkt danach gefragt, was sie im Museum interessiert, stimmten 64,8 % »Dinge, bei denen ich etwas anfassen und selbst tun kann« und 57,0 % »Multimedia-Stationen« zu. Für Museumstexte interessierten sich lediglich 14,5 % der Schülerinnen und Schüler, über die Hälfte der Befragten (55,2 %) interessierte sich wenig oder gar nicht für diese Form der musealen Vermittlung. Inszenierungs- und Vermittlungstechniken, bei denen die Besucher selbst aktiv werden können und die das selbstständige Erschließen von Ausstellungsinhalten im Sinne eines »Free Choice Learnings« ermöglichen, erfahren somit starken Zuspruch. Sollte sich der Befund durch die Interviews erhärten, dann würde dies ein Umdenken in der Geschichtsdidaktik erfordern, die sich bisher mit solchen aus den Science Center-Ausstellungen bekannten Ausstellungsmethoden, die viel stärker am Nutzer und seinen Bedürfnissen orientiert sind als die bisher diskutierten Präsentationsformen, wenig auseinandergesetzt hat. Die Auswertung der Interviews soll generell vertiefende Erkenntnisse über die Schülervorstellungen liefern. Besonders die sich nach der Fragebogenauswertung abzeichnenden Tendenzen gilt es zu überprüfen und die einzelnen Lernvoraussetzungen, vor allem bezogen auf historische Ausstellungen, detail-
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lierter zu analysieren, als das durch die quantitative Erhebung mittels Fragebogen möglich ist. Es zeichnet sich nach erster oberflächlicher Durchsicht ab, dass die museale Inszenierung in den Vorstellungen der Jugendlichen dem Lernortcharakter des Museums verpflichtet zu sein scheint. Ausstellungen sind so gestaltet, dass der Besucher über Geschichte informiert wird. Dabei ermöglichen sie das Eintauchen in eine andere Zeit. Durch die Alteritätserfahrung können dann Vergleiche zwischen präsentierten Aspekten der Vergangenheit und der Gegenwart gezogen werden. Das Wissen darüber, dass die Inszenierung von Objekten, ihre Beziehung im Raum und der Einsatz bestimmter Methoden für die Vermittlung von Geschichte und damit auch für das Verstehen einer Ausstellung wichtig sind, scheint bei den Jugendlichen unterschiedlich stark ausgeprägt. Eine Vorstellung davon, dass Ausstellungen aber immer fragmentarisch sind, sie nicht abbilden können, wie früher etwas gewesen ist, und dass die museale Präsentation wie jede historische Darstellung nur eine mögliche Interpretation der Geschichte ist, scheint – bei aller Vorsicht – kaum feststellbar zu sein.
Literatur Michele Barricelli: »Hat doch bei allen stattgefunden gehabt!« Empirische Erkundungen in einem Kooperationsprojekt von Schule und historischem Museum zum Thema »Migration 1500 – 2005«. In: GWU 58 (2007), S. 724 – 742. Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 207 – 235. Bodo von Borries: Präsentation und Rezeption von Geschichte im Museum. In: GWU 48 (1997), S. 337 – 343. Lynn D. Dierking: The Role of Context in Children’s Learning from Objects and Experience. In: Scott G. Paris (Hrsg.): Perspectives on Object-Centered Learning in Museums. Mahwah (NJ)/London 2002, S. 3 – 18. Walter Edelmann: Lernpsychologie. 6. Aufl. Weinheim 2000. John H. Falk/Lynn D. Dierking: Learning from Museums: Visitor Experiences and the Making of Meaning. Lanham (MD) 2000; John H. Falk/Lynn D. Dierking: The Museum Experience. Walnut Creek (CA) 2011. John H. Falk/Lynn D. Dierking/Marianna Adams: Living in a Learning Society : Museums and Free-Choice Learning. In: Sharon Macdonald (Hrsg.): A Companion to Museum Studies. Chichester 2011, S. 323 – 339. John H. Falk/Martin Storksdieck: Using the Contextual Model of Learning to Understand Visitor Learning from a Science Center Exhibition. In: Science Education 89 (2005), H. 5, S. 744 – 778. Uwe Flick: Das episodische Interview. In: Gertrud Oelerich/Hans-Uwe Otto (Hrsg.):
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Kernlehrplan für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in NordrheinWestfalen. Frechen 2013. Berit Pleitner : »Da kann man so viel lernen, gerade für junge Leute …«. Überlegungen zum Verhältnis von Jugendlichen und Museen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 5 (2006), S. 93 – 108. Berit Pleitner : Living History an britischen Museen. Eine empirische Studie mit Grundschülern. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Orte historischen Lernens. Berlin 2008 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 18), S. 99 – 113. Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 25). David E. Rummelhart: Schema and the Cognitive System. In: Robert S. Wyer/Thomas K. Srull (Hrsg.): Handbook of Social Cognition. Hillsdale (NJ) 1984, S. 161 – 188. Hermann Schäfer : Besucherforschung im Haus der Geschichte. In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Museen und ihre Besucher. Herausforderungen in der Zukunft. Berlin/Bonn 1996, S. 143 – 155. Hermann Schäfer : Besucherforschung als Basis für neue Wege der Besucherorientierung. In: Beatrix Commandeur/Dorothee Dennert (Hrsg.): Event zieht – Inhalt bindet. Besucherorientierung von Museen auf neuen Wegen. Bielefeld 2004, S. 103 – 119. Thomas J. Schlereth: Object Knowledge: Every Museum Visitor an Interpreter. In: Susan K. Nichols (Hrsg.): Patterns in Practice: Selections from the Journal of Museum Education. Washington (DC) 1992, S. 102 – 111. Gerhard Schneider : Bemerkungen zum Historischen Museum als Lernort. In: Herbert Raisch/Armin Reese (Hrsg.): Historia Didactica. Geschichtsdidaktik heute. Uwe Uffelmann zum 60. Geburtstag. Idstein 1997, S. 185 – 206. Wolfgang Schnotz: Aufbau von Wissensstrukturen. Untersuchungen zur Kohärenzbildung beim Wissenserwerb mit Texten. Weinheim 1994. Wolfgang Schnotz: Conceptual Change. In: Detlef H. Rost (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. 3. Aufl. Weinheim u. a. 2006, S. 77 – 82. Norbert M. Seel: Psychologie des Lernens. Lehrbuch für Pädagogen und Psychologen. 2. Aufl. München/Basel 2003. Carol B. Stapp: Defining Museum Literacy. In: Susan K. Nichols (Hrsg.): Patterns in Practice: Selections from the Journal of Museum Education. Washington (DC) 1992, S. 112 – 117. Manfred Treml: Ausgestellte Geschichte. Überlegungen zum visuellen Lernen in Ausstellungen und Museen. In: Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann/Hartmut Voit (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und Methoden historischen Lernens. Bernd Mütter zum 60. Geburtstag. Weinheim 1998 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 8), S. 190 – 212. Endel Tulving: Episodic and semantic memory. In: Ders./Wayne Donaldson (Hrsg.): Organization of memory. New York 1972, S. 381 – 403. Endel Tulving: Memory and Consciousness. In: Canadian Psychology 26 (1985), S. 1 – 12. Nora Wegner : Besucherforschung und Evaluation in Museen: Forschungsstand, Befunde und Perspektiven. In: Patrick Glogner/Patrick S. Föhl (Hrsg.): Das Kulturpublikum. Fragestellungen und Befunde der empirischen Forschung. Wiesbaden 2010, S. 97 – 152.
Stefanie Paufler-Gerlach
»So nah und doch so fern: Schülervorstellungen zum (Lernort) Museum«. Methodologische Überlegungen und ausgewählte Beispiele zum Dissertationsprojekt
Also das, was man im Museum lernt, kann man auch alles im Fernsehen sehen.1 Timur, 14 Jahre Die unmittelbare Begegnung mit dem authentischen Ort, den originalen Zeugnissen und Objekten und den vielfältigen musealen Medien fördert die kulturelle Kompetenz und bereichert und ergänzt die schulische Unterrichtsgestaltung.2
1.
Problemaufriss
Im Jahr 2011 erfolgten mehr als 109 Millionen Ausstellungsbesuche an deutschen Museen.3 Als einen gewichtigen Grund für einen Anstieg der Besuchszahlen führen Museen die Erweiterung ihrer Öffentlichkeitsarbeit und museumspädagogischen Angebote an.4 Ein Novum des museumspädagogischen Angebots stellt dabei das Format der Bildungskooperationen zwischen Schule und Museum dar, in dessen organisatorischem Rahmen auch der oben zitierte Schüler das Essener Ruhr Museum besuchte. Die Zahl solcher Kooperationen steigt kontinuierlich an, und ihre konzeptionelle Ausgestaltung ist eng verbunden mit der bildungspolitischen Forderung, die kulturelle Kompetenz zu fördern, um möglichen Inklusions- und Exklusionsprozessen entgegenzuwirken. Unter der Prämisse der kulturellen Bildung werden verstärkt Förderpro1 Gruppe MA, Zeile 245. 2 Auszug aus der Kooperationsvereinbarung zwischen dem Ruhr Museum und einer Essener Gesamtschule. 3 Vgl. Institut für Museumsforschung (Hrsg.): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2011. Berlin 2012 (Materialien aus dem Institut für Museumsforschung, Bd. 66), S. 7. 4 Vgl. Ebd., S. 15.
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gramme mit dem Ziel initiiert, eine möglichst breite Gruppe von Kindern und Jugendlichen an kulturelle Einrichtungen, wie etwa die historischen Museen, heranzuführen und damit zusätzliche Bildungschancen zu ermöglichen. Als eine Zielgruppe werden hierbei explizit Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund benannt.5 Die eingangs zitierten Aussagen verdeutlichen allerdings das damit einhergehende Spannungsfeld von Kulturangebot und Kulturnachfrage einerseits, andererseits veranschaulichen sie die Herausforderungen, die an Adressanten und Rezipienten gleichermaßen herangetragen werden. Das im Folgenden vorgestellte Dissertationsprojekt greift diese normativen Setzungen der Kulturpartizipation auf, um die Erwartungen und Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern zu ermitteln.6 Der Schnittstelle von Geschichtsdidaktik und Museumswesen entsprechend, nämlich Aufschluss über das Museumspublikum und dessen Bedarf und Erwartungen zu erhalten,7 gilt das Erkenntnisinteresse dabei ebenfalls der Wahrnehmung der Institution »Museum« in einer durch den demografischen Wandel geprägten Jugend und den damit einhergehenden wandelnden Sozialstrukturen und Lebensgewohnheiten. Daher lauten die Fragestellungen der Arbeit: – Wie nehmen Schüler die Optimierungen der kulturellen Partizipation in Form von Bildungspartnerschaften zwischen Schulen und Museen wahr? – Welchen Stellenwert nimmt die Institution »historisches Museum« in einer von soziokultureller Heterogenität geprägten Schülerschaft ein? – Welche Bedürfnisse und Anforderungen lassen sich hieraus für Museen und Schüler ableiten?
5 Beispielsweise die Förderrichtlinie »Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die im Jahr 2013 mit einer Summe in Höhe von 30 Millionen Euro Projekte fördert, oder die Initiative »schule@museum«, die im Zeitraum 2004 bis 2011 von der Kulturstiftung der Länder, der Robert-Bosch-Stiftung, der PWC-Stiftung, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Mercator finanziell unterstützt wurde. 6 Im Folgenden wird aufgrund der besseren Lesbarkeit einheitlich von Schülern gesprochen. 7 Vgl. Wolfgang Jacobmeyer : Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Musentempel, Lernort. Die Institution Museum als didaktische Herausforderung. In: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/ Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 11), S. 142 – 155, hier S. 152.
Schülervorstellungen zum (Lernort) Museum
2.
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Forschungslage
Bedeutsam für das Forschungsinteresse der Arbeit ist der Umstand, dass sich bisherige Untersuchungen zu Kooperationen im Rahmen der kulturellen Bildung am Erfolg der Maßnahme orientieren und die ortsspezifischen Bedingungen der beteiligten Institutionen weitgehend unreflektiert bleiben. Zudem zeichnet sich der Trend ab, dass die Adressaten der Aktionen kaum noch Berücksichtigung in Wirkungsforschungen finden.8 Dieses Desiderat drückt sich ebenfalls in der mangelnden Berücksichtigung von fachdidaktischen Aspekten und Erkenntnissen aus. Das historische Museum als »Institution der Geschichtskultur«9 hat eine Vielzahl von geschichtsdidaktischen Publikationen hervorgebracht, die neben der Genese der Institution und ihrer gesellschaftlichen Funktion auch das Verhältnis zur Schule thematisieren. Dem historischen Lernen in Geschichtsmuseen wird ein hohes Potenzial zugesprochen, und als Argument für eine Intensivierung der Zusammenarbeit von Schule und Museum gilt der Vorteil der Veranschaulichung.10 Dennoch steht in der Geschichtsdidaktik ein theoretisches Fundament sowie ein methodisches Analyseraster der Lernsituation in Geschichtsmuseen weiterhin aus.11 Dass eine Adaption der im Geschichtsunterricht zu erzielenden Kompetenzen auf das Arrangement musealer Bildungsangebote unzureichend ist, belegen die Ausführungen im Rahmen der Zweijahrestagung der Geschichtsdidaktik, »Historische Kompetenzen und Museen« im Jahr 2007.12 Bodo von Borries betont in diesem Zusammenhang, dass Museen nicht gegründet würden, um bei den Besuchern Kompetenzen zu fördern.13 8 Vgl. Tobias Fink u. a.: Wirkungsforschung zwischen Erkenntnisinteresse und Legitimationsdruck. Online-Veröffentlichung 2010, S. 2 (online verfügbar unter : http://www.for schung-kulturelle-bildung.de/downloads/Wirkungsforschung.pdf, aufgerufen am 12. 10. 2013). 9 Bernd Schönemann: Museum als Institution der Geschichtskultur. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 21 – 31, hier S. 25. 10 Vgl. Andreas Urban: Geschichtsvermittlung im Museum. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Klaus Bergmann zum Gedächtnis. 2. überarb. Aufl., Schwalbach/Ts. 2007, S. 370 – 388, hier S. 384. Vgl. Dietmar von Reeken: Gegenständliche Quellen und museale Darstellungen. In: Hilke Günther Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 5. Aufl., Berlin 2011, S. 137 – 150, hier S. 148. 11 Vgl. Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps. Berlin 2012 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 10), S. 33. 12 Vgl. Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 25). 13 Vgl. Bodo von Borries: Lernende in Historischen Museen und Ausstellungen. Erhoffter Kompetenzerwerb und kritische Rückfragen. In: Popp/Schönemann (Anm. 12), S.100 – 120, hier S. 102.
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Jedoch vollzog sich mit der Expansion der kulturellen Bildung in den letzten Jahren auch ein Wandel der Bildungsintention von historischen Museen. Während in den Jahren davor eine eindeutige Abgrenzung zur Schule bestand und die kulturelle Teilhabe vorrangig in der Teilnahme an sporadischen Ausstellungsbesuchen im schulischen Kontext und punktuell an museumspädagogischen Programmen in der Freizeit erfolgte, besteht mit den Initiativen der kulturellen Bildung eine Erweiterung in die Schulen hinein. Diese Entwicklung begründet sich mit der Einführung des Ganztages an Schulen, die neue Kooperationsformen hervorbrachte, aber auch im Engagement der Museen, neue Zielgruppen zu gewinnen.14 Kulturelle Bildung in Museen findet seine Schnittstelle zum historischen Lernen in der von Michael Sauer benannten Vorstufe der »ästhetischen Wahrnehmung«,15 denn kulturelle Bildung impliziert neben der künstlerischen Bildung ebenfalls die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit in Form der ästhetischen Bildung.16 Die Besucherforschung in Geschichtsmuseen erfolgt in erster Linie auf einer statistischen Ebene und wird von den Institutionen selbst durchgeführt. Sie lässt nur wenig Aussagen über ein potenzielles Publikum zu, da sie nur erfasst, wer im Museum war. Somit können diese Erhebungen keinen Aufschluss über die Gründe des Fernbleibens liefern.17 Ebenfalls lassen geschichtsdidaktische Untersuchungen zum historischen Museum nur wenige Rückschlüsse auf die Gruppe der jungen Besucher zu. Ausnahmen bilden die qualitativen Untersuchungen von Berit Pleitner und Michele Barricelli, die jeweils Vorstellungen von Schülern zum Museum analysiert haben und für das Erkenntnisinteresse des Forschungsvorhabens beachtenswert sind.18 Trotz divergierender Intentionen 14 Vgl. Tobias Fink u. a.: Begrifflich, empirisch, künstlerisch: Forschung im Feld der Kulturellen Bildung. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Die Kunst, über Kulturelle Bildung zu forschen. Theorie und Forschungsansätze. München 2012 (Kulturelle Bildung, Bd. 29), S. 9 – 19, hier S.10. 15 Vgl. Michael Sauer : Historisches Lernen in Ausstellungen. Kompetenzen im Umgang mit Geschichte als Ziel und Voraussetzung. In: Popp/Schönemann (Anm. 12), S. 81 – 93, hier S. 93. 16 Vgl. Fink (Anm. 8), S. 11. 17 Vgl. Bernd Holtwick: Schaulust und andere niedere Beweggründe. Was lockt Menschen in historische Museen? Oder : Wann machen Museen Spaß? In: Olaf Hartung (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl. Bielefeld 2008, S. 184 – 198, hier S. 187. 18 Berit Pleitner untersuchte in einer Pilotstudie die Vorstellungen von sechs Schülern zu Museen an einer integrierten Gesamtschule. In den darauffolgenden Untersuchungen erweiterte sie die Perspektive um die der Museumspädagogen und Lehrkräfte. Vgl. Berit Pleitner : Historisches Lernen im Museum. In: Jan Hodel/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik emprisch 09«. Bern 2011, S. 35 – 44. Vgl. Dies.: Living History an britischen Museen. Eine empirische Studie mit Grundschülern. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Orte historischen Lernens, Berlin 2008, S. 99 – 113. Vgl. Dies.: »Da kann man so viel lernen, gerade für junge Leute«. Überlegungen zum Verhältnis von Jugendlichen und Museen. In: Zeitschrift für
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und Rahmungen belegen beide Studien, dass Schüler das Museum als Ort der Wissensvermittlung ansehen und sich zugleich für eine Abgrenzung zur Schule aussprechen, indem sie Ergänzungen und keine Wiederholungen schulischer Inhalte fordern. Diese Erkenntnisse decken sich auch mit den Forschungen zu den Vorstellungen der Besucher naturkundlicher und technischer Museen.19 Die Ergebnisse veranlassen zu weiterführenden Fragen der Wahrnehmung von Museen, die gleichfalls die gesellschaftlichen Bedingungen des demografischen und kulturpolitischen Wandels implizieren. Dementsprechend sollten »bei zukünftigen Erhebungen einige zentrale Indikatoren der sozialen Herkunft erfasst« und zudem hinsichtlich der »[…] Bildungsforschung im Museum, […] auf Zusammenhänge zwischen den Lernvorstellungen und einem mehr oder weniger neugierigen, wissbegierigen und ›lernenden‹ Besucherverhalten gerichtet werden.«20 Einen wichtigen Referenzrahmen für diese Forderung und die Fragestellung der Arbeit bilden die auf der Basis von empirischen Untersuchungen entwickelten theoretischen Überlegungen der amerikanischen Forscher Lynn D. Dierking und John H. Falk, deren Erkenntnisse im deutschsprachigen Raum bereits in der Biologiedidaktik und in der Erforschung von Lernprozessen im Naturkundemuseum herangezogen wurden.21 Im Zentrum Geschichtsdidaktik 5 (2006), S. 93 – 108. Michele Barricelli analysierte ein temporäres Kooperationsprojekt zwischen Berliner Realschulen und dem Deutschen Historischen Museum. Er untersuchte die schriftlichen Objektbeschreibungen von Schülern, zudem wurde das Projekt durch teilnehmende Beobachtung und Gruppendiskussionen evaluiert. Vgl. Michele Barricelli: Geteilte Erinnerungen. Ein Museums-, Unterrichts- und Forschungsprojekt anlässlich einer historischen Ausstellung zu Migrationen in der deutschen Geschichte. In: Jan Hodel/ B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07«. Bern 2009, S. 158 – 168. Vgl. Ders./Brigitte Vogel: Migration, Museum und historische Kompetenzen. Museumspädagogisches und Geschichtsdidaktisches zu einem Berliner Schülerprojekt. In: Popp/Schönemann (Anm. 12), S. 251 – 266. Vgl. Ders.: »Hat doch bei allen stattgefunden gehabt!« Empirische Erkundungen in einem Kooperationsprojekt von Schule und historischem Museum zum Thema »Migration 1500 – 2005. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 724 – 742. Sieh auch Dagmar Wunderlich: Kulturelle Bildung für Jugendliche im Museum – Machen Museen »Lust auf Kultur«? Evaluation des Realschulprojekts am Deutschen Historischen Museum. In: Fink (Anm. 14), S. 185 – 193. 19 Vgl. Gun-Brit Thoma/Manfred Prenzel: Was verbinden Museumsbesucher mit Lernen im Museum und in der Schule? In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 12 (2009), H. 1, S. 64 – 79. 20 Ebd., S. 78 f. 21 Vgl. John H. Falk/Lynn D. Dierking: Learning from Museums: Visitor Experiences and the Making of Meaning. Lanham 2000. Vgl. Dies.: The Museum experience revisited, Walnut Creek, California 2013. Vgl. Ute Harms/Angela Krombaß: Lernen im Museum – das Contextual Model of Learning. In: Unterrichtswissenschaft. Zeitschrift für Lernforschung 36 (2008), H. 2, S. 150 – 166; Vgl. Matthias Wilde: Das Contextual Model of Learning – ein Theorierahmen zur Erforschung von Lernprozessen in Museen. In: Dirk Krüger/Helmut Vogt (Hrsg.): Theorien in der biologiedidaktischen Forschung. Ein Handbuch für Lehramtsstudenten und Doktoranden. Berlin u. a. 2007, S. 165 – 175.
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des von L. D. Dierking und J. H. Falk entwickelten »Contextual Model of Learning« stehen Schlüsselfaktoren, die das Lernen im Museum beeinflussen und in den Kategorien des persönlichen Kontexts (»personal context«), des soziokulturellen Kontexts (»sociocultural context«) und des gegenständlichen Kontexts (»physical context«) ausdifferenziert werden.22 Wenngleich der Einsatz zur Erfassung der Prozesse als zu aufwendig bewertet und zur didaktischen Operationalisierung eine Präzisierung der Faktoren und Begriffe gefordert wird, erfährt das Modell gerade aufgrund seiner komplexen Berücksichtigung von Einflüssen, die für das außerschulische Lernen bedeutsam sind, großen Zuspruch.23 An der Schnittstelle von Geschichtsdidaktik und kultureller Bildung gewinnt der persönliche Kontext an Bedeutung, seine Ausdifferenzierungen »Motivation und Erwartungen« und »Vorwissen, Interessen und Überzeugungen« sind für die Studie aus heuristischer Perspektive interessant. »Motivation« impliziert das Interesse am Gegenstand und »Alltagsvorstellungen und Vorwissen« sind elementare Voraussetzungen für das Lernen.24 Für das Lernen in historischen Museen sind diese Faktoren ebenfalls von zentraler Bedeutung, denn »wer entsprechende Vorkenntnisse oder Kompetenzen mitbringt, ist nicht nur in der Lage, besser einzuordnen, was ihm präsentiert wird; es erschließen sich ihm vielleicht auch tiefere Schichten ästhetischer Wahrnehmung und Genussfähigkeit.«25 Die deutliche Zunahme von Kooperationen zwischen Schulen und historischen Museen, der Legitimationsdruck seitens der bildungs- und kulturpolitischen Ansprüche und die mangelnde bisherige Berücksichtigung der Heterogenität von Schülergruppen in geschichtsdidaktischen Forschungen zum außerschulischen Lernen in Museen bilden somit gewichtige Faktoren für das Forschungsinteresse der Studie. Dies soll zur Konsolidierung der bisherigen Erkenntnisse zur Wahrnehmung von Geschichtsmuseen beitragen und greift die Methodik der Erhebung von Schülervorstellungen auf, um weiterführende Aufschlüsse über die Adressaten von Bildungsangeboten zu gewinnen.
22 23 24 25
Vgl. Harms/Krombaß (Anm. 21), S. 153. Vgl. Wilde (Anm. 21), S. 172. Vgl. Harms/Krombaß (Anm. 21), S. 153 f. Sauer (Anm. 15), S. 85 f.
Schülervorstellungen zum (Lernort) Museum
3.
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Schülervorstellungen und Sprache
Der Erwerb der Vorstellungen von Schülern erfolgt laut Hilke Günther-Arndt primär vor und neben der Schule. Es sind somit Alltagsvorstellungen, die sich als förderlich für die Erklärung von Phänomenen erwiesen haben. Im Kontext »Schule« wiederum werden wissenschaftsförmige Vorstellungen angewandt, die allerdings im privaten Raum zusätzlich durch Alltagsvorstellungen oder ausschließlich durch lebensweltliche Vorstellungen ergänzt bzw. ersetzt werden.26 Die Oldenburger Geschichtsdidaktikerin H. Günther-Arndt konkretisiert den Terminus der Vorstellungen, indem sie diese als Begriffe, Konzepte und Denkfiguren oder Theorien ausweist, mit denen ein Sachverhalt erklärt wird, und verweist dabei auf deren verschiedene Grade an Komplexität.27 Mit einem erklärenden Charakter und formulierten Grundsätzen sind Denkfiguren am komplexesten. Sie beinhalten mehrere Konzepte, während Begriffe den niedrigsten Grad an Komplexität aufweisen und relativ einfache Vorstellungen sind, die mit anderen Begriffen verknüpft werden. Konzepte wiederum beziehen sich auf einen bestimmten Sachverhalt und finden ihren Ausdruck in Behauptungen, Sätzen und Aussagen.28 Der Grad der Komplexität von Vorstellungen drückt sich auch im Sprachvermögen von Schülern aus. Wenn Schüler mündlich oder schriftlich einen Sachverhalt erklären, müssen zunächst die sprachlichen Mittel präzise gewählt werden, um Formulierungen von Zusammenhängen ausdrücken zu können. Dabei erfolgt ein Rückgriff auf formelle Sprachregister. Aktuell im interdisziplinären Diskurs stark verhandelt wird der Begriff der »Bildungssprache«. Sie ist die Sprache der Vermittlung in Institutionen. »Die Sprache des Unterrichts und der Texte, die im Schulalltag bearbeitet oder geschrieben werden, stellen ein anderes Sprachregister dar als die Alltagssprache.«29 Diese Ansätze werden für das Forschungsvorhaben fruchtbar gemacht, indem die Vorstellungen der Lerner unter den Aspekten der Bildungs- und Alltagssprache fokussiert werden. 26 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Historisches Wissen und Wissenserwerb. In: Dies. (Anm. 10), S. 23 – 47, hier S. 27. 27 Vgl. Dies.: Conceptual-Change-Forschung. Eine Aufgabe für die Geschichtsdidaktik? In: Dies./Michael Sauer : Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14), S. 251 – 277, hier S. 274. 28 Vgl. Jorge Groß: Biologie verstehen: Wirkungen außerschulischer Lernangebote. Oldenburg 2007 (Beiträge zur Didaktischen Rekonstruktion, Bd. 16), S. 15. 29 Katja Francesca Cantone: Förderung der Zweisprachigkeit in Erwerb und Schulalltag: Eine neue Sicht auf sukzessive Bilinguale. In: Rupprecht S. Baur/Britta Hufeisen (Hrsg.): »Vieles ist sehr ähnlich«. Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe. Baltmannsweiler 2011 (Mehrsprachigkeit und multiples Sprachenlernen, Bd. 6), S. 225 – 247, hier S. 240.
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Durch einen expliziten und systematischen Sprachgebrauch grenzt sich die Bildungssprache von der Alltagssprache ab.30 Bildungssprache umfasst Elemente der Schul- und Fachsprache, die sich vor allem im Bereich der Terminologie, also des Wortschatzes der Schule und Unterrichtsfächer widerspiegeln.31 Als Kriterien der Bildungssprache gelten neben diskursiven auch syntaktische Merkmale, wie Textzusammenhänge, Satzgefüge oder umfängliche Attribute.32 Diese sind für Schülervorstellungen bedeutsam, denn auf der Ebene von Konzepten werden Behauptungen und Aussagen mit Sätzen ausgedrückt. Auf der Ebene der Begriffe von Schülervorstellungen gewinnen die lexikalischsemantischen Merkmale der Bildungssprache, wie differenzierende und abstrahierende Ausdrücke, nominale Zusammensetzungen und normierte Fachbegriffe, an Bedeutung.33 Aus diesem Grunde wird für die Untersuchung eine weitere Ausdifferenzierung von Vorstellungen aus der Biologiedidaktik herangezogen, die für die Sprache der Subjekte und somit auch für das Erkenntnisinteresse der Studie relevant ist. Dort werden neben den Theorien oder Denkfiguren, Konzepten und Begriffen zusätzlich Wörter ausgewiesen. Diese Form von Vorstellungen weist einen minimalen Grad von Komplexität aus, da lediglich sprachliche Elemente, Wörter und Termini genutzt werden, um Begriffe und Konzepte zu erläutern.34 Die Berücksichtigung der Sprachregister von Lernsubjekten besitzt jedoch nicht nur unter dem Aspekt der Art und Weise, wie und womit der Sachverhalt beschrieben wird, ihre Relevanz für die ermittelten Schülervorstellungen zum Museum. Gleichermaßen beachtenswert ist die Erkenntnis, dass mit fortgeschrittener Bildungsbiografie und der Ausdifferenzierung des Fachunterrichts ein verstärkter Rückgriff auf das Register »Bildungssprache« erfolgt und zugleich gefordert wird.
30 Vgl. Stefan Jeuk: Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlagen – Diagnose – Förderung. Stuttgart 2010, S. 52. 31 Vgl. Ingrid Gogolin/Imke Lange: Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Sara Fürstenau/Mechthild Gomolla (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden 2010, S. 107 – 127, hier S. 112. Sieh zur Fachsprache im Geschichtsunterricht: Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach – Sprachlichkeit fachlichen Lernens. Münster 2013 (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3), S. 317 – 334. 32 Vgl. Gogolin/Lange (Anm. 31) S. 113 f. 33 Vgl. Ebd., S. 114. 34 Vgl. Groß (Anm. 28).
Schülervorstellungen zum (Lernort) Museum
Abb.: Schülervorstellungen und Sprachregister (eigene Darstellung).
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4.
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Forschungsdesign
In Abgrenzung zur qualitativen Evaluationsforschung35 und damit zu bisherigen Untersuchungen zur kulturellen Bildung gilt das Erkenntnisinteresse der Studie der Grundlagenforschung von Schülervorstellungen zum Museum, um ein Verfahren der zunächst gegenstandsbezogenen und schließlich formalen Theorienbildung zu entwickeln und zu optimieren. Die Entscheidung begründet sich in dem bereits beschriebenen Mangel einer theoretischen Rahmung des Lernens in Geschichtsmuseen und dem Erkenntnisinteresse, Phänomene im Spannungsfeld von Instruktion und Interesse im Rahmen der Bildungskooperation auszuweisen.
4.1
Auswahl des Samples
Die Erhebung der Schülervorstellungen fand in einem achten bzw. neunten Jahrgang einer Essener Gesamtschule statt und erstreckte sich über den Zeitraum von Mai 2011 bis Juni 2012. Gemäß des theoretischen Samplings der Studie begründet sich die gezielte Auswahl der Schule und der Jahrgangstufe in der bestehenden Bildungspartnerschaft mit dem Ruhr Museum. Der Vertrag sieht eine Teilnahme an museumspädagogischen Programmen von mindestens einmal im Jahr in allen Jahrgängen vor; der inhaltliche Schwerpunkt des Angebots ist eng verzahnt mit den historischen Themen des Unterrichtsfachs Gesellschaftslehre. So ist beispielsweise für das fünfte Schuljahr der Workshop »Leben in der Jungsteinzeit« und im neunten Schuljahr ein Ausstellungsbesuch mit dem Schwerpunkt »Industrialisierung im Ruhrgebiet« vorgesehen. Der achte Jahrgang eignete sich besonders für die Untersuchung, da er als erster seit der 2009 bestehenden Bildungspartnerschaft bereits dreimal am museumspädagogischen Programm teilnahm und somit mit der Institution »Museum« vertraut ist. Für die Fragestellung der Studie ist zudem der Standort der Schule bedeutsam: Sie befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Museum, in einem Stadtbezirk, der einen Anteil von 43,5 % von Doppelstaatlern und Nichtdeutschen bei unter 18jährigen aufweist.36 Die Teilnahme der Schüler an schriftlichen und mündlichen Befragungen erfolgte freiwillig und am vertrauten Ort Schule. 35 Vgl. Ernst von Kardorff: Qualitative Evaluationsforschung. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 5. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2007, S. 238 – 250. Vgl. Reinhard Stockmann (Hrsg.): Evaluationsforschung. Grundlagen und ausgewählte Forschungsfelder (Sozialwissenschaftliche Evaluationsforschung, Bd. 1). 3. Aufl., Münster u. a. 2006. 36 Vgl. Amt für Statistik, Stadtforschung und Wahlen der Stadt Essen (Hrsg): Ein Blick auf … Menschen in Essen. Bevölkerung am 31. 12. 2011. Essen 2012, S. 16.
Schülervorstellungen zum (Lernort) Museum
4.2
109
Datenerhebung und -auswertung
Dem Erkenntnisinteresse der Arbeit entsprechend orientiert sich die Erhebung und Auswertung am sozialwissenschaftlichen Ansatz der »Grounded Theory«.37 In einem zirkulären Forschungsprozess wurden die Daten gleichzeitig gesammelt und analysiert.38 Die Schülervorstellungen zum (Lernort) Museum wurden zunächst in Gruppendiskussionen erhoben, um anhand von Diskurs-, Gruppenund Interaktionsprozessen die Konstitution von Meinungen und Orientierungsund Bedeutungsmustern auszumachen.39 Nach einem Pretest nahmen insgesamt 49 Schüler an neun Gruppendiskussionen teil; diese fanden vor und nach einem Ausstellungsbesuch statt. Das offene Kodieren der transkribierten Diskussionen und die so gewonnenen Codes führten zu Fragen der Schriftlichkeit und des Spracherwerbs der Schüler, die an das Forschungsfeld herangetragen wurden, so dass erweiternd eine Befragung in Form von Fragebögen erfolgte. An der schriftlichen Befragung nahmen 75 Schüler teil. Neben geschlossenen Fragen zu Mehrsprachigkeit und sozialen Indikatoren wurden die Vorstellungen zum Museum mittels offener Fragen erhoben. Die Kombination von mündlichen und schriftlichen Erhebungen gewährleistet zugleich eine Triangulation von Daten. Aus der Gesamtmenge des Datenmaterials wurden signifikante Textstellen während des offenen Kodierens mit Begriffen versehen und anschließend zu Kategorien zusammengeführt. Diese sollen im anschließenden Schritt des axialen Kodierens differenziert werden, um Beziehungen zwischen den einzelnen Kategorien herauszuarbeiten und Ursachen und Bedingungen von Phänomenen ausmachen zu können. Schließlich soll auf der Ebene des selektiven Kodierens eine wesentliche Kategorie herausgearbeitet werden, um eine zentrale Theorie formulieren zu können.40
37 Vgl. Barney G. Glaser/Anselm L. Straus: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Aus dem Amerikanischen von Axel T. Paul und Stefan Kaufmann. Mit einem Geleitwort von Bruno Hildebrand. 3., unveränderte Aufl., Bern 2010. 38 Vgl. Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 4., vollständig überarbeitete Aufl., Weinheim/Basel 2005, S. 108. 39 Vgl. Ralf Bohnsack: Gruppendiskussion. In: Flick/von Kardorff/Steinke (Anm. 36), S. 369 – 383. Vgl. Siegfried Lamnek: Gruppendiskussion. Theorie und Praxis. 2., überarb. und erw. Aufl., Weinheim 2005. 40 Vgl. Jörg Strübing: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theorienbildung (Qualitative Sozialforschung, Bd. 15). 2., überarbeite und erweiterte Aufl., Wiesbaden 2008, S. 19 f.
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5.
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Darstellung ausgewählter Beispiele
Im Folgenden werden exemplarisch mündliche und schriftliche Aussagen vorgestellt, die während des offenen Kodierens unter Berücksichtigung der Sprachregister und der alltäglichen und wissenschaftsförmigen Vorstellungen mit Codes versehen wurden. Bei der schriftlichen Befragung sollten die Schüler u. a. erklären, was ein Museum ist: »Ein Museum ist ein Ort, wo sich Befunde und Stücke aus längerer Zeit befinden. Sie sind dort ausgestellt um einen Besuch von Touristen oder Zivilisten zu bekommen. Museen haben auch verschiedene Themengebiete. Zum einen Beispiel, Kultur und Religion oder das Mittelalter.«41
Die 15-jährige Schülerin differenziert das Museum zunächst nach seinen Aufgaben. Materielle Zeugnisse werden dort aufbewahrt und in Ausstellungen präsentiert. Ihre Beschreibung impliziert zudem den Unterhaltungs- und Informationszweck der Institution, indem sie das Publikum in die Gruppen der Touristen und Zivilisten unterteilt. Allerdings bleibt der Begriff »Zivilisten« vage in seiner Beschreibung, so dass keine Ausdifferenzierung verschiedener Gruppen, wie beispielsweise von Erwachsenen oder Schülern, erfolgt. Auch ihre Beispiele der Themenvielfalt sind allgemein gehalten, dennoch ist auffällig, dass mit dem Begriff des »Mittelalters« lediglich ein historisches Thema benannt wird. Die syntaktischen Merkmale weisen auf das Bemühen der Schülerin hin, ihre Erklärungen bildungssprachlich auszudrücken. Dennoch verweisen die lexikalisch-semantischen Kriterien auf einen Rückgriff der Alltagssprache. Begriffe werden nicht abstrahiert und ausdifferenziert, die Verwendung von Fachbegriffen erfolgt marginal. Im Verfahren des offenen Kodierens wurde diese Schüleräußerung mit Codes wie »Ort der Aufbewahrung«, »Ort des Ausstellens«, »touristische Attraktion«, »Kultur«, »Mittelalter als Ausstellungsthema«, »öffentliche Funktion«, »Alltagssprache«, »Mangel an Fachbegriffen«, »keine Abstraktion’ und »kein schulischer Bezug« versehen. Nach einem Ausstellungsbesuch äußerte sich die 13-jährige Aida auf die Frage, welche Meinung sie zu diesem habe, in der Gruppendiskussion folgendermaßen: »Da waren so verschiedene Themen. Also so auf einmal. Also einmal kam ja da etwas zu Religion und noch anderes irgendwie. Da waren wir bei so Geräten, keine Ahnung. Hinter den Scheiben waren irgendwelche Sachen.«42 41 FB 23, Zeile 2 – 4. 42 Gruppe MB, Zeile 136 – 139.
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Zunächst ist auffällig, dass Aida vorrangig auf alltägliche Vorstellungen zurückgreift und keine Fachbegriffe verwendet. Exponate bezeichnet sie als »irgendwelche Sachen« und die museale Präsentation von Objekten in Vitrinen umschreibt sie mit »hinter den Scheiben«. Ihre Vorstellungen zum erfolgten Besuch weisen keinen hohen Grad an Komplexität auf: Sie verknüpft lediglich Wörter und stellt Behauptungen wie »so auf einmal« auf. Dies spiegelt sich auch in ihrem Rückgriff auf das Sprachregister wider. Ihre Meinung äußert sie sehr stark kontextgebunden, es ist keine schulische Kontextualisierung erkennbar, und somit kann ihre Äußerung eher der Alltagssprache zugeordnet werden. Unterzieht man nun die Textstelle dem offenen Kodieren, können Codes wie »Orientierungslosigkeit«, »Überforderung«, »Überfrachtung«, »Wunsch nach Strukturierung«, »Nutzung«, »zeitliche Einordnung«, »Wertschätzung«, »Mangel an Imagination«, »keine Übertragung auf Unterricht«, »Mangel an Fachbegriffen« und »Alltagssprache« ausgemacht werden. Die 14-jährige Jenna äußerte sich in der gleichen Diskussion auf die Frage, was an einem Museum interessant ist wie folgt: »Da kann man sich auch gut ein Thema für die Schule suchen. Wenn man so ein Thema in der Schule hat, dafür könnte man dahingehen. Da weiß man ja, ah, da ist was, und dann kann man hingehen und da recherchieren oder so.«43
Jenna zieht bei ihrer Bewertung wissenschaftsförmige Vorstellungen heran. Sie verbindet mit dem Museum einen Ort der Wissensvermittlung und bestätigt der Institution Glaubhaftigkeit. Ihre Vorstellungen weisen einen mittleren Grad an Komplexität auf: Sie verbindet den Begriff »Schule« mit dem Ort Museum und spricht ihnen eine Ergänzung zu. Obwohl sie zunächst kontextgebunden und somit eher alltagssprachlich ihre Meinung schildert, verweisen Formulierungen wie »wenn man so ein Thema in der Schule hat« oder »dann kann man da hingehen und recherchieren« auch auf einen Rückgriff auf das bildungssprachliche Register. Beim offenen Kodieren können der Aussage Codes wie »außerschulische Nutzung«, »Funktionen von Museen«, »Ergänzung von Schule und Museum«, »Alltagssprache«, »Bildungssprache«, »Erkenntnisgewinn« zugesprochen werden.
6.
Ausblick
Die Zusammenarbeit von Museen und Schulen hat in den letzten Jahren eine Intensivierung erfahren. Bildungspartnerschaften verschieben die bisherigen Grenzen von Unterricht und Museumsbesuch, und hier besteht seitens der 43 Gruppe MB, Zeile 248 – 250.
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Geschichtsdidaktik die wichtige Aufgabe, diesen Prozess aktiv mitzugestalten. Dies gilt gleichermaßen für Projekte im Rahmen der kulturellen Bildung. Die bildungspolitischen Forderungen und zugleich Programme zur Förderung der kulturellen Kompetenz sollten um orts- und fachspezifische und somit auch um geschichtsdidaktische Perspektiven differenziert und erweitert werden. Die gewonnenen Daten des ersten Jugend-KulturBarometers zeigen, dass die Wertvorstellungen und die Kulturnähe des Herkunftslandes einen wesentlichen Einfluss auf die Teilnahme von kulturellen Angeboten ausüben.44 Es gilt das Potenzial des historischen Lernens in Museen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Heterogenität zu modifizieren und zugleich zu konkretisieren. Das Innovationspotenzial dieses Dissertationsprojekts dürfte in der »Sichtbarkeit« der Vielfältigkeit von Vorstellungen zum Museum und in der Entwicklung von theoretischen Konzepten zur besseren »Lesbarkeit« der unterschiedlichen Ansprüche und Bedürfnisse von Akteuren und Adressaten liegen. Denn Einstellungen zur Institution »Museum« und die Kenntnisse seiner Funktion beeinflussen auch die Bereitschaft, sich auf den »Vermittlungsanspruch« historischer Ausstellungen und auf entsprechende museumspädagogische Begleitprogramme einzulassen. Anhand des vorliegenden Datenmaterials soll nachgewiesen werden, ob die normativen Setzungen von Kooperationen den veränderten Wahrnehmungs- und Sehgewohnheiten von Schülern entsprechen. Daher versteht sich die Studie als Grundlage für zukünftige Interventionsstudien, die eine Implementierung historischen Lernens in Museen und die Wirksamkeit von Bildungsangeboten nachweisen wollen.
Literatur Amt für Statistik, Stadtforschung und Wahlen der Stadt Essen (Hrsg): Ein Blick auf … Menschen in Essen. Bevölkerung am 31. 12. 2011. Essen 2012. Michele Barricelli: »Hat doch bei allen stattgefunden gehabt!« Empirische Erkundungen in einem Kooperationsprojekt von Schule und historischem Museum zum Thema »Migration 1500 – 2005«. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 724 – 742. Michele Barricelli: Geteilte Erinnerungen. Ein Museums-, Unterrichts- und Forschungsprojekt anlässlich einer historischen Ausstellung zu Migrationen in der deutschen Geschichte. In: Jan Hodel/ B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichts44 Vgl. Susanne Keuchel: »Kultur für alle« in einer gebildeten, ungebundenen, multikulturellen und veralteten Gesellschaft? Der demografische Wandel und seine Konsequenzen für die kulturelle Partizipation. In: Andrea Hausmann/Jana Körner (Hrsg.): Demografischer Wandel und Kultur. Veränderungen im Kulturangebot und der Kulturnachfrage. Wiesbaden 2009, S. 149 – 176, hier S. 156 f.
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didaktik 07. »Beiträge zur Tagung geschichtsdidaktik empirisch 07«. Bern 2009, S. 158 – 168. Michele Barricelli/Brigitte Vogel: Migration, Museum und historische Kompetenzen. Museumspädagogisches und Geschichtsdidaktisches zu einem Berliner Schülerprojekt. In: Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 25), S. 251 – 266. Ralf Bohnsack: Gruppendiskussion. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 5. Aufl., Reinbek 2007, S. 369 – 383. Bodo von Borries: Lernende in Historischen Museen und Ausstellungen. Erhoffter Kompetenzerwerb und kritische Rückfragen. In: Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 25), S. 100 – 120. Katja Francesca Cantone: Förderung der Zweisprachigkeit in Erwerb und Schulalltag: Eine neue Sicht auf sukzessive Bilinguale. In: Rupprecht S. Baur/Britta Hufeisen (Hrsg.): »Vieles ist sehr ähnlich«. Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe, Baltmannsweiler 2011 (Mehrsprachigkeit und multiples Sprachenlernen, Bd. 6), S. 225 – 247. John H. Falk/Lynn D. Dierking: Learning from Museums: Visitor Experiences and the Making of Meaning. Lanham 2000. John H. Falk/Lynn D. Dierking: The Museum experience revisited, Walnut Creek, California 2013. Tobias Fink u. a. (Hrsg.): Die Kunst, über Kulturelle Bildung zu forschen. Theorie und Forschungsansätze. München 2012 (Kulturelle Bildung, Bd. 29). Tobias Fink u. a.: Wirkungsforschung zwischen Erkenntnisinteresse und Legitimationsdruck. Online-Veröffentlichung 2010, S. 2 (online verfügbar unter : http://www.for schung-kulturelle-bildung.de/downloads/Wirkungsforschung.pdf, aufgerufen am 12. 10. 2013). Barney G. Glaser/Anselm L. Straus: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Aus dem Amerikanischen von Axel T. Paul und Stefan Kaufmann. Mit einem Geleitwort von Bruno Hildebrand. 3., unveränderte Aufl., Bern 2010. Ingrid Gogolin/Imke Lange: Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Sara Fürstenau/Mechthild Gomolla (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden 2010, S. 107 – 127. Jorge Groß: Biologie verstehen: Wirkungen außerschulischer Lernangebote. Oldenburg 2007 (Beiträge zur Didaktischen Rekonstruktion, Bd. 16). Hilke Günther-Arndt: Conceptual-Change-Forschung. Eine Aufgabe für die Geschichtsdidaktik? In: Dies./Michael Sauer : Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14), S. 251 – 277. Hilke Günther-Arndt: Historisches Wissen und Wissenserwerb. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2011, S. 23 – 47. Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach – Sprachlichkeit fachlichen Lernens. Münster 2013 (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3), S. 317 – 334.
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Ute Harms/Angela Krombaß: Lernen im Museum – das Contextual Model of Learning. In: Unterrichtswissenschaft. Zeitschrift für Lernforschung 36 (2008), H. 2, S. 150 – 166. Bernd Holtwick: Schaulust und andere niedere Beweggründe. Was lockt Menschen in historische Museen? Oder : Wann machen Museen Spaß? In: Olaf Hartung (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl. Bielefeld 2008, S. 184 – 198. Institut für Museumsforschung (Hrsg.): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2011. Berlin 2012 (Materialien aus dem Institut für Museumsforschung, Bd. 66). Wolfgang Jacobmeyer : Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Musentempel, Lernort. Die Institution Museum als didaktische Herausforderung. In: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 11), S. 142 – 155. Stefan Jeuk: Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlagen – Diagnose – Förderung. Stuttgart 2010. Ernst von Kardorff: Qualitative Evaluationsforschung. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/ Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 5. Aufl., Reinbek 2007, S. 238 – 250. Susanne Keuchel: »Kultur für alle« in einer gebildeten, ungebundenen, multikulturellen und veralteten Gesellschaft? Der demografische Wandel und seine Konsequenzen für die kulturelle Partizipation. In: Andrea Hausmann/Jana Körner (Hrsg.): Demografischer Wandel und Kultur. Veränderungen im Kulturangebot und der Kulturnachfrage. Wiesbaden 2009, S. 149 – 176. Siegfried Lamnek: Gruppendiskussion. Theorie und Praxis. 2., überarb. und erw. Aufl., Weinheim 2005. Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 4., vollständig überarbeitete Aufl., Weinheim/Basel 2005. Berit Pleitner : Historisches Lernen im Museum. In: Jan Hodel/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik emprisch 09«. Bern 2011, S. 35 – 44. Berit Pleitner : Living History an britischen Museen. Eine empirische Studie mit Grundschülern. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Orte historischen Lernens, Berlin 2008, S. 99 – 113. Berit Pleitner : »Da kann man so viel lernen, gerade für junge Leute«. Überlegungen zum Verhältnis von Jugendlichen und Museen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 5 (2006), S. 93 – 108. Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 25). Dietmar von Reeken: Gegenständliche Quellen und museale Darstellungen. In: Hilke Günther Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 5. Aufl., Berlin 2011, S. 137 – 150. Michael Sauer : Historisches Lernen in Ausstellungen. Kompetenzen im Umgang mit Geschichte als Ziel und Voraussetzung. In: Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 25), S. 81 – 93.
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Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps. Berlin 2012 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 10). Bernd Schönemann: Museum als Institution der Geschichtskultur. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 21 – 31. Reinhard Stockmann (Hrsg.): Evaluationsforschung. Grundlagen und ausgewählte Forschungsfelder (Sozialwissenschaftliche Evaluationsforschung, Bd. 1). 3. Aufl., Münster u. a. 2006. Jörg Strübing: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theorienbildung (Qualitative Sozialforschung, Bd. 15). 2., überarbeite und erweiterte Aufl., Wiesbaden 2008. Gun-Brit Thoma/Manfred Prenzel: Was verbinden Museumsbesucher mit Lernen im Museum und in der Schule? In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 12 (2009), H. 1, S. 64 – 79. Andreas Urban: Geschichtsvermittlung im Museum. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Klaus Bergmann zum Gedächtnis. 2. überarb. Aufl., Schwalbach/Ts. 2007, S. 370 – 388. Matthias Wilde: Das Contextual Model of Learning – ein Theorierahmen zur Erforschung von Lernprozessen in Museen. In: Dirk Krüger/Helmut Vogt (Hrsg.): Theorien in der biologiedidaktischen Forschung. Ein Handbuch für Lehramtsstudenten und Doktoranden. Berlin u. a. 2007, S. 165 – 175. Dagmar Wunderlich: Kulturelle Bildung für Jugendliche im Museum – Machen Museen »Lust auf Kultur«? Evaluation des Realschulprojekts am Deutschen Historischen Museum. In: Tobias Fink u. a. (Hrsg.): Die Kunst, über Kulturelle Bildung zu forschen. Theorie und Forschungsansätze. München 2012 (Kulturelle Bildung, Bd. 29), S. 185 – 193.
Indre Döpcke
»Umweltgeschichte – habe ich noch nie unterrichtet.« – Vorstellungen von Lehrpersonen zu einer relevanten Dimension des Fachs Geschichte
»Wer als LehrerIn Umweltgeschichte unterrichten will, findet nicht nur jede Menge Projektchancen, sondern auch genügend vorstrukturierte und realistische Einheiten. Lebhaft angespornt wird er/sie aber durch Staat, Buchmarkt und Fachdidaktik nicht (mehr)«, so das Resümee von Bodo von Borries vor wenigen Jahren.1 Die Aussage verweist implizit darauf, was sich empirisch belegen lässt: Umweltgeschichte führt im Geschichtsunterricht ein Schattendasein. Nicht selten wird sie von Geschichtslehrpersonen als Randphänomen, Kuriosum oder Nebenaspekt am Ende einer Einheit charakterisiert. Dabei sollte die umwelthistorische Dimension integrativer Bestandteil des Geschichtsunterrichts sein und gleichberechtigt neben Politik-, Wirtschafts-, Sozial- oder Alltagsgeschichte behandelt werden.2 Bereits 1980 erteilte die Kultusministerkonferenz den Auftrag, dass Umwelterziehung (heute verwendet man den Begriff »Umweltbildung«) als ein alle Schulfächer, -stufen und -formen durchziehendes Unterrichtsprinzip in die Fachdomänen zu implementieren sei. Dies gilt auch für den Prozess des historischen Lernens von Schülerinnen und Schülern.3 Eine Durchsicht der Kernrichtlinien beziehungsweise Kerncurricula der Bundesländer zeigt, dass umwelthistorische Themen zumindest in Teilen in die Bildungsziele für den Geschichtsunterricht einbezogen sind.4 Ob die Perspektive 1 Bodo von Borries: Wie vermittelt man Umweltgeschichte in der Schule? In: Patrick Masius u. a. (Hrsg.): Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin. Göttingen 2009. S. 241 – 258, hier S. 249. 2 Iris Hausberger : Industrialisierung und Umwelt. Ein umweltgeschichtlicher Ansatz im Unterricht – Didaktische Überlegungen. In: Praxis Geschichte 6 (2012), S.10 f. Vgl. auch BerndStefan Grewe: Umweltgeschichte unterrichten: Frustrationen und Fallstricke, lohnende Perspektiven und Leitlinien. In: recycling. Baltic Sea Project Learners’ Guide 7. Bonn 2006. S. 1 – 15, insbes. S. 8 f. 3 Vgl. den Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 17. 10. 1980, Nr. 669: Umwelt und Unterricht (online verfügbar unter : http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1980/1980_10_17_Umwelt_Unterricht.pdf, aufgerufen am 25. 04. 2013). 4 Vgl. z. B. den Bildungsplan für Werkrealschulen in Baden-Württemberg: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut
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integriert wird, hängt daher wesentlich von den Unterrichtsentscheidungen der Geschichtslehrpersonen ab. Diese werden vor allem von ihrem domänenspezifischen und (fach)didaktischen Wissen und Können, aber auch von Einstellungen und Erfahrungen zu einem zu unterrichtenden Themenfeld geprägt.5 Mit der Analyse von Lehrervorstellungen zum Thema »Umweltgeschichte unterrichten« werden in dem Dissertationsvorhaben Anhaltspunkte generiert, aus welchen Gründen die Dimension im Geschichtsunterricht ein randständiges Themenfeld darstellt, d. h. die Wissensrepräsentationen der interviewten Lehrerinnen und Lehrer stehen im Fokus. Darüber hinaus lassen Aussagen von Lehrpersonen über ein ihnen in der Regel kaum vertrautes, aber für den Geschichtsunterricht relevantes Thema, auch Erkenntnisse über ihr konzeptionelles Wissen im Allgemeinen zu. Auf Thomas S. Kuhns Beschreibung der wissenschaftlichen Revolutionen durch Paradigmenwechsel kann in zweierlei Hinsicht Bezug genommen werden. Die Didaktik der Umweltgeschichte befindet sich gewissermaßen in einer »Krise«. Zum einen haben ihre bislang gewonnenen Erkenntnisse kaum Beachtung im (geschichts)wissenschaftlichen Diskurs, aber vor allem in der Unterrichtspraxis gefunden; zum anderen sind ihre Ansätze in Konzepten zur Umweltbildung in der Regel unberücksichtigt geblieben. Parallelen lassen sich eher zum Konzept für »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE) finden, aber auch hier bleibt die historische Dimension weitgehend vernachlässigt.6 für Schulentwicklung (Hrsg.): Bildungsplan 2012 Werkrealschule Baden-Württemberg, Stuttgart 2012, S. 134 – 136 (online verfügbar unter : http://www.bildung-staerkt-menschen. de/service/downloads/Bildungsplaene/Werkrealschule/Bildungsplan2012_WRS_Internet.pdf, aufgerufen am 24. 04. 2013); Kerncurriculum für die Sekundarstufe I, Gymnasium in Niedersachsen: Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium, Schuljahrgänge 5 – 10: Geschichte. Hannover 2008, S. 14 (online verfügbar unter : http:// www.db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_gesch_08_nib.pdf, S. 14, aufgerufen am 24. 04. 2013) oder das der Gesamtschulen: Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für die Integrierte Gesamtschule, Schuljahrgänge 5 – 10: Gesellschaftslehre. Hannnover 2008, S. 13 f., S. 21 f. (online verfügbar unter : http://www.db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/ kc_igs_gesell_08_nib2.pdf, aufgerufen am 24. 04. 2013). Anzumerken ist, dass eine Konkretisierung der Themenschwerpunkte in den Curricula zur Umweltgeschichte oftmals ausbleibt, stattdessen wird auf den allumfassenden Begriff »Umwelt« zurückgegriffen. Zudem wird gerade bei integrativen Fächern, wie sie an Gesamtschulen unterrichtet werden, Umwelt als Themenfeld genannt; dies schließt die historische Perspektive ein, was aber nicht expliziert wird. Auch sind umwelthistorische Ansätze überwiegend zu den verbindlichen Inhalten der Jahrgänge 5 bis 8, weniger zu denen der Jahrgänge 9 und 10 zu finden. 5 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 4. Aufl. Berlin 2009, S. 35 – 44, hier S. 37 – 39. 6 BNE ist eine Bildungsoffensive der Vereinten Nationen. Sie soll Individuen nachhaltiges Denken und Handeln ermöglichen, indem diese aktiv an der Analyse und Bewertung von Entwicklungsprozessen mit ökologischer, ökonomischer und soziokultureller Bedeutung teilhaben. Die Umweltbildung ist in diesem Konzept inzwischen aufgegangen. Vgl. Katharina
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Zugleich sind Lehrpersonen bislang kaum Gegenstand der geschichtsdidaktischen empirischen Forschung geworden, so dass an dieser Stelle zwar nicht von einer Krise, wohl aber von einem Forschungsdesiderat gesprochen werden kann. Ziel der Studie ist es, Leitlinien für die Lehrerbildung zur Umweltgeschichte zu entwickeln, aber auch Einflussfaktoren auf Wissensbildung und Einstellungen von Lehrpersonen zu verdeutlichen. Damit leistet die Studie einen Beitrag zu einem »erneuerten« Paradigma, bezogen auf die Didaktik der Umweltgeschichte, und gibt Anhaltspunkte zu den Interdependenzen von Wissen, Handeln und Einstellungen von Geschichtslehrerinnen und -lehrern auf Unterrichtsentscheidungen. Da für die Operationalisierung dieses Ziels der Ansatz von Thomas S. Kuhn präzisiert werden muss, wird für den geschichtstheoretischen Hintergrund der Arbeit in Teilen auf die disziplinäre Matrix der Geschichtsdidaktik von Jörn Rüsen zurückgegriffen, indem diese auf den Forschungsrahmen der Arbeit – die Didaktische Rekonstruktion für die Lehrerbildung – bezogen wird.
1.
Rahmenmodell der Didaktischen Rekonstruktion für die Lehrerbildung
Als Forschungsrahmen für die Studie dient das Modell der Didaktischen Rekonstruktion für die Lehrerbildung, das in den Naturwissenschaften entwickelt wurde und sich in drei Teilbereiche gliedert: In der fachdidaktischen Klärung werden, bezogen auf das Erkenntnisinteresse der Studie, fachwissenschaftliche und geschichtsdidaktische Vorstellungen und Theorien, die für umweltgeschichtliche Vermittlungsziele und -methoden leitend sind, herausgearbeitet und in Bezug zu Ergebnissen der Schülervorstellungsforschung zum Themenfeld gesetzt. Die Resultate werden kontrastiert mit Ergebnissen der Erhebung der Lehrervorstellungen. Dabei erweist es sich als hilfreich, auf Gemeinsamkeiten, Eigenheiten, Begrenztheiten und Unterschiede einzugehen.7 Auf dieser Grundlage werden schließlich Leitlinien zur Verbesserung der Lehreraus- und -weiterbildung konzipiert. Die konsistent aufeinander abgestimmten Bausteine des Modells, die aufgrund einer iterativen Arbeitsweise nicht nebeneinander, sondern immer in D. Giesel u. a.: Umweltbildung in Deutschland. Stand und Trends im außerschulischen Bereich. Berlin u. a. 2002, S. 13 – 15. 7 Eva van Dijk/Ulrich Kattmann: A research model for the study of science teachers’ PCK and improving teacher education. In: Teaching and Teacher Education 23 (2007), S. 885 – 987, S. 893 – 895; Michael Komorek/Astrid Fischer/Barbara Moschner : Fachdidaktische Strukturierung als Grundlage für Unterrichtsdesigns. In: Ders./Susanne Prediger (Hrsg.): Der lange Weg zum Unterrichtsdesign. Münster 2013, S 43 – 62.
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Abb.: Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion für die Lehrerbildung, übertragen auf das Forschungsinteresse der Studie, nach van Dijk/Kattmann und Komorek/Fischer/Moschner (Anm. 7).
Bezug zueinander bearbeitet werden, bilden die Grundlage für den Aufbau und das Ziel der Studie. Zudem ist das Modell wissenschaftstheoretisch im Konstruktivismus zu verorten. Es wird davon ausgegangen, dass wissenschaftliche Konzepte zur Verbesserung der Lehrerbildung nur dann fruchtbar sein können, wenn die Lehrerfahrungen der Zielgruppe eingebunden werden. Das bedeutet, bezogen auf das Modell, dass es sich bei der Erhebung der Lehrervorstellungen nicht um eine Defiziterhebung handelt, sondern die von den Lehrpersonen genannten Aspekte ernst zu nehmen und auf deren Grundlage lehrerzentrierte, wissenschaftlich begründete Vorschläge für Fortbildungen zu konstruieren.8 Somit dient das Rahmenmodell dem Forschenden als Metakonzept. Im Konstrukt der »disziplinären Matrix« nach J. Rüsen steht die Frage im Vordergrund, wie historisches Denken wissenschaftsspezifisch wird.9 Der Ansatz der Didaktischen Rekonstruktion zielt darauf, im ersten Schritt die wissenschaftsspezifischen Konzepte sowohl der Fachwissenschaft als auch der Lehrpersonen 8 Van Dyk/Kattmann (Anm. 7). 9 Jörn Rüsen: Die Entwicklung der disziplinären Matrix und des theoretisch-methodologischen Instrumentariums der Geschichtswissenschaft – ein strukturgenetischer Ansatz. In: Akademie der Wissenschaften in Berlin (Hrsg.): Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte. Zum 80. Geburtstag von Ernst Engerlberg. Berlin 1991, S. 53 – 67, hier S. 55.
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transparent zu machen und in Bezug zu setzen, um schließlich zu Schlussfolgerungen auf der Ebene der Pragmatik zu gelangen. Gemeinsam ist den Modellen, den systematischen Zusammenhang der einzelnen Faktoren und zugleich ihre wechselseitige Beeinflussung offenzulegen. Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion stellt einen theoretischen Rahmen zur Planung, Durchführung und Evaluation fachdidaktischer Lehr- und Lern-Forschung dar.10 Die inhaltliche Ausrichtung der einzelnen Arbeitsschritte innerhalb des Rahmenmodells ist im Zusammenhang dieser Studie auf die geschichtswissenschaftliche und -didaktische Forschung zurückzuführen. Die Inhalte zur Verbesserung der Lehrerbildung rekonstruieren sich aus Grundlegungen der Fachwissenschaftsdebatte zur Umweltgeschichte, der Theorie der Geschichtsdidaktik (zur Umweltgeschichte) sowie der Umweltbildung und empirischen Befunden seitens der Schüler- und Lehrerforschung zum Thema. Im Folgenden werden einzelne Teilaspekte vorgestellt.
2.
Fachwissenschaftliche und geschichtsdidaktische Klärung zur Umweltgeschichte
Die zunehmende Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit für Fragen im Umgang mit der Natur und den langfristigen Folgen für das Leben der Menschen in den 1970er-/80er-Jahren hatte Auswirkungen auf gesellschaftliche, wissenschaftliche und bildungspolitische Debatten. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung etablierte sich die Umweltgeschichte als selbstständige Teildisziplin. Das Motiv lag in dem Orientierungsbedürfnis, Einsicht in die Komplexität der Entwicklung der Mensch-Umwelt-Beziehung zu erhalten, um den Prozess des Gewordenseins dieser als disharmonisch empfundenen Beziehung zu verstehen und reflektieren zu können.11 Der Auftrag an den Geschichtsunterricht seitens der Bildungspolitik zur Umweltbildung lautet, Schülerinnen und Schüler bei der Ausbildung eines reflektierten Umweltbewusstseins zu unterstützen, indem die Geschichtlichkeit des gegenwärtigen Umweltbewusstseins vergegenwärtigt wird. Dadurch soll eine differenzierte Urteilsbildung zur gegenwärtigen Mensch-Umwelt-Beziehung aufgebaut werden, die im besten Fall auf aktuelle und zukünftige Entscheidungsprozesse wirkt.12 10 Ulrich Kattmann: Unterrichtsreflexion im Rahmen der Didaktischen Rekonstruktion. In: Seminar – Lehrerbildung und Schule 10 (2004), S. 40 – 49, hier S. 40. 11 Vgl. Uwe Luebken: Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, S. 1 – 37, S. 1 (online verfügbar unter : http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-07001, aufgerufen am 25. 04. 2013). 12 Vgl. Indre Döpcke: Umweltgeschichte: eine relevante Dimension des Geschichtsunterrichts. In: Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hrsg.): Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht (His-
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In der Umweltbewusstseinsforschung besteht Konsens, dass ein gesteigertes Umweltbewusstsein die Bewältigung der ökologischen Krise erleichtert und Umweltbildung eine Sensibilisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins in Bezug auf umweltrelevante Aufgaben fördert. Zwar zeigen Studien, dass aus einer starken Sensibilisierung für Umweltthemen auf individueller Ebene kein unmittelbares umweltgerechtes Verhalten geschlussfolgert werden kann,13 dennoch können Umwelteinstellungen zumindest als ergänzende Stabilisatoren umweltgerechten Verhaltens gesehen werden.14 Die historische Dimension der Umweltbildung stellte bereits in den 1980erJahren einen Bestandteil bei der Konzeptualisierung ökologischen Lernens dar : Danach bildet »Geschichtlichkeit« eines von sechs Grundelementen, neben »Betroffenheit«, »Handlungsorientierung«, »Zukunftsorientierung«, »Ganzheitlichkeit« und »Vernetztheit« und soll dazu beitragen, die Pluralität und Komplexität zu Umweltfragen bewusst zu machen und auf diese Weise den Blick für die gegenwärtige und zukünftige Lebenspraxis zu schärfen.15 Jedoch wird die Thematisierung der umwelthistorischen Perspektive im Unterricht nicht zu einem »fundamentalen Umdenken« von Jugendlichen führen, wie B. von Borries bereits 1994 konstatierte. Vielmehr stellt sie ein Baustein im Gefüge der Umweltbildung dar und kann dazu beitragen, das Wissen über Konsequenzen im Umgang mit der Natur, aber auch die Problemwahrnehmungs- und Reflexionskompetenz der Lernenden zu fördern16 und somit Einstellungen und Vorstellungen der Schülerinnen und Schülern zu umweltbezogenen Wertorientierungen zu erweitern.
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torica et Didactica. Fortbildung Geschichte. Ideen und Materialien für Unterricht und Lehre. Bd. 4). St. Ingbert 2013, S. 9 – 16, hier S. 10. Vgl. Peter Preisendörfer/Axel Franzen: Der schöne Schein des Umweltbewusstseins. Zu den Ursachen und Konsequenzen von Umwelteinstellungen in der Bevölkerung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 36. Opladen 1996, S. 219 – 244. Vgl. Susanne Rippl: Umweltbewusstsein und Umweltverhalten. Ein empirischer Theorienvergleich aus kulturvergleichender Perspektive. Chemnitz 2004, S. 6 (online verfügbar unter : http://www.qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/documents/6192/habil_rippl.pdf, aufgerufen am 14. 10. 2012). Vgl. Paul Leidinger (Hrsg.): Historische Ökologie und ökologisches Lernen im historischpolitischen Unterricht. Paderborn 1986, S. 11. Bodo von Borries: Didaktische Möglichkeiten und Grenzen der Umweltgeschichte. In: Günter Bayerl u. a. (Hrsg.): Umweltgeschichte – Methoden, Themen, Potentiale. Tagung des Hamburger Arbeitskreises für Umweltgeschichte. Hamburg 1994, S. 309 – 324, hier S. 323 f.
»Umweltgeschichte – habe ich noch nie unterrichtet.«
3.
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Mit Umweltgeschichte sollte keine »Katastrophendidaktik« verbunden sein
Bezogen auf die fachwissenschaftliche, inhaltliche Ausrichtung der Umweltgeschichte für den Geschichtsunterricht waren sich ihre Vertreter, namentlich der Fachwissenschaftler Joachim Radkau und die Geschichtsdidaktiker Paul Leidinger und B. von Borries, bereits vor 30 Jahren einig, dass es bei einer historischen Betrachtung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt nicht nur um eine Vorgeschichte gegenwärtiger Umweltprobleme im Sinne einer »Katastrophendidaktik« gehen darf, sondern die Beziehungen von Mensch und Umwelt insgesamt im Mittelpunkt historischer Lernprozesse stehen müssen.17 Diese Forderung entspricht der des Umwelthistorikers Rolf Peter Sieferle, der für die fachwissenschaftliche Forschung den »umwelthygienischen Ansatz«, bei dem der Mensch als Zerstörer des harmonischen Gleichgewichts in der Natur aufgefasst wird, relativierte. Vielmehr solle der Mensch nicht nur als Gegenüber der Natur begriffen werden, sondern es sei nach der Wechselbeziehung zu fragen, die den Menschen sowohl als Teil als auch als Gegenüber der Natur charakterisiert.18 Bezogen auf den Unterricht ist es daher wichtig, Umweltphänomene nicht isoliert zu behandeln, sondern Entwicklungen möglichst diachron zu betrachten, aber auch integrativ mit anderen Geschichtsdimensionen, wie Politik- oder Sozialgeschichte, zu verbinden. Radkau konstatiert, dass »erst der weite historische Rückblick die Neuartigkeit und Beispiellosigkeit der anthropogenen Umweltveränderung in allerneuster Zeit zeigt. Diese Erkenntnis sollte das umwelthistorische Lernziel Nr. 1 sein.«19
4.
Vorstellungen von Geschichtslehrpersonen zur Umweltgeschichte und ihrer Strukturierung für den Unterricht
Wissen äußert sich in unterschiedlichen Wissensrepräsentationen und verändert sich stetig. Kategorisiert werden die Wissensstrukturen nach domänenspezifisch deklarativem, strategischem und metakognitivem Wissen, die mit17 Umweltgeschichte darf nicht nur von Sünden, Skandalen und Katastrophen leben: Sie braucht auch positive Leitbilder, sieh Joachim Radkau: Unbekannte Umwelt. Von der altklugen zur neuartigen Umweltgeschichte. In: Praxis Geschichte, Mensch und Umwelt 4 (1997), S. 4 – 10, hier S. 6. 18 Vgl. Rolf Peter Sieferle: Die Grenzen der Umweltgeschichte. In: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, Volume 2, Number 1, January 1993, S. 8 – 21, u. Verena Winiwarter/Martin Knoll: Umweltgeschichte. Köln 2007, S. 24. 19 Radkau (Anm. 17), S. 6.
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einander in einer Wechselbeziehung stehen.20 Dabei ist unter deklarativem Wissen (»knowing that«) das sogenannte Faktenwissen zu verstehen, dessen Inhalte in Form von Bedeutungsnetzen (»semantic networks«) repräsentiert sind. Das strategische Wissen (»knowing how«) beschreibt »die Kenntnis der prozeduralen Mittel und Wege, historischen Manifestationen Sinn zu entnehmen und sie kritisch zu überprüfen. Sie sind individuell in Form von »Handlungsprogrammen« repräsentiert.«21 Metakognitives Wissen (»knowing why«) umfasst Einstellungen, Haltungen oder Positionen eines Individuums und wird über die Fähigkeit der Selbstreflexion zum Ausdruck gebracht.22 In der hier vorgestellten Studie interessiert vor allem das Wissen von erfahrenen Geschichtslehrpersonen zur Umweltgeschichte. Es stellt sich die Frage, über welche Art von Wissen Geschichtslehrpersonen zur Umweltgeschichte verfügen beziehungsweise auf welche Konzepte sie zurückgreifen, um sich der Dimension zu nähern. Da aber nicht nur das Wissen von Lehrpersonen zu einem Lerngegenstand, sondern auch Einstellungen und Erfahrungen der eigenen Unterrichtspraxis auf die Unterrichtsentscheidungen einwirken, werden generell Vorstellungen von Lehrpersonen zum Thema »Umweltgeschichte unterrichten« erhoben. Der Vorstellungsbegriff ist dabei weit gefasst. Vorstellungen werden als »subjektive, gedankliche Konstrukte aller Komplexitätsebenen, also sowohl ,Begriffe‹, ,Konzepte‹, ,Denkfiguren‹, ,Theorien‹oder ähnliches verstanden.«23 Im Detail soll mit Hilfe der Studie Aufschluss darüber gewonnen werden, welche fachlichen und fachdidaktischen Vorstellungen und Orientierungen bei erfahrenen Geschichtslehrpersonen zur Umweltgeschichte als Unterrichtsgegenstand existieren. Es sollen Erkenntnisse generiert werden, was Geschichtslehrpersonen über die Dimension Umweltgeschichte wissen und worauf ihr Wissen aufbaut (»knowing that«). Zu bedenken ist dabei, dass dies auch Einstellungen und Erfahrungen impliziert. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, welche Kriterien für die Planung und Strukturierung von umwelthistorischen Themen leitend sind (»knowing how«) und welche Bedeutung sie der Umweltgeschichte für das historische Lernen beimessen (»knowing why«).
20 Vgl. Günther-Arndt (Anm. 5), S. 37 – 39, sowie Markus Bernhard/Ulrich Mayer/Peter Gautschi: Historisches Wissen – was ist das eigentlich? In: Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012, S. 103 – 118, hier S. 105. 21 Ebd. 22 Vgl. Günther-Arndt (Anm. 5), S. 38, sowie Bernhardt/Mayer/Gautschi (Anm. 20), S. 105. 23 Harald Gropengießer : Didaktische Rekonstruktion des »Sehens«. Wissenschaftliche Theorien und die Sicht der Schüler in der Perspektive der Vermittlung. Oldenburg 1997, S. 27.
»Umweltgeschichte – habe ich noch nie unterrichtet.«
5.
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Methoden der Erhebung und Auswertung der Lehrervorstellungen
Die Erhebung der unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsformen, die Aufschluss darüber geben sollen, warum es sich bei Umweltgeschichte noch immer um eine randständige Dimension im Geschichtsunterricht handelt, erfolgte in Anlehnung an den Ansatz professionellen Wissens des Psychologen Rainer Bromme (1992), dessen Überlegungen an die des amerikanischen Erziehungswissenschaftlers und Psychologen Lee Shulman (1986) anschließen. Die Typologie bietet unterschiedliche Kategorien für eine theoretisch begründete, fachdidaktische, mehrdimensionale und dennoch strukturierte Erhebung von Lehrerkognitionen in Form von qualitativen, offenen Leitfadeninterviews. Folgende Kategorien wurden basierend auf der fachlich-fachdidaktischen Klärung für die Studie berücksichtigt beziehungsweise angepasst:24 – fachliches Wissen zur Umweltgeschichte – Wissen über Lerninhalte der Umweltgeschichte – Philosophie des Themas – Wissen über die Lernvoraussetzungen von Schülern – curriculares Wissen zur Umweltgeschichte – fachspezifisch-pädagogisches Wissen Die Kategorien dienen als Gesprächsanlass und ermöglichen eine Vergleichbarkeit zwischen den Interviews. Allerdings können die Antworten auch kategorienübergreifend eingeordnet werden. Die Auswertung der Interviews fußt auf der qualitativen Inhaltsanalyse nach Harald Gropengießer. Dessen Analyse orientiert sich an der des Psychologen Philipp Mayring, jedoch wurde das Vorgehen H. Gropengießers für fachdidaktische Zwecke modifiziert sowie dem theoretischen Forschungsmodell der Didaktischen Rekonstruktion angepasst. Ziel des Analyseverfahrens ist es, erhobene Vorstellungen des Untersuchungsobjekts in Form von Denkfiguren zu identifizieren und zu klassifizieren.25 H. Gropengießers Verfahren sieht frühzeitig eine Reduktion des Datenmaterials vor. Da der Reduktion eine Interpretation seitens der Forscherin/des Forschers inhärent ist, besteht die Gefahr vorschneller Schlussfolgerungen. Daher wird die Auswertungsmethode mit dem Ansatz der Sozialwissenschaftlerin Christiane Schmidt kombiniert, deren Leit24 Vgl. Rainer Bromme: Der Lehrer als Experte. Zur Psychologie des professionellen Wissens. Bern 1992, S. 96 f. Sieh auch Ders.: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. In: Franz E. Weinert (Hrsg.): Psychologie des Unterrichts und der Schule. Göttingen 1997 (Enzyklopädie der Psychologie), S. 177 – 212, hier S. 196. 25 Da die Auswertung zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist, werden hier keine abschließenden Denkfiguren präsentiert.
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prinzip gerade auf dem stetigen Austauschprozess zwischen dem empirischen Datenmaterial und dem theoretischen Vorverständnis der Forscherin/des Forschers während des gesamten Forschungsprozesses basiert.26 Für die Erhebung wurden elf niedersächsische Lehrerinnen und Lehrer, die an Gymnasien, Kooperativen27 und Integrierten28 Gesamtschulen tätig sind, interviewt. Auf das Gespräch sollten sich die Probandinnen und Probanden im Vorfeld nicht vorbereiten, die Interviews umfassten 50 bis 90 Minuten.
6.
Vorläufige ausgewählte Ergebnisse
Das Erkenntnisinteresse der Studie »Umweltgeschichte unterrichten« ist auf drei Wissensebenen von Geschichtslehrpersonen fokussiert: 1. fachwissenschaftliches Wissen (»knowing that«) 2. fachdidaktisches Wissen (»knowing how«) 3. Einstellungen und Haltungen (»knowing why«) Da die Auswertung der Interviews zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist, werden im Folgenden »Ergebnistendenzen« aufgezeigt; dabei stehen das fachwissenschaftliche und fachdidaktische Wissen im Vordergrund.
7.
Fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Wissen zur Umweltgeschichte von Geschichtslehrpersonen
Bereits 1992 wurde in der fachwissenschaftlichen Diskussion darauf verwiesen, dass umweltgeschichtliche Forschung sich von der Negativgeschichte distanzieren und den sogenannten »umwelthygienischen Ansatz« relativeren müsse. In der geschichtsdidaktischen Diskussion wurde dieser Aspekt aufgegriffen, indem J. Radkau dafür plädierte, dass Umweltgeschichte keine »Katastrophengeschichte« sei. Um mit den jeweiligen Interviewpartnern auf diesen Aspekt zu 26 Vgl. Harald Gropengießer : Qualitative Inhaltsanalyse in der fachdidaktischen Lehr-Lernforschung. In: Philipp Mayring/Michaela Glaeser-Zikuda (Hrsg.): Die Praxis der Qualitativen Inhaltsanalyse. Weinheim und Basel 2005, S. 172 – 189; Christiane Schmidt: Analyse von Leitfadeninterviews. In: Uwe Flick u. a. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg 2004, S 447 – 456. 27 Kooperative Gesamtschule: Der Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialzweig bilden die Säulen dieser Schulform. In Sport und oft auch in den Fächern der ästhetischen Bildung wird schulzweigübergreifender Unterricht erteilt. 28 Integrierte Gesamtschule: Schüler mit Haupt-, Real- und Gymnasialempfehlung werden gemeinsam unterrichtet. In einigen Fächern findet eine Differenzierung durch Förder-, Grund- und Erweiterungskurse statt.
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sprechen zu kommen, wurden sie gebeten, während des Interviews zu Aussagen wie »Umweltgeschichte untersucht die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur« oder »Umweltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Umweltprobleme« Stellung zu nehmen. Im Folgenden wird ein Interviewauszug mit einer Lehrperson, die am Gymnasium einer Kooperativen Gesamtschule tätig ist, vorgestellt. I: »Die Umweltgeschichte untersucht die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur. Wie würden Sie diese Wechselbeziehung beschreiben?« L: (7)29 »Da fallen mir nur so eher so so realistisch vage, pauschale Dinge ein.« I: »Ja, ist völlig okay.« L: »(…) Was macht der Mensch mit der Natur? Wie verändert er sie? (4) Das ist natürlich noch keine Wechselbeziehung, sondern das ist in eine Richtung gedacht. (…)« L: »(…) Wenn Sie das zu Hause alles wieder anhören, (…), dann stellen Sie fest, (…) ich habe eigentlich immer über Umweltschutz gesprochen. Aber natürlich Umweltgeschichte in Früher Neuzeit, Hexenverfolgungszeit, Naturereignisse und was das für das Leben der Menschen für Folgen gehabt hat, das ist natürlich eine Wechselbeziehung in die andere Richtung. Ursachen finden für Naturkatastrophen, Schuldige finden für Naturkatastrophen. Das gehört, letztlich ist das auch Umweltgeschichte. Umweltgeschichte ist also mehr als. So, jetzt hat es bei mir Klick gemacht.« I: »Dann hatten Sie von sich aus das Thema angesprochen. Umweltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Umweltprobleme.« L: »Ja. Das ist mir aber jetzt eben erst recht klar geworden. (…) Es geht darum: wie haben Menschen ihre Umwelt gebaut, verändert, geprägt. (…) Und insofern kann ich das auch relativieren, was ich ganz am Anfang gesagt habe. Insofern macht man ja sehr viel mehr Umweltgeschichte als man denkt.«
Der Auszug zu dieser Interviewsequenz verdeutlicht, dass die Prämisse »Umweltgeschichte ist nicht ausschließlich eine Negativgeschichte«, die für die wissenschaftliche Diskussion als Konsens vorausgesetzt werden kann, für Lehrerinnen und Lehrer keineswegs als selbstverständlich erachtet werden darf. Die Antwort der Lehrpersonen zeigt, dass das Thema »Umwelt« auch bei Lehrpersonen affektiv aufgeladen ist und im Unterricht unbewusst dazu geneigt wird, eine Wertung einzubringen. Das ist nachvollziehbar, denn »wer über Vergangenes nachdenkt, also historisch denkt«, so der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann, »denkt in seiner Gegenwart – also unter dem Einfluss von Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Geschichte ist immer gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Denken, Handeln und Leiden.«30 Bezogen auf die Umweltgeschichte kann der Gegenwartsbezug generell die Schwierigkeit bergen, dass bei der Vermittlung von umweltgeschichtlichen 29 (7) steht für 7 Sekunden, die die Lehrperson nachdachte, bevor sie auf die Stellungnahme zu antworten begann. 30 Klaus Bergmann: Gegenwartsbezug – Zukunftsbezug. In: GWU 55 (2004), H. 1, S. 37 – 46, hier S. 37.
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Themen der »umwelthygienische Ansatz« dominant ist. Insofern lässt sich in diesem Punkt eine Parallele zu Ergebnissen der Schülervorstellungsforschung zur Umweltgeschichte von Britta Wehen ziehen.31 Auch Schülerinnen und Schüler haben eine stark wertende Haltung gegenüber der Mensch-UmweltBeziehung, die den Menschen als »Störenfried« in dieser Beziehung stilisiert. Aufgabe der Lehrperson wäre es, diesbezügliche Stereotypen offenzulegen und im Unterricht zu problematisieren. Wenn die Perspektive der Lehrperson aber der der Schülerinnen und Schüler entspricht, kann eine kontroverse Auseinandersetzung nicht erfolgen und Umweltgeschichte wird zur Negativgeschichte. Es ist somit wichtig, dass der Lehrperson bezogen auf die Vermittlung von umweltgeschichtlichen Themen nicht nur die Schülervorstellungen bekannt sind, sondern sie auch ihre eigenen Einstellungen reflektiert. Dieses Bewusstmachen stellt eine wichtige Voraussetzung für das Planen und Strukturieren von Unterricht dar. Lehrende sind an dieser Stelle als Lernende wahrzunehmen. In der Fachwissenschaft hat es Jahre gedauert, bis es zur Relativierung des »umwelthygienischen Ansatzes« kam. Von Lehrpersonen, denen diese Debatte nicht bekannt ist, kann die relativierte Perspektive auf Umweltgeschichte beziehungsweise auf die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur nicht vorausgesetzt werden. Die Interviewsequenz verdeutlicht aber auch, dass Lehrerinnen und Lehrer über ein implizites, »unbewusstes« Wissen zur Umweltgeschichte verfügen. Erst im Nachdenken über die Wechselbeziehung Mensch – Natur entstehen Anknüpfungspunkte an bekannte Themen, die zugleich in neue Kontexte gesetzt werden, etwa der Zusammenhang von Naturkatastrophen und Hexenverfolgung, sodass die umwelthistorischen Perspektive fassbar wird. Das implizite Wissen anzuregen, ist ein weiterer Aspekt, den es für Fortbildungskonzeptionen zu berücksichtigen gilt. Umweltgeschichte zu unterrichten, bedeutet vor allem, eine veränderte Perspektive auf vielfach bekannte Themen einzunehmen.
8.
Entwicklung von Leitlinien zum Thema »Umweltgeschichte unterrichten« als Basis für die Lehrerbildung
Ein wesentlicher Aspekt, weshalb die umweltgeschichtliche Perspektive im Geschichtsunterricht selten thematisiert wird, liegt darin, dass sie keinen selbst31 Vgl. die Studie von Britta Wehen-Behrens: Bericht zur Evaluation des Projektes Mensch & Umwelt. Unveröffentlichte Arbeit. Oldenburg 2012; sieh auch Dies.: »Früher hat man in der Umwelt gelebt, heute lebt man über ihr« – Schülervorstellungen zur Geschichte der Umwelt. In: Heike Düselder u. a. (Hrsg.): Umweltgeschichte. Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule. Wien u. a. 2014, S. 191 – 206.
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verständlichen Aspekt des curricularen Verständnisses von Lehrerinnen und Lehrern darstellt. Für die meisten Probanden der Interviewstudie, die zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen sechs und 30 Jahren im Schuldienst tätig waren, stellte das Gespräch eine erste intensive Auseinandersetzung mit Umweltgeschichte dar. Fortbildungen zur Umweltgeschichte sollten das implizite Wissen der Lehrerinnen und Lehrer fokussieren und berücksichtigen, dass der Zugang zu umweltgeschichtlichen Themen in einem ersten Schritt vielfach über das Alltagsverständnis erfolgt und sich entsprechende Themen weniger intentional erschließen. Hier steht das gesellschaftlich genormte Konzept, das den Menschen als Gegenspieler der Natur begreift, im Vordergrund. Themen der Umweltverschmutzung beziehungsweise des Umweltschutzes dienen als Orientierungspunkte, Zugang zur Dimension zu finden. Im Nachdenken über entsprechende Themen sollten Lehrpersonen in Fortbildungen bewusst in kognitive Konflikte (»Umweltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Umweltprobleme«) geführt werden, sodass sie ihre vorhandenen Vorstellungen zur Umweltgeschichte erweitern und eine Art »Conceptual growth« oder »Enrichment« eingeleitet werden kann. Im Rahmen der Conceptual Change-Forschung haben George J. Posner u. a. vier Bedingungen (»Dissatisfaction«, »Intelligible«, »Plausibel«, »Frutiful«) formuliert, die als Voraussetzungen für Vorstellungsveränderungen gelten können.32 In Bezug auf diese Studie bedeutet dies, dass die Lehrenden, hier als Lernende zu verstehen, am besten in der selbst reflexiven Auseinandersetzung erkennen, dass ihre bisherigen Vorstellungen keine hinreichenden Antworten auf das Themenfeld »Umweltgeschichte unterrichten« geben, sodass die »Unzufriedenheit« darüber einen Anreiz schafft, sich weiter informieren zu wollen. Erscheinen die erweiterten Vorstellungen »logisch und verständlich«, vor allem aber »plausibel«, d. h. ist nachvollziehbar, wie, wann und wo die neuen Erkenntnisse im Unterricht eingesetzt werden können, könnten künftige Unterrichtsentscheidungen Umweltgeschichte bewusst einschließen. Darüber hinaus muss sich ein solcher Einsatz bei Schülerinnen und Schülern als »fruchtbar« erweisen, um verstetigt zu werden. In der Interviewstudie haben sich Impulse, etwa Aussagen zur Umweltgeschichte oder Szenariofragen, die den Lehrpersonen ermöglichten, ihr generelles konzeptionelles Geschichtswissen einzubringen, als besonders »gedankenanregend« herausgestellt. Dieses gibt Orientierung und erlaubt einen Wissenstransfer zum unvertrauten Gegenstandsbereich. Dabei bildet der Faktor »Zeit«, verbunden mit der Vergegenwärtigung curricularer Vorgaben, eine wesentliche Orientierungsdeterminante. Anhand konkreter historischer Sachverhalte wurde 32 Vgl. George J. Posner u. a.: Accommodation of a scientific conception: Toward a theory of conceptual change. In: Science Education 66 (1982), S. 211 – 227.
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die Anonymität des allgemeinen und vielschichtigen Begriffs »Umweltgeschichte« fassbar. Die Integration des fachwissenschaftlichen wie fachdidaktischen Ansatzes – dass der Mehrwert der Umweltgeschichte für das historische Lernen gerade nicht in ihrer Negativgeschichte liegt – in das individuelle Geschichtsverständnis beziehungsweise -bewusstsein, erleichterte die Konzeptualisierung der Dimension. Damit sich die umwelthistorische Perspektive als ein referenzieller Denkmodus von Geschichtslehrerinnen und -lehrern etabliert – und nur dann wird sie in den Unterricht integriert werden – ist Faktenwissen grundlegend; zugleich aber erleichtern Metakonzepte zu einer Dimension das Aneignen beziehungsweise Anwenden dieses Wissens und damit die Transformation zur Strukturierung von Unterricht.33 Das Element der Geschichtlichkeit der Mensch-Umwelt-Beziehung und ihrer Bewandtnis im Rahmen historischen Lernens erschließt sich nicht allein durch curriculare Vorgaben und entsprechende Lehr-Lern-Materialien. Erst in der Reflexion und unter Berücksichtigung anderer geschichtsunterrichtsrelevanter Faktoren werden Potenziale der Dimension transparent und ihre Orientierungsfunktion für die aktuelle und zukünftige Auseinandersetzung mit Umweltfragen wird ersichtlich. Die hier aufgezeigten Schlussfolgerungen stellen Ergebnistendenzen der Studie dar. Abzuwarten bleibt, ob sich anhand der zu ermittelnden Leitlinien aus den Interviews eine Art Basiskonzept für die Didaktik der Umweltgeschichte herausarbeiten lässt.
Literatur Klaus Bergmann: Gegenwartsbezug – Zukunftsbezug. In: GWU 55 (2004), H. 1, S. 37 – 46. Markus Bernhard/Ulrich Mayer/Peter Gautschi: Historisches Wissen – was ist das eigentlich? In: Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 103 – 118. Bodo von Borries: Didaktische Möglichkeiten und Grenzen der Umweltgeschichte. In: Günter Bayerl u. a. (Hrsg.): Umweltgeschichte – Methoden, Themen, Potentiale. Tagung des Hamburger Arbeitskreises für Umweltgeschichte. Hamburg 1994, S. 309 – 324. Bodo von Borries: Wie vermittelt man Umweltgeschichte in der Schule? In: Patrick Masius u. a. (Hrsg.): Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin. Göttingen 2009, S. 241 – 258. Rainer Bromme: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. In: Franz E. Weinert (Hrsg.): Psychologie des Unterrichts und der Schule (Enzyklopädie der Psychologie). Göttingen 1997, S. 177 – 212. 33 Vgl. Christoph Kühberger : Konzeptionelles Wissen als besondere Grundlage des historischen Lernens. In: Ders. (Anm. 20), S. 33 – 74, hier S. 40.
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Rainer Bromme: Der Lehrer als Experte. Zur Psychologie des professionellen Wissens. Bern 1992, S. 96 f. Eva van Dijk/Ulrich Kattmann: A research model for the study of science teachers’ PCK and improving teacher education. In: Teaching and Teacher Education 23 (2007), S. 885 – 987. Indre Döpcke: Umweltgeschichte: eine relevante Dimension des Geschichtsunterrichts. In: Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hrsg.): Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht (Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte. Ideen und Materialien für Unterricht und Lehre, Bd . 4). St. Ingbert 2013, S. 9 – 16. Katharina D. Giesel u. a.: Umweltbildung in Deutschland. Stand und Trends im außerschulischen Bereich. Berlin u. a. 2002. Bernd-Stefan Grewe: Umweltgeschichte unterrichten: Frustrationen und Fallstricke, lohnende Perspektiven und Leitlinien. In: recycling. Baltic Sea Project Learners’ Guide 7. Bonn 2006, S. 1 – 15. Harald Gropengießer : Didaktische Rekonstruktion des »Sehens«. Wissenschaftliche Theorien und die Sicht der Schüler in der Perspektive der Vermittlung. Oldenburg 1997 (Beiträge zur Didaktischen Rekonstruktion, Bd. 1). Harald Gropengießer : Qualitative Inhaltsanalyse in der fachdidaktischen Lehr-Lernforschung. In: Philipp Mayring/Michaela Glaeser-Zikuda (Hrsg.): Die Praxis der Qualitativen Inhaltsanalyse. Weinheim und Basel 2005, S. 172 – 189. Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 4. Aufl. Berlin 2009, S. 35 – 44. Iris Hausberger : Industrialisierung und Umwelt. Ein umweltgeschichtlicher Ansatz im Unterricht – Didaktische Überlegungen. In: Praxis Geschichte 6 (2012), S. 10 f. Ulrich Kattmann: Unterrichtsreflexion im Rahmen der Didaktischen Rekonstruktion. In: Seminar – Lehrerbildung und Schule 10 (2004), S. 40 – 49. Michael Komorek/Astrid Fischer/Barbara Moschner : Fachdidaktische Strukturierung als Grundlage für Unterrichtsdesigns. In: Ders./Susanne Prediger (Hrsg.): Der lange Weg zum Unterrichtsdesign. Münster 2013, S 43 – 62. Christoph Kühberger : Konzeptionelles Wissen als besondere Grundlage des historischen Lernens. In: Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 33 – 74. Paul Leidinger (Hrsg.): Historische Ökologie und ökologisches Lernen im historischpolitischen Unterricht. Paderborn 1986. George J. Posner u. a.: Accommodation of a scientific conception: Toward a theory of conceptual change. In: Science Education 66 (1982), S. 211 – 227. Peter Preisendörfer/Axel Franzen: Der schöne Schein des Umweltbewusstseins. Zu den Ursachen und Konsequenzen von Umwelteinstellungen in der Bevölkerung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 36 (1996), S. 219 – 244. Joachim Radkau: Unbekannte Umwelt. Von der altklugen zur neuartigen Umweltgeschichte. In: Praxis Geschichte, Mensch und Umwelt, 4 (1997), S. 4 – 10. Jörn Rüsen: Die Entwicklung der disziplinären Matrix und des theoretisch-methodologischen Instrumentariums der Geschichtswissenschaft – ein strukturgenetischer Ansatz. In: Akademie der Wissenschaften in Berlin (Hrsg.): Historiographiegeschichte als
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Methodologiegeschichte. Zum 80. Geburtstag von Ernst Engerlberg. Berlin 1991, S. 53 – 67. Christiane Schmidt: Analyse von Leitfadeninterviews. In: Uwe Flick u. a. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg 2004, S. 447 – 456. Rolf Peter Sieferle: Die Grenzen der Umweltgeschichte. In: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, Volume 2, Number 1, January 1993, S. 8 – 21. Britta Wehen-Behrens: Bericht zur Evaluation des Projektes Mensch & Umwelt. Unveröffentlichte Arbeit. Oldenburg 2012. Britta Wehen-Behrens: »Früher hat man in der Umwelt gelebt, heute lebt man über ihr« – Schülervorstellungen zur Geschichte der Umwelt. In: Heike Düselder u. a. (Hrsg.): Umweltgeschichte. Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule. Wien u. a. 2014, S. 191 – 206. Verena Winiwarter/Martin Knoll: Umweltgeschichte. Köln 2007.
Internet Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5 – 10: Geschichte. Hannover 2008 (online verfügbar unter : http:// www.db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_gesch_08_nib.pdf, aufgerufen am 24. 04. 2013). Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für die Integrierte Gesamtschule, Schuljahrgänge 5 – 10: Gesellschaftslehre. Hannnover 2008 (online verfügbar unter : http://www.db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_igs_gesell_08_nib2.pdf, aufgerufen am 24. 04. 2013). Beschluß der Kultusministerkonferenz Nr. 669 v. 17. 10. 1980: Umwelt und Unterricht (online verfügbar unter http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_be schluesse/1980/1980_10_17_Umwelt_Unterricht.pdf, aufgerufen am 25. 04. 2013). Uwe Luebken: Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, S. 1 – 37 (online verfügbar unter : http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-07001, aufgerufen am 25. 04. 2013). Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut für Schulentwicklung (Hrsg.): Bildungsplan 2012 Werkrealschule BadenWürttemberg, Stuttgart 2012 (online verfügbar unter: http://www.bildung-staerkt-men schen.de/service/downloads/Bildungsplaene/Werkrealschule/Bildungsplan2012_WRS_Inter net.pdf, aufgerufen am 24. 04. 2013). Susanne Rippl: Umweltbewusstsein und Umweltverhalten. Ein empirischer Theorienvergleich aus kulturvergleichender Perspektive. Chemnitz 2004 (online verfügbar unter : http://www.qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/documents/6192/habil_rippl.pdf, aufgerufen am 25. 04. 2013).
II. Sektion: Reflexionen – Überlegungen zu grundsätzlichen Fragen der Geschichtsdidaktik in Theorie und Praxis
Oliver Plessow
Vom Rand in die Mitte der Disziplin: historisches Lernen in der non-formalen beziehungsweise »außerschulischen« Jugendbildung und sein Stellenwert in der Geschichtsdidaktik
Denken wir uns drei Lernsettings, die potenziell dazu anregen, historischen Sinn zu bilden: eine Gymnasialklasse, welche mithilfe von Textquellen die Auswirkungen des Mauerbaus auf das Leben der Menschen in Ost und West analysieren soll; ein Workcamp, das sich anlässlich der Pflege eines deutsch-deutschen Grenzdenkmals über die Brutalität der Teilung Gedanken macht; die Wirkung einer ZDF-Fernsehdokumentation zum Mauerbau auf ihre anonymen Zuschauer. Wer zu überlegen ansetzte, welche dieser drei Situationen in der gegenwärtigen Forschungslandschaft die geringsten Chancen hätte, zum Gegenstand geschichtsdidaktischer Reflexion zu werden, läge bestimmt nicht verkehrt, auf die mittlere der drei Alternativen zu tippen. Angeleitetes Lernen außerhalb der Schule, das auf das Wirken nicht schulischer Bildungsinstitutionen zurückgeht, führt, von markanten Ausnahmen abgesehen, ein Schattendasein in geschichtsdidaktischen Publikationen. Ziel dieses Beitrags ist es, diese angeleiteten historischen Lernangebote außerhalb von Schule, die Jugendliche und junge Erwachsene zu historischen Sinnbildungsprozessen animieren, als relevantes geschichtsdidaktisches Forschungsfeld innerhalb der Geschichtsdidaktik zu verorten. Mit Blick auf den beschränkten Raum ist hier nicht der Ort, dies vermittels einer beispielgesättigten Vorstellung der Vielfalt historischer Jugendbildung zu demonstrieren. Vielmehr möchte ich einen Theorievorschlag unterbreiten, der nachvollziehbar macht, wie sich eine übergreifende Betrachtung nicht schulischer historischer Bildungsaktivitäten in die Kategorien der Teildisziplin einfügt und welches Licht sie wiederum auf diese Kategorien wirft. Insbesondere gilt es in diesem Zusammenhang die Kategorien »außerschulisch« und »Geschichtskultur« zu problematisieren, während gleichzeitig überlegt werden soll, inwieweit sich der eingeführte Begriff der »non-formalen« Bildung auch zu einer geschichtsdidaktischen Verwendung anbietet. Damit sind die folgenden Ausführungen als ein Beitrag zu einem Reflexionsprozess über die Struktur der Teildisziplin unter Hinzuziehung der Wissenschaftstheorie Thomas S. Kuhns gemeint, wie ihn
136
Oliver Plessow
Wolfgang Hasberg in diesem Band einfordert.1 Einmünden soll dies in eine Skizze von Aufgaben, die sich der Geschichtsdidaktik in Bezug auf die Erforschung nicht schulischer Bildungsvorgänge stellen.
1.
Am Rand der Disziplin? Bedingungen der Erforschung nicht schulischer historischer Bildungsarbeit vor dem Hintergrund der Wissenschaftstheorie Thomas S. Kuhns
Trotz der Fülle an Aktivitäten im Bereich der Jugendbildung, die als Teilaspekt oder auch zur Gänze eine Gelegenheit zu historischem Lernen bieten, sind diese mit der markanten Ausnahme der Bereiche Museum, Archiv und Gedenkstätte (s. u.) bislang kaum Gegenstand der geschichtsdidaktischen Forschung. Es ist lange her, seitdem sich ein Sammelband aus der Perspektive der Teildisziplin diesem Feld angenähert und Jugendseminare, Jugendbildungsstättenprojekte, Friedensdienste oder Workcamps thematisiert hat.2 An welche Phänomene ist zu denken? Das Spektrum der Erscheinungsformen angeleiteter historischer Lernangebote für Jugendliche und junge Erwachsene im Bereich der nicht schulischen Bildungsarbeit ist immens: Es reicht vom Freiwilligendienst-Leistenden in einer Jugendbauhütte im Denkmalschutz, von einer archäologischen Grabung, der Bildungsabteilung einer Gedenkstätte oder in einem historischen Museum über Workcamps in einem Mittelalter-Geschichtspark, auf einer Kriegsgräberstätte oder auf den Spuren der Musikerfamilie Bach über Interviewprojekte mit Zeitzeugen zur NS- oder DDR-Geschichte, über Lesungsprojekte, in denen Jugendliche Migrationsgeschichte spielerisch rekonstruieren, über das Mitmachen in einer der Bewahrung regionaler Traditionen verpflichteten Trachtentanzgruppe bis hin zum geschichtsbezogenen Bildungsangebot von kirchlichen oder politischen Jugendgruppen sowie Jugendfeuerwehren. All diese Erscheinungen eint, dass sie angeleitete Bildungsräume eröffnen, deren Ziel es ist, zukunftsorientierte Lernprozesse in Gang zu setzen, bei denen »Sinnbildung über Zeiterfahrung« eine wichtige Rolle zukommt – damit ist ebenjene etablierte narrativistische Definition historischen Lernens aufgerufen, wie sie Jörn Rüsen vorgelegt hat.3 1 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Hasberg: Unde venis? Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik, in diesem Band, S. 15 – 62, hier insbes. S. 42 – 48. Grundlegend immer noch Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. (Frankfurt a. M. 1969), 2., rev. Aufl. Frankfurt a. M. 1976. 2 Ulrich Kröll: Jugend und Geschichte. Historisches Lernen, Forschen und Spielen in der außerschulischen Jugendbildung. Münster 1987 (Forum Geschichtsdidaktik, Bd. 5). 3 Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008 (Forum historisches Lernen), S. 77.
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Auf den ersten Blick verwundert das Desinteresse an diesen Phänomenen, denn die Geschichtsdidaktik hat bekanntlich seit den 1970er-Jahren ihr Betätigungsfeld deutlich ausgeweitet. Nicht mehr allein auf schulbezogene Geschichtsvermittlung fokussiert, hat sie sich zu einer Wissenschaft vom »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft« entwickelt.4 Dass die Forschung sich nunmehr mit einer breiten Palette von Phänomenen befasst, die Anreize zu historischer Sinnbildung bieten, war jedoch mit der Ausbildung grundsätzlicher Auffassungen verbunden, wie diese Erscheinungen heuristisch zu fassen sind. In der Tendenz ist die Ausweitung mit einer dichotomischen Sichtweise verbunden, die eine Sphäre ungeordneter lebensweltlicher Sinnbildung von rationalen Verfahren abhebt, wie sie die Wissenschaft und die an sie gekoppelte Schule garantieren sollen. Im kuhnschen Sinne ließe sich hier von einem »metaphysischen Paradigma« sprechen, womit vor allem ein in einer Fachdisziplin geteiltes Vertrauen auf Basismodelle gemeint ist.5 Als Kronzeugin für diese Dichotomie kann J. Rüsens (kuhnsche Terminologie aufgreifende und für die Geschichtswissenschaft als ganze formulierte) Konzeption der »disziplinären Matrix« herangezogen werden, bei welcher das allgemeinmenschliche historische Orientierungsbedürfnis erst durch das Einwirken vernunftgesteuerter und institutionell in der Wissenschaft gesicherter Operationen Aussichten hat, rationalisiert zu werden.6 Aber auch Rolf Schörkens wegweisende Arbeiten zur Rolle von Geschichte in der Lebenswelt haben den Grund für eine solche dichotomische Auffassung bereitet.7 Seitdem die Didaktik verstärkt die Effektivität schulischer Geschichtsinstruktion erfasst, ist dieses Grundkonzept zudem mit einer Tendenz verbunden, schulischen Geschichtsunterricht als in Bezug auf 4 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2009, S. 83 f., hier S. 83 in Anschluss an eine Formulierung bei Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9 – 33, hier S. 12. 5 Kuhn (Anm. 1), S. 195 f. 6 Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 (Grundzüge einer Historik, Bd. 1), S. 21 – 32. Sieh auch Ders.: Die Entwicklung der disziplinären Matrix und des theoretisch-methodologischen Instrumentariums der Geschichtswissenschaft – ein strukturgenetischer Ansatz. In: Wolfgang Küttler/Karl-Heinz Noack (Hrsg.): Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte. Zum 80. Geburtstag von Ernst Engelberg. Berlin 1991, S. 53 – 67, hier insbes. S. 54 – 57. Auch Meik ZülsdorfKersting: Zwei Seiten einer Medaille – oder : Wie konstruieren Individuen Geschichte? In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7 (2008), S. 184 – 197, hier S. 191 f., der die Matrix entscheidend erweitert und Sinnbildungskonstruktionen integriert, welche »die Hemisphäre der ›Lebenspraxis‹« nicht verlassen, behält diese Dichotomie im Kern bei. 7 Rolf Schörken: Geschichte in der Alltagswelt. Wie uns Geschichte begegnet und was wir mit ihr machen. Stuttgart 1981; Ders.: Begegnungen mit Geschichte. Vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in Literatur und Medien. Stuttgart 1995.
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seine Ziele defizitär gegenüber dem mutmaßlich erfolgreichen Wirken historischer Sinnbildungsangebote außerhalb der Schule einzuschätzen. Stellvertretend für viele kann hier Bodo von Borries angeführt werden, der die »Misere schulischen Lernens« dem »strotzenden Freizeitmarkt« pointiert gegenüberstellt.8 Diese verbreitete, gleichsam manichäische Grundauffassung hemmt ein gesteigertes Interesse an institutionalisierten Sinnbildungsagenten, die zwar auf die Freizeit von Jugendlichen (und Erwachsenen) zugreifen, dies aber in einer angeleiteten, zielorientierten und konzeptgeleiteten Art und Weise tun. Daran ändert sich auch nichts, wenn neben den Medien die Familie als weiterer wichtiger (oder sogar wichtigerer) historischer Sozialisationsfaktor identifiziert wird.9 Mit Blick auf die kuhnsche Wissenschaftstheorie ließe sich noch ein zusätzlicher Gedanke anführen, was diese weitgehende Nichtbeachtung befördert haben könnte. Außerhalb der Geschichtsdidaktik hat die Jugendarbeit – und vor allem die Jugendbildungsarbeit – durchaus wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Tatsächlich gibt es einen Dialog zwischen Praktikern im Feld, den Erziehungswissenschaften und auch Teilen der Politikwissenschaften beziehungsweise der Politikdidaktik. Ein markanter Ausdruck davon ist das »Handbuch Außerschulische Jugendbildung«, das viele der Beteiligten in den Diskussionsprozess einbindet.10 Angesichts dieses Dialogs fällt auf, dass der geschichtsdidaktische Beitrag zu diesem Band sich gerade nicht auf empirisch zu greifende Erscheinungen, sondern auf eine theoretische Abgrenzung der »historischen« von der »politischen« Bildung konzentriert.11 Dieses ausgeprägte, in der Geschichtsdidaktik immer wieder zu erkennende Ringen um eine disziplinäre Identität lässt sich vor der Folie von Kuhns Überlegungen zur Ausbildung einer Normalwissenschaft beschreiben – gerade die Furcht vor einer Inanspruchnahme durch die Sphäre 8 Bodo von Borries: Historisch denken lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen 2008 (Studien zur Bildungsgangforschung, Bd. 21), S. 1. 9 Zu denken ist hier etwa an die vielfältigen Forschungen Harald Welzers. Siehe aber auch Meik Zülsdorf-Kersting: Historische Identität und geschichtskulturelle Prägung: empirische Annäherungen. In: GWU 59 (2008), S. 631 – 646, hier insbes. S. 633 – 636 u. S. 645. Selbst Albert Scherr : Sozialisation und Identitätsbildung bei Jugendlichen heute. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 59 – 69, denkt vor allem an den »medialen Diskurs« und an »Kontexte von Familie und Verwandtschaft« als das Gegenüber von schulischem Geschichtsunterricht (S. 68), obwohl er sich in seinen Forschungen regelmäßig mit nicht schulischen Bildungsakteuren beschäftigt und diese in dem Aufsatz auch beiläufig erwähnt (z. B. S. 63). 10 Benno Hafeneger (Hrsg.): Handbuch Außerschulische Jugendbildung. Grundlagen – Handlungsfelder – Akteure. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2013 (Politik und Bildung, Bd. 60). 11 Michele Barricelli/Martin Lücke: Historisch-politische Bildung. In: Hafeneger (Anm. 10), S. 325 – 343.
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des Politischen beziehungsweise für eine dezidiert politische Bildung war bei der Konstitution des Fachs immer wieder Thema.12
2.
Zur Verwendung des Begriffs »außerschulisch« in der Geschichtsdidaktik
Es dürfte schwer sein, den Nachweis zu erbringen, dass der Mangel einer eigenen Kategorie für ein von nicht schulischen Bildungsakteuren organisiertes und konzeptionell gestaltetes historisches Lernen die unmittelbare Ursache für die geringe Aufmerksamkeit ist, mit der diese Lernsettings in der Geschichtsdidaktik belegt werden. Dennoch fällt auf, dass diese über keinen klar umrissenen Begriff verfügt, der jene Erscheinungen bündeln könnte. Das sich in diesem Zusammenhang aufdrängende, im Bildungsdiskurs weit verbreitete und für diese Form von Erscheinungen gerne benutzte Attribut »außerschulisch« ist dafür nicht reserviert, zumindest nicht in der Geschichtsdidaktik. Verstünde man den Begriff »außerschulisches Lernen« wörtlich, könnte man denken, er bezöge sich auf das verbreitete und offensichtlich eindrückliche historische Lernen vor dem Fernseher, am Computer oder im Gespräch mit Eltern und Großeltern – alles Erscheinungen, die im Zuge der besagten Ausweitung des geschichtsdidaktischen Forschungshorizonts intensiv erforscht werden. In der Tat aber wird dieser potenzielle Bedeutungsgehalt nicht realisiert. Stattdessen stehen in seiner wissenschaftlichen Verwendung zwei andere Deutungsnuancen im Vordergrund, die auf Unterschiedliches verweisen und die ich hier das schulbezogene und das schulkomplementäre Verständnis nennen möchte. Bei der schulbezogenen Verwendung des Begriffs wird an ein schulisch organisiertes und verantwortetes Lernen gedacht, bei dem Lehrende den Unterricht aus dem Klassenraum herausverlagern und entweder selbst den Lehr-LernProzess einleiten oder aber mit Schülerinnen und Schülern einen Ausflug zu einem pädagogisch betreuten Lernort unternehmen. Unter dem Begriff »außerschulisch« werden hier außer den Exkursionen beziehungsweise Erkundungen wie in Michael Sauers Standardeinführung regelmäßig die Institutionen 12 Vgl. etwa Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/ Ts. 2013 (Forum historisches Lernen), S. 32 – 34. Es wäre weiter auszuführen, als hier der Raum ist, inwiefern die Geschichtsdidaktik mehr als andere von dieser Absetzungstendenz erfasst ist und stärker als andere Disziplinen nach eigenen Kategorien sucht, gerade weil sie sich selbst in Anschluss an Rüsen vor der Folie der kuhnschen Wissenschaftstheorie als wissenschaftliche Disziplin narrativiert – denn auch hier liegt (z. B. auch mit Blick auf Hasbergs Beitrag zu diesem Band) eine erzählerische Sinnkonstruktion vor.
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Museum und Archiv sowie – weniger oft – Gedenkstätte subsumiert.13 Die Initiative geht dabei von der Schule beziehungsweise den Lehrerinnen und Lehrern aus, die Aktivität wird als Ergänzung schulischen Lernens begriffen. Dass unter den Institutionen gerade diese drei Typen erfasst werden, ist nicht zufällig: Mit dem Museum und dem Archiv hat man zwei altehrwürdige, wissenschaftlich betreute und wissenschaftsaffine Institutionen von großer Dignität vor sich. Bei den Gedenkstätten schließlich wird zuerst an jene gedacht, welche der NS-Zeit gedenken. Als Institutionen sui generis von höchster kulturell konstruierter Bedeutsamkeit warten sie ebenfalls mit einem Wissenschaftsanspruch und mit einer hoch motivierten Schar von sich in den wissenschaftlichen Diskurs einbringenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf. Die schulbezogene Verwendung des Begriffs dominiert im Bereich der Geschichtsdidaktik. Meist wird »außerschulisch« in einen begrifflichen Zusammenhang mit dem Konzept eines »Lernens vor Ort« und, noch spezifischer, eines Lernens an einem »historischen Ort« gebracht; begriffsbildend sind hier nicht die Organisationsform und die agierenden Institutionen, sondern das erhoffte Mehr an Anschaulichkeit und eine in-situ-Erfahrung durch einen Wechsel an einen anderen als den alltäglichen Ort des Lernens.14 Kaum überraschen kann, dass dieses schulbezogene Verständnis von »außerschulisch« sich gerade dort findet, wo die Didaktik Handbücher für ihre Kernklientel, die angehenden Lehrerinnen und Lehrer, bereitstellt.15 Da aber auch der wissenschaftliche Nachwuchs über diese Handbuchliteratur den Weg in die Disziplin findet, ist gerade mit Blick auf Kuhns Überlegungen zur Bedeutung von Lehrbüchern für
13 Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 10. Aufl. Seelze-Velber 2012, S. 139 – 149. 14 Vgl. Christian Heuer : Historisches Lernen vor Ort – Skizze für ein zeitgenössisches Bild vom ausserschulischen historischen Lernen. In: Kurt Messmer u. a. (Hrsg.): Ausserschulische Lernorte – Positionen aus Geographie, Geschichte und Naturwissenschaften. Zürich 2011 (Ausserschulische Lernorte – Beiträge zur Didaktik, Bd. 1), S. 50 – 81, hier insbes. S. 50 – 57; Ulrich Mayer: Außerschulische Lernorte. In: Ders. u. a. (Anm. 4), S. 27 – 29, hier S. 27 f.; Ders.: Historische Orte als Lernorte. In: Ders./Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2007 (Forum historisches Lernen), S. 389 – 407, hier S. 392 – 396. 15 Siehe z. B. Berit Pleitner : Außerschulische historische Lernorte. In: Barricelli/Lücke (Anm. 9), Bd. 2, S. 290 – 307, hier insbes. S. 290 (die Aufnahme der »Living History« ist eher B. Pleitners eigenem Forschungsschwerpunkt als einem neuen Systematisierungsversuch geschuldet); Klaus Bergmann/Rita Rohrbach: Chance Geschichtsunterricht. Eine Praxisanleitung für den Notfall, für Anfänger und Fortgeschrittene. Schwalbach/Ts. 2005 (Methoden historischen Lernens), S. 94 – 98 (den Lernort Bibliothek einbeziehend); Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München (Hrsg.): Geschichte vor Ort. Anregungen für den Unterricht an außerschulischen Lernorten. Donauwörth 1999, S. 4 – 15, und insbes. die anschauliche Grafik auf dem Titelblatt und S. 7.
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die Formierung einer Normalwissenschaft zu berücksichtigen, wie stark diese die Arbeitsweise einer Disziplin prägen.16 Nichtsdestoweniger markiert das schulbezogene Verständnis von »außerschulisch« keine disziplinäre Leitkategorie. Der Begriff wird kaum diskutiert, selbst wenn er in Titeln auftaucht. Er ist nicht in dem Maße »symbolisch verallgemeinert«,17 als dass die einschlägigen Erscheinungen beständig unter derselben Rubrik zusammengefasst würden. In manchen Beiträgen erscheint der Begriff fast beiläufig als Sammelbegriff,18 in manchen auch überhaupt nicht, und zwar selbst dort, wo die Exkursion/Erkundung, der Museums-, Archiv- und/oder Gedenkstättenbesuch gemeinsam oder nebeneinander verhandelt werden.19 Abgehoben davon ist das hier schulkomplementär genannte Verständnis von »außerschulisch«. »Außerschulisch« bezieht sich dabei auf all jene von Institutionen bereitgestellten Bildungsangebote, die komplementär zur Schule mit der Freizeit der Jugendlichen (oder auch von Erwachsenen) arbeiten, also gerade auch die in diesem Beitrag interessierenden Phänomene. Diese Bedeutungsvariante von »außerschulisch« wird in der transdisziplinären Jugendforschung oft benutzt.20 Stellvertretend für viele andere Publikationen wird dies gleich im 16 Kuhn (Anm. 1), S. 25, 34 f. u. S. 176. 17 So man denn den Begriff Ebd., S. 194 f., auf die Arbeitsweise der Geisteswissenschaften überträgt. 18 Z. B. einmalig bei Andreas Michler : Museum und Ausstellung. In: Waltraud Schreiber (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens. Neuried 2004 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 597 – 614, hier S. 611. Ebenso wenig zum Leitbegriff verdichtet ist »außerschulisch« bei Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. 3. Aufl. Göttingen 2005, der zwar eingangs die gesamte »außerschulische Verwendung, Vermittlung und Rezeption von Geschichte in unterschiedlichen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens« als Untersuchungsfeld der Geschichtsdidaktik bestimmt (S. 22), später jedoch enger »Museumsbesuch, Besichtigung, Exkursion« unter den »Unterrichtsformen« aufführt (S. 302) und diese gemeinsam als »außer(schulisches) Lernen« von »innerschulische(m) Lernen« absetzt (S. 303). Bei Hilke Günther–Arndt (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 2. Aufl. Berlin 2007, rangieren die von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren verfassten Abschnitte zu Museum, Archiv, Exkursion, Lokalerkundung und Gedenkstätten unter dem Kapitel »Erkundender Geschichtsunterricht« (S. 119 – 147); nur sporadisch fällt der Begriff »außerschulisch« (S. 125 in Berrit Pleitners Beitrag zum »Museum«, S. 134 in Edda Grafes Beitrag zur »Exkursion«, S. 144 f. in Meik Zülsdorf-Kerstings Abschnitt zur »Gedenkstättenarbeit«). 19 Er fehlt z. B. bei Edwin Hamberger : Lernort Archiv. In: Schreiber (Anm. 18), S. 615 – 627, oder auch bei Waltraud Schreiber : Geschichte lernen an historischen Stätten: die historische Exkursion. In: Dies. (Anm. 18), S. 629 – 646. Ebenso kommt Peter Gautschi: Geschichte lehren. Lernwege und Lernsituationen für Jugendliche. 2. Aufl. Buchs/Bern 2000, mit den Kapiteln »Auf Exkursionen Geschichte begreifen«, S. 72 – 75, und »Geschichte im Museum und im Archiv«, S. 76 – 79, ohne den Begriff aus. 20 Sieh etwa die Problematisierung der Begriffsverwendung bei Thomas Coelen/Frank Gusinde: Jugendbildung und Schule. In: Hafeneger (Anm. 10), S. 87 – 102, hier insbes. S. 87 f. u. S. 92, die das Begriffspaar »innerschulisch« – »außerschulisch« in die hier ebenfalls genutzte
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ersten Satz des den Begriff schon im Titel tragenden »Handbuchs Außerschulische Jugendbildung« deutlich, wo diese als ein »eigenständiges, bildendes und pädagogisches Handlungsfeld mit vielfältigen Angeboten und Einrichtungen, Trägern und Strukturen« definiert wird.21 Auf wen zielt diese Definition, die auch Eingang in Gesetzestexte gefunden hat? Es sind Bildungswerke ebenso wie die Kirchenbildungsarbeit, Bildungsstätten, politische und gewerkschaftliche Nachwuchsorganisationen, wie überhaupt die vielen weiteren Träger der freien Jugendhilfe.22 Unter ihnen allen befinden sich viele, die im Zuge ihrer Bildungsarbeit in die Vergangenheit schauen und sich damit zur Trias Museum, Archiv und Gedenkstätte gesellen. Unter dieses schulkomplementäre Verständnis von »außerschulisch« fallen also auch jene historische Lernangebote bereitstellenden Erscheinungen der Jugendbildung, für deren stärkere Beachtung ich in diesem Beitrag plädiere. Nur gelegentlich und am Rande nutzten Geschichtsdidaktiker dieses Verständnis von »außerschulisch«. Karl-Ernst Jeismann sah bereits 1977 »Institutionen und Formen der Erwachsenen- und außerschulischen Jugendbildung« als Gegenstand der Didaktik.23 Auch Ulrich Kröll realisierte dieses schulkomplementäre Verständnis des Attributs, als er 1987 beklagte, nicht einmal das damals disziplinleitende »Handbuch der Geschichtsdidaktik« nehme »Notiz von der Geschichte in der außerschulischen Jugendbildung«.24 Dies hat sich kaum geändert, selbst wenn Bernd Schönemann jüngst an zentraler Stelle die »außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung« als didaktisch berücksichtigenswert aufzählte.25
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Begrifflichkeit »formal« und »non-formell« überführen. Trotz der Verbreitung der schulkomplementären Variante kennen auch andere Didaktiken die schulbezogene Verwendung von »außerschulisch«, sieh mit weiterer Literatur Markus Wilhelm/Kurt Messmer/Armin Rempfler : Ausserschulische Lernorte – Chance und Herausforderung. In: Messmer u. a. (Anm. 14), S. 8 – 24. Benno Hafeneger : Einleitung. In: Ders. (Anm. 10), S. 9 – 12, hier S. 9. Vgl. Ebd. sowie Ders.: Jugendbildung. In: Rolf Arnold/Sigrid Nolda/Ekkehard Nuissl: Wörterbuch Erwachsenenbildung. 2. Aufl. Bad Heilbrunn 2000, S. 169 f. (dort jeweils auch der Verweis auf §11 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes.) Jeismann (Anm. 4), S. 15. Ulrich Kröll: Geschichte in der Jugendbildung. Mit Stichworten zu »Geschichtsdidaktik«, »Außerschulische Jugendbildung« und »Jugend und Geschichte«. In: Ders. (Anm. 2), S. 45 – 58, hier S. 45. Tatsächlich berücksichtigt auch noch die jüngste Auflage (5. Aufl. 1997) in ihrem letzten Großabschnitt »Aspekte der Geschichtskultur«, neben medialen Repräsentationen (Comic, Film, Werbung usw.) und über Museum, Archiv und Gedenkstätte hinaus, zwar mit Geschichtsvereinen und Geschichtswerkstätten zwei nicht schulische Akteurstypen, nicht aber die Jugendarbeit. Schönemann (Anm. 4), S. 83. Auch Scherr (Anm. 9), S. 63, spricht jüngst komplementär von »schulische(n) und außerschulische(n) Bildungsangebote(n)«.
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3.
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Für die Verwendung des Begriffs »non-formal« im Rahmen der Trias »formal« – »non-formal« – »informell«
Während die Geschichtsdidaktik für Lernorte und Bildungssettings, wie sie von nicht schulischen Akteuren dargeboten werden, keine eigene Terminologie entwickelt hat, stellen Bildungswissenschaften, Bildungspraxis und Bildungsadministration hier mit dem Attribut »non-formal« einen eingeführten Begriff bereit. Er bildet gemeinsam mit »formal« und »informell« eine weit verbreitete Attribut-Trias, die in Verbindung mit »Bildung«, »Lernen«, »Lernorten« und »Lernwelten« genutzt wird. Das Dreierschema stammt ursprünglich aus dem englischsprachigen Raum und entstand zu Beginn der 1970er-Jahre im Umfeld der Entwicklungszusammenarbeit. Es findet, außer in Bildungsforschung und pädagogischer Praxis, in Manifesten der Bildungspolitik (UNESCO, OECD, EU) Verwendung.26 Eine besondere Bedeutung kommt ihm in den Diskussionen um das lebenslange Lernen zu.27 Zunächst scheidet dieses Konzept formales Lernen von informellem Lernen. Die formale Seite konstituieren schulische (oder auch universitäre) Lehr-LernVorgänge mit ihrer staatlich legitimierten Macht, Qualifikationen zu zertifizieren, ihren examinierten Fachkräften, ihren organisierten, strukturierten und curricular regulierten Lehr-Lern-Situationen sowie im Fall von Kindern und Jugendlichen der verpflichtenden Teilnahme an ihnen. Auf der anderen Seite steht das informelle Lernen, also das Ad-hoc-Lernen in Familie und »Peergroups« oder auch individuell in der Auseinandersetzung mit Medien. Dazwischen definiert dieses Konzept das non-formale Lernen als ein Lernen, das zwar gleichfalls organisiert und strukturiert ist, gleichzeitig aber von einer freiwilligen, die Interessen des Subjekts stärker einbeziehenden Teilnahme ausgeht.28 26 Die Literatur hierzu ist abundant. Einen Überblick über die Einheitlichkeit wie die Nuancierungen der internationalen wie nationalen Verwendungen der Terminologie bieten Stephanie Baumbast/Frederike Hofmann-van de Poll/Christian Lüders: Non-formale und informelle Lernprozesse in der Kinder- und Jugendarbeit und ihre Nachweise. München 2012, S. 11 – 26 – hier auch S. 20 f. der Hinweis, dass die Adjektivendungen »-al« und »-ell« synonyme Verwendung finden. Sieh auch Bernd Overwien: Informelles Lernen – zum Stand der internationalen Diskussion. In: Thomas Rauschenbach/Wiebken Düx/Erich Sass (Hrsg.): Informelles Lernen im Jugendalter. Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. 2. Aufl. Weinheim/München 2007 (Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfeforschung), S. 35 – 62, hier insbes. S. 36 – 47, sowie – insbes. für die Entwicklung der Begrifflichkeit und die mit ihr verbundenen Diskussionen – Alan Rogers: Non-formal Education. Flexible schooling or participatory education? Berlin 2005 (CERC Studies in Comparative Education, Bd. 15), insbes. Kap. 1 u. 2. 27 Vgl. Ekkehard Nuissl/Susanne Lattke/Henning Pätzold: Europäische Perspektiven der Erwachsenenbildung. Bielefeld 2010 (Studientexte zur Erwachsenenbildung), S. 55 – 60. 28 Vgl. etwa Benno Hafeneger : Lernen, Bildung und Jugend. In: Ders. (Anm. 10), S. 29 – 42, hier S. 38 f.
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Im Gegensatz zu Befürchtungen, die Disziplin könne durch die Übernahme fremder Kategoriensysteme Schaden nehmen,29 möchte ich hier auf deren Vorzüge verweisen. Rücken formale und informelle Bildung durch die bisherige Verwendung des geschichtskulturellen Paradigmas schon jetzt regelmäßig in das Blickfeld der Geschichtsdidaktik, hilft die Modellierung eines non-formalen Bereichs, die bislang nur unzureichend konzeptionalisierten Erscheinungen zu fassen. Mithilfe dieser dreigliedrigen Konzeption können nun einige der Phänomene, die bislang verstreut unter dem weiten Mantel der Geschichtskultur behandelt wurden, als Erscheinungsformen non-formaler Bildung gebündelt betrachtet werden. Dies betrifft, neben den drei besagten Institutionen Museum, Archiv und Gedenkstätte, etwa auch Geschichtswerkstätten, Volkshochschulen und das neue Feld der »Public History«. Gerade die Jugendbildung rückt im Rahmen der non-formalen Bildung stärker in den Fokus.30 Weiterhin bietet das Dreierschema ein Instrument, um das Zusammenspiel von schulisch gesteuerten, außerschulisch gesteuerten und ungesteuerten Lernangeboten vernünftig beschreiben und erfassen zu können. Dabei vermeidet es, einseitig den Blick der Schule einzunehmen. Vielmehr wird deutlich, welche Akteure außerhalb der Schule sich für die Schule engagieren, welche mit der Schule kooperieren und welche an der Schule vorbei operieren. Ein Beispiel: Manche Akteure, wie der »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge« oder die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, bieten Aktivitäten unabhängig von Schule an, suchen aber an anderer Stelle gezielt die Kooperation mit ihr – allerdings nicht als Dienstleister, sondern als Akteure mit eigenen Interessen. Schließlich spricht für die Begriffstrias, dass sie an wichtige innerfachliche – dazu weiter unten –, aber auch fachübergreifende Diskussionen anschlussfähig ist. Dies betrifft insbesondere den interdisziplinären Jugendbildungsdiskurs. Bereits erwähnt wurde U. Krölls Einschätzung von 1987, in der Jugendbildungsforschung komme quasi keine geschichtliche Jugendbildung vor.31 Dass dies heute nahezu unvermindert gilt, lässt es notwendig erscheinen, hier Brücken zu schlagen, denn innerhalb der dortigen Kategorisierungen (kulturelle Bildung, interkulturelle Bildung, politische Bildung usw.) werden »Geschichte« und »Zeiterfahrung« nur peripher – und dann lediglich im Zusammenhang mit erinnerungskulturellen, museums-, archiv- und gedenkstättenpädagogischen Fragestellungen – wahrgenommen.32
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Vgl. Hasberg (Anm. 1), S. 29, mit weiterführenden Hinweisen Anm. 45. Vgl. Hafeneger (Anm. 21), S. 9. S. o. (Anm. 24). Am Beispiel der Typisierungen von Jugendfreiwilligendiensten ist dies aufgezeigt bei Oliver Plessow: Ein »Freiwilliges Historisches Jahr«? Überlegungen zum historischen Lernen und
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4.
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Überlegungen zum Verhältnis der Begriffe »non-formal«, »informell« und »Geschichtskultur«
Anders als der Begriff »außerschulisch« (vor allem in seiner in der Teildisziplin vorherrschenden schulbezogenen Verwendung) steht der Begriff »Geschichtskultur« im Zentrum geschichtsdidaktischer Kategorienbildung. Im Verein mit »Geschichtsbewusstsein« wird »Geschichtskultur« als eine jener beiden Kategorien bestimmt, die den Geschäftsbereich der Teildisziplin umreißen.33 Allerdings relativiert Wolfgang Hasberg in diesem Band den gefestigten Charakter der Kategorie mit Blick auf das in der Forschung unterschiedlich konturierte Verhältnis der beiden Kategorien zueinander ; er bezweifelt, dass sie die Qualität einer symbolischen Verdichtung aufweise.34 Dass W. Hasberg selbst erkennt, dass viele Publikationen »Geschichtskultur« eine zentrale Rolle zuweisen, ohne diese unterschiedlichen Auffassungen zu thematisieren, spricht indes gerade für das Einsetzen einer solchen Verdichtung im kuhnschen Sinne. Zudem ging Kuhn (a) von einer größeren Akzeptanz für Inkommensurabilitäten in den NichtNaturwissenschaften und (b) im Falle wissenschaftlicher Begriffe von einer höheren Permanenz der symbolischen Verallgemeinerung selbst bei Wandlungen der definitorischen Grundlagen aus.35 Während also auf der einen Seite eine anhaltende Theoriediskussion zu greifen ist,36 rangiert »Geschichtskultur«
33
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Arbeiten im Rahmen gegenwärtiger Jugendfreiwilligendienste. In: voluntaris – Zeitschrift für Freiwilligendienste 1 (2013), S. 105 – 129. Viel zitiert ist das Diktum von den »zwei Seiten einer Medaille« bei Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. In: Bernd Mütter/ Bernd Schönemann/ Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 11), S. 26 – 58, hier S. 44. Sieh auch Zülsdorf-Kersting (Anm. 6). Hasberg (Anm. 1), S. 26 f. W. Hasberg sieht den Begriff nicht zuletzt deshalb als ungefestigt, weil er selbst das Verhältnis von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur anders konturiert als J. Rüsen das tut. Dabei schließt er an seine früheren Überlegungen an: Wolfgang Hasberg: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? Überlegungen zu zwei (un-)vereinbaren Konzeptionen zum Umgang mit Gedächtnis und Geschichte. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 32 – 59, hier insbes. S. 49 – 53. Kuhn (Anm. 1), S. 176 u. S. 195. Sieh neben Pandel (Anm. 12), S. 161 – 177; Hasberg (Anm. 34); Zülsdorf-Kersting (Anm. 6 u. 9); Rohlfes (Anm. 18), S. 391 f., und den Beiträgen in Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009 (Forum historisches Lernen), z. B. Holger Thünemann: Geschichtskultur als Forschungsansatz zur Analyse des Umgangs mit der NS-Zeit und dem Holocaust. Konzeptionelle Standortbestimmung und ein Vorschlag zur kategorialen Differenzierung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 4 (2005), S. 230 – 240; Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik als Wiederholungsstruktur. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 34 (2006), S. 182 – 191; Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines
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allemal in den zentralen Handbüchern als Leitkategorie37 und in der Forschung als regelmäßiger Referenzpunkt. Wo dabei der Begriff nicht grundsätzlich problematisiert wird, wird vielfach auf J. Rüsens Bestimmung von Geschichtskultur als der »praktisch wirksamen Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft« zurückgegriffen,38 wobei J. Rüsens Überlegungen vielfach noch um die wissenssoziologischen Überlegungen B. Schönemanns erweitert sind.39 Für den Zusammenhang dieses Beitrags ist allerdings etwas anderes als der Verfestigungsgrad der Kategorie entscheidend: Jene Phänomene, die dieser Beitrag in den Mittelpunkt rücken will und die in der allgemeinen Bildungsdiskussion als non-formal bestimmt werden, spiel(t)en bei der Kategorienbildung und -diskussion um »Geschichtskultur«, von peripheren Erwähnungen einmal abgesehen, keine Rolle.40 Auch im Kontext des Geschichtskultur-Paradigmas bleiben angeleitete nicht schulische Bildungsangebote für Jugendliche ein Randphänomen, wenn nicht gerade Museums-, Archiv- oder Gedenkstättenpädagogik Thema sind.
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neuen Museumstyps. Berlin 2012 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 10), insbes. S. 19 – 38. Vor allem in Auseinandersetzung mit dem rüsenschen Dimensionenmodell sieh auch: Bernd Holtwick: Nagelprobe »Frieden«. Die Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss als Thema des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 139 – 159, hier insbes. S. 154 – 159. Sieh etwa bei Sauer (Anm.13), S. 11. Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008 (Forum historisches Lernen), S. 235. Erstmals legte Rüsen die Definition 1994 vor. Schönemann (Anm. 33), S. 46 f. Zahlreiche Beispiele für die Rezeption dieser Ansätze ließen sich nennen, darunter auch jüngst erschienene, sieh etwa Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Webseite Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 4), S. 43; Schlutow (Anm. 36), S. 21 – 24, oder Barbara Hanke: Geschichtskultur an höheren Schulen von der Wilhelminischen Ära bis zum Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Westfalen. Münster 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 6), S. 10 f. Ein gutes Beispiel dafür bietet Holger Thünemann: Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. Zentrale Holocaust-Denkmäler in der Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer Vergleich. Idstein 2005 (Schriften zur Geschichtsdidaktik), S. 20 u. S. 24, der eine zu J. Rüsen kritische Position einnimmt und die assmannsche Trennung von »kommunikativem« und »kulturellem Gedächtnis« in die Theoriebildung einzubeziehen verlangt, aber vor dem Hintergrund seiner denkmalbezogenen Fragestellung primär anonym und unangeleitet wirkende Sinnbildungsagenten diskutiert. Weiterhin spielt das Non-formale auch dort keine Rolle, wo die Kategorien »Geschichtskultur« und »Erinnerungskultur« gegeneinander abgewogen werden sollen, sieh etwa Marko Demantowsky : Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstands. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), S. 11 – 20.
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Dieser Befund gilt sogar dann, wenn man betrachtet, dass es weitere und engere Verwendungen des Begriffs »Geschichtskultur« gibt. Bei der engeren Verwendung dieses Begriffes treten jene »kulturellen Objektivationen« von Geschichte in den Vordergrund, die als lebensweltliche Konkurrenz zu schulischer Geschichtsinstruktion verstanden werden.41 »Geschichtskultur« meint hier gerade den nicht wissenschaftlich und nicht schulisch durchdrungenen Bereich historischer Sinnbildungen beziehungsweise Sinnbildungsangebote. Gedacht wird dabei primär an die vielfältigen medialen Popularisierungen von Geschichte (Filme, Comics, Computerspiele, Internet-Seiten, Denkmäler usw.) oder an Eventkulturphänomene. Hier ist wieder jene dichotomische Sichtweise zu greifen, die oben thematisiert wurde und die eine Welt rationaler von einer Welt emotionalisierter, ästhetisierter und delektierender Geschichtsaneignungen scheidet. Wortführer dieses primär auf »Präsentationen und Verarbeitungen« schauenden Geschichtskulturbegriffs ist Hans-Jürgen Pandel, der dies auf die Formel bringt, neben den »schulischen Geschichtsunterricht« trete die »außerschulische Geschichtskultur«.42 In die Terminologie des vorigen Abschnitts übersetzt, stellt ein solches Verständnis die Meriten formaler den Gefahren informeller Sinnbildungsangebote gegenüber, ohne sich die Rolle nonformaler Angebote zu vergegenwärtigen. Eher geeignet, auch geschichtsbezogene non-formale Bildungsangebote und die dahinterstehenden Akteure in den Blick zu nehmen, ist es, wenn man mit J. Rüsen und B. Schönemann einen sehr breiten Geschichtskultur-Begriff anlegt und zu Geschichtskultur alle artefaktischen oder performativen Manifestationen von Geschichte in Politik, Bildungswesen und Populärkultur zählt.43 Wenn die gesamte »Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit Vergangenheit und Geschichte umgeht«,44 reflektiert wird, haben neben Bildungsmaßnahmen in Schule und Universitäten auch schulferne Angebote eine größere Chance auf Betrachtung. Tatsächlich wird die hier als non-formal bezeichnete Sphäre gelegentlich mit erwähnt,45 diese verbleibt aber stets im Hintergrund.
41 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2007 (Forum historisches Lernen), S. 40. 42 Pandel (Anm. 12), S. 161. 43 Sieh etwa Jörn Rüsen: Geschichtskultur. In: GWU 46 (1995), S. 513 – 521, hier S. 513, unter ausdrücklicher Einbeziehung »der schulischen wie der außerschulischen Erziehung«. Ähnlich weit gefasst findet sich der Begriff auch bei Zülsdorf-Kersting (Anm. 6), S. 184. 44 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtskultur. In: Mayer u. a. (Anm. 4), S. 86 f., hier S. 86, der an dieser Stelle auch einmal den weiteren Geschichtskulturbegriff nutzt. 45 Rüsen (Anm. 38), S. 234, zählt neben der schulischen auch die »außerschulische Erziehung« zur Geschichtskultur. Schönemann (Anm. 33), S. 58, nennt aus dem hier als non-formal bestimmten Bereich nur die Erwachsenenbildung, obwohl er selbst Ebd., S. 56, dazu auffordert, »lernortdifferentieller« zu denken.
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Die Begriffe »formal«, »non-formal« und »informell« bieten der Geschichtsdidaktik ein heuristisch sinnvolles Modell, das Feld der Geschichtskultur zu untergliedern und dabei den dichotomischen Blick auf schulisches und universitäres Lernen hier, auf lebensweltliches Lernen dort, aufzubrechen. Die Trias ist insofern mit gängigen Kategorisierungen der Geschichtsdidaktik kompatibel, als sie als Antwort auf B. Schönemanns Aufforderung begriffen werden kann, sich stärker mit der institutionellen Dimension von Geschichtskultur,46 also den Akteuren und den spezifischen Bildungssettings, zu befassen.
5.
Ausblick auf Aufgaben für die geschichtsdidaktische Forschung
Welche Aufgaben stellen sich der Geschichtsdidaktik im Lichte dieser Überlegungen? Wenn der Jugendverband der syrischen Exilchristen mit Seminaren und Vorträgen »zur Erhaltung, Pflege und auch Weiterentwicklung von Kulturleistungen der Heimatgebiete« ermutigt,47 die Bildungsstätte »Haus Schlesien« Jugendliche und junge Erwachsene aus Deutschland und Polen zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Geschichte motiviert48 oder sich »Die Falken« jährlich ein Wochenende lang emanzipatorisch-zukunftsorientiert in die Vergangenheit blickend mit »Rosa & Karl« beschäftigen – »Gedenkdemo« inklusive –,49 dann sind dies Lerngelegenheiten, die für sich genommen schon eine Untersuchung historischer Sinnkonstruktionsangebote wert wären und unserem Wissen um geschichtskulturelle Vorgänge neue Facetten hinzufügen könnten. Doch es spricht noch mehr dafür, non-formale Bildungsakteure und ihre Aktivitäten vom Rand in die Mitte geschichtsdidaktischer Forschung zu holen: Ein intensivierter Blick auf die Sphäre zwischen schulischen beziehungsweise universitären Lernsettings einerseits und dem bislang als »Lebenswelt« Konzeptualisierten andererseits kann der anhaltenden Debatte um Möglichkeiten, auf historische Lernprozesse einzuwirken, neue Impulse geben. Das Interesse von Bildungswissenschaften und Bildungspolitik an non-formalen (und informellen) Lernwelten beruht nicht zuletzt auf der Erwartung, die Aneignung von 46 Schönemann (Anm. 33), S. 46 f. u. S. 56. 47 Sieh die Selbstdarstellung des »Assyrischen Jugendverbands Mitteleuropas« auf seiner Homepage: http://www.qolo.de/ajm (aufgerufen am 23. 03. 2013). 48 Informationen zur Bildungsstätte und zu deren Programmen sind über deren Hompage zu beziehen: http://www.hausschlesien.info, aufgerufen am 23. 03. 2013. 49 Für 2013 sieh: Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken: Rosa & Karl 2013 (online verfügbar unter : http://www.wir-falken.de/aktuelles/meldungen/6523472.html, aufgerufen am 23. 03. 2013).
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Inhalten und Kompetenzen könne im non-formalen Bereich eher gelingen als im formalen Bildungssystem, das als defizitär empfunden wird.50 Die Geschichtsdidaktik kann davon profitieren, wenn sie non-formale Bildungsarrangements eingehender betrachtet, die oft Lernarrangements in Gestalt selbst gewählter thematischer Schwerpunkte, projektbezogenen Arbeitens oder unbenoteten Lernens in einer »Peergroup« bieten, wie sie manche Didaktikerinnen und Didaktiker für die Schule erträumen. In der Tat gibt es auf bislang sehr schmaler empirischer Grundlage Hinweise, dass non-formale Akteure Sinnbildungsbiografien nachhaltig prägen können: Man denke nur an die zentrale Rolle, welche Ehemalige von »Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste« in der Gedenkstättenpädagogik einnehmen. Als Fazit dieses Beitrags lässt sich ein Desiderat der Forschung festhalten: Zu eruieren wäre in einem ersten Schritt, welche non-formalen Akteure für welche Zielgruppe Jugendlicher und junger Erwachsener in welchen Zusammenhängen, in welchem Ausmaß, mit welcher Zielsetzung, in welchen Formaten und mit welchen Mitteln Angebote zu historischer Sinnkonstruktion bereitstellen. Auf dieser Grundlage wäre es lohnenswert, empirisch zu verfolgen, welche Sinnbildungsangebote bei den Rezipienten nachhaltig wirk(t)en. Hiermit ist ein weitaus größeres Forschungsprogramm entworfen, als es eine einzelne Person zu bearbeiten vermag – gerade deshalb ist es wichtig, die Fachdisziplin zu ermutigen, dem Feld der »außerschulischen« Jugendbildung größere Aufmerksamkeit zu widmen.
Literatur Michele Barricelli/Martin Lücke: Historisch-politische Bildung. In: Benno Hafeneger (Hrsg.): Handbuch Außerschulische Jugendbildung. Grundlagen – Handlungsfelder – Akteure. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2013 (Politik und Bildung, Bd. 60), S. 325 – 343. Stephanie Baumbast/Frederike Hofmann-van de Poll/Christian Lüders: Non-formale und informelle Lernprozesse in der Kinder- und Jugendarbeit und ihre Nachweise. München 2012, S. 11 – 26. Klaus Bergmann/Rita Rohrbach: Chance Geschichtsunterricht. Eine Praxisanleitung für den Notfall, für Anfänger und Fortgeschrittene. Schwalbach/Ts. 2005 (Methoden historischen Lernens). Bodo von Borries: Historisch denken lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen 2008 (Studien zur Bildungsgangforschung, Bd. 21). Thomas Coelen/Frank Gusinde: Jugendbildung und Schule. In: Benno Hafeneger (Hrsg.): 50 Vgl. Thomas Rauschenbach/Wiebken Düx/Erich Sass: Einleitung. In: Dies. (Anm. 26), S. 7 – 12, hier S. 8 f.
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Handbuch Außerschulische Jugendbildung. Grundlagen – Handlungsfelder – Akteure. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2013 (Politik und Bildung, Bd. 60), S. 87 – 102. Marko Demantowsky : Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstands. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), S. 11 – 20. Peter Gautschi: Geschichte lehren. Lernwege und Lernsituationen für Jugendliche. 2. Aufl. Buchs/Bern 2000. Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 2. Aufl. Berlin 2007. Benno Hafeneger (Hrsg.): Handbuch Außerschulische Jugendbildung. Grundlagen – Handlungsfelder – Akteure. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2013 (Politik und Bildung, Bd. 60). Benno Hafeneger : Lernen, Bildung und Jugend. In: Ebd., S. 29 – 42. Benno Hafeneger: Jugendbildung. In: Rolf Arnold/Sigrid Nolda/Ekkehard Nuissl: Wörterbuch Erwachsenenbildung. 2. Aufl. Bad Heilbrunn 2000, S. 169 f. Edwin Hamberger : Lernort Archiv. In: Waltraud Schreiber (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens. Neuried 2004 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 615 – 627. Barbara Hanke: Geschichtskultur an höheren Schulen von der Wilhelminischen Ära bis zum Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Westfalen. Münster 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 6). Wolfgang Hasberg: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? Überlegungen zu zwei (un-) vereinbaren Konzeptionen zum Umgang mit Gedächtnis und Geschichte. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 32 – 59. Christian Heuer : Historisches Lernen vor Ort – Skizze für ein zeitgenössisches Bild vom ausserschulischen historischen Lernen. In: Kurt Messmer u. a. (Hrsg.): Ausserschulische Lernorte – Positionen aus Geographie, Geschichte und Naturwissenschaften. Zürich 2011 (Ausserschulische Lernorte – Beiträge zur Didaktik, Bd. 1), S. 50 – 81. Bernd Holtwick: Nagelprobe »Frieden«. Die Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss als Thema des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 139 – 159. Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9 – 33. Ulrich Kröll: Jugend und Geschichte. Historisches Lernen, Forschen und Spielen in der außerschulischen Jugendbildung. Münster 1987 (Forum Geschichtsdidaktik, Bd. 5). Ulrich Kröll: Geschichte in der Jugendbildung. Mit Stichworten zu »Geschichtsdidaktik«, »Außerschulische[r] Jugendbildung« und »Jugend und Geschichte«. In: Ebd., S. 45 – 58. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. (Frankfurt a. M. 1969), 2., rev. Aufl. Frankfurt a. M. 1976. Ulrich Mayer : Außerschulische Lernorte. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2009, S. 27 – 29. Ulrich Mayer : Historische Orte als Lernorte. In: Ders./Hans-Jürgen Pandel/Gerhard
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Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2007 (Forum historisches Lernen), S. 389 – 407. Andreas Michler : Museum und Ausstellung. In: Waltraud Schreiber (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens. Neuried 2004 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 597 – 614. Ekkehard Nuissl/Susanne Lattke/Henning Pätzold: Europäische Perspektiven der Erwachsenenbildung. Bielefeld 2010 (Studientexte zur Erwachsenenbildung). Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009 (Forum historisches Lernen). Bernd Overwien: Informelles Lernen – zum Stand der internationalen Diskussion. In: Thomas Rauschenbach/Wiebken Düx/Erich Sass (Hrsg.): Informelles Lernen im Jugendalter. Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. 2. Aufl. Weinheim/ München 2007 (Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfeforschung), S. 35 – 62. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/ Ts. 2013 (Forum historisches Lernen). Hans-Jürgen Pandel: Geschichtskultur. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2009, S. 86 f. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2007 (Forum historisches Lernen). Berit Pleitner : Außerschulische historische Lernorte. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 290 – 307. Oliver Plessow: Ein »Freiwilliges Historisches Jahr«? Überlegungen zum historischen Lernen und Arbeiten im Rahmen gegenwärtiger Jugendfreiwilligendienste. In: voluntaris – Zeitschrift für Freiwilligendienste 1 (2013), S. 105 – 129. Thomas Rauschenbach/Wiebken Düx/Erich Sass: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Informelles Lernen im Jugendalter. Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. 2. Aufl. Weinheim/München 2007 (Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfeforschung), S. 7 – 12. Alan Rogers: Non-formal Education. Flexible schooling or participatory education? Berlin 2005 (CERC Studies in Comparative Education, Bd. 15). Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. 3. Aufl. Göttingen 2005. Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. 2. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2008 (Forum historisches Lernen). Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008 (Forum historisches Lernen). Jörn Rüsen: Geschichtskultur. In: GWU 46 (1995), S. 513 – 521. Jörn Rüsen: Die Entwicklung der disziplinären Matrix und des theoretisch-methodologischen Instrumentariums der Geschichtswissenschaft – ein strukturgenetischer Ansatz. In: Wolfgang Küttler/Karl-Heinz Noack (Hrsg.): Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte. Zum 80. Geburtstag von Ernst Engelberg. Berlin 1991, S. 53 – 67. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 (Grundzüge einer Historik, Bd. 1). Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 10. Aufl. Seelze-Velber 2012. Albert Scherr : Sozialisation und Identitätsbildung bei Jugendlichen heute. In: Michele
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Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 59 – 69. Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps. Berlin 2012 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 10). Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2009, S. 83 f. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik als Wiederholungsstruktur. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 34 (2006), S. 182 – 191. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. In: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 11), S. 26 – 58. Rolf Schörken: Begegnungen mit Geschichte. Vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in Literatur und Medien. Stuttgart 1995. Rolf Schörken: Geschichte in der Alltagswelt. Wie uns Geschichte begegnet und was wir mit ihr machen. Stuttgart 1981. Waltraud Schreiber : Geschichte lernen an historischen Stätten: die historische Exkursion. In: Waltraud Schreiber (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens. Neuried 2004 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 629 – 646. Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Webseite Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 4). Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München (Hrsg.): Geschichte vor Ort. Anregungen für den Unterricht an außerschulischen Lernorten. Donauwörth 1999. Holger Thünemann: Geschichtskultur als Forschungsansatz zur Analyse des Umgangs mit der NS-Zeit und dem Holocaust. Konzeptionelle Standortbestimmung und ein Vorschlag zur kategorialen Differenzierung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 4 (2005), S. 230 – 240. Holger Thünemann: Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. Zentrale HolocaustDenkmäler in der Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer Vergleich. Idstein 2005 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 17). Markus Wilhelm/Kurt Messmer/Armin Rempfler: Ausserschulische Lernorte – Chance und Herausforderung. In: Kurt Messmer u. a. (Hrsg.): Ausserschulische Lernorte – Positionen aus Geographie, Geschichte und Naturwissenschaften. Zürich 2011 (Ausserschulische Lernorte – Beiträge zur Didaktik, Bd. 1), S. 8 – 24. Meik Zülsdorf-Kersting: Zwei Seiten einer Medaille – oder : Wie konstruieren Individuen Geschichte? In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7 (2008), S. 184 – 197. Meik Zülsdorf-Kersting: Historische Identität und geschichtskulturelle Prägung: empirische Annäherungen. In: GWU 59 (2008), S. 631 – 646.
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Geschichtsunterricht in situ – videogestützte Beobachtungen als Chance der geschichtsdidaktischen Forschung
Welche Chancen und Schwierigkeiten bietet die Methode der Videografie für die qualitative Forschung in der Geschichtsdidaktik? Dieser Frage wird im Folgenden beispielhaft anhand des Forschungsprojektes »Vielfalt, Identität, Erzählung«1 zum interkulturellen Lernen im Geschichtsunterricht an niedersächsischen Schulen nachgegangen. Nach einer kurzen Vorstellung des Forschungsprojektes wird auf die Besonderheiten videografierter Daten eingegangen, um dann den Stellenwert der Videografie in der qualitativen Sozialforschung zu eruieren. Dafür werden verschiedene Ansätze der Auswertung von Videodaten aufgezeigt. Anhand einer ausgewählten Geschichtsstunde zum Thema »Die Entdeckung Amerikas« werden erste eigene Interpretationsschritte erörtert und in diesem Zusammenhang die Vorteile der Videografie gegenüber anderen Forschungsmethoden im Rahmen geschichtsdidaktischer Fragestellungen erörtert.
1.
Das Forschungsprojekt »Vielfalt, Identität, Erzählung«
Ziel des interdisziplinären Forschungsprojektes ist es, empirisch zu rekonstruieren, ob beziehungsweise inwiefern das bereits 1996 von der KMK2 empfohlene interkulturelle Lernen in den Schulen tatsächlich Einzug gehalten hat. Damit dieser hohe Anspruch des interkulturellen Lernens in der Schule in die Tat umgesetzt werden kann, ist dazu in den letzten Jahren eine Fülle von fachspezifischen oder fachübergreifenden Unterrichtsmaterialien erschienen, wurde eine Reihe von außerunterrichtlichen Anregungen (wie Projekten und Wettbewerben) gegeben oder finden einschlägige Lehrerfortbildungen statt. Was je1 Projektbeschreibung online verfügbar unter : http://www.hist.uni-hannover.de/7969.html (aufgerufen am 14. 11. 2013). 2 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Empfehlung: »Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule«, o. O. 1996.
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doch in den Klassenzimmern tatsächlich im Hinblick auf interkulturelles Lernen geschieht, welche Methoden genutzt und wie die Maßnahmen sowohl von den Lehrenden wie den Lernenden eingeschätzt werden, ist noch weitgehend unerforscht. Empirisch fundiertes Wissen ist aber schon deshalb unentbehrlich, weil sich nur auf dieser Grundlage wissenschaftlich fundierte pädagogische Interventionen bestimmen und durchführen lassen. Konkret interessiert uns das Ob und Wie des interkulturellen Lernens im Geschichtsunterricht, also beispielsweise Fragen wie: – Wie gestaltet sich dieses interkulturelle Lernen aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften? – Welche Methoden werden mit welchen Absichten genutzt, und wie werden beide eingeschätzt? – Welche Spezifika interkulturellen Lernens lassen sich in unterschiedlichen Klassenstufen, Schulformen oder Schultypen beobachten? Der Geschichtsunterricht bietet sich für eine Erforschung der Erscheinungsformen und Mechanismen interkulturellen Lernens und Lehrens dabei aufgrund seiner zentralen didaktischen Prinzipien an: Zu nennen wären die Erkenntnisoperation des Perspektivwechsels (Multiperspektivität), die Denkoperation des Fremdverstehens und das formulierte Ziel der Ambiguitätstoleranz. Man kann sogar sagen, dass der Umgang mit Interkulturalität zum zwingenden Wesen des Faches Geschichte gehört, denn die Thematisierung fremder, abständiger Vergangenheit stellt ja immer schon eine interkulturelle Lernsituation dar : Die Menschen früher dachten anders, lebten anders, handelten anders als wir heutigen, und es kommt im Geschichtsunterricht darauf an, frühere Lebensbezüge, Denkstrukturen und Wertmaßstäbe zu rekonstruieren, um zu begründeten (durchaus mit der Gegenwart vergleichenden) historischen Urteilen zu gelangen. Um das aufgezeigte Forschungsfeld aus unterschiedlichen Perspektiven zu rekonstruieren, arbeiten wir mit drei verschiedenen methodischen Zugängen: Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern, Interviews mit Lehrkräften sowie videografierte Unterrichtsstunden des Faches Geschichte. Der letztgenannte Punkt soll im Folgenden im Fokus stehen.
Geschichtsunterricht in situ
2.
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Videografie grundsätzlich: Interaktion, Simultanität, Sequentialität
Bevor konkret auf Methoden der Auswertung von Videodaten eingegangen werden soll, müssen vorab die konstitutiven Besonderheiten dieser Art von Daten dargestellt werden. Diese lassen sich unter den Stichworten: Interaktion, Simultanität und Sequentialität subsumieren. Mithilfe von Videodaten werden nicht nur, wie beispielsweise bei Interviews der Fall, verbale Daten erhoben, sondern Interaktionen. In Anlehnung an Hubert Knoblauch3 verfolgen wir einen eher weiten Interaktionsbegriff. Dieser kann sich beispielsweise auch auf unbelebte Dinge richten und muss nicht zwangsläufig eine Handlung/ein Verhalten von zwei oder mehr Personen bezeichnen. Dabei erscheinen Interaktionen nach Jörg Dinkelaker und Matthias Herrle »dann als multimodal strukturierte Sinnzusammenhänge, bei denen Personen nicht nur verbale Mitteilungen in zeitlicher Reihenfolge zu Gehör bringen. Sie äußern sich zudem kontinuierlich als Personen, die gleichzeitig in ihrer physischen Erscheinung an einem bestimmten Ort in einem Raum, umgeben von einer Vielzahl wahrnehmbarer Dinge, anwesend sind und ihren gesamten Körper als Äußerungsmedium einsetzen. Mit dem daraus resultierenden Problem, sowohl Prozessstrukturen als auch Strukturen des Gleichzeitigen zu beobachten und deren Bedeutungsgehalte darüber hinaus auch noch aufeinander zu beziehen, sind sowohl die Interaktionsbeteiligten als auch der beobachtende Forscher konfrontiert«4. Diese Besonderheit greift z. B. auch Monika Wagner-Willi5 auf, indem sie aufzeigt, dass Videodaten sowohl sequentiell geordnet sind – hier weisen sie eine Gemeinsamkeit zu Texten auf – als auch – und hier wird die Verwandtschaft zu Bildern offensichtlich – durch Simultanität gekennzeichnet sind. Schlussfolgernd müssen Methoden zur Analyse von Videoaufnahmen dieser besonderen Qualität gerecht werden und sowohl Simultanität als auch Sequentialität berücksichtigen.
3 Hubert Knoblauch: Videography, Focused Ethnography and Video Analysis. In: Hubert Knoblauch u. a. (Hrsg.): Video Analysis: Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology. Frankfurt a. M. 2006, S. 69 – 83. 4 Jörg Dinkelaker/Matthias Herrle: Erziehungswissenschaftliche Videographie: Eine Einführung. Wiesbaden 2009, S. 45. 5 Monika Wagner–Willi: On the multidimensional Analysis of Video-Data. Documentary Interpretation of Interaction in Schools. In: Knoblauch u. a. (Hrsg). (Anm. 3), S. 143 – 153.
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Videografie in der geschichtsdidaktischen und der qualitativen Forschung
Nachdem die Besonderheiten von Videodaten aufgezeigt wurden, soll nun ganz konkret auf Methoden ihrer Auswertung eingegangen beziehungsweise der Stellenwert der Videografie in der qualitativen Forschung und für die empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik erläutert werden. Dabei ist festzustellen, dass, trotz des technischen Fortschritts im Bereich der Videoaufzeichnung und -verarbeitung, videogestützte empirische Forschung im Feld der Geschichtsdidaktik nur sehr vereinzelt, beispielsweise bei Monika Waldis (mit Peter Gautschi u. a.)6 zu finden ist. Dabei könnte geschichtsdidaktische Forschung so vermehrt in situ stattfinden und wäre nicht »bloß« auf retrospektive Daten, etwa in Interviews angewiesen. Gerade die oben genannten Konstituenten videografischer Daten ermöglichen einen – mit Einschränkungen – authentischen Blick in den Klassenraum und auf unterrichtliches Handeln.7 So videografierte P. Gautschi in seinem Forschungsprojekt »Geschichte und Politik im Unterricht« rund 45 zufällig ausgewählte Klassen der Sekundarstufe I (9. Schuljahr). Aufgezeichnet wurde je eine Einzel- oder Doppellektion in Geschichte beziehungsweise Politische Bildung. Anhand einer statistisch repräsentativen Stichprobe wollte er so eine Bestandsaufnahme der Unterrichtswirklichkeit durchführen und Zusammenhänge zwischen Unterrichtsbedingungen, Unterrichtsgestaltung und Unterrichtswirkungen analysieren. Dabei bediente er sich sogenannter niedrig inferenter Kodierungen und hoch inferenter Schätzverfahren. Während man mit niedrig inferenten Kodes beispielsweise die zeitliche Dauer und Auftretenshäufigkeit bestimmter Unterrichtsereignisse und Verhaltensweisen erfassen kann, dienen hoch inferente Schätz-
6 Monika Waldis u. a.: Die Erfassung von Sichtstrukturen und Qualitätsmerkmalen im Geschichtsunterricht: Methodologische Überlegungen am Beispiel der Videostudie »Geschichte und Politik im Unterricht«. In: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006, S. 155 – 188, sowie Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht: Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009; zum Gebrauch von Videos in der geschichtsdidaktischen Forschung sieh auch: Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte; Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 2). 7 Der Vermutung Wolfgang Hasbergs, dass die »[…] Unterrichtswirklichkeit […] als komplexes Interaktionsgefüge kaum analytisch zu sezieren sei […]«, sieh Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Geschichtsunterricht, Bd. 1. Neuried 2001, S. 39, kann zwar nicht gänzlich widersprochen, sie muss aber angesichts der Vielzahl an technischen Neuerungen im Bereich der Videografie und den sich damit eröffnenden analytischen Möglichkeiten überdacht werden.
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verfahren u. a. dazu, die Klarheit und Strukturiertheit der Darstellung bei den Lehrerpräsentationen zu bewerten. Im Folgenden möchten wir quantitative Verfahren, die die hier erwähnten niedrig inferenten Kodierungen verwenden – eingesetzt z. B. auch bei TIMSS (»Trends in International Mathematics and Science Study«), der seit 1995 in vierjährigem Turnus durchgeführten quantitativen Analyse von naturkundlichem Unterricht – ausklammern und uns auf Auswertungsmethoden fokussieren, die dem Paradigma qualitativer Forschung zuzuordnen sind. Dabei werden die zumindest im deutschsprachigen Raum8 wohl prominentesten Ansätze zur Auswertung von Videodaten vorgestellt: die Ansätze von Jo Reichertz und Carina Jasmin Englert, Ralf Bohnsack, Bernt Schnettler und H. Knoblauch sowie J. Dinkelaker und M. Herrle. Diese werden zudem in Bezug auf unsere Forschungsinteressen beziehungsweise geschichtsdidaktische Forschungsinteressen im Allgemeinen diskutiert werden. J. Reichertz und C. Englert legten 2011 eine »Einführung in die qualitative Videoanalyse: Eine hermeneutisch-wissenssoziologische Fallanalyse« vor. Allerdings beziehen sie sich in ihren Ausführungen nicht auf Videos, die zum Zwecke der Wissenschaft entstanden sind, wie es ja bei gefilmten Unterrichtsstunden der Fall ist, sondern auf professionell erstelltes Material, wie Fernsehsendungen. So ist auch zu erklären, dass im Fokus ihrer Analyse nicht das zu sehende Bild, sondern die Kamera steht. Die Kamera wird nach J. Reichertz und C. Englert »als soziales System von Akteuren, die mit bestimmten sozialen Praktiken der filmischen Darstellung versuchen, auf die Mediennutzer einzuwirken«9, begriffen. Daher müssen wir uns nun schon nicht mehr weiter mit dem von J. Reichertz und C. Englert beschriebenen Vorgehen befassen, da das für uns relevante Videomaterial – gefilmte Unterrichtsstunden – grundlegend von dem hier behandelten abweicht. Ziel ist es eben nicht, professionelles Filmmaterial zu analysieren, sondern das von WissenschaftlerInnen gefilmte und aufgezeichnete unterrichtliche Handeln, das zwar auch ohne das Filmen stattgefunden hätte, wobei das Datenmaterial aber ausschließlich aus wissenschaftlichem Interesse erhoben worden ist. Dabei interessiert in keiner Weise das Handeln der Kamera, sondern das Handeln vor der Kamera, also der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte. Daran anschließend soll die dokumentarische Methode nach R. Bohnsack in Bezug auf Videodaten erörtert werden. Auch R. Bohnsack10 bezieht sich bei
8 Für einen Überblick der angloamerikanischen Forschungen im Feld der Videografie: Ricki Goldman u. a. (Hrsg.): Video Research in the Learning Sciences. New York 2009. 9 Jo Reichertz/Carina Jasmin Englert: Einführung in die qualitative Videoanalyse: Eine hermeneutisch-wissenssoziologische Fallanalyse. Wiesbaden 2011, S. 11. 10 Ralf Bohnsack: Zugänge zur Eigenlogik des Visuellen und die dokumentarische Videoin-
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seiner Darstellung der Analyse von Videodaten auf professionell erstelltes Material und nimmt eine Unterscheidung zwischen abgebildeten und abbildenden Bildproduzenten vor. Dennoch bietet die dokumentarische Methode als solche auch für die Ziele unterrichtlicher Lehr-Lern-Forschung interessante Anknüpfungspunkte, wie beispielsweise an den Arbeiten von Barbara Asbrand mit Kolleginnen und Kollegen deutlich wird. Die dokumentarische Methode unterscheidet prinzipiell zwei Sinn- beziehungsweise Wissensebenen: den immanenten und den Dokumentsinn. Methodologisch wird dem immanenten Sinn durch die formulierende Interpretation begegnet. Die forschungsleitenden Fragen betreffen die Ebene des »Was«. Dem Dokumentsinn wird methodologisch durch die reflektierende Interpretation begegnet. Die forschungsleitenden Fragen betreffen die Ebene des »Wie«. R. Bohnsack selbst interessieren hier Fragen wie: »Wie ist das Video formal gestaltet?«, »Wie wirken die Personen vor und hinter der Kamera zusammen?« Wie allerdings bei den Arbeiten von B. Asbrand u. a. zu sehen ist, muss sich diese reflektierende Analyse nicht zwangsläufig auf die von R. Bohnsack ins Feld geführte Frage der Bildkomposition beziehen, sondern kann sich auch mit den vor der Kamera handelnden Akteurinnen und Akteuren, also in unserem Fall den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften, befassen. An dieser Stelle bleibt also festzuhalten, dass die dokumentarische Methode auch auf zu wissenschaftlichen Zwecken entstandene Videos anzuwenden ist, auch wenn dies von R. Bohnsack selbst – irritierenderweise – nicht so sehr im Mittelpunkt seines Interesses steht. In einem eher ethnografisch orientierten Forschungsfeld lässt sich die sogenannte Video-Interaktions-Analyse von H. Knoblauch und Bernt Schnettler11 verorten. Ein typischer Gegenstand der genannten Analyse sind aufgezeichnete Interaktionen, wobei H. Knoblauch auch darauf hinweist, dass die Forschenden sich der »Praxis der Erstellung von Daten«12 bewusst werden müssen und es zwischen natürlichen und konstruierten Daten zu differenzieren gilt. Wesentlich ist dabei das Verhältnis des Forschers zu der aufgezeichneten Situation, was von experimentellen Szenarien in Videolabors über Hochzeitsvideos bis hin zu – und so benennt es H. Knoblauch – wissenschaftlich aufgezeichneten natürlichen sozialen Situationen geht. Letztere sind für unseren Kontext von Interesse. Im Gegensatz zur Konversationsanalyse orientiert sich die Video-Interaktions-Analyse nicht allein an Sprache. So wird sowohl Visuelles in die Analyse terpretation. In: Michael Corsten/Melanie Krug/Christine Moritz (Hrsg.): Videographie praktizieren. Wiesbaden 2010, S. 271 – 294. 11 Hubert Knoblauch/Bernt Schnettler: Videographie. Erhebung und Analyse qualitativer Videodaten. In: Renate Buber/Hartmut Holzmüller (Hrsg.): Qualitative Marktforschung. Theorie, Methode, Analysen. Wiesbaden 2007, S. 583 – 599. 12 Hubert Knoblauch: Die Video-Interaktions-Analyse. In: Sozialer Sinn 1 (2004), S. 123 – 138, hier S. 126.
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einbezogen als auch werden ethnografische Verfahren verwendet, in denen Wissensbestände und Kontextwissen erhoben werden. Die Video-InteraktionsAnalyse ist ein hermeneutisches Verfahren – es beschränkt sich nicht auf eine Beschreibung beobachtbaren Verhaltens, sondern interpretiert Handlungsmuster der interagierenden Forschungspartner und -partnerinnen. In der hermeneutischen Sequenzanalyse werden die zuvor bestimmten Sequenzen »frame by frame« auf verschiedene Lesarten hin gedeutet und einer Feinanalyse unterzogen. Mit dem Titel »Erziehungswissenschaftliche Videographie« erschien 2009 ein Einführungsband von J. Dinkelaker und M. Herrle,13 in welchem pädagogische Aspekte und Forschungsinhalte in den Fokus videogestützter Beobachtungen gestellt werden. Von Interesse sind hier v. a. die zugrundeliegenden Prozesse und Handlungsmuster von Lehr-Lern-Situationen, weshalb gerade auch didaktische Fragestellungen mit diesem Zugang beantwortet werden können. J. Dinkelaker und M. Herrle stellen vier Arten möglichen Vorgehens bei der Analyse14 vor, die der Gleichzeitigkeit von sequentiellen und simultanen Sinnstrukturen von Videodaten gerecht werden sollen. Im Folgenden werden die Verfahren kurz umrissen: – In der Segmentierungsanalyse soll ein Überblick beziehungsweise eine Gliederung über den sequentiellen Verlauf der Videoeinheit erstellt werden, z. B. Einstiegsphase, Auswertung früherer Stunde, Überleitung, Schülergespräch. – Die Konfigurationsanalyse dient der Überblicksdarstellung von simultanen Raumordnungen eines ausgewählten Moments der genannten Videoeinheit – Welche Ordnung wird im Raum durch die Anwesenheit von Objekten und Personen erzeugt? Hier stehen z. B. die Fragen im Fokus: Wie ist der Klassenraum organisiert? Wo steht die Lehrerin beziehungsweise der Lehrer? Wie sitzen die Schülerinnen und Schüler im Klassenraum? – Die sinnhafte Struktur von Interaktionssequenzen soll anhand der Sequenzanalyse deutlich werden, d. h. welche Verkettungslogiken von Äußerungen werden wirksam? – Als viertes Analyseverfahren nennen Dinkelaker und Herrle die Konstellationsanalyse, bei welcher nach der Bedeutung eines Raumelements im Verhältnis zu anderen Raumelementen gefragt wird. Die genannten Verfahren seien in Kombination miteinander zu verwenden. Um einen Überblick der (beispielsweise) Unterrichtseinheit zu gewinnen, sollte die Segmentierungs- und Konfigurationsanalyse eingesetzt werden. Spezifische, je nach Fragestellung gewählte, Ausschnitte des Materials 13 Dinkelaker/Herrle (Anm. 4). 14 Ebd., S. 64 – 106.
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könnten dann anschließend per Sequenz-, Konstellations- und Konfigurationsanalyse untersucht werden. Die erziehungswissenschaftliche Videografie stellt für die (geschichts-)didaktische Forschung ein Verfahren dar, welches, unserer Ansicht nach, der bereits beschriebenen Komplexität des Videomaterials angemessen Rechnung trägt. Durch die Berücksichtigung simultaner und sequentieller Gleichzeitigkeit als Chance und Herausforderung videogestützter Beobachtungen bieten J. Dinkelaker und M. Herrle eine vielversprechende Möglichkeit der Analyse unterrichtlichen Handelns. Zum Abschluss der bisher getätigten Überlegungen zu Aufbau und Selbstverständnis der Forschung lässt sich im Hinblick auf W. Hasbergs Betrachtungen in diesem Band die Anschlussfähigkeit unseres Ansatzes für eine zukunftsfähige Fachdidaktik an mindestens folgenden Stellen postulieren: 1. untersuchen wir eindeutig Prozesse des fachlichen Lernens, die Lerngelegenheiten und -bedürftigkeiten sowohl aus der Lebenspraxis wie aus fachsystematischen Zusammenhängen ermittelt und für sich in Anspruch nimmt, durch Befassung mit der Geschichte eine Orientierung der und in der Gegenwart zu erwirken. 2. bedienen wir uns begrifflicher beziehungsweise symbolisch verallgemeinerter (»Interkulturalität«) wie vor allem untersuchungsmethodischer Angebote aus benachbarten oder in der Empirie vorbildlichen Disziplinen, deren »geschichtsdidaktische Fertilität« (W. Hasberg) belegt wird. Im Sinne des Paradigma-Konzeptes von Thomas S. Kuhn steuern allgemeine Werte (z. B. die Notwendigkeit einer inklusiven Gesellschaft) unseren Erkenntnisprozess. Das geforderte Bekenntnis zu einer gemeinsamen (»bindenden«) Auffassung von geschichtsdidaktischer Forschung bedeutet für uns, historisches Erzählen als jedermann (nicht nur Schülerinnen und Schülern) zustehende Praxis der unbedingten Kulturteilhabe zu sehen und Geschichtslernen damit als ein methodisch kontrolliertes demokratisches Prinzip zu definieren.
4.
Erfahrungen aus dem Feld
Im Folgenden sollen nun die bereits vorgestellten methodischen und methodologischen Überlegungen konkret auf das Forschungsprojekt »Vielfalt, Identität, Erzählung« übertragen werden. Hierfür wurde je untersuchter Schulklasse jeweils eine (meist) 90-minütige Unterrichtsstunde im Fach Geschichte (beziehungsweise Gesellschaftslehre) mithilfe von Videokameras digital aufgezeichnet. Um das Unterrichtsgeschehen auch im Nachhinein möglichst gut nachvollziehen zu können, wurde in jeder der vier Ecken des Klassenraums eine
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Kamera aufgestellt, um die jeweilige Stunde aus vier Perspektiven aufzeichnen zu können. Um noch größere als die ohnehin schon vorhandenen reaktiven Effekte zu vermeiden, wurden keine Handkameras eingesetzt, wie es in der filmgestützten ethnografischen Unterrichtsforschung sonst oft verbreitet ist. Die Kameras standen hingegen fest auf Stativen und wurden während des Unterrichts nicht bewegt. Alle Schülerinnen und Schüler mussten vorab eine Einverständniserklärung für die Teilnahme am Projekt von ihren Eltern unterschreiben lassen. Kinder, die diese nicht hatten, verließen während der Aufzeichnung entweder den Klassenraum oder wurden innerhalb der Klasse so umgesetzt, dass sie auf der Aufnahme nicht zu sehen sind. Die Schülerinnen und Schüler wurden meist durch die Lehrkraft auf die Aufzeichnung der Stunde per Video vorbereitet, dennoch zog der Aufbau der Kameras die Aufmerksamkeit der Kinder vor Unterrichtsbeginn auf sich. Sie schauten z. B., was die Kameras aufnehmen, winkten hinein, machten Scherze oder äußerten Unsicherheit, ob sie nun auf YouTube, facebook oder RTL gezeigt würden. Bevor der Unterricht richtig losgehen konnte, wurde das Projekt in den meisten Fällen kurz vorgestellt. Während des Unterrichtsgeschehens beachteten die Schülerinnen und Schüler die Kameras jedoch größtenteils nicht mehr. Auf Nachfrage versicherten uns die Lehrkräfte im Anschluss an die Videoaufzeichnung meist, dass es sich um eine ganz »normale« Stunde gehandelt habe. Manche merkten jedoch auch an, dass die Schülerinnen und Schüler zurückhaltender waren als sonst. Nachdem das praktische Vorgehen erläutert wurde, soll konkret auf ein Beispiel aus dem gefilmten Videomaterial (n=20 Unterrichtsstunden) genauer vorgestellt und analysiert werden. Vorab kann jedoch ganz allgemein festgestellt werden, dass in dem Material eine Fülle verschiedener Arten und Weisen, Geschichtsunterricht zu gestalten, gezeigt werden. Es konnten deutliche Unterschiede in der gewählten Sozialform, dem Verhältnis der aktiven Anteile am Unterricht der Lehrkraft sowie der Schülerinnen und Schüler und dem Einsatz von Medien beobachtet werden, um nur einige Unterschiede zu nennen. In Bezug auf unser primäres Forschungsinteresse, dem interkulturellen Lernen im Geschichtsunterricht, ist festzustellen, dass in der Mehrzahl der beobachteten Stunden interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I auf den ersten Blick keine beziehungsweise kaum eine Rolle spielt. Bei näherem Hinsehen finden sich in einigen Stunden aber auch interessante Elemente. Zu exemplarischen Zwecken sei hier nun ein Ausschnitt einer gefilmten Geschichtsstunde eines Braunschweiger Gymnasiums vorgestellt. Hierfür nutzen
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wir Auszüge aus einem von unserer wissenschaftlichen Hilfskraft15 erstellten Protokoll der Unterrichtsbeobachtungen.
Auszug Unterrichtsprotokoll (inkl. interpretativer Kommentare) #00:01:57 – 7# Der Lehrer schreibt einen Satz an die Tafel: »Columbus ist der Entdecker Amerikas.« #00:02:41 – 1# Der Lehrer fordert die Schülerinnen und Schüler auf, den Satz an der Tafel zu betrachten, um in das Thema »wieder reinzukommen«.
Aus Sicht der »postcolonial studies« ist der Satz »Columbus ist der Entdecker Amerikas« eine typisch neokolonialistisch-eurozentristische Weise, Wissen zu produzieren, durch das Macht über »das Fremde« geschaffen und Eroberung legitimiert wurde und nachträglich legitimiert wird. #00:03:03 – 1# Schüler : »Also, Columbus ist der Entdecker Amerikas, das heißt, also, er hat ja früher Amerika entdeckt, per Zufall, glaub’ ich, und, ähm, weil er eine andere Route nach Indien finden wollte, ähm, weil die andere, glaub ich, von zu hohen Steuern oder so betroffen war, glaub ich. Bin mir jetzt nicht mehr ganz so sicher. Ja, und deswegen hat er das halt aus Zufall entdeckt und hat die, äh, die (?) Indianer oder genannt, weiß nicht, was (?).« #00:03:30 – 5# Schülerin: »Äh, also er ist nach Westen gefahren, um zu schauen, äh, ob er dann in Asienland …, äh, landet, also, ob er dann nach Asien halt kommt, weil, dann wüsste er, dass, äh, die Kugel, also er (?) etwas entdecken und weil er einen anderen Weg rausfinden wollte als, äh, den anderen, weil, dann muss man um Afrika und das ist viel aufwendiger.« #00:03:52 – 7# Schüler : »Ja, er dachte, als er da gelandet ist, also in Amerika, dass das Asien wär’, also, Indien. Und deshalb nannte er die Einwohner, äh, Indianer.«
Die Schülerinnen und Schüler erkennen den Satz an der Tafel als Faktum an und versuchen, ihre Wissensbestände über Columbus und die Entdeckung Nordamerikas zusammenzutragen und diesem Satz anzupassen. Ein Schüler schreibt Columbus gar die wirtschaftliche Nutzbarmachung Amerikas zu. Gerade dieser ökonomische Aspekt ist eine vorherrschende neokoloniale Sichtweise. »Ungenutztes Land« ökonomisch nutzbar zu machen, sei demnach ein sinnvolles 15 An dieser Stelle gilt unser Dank Herrn Simon Goebel, welcher nicht nur die Protokollierung des videografierten Unterrichts, sondern auch erste ergiebige Interpretationsvorschläge zu dem Projekt beisteuerte, die auch in die interpretative Kommentierung des im nächsten Abschnitt wiedergegebenen Auszugs eingeflossen sind.
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Vorgehen. Der Zusammenhang zwischen (Neo-)Kolonialismus und Kapitalismus wird hier angedeutet. #00:05:06 – 4# Der Lehrer geht an die Tafel und setzt das Wort »Entdecker« in Anführungszeichen. Dann sagt er : »In jedem Schulbuch, in jeder wissenschaftlichen Literatur zu dem Thema, wird dieser Satz mittlerweile so geschrieben.« (zeigt an die Tafel). »Was hat sich denn verändert?«
Nun wird die didaktische Vorgehensweise des Lehrers ersichtlich. Er möchte zum einen die vorhandenen Wissensbestände abrufen und lässt die Schülerinnen und Schüler hierbei das Wissen neu organisieren. Indem das Wort »Entdecker« in Anführungszeichen gesetzt wird, kann sich die Perspektive von Europa weg verschieben. Die Schülerinnen und Schüler werden sich so möglicherweise ihrer eurozentrischen Sicht gewahr. #00:05:29 – 4# Schülerin: »Ähm, ich, also, ich dachte g’rad, ähm, weil, er wollte ja eigentlich nich’ Amerika entdecken und, … ich weiß nicht.« #00:05:38 – 2# Lehrer: »Ja, aber er hat’s doch entdeckt, oder?« #00:05:40 – 1# Dieselbe Schülerin: »Ja, ja, hat er, aber er wollte eigentlich Indi …, so nach Indien, aber er hat ja dann Amerika entdeckt und dachte aber, es wär’ ja Indien, deswegen.« #00:05:50 – 2# Schülerin: »Ich glaub’ da haben ja auch schon andere Menschen gewohnt« (Lehrer zeigt zustimmend auf die Sprechende) »und, ähm, die, also, also, er hat das ja nicht entdeckt, sondern eher für, ähm, die Menschen, die dort lebten, von denen er kam, hat er entdeckt. Eigentlich hatten es ja vorher schon andere Menschen entdeckt und gewohnt.« #00:06:06 – 2# Lehrer: »Sehr schön. Können wir mal in der Spur weitergehen?«
Eine Schülerin kommt auf die richtige »Spur«. Es lebten bereits Menschen in Amerika. Der Lehrer macht durch seine zustimmende Gestik und seine Zustimmung deutlich, dass er hierauf hinaus will. Die Aussage der Schülerin bleibt jedoch unkonkret, indem sie lediglich von »anderen Menschen« spricht. #00:07:04 – 1# Lehrer: »Gut. Woll’n wir mal in dieser Spur weitergehen, damit wir vorankommen. Ähm, da haben schon Leute gelebt. Was wisst ihr denn über die Leute, die da schon gelebt haben und die eigentlich Amerika entdeckt haben?« #00:07:19 – 2# Schülerin: »Also, ich würd’ sagen, wenn wir irgend so einen Satz lesen würden, wer hat Deutschland entdeckt, (?) aus Amerika oder so, dann würden wir denken: ›Wir haben’s ja viel früher schon erkundet, weil wir hier viel früher gelebt haben.‹«
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Diese Schülerin dreht die Perspektive um und zeigt damit, dass der Satz an der Tafel ein Konfliktpotenzial um die Deutungshoheit von Geschichte und um kulturelle Identitäten birgt. #00:07:29 – 6# Lehrer: »Mal so ’n kleines Brainstorming über diejenigen – was ihr immer wisst darüber, mir egal – ähm, so Brainstorming artig über die, die eigentlich schon in Amerika gelebt haben.« #00:07:41 – 7# Schüler : »Ja, also, ich ich wollt’ nur sagen, dass er ja nur Entdecker für Europa war, weil, andere Kulturen kannten ja Amerika.« #00:07:49 – 0# Lehrer: »Gut, dann erzählt mir jetzt mal ein bisschen was über die Leute, die da schon gelebt haben.« #00:07:52 – 1# Derselbe Schüler : »Das waren Ureinwohner.« #00:07:53 – 2# Schüler : »Also, es gab einige Völker, also (?) Küsten waren die Azteken und die Inka. Also, es gab zwei Reiche: die Azteken und Inkareich. Die haben, also, die waren sehr hoch kulturi …, also, sie hatten sehr hohe Kultur. (Lehrer dazwischen: »Schön, ja.«) Sie hatten noch ’ne Religion und sie haben auch, (?) so ähnlich wie ’ne Pyramide gebaut, so ’ne ähnlichen Glauben wie die Ägypter.«
Der Schüler thematisiert nun das, worauf der Lehrer hinaus will. Er benennt eine mittel- und eine südamerikanische Kultur. Außerdem beschreibt der Schüler diese Kulturen als Hochkulturen, was der Lehrer bestätigt. Der Schüler erwähnt die Aspekte der Religion und des Pyramidenbaus, um einen Beleg für die Bewertung »Hochkultur« zu liefern. Dass der Begriff »Hochkultur« selbst Teil des europäischen Fortschrittsdenkens ist, das die »europäische Kultur« als Maßstab nimmt, ist offenbar weder dem Schüler noch (wie der weitere Verlauf zeigen wird) dem Lehrer ersichtlich. Anhand dieses kurzen Beispiels kann gezeigt werden, dass es durchaus sehr einfache Möglichkeiten gibt, interkulturelles Lernen – hier im Sinne von Perspektivwechsel und der Abwendung einer eurozentrischen Sichtweise verstanden – im Geschichtsunterricht umzusetzen. Es reichen zwei Anführungszeichen, um den Schülerinnen und Schülern aufzuzeigen, welche Schwierigkeiten mit der Figur des Columbus als »Entdeckers« Amerikas verbunden sind, um ihnen ihre eigene europäische Perspektive aufzuzeigen. Darüber hinaus kann anhand dieses Beispiels aufgezeigt werden, welche Vorteile das Videografieren von Unterrichtsstunden für die geschichtsdidaktische Forschung gegenüber Befragungen und reinen nicht videogestützten Beobachtungen hat. Während Befragungen immer nur nach oder vor dem eigentlichen Unterrichtsgeschehen stattfinden, demnach also entweder erlebte
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Unterrichtsgeschehnisse als Erinnerung geschildert werden oder Stundenplanungen als Absichtserklärungen erfasst werden, hält die Videografie das Geschehen während der Geschichtsstunde fest. Es zeigt das Handeln der Lehrkraft sowie der Schülerinnen und Schüler.16 Neben nicht videogestützten Beobachtungen lässt sich in jedem Fall die Reproduzierbarkeit des Materials als großer Vorteil hervorheben. So mag eventuell auch Beobachterinnen und Beobachtern in der geschilderten Situation aufgefallen sein, dass es sich hierbei um eine interkulturell relevante Situation handelt, allerdings lassen sich die konkreten Konversationsstrukturen der Unterrichtsstunde durch das wiederholte Ansehen des Videomaterials viel besser nachvollziehen, als es in der reinen einmaligen Beobachtung möglich gewesen wäre. Neben den aufgezeigten Vorteilen lassen sich natürlich auch Schwierigkeiten und Herausforderungen in Bezug auf die Arbeit mit der Videografie erkennen. Auf diese wird im folgenden Abschnitt eingegangen.
5.
Schwierigkeiten und Herausforderungen der Videografie
Abschließend soll schlaglichtartig auf einige Herausforderungen in Bezug auf die Arbeit mit Videodaten eingegangen werden. Diese betreffen die Teilnahmebereitschaft von Forschungspartnerinnen und -partnern und, damit verbunden, auch Fragen der Anonymisierung der Daten, das Verhältnis von Reaktivität und Authentizität sowie Fragen der Datenaufbereitung (Transkription). So berichten Forscherinnen und Forscher – insbesondere im schulischen Kontext – häufig von einer großen Skepsis auf Seiten der Forschungspartnerinnen und -partner bezüglich des Feldzugangs per Videokamera. Diese ablehnende Haltung ist auch oft nicht zu ändern, und sie wirkt sich natürlich auch auf die Zusammensetzung von Stichproben aus, was, solange es offengelegt und reflektiert wird, nicht zwangsläufig problematisch sein muss. Allerdings verweist diese Haltung der Forschungspartnerinnen und -partner darauf, dass eine besondere Sorgfaltspflicht im Umgang mit den erhobenen Daten besteht. Das Recht an personenbezogenen Bilddaten mag hier gegen die Freiheit der Forschung abgewogen werden, dennoch ist aus forschungsethischen Gründen unseres Erachtens ein für alle Seiten befriedigendes Verfahren der Datenanonymisierung zu wählen. Dieses kann von der Verfremdung der Daten über Nachzeichnungen des Gesehenen bis hin zur Anfertigung von Protokollen oder Fallvignetten reichen. 16 So kann ganz praktisch gezeigt werden, dass entgegen W. Hasbergs »Zweifel an der Effizienz zeit- und kraftaufwendiger Analysen«, vgl. Hasberg (Anm. 7), S. 39, der Erkenntnisgewinn dank videografischer Unterrichtsforschung durchaus hoch sein kann.
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In Bezug auf die Reaktivität eines videografischen Vorgehens ist an erster Stelle natürlich festzustellen, dass die technische Ausrüstung gerade im Rahmen einer Schulklasse ein Fremdkörper ist und auch als solcher wahrgenommen wird. Allerdings ist in den meisten Fällen ein zeitlicher Verlauf festzustellen: Während gerade zu Beginn der Aufzeichnung die Kameras (und evtl. weitere Technik) noch sehr präsent sind, lässt das Interesse der Forschungspartnerinnen und -partner im Laufe der Erhebung immer mehr nach und scheint schließlich keine Rolle mehr zu spielen. Als zusätzlicher Beleg für diese Beobachtung kann die Äußerung eines Schülers während einer Gruppendiskussion dienen: »Also, also am Anfang, als wir reingekommen sind, haben wir uns irgendwie so gewundert, aber wir wussten ja schon Bescheid, aber wir wussten nicht, wann das ist. Und da waren wir, ähm, am Anfang so’n bisschen überrascht. Und am Anfang, ähm, fanden wir es schon etwas so neu, äh, irgendwie neu, aber dann, ähm, haben wir die eigentlich gar nicht so bemerkt.«
J. Dinkelaker und M. Herrle führen dies darauf zurück, dass die Eigendynamik des Interaktionsgeschehens es den Beteiligten nicht erlaube, sich dauerhaft auf die stummen Beobachter zu konzentrieren.17 Auf der anderen Seite können auch der Umgang mit der neuen Situation und mögliche Irritationen analysiert werden und Besonderheiten des Feldes zum Ausdruck bringen. Hier ist dann natürlich auch die Dauer des Feldaufenthaltes zu berücksichtigen. Ein weiterer, in letzter Zeit viel diskutierter Aspekt im Kontext videografischer Forschung betrifft die Frage der Handhabbarmachung. Wie können Videodaten aufbereitet werden, welche Transkriptionsmöglichkeiten existieren analog zu Verbaldaten, und sind diese überhaupt sinnvoll? Das muss von Fall zu Fall entschieden werden. Neuere Partiturschreibweisen bieten hier möglicherweise interessante Anknüpfungspunkte, in vielen Fällen mögen jedoch die oben schon erwähnten Fallvignetten ausreichen.
6.
Resümee
Unser Anliegen war es, nach einer allgemeinen Einführung in Methode und Methodologie der Videografie, aufzuzeigen, wie diese für die Erforschung geschichtsdidaktischer Fragestellungen nutzbar gemacht werden kann. Anhand des Forschungsprojektes »Vielfalt, Identität, Erzählung« und der exemplarischen Analyse einer kurzen Unterrichtssequenz wurden die Relevanz und der Mehrwert gegenüber anderen Methoden diskutiert.
17 Vgl. Dinkelaker/Herrle (Anm. 4), S. 27.
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Abschließend kann festgestellt werden, dass die videografische Forschung im Feld der Geschichtsdidaktik zwar momentan noch »in den Kinderschuhen steckt«, aber vielfältige Potenziale bietet. Somit ist ein weiterer Einsatz videografisch gestützter Forschungsvorhaben mehr als wünschenswert. Dabei ist auch die Rolle von Videodaten für die Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung mitzudenken.
Literatur Ralf Bohnsack: Zugänge zur Eigenlogik des Visuellen und die dokumentarische Videointerpretation. In: Michael Corsten/Melanie Krug/Chrstine Moritz (Hrsg.): Videographie praktizieren. Wiesbaden 2010, S. 271 – 294. Jörg Dinkelaker/Matthias Herrle: Erziehungswissenschaftliche Videographie: Eine Einführung. Wiesbaden 2009. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht: Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009. Ricki Goldman u. a. (Hrsg.): Video Research in the Learning Sciences. New York 2009. Stefan Hampl: Videos interpretieren und darstellen. Die dokumentarische Methode. In: Michael Corsten/Melanie Krug/Christine Moritz (Hrsg.): Videographie praktizieren. Wiesbaden 2010, S. 53 – 88. Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Geschichtsunterricht, Bd. 1. Neuried 2001, S. 39. Eckhard Klieme/Claudia Thußbas: Kontextbedingungen und Verständigungsprozesse im Geometrieunterricht: Eine Fallstudie. In: Stefan von Aufschnaiter/Manuela Welzel (Hrsg.): Nutzung von Videodaten zur Untersuchung von Lehr-Lern-Prozessen. Aktuelle Methoden empirischer pädagogischer Forschung. Münster 2001, S. 41 – 59. Hubert Knoblauch: Die Video-Interaktions-Analyse. In: Sozialer Sinn (2004), H. 1, S. 123 – 138. Hubert Knoblauch: Videography, Focused Ethnography and Video Analysis. In: Hubert Knoblauch u. a. (Hrsg.): Video Analysis: Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology. Frankfurt a. M. 2006, S. 69 – 83. Hubert Knoblauch/Bernt Schnettler : Videographie. Erhebung und Analyse qualitativer Videodaten. In: Renate Buber/Hartmut Holzmüller (Hrsg.): Qualitative Marktforschung. Theorie, Methode, Analysen. Wiesbaden 2007, S. 583 – 599. Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte; Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 2) Jo Reichertz/Carina Jasmin Englert: Einführung in die qualitative Videoanalyse: Eine hermeneutisch-wissenssoziologische Fallanalyse. Wiesbaden 2011. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Empfehlung »Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule« o. O. 1996. Monika Wagner-Willi: On the multidimensional Analysis of Video-Data. Documentary
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Interpretation of Interaction in Schools. In: Hubert Knoblauch u. a. (Hrsg.): Video Analysis: Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology. Frankfurt a. M. 2006, S. 143 – 153. Monika Waldis u. a.: Die Erfassung von Sichtstrukturen und Qualitätsmerkmalen im Geschichtsunterricht: Methodologische Überlegungen am Beispiel der Videostudie »Geschichte und Politik im Unterricht«. In: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006, S. 155 – 188.
Robert Dittrich
Historische Bildung? – Von der »Renaissance« des Bildungsbegriffs und seiner Relevanz für die geschichtsdidaktische Forschung
Kein Zweifel, das Wort »Bildung« ist abgenutzt. Es wird zu häufig, zu großzügig und zu unscharf verwendet. Leicht greift man zu hoch oder zu niedrig. Joachim Rohlfes1
»Bildung«2 – seit nunmehr zehn Jahren erlebt dieser Begriff in der deutschen Bildungslandschaft eine weithin offensichtliche »Renaissance«. Diese hat maß1 Joachim Rohlfes: Was heißt historisch gebildet sein? In: GWU 11 (1960), S. 453 – 466, hier S. 453. 2 Vgl. dazu klassisch Wilhelm von Humboldt: Idee zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In: Andreas Flitner u. a. (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Werke in 5 Bänden, Bd. 1. Stuttgart 1960, hier S. 64: »Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« Zur Einordnung Hans–Jochen Gamm: Allgemeine Pädagogik. Die Grundlagen von Erziehung und Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 75: »Die großen programmatischen Entwürfe der Französischen Revolution sublimieren sich zur Bildungstheorie, indem an die Stelle des gewaltsamen Umsturzes nun die Arbeit an der Durchsetzung der geschichtlichen Vernunft und des Geists und an der Verknüpfung von Humanismus und Humanität tritt.« Den Niedergang dieses Ideals skizzierte Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. In: Rolf Tiedemann (Hrsg.) Theodor Wiesengrund Adorno: Soziologische Schriften 1. Gesammelte Schriften, Bd. 8. Frankfurt a. M. 1972, hier S. 93: »Nach Genesis und Sinn geht sie (die Halbbildung, R. D.) nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie.« Den historischen Kontext dazu beleuchtet Hans Ulrich Musolff: Bildung. Der klassische Begriff und sein Wandel in der Bildungsreform der sechziger Jahre. Weinheim 1989. Erneuerungsversuche regt der berühmteste Weniger-Schüler, Wolfgang Klafki, mit seinen ständig erweiterten Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 1. Aufl. 1985, 6. neu ausgestattete Aufl. Weinheim 2007 an. Vgl. auch Michael Naumann: »Bildung« – ein deutsche Utopie. In: Reinhard Fatke u. a. (Hrsg.): Bildung über die Lebenszeit. Wiesbaden 2006, S. 15 – 28. Apologetisch gegenüber dem seit den 1960er-Jahren erhobenen Vorwurf einer Verkettung von Nationalsozialismus und deutschem Bildungsideal und der damit verbundenen »Germanophobie« in weiten Teilen der deutschen Geisteswissenschaft: Manfred Fuhrmann: Über Bildung. Fragen an Manfred Fuhrmann. In: Forschung & Lehre 10 (2003), S. 530 f. Den wohl luzidesten Handbuchartikel zum Begriff »Bildung« lieferte: Sabine Andresen: In: Dieselbe u. a. (Hrsg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim 2009, S. 76 – 90, die grundsätzlich erklärt, dass »Bildung«
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geblich mit der Etablierung des Konzepts der »Bildungsstandards«3 zu tun, welches ab 2001 im Zuge der PISA-Reformen in Deutschland mit großem finanziellem Aufwand und kommissionarischem Verve implementiert wurde und dabei auch den Bildungsbegriff in allen seinen Spielarten wieder hoffähig werden ließ.4
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Historische Bildung – eine »Modevokabel« mit schwerer Vergangenheit
Dass diese begriffliche »Renaissance«5 auch auf den Forschungsdiskurs der Geschichtsdidaktik ausgriff, ist evident. So meinte Peter Schulz-Hageleit schon ein »fuzzy concept« (S. 76) sei, d. h. ein »Begriff mit unklaren Konturen, wenig abgegrenzt, kaum übersetz– und systematisierbar« und zu Recht einräumt, dass es »keine »überhistorisch-allgemeinverbindliche oder innerhistorisch-relativistische Antwort« (S. 79) auf die Frage nach Bildung gibt. 3 Dementsprechend konstatiert Michael Sauer : Editorial. In: GWU 11 (2008), S. 611, der Begriff »Bildungsstandard« könne »im Bildungsbereich ein ›Wort des Jahres‹« abgeben, aber zugleich auch »Favorit für das ›Unwort des Jahres‹« sein. Dabei folgt er dem Gesetz der Stärke, wenn er erklärt, Kritiker dieses Konzepts »(hätten) freilich politisch schlechten Stand«. Denn »Bildungsstandards, verbunden mit Kompetenzvorgaben«, hätten sich »mittlerweile allenthalben etabliert.« Hans-Jürgen Pandel: Bildungsstandard. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2006, S. 29 f., hier S. 30, räumt ein, dass »die im unüberlegten Reformeifer von Kultusbürokratien und Bildungsverwaltungen nach dem ›PISASchock‹ vorgelegten ›Bildungsstandards‹ oft hochgradig unprofessionell gemacht« worden seien. Die Antinomien des Kompositums »Bildungsstandard« reflektiert Jörg Schlömerkemper: »Standards« dürfen »Bildung« nicht ersetzen! In: Ders. (Hrsg.): Bildung und Standards. Zur Kritik der »Instandardsetzung« des deutschen Bildungswesens. Weinheim 2004, S. 5 – 10. Vgl. Ebd.: Wilfried Plöger : Bildungsstandards in bildungstheoretischer Sicht, S. 11 – 25. Zum Verhältnis der Konzepte »Kompetenz« und »Bildung« vgl. auch Jörg Schlömerkemper: Bildung und soziale Zukunft. Über die schwierige Differenz zwischen Bildung und Kompetenz. In: Die Deutsche Schule 96 (2004) H. 3, S. 262 – 267. 4 Als ökonomische Spielart des Bildungsbegriffs erscheinen die Überlegungen des Friedenspreisträgers des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Wolf Lepenies: Bildungspathos und Erziehungswirklichkeit. In: Norbert Kilius u. a. (Hrsg.): Die Bildung der Zukunft. Frankfurt a. M. 2003, S. 13 – 31. 5 Bislang war »Renaissance« eine im geschichtsdidaktischen Diskurs negativ konnotierte Metapher, die eine »reaktionäre« Bewegung bezeichnete. So erinnerte etwa Wolfgang Hasberg: Kirchengeschichte in Sekundarstufe I. Trier 1994, S. 303, mahnend an die »unverblümte Renaissance der bildungstheoretischen Didaktik« durch Hans Glöckel: Geschichtsunterricht. Didaktische Grundrisse. Bad Heilbrunn/Obb. 1973. Annette Kuhn: Geschichtsdidaktik seit 1968. In: Klaus Bergmann, Gerhard Schneider (Hrsg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1982. S. 415 – 443, hier S. 438 deutet ihrerseits die konservative »Tendenzwende« der späteren 1970er-Jahre als »Renaissance« einer »tiefen, meist irrationalen, in ihren Ursprüngen nicht reflektierten Sehnsucht nach historischen Vergewisserungen«. Synonym dazu wird neuerdings häufiger ein Zentralbegriff der Außenpolitik Amerikas im »Kalten Krieg« verwendet: »Roll-back«. Vgl. dazu erstmalig im geschichtsdidaktischen Dis-
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2004 eine neue Unbeschwertheit im Umgang mit dem Bildungsbegriff feststellen zu können.6 Von Bildung zu sprechen sei wieder salonfähig geworden. »Man darf heute wieder ›Bildung‹ einfordern, ohne sogleich prinzipiell kritisiert zu werden, sowohl in der Politik als auch in der Erziehungswissenschaft und Didaktik.« Dies sei bemerkenswert, denn der Begriff der Bildung »erfreute sich eine Zeit lang (nach der Studentenbewegung in den sechziger und siebziger Jahren) bei Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen keiner großen Wertschätzung.« Zu tun habe dies wiederum damit, dass die »›geisteswissenschaftliche Pädagogik‹ und die mit ihr verbundene ›Bildungstheorie‹ zwischen 1968 und 1975 heftig kritisiert und gleichzeitig euphorisch der neue Trend zu den empirisch gebundenen Sozialwissenschaften auch in der Erziehungswissenschaft gefeiert wurde.«7 Der angesprochenen »Renaissance« des Bildungsbegriffs in der Geschichtsdidaktik kommt vor diesem Hintergrund in erster Hinsicht eine disziplingeschichtliche Relevanz zu. Sie verweist auf ein Forschungsdesiderat, denn der bildungstheoretische Diskurs der Geschichtsdidaktik zwischen 1953 und 1968/ 70 harrt noch einer »minutiösen Aufarbeitung«.8 Als ein belastbareres Anzeichen für die neue »Salonfähigkeit« im Umgang mit dem Bildungsbegriff lässt sich die zunehmende geschichtsdidaktische Publikationstätigkeit zum Thema »Historische Bildung«9 auffassen. So erschienen
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kurs Gottfried Kößler : Roll-back. Der Hessische Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe II. In: Geschichtsdidaktik 9 (1984), S. 181 – 185. Im aktuellen Diskurs um interkulturelles Lernen wird »Roll-back« dazu verwendet, die Wiederkehr »nationaler« Inhaltskataloge zu problematisieren. So Andreas Körber : Theoretische Dimensionen des interkulturellen Geschichtslernens. In: Markus Ventzke u. a. (Hrsg.) Geschichte denken statt pauken in der Sekundarstufe II. Radebeul 2010, S. 26 – 48, hier S. 27. Der Schultheoretiker Jens Dreßler : Vom Sinn des Lernens an der Geschichte. Historische Bildung in schultheoretischer Sicht. Stuttgart 2012, S. 9 f., unterstellt weitgreifend ein allgemeines »Rollback-Gefühl« in der Geschichtsdidaktik als Symptom ihrer derzeitigen Verfasstheit. Er votiert für eine »neue« schultheoretische Ausrichtung der Geschichtsdidaktik und unterstellt dazu einen wenig nachvollziehbaren disziplingeschichtlichen Paradigmenwechsel, bei dem »was mal historisches oder geschichtliches Lernen, dann wieder geschichtliche oder historische Bildung genannt wurde […]« nunmehr wieder »[…] als Lernen an der Geschichte bezeichnet werden« soll. Die Implikationen der »lerntheoretischen Wende« der Geschichtsdidaktik in den 1970er-Jahren sind hier offensichtlich missverstanden worden. Peter Schulz-Hageleit: Geschichtsbewusstsein und Zukunftssorge. Herbolzheim 2004, S. 145. Ebd., S. 146. Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Unterricht. Bd. I. Neuried 2001, S. 339. Neben dem Begriff der »Historischen Bildung« wurde in der Vergangenheit auch die Formulierung »Geschichtliche Bildung« verwendet, um Entwicklungsprozesse von Welt- und Selbstverhältnissen durch, für und mit Geschichte zu bezeichnen. Das Verhältnis der beiden Begriffe ist immer noch ungeklärt. Plausibel erscheint es, analog zur etymologischen Unterscheidung von »Geschichte« und »Historie«, »Historischer Bildung« eine größere Nähe zur Fachwissenschaft zuzuschreiben, während »Geschichtliche Bildung« eher den ursprüngli-
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seit der Jahrtausendwende wieder Aufsätze, Sammelbände und Monografien,10 die sich mit diesem prestigeträchtigen Topos schmücken. Auch die »Zeitschrift cheren Lebensweltbezug geschichtlicher Beschäftigung betont. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 (Grundzüge einer Historik, Bd. 1), S. 41, erklärt demgegenüber, unter »der Bezeichnung ›historischer Bildung‹« können »all die Lernprozesse« angesprochen werden, »[…] in denen ›Geschichte‹ Thema ist und die nicht primär dem Erwerb der fachwissenschaftlichen Kompetenz dienen.« Zu den frühen Verwendungen des Begriffs vgl. Thomas Prüfer : Die Bildung der Geschichte: Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/ Wien 2002 (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 24), S. 338, der erklärt, dass schon Schiller »das wissenschaftlich orientierte Konzept einer forschenden Geschichtsschreibung« in die »Bestimmung und Bildung des Menschen« eingeschlossen habe. Zur synonymen Verwendung vgl. den wegweisenden Bildungstheoretiker Johann Friedrich Christian Campe: Geschichtliche Bildung und geschichtliches Wissen. In: Wilhelm Julius Carl Mützell (Hrsg.): Zeitschrift für das Gymnasialwesen 6 (1852) Bd. 2, S. 593 – 622, der nicht nur von geschichtlicher und historischer Bildung spricht, sondern den Grundstein für die Idee historischer De-konstruktion als Grundlage historischer Bildung gelegt hat: »Die historische Wissenschaft hat also die Aufgabe, diesen Reproduzirungs-Prozeß zu vollziehen, und die historische Bildung das Ziel, dem Jünger die Kraft zu geben, diesen Prozeß selbst vorzunehmen, und ihm Weg und Methode hierzu zu zeigen. Sie lehrt ihn, die fertige geschichtliche Tradition ihrer Elemente zu zerlegen, und die Composition derselben zu einem Ganzen zu erkennen« (S. 606), »Die geschichtliche Bildung nimmt diese (historischen, R. D.) Urtheile auf; Sie sucht aber daneben die Motive auf, auf denen dieses Urtheil ruht. Sie will den Jüngling dahin führen, dass er selber diese Urtheil fälle.« (S. 613). Vgl. auch Ders.: Historische Bildung und historisches Wissen. In: Ders.: Geschichte und Unterricht in der Geschichte. Abhandlungen. Leipzig 1859, S. 150 – 169. Eduard Meyer : Humanistische und geschichtliche Bildung. Berlin 1907, versucht »Geschichtliche Bildung« von Allgemeinbildung abzugrenzen und skizziert dabei schon die Entstehung einer »verflachenden Halbbildung«,(S. 15), die – wie später bei Th. W. Adorno – ihren Ursprung in der Produktion von Sekundärliteratur gefunden habe, ein Prozess, der, nach Eduard Meyer, schon in der Antike nachweisbar sei. Zur Begriffsverwendung vgl. auch Erich Weniger: Die Geschichtliche Bildung des Lehrers. In: Ders.: Die Grundlagen des Geschichtsunterrichts. Untersuchung zur geisteswissenschaftlichen Didaktik. Leipzig/Berlin 1926, S. 191 – 200. Vgl. auch Wolfgang Schlegel: Geschichtsbild und geschichtliche Bildung als volkspädagogische Aufgabe. Weinheim 1961. Ders.: Geschichtliche Bildung als Menschenbildung. Weinheim 1962. Sinnvoll ist es selbstverständlich, beide Begriffe synonym zu verwenden, um künstliche Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt zu vermeiden, die vor allem in der Vergangenheit aus standespolitischen Gründen gepflegt, erkenntnistheoretisch aber kaum zu rechtfertigen sind. 10 Vgl. den Essay Klaus Bergmanns: »So viel Geschichte wie heute war nie« – historische Bildung angesichts der Allgegenwart von Geschichte. In: Ders.: Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2000, S. 13 – 31. Vgl. dazu Ulrich Baumgärtner : Wissenschaftspropädeutik oder historische Bildung? Der Geschichtsunterricht am Gymnasium. In: Bernd Schönemann u. a. (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen. Idstein 2002, S. 230 – 242; Horst Gies: Historische Bildung als Kompetenzzuwachs. In: Ders.: Geschichtsunterricht: Ein Handbuch zur Unterrichtsplanung. Köln 2004, S. 79 – 81. Vgl. Ulrich Mayer : Qualitätsmerkmale historischer Bildung. Geschichtsdidaktische Kategorien als Kriterien zur Bestimmung und Sicherung der fachdidaktischen Qualität des historischen Lernens. In: Wilfried Hansmann/Timo Hoyer (Hrsg.): Zeitgeschichte und historische Bildung. Festschrift für Dietfried Krause-Vilmar.
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für Geschichtsdidaktik« verfolgte 2011 das Thema »Raumkonzeptionen in der historischen Bildung«.11 Besondere Aufmerksamkeit darf beanspruchen, dass die »Konferenz für Geschichtsdidaktik« 2010 – zum ersten Mal seit ihrem Bestehen – Historische Bildung neben Zeitgeschichte und Medien zu einen Kernthema ihrer Zweijahrestagung bestimmte.12 Wenngleich diese publizistische Virulenz dem bildungsbeflissenen Geschichtsdidaktiker eine gewisse Zuversicht vermitteln vermag, die Geschichtsdidaktik könne sich wieder als Bildungsdisziplin auffassen, ist diese sogleich vor dem Hintergrund zu entkräften, dass es sich bei der skizzierten publizistischen Verbreitung größtenteils nur um eine oberflächliche Praxis handelt. Denn es ist unverkennbar, dass in den genannten bildungstheoretischen Publikationen nur sehr vereinzelt auf neuere oder ältere Bildungstheorien Bezug genommen wird. Rekurse auf bildungstheoretische Überlegungen aus der Geschichtsdidaktik fehlen nahezu vollständig. Man kommt also, mit anderen Worten, ohne bildungstheoretisches Fundament aus, was die Einschätzung nahelegt, dass historische Bildung im zeitgenössischen geschichtsdidaktischen Diskurs nur als prestigeträchtige Modevokabel reüssiert.13 Kassel 2005, S. 223 – 243. Einen ausgemachten Höhepunkt didaktischer Bildungsreflexionen bildet das »PISA«-Heft der GWU 56 (2005), darin: Hilke Günther-Arndt: Literacy, Bildung und der Geschichtsunterricht nach Pisa, S. 668 – 683; Gerhard Henke-Bockschatz u. a.: Historische Bildung als Dimension eines Kerncurriculums moderner Allgemeinbildung, S. 703 – 710. Vgl. auch Susanne Popp: Orientierungshorizonte erweitern – Welt- und globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht. Überlegungen im Kontext der Entwicklung von Bildungsstandards für das Fach Geschichte. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 39 (2005) H. 69, S. 27 – 49; Dies.: Historische Bildung angesichts der Herausforderungen der Globalisierung. Globale Geschichtskonzepte in der interdisziplinären Diskussion. In: Internationale Schulbuchforschung 24 (2002), H. 1, S. 105 – 114; Dies: Historische Bildung und Kompetenzmodelle. Überlegungen zu einer aktuellen Debatte. In: Dies. (Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein 2009, S. 24 – 37. Vgl. Michele Barricelli u. a. (Hrsg.) Aufklärung, Bildung, »Historiotainment«? Frankfurt a. M. 2008. 11 Vgl. dazu die ursprüngliche thematische Ankündigung »Raumkonzeptionen in der Historischen Bildung« im Call for Paper (online verfügbar unter : http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=14486, aufgerufen am 20. 07. 2011). Warum das Heft Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011) letztlich unter dem Titel »Geschichtsdidaktik und Raumkonzeptionen« veröffentlicht wurde, hrsg. von Susanne Popp u. a., bleibt fraglich, könnte aber mit der fehlenden bildungstheoretischen Fundierung der Beiträge zu tun haben, vgl. die Einführung in den Themenschwerpunkt von Dietmar Schiersner. Ebd., S. 5 – 9. 12 Vgl. dazu: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010. Dass keiner der Autoren in dem dazugehörigen Sammelband eine bildungstheoretische Fundierung seiner Ansätze vornimmt, verdeutlicht auch Frank Meier: Buchbesprechung: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011), S. 205 – 213, insbes. S. 213, um allerdings versöhnlich zu resümieren, die »zahlreichen innovativen Beträge« hätten »wichtige Impulse« zur Verbindung von »Medien und Historischer Bildung« geliefert. 13 Martin Stupperich: Der Modellentwurf Bildungsstandards des Verbandes der Geschichts-
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Historische Bildung – ein geschichtsdidaktisches Theoriedefizit
Folgt man Peter Schulz-Hageleits Einschätzung einer »heftigen Kritik« an der bildungstheoretischen Geschichtsdidaktik, lässt sich diese Oberflächlichkeit zuerst mit der Tatsache begründen, dass es seit nunmehr dreißig Jahren keinen etablierten bildungstheoretischen Forschungsdiskurs in der Wissenschaft des Geschichtsbewusstseins gibt. Mit anderen Worten, verbirgt sich hinter der offenkundigen »Renaissance« des Bildungsbegriffs in Wahrheit ein deutliches Diskurs- und Theoriedefizit der Geschichtsdidaktik im Bereich Historischer Bildung.14 Augenfällig ist es jedenfalls, dass die moderne Geschichtsdidaktik zwar eine weithin konsistente Theorie historischen Lernens vorweisen kann, es aber im Zuge ihrer »Modernisierung« seit 1968/70 nicht vermocht hat, eine Theorie Historischer Bildung zu entwickeln.15 lehrer Deutschlands. Eine Antwort auf die Thesen von Karl Heinrich Pohl. In: GWU 11 (2008), S. 653 – 661, hier S. 654, spricht sogar von einer allgemeinen Abwesenheit einer »wissenschaftlich begleiteten Fachdebatte über die Rolle von Geschichte für unsere schulische Bildungs- und Erziehungsarbeit«. Als ein geschichtsdidaktisches Beispiel kann Bodo von Borries’ Aufsatz: Erfahrene Migration und historische Bildung. Eckpunkte und Perspektiven. In: Dirk Lange (Hrsg.): Migration und Bürgerbewusstsein. Wiesbaden 2008, S. 91 – 108, gelten, der – wie viele andere – ohne bildungstheoretische Fundierung seiner Ausführungen auskommt und sich nur des Prestiges des Bildungsbegriffs in der Titulierung bedient. Im Grunde ergibt sich hier eine Situation, wie sie Andreas Gruschka: Bildungsstandards oder das Versprechen, Bildungstheorien in Bildungsforschung aufzuheben. In: Profil 4 (2009), S. 20 f. für die Konzeption der Bildungsstandards angemerkt hat, nämlich dass diese kein bildungstheoretisches Modell zugrundelegen. 14 Wolfgang Hasberg: Kultur – Bildung – Archäologie. Anmerkungen zum Verhältnis von Archäologie und historischem Lernen. In: Archäologische Informationen 35 (2012), S. 125 – 132, hier S. 127, konstatiert daher zu Recht: »Der Geschichtsdidaktik ist der Bildungsbegriff abhanden gekommen.« Als ein Indiz für diesen Verlust erscheint, dass bekannte Einführungen in die Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts den Begriff »Bildung« nicht einmal mehr im Sachregister führen. Vgl. Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 3. Aufl. Seelze-Velber 2004. S. 294. Vgl. Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003. S. 291. In der für den PISA-Bildungsdiskurs bedeutsamen Streitschrift von Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 2006, S. 10, deutet der Wiener Philosoph den Verlust einer regulativen Idee von Bildung als Zeichen einer grassierenden »Unbildung« in der Gesellschaft. »Unbildung meint nicht die schlichte Abwesenheit von Wissen, auch nicht eine bestimmte Form von Unkultiviertheit, sondern den mitunter durchaus intensiven Umgang mit Wissen jenseits jeder Idee von Bildung.« 15 Kurt Fina: Vom Sinn historischer Bildung. München 1970 (Unterricht, Erziehung, Wissenschaft und Praxis, Bd. 20), S. 30, erklärte die Abwesenheit einer solchen Theorie zunächst mit der fehlenden paradigmatischen Fundierung der Geschichtsdidaktik, die dazu führe, dass »eine Theorie geschichtlicher Bildung […] zunächst die Domäne von Zunftgenossen« bleibe, die sich »[…] auf die Geschlossenheit chronologischer Kontinuität eingeschworen« hätten. Ferner fehle eine »Gesamtdarstellung der Geschichte historischer Bildung« (S. 38),
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Dass diese eine der großen theoretischen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Feld der geschichtsdidaktischen Forschung darstellt, steht außer Frage. Wer das Format, das wissenschaftliche Selbstvertrauen, Standing und »kulturelle Kapital« besitzt, sollte sich dieser Aufgabe annehmen. Er könnte dann als neuer geschichtsdidaktischer »Matthäus«16 – neben den »Großen« in die der Theoriebildung zugrundeliegen könne. Da diese Studie intendiert, Prolegomena zu einer derartigen Theorie zu liefern, sollen hier schon die Ansätze benannt werden, die als potenzielle Voraussetzung erscheinen: Kurt Fina: Vom geschichtsdidaktischen Ort der Subjektivität: eine anthropologische Grundlegung historischer Bildung. Posthum veröffentlicht. In: Historisches Jahrbuch 105 (1985), S. 129 – 170; Jörn Rüsen: Historik und Didaktik. Ort und Funktion der Geschichtstheorie im Zusammenhang von Geschichtsforschung und historischer Bildung. In: Erich Kosthorst: Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 48 –61; Ders.: Die Bedeutung der Historik für die historische Bildung. In: Ders. (Anm. 9), S. 41 – 45, und Ders.: Was ist historische Bildung? Die drei Lerndimensionen der historischen Bildung. In: Ders.: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989, S. 85 – 109. Theoriebildende Potenz kommt auch den älteren Überlegung zu. Vgl. Gerhard Ritters: Geschichte als Bildungsmacht. Stuttgart 1946; Erich Weniger : Neue Wege im Geschichtsunterricht. Frankfurt a. M. 1949; Schlegel 1961 (Anm. 9); Ders. 1962 (Anm. 9). Im zeitgenössischen Diskurs sind vor allem die Überlegungen im Umkreis der Hamburger Bildungsgangdidaktik bedeutsam. Vgl. Johannes Mayer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Idstein 2009. Vgl. Bodo von Borries: Staatliches Selbstverständnis oder persönliche Entwicklungsaufgabe? Das Unterrichtsfach Geschichte seit 1945. In: Uwe Hericks u. a. (Hrsg.): Bildungsgangdidaktik: Perspektiven für Fachunterricht und Lehrerbildung. Festschrift für Meinert Meyer zum 60. Geburtstag. Opladen 2001, S. 107 – 133. Vgl. Andreas Körber : Historisches Denken als Entwicklungs-Hilfe und Entwicklungs-Aufgabe. Überlegungen zum Geschichtslernen im Bildungsgang. In: Matthias Trautmann (Hrsg.): Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesbaden 2004 (Studien zur Bildungsgangforschung, Bd. 5), S. 241 – 269. Vgl. auch den Aufsatz Johannes Mayer-Hamme: Subjektorientierte historische Bildung. In: Deutschland Archiv (online verfügbar unter : http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/ deutschlandarchiv/139259/subjektorientierte-historische-bildung?p=1, aufgerufen am 09. 11. 2012), der allerdings auch von einer fehlenden Übersicht des bildungstheoretischen Schrifttums zeugt, insofern er z. B. Kurt Finas ältere subjektorientierte Grundlegung historischer Bildung unberücksichtigt lässt. Vgl. auch die ebenso subjektorientierte Arbeit Markus Daumüllers: Begegnungsdidaktik. Wie Schüler Geschichte lernen könnten! München 2010, die ein ausgebreitetes erziehungswissenschaftliches Bildungsfundament aufweist und hoch ambitioniert über das Konzept der »Begegnungsdidaktik als geschichtsdidaktisches Bildungslernen – ein neues Modell Historischen Lernens« (S. 35, S. 195), entwickeln möchte. Die Arbeit lässt den bildungstheoretischen Diskurs in der Geschichtsdidaktik aber ebenso unberücksichtigt. Historische Bildung aus kategorialer Perspektive beleuchtet Mayer (Anm. 10). Aus hermeneutischer Perspektive vgl. Hilke Günther-Arndt (Anm. 10). In globaler Perspektive vgl. Susanne Popp/Johanna Forster (Hrsg.): Curriculum Weltgeschichte. Interdisziplinäre Zugänge zu einem global orientierten Geschichtsunterricht. Schwalbach/ Ts. 2003. Aus kompetenzkritischer Perspektive vgl. Popp (Anm. 10). 16 Es war der Soziologe Robert K. Merton: Der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft. In: Ders.: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie. Mit einer Einleitung von Nico Stehr, Frankfurt a. M. 1985, hier S. 147 – 171, der den in diesem Zusammenhang zu nennenden »Matthäus-Effekt« beziehungsweise das Phänomen des »Inhabers des einundvierzigsten Sitzes« – in Anlehnung an die »unsterblichen« Mitglieder
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der »Scientific Community«17 wandeln und ihr bildungstheoretisches Selbstverständnis erneut offenbaren. Dass eine derartige bildungstheoretische »Offenbarung« geboten ist, haben verschiedene Komplikationen im geschichtsdidaktischen Umgang mit PISA erwiesen. Damit ist zunächst gemeint, dass sich die Geschichtsdidaktik in eine mehrjährige PISA-Lethargie flüchtete,18 weil sich ihre Protagonisten außerstande sahen, auf die Herausforderungen der Entwicklung von Bildungsstan-
der Acad¦mie FranÅaise – um 1968 entdeckte. Damit versuchte er, das empirisch verifizierbare wissenschaftssoziologische Phänomen zu bezeichnen, dass in einer ausufernden wissenschaftlichen Publikationswelt die einmal erreichte Reputation eines Autors zum dauernden Rezeptionskriterium wird und sich ein aszendenter und akkumulativer »Belohnungskreislauf« einstellt – der Einfluss auf die Verteilung von Kommunikationsmöglichkeiten und wissenschaftlicher Ressourcen nimmt. Äußerungen bedeutsam gewordener Wissenschaftler würden daher unbeabsichtigterweise im Sinne eine »Self-fullfilling-prophecy« zu »einer unbeabsichtigten doppelten Ungerechtigkeit« führen, »indem der unbekannte Wissenschaftler in ungerechtfertigter Weise benachteiligt und der namhafte Wissenschaftler in ungerechtfertigter Weise bevorzugt wird […]« (S. 157). Die demgemäße Sentenz aus dem Matthäus-Evangelium 25,29 lautet »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe. Wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.« Zur Bedeutung dieses Effektes für die Machtstrukturen in der Geschichtswissenschaft vgl. Jaana Eichhorn: Geschichtswissenschaft. Zwischen Tradition und Innovation. Freiburg 2006, S. 45 ff. In diesem Sinne erklärte auch Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 246, aus systemtheoretischer Perspektive, dass in Wissenschaftsdisziplinen, die unter dem Zeitdruck der Moderne stehen, nur noch verkürzte Orientierungen möglich sind, und daher »Vorgaben zur Verfügung« stehen müssen, »die die Beliebigkeit der Themenauswahl, der Lektüre, des Zitierens und Formulierens« einschränken, was »durch Etablieren von Reputation« erreicht werde. Interessant ist dabei, dass N. Luhmann die Reputation am Maßstab der theoretischen Beiträge in einer Wissenschaftsdisziplin bemisst und somit unterstellt, dass es theoretische Grundlagenarbeiten sind, die das größte Renommee beanspruchen. 17 Das Konzept der »Scientific Community« geht ebenso auf Robert K. Merton: Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur. In: Peter Weingart (Hrsg.): Wissenschaftssoziologie. Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß. Frankfurt a. M. 1972, S. 45 – 59, hier S. 47, zurück: Es wurde bereits zu Beginn der 1940er-Jahre entwickelt und zeichne sich durch einen überschwenglichen kooperativen Idealismus aus. Denn diesem lägen die wissenschaftlichen Imperative »Universalismus«, d. h. die Unabhängigkeit der Wahrnehmung von Forschungsergebnissen von Herkunft, Geschlecht, Religion, »Kommunismus« als Offenheit aller Forschungsergebnisse jenseits des Gedankens von Privateigentum und »Disinterestedness«, verstanden als Uneigennützlichkeit im Sinn des schillerschen philosophischen Kopfes, zugrunde. Zwar sei einer »Scientific Community« ein »organisierter Skeptizismus« inhärent, insgesamt überwiege hier aber ein weitgehend idealisierter »Ethos der Wissenschaft«. 18 In diesem Sinne konstatierte Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Schwalbach/Ts. 2005, S. 5, dass die »Kolleginnen und Kollegen der Geschichtsdidaktik sich drei Jahre nach PISA immer noch beharrlich ausschweigen«. Dass sich der Fachverband der akademischen Fachdidaktiker der Aufgabe, Bildungsstandards zu entwerfen, verweigern würde, behauptet Andreas Körber : Kompetenz(en) zeitgeschichtlichen Denkens. In: Barricelli (Anm. 10), S. 43 – 66, hier S. 45.
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dards im Umkreis von PISA angemessen zu reagieren.19 Dabei dürfte keine untergeordnete Rolle gespielt haben, dass man schlichtweg keinen gültigen Begriff von Bildung oder gar eine Theorie historischer Bildung besaß, die man der Entwicklung von Bildungsstandards hätten zugrundelegen können. Symptomatisch für dieses Theoriedefizit war daher, dass die Klieme-Expertise als fachunspezifisches Surrogat für die fehlende Theorie historischer Bildung verabsolutiert wurde. Diese gab zwar eine bildungspolitisch approbierte Basis für die darauffolgende Entwicklung der vielfältigen Kompetenz- und Curriculum-Konzepte ab, konnte aber kaum disziplinspezifischen Charakter beanspruchen. Stellt man in Rechnung, dass diese die diskursive Auseinandersetzung mit dem mehr oder weniger offensichtlichen bildungstheoretischen Mangel in der Geschichtsdidaktik verhehlen konnte, erscheint sie als eine Art diskursives Beruhigungsmittel. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang eine deutlich artikulierte Forderung der Oldenburger Geschichtsdidaktikerin Hilke GüntherArndt, die im Zusammenhang mit dem PISA-kritischen Diskurs in der Allgemeinen Pädagogik zu Beginn des Jahrtausends steht. Dort wurde denkwürdig geäußert, dass die eingeleiteten PISA-Reformen in Deutschland als eine »›Kulturrevolutionäre‹ Neuakzentuierung schulischer Bildung« anzusehen wären. Denn durch die in PISA vertretene »Bildungsidee« würde in schulischen Bildungskontexten die »sprachlich-literarisch-ästhetischen Intellektualität« der deutschen Bildungsidee verdrängt und durch das angloamerikanische Bildungsideal einer »sachstrukturellen-kognitiven Intelligenz«20 ersetzt. Weniger dramatisch und um eine nüchterne Einschätzung bemüht, forderte H. Günther-Arndt daraufhin: »Der Geschichtsunterricht muss in dem anstehenden Veränderungsprozess nicht neu ›erfunden‹ werden, aber er bedarf unter den veränderten Bedingungen, für die PISA eine Metapher ist, dringend einer stimmigen bildungstheoretischen Rahmung.«21 Diese Anzeige des bildungstheoretischen Defizits ist ohne Frage verdienstvoll. Die Tatsache, dass die Forderung nach einer bildungstheoretischen Neu19 Berücksichtigt man allerdings, dass Bodo von Borries: Krise und Perspektive der Geschichtsdidaktik – eine persönliche Bemerkung. In: Geschichte lernen 15 (1990), S. 2 – 5, hier S. 3, schon bemerkte, die Geschichtsdidaktik sei bildungspolitisch »völlig ›tot‹, nämlich einflußlos, noch bevor sie wissenschaftsorganisatorisch ganz ausgelöscht wurde«, erscheint die PISA-Lethargie nur als Fortsetzung eines älteren strukturellen Problemzusammenhangs. 20 Rudolf Messner : PISA und Allgemeinbildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 49 (2003), S. 400 – 412, hier S. 407. 21 Günther-Arndt (Anm. 10), S. 683. Diese Formulierung erinnert ein Stück weit an das Diktum Kersten Reichs: Theorien der Allgemeinen Didaktik. Stuttgart 1977, S. 421, die »[…] didaktische Wissenschaftsentwicklung benötig(e) weniger Neubegründungen aus der Sicht einzelner Begriffe als vielmehr einen strukturellen Erklärungsrahmen, der von dem bereits erreichten Stand didaktischer Theoriebildung […]« ausgeht.
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besinnung zur Überwindung der mit PISA verbundenen Herausforderungen bis heute weitgehend ungehört blieb, verdeutlicht aber auch, dass sich hinter der neuen Unbefangenheit im Umgang mit dem Bildungsbegriff zugleich auch eine tiefsitzende Befangenheit gegenüber bildungstheoretischen Grundfragen verbirgt.22 Es scheint tatsächlich status quo in der Geschichtsdidaktik geworden zu sein, sich nicht mehr um ihre bildungstheoretische Herkunft zu kümmern. Man gewinnt den Eindruck, als habe sie im Hinblick auf ihr überliefertes bildungstheoretisches Selbstverständnis eine Art »Rumpelstilzchen-Attitüde« ausgebildet, die teuflisch nennt, was sie an die schwerste Aufgabe ihres Daseins erinnert. Gegen diese Entwicklung half anscheinend auch nicht mehr, dass ausgewiesene Bildungskritiker der frühen 1970er-Jahre unter dem Eindruck der Tendenzwende wieder betonten, dass Geschichtsdidaktik nicht nur als wissenschaftliche »Disziplin« des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft aufzufassen sei, sondern auch als eine Reflektionsinstanz gelten müsse, »die systematisch über intentionale Prozesse der historisch-politischen Bildung nachdenkt«. Sie hätte eine »Theorie absichtlicher und zielbewußter Bildungsvorgänge« zu liefern, die von der Prämisse ausgehen solle, dass »der Geschichtsunterricht der eigentliche Ort beabsichtigter und zielbewußt durchgeführter historisch gerichteter Bildungsprozesse«23 sei. In nuce würde die Geschichtsdi-
22 Dass diese Indifferenz mit der Emanzipation der Geschichtsdidaktik von der Allgemeinen Pädagogik und der in ihr beheimateten Bildungstheorie in den 1970er-Jahren zusammenhängt, erscheint plausibel. Vgl. Hasberg (Anm. 8), S. 133 – 135. Denn diese Abnabelung, die notwendig war, um ein disziplinäres Selbstverständnis aufzubauen, führte zu einer weitgehenden Gleichgültigkeit gegenüber bildungstheoretischen Innovationen in der Allgemeinen Pädagogik. So erklärte schon Kuhn (Anm. 5), S. 441, dass es sich »[…] rächte, daß die Fachdidaktik im Alleingang und aus eigenen Kräften heraus, abgesondert von den erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu einer ›kritisch-konstruktiven Didaktik‹ (Klafki 1978) […] versucht hatte, sich zu einer eigenständigen Disziplin zu entwickeln.« Vielsagend ist in diesem Zusammenhang auch Dietmar von Reekens: Wer hat Angst vor Wolfgang Klafki? In: GWU 50 (1999), S. 292 – 304, hier S. 296, der von einem »Feindbild« in Bezug auf die Bildungstheorie und Schlüsselprobleme Klafkis spricht, schließlich aber die »gegenseitige Sprachlosigkeit« zwischen Geschichtsdidaktik und Bildungsgangdidaktik betont. Dass die »Krise« der Geschichtsdidaktik zu Beginn der 1990er-Jahre auch auf die fehlende Verbindung zur allgemeinen bildungstheoretischen Didaktik zurückzuführen wäre, erläutert Joachim Rohlfes: Orientierungsprobleme der Geschichtsdidaktik. In: Rudolf Keck u. a. (Hrsg.): Fachdidaktik zwischen allgemeiner Didaktik und Fachwissenschaft. Bad Heilbrunn/Obb. 1990, S. 170 – 183. Siegfried Quandt (Hrsg.): Deutsche Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts – Wege, Konzeptionen, Wirkungen. Paderborn u. a. 1978. S. 13, nannte die schwierige Stellung der Geschichtsdidaktik zwischen den Disziplinen geistreich das »Utraquismusproblem«, konnte es allerdings auch nicht befriedigend lösen. 23 Klaus Bergmann/Gerhard Schneider : Das Interesse der Geschichtsdidaktik an der Geschichte der Geschichtsdidaktik. In: Informationen zur Erziehungs- und Bildungshistorischen Forschung 8 (1977), S. 67 – 93, hier S. 73.
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daktik »also auch nach der Bildungsbedeutsamkeit des Faches Geschichte«24 fragen. Betrachtet man die »Renaissance« des Bildungsbegriffs aus dieser maßgeblich von H. Günther-Arndt eröffneten Perspektive, müsste man ihr in zweiter Hinsicht eine theoretisch-paradigmatische Relevanz für die Geschichtsdidaktik zusprechen, die sich mit der Frage eines regulativen Bildungsbegriffs, einer Bildungstheorie und eines etablierten Bildungsdiskurses befasst.
3.
Historische Bildung – ein disziplinpolitischer »Kampfbegriff«
Wollte man der Rede von der »Renaissance« des Bildungsbegriffs schließlich noch eine dritte Bedeutung zumessen, wäre abschließend noch auf eine Bewegung im deutschen Bildungsdiskurs zu verweisen, die von »progressiven« Geschichtsdidaktikern als konservativer »Roll-back« bezeichnet wird. Damit sind die Versuche gemeint, das wieder aktuell gewordene Syntagma der Historischen Bildung auch von einem konservativen Standpunkt aus zu beanspruchen und sogar ein Stück weit als ein Gegenparadigma zur KompetenzOrientierung aufzubauen.25 24 Ebd. 25 Dabei darf nicht verkannt werden, dass die bildungstheoretische Kritik am KompetenzKonzept zuallererst in der Allgemeinen Pädagogik griffig formuliert wurde. Vgl. dazu beispielhaft: Messner (Anm. 20), der diesbezüglich eine »›Kulturrevolutionäre‹ Neuakzentuierung schulischer Bildung« unterstellte. Oder auch Gruschka (Anm. 13), S. 14, der deutlich gegen die in der Klieme-Expertise vorgenommene Ineinandersetzung der Begriffe »Bildung« und »Kompetenz« argumentiert. Dabei spielen offensichtlich kulturelle gewachsene Unterschiede zur Frage der »Erziehung« des Menschen im nationalen Kontext eine Rolle. Vgl. dazu Heinz-Elmar Tenorth: Allgemeine Bildung. Analysen zu ihrer Wirklichkeit. Versuche über ihre Zukunft. Weinheim 1986, S. 10 f. Auch Karl-Ernst Jeismann: Historische Bildung und politische Kultur. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 11 (1983), H. 1/2, S. 44 – 55, S. 47, wies aufgrund historisch gewachsener politisch-kultureller Unterschiede zwischen England und Deutschland darauf hin, dass wir »[…] uns unsererseits schwer tun, etwa das englische System der Prüfung nach den verschieden ›levels‹ zu übernehmen oder gar zu begrüßen.« Dass sich der Bildungsbegriff aufgrund seiner »nationalen« Herkunft nicht störungsfrei mit modernen Anglizismen übersetzen lässt, ist weithin anerkannt. Übersichtlich aufgearbeitet findet sich der Diskurs um das Für und Wider von »Bildung«, »Standard« und »Kompetenz« bei dem Sozialwissenschaftler Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Göttingen 2010, S. 40 – 42. Als ein geistvoller Ansatz zur bildungstheoretischen Erneuerung aus »konservativer« Perspektive lässt sich Volker Steenblock: »Autofahrt«: Vom Sinn der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie – Ein Plädoyer für Historische Bildung. In: Stefan Jordan (Hrsg.): Die Zukunft der Geschichte. Historisches Denken an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, S. 35 – 49, lesen: »a. Historische Bildung nach dem Ende der Geschichtsphilosophie muß Bildung auf dem Niveau des Historismus sein«, »b. Historische Bildung bedeutet – zweitens – eine gewisse ›materiale‹ Kenntnis der Füller der Kultur«, »c. Historische Bildung impliziert schließlich vor allem eine Hinsicht auf die Art
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In diesem Zusammenhang ist das Rahmenmodell »Bildungsstandards für das Fach Geschichte in Gymnasien« zu sehen, das vom »Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e. V.« entwickelt wurde und mutmaßlich erheblichen Einfluss auf die gymnasiale Unterrichtswirklichkeit genommen hat.26 Dieses legt zwar auch ein Kompetenz-Modell zugrunde, es hält aber zugleich auch an der Vorstellung kanonisch zu lernender Inhalte, Begriffe und Jahreszahlen fest. Dadurch wird die Idee »Historische Bildung« in dem Rahmenmodell zumindest teilweise im materialen Sinne ausgelegt und nimmt eine klassische Form an.27 und Weise, in der die Dimension des Historischen für die Selbstvergewisserung von Menschen unerlässlich ist«, »d. Historischer Bildung und Geschichte als Wissenschaft«, »e. Anwältin für einen solchen ›Sinn‹, den Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie haben kann, ist die Historische Bildung«. In diesem Zusammenhang bedeutsam ist auch die »klassische« polemische Stellungnahme Alfred Heuss’: Geschichte, Bildung, Wissenschaft: Vom historischen Analphabetismus in Deutschland. In: Ders.: Versagen und Verhängnis. Berlin 1984, S. 9 – 35. 26 Vgl. Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e. V.: Bildungsstandards Geschichte (Sekundarstufe I) 2010. Kompetenzmodell und synoptische Darstellung der Kompetenzen und verbindlichen Inhalte des Geschichtsunterrichtsentwurfs (online verfügbar unter : http:// www.geschichtslehrerverband.org/fileadmin/images/Bildungsstandards/Druckfassung/Stan dards_Druckformat__10.5.2011_.pdf, aufgerufen am 20. 04. 2012). 27 Vgl. dazu: Karl Heinrich Pohl: Bildungsstandards im Fach Geschichte. Kritische Überlegungen zum Modellentwurf des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD). In: GWU 11 (2008), S. 647 – 652, erhebt gegenüber diesen den Vorwurf, dass die beteiligten Geschichtsdidaktiker bei der Stoffauswahl »ihre eigenen geschichtsdidaktischen Kategorien nicht beachtet« hätten, d. h. vor allem ihre Auswahlkriterien und Standpunkte unreflektiert ließen. Ferner sei eindeutig, dass die »normativ« formulierten Kompetenzanforderungen zu hochgestochen wären, denn »selbst die meisten Lehramtskandidaten beherrschen diese in akademischen Prüfungen jedenfalls nur sehr unvollständig. Die Standards »würden – trotz allen gut gemeinten Kompetenztrainings – eine massive Indoktrinierung der Schüler bis hin zu einem festen, abgeschlossenen Geschichtsbild« vornehmen (S. 649 f.) Letztlich stößt K. H. Pohl sogar mutig in Grenzbereiche der deutschen Geschichtspolitik vor, wenn er die normative Vorgabe der Bildungsstandards kritisiert »den Holocaust als ein Verbrechen einmaliger Größenordnung zu charakterisieren« und es im Sinne der »Persönlichkeit der Schüler« für legitim hält, sich in Opposition zu dieser Lehrmeinung der »deutschen Geschichte« zu nähern und die »gemeinsame Vergangenheit Europas« als »Konstrukt der gegenwärtigen Politiker« zu enttarnen (S. 651). Sein pointiertes Resümee: Die Bildungsstandards formulierten ein »konservatives Geschichtsbild«, das »geradezu aus dem vorvorigen Jahrhundert stammen könnte.« Stupperich (Anm. 13), S. 653 – 661, weist K. H. Pohls Vorwürfe der Indoktrinierung als »abwegig« zurück. Er erklärt apologetisch, dass die »Standards ›fünf vor zwölf‹ veröffentlicht wurden«, um die Kompetenzverträglichkeit des Faches Geschichte unter Beweis zu stellen (S. 654). Ferner hält M. Stupperich K. H. Pohl entgegen, die Auswahl der bildungsrelevanten Themen habe sich am status quo der Schulbuchthemen orientiert, die »bei einem bestimmten inhaltlichen Kanon« stehen (S. 655). Schließlich wirft er der pohlschen Kritik an einer »verordneten« Deutung des Holocausts vor, eine »mögliche Relativierung des Holocausts« in Kauf zu nehmen (S. 657). Meik Zülsdorf-Kersting: Kategorien historischen Denkens und Praxis der Unterrichtsanalyse. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 36 – 56, insbes. S. 36 f., weist allerdings auch darauf hin, dass sich hinter »begrifflicher Modernisierung (Kompetenzorientierung)« der zahlreichen Rahmenlehrpläne ein »inhaltlicher Konservatismus (Stofforientierung)« Bahn brechen würde.
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Interessant ist in diesem Zusammenhang die um 2010 im Internet geführte Kontroverse zwischen dem Kasseler Geschichtsdidaktiker Ulrich Mayer und dem »Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V.« Dabei ging es um die Einschätzung des Entwurfs von Bildungsstandards für Geschichte im Bundesland Hessen. Der Historikerverband beklagte, dass dieser Entwurf das Fach Geschichte zum Steinbruch für die Kompetenz-Orientierung verkommen lasse und die Frage der Inhaltsauswahl der Beliebigkeit anheimgebe.28 U. Mayer, der an der Entwicklung dieser Bildungsstandards beteiligt war, antwortete in seiner zugespitzten Replik »Erbarmen, die Hessen kommen!«, dass die Kritik des Historikerverbandes nicht nur anachronistisch sei, sie würde »eine Form der historischen Bildung« feiern und reanimieren wollen, »die schon vor einem halben Jahrhundert überholt war.«29 Als ein weiteres Beispiel für eine »konservative« Renaissance des Bildungsbegriffs erscheint noch die Stellungnahme des Präsidenten des »Deutschen Lehrerverbandes«, Josef Kraus. In seinem Aufsatz in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, »Der historische Analphabetismus greift um sich«, wirft er in einer intelligenten Polemik den Lehrplankonstrukteuren und expressis verbis Geschichtsdidaktikern vor, sie hätten sich »ganze Litaneien zu fördernder, historisch relevanter Kompetenzen« für »einen neuen Geschichtsunterricht ausgedacht: die Frage-, Orientierungs-, Methoden-, Begriffs-, Strukturierungs-, Handlungs-, Analyse-, Wahrnehmungs-, Urteils-, Dekonstruktions-, Rekonstruktions- und die narrative Kompetenz.«30 Diese würden allerdings nur ziellos um sich selber kreisen. Denn diese Kompetenzen würden nicht konkret auf höhere Bildungsziele, wie etwa die mündige deutsche Staatsbürgerschaft bezogen, sondern sollten im Zirkelschluss wieder »die Sprach-, Lern-, Sozial- und 28 Vgl. Stellungnahme des »Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V.« (VHD) zu den neuen hessischen Bildungsstandards (online verfügbar unter: Inhaltsfelder: http://www. historikerverband.de/fileadmin/_vhd/pdf/Stellungnahme_zu_Hess_Bildungsstandards.pdf: Pressemitteilung vom 18. Juni 2010, aufgerufen am 20. 04. 2012). 29 Ulrich Mayer: Erbarmen, die Hessen kommen! Welche Geschichte sollen unsere Kinder lernen? Eine notwendige Replik auf die Stellungnahme des »Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V.« vom 18. Juni 2010 zum Entwurf neuer hessischer Bildungsstandards im Fach Geschichte (online verfügbar unter : http://www.geschichtslehrer forum.de/Presseartikel_Mayer.pdf, S. 1, aufgerufen am 20. 04. 2012). 30 Joseph Kraus: Der historische Analphabetismus greift um sich. Schüler wissen mit zentralen Ereignissen nichts mehr anzufangen. Geschichtsunterricht ohne Geschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 142 vom 21. Juni 2012, S. 6. Dass das Kompetenz-Konzept vorschnell zu einem respekteinflößenden, alternativlosen und zugleich erfolgversprechenden bildungspolitischen Programm aufgebaut worden ist, an der Schul- und Schülerrealität vorbei implementiert wurde und erhebliche Unklarheiten und konzeptionelle Schwächen aufweist, versuchte der Fachleiter Helmut Meißner : Es wimmelt vor lauter Kompetenzen. Begriffsverwirrung und deutliche Schwächen beim Konzept. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 154 vom 5. Juli 2012, S. 6, einsichtig zu machen.
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Personal-Kompetenz« fördern. Man drehe sich also im Kreis einer theoretischen Kompetenz-Tüftelei, die weitgehend von der gesellschaftlichen Normfrage historischen Lernens und der Durchsetzung gesellschaftlicher Normen abgekoppelt sei. Der aus diesem Problem abgeleitete Vorwurf Kraus’, der neue Geschichtsunterricht werde somit zum Problem, als dessen Lösung er sich ausgibt, wiegt schwer. Der Vorwurf kann allerdings einer gewissen Stichhaltigkeit nicht entbehren, denn die Geschichtsdidaktik hat es tatsächlich in weiten Teilen versäumt, eine regulative Idee historischer Bildung in ihre Kompetenztheoriebildung zu implementieren, sodass nun mit Recht zu konstatieren ist, dass »eine Neubesinnung auf den Bildungswert der Historie, womöglich als sogenanntes Kernfach, überfällig«31 zu sein scheint. Wer Kraus’ Plädoyer wenig Glauben schenken will, mag seine Stellungnahme, die deutlich von einem konservativen Verständnis von historischer Bildung zeugt, als Polemik aus dem »bekannten Lager« abtun. Damit wäre die skizzierte Problematik der Kompetenz-Einbahnstraße allerdings nicht gelöst, sondern bestenfalls der schon vorangeschrittenen Entwicklung einer erneuten Lagerbildung zwischen reformorientierten Kompetenz-Theoretikern und konservativen Bildungspraktikern Vorschub geleistet. Fühlte man sich in der Geschichtsdidaktik noch dem diskursiven Imperativ eines konsensual-demokratischen Konfliktauftrags zwischen konservativen und reformatorischen Positionen in der Didaktik verpflichtet, wäre es daher geboten, diese Stellungnahmen in ihrem sachlichen Gehalt ernst zu nehmen und einen Dialog anzubahnen.32 Dies wäre jedenfalls abseits persönlich gepflegter Borniertheit gegenüber unliebsamen »weltanschaulichen« Auffassungen notwendig und geboten. Es entspricht auch dem »Pendelschlagphänomen« als Erkenntnis der didaktischen Disziplingeschichte, dass sich die Fachwissenschaftler nunmehr deutlich zu Wort melden. Denn je »mehr der politische beziehungsweise pädagogische oder psychologische Akzent in der Geschichtsdidaktik einseitig dominierte, umso stärker war« bislang »auch der Gegenschlag unter Berufung auf ein positivistisches Wissenschaftsverständnis (der Fachdisziplin)«.33
31 Kraus (Anm. 30). 32 Auch Pohl (Anm. 27), hier S. 652, plädiert daher für ein noch stärkeres Zusammenwirken von »akademischer Zunft von Fachwissenschaft und Fachdidaktik«. Stupperich (Anm. 14), hier S. 659, erklärt, dass es »selten« sei, »dass die Hochschuldidaktik etwas für die schulische Praxis zu sagen« habe, woraus »ein weitgehendes gegenseitiges Nichtverstehen, ja Sprachlosigkeit« rühren würde. Er räumt aber auch in Bezug auf die Erstellung von Bildungsstandards ein (S. 655), dass es die »Hilfestellung einzelner kooperationsbereiter Hochschuldidaktiker« gegeben habe. 33 Karin Herbst: Didaktik des Geschichtsunterrichts zwischen Traditionalismus und Reformismus. Hannover 1977, S. 187.
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Fazit Die bisherigen Ausführungen suchen zu verdeutlichen, dass die Renaissance des »Bildungsbegriffs« auch für die Geschichtsdidaktik relevant ist, und zwar in disziplingeschichtlicher, -politischer und theoretisch-paradigmatischer Hinsicht. Bei der intendierten Re-Integration des Bildungsbegriffs in die Geschichtsdidaktik erscheint die Forderung nach einer bildungstheoretischen Rahmung des Geschichtsunterrichts – wie sie H. Günther-Arndt vorgeschlagen hat – vielversprechend. Eine disziplingeschichtliche Analyse der bildungstheoretischen Arbeiten in der Geschichtsdidaktik würde dieser Rahmung sicherlich zuträglich sein: Bislang vernachlässigte bildungstheoretische Arbeiten in der Geschichtsdidaktik ließen sich so erneut in Erinnerung rufen, systematisch analysieren und für den aktuellen bildungstheoretischen Diskurs aufbereiten. Sicher käme man hierbei nicht umhin, auch die heftige Kritik an der bildungstheoretischen Geschichtsdidaktik, die zu Beginn der 1970er-Jahre erfolgte, genauer zu beleuchten. Dieser Aufgabe, das bildungstheoretische Fundament in einer systematischen Analyse freizulegen, gehe ich in meinem Dissertationsprojekt34 nach. Angesichts eines Trends zur »Versozialwissenschaftlichung«35 der Forschung in der Geschichtsdidaktik will ich mit diesem Projekt auch ein Zeichen dafür setzen, dass sich Forschungsperspektiven auch abseits des vorherrschenden Mainstreams aus der Disziplingeschichte heraus entwickeln lassen. Dass ein neu gewonnenes bildungstheoretisches Fundament der Geschichtsdidaktik nicht automatisch die Gräben zwischen Schulpraxis und wissenschaftlicher Lehrerbildung sowie Theoriediskurs36 zu überbrücken vermag, ist offensichtlich. Aber entsprechende Überlegungen könnten als ein Dialogangebot verstanden werden und zeigen, dass man auch in der Geschichtsdidaktik wieder bereit ist, in Grundsatzüberlegungen über den Bildungssinn der 34 Über die theoretischen Bezüge, Forschungsfragen und Analysemethoden meines Dissertationsprojektes informiert mein Poster zu dieser Tagung: »Historische Bildung – auf der Suche nach dem bildungstheoretischen Fundament der Geschichtsdidaktik«. 35 Damit ist die zunehmende Überformung der geschichtsdidaktischen Forschung durch sozialwissenschaftliche Deutungsmuster und Forschungsansätze gemeint, die nur noch bedingt auf die theoretischen Zentren der Geschichtsdidaktik verweisen. 36 Die Geschichte dieses Spannungsverhältnisses beleuchtete grundlegend Horst Gies: Der Geschichtslehrer im Spannungsfeld zwischen Anforderung und Praxis und Ansprüchen der Theorie. In: Eberhard Wilms: Geschichte. Denk- und Arbeitsfach. Festschrift für Heinz Dieter Schmid. Frankfurt a. M. 1986, S. 37 – 51. Im Anschluss daran skizzierte Bernd Mütter : Die Anfänge der Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin und ihre Auswirkung auf den Geschichtsunterricht. In: Paul Leidinger (Hrsg.): Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Stuttgart 1988, S. 68 – 78, die historischen Ursprünge dieses Problems.
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Geschichte nachzudenken und sich nicht davor scheut, erneut die Bedeutung und den Nutzen progressiver und konservativer historischer Bildungsideale in Theorie und Praxis zu diskutieren. Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass dem Bildungsbegriff gegenwärtig wieder ein hohes Präge- und Innovationspotenzial zukommt und er nicht zuletzt vor diesem Hintergrund dringend einer inhaltlichen Füllung seitens der Geschichtsdidaktik bedarf. Damit der Bildungsbegriff nicht erneut zu inflationär oder auch zu unscharf verwendet wird, sollte er in der Geschichtsdidaktik im Sinne einer Historischen Bildung nicht nur Umrisse, sondern Kontur annehmen.
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Robert Dittrich
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Historische Bildung?
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Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht: Entwicklung eines Kurzinstruments für die Wirksamkeitsmessung
1.
Zeitzeugen im Geschichtsunterricht
Früher galten Zeitzeugen in der Geschichtswissenschaft gemäß einem überaus beliebten Bonmot als »Feind des Historikers«. Heute hingegen scheint der Zeitzeuge dem »[…] Historiker in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sogar den Rang abgelaufen zu haben […]«,1 wie Martin Sabrow in der Einleitung des Sammelbandes »Geburt des Zeitzeugen nach 1945« überspitzt formuliert. Bei der Überhöhung des Zeitzeugen als Experten für die Vergangenheit haben die TV-Geschichtsdokumentationen im Stil Guido Knopps seit den 1990er-Jahren eine wesentliche Rolle gespielt.2 Hier werden Zeitzeugen häufig als diejenigen inszeniert, »[…] die wissen, wie es wirklich war […]«,3 während die Historiker oft gar nicht erst zu Wort kommen.4 Das Unbehagen der Geschichtswissenschaft den Zeitzeugen gegenüber ist unter anderem darauf begründet, dass die Zeitzeugen an der Entstehung der Quelle selbst beteiligt sind.5 Dies ist der traditionalen Geschichtswissenschaft außerordentlich suspekt.6 Doch im Zuge einer »Geschichte von unten«, die die 1 Martin Sabrow/Norbert Frei (Hrsg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012, S. 9. 2 Christoph Classen: Der Zeitzeuge als Artefakt der Medienkonsumgesellschaft. Zum Verhältnis von Medialisierung und Erinnerungskultur. In: Sabrow/Frei (Anm. 1), S. 300 – 319, hier S. 315 f. Vgl. Lisa Rodenhäuser : Zwischen Affirmation und Reflexion. Eine Studie zur Rezeption von Zeitzeugen in Geschichtsdokumentationen. Berlin 2012 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 25). 3 Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 5. Aufl. Seelze-Velber 2006, S. 238. 4 Vgl. hierzu M. Sabrow, nach dem »die universitären Lehrstuhlinhaber […] in Folge dieser Öffentlichkeitswendung des Faches nicht mehr den Ton« angeben. Martin Sabrow: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten. In: Sabrow/Frei (Anm. 1), S. 13 – 32, hier S. 20. 5 Alexander Geppert: Forschungstechnik oder historische Disziplin? Methodische Probleme der Oral History. In: GWU 45 (1994), S. 303 – 323. 6 Die Auseinandersetzung zwischen der traditionalen Geschichtswissenschaft und den Vertretern einer »Geschichte von unten« wurde scharf geführt, wie es die Auseinandersetzungen
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Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
Perspektive der Menschen als historisches Subjekt in den Blick nehmen will, hat sich die »Oral History« in der zeitgeschichtlichen Forschung für alltags- und mentalitätsgeschichtliche Themen inzwischen etabliert.7 Parallel dazu hat die Zeitzeugenbefragung in der Geschichtsdidaktik seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre »[…] Eingang ins Standardrepertoire eines methodisch fortschrittlichen handlungs- und problemorientierten […] Geschichtsunterrichts gefunden […]« und ist im Rahmen von sozial- und alltagsgeschichtlichen Themen »in allen Rahmenlehrplänen fest verankert«.8 Man erhofft sich von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht, die Schülerinnen und Schüler für Geschichte zu interessieren und sie ihre Eingebundenheit in Geschichte erleben zu lassen. Für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte empfiehlt der Beschluss der Kultusministerkonferenz zur »Stärkung der Demokratieerziehung« explizit, Zeitzeugen in den Geschichtsunterricht einzuladen.9 Die Aura des Zeitzeugen, der die Vergangenheit persönlich bezeugen kann, die Nähe, die für Schüler dadurch entsteht, und das Gespräch zwischen den Generationen werden häufig als Stärken der Zeitzeugenbefragung angeführt.10 Allerdings tendieren die Lernenden oft dazu, die Aussagen von Zeitzeugen als »durch eigenes Erleben und Lebenserfahrung bezeugte und garantierte Wahrheiten«11 wahrzunehmen. Magne Angvik und Bodo von Borries haben in ihrer groß angelegten empirischen Studie zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher herausgefunden, dass Schülerinnen und Schüler den Zeitzeugen häufig mehr
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9
10 11
auf dem 35. Historikertag in Berlin zwischen Hans-Ulrich-Wehler als Vertreter der Sozialund Strukturgeschichte und Lutz Niethammer, der mit seinem »Oral-History«-Projekt zur Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960 der »Oral History« in Deutschland zum Durchbruch verholfen hat, zeigen. Vgl. Peter Paul Schwarz: Zeit. Zeugen. Zeitzeugen. Zu Traditionen, Entwicklungslinien und Erscheinungsformen von Zeitzeugenschaft. In: Bildungswerk der Humanistischen Union NRW/Zeitpfeil-Studienwerk BerlinBrandenburg (Hrsg.): Zeitzeugenarbeit zur DDR-Geschichte. Historische Entwicklungslinien – Konzepte – Bildungspraxis. Potsdam 2012, S. 8 – 45, hier S. 18. Waltraud Schreiber/Katalin Ýrkossy : Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Neuried 2009 (Themenhefte Geschichte, Bd. 4), S. 5. Michele Barricelli: Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute als geschichtskulturelle Objektivation und seine Verwendung im Geschichtsunterricht – ein Problemaufriss. In: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009, S. 198 – 211, hier S. 198. Sekretariat der ständigen Vertretung der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Stärkung der Demokratieerziehung (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06. 03. 2009 (online verfügbar unter : http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlich ungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Staerkung_Demokratieerziehung.pdf, aufgerufen am 25. 03. 2012). Vgl. Schreiber/Ýrkossy (Anm. 7), S. 5. Gerhard Schneider : Über den Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht. In: GWU 45 (1995), S. 73 – 90, hier S. 74.
Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht
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glauben als Schulbüchern oder Lehreraussagen.12 Umso wichtiger ist es daher, Zeitzeugenaussagen als subjektive Zeugnisse der Vergangenheit quellenkritisch zu hinterfragen und die Perspektivität, aber auch Erinnerungsverschiebungen und nachträgliche Deutungen und Sinnbildungen im Unterricht offenzulegen.13 Die Risiken und Chancen für den Einsatz der Zeitzeugenbefragung im Geschichtsunterricht sind im Doppelcharakter des Zeitzeugen als Quelle und Darstellung begründet. Die Erfahrung des Zeitzeugen ist eine Quelle für die Vergangenheit und enthält Informationen, die in schriftlichen Quellen oft nicht zur Sprache kommen.14 Gleichzeitig jedoch bietet die viele Jahre später entstandene Narration eine Deutung von Geschichte an, in die seine späteren Erfahrungen wie auch seine heutige Perspektive auf die Vergangenheit miteinfließen.15 Der Zeitzeugenbericht sollte aufgrund seines Doppelcharakters als Erzählung, die viele Jahre später entsteht, »de-konstruiert« werden. Zudem bietet die individuelle Sicht auf die Vergangenheit eine Chance zur »Re-Konstruktion« von Geschichte. Die Begriffe der »Re-« und »De-Konstruktion« entstammen dem historischen Kompetenz-Strukturmodell der FUER16-Gruppe, welches im nächsten Abschnitt erläutert wird. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Promotionsprojekt »Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen« verfolgt das Ziel, die Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht anhand des Themas »Friedliche Revolution in der DDR« zu überprüfen. Hierbei wird der Fragestellung nachgegangen, welche differenziellen Effekte die Arbeit mit Zeitzeugeninterviews (Live – Video – Text) im Hinblick auf (a) das Interesse, (b) die historischen Sachkompetenzen (= Einsicht in »Re- und De-Konstruk-
12 Magne Angvik/Bodo von Borries: Youth and History. A Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents, Bd. 1. Hamburg 1997. 13 Vgl. Sauer (Anm. 3), S. 238 f. Ebenso Ralph Erbar : Zeugen der Zeit? Zeitzeugengespräche in Wissenschaft und Unterricht. In: geschichte für heute (2012), H. 3, S. 5 – 20, hier S. 11. 14 Dorothee Wierling: Oral History. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Aufl., Seelze-Velber 1997, S. 236 – 239, hier S. 236. 15 Annemarie Kraus: Kategoriale Inhalts- und Strukturanalyse zur Auswertung von Schüleräußerungen zu Zeitzeugen – Wirksamkeitsforschung für kompetenzorientierten Geschichtsunterricht an Hauptschulen. In: Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzky : Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013, S. 194 – 211, hier S. 197. 16 Das Akronym »FUER (=Zur Förderung und Entwicklung reflektierten) Geschichtsbewusstsein(s)« steht für eine internationale Gruppe von Geschichtswissenschaftlern, Fachdidaktikern und Lehrern, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Förderung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins durch Grundlagenforschung und Empirie zu präzisieren. Ein Ergebnis dieser Arbeitsgruppe ist das »Historische KompetenzStrukturmodell«, das 2007 ausformuliert wurde, vgl. Andreas Körber u. a. (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007.
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Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
tionsprozesse«) und (c) das »Wissen«17 der Schülerinnen und Schüler zum Thema DDR hat.18 Um diese Effekte zu messen, wurde in einer vorgeschalteten Validierungsstudie zunächst das Messinstrument entwickelt.19 Die Haupterhebung dauerte bis September 2012, sodass zum Zeitpunkt der Nachwuchstagung der »Konferenz für Geschichtsdidaktik« im Oktober 2012 noch keine abschließenden Ergebnisse vorlagen. Daher liegt der Fokus des vorliegenden Beitrags auf der Vorstellung eines »Kurzinstruments« zur Messung historischer Kompetenzen. Unter diesem »Kurzinstrument« wird im Folgenden ein Teil des Messinstruments der Zeitzeugenstudie verstanden, in dem die Grundlagen historischen Denkens – Konstruktivität, (Retro-)Perspektivität, Selektivität und Narrativität – in vierzig geschlossen formulierten Items thematisiert werden. Da in diesem Kurzinstrument Items zur Aussagekraft von Zeitzeugen integriert wurden, bieten die Ergebnisse zudem einen Hinweis darauf, wie sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Studierende mit dem Phänomen des Zeitzeugen und seinem Doppelcharakter als Quelle und Darstellung umgehen. Darüber hinaus erlauben die Ergebnisse einen ersten Blick auf die empirische Validierung des FUER-Kom17 Die Bedeutung des »Wissens« wird in der Geschichtsdidaktik häufig gering geschätzt, da Wissen eine kurze Halbwertszeit hat und schnell »gegoogelt« werden kann. Dem werden die Kompetenzen gegenübergestellt, die notwendig seien, um das Wissen einzuordnen und zu reflektieren. In unserer Studie haben wir uns jedoch bewusst dafür entschieden, Wissen als abhängige Variable in die Forschungsfragestellung mitaufzunehmen. Denn damit die Schülerinnen und Schüler im Sinne Karl-Ernst Jeismanns zu einem fundierten Sach- und Werturteil gelangen können, ist ein geschichtliches Grundwissen notwendig. Daher startet die konzipierte Unterrichtseinheit mit der Erarbeitung eines Grundlagenwissens zur DDR, bevor in der 4./5. Stunde der Unterrichtseinheit der Zeitzeuge eingeladen wird. Vgl. zu dieser Diskussion Klaus Schröder u. a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen. Frankfurt a. M. 2012 (Studien des Forschungsverbundes SEDStaat an der Freien Universität Berlin, Bd. 17), S. 184 f. Und Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktisches Erkundigungen zur Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012 (Politik und Bildung, Bd. 66). 18 Die detaillierte Vorstellung der Unterrichtseinheit mit Einbeziehung des geschichtswissenschaftlichen Forschungskontextes findet sich in: Christiane Bertram: Zeitzeugen zur Friedlichen Revolution: Live – Video – Text. Vorstellung einer kompetenzorientierten Unterrichtseinheit. In: Gerhard Fritz/Eva Luise Wittneben (Hrsg.): Landesgeschichte in Forschung und Unterricht. Beiträge des Tages der Landesgeschichte in der Schule vom 26. Oktober 2011 in Bühl. Stuttgart, S. 63 – 79. Das Design der Interventionsstudie wird genauer beschrieben in: Christiane Bertram: Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht – ein Beitrag für die empirische Geschichtsdidaktik. In: geschichte für heute (2012) H. 3, S. 21 – 33. 19 Über die Entwicklung des gesamten Messinstruments, das in der Zeitzeugen-Studie zum Einsatz kam, wurde bereits im Tagungsband der »gde12« berichtet. Christiane Bertram/ Wolfgang Wagner/Ulrich Trautwein: Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen – Entwicklung eines Messinstruments für eine Interventionsstudie. In: Jan Hodel/Monika Waldis/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 12, Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 12«. Bern 2013, S. 108 – 119.
Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht
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petenz-Modells, womit einem dringenden Desiderat der Geschichtsdidaktik nachgegangen wird.20
2.
Theoretischer Hintergrund
2.1.
Historische Kompetenz-Modelle
In der durch den PISA-Schock im Jahr 2000 angestoßenen Diskussion über die Definition und Messung historischer Kompetenzen werden diese, der Definition von Franz Emanuel Weinert21 folgend, als die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, historisch zu denken, verstanden. Den gemeinsamen Ausgangspunkt stellt hierbei das Konzept des »Geschichtsbewusstseins« dar, das von K.-E. Jeismann als Zusammenhang zwischen »Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive«22 definiert wird. Jörn Rüsen hat die Erkenntnisse der narrativen Wende, die in den 1980er-Jahren die Theoriediskussion in den Geistes- und Sozialwissenschaften beherrschte, in die geschichtsdidaktische Debatte zum Geschichtsbewusstsein eingebracht. Geschichtsbewusstsein entstehe aus einer »[…] bewusst vollzogenen Verbindung der Gegenwart mit der Vergangenheit […], die sich als (historisches) Erzählen identifizieren und beschreiben […]« lasse.23 Die derzeit in der Geschichtsdidaktik diskutierten Kompetenz-Modelle24 20 Meik Zülsdorf-Kersting: Was ist guter Geschichtsunterricht? In: Johannes Meyer-Hamme/ Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte; Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 2), S. 7 – 20, hier S. 10. 21 Nach Franz Emanuel Weinert versteht man Kompetenzen als » […] die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.« Vgl. Franz Emanuel Weinert: Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim 2001, S. 27 f. 22 Karl-Ernst Jeismann: Geschichte als Horizont der Gegenwart: Über den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive. Paderborn 1985. 23 Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 (Grundzüge einer Historik, Bd. 1), S. 55. 24 Michael Sauer : Methodenkompetenz als Schlüsselqualifikation. Eine neue Grundlegung des Geschichtsunterrichts? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 30 (2002), H. 3/4, S. 18 – 43; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005; Wolfgang Hasberg: Von PISA nach Berlin. Auf der Suche nach Kompetenzen und Standards historischen Lernens. In: GWU 56 (2005), S. 684 – 702; Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e. V.: Bildungsstandards Geschichte. Rahmenmodell Gymnasium 5.–10. Jahrgangsstufe. 2006 (online verfügbar unter : http:// www.nglv.de/docs/Bildungsstandards_Geschichte_16.06.06.pdf, aufgerufen am 25. 03.
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Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
lassen sich – trotz einiger begrifflicher Unterscheidungen – alle auf die geschichtstheoretische Basis von Geschichtsbewusstsein und Narrativität zurückführen. »Geschichte« entsteht aufgrund von historischen Fragestellungen als Rekonstruktion von Vergangenem und wird in historischen Narrationen, die Bedeutung auch für die historische Orientierung in der Gegenwart und Zukunft haben, dargestellt. An standardisierten Instrumenten zur Messung historischer Kompetenzen mangelt es derzeit allerdings noch.25 Das FUER-Modell fasst, im Anschluss an J. Rüsen,26 historisches Denken als einen Prozess auf, der der historischen Orientierung dient. Folgende Kompetenzbereiche werden unterschieden: – Fragekompetenz(en): Das Interesse am Thema wird in historische Fragen übersetzt, die an die Quellen und historischen Narrationen gestellt werden. Dies schließt ein, historische Fragestellungen anderer zu verstehen und auf die eigene Fragestellung zu beziehen. – Methodenkompetenz(en): In der Re-Konstruktion werden Vergangenheitspartikel (die u. a. in Quellen greifbar werden) erhoben und in Zusammenhänge gesetzt. Dadurch entsteht eine Narration von Geschichte. Die DeKonstruktion hingegen bezieht sich auf fertige Darstellungen, die im zeitlichen Abstand zur Vergangenheit, von der sie berichten, entstanden sind, und schlägt den umgekehrten Weg ein: Hier wird die Tiefenstruktur einer historischen Narration analysiert. – Orientierungskompetenz(en): Aus der Verarbeitung der Vergangenheit kann die Gegenwart verstanden und ein Sinn für die Zukunft gebildet werden. – Sachkompetenz(en): Durch den an verschiedenen Themen und Fragestellungen immer wieder durchlaufenden Prozess historischen Denkens bilden sich die Sachkompetenzen heraus, d. h. die Schülerinnen und Schüler lernen Prinzipien, Konzepte, Kategorien und Skripts kennen und bilden Begriffsund Strukturierungskompetenzen aus.27
2013); Körber u. a. (Anm. 16); Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009; Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. Geschichte im Unterricht, Bd. 1. Stuttgart 2010. 25 Seit April 2012 arbeiten die Universität Tübingen gemeinsam mit der Universität Hamburg und der Katholischen Universität Eichstätt–Ingolstadt in dem BMBF-Projekt »HiTCH« (= Historical Thinking – Competencies in History«) zusammen, dessen Ziel es ist, einen historischen Kompetenztest für Large-Scale-Untersuchungen zu entwickeln. 26 Vgl. Rüsen (Anm. 23). 27 Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (Basisbeitrag). In: Körber u. a. (Hrsg.) (Anm. 16), S. 17 – 53, hier S. 23 f. Vgl. auch Waltraud Schreiber : Mit Geschichte umgehen lernen – Historische Kompetenzen aufbauen (Basisbeitrag). In: Waltraud Schreiber/Sylvia Mebus (Hrsg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern. 2. Aufl. Neuried 2007, S. 8 – 20, hier S. 21.
Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht
2.2.
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Re- und De-Konstruktion von Zeitzeugenbefragungen
Die Entscheidung für das historische Kompetenz-Strukturmodell der FUERGruppe als theoretische Basis für die Zeitzeugen-Studie und damit auch für das hierfür entwickelte Messinstrument resultiert aus dem einführend skizzierten Doppelcharakter des Zeitzeugeninterviews, die sich mit der Terminologie des FUER-Modells deckt, denn in der Formulierung der Re- und De-Konstruktionskompetenzen wird explizit auf den Umgang mit Quellen und Darstellungen abgehoben. Die Auswertung eines Zeitzeugenberichts, der beides ist, Quelle und Darstellung, fordert und fördert beide Kompetenzen. Zum einen sollte die viele Jahre später entstandene Erzählung de-konstruiert werden, d. h. die Tiefenstruktur des Zeitzeugenberichts im Hinblick auf die vermittelten Vergangenheitspartikel, die deutende Geschichtserzählung und die transportierte Botschaft wird analysiert. Zum anderen werden in der persönlichen Sicht des Zeitzeugenberichts Vergangenheitspartikel greifbar, die – im Zusammenspiel mit weiteren Quellen und Darstellungen – zur Re-Konstruktion der Geschichte beitragen. Daher liegt der Studie die These zugrunde, dass gerade wegen der Ambiguität des Zeitzeugen als Quelle und Darstellung Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht, die sorgfältig vorbereitet und kritisch reflektiert werden, im besonderen Maße historische Kompetenzen, v. a. die Einsicht in Re- und De-Konstruktionsprozesse, fördern.
2.3.
»Epistemological beliefs« im Fach Geschichte
Das sogenannte »Kurzinstrument«, das mit vierzig Items zur Aussagekraft von Quellen, Darstellungen und Zeitzeugen einen zentralen Teil des Messinstruments der Zeitzeugenstudie darstellt, zielt, wie oben ausgeführt, auf die Grundlagen historischen Denkens und damit auf die epistemologischen Prinzipien des Fachs Geschichte. In der Terminologie von Hans-Michael Baumgartner sind das die Prinzipien der »Retroperspektivität«, der »Partikularität« und der »Konstruktivität« von Geschichte.28 Nach dem FUER-Modell sind die epistemologischen Prinzipien »[…] konstitutiv für historische Erkenntnis und schränken die Möglichkeit a priori ein, durch Geschichte eine vergangene ›Wirklichkeit‹ abzubilden.«29 Diese Grundlagen sind im Bereich der Sachkompetenzen zu verorten. Da die Sachkompetenzen im Prozess des historischen 28 Hans-Michael Baumgartner : Narrativität. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 157 – 160. 29 Vgl. Schreiber (Anm. 27), S. 32.
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Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
Denkens entstehen, bestehen Überlappungen mit den historischen Frage-, Methoden- und Orientierungskompetenzen.30 Unter epistemologischen beziehungsweise epistemischen Prinzipien oder Überzeugungen (»epistemological beliefs«) versteht man, nach Barbara K. Hofer und Paul Robert Pintrich,31 die Überzeugungen einer Person über die Natur des Wissens und des Lernens. Die Forschungsdiskussion zu epistemologischen Überzeugungen wird seit den 1970er-Jahren intensiv geführt.32 Testinstrumente, mit denen die epistemologischen Überzeugungen zu verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gemessen werden sollen, wie auch Aufgabenstellungen aus geschichtsdidaktischen empirischen Studien dienten uns als Anregung für die Formulierung von Items, die auf die Grundlagen spezifisch historischer Erkenntnisprozesse abzielen.33 Da die Interventionsstudie die Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen untersucht, wurden auch Items formuliert, die explizit die Aussagekraft von Zeitzeugen in den Blick nehmen.
3.
Entwicklung des Kurzinstruments
Das Kurzinstrument ist ein Bestandteil der Messinstrumente, die in der Interventionsstudie »Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht« zum Einsatz kamen. Das Testinstrument im Ganzen besteht aus einer Vielzahl von Aufgaben in vorwiegend geschlossenen Formaten, die zu drei Testzeitpunkten (Vortest – Nachtest – »Follow Up«-Test) eingesetzt werden. Bei 30 Ebd., S. 33 f. 31 Barbara K. Hofer/Paul Robert Pintrich: The development of epistemological theories: Beliefs about knowledge and knowing and their relation to learning. In: Review of Educational Research 67 (1997) S. 88 – 140. 32 William Graves Perry : Forms of intellectual and ethical development in the college years. A scheme. New York 1970. Eine gute Übersicht über die deutschsprachigen Verfahren zur Erfassung epistemologischer Überzeugungen bietet Burkhard Priemer : Deutschsprachige Verfahren der Erfassung von epistemologischen Überzeugungen. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 12 (2006), S. 159 – 175. 33 Hilfreich waren Items, die von Stephan Schwan, Martin Merkt u. a. vom »Institut für Wissensmedien« in Tübingen für Untersuchungen zur Wirksamkeit von Museumsbesuchen entwickelt wurden. Weitere Anregungen entnahmen wir den Ergebnissen einer Sommerakademie der »Studienstiftung des deutschen Volkes«, in deren Rahmen der Fragebogen »,FEE‹ Fragebogen zur Erfassung epistemischer Überzeugungen« ausprobiert und ausgewertet wurde. Barbara Moschner/Hans Gruber : FEE: Fragebogen zur Erfassung epistemischer Überzeugungen. Universität Oldenburg 2007. Anregungen gaben auch einige Aufgabenstellungen aus der Untersuchung von Angvik/von Borries (Anm. 12) wie auch aus der Studie von Bodo von Borries zum Schulbuchverständnis. Bodo von Borries u. a. (Hrsg.): Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung in deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005.
Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht
199
den geschlossenen Formaten kann zwischen den Anwendungsaufgaben, die sich auf bestimmte ausgewählte Materialien beziehen, und den Aufgaben, die die Grundlagen des historischen Denkens thematisieren, unterschieden werden. Zu den Letztgenannten gehört das »Kurzinstrument«, das zu allen drei Testzeitpunkten eingesetzt wurde und die »epistemological beliefs« des Faches adressiert. Die für unsere Zielsetzung neu entwickelten beziehungsweise adaptierten Items des Kurzinstruments34 zu den Grundlagen des Wissens über die Vergangenheit haben wir in mehrere Korrekturdurchläufe gegeben. Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker, Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer überprüften die Aufgaben und Items hinsichtlich Kompetenzerfassung, Unterrichtsrelevanz und Validität. Kolleginnen und Kollegen mit psychometrischer Expertise gaben eine Rückmeldung im Hinblick auf die Formulierung der Items und die Auswahl der Formate. Vier Schüler erprobten die Verständlichkeit und Bearbeitungsdauer des Testinstruments. Außerhalb der Haupterhebung wurde das Kurzinstrument unter anderem in zwei Studierenden-Stichproben eingesetzt. Im Sommer 2011 wurde in der ersten Studierenden-Befragung das Kurzinstrument zu den »epistemological beliefs« zusammen mit einigen Hintergrundvariablen, wie Studienfächer, Abiturdurchschnitt und Schulnoten von 360 Studierenden (Erziehungswissenschaft und Lehramt für verschiedene Fächer, auch Geschichte, 37,4 % männlich, 62,6 % weiblich, Altersdurchschnitt 22,7 Jahre), bearbeitet. Den Studierenden wurde der ca. zehn Minuten dauernde Test zu Beginn einer Vorlesung vorgelegt. Die Teilnahme war freiwillig und anonym. Im Juni/Juli 2012 wurde das Kurzinstrument parallel zur Haupterhebung der Zeitzeugen-Studie in einer zweiten Stichprobe von Studierenden (N = 544, Fächer : Geschichte Erziehungswissenschaft, Deutsch, 44,4 % männlich, 55,6 % weiblich, Altersdurchschnitt 24,2 Jahre) eingesetzt. Die Studierenden bearbeiteten den Test freiwillig und anonym meist in den letzten zehn Minuten einer Vorlesung oder eines Seminars. Auch hier wurden einige Hintergrundvariablen, wie Studienfächer, Abiturdurchschnitt und Schulnoten, erfasst.35 Darüber hinaus wurde das Kurzinstrument mehrmals in Schüler-Stichproben eingesetzt. Das Kurzinstrument hat sich über die Erhebungszeitpunkte hinweg nur geringfügig verändert. Es besteht aus drei Itemgruppen, die zusammengefasst werden unter : (a) »Woher wissen wir etwas über die Vergangenheit?« mit Items wie z. B. »Historiker stehen manchmal vor dem Problem, dass nur Quellen von 34 Vgl. die Literaturangaben in Anm. 33. 35 Die letzte Studierenden-Stichprobe fand am Ende der Haupterhebung der Zeitzeugen-Studie statt. Ziel war es zum einen, die Ergebnisse der Schüler-Stichprobe zu validieren; zum anderen ist diese Erhebung im Zusammenhang mit dem BMBF-Kooperationsprojekt »HiTCH« (= »Historical Thinking – Competencies in History«) zu sehen, vgl. Anm. 24.
200
Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
einer Seite zur Verfügung stehen.«, (b) »Aussagekraft von Zeitzeugen« mit Items wie z. B. »Nur Zeitzeugen können uns wahre Auskünfte über die Vergangenheit geben, denn sie waren damals dabei. (umgepolt)« und (c) »Wie gut wissen wir über die Vergangenheit Bescheid?« mit Items wie z. B. »Geschichtswissenschaftler beschreiben vergangene Ereignisse genau so, wie sie wirklich passiert sind. (umgepolt)« Die Schüler kreuzen auf einer vierstufigen Skala (»bin mir ganz sicher, dass es nicht stimmt«, »bin mir halbwegs sicher, dass es nicht stimmt«, »bin mir halbwegs sicher, dass es stimmt«, »bin mir ganz sicher, dass es stimmt«) an. Da die formulierten Items eindeutig richtig oder falsch beantwortet werden können, handelt es sich eigentlich um ein »Forced Choice«-Format. Um die Ratewahrscheinlichkeit zu minimieren, haben wir uns aber für eine Skala mit vier Antwortoptionen entschieden. Hierbei wurden nur die zutreffenden Ankreuzungen auf den Extremkategorien als richtig codiert, also wenn sich der Proband »sicher« war, dass die Aussage zutrifft, oder nicht. Wenn sich ein Proband nur »halbwegs sicher« war, wurde dies wie die nicht zutreffende Extremkategorie als falsch codiert.
4.
Ergebnisse
Da wir uns bei der Entwicklung der Messung epistemologischen Überzeugungen im Fach Geschichte auf wissenschaftlichem Neuland bewegen, wurden die Daten der beiden Studierenden-Erhebungen jeweils mit »Exploratorischen Faktorenanalysen« (EFA) ausgewertet.36 Ziel einer EFA ist es zu bestimmen, ob Items inhaltlich zusammengehören, also mit derselben latenten Variable verbunden sind (d. h. auf denselben Faktor »laden«). Wenn ein Item in der Faktorenanalyse eine »hohe Ladung«, d. h. einen starken Zusammenhang mit der latenten Variable aufweist, dann kann dieses Item als relevanter Indikator der zugrundeliegenden latenten Variable (die z. B. eine Kompetenz repräsentiert) betrachtet werden. Niedrige Ladungen hingegen bedeuten, dass ein Item ein wenig geeigneterer Indikator zur Messung der latenten Variable darstellt. 36 Die im vorliegenden Beitrag berichteten Ergebnisse entstammen einer vergleichenden EFA der ersten und zweiten Studierenden-Stichprobe, die im Jahr 2012 gerechnet wurde. Die EFA der kategorialen (nicht metrischen) Variablen wurde auf der Basis einer tetrachorischen Korrelationsmatrix (WLMSV-Schätzverfahren in M-Plus) mit Geomin Rotation berechnet. In diese vergleichende EFA wurden nur die Items hineingenommen, die in beiden Erhebungen exakt den gleichen Wortlaut hatten. Bei der Berechnung eines Items kam es zu einem sog. »Heywood Case«. Dieses Item wird aus der Tabelle herausgenommen. Daher werden in der Ergebnistabelle nur die Ergebnisse von 33 Items – nicht der insgesamt 40 Items des Kurzinstruments – berichtet.
201
Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht
EFA Studierende 2012 F1 F2 F3
Item 1 Item 2 Item 3 Item 4 Bsp. 1 Item 5 Item 6 Item 7 Item 8
Item 9 Bsp. 2 Item 10 Item 11 Item 12 Item 13 Item 14 Item 15 Item 16 Bsp. 8 Item 17 Item 18
Item 19 Bsp. 5
Item 20 Bsp. 6 Item 21 Item 22
XXX XXX XXX Historiker müssen berücksichtigen, dass Quellen durchaus lückenhaft sein können. XXX XXX XXX XXX Darstellungen sind das Ergebnis der Quellenanalyse und -interpretation wie auch der Auswertung anderer Darstellungen. XXX XXX XXX XXX XXX XXX Ein Zeitzeugeninterview ist lediglich ein Baustein, um die Vergangenheit zu erschließen. XXX XXX Geschichtswissenschaftler beschreiben vergangene Ereignisse genau so, wie sie wirklich passiert sind. (umgepolt) Wenn man in einem Geschichtsbuch etwas liest, kann man sich sicher sein, dass es auch so passiert ist. (umgepolt) XXX XXX
EFA Studierende 2011 F1 F2 F3 metageschichtswiss. Reflex. 0,05 -0,11 -0,21
Deko -0,09 0,00 -0,11
0,68 0,80 0,66 0,53 0,77
0,02 0,05 -0,04 0,18 -0,07
-0,05 0,06 -0,02 0,06 -0,03
0,13 0,17 0,18 -0,29 -0,12 0,30 0,28
0,74 0,66 0,72 0,74 0,71 0,58 0,68
0,03 -0,13 -0,06 -0,11 0,02 -0,02 0,02
-0,17 0,17 0,16 0,01 -0,24 0,16 -0,05
0,42 -0,04 0,14
0,15 0,05 0,42
0,48 0,48 0,59
0,26 0,03 0,26 0,03 0,13 0,03
-0,08
0,00
0,91
0,24
0,17 0,52
0,02 -0,02 0,06
0,01 0,09 0,01
0,75 0,75 0,67
0,29 0,09 0,00
0,00 0,54 0,06 0,67 0,15 0,64
Sachkompetenz ›Reko‹ 0,87 0,87 0,71
Sachkompetenz ›Eigenart ZZ‹ -0,02 -0,30 -0,21
0,68 0,66 0,66 0,65 0,63
0,02 0,15 0,01 0,09 0,16
0,18 0,05 0,08 0,15 -0,05
0,63 0,59 0,59 0,58 0,53 0,50 0,49
-0,20 0,04 0,05 0,18 0,04 -0,07 -0,24
0,34 0,33 0,30
Sachkompetenz ›Deko‹ Reko -0,24 0,62 -0,03 0,62 -0,11 0,71
202
Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
(Fortsetzung) EFA Studierende 2012 F1
F2 SachSach- komkom- petenz petenz ›Eigen›Reko‹ art ZZ‹
Item 23 Bsp. 7 Item 24 Item 25 Item 26
Item 27 Bsp. 3
Nur Zeitzeugen können uns wahre Auskünfte über die Vergangenheit geben, denn sie waren damals dabei. (umgepolt) XXX XXX XXX Wenn man mehrere Zeitzeugen zum selben Ereignis befragt, bekommt man verschiedene Antworten. Jeder Zeitzeuge hat seine eigene Sicht auf die Vergangenheit. XXX XXX XXX XXX
Item 28 Bsp. 4 Item 29 Item 30 Item 31 Item 32 Item 33 Abb.: Ergebnisübersicht.
EFA Studierende 2011 F3
F1
F2 F3 metageSachschichtskomwiss. petenz Deko ›Deko‹ Reko Reflex.
0,18 0,14 0,18 0,27
-0,03 0,00 0,09 0,19
0,60 0,53 0,36 0,33
0,30 0,33 0,26 0,45
0,21 0,09 0,04 0,14
0,15 0,32 0,21 0,30
-0,05
0,86
-0,06 -0,01
0,86 -0,15
0,00 0,06 0,04 0,16 0,28 0,01
0,79 0,56 0,55 0,51 0,46 0,40
-0,01 0,16 0,18 -0,16 0,19 0,33 0,17 0,07 0,01 0,13 0,20 0,15
0,90 0,89 0,44 0,75 0,63 0,37
-0,27 0,00 0,05 0,00 0,03 0,01
In den Studierenden-Stichproben von 2011 und 2012 bildete sich eine sehr ähnliche Faktorenstruktur ab, die den Schluss nahelegt, dass sich bei den formulierten Items zu den »epistemological beliefs« hinsichtlich des Fachs Geschichte drei Dimensionen abzeichnen. Dieselben Items luden jeweils auf den vergleichbaren drei Faktoren. Doch in der zweiten Studierenden-Stichprobe entschieden wir uns – nach der vertieften Beschäftigung mit der Datenstruktur – bei der Interpretation der Faktoren für eine andere Benennung. Das Vorgehen und die Interpretation der Faktoren in der ersten Studierenden-Stichprobe werden detailliert im Tagungsband der gde12 beschrieben.37 Hier benannten wir diese drei Faktoren folgendermaßen: Faktor (1) »Re-Kon37 Vgl. Bertram/Wagner/Trautwein (Anm. 19). Hier wurden die Ergebnisse einer EFA, die ausschließlich mit der ersten Studierenden-Stichprobe mit Promax Rotatation berechnet wurde und mehr Items umfasste, dargestellt. Der Übersichtlichkeit halber werden in den zitierten Ladungen und in der Ergebnistabelle des vorliegenden Beitrags nur die Ergebnisse der vergleichenden EFA von 2012 berichtet.
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203
struktion«,38 vgl. Beispiel-Item 1 (»Historiker müssen berücksichtigen, dass Quellen durchaus lückenhaft sein können.« Ladung: .68) und Beispiel-Item 2 (»Darstellungen sind das Ergebnis der Quellenanalyse und -interpretation wie auch der Auswertung anderer Darstellungen.« Ladung: .74), Faktor (2) »Metageschichtswissenschaftliche Reflexion«, vgl. Beispiel-Item 3 (»Wenn man mehrere Zeitzeugen zum selben Ereignis befragt, bekommt man verschiedene Antworten.« Ladung: .86) und Beispiel-Item 4 (»Jeder Zeitzeuge hat seine eigene Sicht auf die Vergangenheit.« Ladung: .79), Faktor (3) »De-Konstruktion«, vgl. Beispiel-Item 5 (»Geschichtswissenschaftler beschreiben vergangene Ereignisse genau so, wie sie wirklich passiert sind.« [umgepolt] Ladung .52) und BeispielItem 6 (»Wenn man in einem Geschichtsbuch etwas liest, kann man sich sicher sein, dass es auch so passiert ist.« [umgepolt] Ladung: .54). Die Besonderheit der Zeitzeugenitems (vgl. Beispiel-Items 3 und 4) hatten wir in unserer Benennung nicht berücksichtigt, sondern hatten die oben zitierten Aussagen zu Zeitzeugen als Beispiel für die Erkenntnis der Multiperspektivität von Geschichte verstanden und damit als meta-geschichtliches Reflexionsvermögen interpretiert. Die Datenstruktur der zweiten Studierenden-Stichprobe ließ sich ebenfalls durch drei Faktoren gut beschreiben. Wieder war eine Dimension zu erkennen, die wir als Faktor (1) »Sachkompetenz ›Re-Konstruktion‹« bezeichnet haben. Beispiel-Item 1 lud wieder, wie Beispiel-Item 2, auf dem ersten Faktor (.68 und .63), den wir »Sachkompetenz ›Re-Konstruktion‹« nannten. Die anderen Items luden in ähnlicher Weise auf den anderen beiden Faktoren, doch nach der genauen Durchsicht der Ladungsmuster und Formulierungen der Items entschieden wir uns nun für eine Benennung, die der Besonderheit der Items, die auf dem zweiten Faktor laden, besser gerecht wird. Die Beispiel-Items 3 und 4 luden mit .86 und .79 auf dem zweiten Faktor, den wir nun als Faktor (2), »Sachkompetenz ›Eigenart des Zeitzeugen‹«, bezeichnet haben, während Beispiel-Item 5 und Beispiel-Item 6 mit .75 und .91 auf dem dritten Faktor luden, den wir mit Faktor (3), »Sachkompetenz ›De-Konstruktion‹«, benannt haben. Es kann ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem Faktor »Sachkompetenz ›Eigenart des Zeitzeugen‹« um einen Faktor handelt, der lediglich die Items zusammenfasst, die den Begriff »Zeitzeuge« verwenden, denn einige Items, in denen die Formulierung »Zeitzeuge« verwendet wird, luden auf einem anderen Faktor. Beispiel-Item 7 (»Nur Zeitzeugen können uns wahre Auskünfte über die Vergangenheit geben, denn sie waren damals dabei.« [umgepolt]) lud mit .60 auf dem Faktor »Sachkompetenz ›De-Konstruktion‹«, mit .18 auf dem Faktor 38 Als Problem haben wir in dem gde12-Beitrag zwar formuliert, dass das richtige Beantworten dieser Items noch nicht auf das Verfügen über die Re- beziehungsweise De-Konstruktionskompetenz, sondern eher etwas über die Sachkompetenz aussagt, doch bei der Benennung der Faktoren hatten wir diese Überlegung nicht aufgenommen.
204
Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
»Sachkompetenz ›Re-Konstruktion‹« und mit .03 auf dem Faktor »Sachkompetenz ›Eigenart des Zeitzeugen‹«. Beispiel-Item 8 (»Ein Zeitzeugeninterview ist lediglich ein Baustein, um die Vergangenheit zu erschließen.«) hingegen zeigt eine interessante Doppelladung auf den Faktoren »Sachkompetenz ›Re-Konstruktion‹« (Ladung: .34) und »Sachkompetenz ›Eigenart des Zeitzeugen‹« (Ladung: .42).
5.
Interpretation
Die berichteten Ergebnisse sind für die Theoriebildung in der Geschichtsdidaktik von hoher Relevanz. Zum einen ist es ausgesprochen interessant, dass sich auf der Ebene des Grundlagenwissens über das Zustandekommen von historischen Erkenntnissen, die im FUER-Modell den Sachkompetenzen zugeordnet werden, eine Faktorenstruktur abzeichnet, die (1.) auf Re- und DeKonstruktionsprozesse abhebt und (2.) mit einem dritten Faktor die »Eigenart des Zeitzeugen« zu adressieren scheint. Der erste Befund (vgl. Beispiel-Items 1, 2 und 5, 6) lässt sich selbstverständlich nicht dahingehend interpretieren, dass die Probanden, die diese Items korrekt lösen, auch über historische Methodenkompetenzen verfügen. Dafür müssten sie einen Nachweis erbringen, dass sie re- beziehungsweise de-konstruieren können. Doch die Daten legen den Schluss nahe, dass sich das Wissen über Re- beziehungsweise De-Konstruktionsprozesse unterscheidet. Probanden, denen durchaus bewusst ist, dass Geschichte re-konstruiert wird (vgl. Beispiel-Items 1 und 2), sind mit der Notwendigkeit der De-Konstruktion von fertigen Narrationen nicht unbedingt vertraut (vgl. Beispiel-Items 5 und 6). Deutlich seltener nämlich werden die Items, die zur Skala »Sachkompetenz ›DeKonstruktion‹« gehören, gelöst. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Studierenden diese Items sehr viel besser bearbeiten können als die Schülerinnen und Schüler.39 Damit ist ein Indiz dafür gegeben, dass sich die dezidierte Unterscheidung von Re- und De-Konstruktionsprozessen, die im historischen Kompetenz-Strukturmodell der FUER-Gruppe vorgenommen wird und in der Hamburger Schulbuch-Studie empirisch nachgewiesen werden konnte,40 auch auf der Ebene der Sachkompetenzen auffinden lässt.41 Dies entspricht der 39 Dieser Befund wird genauer berichtet und interpretiert in unserem Beitrag in der gde12 (Anm. 19). 40 Johannes Meyer-Hamme: Schulbuchverständnis und Schulbuchvergleich zu Bonifatius II – Erhebung mittels Kurzessays. In: von Borries u. a. (Anm. 33), S. 121 – 157. 41 Ohne die Ergebnisse der Haupterhebung, die erst zu einem späteren Zeitpunkt berichtet werden können, vorwegnehmen zu wollen, sprechen für diese Deutung auch die Ergebnisse vergleichender »konfirmatorischer Faktorenanalysen« (CFAs) auf der Basis des Nachtests in
Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht
205
theoretischen Annahme einer Überlappung der Sachkompetenzen mit den prozessualen Kompetenzen, die schon unter Punkt 2.3 angesprochen wurde.42 Der zweite Befund einer Dimension »Sachkompetenz ›Eigenart des Zeitzeugen‹« hat uns im Hinblick auf unsere Interpretation der Studierenden-Erhebung von 2011 zum Nachdenken gebracht. Schauen wir uns zunächst das BeispielItem 7 an, in dem der Begriff »Zeitzeuge« zwar auftaucht, der jedoch auf dem Faktor »Sachkompetenz ›De-Konstruktion‹« lädt. Das Ladungsmuster dieses Items ist nach dem FUER-Modell erwartungskonform, denn dieses Item deutet mit der Formulierung der vermeintlich »wahren Auskünfte« des Zeitzeugen auf die Notwendigkeit der De-Konstruktion von Narrationen hin, deren Tiefenstruktur im Hinblick auf Vergangenheitspartikel, Deutungsangebot und Botschaft analysiert werden soll. In ähnlicher Weise kann die Doppelladung von Beispiel-Item 8 verstanden werden. Hier wird mit der Formulierung »Zeitzeugenbericht als Baustein zur Erschließung der Vergangenheit« die Notwendigkeit der Re-Konstruktion adressiert, nach der eine Zeitzeugenaussage nur im Kontext mit anderen Quellen und Darstellungen Aussagen über die Vergangenheit erlaubt. Dass diese beiden Items – trotz der Nennung des »Zeitzeugen« im ItemText – auf den anderen beiden Faktoren (mit-)laden, entspricht also durchaus dem FUER-Modell. Wie kommt es aber zu dem eigenen Faktor »Sachkompetenz ›Eigenart des Zeitzeugen‹« (vgl. Beispiel-Items 4 und 5)? Eine mögliche Erklärung hierfür könnte in der oben ausgeführten Doppelgesichtigkeit des Zeitzeugen zu sehen sein. Die Lernenden scheinen instinktiv zu begreifen, dass der Zeitzeugenbericht eine Sonderrolle spielt und mit re- beziehungsweise de-konstruierenden Denkoperationen allein nicht angemessen erfasst werden kann. Denn der Zeitzeuge ist quasi ein »Überbleibsel« der Vergangenheit, das in die Gegenwart hineinragt, und sein Bericht ist eine Quelle, die zur Re-Konstruktion der Vergangenheit genutzt werden kann. Andererseits aber wird dieser Bericht in der Gegenwart verfasst, spiegelt eine Perspektive auf die Vergangenheit wider und transportiert eine Botschaft für heute, sodass diese Narration auch de-konstruiert werden muss. Daher kann der empirische Befund einer eigenen Dimension »Sachkompetenz ›Eigenart des Zeitzeugen‹« als Bestätigung der Ausgangsthese der Interventionsstudie interpretiert werden.
der Haupterhebung. An dieser Stelle soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass wir hier zwei CFAs gerechnet haben, wobei bei der ersten CFA die Items auf Grundlage des FUERModells zugeordnet wurden, und in der zweiten CFA man ausgehend von den Ergebnissen der vorhergehenden empirischen Studien die Zuordnung der Items zu den Faktoren vorgenommen hat. Das theoretisch begründete wie auch das empirisch basierte Modell zeigten eine vergleichbar gute Anpassung an die Daten (Modell-Fit). 42 Vgl. Schreiber (Anm. 27), S. 34 f.
206
6.
Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
Ausblick
Die Auswertung der Ergebnisse der Interventionsstudie »Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht« geht in drei Richtungen weiter. Zum einen wird die Faktorenstruktur des Kurzinstruments zu den epistemologischen Überzeugungen aufgrund der drei Testzeitpunkte in der Haupterhebung überprüft (vgl. Anm. 37). Zum anderen wird der Frage nachgegangen, ob die Arbeit mit Zeitzeugen in allen drei Treatment-Stufen (Live, Video, Text) die historischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler fördert und ob hinsichtlich der Effekte differenzielle Unterschiede zwischen den drei Treatments zu beobachten sind. So könnte es sein, dass die Arbeit mit einem LiveZeitzeugen zwar das Engagement und die Gesprächsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler erhöht, dass aber die Präsenz und die »Aura« des persönlich überzeugenden Zeitzeugen die Bereitschaft beziehungsweise die Fähigkeit zur De-Konstruktion des Berichts mindert. Zum dritten sollen die geschlossenen und offenen Aufgabenformate im Hinblick auf die zugrundeliegenden historischen Kompetenzen verglichen werden. Welche (Teil-)Kompetenzen werden mit den offenen beziehungsweise geschlossenen Aufgabenformaten adressiert? Welche Formate eignen sich für die Messung welcher (Teil-)Kompetenzen? Mit der Beantwortung dieser weiterführenden Fragen an die Haupterhebung hoffen wir, einen empirisch fundierten Beitrag zur geschichtsdidaktischen Theoriebildung wie auch zur Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht zu leisten.
Literatur Magne Angvik/Bodo von Borries: Youth and History. A Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents, Bd. 1. Hamburg 1997. Michele Barricelli: Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute als geschichtskulturelle Objektivation und seine Verwendung im Geschichtsunterricht – ein Problemaufriss. In: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009, S. 198 – 211. Hans-Michael Baumgartner : Narrativität. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 157 – 160. Christiane Bertram: Zeitzeugen zur Friedlichen Revolution: Live – Video – Text. Vorstellung einer kompetenzorientierten Unterrichtseinheit. In: Gerhard Fritz/Eva LuiseWittneben (Hrsg.): Landesgeschichte in Forschung und Unterricht. Beiträge des Tages der Landesgeschichte in der Schule vom 26. Oktober 2011 in Bühl. Stuttgart 2012, S. 63 – 79. Christiane Bertram: Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht –
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207
ein Beitrag für die empirische Geschichtsdidaktik. In: geschichte für heute 5 (2012), H. 3, S. 21 – 33. Christiane Bertram/Wolfgang Wagner/Ulrich Trautwein: Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen – Entwicklung eines Messinstruments für eine Interventionsstudie. In: Jan Hodel/Monika Waldis/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik12. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 12«. Bern 2013, S. 108 – 119. Bildungswerk der Humanistischen Union NRW/Zeitpfeil-Studienwerk Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Zeitzeugenarbeit zur DDR-Geschichte. Historische Entwicklungslinien – Konzepte – Bildungspraxis. Potsdam 2012, S. 8 – 45. Bodo von Borries u. a. (Hrsg.): Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung in deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005. Christoph Classen: Der Zeitzeuge als Artefakt der Medienkonsumgesellschaft. Zum Verhältnis von Medialisierung und Erinnerungskultur. In: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hrsg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012, S. 300 – 319. Ralph Erbar : Zeugen der Zeit? Zeitzeugengespräche in Wissenschaft und Unterricht. In: geschichte für heute 5 (2012), H. 3, S. 5 – 20. Alexander Geppert: Forschungstechnik oder historische Disziplin? Methodische Probleme der Oral History. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 303 – 323. William Graves Perry : Forms of intellectual and ethical development in the college years. A scheme. New York 1970. Wolfgang Hasberg: Von PISA nach Berlin. Auf der Suche nach Kompetenzen und Standards historischen Lernens. In: GWU 56 (2005), S. 684 – 702. Barbara K. Hofer/Paul Robert Pintrich: The development of epistemological theories: Beliefs about knowledge and knowing and their relation to learning. Review of Educational Research 67 (1997), S. 88 – 140. Karl-Ernst Jeismann: Geschichte als Horizont der Gegenwart: Über den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive. Paderborn 1985. Andreas Körber u. a. (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007. Annemarie Kraus: Kategoriale Inhalts- und Strukturanalyse zur Auswertung von Schüleräußerungen zu Zeitzeugen – Wirksamkeitsforschung für kompetenzorientierten Geschichtsunterricht an Hauptschulen. In: Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/ Florian Sochatzky : Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013, S. 194 – 211. Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktisches Erkundigungen zur Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012 (Politik und Bildung, Bd. 66). Barbara Moschner/Hans Gruber : FEE: Fragebogen zur Erfassung epistemischer Überzeugungen. Universität Oldenburg 2007. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005. Burkhard Priemer : Deutschsprachige Verfahren der Erfassung von epistemologischen
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Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein
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III. Sektion: Geschichtskultur – Studien zu Geschichte und Geschichtsbewusstsein als gesellschaftliche Konstruktionen
Frank Britsche
Erinnerungsfeiern als geschichtskultureller Ausdruck historischen Bewusstseins
1.
Der Begriff »Erinnerungsfeier« als Modell
Die historische Festforschung erfreut sich einer ungebrochenen und sich mittlerweile auf viele Wissenschaftsdisziplinen ausbreitenden Konjunktur.1 Wurden bislang in der Geschichtsdidaktik häufig die Begriffe »Fest«, »Feier«, »Jubiläum« oder »Jubelfeier« synonym und weniger trennscharf verwendet, soll im Folgenden versucht werden, den Begriff der »Erinnerungsfeier« als eigenen historischen Festtypus am Beispiel Sachsens im 19. Jahrhundert herauszustellen. Zunächst stellt sich die Frage nach einer geeigneten und praktikablen Systematik der festkulturellen Erscheinungsformen für den Untersuchungszeitraum, denn sehr vielfältig und beinahe unüberschaubar sind die Anlässe des festlichen Gedenkens, sodass für das 19. Jahrhundert von einer Blüte der Festformen gesprochen werden kann. Dieses Säkulum war gekennzeichnet durch einen regelrechten »Jubiläumsboom«, unter anderem weil die Zeitintervalle des Gedenkens immer kürzer wurden. Wie Winfried Müller darstellt, wurde dies durch eine intensivere Zeitwahrnehmung und die Beschleunigung der Lebenswelt durch die Industrialisierung, Modernisierung und Rhythmisierung der Alltagswelt hervorgerufen, dies in Verbindung mit der bewussten Vergegenwärtigung der Eigengeschichte von Institutionen (Universitäten, Schulen, Vereine etc.), an die im Laufe des 19. Jahrhunderts in immer kürzeren Abständen erinnert wurde, bis sie schließlich in Zehner- oder gar Fünferschritten rhythmisiert wurde.2 1 Ein Überblick über die Festtheorien bietet: Jörg Neijenhuis: Feste und Feiern. Eine theologische Theorie. Leipzig 2012. Zum Stand der Forschung sieh: Michael Maurer (Hrsg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Köln u. a. 2010, S. 9 – 12. 2 Winfried Müller: Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion. In: Ders.: Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster 2004, S. 1 – 75, hier S. 52, sowie Ders.: Instrumentalisierung und Selbstreferentialität des historischen Jubiläums. Einige Beobachtungen
212
Frank Britsche
Erforderlich ist daher eine strukturelle und fragengeleitete Systematisierung historischer Jubiläen im 19. Jahrhundert. Die in den Quellen schier unüberblickbare Fülle unterschiedlicher Feier- und Gedenktage, Feste und Jahrestage verlangt eine grundlegende Differenzierung und Engführung des Themas »Erinnerungsfeiern«: zum einen die Unterscheidung zwischen Fest und Feier in theoretischer Perspektive, zum anderen zwischen periodisch wiederkehrenden Gedenktagen, privat-assoziativem Erinnern sowie mehrtägigen, massenmobilisierenden Ehrenfeiern. Nach festtheoretischen Überlegungen ist die Feier eine Unterform des Festes, die veranstaltet wird und weniger etwas permanent Wiederkehrendes ist.3 In Anlehnung an die Überlegungen von Otto Friedrich Bollnow, unterscheidet Winfried Gebhardt idealtypisch zwischen Fest und Feier mit der Funktion der Alltagsbewältigung: Wenn das Fest universell der Gegenpart des Alltags sein soll, der aufgehoben und durchbrochen wird, handelt es sich konkret um das Fest, während die Feier dem Alltag einen spezifischen Sinn zuschreibt.4 Bei den herausragenden Erinnerungsfeiern im Untersuchungszeitraum ist die idealtypische Trennschärfe allerdings zu kontrastieren. Denn bei diesen mehrtägigen Feiern waren bestimmte, immer wiederkehrende Elemente eingebunden, die einem sogenannten Volksfest zuzuordnen sind, beispielsweise Tanz, Spiel, »Caroussels, Schaukeln«, Festmahl mit Getränken sowie »Vogel- und Sternschießen mit Stechvögeln, Figurenstechen, Kletterstangen, Wettrennen«.5 An dieser Aufzählung wird die Funktion der Alltagsentlastung durch das Fest deutlich, die bei jeder Feier, zumindest als Teilkomponente, eine tragende Rolle spielt. Spezifische Gestaltungselemente der Feier hingegen sind Gottesdienste, Festreden und -bankette, Theateraufführungen, Lieder und Gedichte sowie abendliche Fackel- oder Tagesfestumzüge. Neben den äußeren Formen treten als Konstitutionsmerkmale der Feier der bedeutsame Anlass beziehungsweise die zugeschriebene Sinnstiftung und die Versammlung der Teilnehmenden hinzu.6 Wird dieser Vergemeinschaftungsform des Festes Rechnung getragen, in der
3 4 5 6
zu Eigengeschichte und Geltungsanspruch eines institutionellen Mechanismus. In: Gert Melville/Hans Vorländer : Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln u. a. 2002, S. 265 – 285, hier S. 271. Weitere Unterscheidungskriterien zwischen Fest und Feier sieh: Michael Maurer : Prolegomena zu einer Theorie des Festes. In: Ders. (Hrsg.): Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln u. a. 2004, S. 19 – 54, hier S. 32 – 38. Ebd., S. 32. Programm der Vierten Säcularfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst. Leipzig 1840, S. 11. Das »Volks-Fest« fand auf einem außerhalb der Stadt gelegenen Platz statt und zwar am Ende der dreitägigen Feier am 26. Juni 1840. Vgl. Lars Deile: Feste – Eine Definition. In: Maurer (Anm. 3), S. 1 – 17, hier S. 7. M. Maurer bündelt, in Anlehnung an Winfried Gebhardt, diese Teilkomponenten in einer Definition: »Im Fest vergegenwärtigt sich eine Gemeinschaft lebensbejahende Bedeutung in besonderen äußeren Formen.«
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außeralltägliches Handeln institutionalisiert ist, dienen Feste und Feiern nicht nur der individuellen, sondern gleichsam der kollektiven Bewältigung des Alltags: Das Fest hilft, den Alltag zu bewältigen, indem es ihn bewusst macht – die Feier aber, indem sie ein sinnvolles Geschehen ins Bewusstsein rückt.7 Die Feier ist eine außeralltägliche Vergesellschaftungsform, in der wertrationales Handeln institutionalisiert wird. Dieses Handeln ist gleichsam gebunden an bewusste Ideen oder Weltbilder, welche in ihr aktualisiert werden.8 In der Feier wird die Bedeutungsebene nachdrücklich reflektiert und betont. Ist auf der Bedeutungsebene der Anlass ein dezidiert historischer, konkret: ein Ereignis, wie zum Beispiel die Reformation, eine Person, wie Johannes Gutenberg, oder eine Epoche, wie der Dreißigjährige Krieg, also Phänomene, an die im kulturellen Gedächtnis der jeweiligen Zeit erinnert wird, so handelt es sich um eine besondere öffentliche Feier. Diese Sonderform wird als »Erinnerungsfeier« bezeichnet. Dieser analytische Kategoriebegriff grenzt inhaltlich das säkulare historische Jubiläum von den traditionellen kirchlichen Feiern ab. Als eine Art Gegenentwurf zur liturgischen Messe und kirchlichen Feierpraxis entwickelte das von aufklärerischen Ideen erfüllte »Gedächtnisfest« neue Formen der Festkultur, insbesondere der symbolischen Repräsentation von sozialen Gruppen und Milieus. Erinnerungsfeiern waren stark anlassgebunden, hatten einen konkreten historischen Bezug und waren identitätsstiftend für den Teilnehmerkreis. Sie unterschieden sich von wiederkehrenden politischen Gedenktagen, wie dem sächsischen Verfassungstag jährlich im September, und von den rein weltlichen Volksfesten mit belustigendem Charakter, wie den Schützenfesten.9 Anlass, Form und Gemeinschaftskonstruktion entwickelten in diesem Festtypus einen immer stärkeren Öffentlichkeitsbezug und weiteten den Kreis der Teilnehmer sukzessive aus. Die Erinnerungsfeste pluralisierten und differenzierten sich, sie wurden als Kristallisationspunkte des kollektiven Geschichtsbewusstseins gleichsam Motor der historischen Erinnerung. Erinnerungsfeiern waren Ausdruck der Geschichtskultur in der Gesellschaft, die, wiederum sozial
7 Maurer (Anm. 3), S. 35. M. Maurer zitiert die Funktionalität der Alltagsbewältigung aus Winfried Gebhardt: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt a. M. u. a. 1987, S. 53. (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXII, Bd. 143). 8 Ebd., S. 36. Vgl. Gebhardt (Anm. 7), S. 63. 9 Für den sächsischen Raum sei hier das Beispiel des bis in die Frühe Neuzeit zurückreichenden Volksfestes »Tauchschen« in der Stadt Taucha bei Leipzig genannt. In Abgrenzung zu den Schützenfesten werden die Turner- und Sängerfeste mit ihren teilweise starken politischen Implikationen deutlich unterschieden. Hierzu: Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808 – 1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München 1984.
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differenziert, eigene Erinnerungsdiskurse in sich barg. Brennglasartig verdichteten sich in den Feiern die historischen Diskurse der Zeit. Somit können anhand der Untersuchung von Erinnerungsfeiern zeittypische Erzählstränge, Mythen und Deutungen, Identitätskonstruktionen und Sinnstiftungen freigelegt und interpretiert werden. Einzelne Gruppen und soziale Milieus stellten die traditionellen Muster der elitengestützen Verarbeitung von Geschichtswissen und -modellen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr infrage. In den Organisationskomitees, die sich zunehmend sozial ausdifferenzierten, wurden Interessengegensätze austariert, mithin Geschichtsdeutung und Erinnerungswissen hinterfragt. Sinnstiftungen wurden in den Organisationskomitees legitimiert, beurteilt und modifiziert. Der affirmativen Gedenkkultur wurden in den Feiern Gegenwelten gestiftet, alternative Ansprüche auf Geschichtsdeutung traten öffentlich präsenter auf und pluralisierten die Memorialkultur mit all ihren Elementen, dies vor allem mit ihrem ausdrucksstärksten Element – der historischen Erinnerungsfeier. Ziel der Erforschung von Erinnerungsfeiern, in denen sich zeittypische Debatten und Deutungsmuster über Geschichte fokussieren, soll also die Analyse ihrer Genese, Erscheinungsformen und Wandlungen sein, die somit eine tiefere Einsicht in das Geschichtsbewusstsein einer sozialen Gruppe, eines sozialmoralischen Milieus, schließlich der Gesellschaft in einem bestimmten Raum erlaubt. Dazu müssen konkrete Zeiten, Räume, Personen und Interessenlagen bestimmt und mit den, nach Jörn Rüsen, etablierten geschichtskulturellen Dimensionen in Beziehung gesetzt werden: Die kognitive Komponente leuchtet die Vielschichtigkeit des historischen Sachkontextes aus, die politisch-moralische Komponente hat die Frage der festkulturellen (Gestaltungs-)Machtverteilung im Blick, die ästhetische Komponente sucht nach der Wahrnehmung und dem Sinnhaften des Historischen, mithin nach der symbolischen Repräsentation sowie der Wandlung volkskultureller Feierelemente.10 Hinzu kommt bei diesen »Massenfesten« (gemeint sind die Feiern anlässlich der Erinnerung an die Erfindung der Buchdruckerkunst 1840, des 100. Geburtstags Friedrich Schillers 1859 sowie des Todestages des Schwedenkönigs in der Schlacht bei Lützen 1882), die der Verfasser des Aufsatzes untersucht, die ökonomische Dimension. Denn diese Feiern wurden zunehmend zu einem Wirtschaftsfaktor – erwähnt seien die literarische Produktion, Medien- und Journalismusbranche, Tourismus und Devotionalienindustrie – sowie zu touristischen »Events«. Wissenschaft, Ökonomie, Politik und Kultur werden als Bezugs- und Bestimmungsgrößen in der historiografischen Reflexion miteinander in Beziehung gesetzt. Diese konkretisieren sich wechselseitig in der historischen Feier. Bei der Herausbildung eines 10 Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. 2. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2008, S. 137.
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Mechanismus des historischen Jubiläums kommt die Frage nach der »Wiederholungsstruktur« ins Spiel. Das betrifft die Selbstreferentialität der Feiern und deren vergegenwärtigte Selbstinszenierung. Es soll bei der Betrachtung auch herausgefunden werden, »[…] wie in den Jubiläumsfeierlichkeiten neben der Eigengeschichte von Organisationen und Personen auch der im Prozeß dieser Selbstinszenierung entwickelte und eingesetzte institutionelle Mechanismus des Jubiläums thematisiert wird – sei es, daß auf frühere oder künftige Jubelfeiern Bezug genommen wird oder die Eigengeschichte als eine Kette von Jubiläen und damit stets existent gewesenen Traditionsbewusstseins vorgestellt wird.«11 Die Selbstreferentialität zu erforschen, ist besonders geeignet, um konkrete Aussagen zur zeittypischen Geschichtskultur und damit zum intendierten Geschichtsbewusstsein zu treffen. Denn in der Erinnerungsfeier wurde die »Wiederholungsmaschinerie« in Gang gehalten, um historisches Bewusstsein fortlaufend zu produzieren. In der Tat liegt der Fokus der Erforschung der Erinnerungsfeiern in der Untersuchung des periodischen Gedenkens mit seinen Verkürzungen, Vereinnahmungen und Umdeutungen von Geschichte, für welche die Jubiläumskultur in besonderer Weise anfällig zu sein schien.12 Betrachtet man die Erinnerungsfeiern als Mikrokosmos, in dem sich zeitverfasste Geschichtskultur metaphorisch im »monadischen Spiegel« abzeichnet, so ergeben sich Rückschlüsse auf das zeittypische historische Bewusstsein im jeweiligen »Zeitkäfig« (Dan Diner).13 Die Erforschung eröffnet der geschichtsdidaktischen Disziplin weite Spielräume, um die Sensibilität gegenüber den strukturgenetischen Ausprägungen festkultureller Entwicklungen, historischer Events und öffentlicher Geschichtsvermarktung in unserer Gegenwart zu schärfen.
2.
Ergebnisse der Archivstudie für Sachsen im 19. Jahrhundert
Das Modell der »Erinnerungsfeier« soll im Folgenden am Beispiel der untersuchten Feste und Feiern für das Gebiet Sachsen angewandt werden, indem ein kursorischer Überblick für das 19. Jahrhundert skizziert wird. Methodisch wurde in der vorliegenden Untersuchung zunächst eine Archivstudie in den zentralen Staatsarchiven, den kommunalen Stadt- und ausgewählten Privatarchiven unternommen, um eine Bestandsaufnahme der archivalisch erfassten 11 Müller (Anm. 2), S. 266. 12 Paul Münch (Hrsg.): Jubiläum, Jubiläum. Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005, S. 12. 13 Maurer (Anm. 1), S. 12. Die Metapher des Mikrokosmos für das historische Fest, als Verdichtungsebene vielfältiger sozialer Aktivitäten und Sinnstiftungen, findet sich schon früher bei Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handels im 19. Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 9.
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Feste und Feiern für das Gebiet des ehemaligen Königreiches Sachsen vorlegen zu können. Zeitlich lag der Fokus auf dem langen 19. Jahrhundert, da für die Frühe Neuzeit bereits beachtenswerte Studien zur strukturellen Genese der historischen Jubiläen, ihrer allmählichen Ausbreitung und Selbstreferentialität vorliegen.14 Den Studien von Winfried Müller und Wolfgang Flügel folgend, entstand das historische Jubiläum seit dem 16. Jahrhundert, als es eine positive Bedeutung in der protestantischen Gedenkpraxis erhielt: »Denn bis dahin war der Jubiläumsbegriff ausschließlich an die Heiligen Jahre der katholischen Kirche gebunden, die mit ihrem Bezug auf die Geburt Christi eine sakrale mit Ablass verbundene Form der Memorialkultur etabliert hatte. Im protestantischen Selbstverständnis begann sich das Jubiläum als ein feierliches Denken an ein konstituierendes historisches Ereignis herauszukristallisieren, als verschiedene protestantische Universitäten die Wiederkehr ihrer Gründung feierten.«15 In direkter Entwicklungslinie hierzu stehen die sächsischen Reformationsjubiläen, da sich milieuspezifisch ein ähnlicher Trägerkreis herausfiltern lässt, der die Elemente der Universitätsjubiläen adaptierte.16 Diese sehr frühen Universitäts- und Konfessionsfeiern, bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ein Konglomerat der geistesgesinnten Stadtelite, sind breit untersucht; es soll beispielsweise an die frühneuzeitlichen Universitätsjubiläen erinnert werden, wie sie 1602 in Wittenberg oder 1609 in Leipzig stattfanden.17 Im Zuge der Französischen Revolution fanden neue Elemente Einzug in die Festkultur. Mit den Feiern zur Erinnerung an die »Leipziger Schlacht« von 1813 gelang die massentaugliche Umwidmung hin zu einer Erinnerungsfeier, die nicht mehr nur die lokale Stadtelite mobilisierte, sondern darüber hinaus einen breiten Teilnehmerkreis.18 Diese ersten öffentlichen und von »Festcomites« or-
14 Dies vor allem durch den Sonderforschungsbereich 537 »Institutionalität und Geschichtlichkeit«, Teilprojekt R mit dem Titel: Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierung eines institutionellen Mechanismus am Lehrstuhl für sächsische Landesgeschichte an der Technischen Universität Dresden (2001 – 2008). 15 Wolfang Flügel: Zwischen Tradition und Innovation. Das Buchdruckerjubiläum von 1640. In: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 71 (2000), S. 125 – 146, hier S. 129. 16 Ebd., S.129 f. 17 Überblicksartig siehe: Marian Füssel: Akademische Solennitäten. Universitäre Festkulturen im Vergleich. In: Maurer (Anm. 1), S. 43 – 61; Winfried Müller: Stadtjubiläen. Zur Entstehung städtischer Erinnerungskultur unter besonderer Berücksichtigung Sachsens. In: Renate Wißuwa/Gabriella Viertel/Nina Krüger (Hrsg.): Landesgeschichte und Archivwesen. Festschrift für Rainer Groß zum 65. Geburtstag. Dresden 2002, S. 1 – 19, hier S. 6. Winfried Müller spricht für dieses Entwicklungsstadium von »Probeläufen« der Universitätsfeiern zur Herausbildung der landeskirchlichen Nutzung des Jubiläumszyklus. 18 Dieter Düding: Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste im 19. Jahrhundert. In: Ders./Peter Friedemann/Paul Münch (Hrsg.): Öffentliche Festkultur.
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ganisierten Feiern wurden schon bald mit anderen Inhalten verknüpft, wie das »Wartburgfest« von 1817 beweist, mit dem das Gedenken an die Völkerschlacht mit dem 300-jährigen Reformationsjubiläum verbunden wurde.19 Dass die öffentlichen Festveranstaltungen keine unpolitischen gewesen sind, kann durch zahlreiche Fallstudien und bereits vorliegende Untersuchungen belegt werden.20 Gerade der soziale »Sprengstoff«, die Angst vor Ausschreitungen oder nachrevolutionären Unruhen während der Festparaden, vor offener Kritik in Festreden und Gedichten sowie vor radikal ausgefochtenen Streitigkeiten um Partizipation einzelner sozialer Gruppen charakterisieren die Erinnerungsfeiern in ihrer zeittypischen politischen Ausprägung. Für die Region Sachsen waren die Konfessionsjubiläen zur Formierung der neuen Feierkultur prägend, da diese durch eine zunehmende »Störanfälligkeit« gekennzeichnet waren, wie W. Flügel herausgearbeitet hat.21 Der Traditionsstiftung der konfessionellen sowie der assoziativ-militärischen Erinnerungskultur stand die privat-bürgerliche Entwicklungslinie historischer Feiern gegenüber : Die Salonkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts entwickelte eigene Formen des Gedenkens an künstlerische und wissenschaftliche Ereignisse und Personen. In ihren Liederkränzen rezitierten vormärzliche Vereine Schillergedichte in Leipzig, erinnerten musikalische Salons in Privatissima an die Kompositionen Johann Sebastian Bachs (1685 – 1750) oder feierten Künstlerzirkel den 400. Todestag Albrecht Dürers (1471 – 1528) in Dresden. Diese eher privaten Formen des Erinnerns beziehungsweise die Vereinigung in halb öffentlichen kleinen Runden, wurden immer geselliger, der Raum der Kommunikation wurde größer und das Publikum allmählich sozial heterogener. Es begann ein Strukturwandel, eine öffentliche Repräsentation eroberte den gemeinsamen Raum. Die Feiern fanden teilweise unter freiem Himmel statt, wie das »Reformationsfest« von 1839. Dabei erzeugten sie eine öffentliche Kommunikation über die jeweilige historische Narration und schufen somit einen gemeinsamen Erinnerungsraum. Das kollektiv geteilte Wissen über die stattgefundene Feier floss wiederum in andere Formen der Geschichtskultur ein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr »Kulturjubiläen« begangen, wie zum Beispiel aus Anlass des 100-jährigen Geburtstages von GottPolitische Feste von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 67 – 88, hier S. 80. 19 Getragen wurden diese Feiern oftmals von Kriegervereinen und Veteranengruppen. Die Militärfeiern orientierten sich an höfischen Vorbildern mit ihrem ritualisierten Ablauf. Vgl. Gunter Janoschke: Von der Erlebnis- zur Erinnerungsgemeinschaft. Militärvereine und militärische Erinnerungskultur im Königreich Sachsen 1863 – 1913. Leipzig 2009, S. 182. 20 Zum Beispiel die Untersuchung von Hans Werner Hahn: Fest und Politisierung zwischen den Freiheitskriegen und der Revolution von 1848/49. In: Maurer (Anm. 1), S. 177 – 194. 21 Wolfgang Flügel: Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617 – 1830. Leipzig 2005.
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hold Ephraim Lessing 1829 in Kamenz oder des 100-jährigen Todestages von Christian Fürchtegott Gellert 1869 in Hainichen. Kultursinnige Vereine richteten immer zahlreicher und in kürzeren Zeitabständen kleinere und größere Feiern zum Gedenken an Personen aus, die für sie das Ideal der deutschen Sprach- und Kulturnation verkörperten, mit dem Höhepunkt der »Schillerfeiern« von 1859. Wie Rüdiger vom Bruch darlegt, wurde das Spektrum der Personenjubiläen immer breiter : Es wurde nun an Wissenschaftler, Reformer, Denker, Dichter, Naturwissenschaftler, Künstler und Musiker erinnert.22 Für Sachsen lässt sich eindeutig belegen, dass das Erfolgsmodell der Leipziger Schillerfeier von 1859 in anderen Regionen adaptiert und mit denselben Elementen, wie Festzug, Glockengeläut, Festreden und Banketten, nachgeahmt wurde, zum Beispiel 1863 in Dresden mit der »Körnerfeier«.23 Ausgehend von den Personendaten berühmter Dichter, Künstler und Denker, wurde deren Wirken in Zusammenhang mit geschichtlichen Prozessen gebracht und zu Ereignisepochen verdichtet.24 Hier sei das Beispiel der »Gustav-Adolf-Feiern« erwähnt. Der Jahrestag der Schlacht vom 6. November 1632 fiel nicht nur mit dem Todestag des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf (1594 – 1632) zusammen, er erinnerte an eine der bedeutendsten Schlachten des Dreißigjährigen Krieges. Im 19. Jahrhundert wurde jährlich am 6. November nicht nur an den Schwedenkönig erinnert, sondern zugleich an den Krieg im Gesamten sowie an dessen Motive und Auswirkungen. Gustav II. Adolf wurde in den Festreden und Gedichten zum Verfechter des protestantischen Glaubens, zum Helden und Retter stilisiert, damit wurde die gesamte Epoche in den Predigten ausgeleuchtet und Geschichtsbewusstsein erzeugt. Somit ist der Übergang zwischen den handelnden Personen, den Akteuren des historischen Geschehens und deren Wirkung im Sinne von handlungsleitenden Strukturen fließend. Dies muss bei Erinnerungsfeiern mitgedacht werden. Nach der Reichseinigung, der »kleindeutschen« Nationalstaatsgründung von 1870/71, vollzog sich auch im Königreich Sachsen ein Wandel des öffentlichen Geschichtsbewusstseins. Fortan wurde die preußische Geschichte zum Primat erklärt, was zu einem paradigmatischen Wechsel der Geschichtskultur führte. Nunmehr galt es, der preußischen Dynastie in Monarchiejubiläen zu huldigen und sich zur neuen »deutschen« Staatsloyalität zu bekennen. Das wiederum 22 Vgl. dazu die vielfältigen Beispiele der Personenjubiläen und »Kulturjubiläen« im Aufsatz von Rüdiger vom Bruch: Jubilare und Jubiläen in Kunst und Wissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Münch (Anm. 12), S. 171 – 207. 23 StAL, Schillerverein Nr. 32. Zur Körnerfeier sieh: N. N.: Die Körner-Feier in Dresden. Zur Erinnerung an den 26. August 1863. Dresden 1863. 24 Vom Bruch (Anm. 22), S. 196. R. vom Bruch führt als Beispiel für die Verdichtung zu Ereignisepochen Martin Luther und die Epochengrenze zur Neuzeit durch den »Thesenanschlag« (1517) an.
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förderte – gleichsam als Konkurrenz – einen gewissen Aufschwung dieses Festtypus’, denn nicht nur das preußische Herrscherhaus, sondern auch die Königshäuser Bayerns und Sachsens entdeckten das Monarchiejubiläum als Selbstinszenierungsform neu und gaben ihm Aufschwung: Erwähnt sei hier nur das 800-jährige Wettinerjubiläum 1889.25
3.
Erinnerungsfeiern als Potenzial für die geschichtsdidaktische Forschung
Ein zentrales Ergebnis der Archivrecherche ergab, dass nur signifikante Jubiläen Eingang in die diachrone Überlieferung fanden. Je nach Kontext der zeittypischen historischen Relevanz und Erinnerungswürdigkeit sowie der Vermittlung kollektiver Deutungsmuster, ergaben sich in der Periodisierung markante Epizentren, das heißt symbolisch aufgeladene Erinnerungsfeiern mit Langzeitwirkung, die auf kleinere Erinnerungsfeiern ausstrahlten. Diese verdichteten sich mit der zentralen Erinnerungsfeier zu einer Sequenz, die an charakteristischen Schneisen der sächsischen Sozialverfasstheit standen. Damit stellen die ausgewählten Erinnerungsfeiern Zeugnisse von Aushandlungsprozessen gesellschaftlicher Repräsentationsansprüche sozialer Gruppierungen mit ihren konkreten Kommunikationsstrukturen in der noch »teilöffentlichen« Gesellschaft dar. Es lässt sich nachweisen, dass Erinnerungsfeiern Repräsentationen von Geschichtswissen und -deutung waren, in denen sich gesellschaftliche Diskurse gleichsam brennglasartig verdichteten. Dabei änderten sich im Laufe der Zeit nicht nur die Inhalte des Gedenkens, sondern auch die Trägerschaft und die äußeren Formen im Kontext der geschichtskulturellen Rahmenbedingungen. Erinnerungsfeiern trieben die Erinnerungsproduktion metaphorisch wie ein Motor kontinuierlich voran, indem die verschiedenen Deutungsmuster der jeweiligen sozialen Gruppen und Milieus über das gefeierte historische Ereignis öffentlich präsentiert wurden. Sie bieten sich daher als lohnenswerte Studienobjekte an, denn in ihnen wurden aus der Dialektik von Vergessen und Erinnern Geschichtsbilder produziert, die sich in dem Ereignis oder der Person, die gefeiert wurden, konkretisierten.26 Damit wird die sich öffentlich artikulierende Geschichtskultur rekonstruierbar, und zugleich werden damit die mentalen Strukturen und Sinndeutungsprozesse der jeweiligen Epoche freigelegt. 25 Simone Mergen: Entstehung und Entwicklung von Monarchiejubiläen in Sachsen und Bayern im 19. Jahrhundert. In: Müller (Anm. 2), S. 219 – 243, hier S. 238. 26 Münch (Anm. 12), S. 13.
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Letztlich liegt hierin die Chance, eine Studie zur »Geschichte der Geschichtskultur« in Form von »Synthesen mittlere Reichweite« vorzulegen, denn laut Bernd Schönemann sind lokale »Geschichtskulturen im Vergleich, regionale Geschichtslandschaften in ihrer Genese, Struktur und Funktion, sozialgruppenspezifische Vergangenheitskonstruktionen in ihrer integrativen und distinktiven Wirkung« zukünftige Themen der geschichtskulturellen Forschung.27 Die Ergebnisse könnten dann als »Bausteine« in eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Geschichtskultur eingehen. Das Innovationspotenzial von Erinnerungsfeiern für die Geschichtsdidaktik besteht im Erforschen von Entstehungsprozessen historischer Sinnkonstruktionen. Mit einer Erinnerungsfeier wurden historische Sinnbezüge hergestellt, die Vergangenheit unter dem Vorzeichen der Gegenwartsbestimmung interpretieren und dadurch Geschichtsbilder konstruieren. Gerade dieser Sinnbildungsprozess könnte für Anschlussstudien im Bereich der Geschichtskulturforschung Impulse geben, da Veränderungsgeschwindigkeiten in der Langzeitperspektive noch unzureichend untersucht sind. Dies gilt auch für die Selbstreferentialität von Institutionen, die noch immer unzureichend Auskunft über Entstehungsprozesse, Kontinuitäten und Veränderungsmodi historischen Lernens geben. Jedoch liegt gerade hierin eine lohnenswert erscheinende Chance auch für den gegenwärtigen Geschichtsunterricht, da Institutionen, wie Museen, Schulen und Stadtverwaltungen, Fragen darüber aufwerfen und spezifische Lernbedürfnisse evozieren. Für die Unterrichtspraxis wäre es wünschenswert, dass die Feierkultur als Ausdrucksform zeittypischen Geschichtsverständnisses in die jeweiligen Lernprozessen miteinbezogen wird, da es sich bei den Feiern um universelle anthropologische Erscheinungsformen handelt. Dabei kann dem Bedürfnis nach einer kritischen Teilnahme Jugendlicher an Geschichtskultur, die, nach Joachim Rohlfes, zu den wichtigen Zielen des Fachunterrichts gehört, durch die Einbeziehung der Erinnerungsgeschichte entsprochen werden.28 Denn der Geschichtsunterricht kann an aktuellen historischen Jubiläen, die in Medien öffentlichkeitswirksam präsentiert werden, nicht vorbeigehen, sondern sollte die Chance nutzen, die Motivation der Schülerinnen und Schüler an diesen aufzugreifen und Erinnerungsfeiern einzubeziehen. Nicht nur für den Geschichtsunterricht bietet das Thema vielversprechende Impulse für die Grundlagenforschung zum historischen Lernen – gerade für frühere Epochen, ohne deren Zugang der Schlüssel für das Gegenwartsverständnis verborgen bleibt. Denn es ist gerade die Selbstreferentialität der Feiern, 27 Bernd Schönemann: Erinnerungskultur oder Geschichtskultur? In: Eugen Kotte (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2012 (Kulturwissenschaft[en] als interdisziplinäres Projekt, Bd. 4) , S. 53 – 72, hier S. 72. 28 Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. 3. Aufl. Göttingen 2005, S. 412.
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in denen zeittypische Sinnstiftungen über historische Zusammenhänge und das Selbstverständnis der Feiernden selbst offenbart werden. Dieses eröffnet weitreichende Perspektiven im Hinblick auf das Verständnis für heutige Gesellschaftsformationen mit ihren dynamischen Selbstbestimmungsdiskursen und hybriden Identitätskonstruktionen.
Literatur Rüdiger vom Bruch: Jubilare und Jubiläen in Kunst und Wissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Paul Münch (Hrsg.): Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005, S. 171 – 207. Dieter Düding: Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste im 19. Jahrhundert. In: Ders./Peter Friedemann/Paul Münch (Hrsg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 67 – 88. Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808 – 1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München 1984. Wolfgang Flügel: Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617 – 1830. Leipzig 2005. Wolfgang Flügel: Zwischen Tradition und Innovation. Das Buchdruckerjubiläum von 1640. In: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 71 (2000), S. 125 – 146. Marian Füssel: Akademische Solennitäten. Universitäre Festkulturen im Vergleich. In: Michael Maurer (Hrsg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Köln u. a. 2010, S. 43 – 61. Winfried Gebhardt: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt a. M. u. a. 1987 (Europäische Hochschulschiften, Reihe XXII, Bd. 143). Hans Werner Hahn: Fest und Politisierung zwischen den Freiheitskriegen und der Revolution von 1848/49. In: Michael Maurer (Hrsg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Köln u. a. 2010, S. 177 – 194. Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handels im 19. Jahrhundert. Göttingen 1993. Gunter Janoschke: Von der Erlebnis- zur Erinnerungsgemeinschaft. Militärvereine und militärische Erinnerungskultur im Königreich Sachsen 1863 – 1913. Leipzig 2009. Michael Maurer (Hrsg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Köln u. a. 2010, S. 9 – 12. Michael Maurer: Prolegomena zu einer Theorie des Festes. In: Ders. (Hrsg.): Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln u. a. 2004, S. 19 – 54. Simone Mergen: Entstehung und Entwicklung von Monarchiejubiläen in Sachsen und Bayern im 19. Jahrhundert. In: Winfried Müller (Hrsg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster 2004, S. 219 – 243.
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Frank Britsche
Winfried Müller : Instrumentalisierung und Selbstreferentialität des historischen Jubiläums. Einige Beobachtungen zu Eigengeschichte und Geltungsanspruch eines institutionellen Mechanismus. In: Gert Melville/Hans Vorländer : Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln u. a. 2002, S. 265 – 285. Winfried Müller : Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion. In: Ders.: Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster 2004, S. 1 – 75. Winfried Müller : Stadtjubiläen. Zur Entstehung städtischer Erinnerungskultur unter besonderer Berücksichtigung Sachsens. In: Renate Wißuwa/Gabriella Viertel/Nina Krüger (Hrsg.): Landesgeschichte und Archivwesen. Festschrift für Rainer Groß zum 65. Geburtstag. Dresden 2002, S. 1 – 19. Paul Münch (Hrsg.): Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005. Jörg Neijenhuis: Feste und Feiern. Eine theologische Theorie. Leipzig 2012. N. N.: Die Körner-Feier in Dresden. Zur Erinnerung an den 26. August 1863. Dresden 1863. Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. 3. Aufl. Göttingen 2005. Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. 2. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2008. Bernd Schönemann: Erinnerungskultur oder Geschichtskultur? In: Eugen Kotte (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2011 (Kulturwissenschaft[en] als interdisziplinäres Projekt, Bd. 4), S. 53 – 72.
Sebastian Wemhoff
Geteiltes Gedächtnis? Geschichtskultur in Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert
»Je nach Jahrhundert, je nach Betrachter war Straßburg das Symbol der französischen Grandeur oder deutscher Macht«, urteilt der französische Historiker FranÅois-Georges Dreyfus in einem Essay über »Straßburg und den Rhein zwischen Frankreich und Deutschland«1. Viermal wechselten Straßburg und das Elsass im 19. und 20. Jahrhundert die Staatszugehörigkeit. Jeder dieser Umbrüche zog zwangsläufig auch einen Bruch im Umgang mit der lokalen Geschichte nach sich, die anschließend wieder mühsam neu zusammengesetzt werden musste und im Rahmen dieser »Umbaumaßnahme« meist eine ganz andere Deutung erfuhr. – Hatte Straßburg also nicht nur eine geteilte Vergangenheit, sondern auch eine geteilte Geschichtskultur? Dies ist eine der Fragen, denen der vorliegende Beitrag nachgeht. Aufgrund ihrer wechselhaften Vergangenheit eignet sich die Stadt Straßburg besonders als Untersuchungsgegenstand für eine geschichtskulturelle Längsschnittstudie. In einer Analyse zur »Geschichtskultur der Stadt Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert«2 lässt sich zum einen untersuchen, auf welche Weise sukzessive sowohl der deutsche als auch der französische Staat die politische und kulturelle Hegemonie über die Stadt und ihre Geschichte beanspruchten, zum anderen auch, wie groß die Beharrungskraft lokaler und der Einfluss transnationaler Rahmungen war. Im Folgenden soll skizziert werden, welche Wege eine solche Analyse einschlagen kann. Die Ausführungen unterteilen sich dabei in vier Abschnitte: In einem ersten Abschnitt wird der Untersuchungsgegenstand genauer umrissen und werden zentrale Fragestellungen und Hypothesen erläutert. Danach erfolgt eine kurze Einordnung in den geschichtsdidaktischen und kulturwissenschaftlichen Forschungsdiskurs, an den sich
1 FranÅois-Georges Dreyfus: Straßburg und der Rhein zwischen Frankreich und Deutschland. In: Horst Möller/ Jacques Morizet (Hrsg.): Franzosen und Deutsche. München 1996, S. 185 – 201, hier S. 185. 2 So der Arbeitstitel des Dissertationsprojektes, das derzeit am »Institut für Didaktik der Geschichte« in Münster entsteht.
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Sebastian Wemhoff
theoretische und methodische Erwägungen sowie zuletzt die Präsentation einiger exemplarischer Ergebnisse anschließen.
1.
Untersuchungsgegenstand, Fragestellung und Hypothesen
Gegenstand der Untersuchung ist die Geschichte der lokalen Geschichtskultur Straßburgs in der longue dur¦e, wobei die politischen Zäsuren von 1870/71 und 1945 als zeitlicher Rahmen gewählt wurden.3 In diesem Zeitraum hat die Stadt tief greifende Veränderungen durchlaufen.4 Ziel der Arbeit ist es, die Geschichte der Geschichtskultur, ihre Dimensionen und Funktionen zu erforschen und dabei den wechselnden Umgang mit den Vergangenheitsbeständen auf lokaler Ebene nachzuzeichnen. Die räumliche Eingrenzung des Themas geht mit einer größeren diachronen Tiefenschärfe einher. Aufgrund des so modellierten Forschungsdesigns bilden automatisch die langfristigen geschichtskulturellen Transformationsprozesse einen Untersuchungsschwerpunkt. Der Begriff »Geschichtskultur« kann hier zunächst allgemein verstanden werden als die »Summe der kulturellen Ausprägungen […] von Geschichte in der (d. h. in einer jeweiligen) Gegenwart«.5 Es geht also darum, wie Geschichte in Zeit (und Raum) immer wieder neu gelesen und gedeutet wird. Die zentralen Fragen lauten demnach: – Welche Geschichte wurde von wem in welcher Zeit aus der großen ›Verfügungsmasse‹ Vergangenheit ausgewählt und für erinnerungswürdig befunden? – Wer hat die Deutungshoheit über die Lokalgeschichte wie erworben und genutzt? Bezogen auf die Grenzstadt als Forschungsobjekt erscheint besonders wichtig, inwiefern sich die historischen Brüche auf das kulturelle Gedächtnis der lokalen Gesellschaft und seine Institutionen, Medien und Produzenten ausgewirkt haben. Daran schließt sich ein Bündel weiterer Fragen an: Wie groß etwa war der 3 Dieser Rahmen kann jedoch für Aus- und Rückblicke überschritten werden. So werden etwa der erneute Wandel der Geschichtskultur nach 1945 und die Öffnung hin zu stärker transnational orientierten Deutungsmustern in der postmodernen Geschichtskultur jeweils exemplarisch anhand einzelner Beispiele (wie etwa der 2000-Jahr-Feier der Stadt Straßburg im Jahre 1988) untersucht. 4 Auf die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Einzelne Aspekte, die für den Kontext der Analyse wichtig sind, werden im letzten Abschnitt des Beitrags erläutert. 5 Peter Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793 – 1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück 2003 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 9), S. 21.
Geschichtskultur in Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert
225
Einfluss, den die beiden Nationalstaaten sukzessive auf die Rekonstruktion der lokalen Vergangenheit ausübten? Ist die städtische Geschichtskultur in Straßburg vorwiegend durch nationale Bezugsrahmen geprägt?6 Und wie verhalten sich lokale Eliten als geschichtskulturelle Trägerschicht gegenüber geschichtspolitischen Initiativen? Hypothesenartig ließe sich formulieren, dass neben den geschichtspolitisch »verordneten« Deutungsvorgaben auch gegenläufige Diskurse existierten, die teils auf die Konstruktion einer Gegen-Geschichte, teils aber auch auf die Schaffung von verbindenden Elementen in der Geschichtskultur abzielten.
2.
Einordnung in den Forschungszusammenhang und Erkenntnispotenzial
Das hier zunächst grob umrissene Forschungsdesign schöpft Erkenntnispotenziale aus, die bislang ungenutzt blieben. Längsschnittanalyse und räumliche Eingrenzung bieten für das Projekt mehrere Vorteile: 1. geraten durch die große Tiefenschärfe sämtliche die Stadt Straßburg und das Elsass betreffenden historischen Umbrüche im 19. und 20. Jahrhundert in den Blick. Bisherige Studien zur Geschichtskultur im Elsass beschränken sich zumeist auf einzelne Epochen und verschenken somit historisches Erkenntnispotenzial. 2. lässt sich im diachronen Zugriff das Breitenwachstum geschichtskultureller Phänomene genauer erfassen. 3. können – bedingt durch die forschungspragmatische Fokussierung auf die Stadt als Untersuchungsraum – die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Elementen des geschichtskulturellen Systems in den Blick genommen werden.7 Die Stadt als räumliche Einheit bietet sich für eine Eingrenzung an, da sich auf kommunaler Ebene »konzentriert gesellschaftliche Konflikte, Probleme und Entwicklungen« spiegeln, wie Malte Thießen in seinem »Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik« betont. Städtische Geschichtskultur wird von 6 Dies konstatiert P. O. Loew z. B. für die Danziger Geschichtskultur ; vgl. Loew (Anm. 5), S. 523 f. 7 Im Zuge des Historismus und durch die Entwicklung neuer Medien und Institutionen im genannten Zeitraum gewannen geschichtskulturelle Repräsentationen deutlich an Breitenwirkung. Heinz Gollwitzer hat dieses Phänomen in seinen Überlegungen zum Ausgreifen des Historismus auf das öffentliche Leben geschildert; vgl. Heinz Gollwitzer : Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 10 (1982), S. 5 – 16, insbesondere S. 9 ff.
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relativ kleinen Trägerschichten gestaltet, ihre Akteure und Ausdrucksformen sind besser greifbar als auf nationaler Ebene.8 Straßburg ließe sich zudem mit Etienne FranÅois als ein »geteilter Erinnerungsort« bezeichnen, der als »symbolische Schnittstelle zwischen zwei Kulturräumen«9 fungiere und an dem daher besonders gut transnationale Aspekte von Geschichtskultur studiert werden könnten. Ungeachtet dieser Vorzüge, gibt es bisher nur wenige geschichtskulturelle Studien, die auf lokaler Ebene angesiedelt und zugleich transnational ausgerichtet sind. Das hier umrissene Projekt soll diese Forschungslücke ein Stück weit schließen. Es bewegt sich damit im Schnittpunkt kulturwissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Forschung und kann zum einen in eine Reihe geschichtskultureller Lokalstudien eingeordnet werden, die im Kontext der kulturwissenschaftlich geprägten Osteuropa-Forschung entstanden sind und sich mit ehemals deutschen Städten beschäftigen, die 1945 einen nahezu vollständigen Bevölkerungsaustausch erlebten. Zu nennen sind hier die Arbeiten von Gregor Thum über Breslau, von Peter Oliver Loew zu Danzig sowie die Studie von Jan Musekamp über Stettin.10 Die Untersuchung von P. O. Loew ist in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben, da sie die Entwicklung der Danziger Geschichtskultur über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren (1793 – 1997) nachzeichnet und damit eine bemerkenswerte Tiefenschärfe erreicht.11 Alle Arbeiten haben jedoch gemeinsam, dass sie von dem Forschungsobjekt »Stadt« ausgehen, damit einerseits eine niedrige Syntheseebene ansetzen, andererseits ein breites Spektrum geschichtskultureller Phänomene erfassen.12Zum anderen lässt sich das Projekt dem geschichtsdidaktischen Forschungsfeld »Geschichtskultur« zuordnen. Es folgt einer Forschungsrichtung, die das »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft« (Karl-Ernst Jeismann) als Hauptgegenstand der Geschichtsdidaktik ansieht und somit eine der »leitenden Hinsichten« der Disziplin darstellt, 8 Vgl. Malte Thießen: Das kollektive als lokales Gedächtnis: Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik. In: Harald Schmid (Hrsg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis. Göttingen 2009 (Formen der Erinnerung, Bd. 41), S. 159 – 181, das Zitat auf S. 160. 9 Etienne FranÅois: Kollektives Gedächtnis, Europäisches Gedächtnis. In: Hermann Krapoth/ Denis Laborde (Hrsg.): Erinnerung und Gesellschaft. M¦moire et Soci¦t¦. Hommage Maurice Halbwachs (1877 – 1945). Wiesbaden 2005 (Jahrbuch für Soziologiegeschichte), S. 271 – 283, hier S. 276. 10 Vgl. Loew (Anm. 5); Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945. Berlin 2003; Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005. Wiesbaden 2010 (Veröffentlichungen des deutschen Polen-Instituts, Bd. 27). 11 G. Thum hingegen legt den Fokus seiner Untersuchung auf die unmittelbare Zeit nach 1945, und J. Musekamp spürt den »Metamorphosen« Stettins von 1945 bis ins Jahr 2005 nach. 12 Die Tatsache, dass bereits mehrere Einzelfallanalysen zur Geschichte der Geschichtskultur vorhanden sind, eröffnet so auch die Möglichkeit, aus vergleichender Perspektive nach Grundmustern geschichtskulturellen Wandels zu fragen.
Geschichtskultur in Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert
227
wie Wolfgang Hasberg in Anlehnung an ein Paradigmen-Modell von Thomas S. Kuhn dargelegt hat.13 Innerhalb dieses Feldes kann die Studie im Bereich der historischen Geschichtskulturforschung verortet werden. Mit der Modellierung und zunehmenden Ausdifferenzierung der Kategorie »Geschichtskultur« seit den 1990er-Jahren hat die geschichtsdidaktische Theorieforschung ein Strukturierungskonzept entwickelt, das als heuristisches Instrumentarium für empirische Fallanalysen zur Geschichte der Geschichtskultur genutzt werden kann.14 Die hier skizzierte Studie stellt eine solche Fallanalyse dar. Sie folgt der von Bernd Schönemann aufgestellten Forderung nach einer Intensivierung der Erforschung von Geschichtskultur auf einer mittleren beziehungsweise niedrigen räumlichen Ebene. Zudem werden erstmals geschichtskulturelle Entwicklungen in einer Grenzstadt über eine längere Dauer und aus transnationaler Perspektive untersucht. Vergleichbare Analysen bilden immer noch ein Desiderat, auch wenn einzelne Ansätze vorhanden sind.15
13 Vgl. den diesen Band einleitenden Aufsatz von Wolfgang Hasberg: Unde venis? Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik, S. 15 – 62, hier S. 17 – 19. Hasberg vertritt dort die Auffassung, dass Geschichtskultur keine dem Geschichtsbewusstsein gleichrangige Kategorie darstelle, sondern dass die Geschichtskultur lediglich das Medium darstelle, in dem sich das Geschichtsbewusstsein äußere (vgl. Ebd., S. 26). Die Kontroverse um den Stellenwert der Kategorie »Geschichtskultur« und ihr Verhältnis zur Zentralkategorie »Geschichtsbewusstsein« soll und kann in diesem Rahmen nicht geführt werden. Ob Geschichtskultur jedoch – wie W. Hasberg nahelegt – lediglich das Medium des Geschichtsbewusstseins sei, kann durchaus bezweifelt werden, da mit politischen Implikationen und institutionellen Rahmungen auch überindividuelle Einflüsse die Ausdrucksformen von Geschichtskultur entscheidend mitprägen. Als Gegenposition vgl. zuletzt Bernd Schönemann: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? In: Eugen Kotte (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2011 (Kulturwissenschaften als interdisziplinäres Projekt, Bd. 4), S. 53 – 73. 14 Vgl. Wolfgang Hasberg: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? Überlegungen zu zwei (un-) vereinbaren Konzeptionen zum Umgang mit Gedächtnis und Geschichte. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 32 – 59, hier S. 53. 15 Für Straßburg existiert eine solche Analyse noch nicht. Auch wenn die Geschichte Straßburgs allgemein besser aufgearbeitet ist als die der Städte in Osteuropa, gab es nach 1945 lange Zeit nur wenige Arbeiten, die sich aus deutscher Perspektive mit der jüngeren Geschichte des Elsass und Straßburgs beschäftigt haben; vgl. hierzu Alfred Wahl: Die Zeitgeschichte im Elsaß. Ein kritischer Überblick. In: Jean-Marie Gall/Wolf-Dieter Sick (Hrsg.): Das Elsaß. Bilder aus Wirtschaft, Kultur und Geschichte. Bühl 1991 (Alemannisches Jahrbuch, 1987/88), S. 135 – 147. In geschichtskultureller Hinsicht kann mittlerweile jedoch auf einige Vorarbeiten zurückgegriffen werden, die allerdings vornehmlich die Region Elsass als Bezugsebene haben, sich entweder auf Einzelaspekte konzentrieren oder innerhalb der Epochengrenzen bewegen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Studie von Günter Riederer : Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871 – 1918). Trier 2004 (Trierer Historische Forschungen, Bd. 57); sowie die Habilitationsschrift FranÅois Igersheims
228
3.
Sebastian Wemhoff
Theoretische Anmerkungen und Eingrenzung des Forschungsgegenstands
Die theoretische Basis für die Untersuchung bildet das Forschungskonzept »Geschichtskultur« in der Form, wie es in der Geschichtsdidaktik vor allem von Jörn Rüsen und B. Schönemann entwickelt worden ist. Nach J. Rüsen, hat Geschichtskultur mindestens drei Dimensionen: eine politische, eine ästhetische und eine kognitive Dimension. Mit Hilfe dieser Differenzierung lassen sich Grundmuster erkennen, die für eine Geschichtskultur oder auch nur für eine bestimmte Epoche strukturbildend sind. Darüber hinaus spricht einiges dafür, Geschichtskultur im Sinne von B. Schönemann auch als »soziales System« zu begreifen und das geschichtskulturelle Koordinatensystem entsprechend um die Ebenen der »Institutionen«, »Professionen« beziehungsweise »Akteure«, »Medien« und »Publika« zu erweitern. Dieses bereits angesprochene Analyseraster bildet den Rahmen dieser Untersuchung. Mit Blick auf die Vielzahl der theoretisch in Betracht kommenden Phänomene müssen jedoch einige Einschränkungen gemacht werden. Das Forschungsfeld »Geschichtskultur« erscheint selbst auf der Syntheseebene »Stadt« so komplex, dass eine Gesamtschau zwangsläufig sehr oberflächlich ausfallen würde.16 Eine Begrenzung der Thematik auf Aspekte, die für eine als Längsschnitt angelegte Untersuchung städtischer Geschichtskultur besondere Relevanz besitzen, erscheint daher sinnvoll. Im Mittelpunkt der Analyse soll daher weniger die geschichtskulturelle Infrastruktur stehen;17 vielmehr werden konkrete Narrationen sowie die ihnen inhärenten Deutungsmuster exemplarisch in den Blick genommen. Dazu gehören beispielsweise lokale Gründungsmythen, die von besonderem Wert für die Ausbildung einer städtischen Identität sind, ebenso jedoch nationale »Meistererzählungen«, die sich im Lokalen (oft nur über das Elsass und seine Historiker ; sieh FranÅois Igersheim: L’Alsace et ses historiens 1680 – 1914. La fabrique des monuments. Strasbourg 2006. 16 Vgl. die Anmerkungen bei Loew (Anm. 5), hier besonders der Abschnitt zu »Quellen und Themen der lokalen Geschichtskultur«; sowie Musekamp (Anm. 10), S. 20 f. 17 Die vier von B. Schönemann aufgestellten sozialen Dimensionen bilden dennoch einen wichtigen Analysebaustein. Sie helfen gewissermaßen, die gesellschaftlichen Rahmungen von Geschichtskultur und die Beschaffenheit ihrer Infrastruktur im Blick zu behalten. Diese Ebene sollte immer mitreflektiert werden, auch wenn die Untersuchung konkreter Sinnbildungsprozesse im Vordergrund steht. Da zur Sozialstruktur der regionalen Geschichtskultur im Elsass bereits einige Arbeiten vorhanden sind (insbesondere die bereits angesprochene Habilitationsschrift Igersheims, Anm. 15), kann die Darstellung der geschichtskulturellen Infrastruktur in der Arbeit auf einen kurzen Überblick reduziert werden. Am Anfang eines jeden Epochenkapitels steht demzufolge das, was man gewissermaßen als die »Vermessung des Feldes« bezeichnen könnte: Hier werden jeweils die wichtigsten Tendenzen in der regionalen beziehungsweise lokalen Historiografie sowie die Entwicklung der Institutionenlandschaft zusammengefasst.
Geschichtskultur in Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert
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gebrochen) spiegeln. Hinzu kommen auch transnationale Gegen-Erzählungen, welche mit vorwiegend national ausgerichteten Geschichtsdeutungen brechen wollen. Diese Narrationen äußern sich in verschiedenen Aggregatzuständen, manifestieren sich jedoch besonders in zweierlei Hinsicht: Einmal werden sie greifbar auf der räumlichen Ebene – durch die Setzung materieller Erinnerungszeichen im Stadtraum – und zum Zweiten prägen sie die lokale Geschichtskultur in ihrer Temporalstruktur, also auf einer zeitlichen Ebene. Diese beiden Untersuchungsebenen bilden daher den Schwerpunkt der Untersuchung. Die Bedeutung der räumlichen Dimension von Geschichtskultur wurde zuletzt vor allem im Hinblick auf die Bezugsgrößen »Stadt« und »Region« verstärkt hervorgehoben.18 Städte seien »Orte des Gedächtnisses«,19 argumentiert der österreichische Kulturwissenschaftler Moritz Czky, der in seiner 2010 erschienenen Monografie dem »Gedächtnis der Städte« nachspürt. M. Czky geht dabei von einem kultursemiotischen Ansatz aus und interpretiert Kultur (in Anlehnung an Clifford Geertz) als ein vom Menschen geschaffenes »Bedeutungsgewebe«, das aus »Zeichen, Symbolen und Codes«20 bestehe und in den Stadtraum eingeschrieben sei. Wesentliche Bestandteile dieses Zeichensystems sind Denkmäler, Straßennamen und Plätze sowie die sie umgebende Architektur ; sie bilden, nach Peter Stachel, ein Ensemble aus »[…] bewusst gesetzte(n) Zeichen im öffentlichen Raum […], denen zumeist auf ein Kollektiv bezogenes Narrativ, also eine sinnhaft angeordnete ›Bedeutungsstruktur‹, eingeschrieben ist […]«.21 Diese Struktur kann als »Text« gelesen werden, der wiederum nicht eindeutig festgeschrieben ist, sondern in der Gesellschaft immer wieder neu verhandelt wird: Denkmäler können gestürzt, Straßenschilder ersetzt werden. Der Stadtraum kann somit als eine Art »Palimpsest«22 aufgefasst werden, das immer wieder neue Überschreibungen zulässt und in das verschiedene Zeitschichten eingelagert sind.23 18 Vgl. exemplarisch den Tagungsbericht zur Fünf-Länder-Tagung »Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland«. 15. 06. 2012 – 16. 06. 2012, Hamburg. In: H-Soz-u-Kult, 10. 07. 2012 (online verfügbar unter : http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4302, aufgerufen am 26. 03. 2012). 19 Moritz Csky : Altes Universitätsviertel: Erinnerungsraum, Gedächtnisort. In: Ders./Peter Stachel (Hrsg.): Die Verortung von Gedächtnis. Wien 2001, S. 257 – 277, hier S. 258. 20 Moritz Csky : Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien/Köln/Weimar 2010, S. 101. 21 Peter Stachel: Stadtpläne als politische Zeichensysteme. Symbolische Einschreibungen in den öffentlichen Raum. In: Rudolf Jaworski/Peter Stachel (Hrsg.): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Berlin 2007, S. 13 – 61, hier S. 18 f. 22 Zum Begriff »Palimpsest« vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007; dort das Kapitel zur »Geschichte im öffentlichen Raum: Architektur als Erinnerungsträger«, S. 96 – 136. 23 Das kultursemiotische Interpretationsmodell bietet wichtige Ansatzpunkte für die ge-
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Neben Denkmälern und Straßennamen als räumlichen Repräsentationen soll im Rahmen der Analyse auch die temporale Ebene der Geschichtskultur beleuchtet werden. Für eine Längsschnittstudie eignen sich historische Jubiläen besonders gut, da sie eine phasenübergreifende Sicht auf die Wirkungsgeschichte bestimmter Ereignisse ermöglichen.24 Jubiläen können zudem, mit Aleida Assmann, als »Aktivierungsinstanzen«25 des kulturellen Gedächtnisses begriffen werden, in deren Zuge bestimmte Inhalte periodisch im Rhythmus der Gedenktage erneut abgerufen und im Lichte einer jeweiligen Gegenwart umgedeutet und neu funktionalisiert werden. Durch die Analyse der Genese, Erscheinungsformen und Wandlungen lokaler Jubiläumskultur lässt sich feststellen, wie eine kommunale Gemeinschaft sich ihrer selbst versichert und auf welche Fixpunkte sie sich bezieht. Die Stadt stellt in diesem Zusammenhang nicht nur die räumlichen Kulissen, sondern auch das Publikum bereit, ohne das Feste und historische Jubelfeiern im Besonderen nicht denkbar wären.26
4.
Neue Wege – methodische Aspekte einer Lokalgeschichte von Geschichtskultur
Aus methodischer Perspektive ist das Projekt als geschichtskulturelle Fallstudie zu betrachten, die hinsichtlich der Generalisierung der Untersuchungsergebnisse zurückhaltend sein muss. Dennoch bedeutet der Wechsel hin zu einer Perspektive »von unten« nicht, dass es sich um eine reine Lokalgeschichte schichtskulturelle Analyse. Zusätzlich müssen Denkmäler jedoch auch »im sozialen Raum« verortet werden, wie Charlotte Tacke in ihrer komparativen Studie zum Vercingetorix- und Arminiuskult betont. Die Analyse der sozialen Rahmenbedingungen von Geschichtskultur sollten daher nicht zu kurz kommen: Im Kontext von Denkmalprojekten gilt es im Besonderen danach zu fragen, welche Institutionen (Universität, Geschichtsvereine) und Akteure (Architekten, Bildhauer, Historiker) auf welche Weise in Denkmalprojekte eingebunden sind. Vgl. Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1996 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 108). 24 Exemplarisch hat dies z. B. Hans-Ulrich Thamer anhand der Jubiläumsfeiern zur Französischen Revolution gezeigt; vgl. Hans-Ulrich Thamer : Die gespaltene Erinnerung. Vergangenheit und Gegenwart in den Revolutionsfeiern von 1889, 1939 und 1989. In: Paul Leidinger/Dieter Metzler (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsbewusstsein. Festschrift KarlErnst Jeismann zum 65. Geburtstag. Münster 1990, S. 535 – 559. 25 Aleida Assmann bezeichnet Jahrestage deshalb auch als »Denkmäler in der Zeit«; vgl. Dies.: Jahrestage – Denkmäler in der Zeit. In: Paul Münch (Hrsg.): Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. München 2005, S. 305 – 316, das Zitat auf S. 313. 26 Vgl. Paul Hugger : Das Fest – Perspektiven einer Forschungsgeschichte. In: Ders. (Hrsg.): Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Unterägi/Stuttgart 1987, S. 9 – 24, hier S. 23.
Geschichtskultur in Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert
231
handelt. Es werden vielmehr insofern neue Wege eingeschlagen, als dass sowohl die Interdependenzen zwischen den lokalen und den übergeordneten Bezugsrahmen als auch transnationale Aspekte herausgearbeitet werden. Wie aber lassen sich diese Tendenzen methodisch fassen? Problematisch erscheint, dass Geschichtskultur bislang schwerpunktmäßig in nationalen Kontexten (»als Massen- und Nationalkultur«) wahrgenommen wurde.27 Daher bedarf es eines Ansatzes, mit dessen Hilfe sich die Gefahr der Fixierung auf die Kategorie Nation »umschiffen« oder doch wenigstens methodisch in den Griff bekommen lässt. In der Diskussion über die Möglichkeiten zur Überwindung des nationalen Paradigmas28 wird häufig der Ansatz der »Histoire crois¦e« ins Spiel gebracht, der nicht nur eine stärkere interdisziplinäre Verschränkung von Forschungskonzepten, sondern auch die Wahl flexiblerer Analysekategorien einfordert.29 Wenngleich es sich bei der »Histoire crois¦e« zunächst mehr um eine Forschungseinstellung als um eine Methode handelt, eröffnet sie doch neue Perspektiven. Ein Vorschlag besteht etwa darin, genauer darauf zu achten, wie geschichtspolitische Initiativen auf lokaler Ebene rezipiert beziehungsweise umgesetzt werden. Bleibt die Frage nach der Operationalisierung: In diesem Kontext kann der Ansatz der historischen Diskursanalyse Verwendung finden. Diskurse lassen sich mit Achim Landwehr als »Aussagen« definieren, »[…] die sich hinsichtlich eines bestimmten Themas systematisch organisieren und durch eine gleichförmige (nicht identische) Wiederholung auszeichnen.«30 Die Rekonstruktion einzelner Diskurse (z. B. in der Lokalpresse) gibt Aufschluss 27 Das gilt beispielsweise für die Ideengeschichte der Geschichtskultur, die B. Schönemann zufolge, in drei epochenspezifische Leitmuster eingeteilt werden kann – »Geschichte als Nutzen«, »Geschichte als Bildung« und »Geschichte als Erlebnis«. Diese Kategorisierung erfolgt jedoch in erster Linie mit Blick auf den deutschsprachigen Raum; inwiefern sie sich im Einzelnen empirisch belegen lässt, ist zumindest fraglich. 28 Ich beziehe mich hierbei auf die Debatte um ein anderes Großkonzept – jenes der »Lieux de m¦moire«. In einem Tagungsband mit dem Titel »Depasser le cadre national des »Lieux de m¦moire« – Nationale Erinnerungsorte hinterfragt« haben Sonja Kmec und Benot Majerus einige Leitlinien zur Überwindung des nationalen Paradigmas konzipiert, die sich teils auch auf das Konzept Geschichtskultur übertragen lassen ; vgl. Benot Majerus u. a. (Hrsg.): D¦passer le cadre national des »Lieux de m¦moire«. Nationale Erinnerungsorte hinterfragt. Innovations m¦thodologiques, approches comparatives, lectures transnationales. Methodologische Innovationen, vergleichende Annäherungen, transnationale Lektüren. Brüssel 2009 (Comparatisme et Soci¦t¦/Comparatism and Society, Bd. 9). 29 Bezogen auf das hier vorgestellte Projekt müsste die Auswahl entsprechender Kategorien möglichst induktiv erfolgen. Zugleich sollten die Kategorien so variabel sein, dass auch regionale Identitätskonstrukte wie »Heimat« oder das französische Äquivalent der »petite patrie« im Rahmen der Analyse erfasst werden können. Zum Ansatz der »Histoire crois¦e« im Allgemeinen sieh Michael Werner/B¦n¦dicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire crois¦e und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607 – 636. 30 Achim Landwehr : Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2008 (Historische Einführungen, Bd. 4), S. 92 f.
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darüber, wie es nationalen Initiativen gelang, ihre Projekte auf lokaler Ebene zu implementieren und die Öffentlichkeit von ihren Motiven zu überzeugen – umgekehrt können aber auch gegenläufige Diskursstränge erschlossen werden. Im Rahmen geschichtsdidaktischer Einzelstudien hat sich bereits gezeigt, dass die Diskursanalyse eine gewinnbringende Methode, etwa für die Interpretation von Denkmalkontroversen, darstellt.31 Die Ausbildung einer breit gefächerten Presselandschaft im Elsass seit Beginn des 20. Jahrhunderts bietet eine gute Quellenbasis für ein solches Verfahren. Welche Erkenntnisse sich aus einer Analyse ziehen lassen, die sich (auch) an diskursanalytische Methoden anlehnt, soll nun exemplarisch anhand der Metamorphosen des Kaiserplatzes/Place de la R¦publique in Straßburg skizziert werden. Angesichts des hier gebotenen Rahmens konzentriert sich die Darstellung dabei eher auf die räumliche als auf die zeitliche Ebene der Geschichtskultur.
5.
Exemplarische Fallanalyse: Kaiserplatz/Place de la République
Mit Blick auf die (vorläufigen) Untersuchungsergebnisse kann bezüglich der räumlichen Verdichtung der lokalen Geschichtskultur idealtypisch zwischen verschiedenen Phasen unterschieden werden, die durch bestimmte geschichtskulturelle Leitmuster geprägt sind. Die in diesem Fallbeispiel auftretenden drei Leitmuster können mit den Formeln – zwischen Vereinnahmung und Integration (1871 – 1918) – Identifikation mit der französischen Nation (1918 – ca. 1923) sowie – Geschichtskultur im Spannungsfeld zwischen Region und Nation (1923 – 1940). umschrieben werden. Straßburg wurde nach 1871 zur Hauptstadt des »Reichslandes« Elsaß-Lothringen. Der Kaiserplatz bildete das Zentrum der sogenannten Neustadt – eine Stadterweiterung in nord-östlicher Richtung der Altstadt – und damit den Kern des »deutschen Straßburgs«. Um den Platz herum entstanden zwischen 1884 und 1911 mehrere repräsentative Staatsbauten, welche »die Errungenschaften 31 Vgl. z. B. Holger Thünemann: Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. Zentrale Holocaust-Denkmäler in der Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer Vergleich. Idstein 2005 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 17); sieh zudem auch Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps. Berlin 2012 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 10), der die Diskursanalyse nutzt, um die Debatte um die Gründung verschiedener Migrationsmuseen nachzuzeichnen.
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der elsässischen Hauptstadt seit dem deutsch-französischen Kriege«32 veranschaulichen sollten. Die Meistererzählung von einem »deutschen Straßburg«, die zuerst in der Gedenkkultur ihren Niederschlag fand,33 sollte damit auch durch materielle Repräsentationen unterfüttert werden (vgl. Leitmuster 1). Wie eng die Vernetzung zwischen räumlicher und zeitlicher Ebene ist, zeigt sich in den Planungen zur Errichtung eines Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Eine erste Initiative für ein solches Projekt entstand im Rahmen der »Zentenarfeier« zum 100. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. im Jahre 1897.34 Die mit dem Denkmal verbundenen Intentionen stießen jedoch in der einheimischen Bevölkerung auf wenig Gegenliebe, da der »Reichsgründer« Wilhelm I. für sie untrennbar mit der Eroberung des Elsass und Lothringens verbunden war. So verweigerte etwa der elsass-lothringische Landesausschuss einen Zuschuss in Höhe von 160.000 Mark für das Denkmal. Das Denkmal, das schließlich im Jahre 1911 doch auf dem Kaiserplatz errichtet werden konnte, erhielt die Form eines schlichten Reiterstandbildes und wurde fast ausschließlich aus Kreisen der »Alt-Deutschen« finanziert, die nach 1871 in großer Zahl aus dem Deutschen Reich zugewandert waren. Im Rahmen der Einweihungsfeier, die am 11. Mai 1911 in Anwesenheit Kaiser Wilhelms II. und des Reichsstatthalters Karl von Wedel stattfand, schien man dennoch bemüht, die Denkmalsetzung auch gegenüber der lokalen Bevölkerung zu rechtfertigen. So betonte der Festredner Professor Wiegand, das Denkmal stelle »nicht die Verkörperung kriegerischen Triumphes […] oder überheblicher Siegesfreude« dar, sondern ein »[…] mahnendes Wahrzeichen, das die ganze wundervolle Entwickelung der deutschen Geschichte im verflossenen Jahrhundert zusammenfasst.«35 Der Straßburger Bürgermeister Dr. Rudolf Schwander nutzte seine Rede indes dazu, seiner Hoffnung nach »Gleichstellung« des Reichslandes »mit den übrigen Gliedern der deutschen Staatenfamilie«36 Ausdruck zu verleihen. Mitunter regte sich jedoch auch Widerspruch 32 Deutsche Bauzeitung 1899, S. 583. Zitiert nach Klaus Nohlen: Das Bild der Stadt Strassburg zur Reichslandzeit. Historischer Kern versus Neustadt. In: Revue d’Alsace 131 (2005), S. 139 – 150, das Zitat auf S. 144. 33 Erwähnt seien hier nur die Anniversarien zum Kaisergeburtstag, die in Straßburg wie im ganzen Reichsland begangen wurden. Vgl. zu den Kaisergeburtstagsfeiern im Reichsland Elsaß-Lothringen auch Riederer (Anm. 15). 34 Die sogenannte Zentenarfeier bildete einen Höhepunkt in der Jubiläumskultur des Kaiserreichs und wurde dementsprechend auch im Reichsland mit entsprechendem Aufwand geplant und durchgeführt. Vgl. allgemein zur Zentenarfeier Fritz Schellack: Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945. Frankfurt a. M. 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 315), S. 33 – 43, sowie speziell zur Zentenarfeier im Reichsland Riederer (Anm. 15), S. 353 – 363. 35 Festrede Professor W. Wiegands, abgedruckt in: »Der Kaiser in Straßburg«. In: Straßburger Neue Zeitung, Sonntag, 7. Mai 1911 (Drittes Blatt). 36 Festrede des Bürgermeisters Dr. Rudolf Schwander, zitiert nach: »Der Kaiser in ElsaßLothringen«. In: Der Elsässer, 8. Mai 1911.
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gegen das Denkmal: Die sozialdemokratische »Freie Presse« kritisierte die »protzenhafte« und »geschmacklose« Ausführung des Standbilds und versuchte in einem geschichtlichen Exkurs zu belegen, dass im Gegensatz zur Neustadt in der Straßburger Altstadt niemals ein Herrschaftsdenkmal errichtet worden sei: »Durchwandert unsere Altstadt von Ost nach West, von Nord nach Süd, ihr findet keinerlei monarchische Erinnerungen. Nicht einmal eine Königs- oder Kaiserstraße! Keinen der vielen Potentaten, die es in seinen Mauern gesehen, hat Straßburg in Stein gehauen.«37 Auch die französischsprachige Presse stand dem Denkmalprojekt ablehnend gegenüber – mit Blick auf diese Denkmalkontroverse kann daher tatsächlich von einer geteilten Geschichtskultur in Straßburg gesprochen werden. Von dieser Warte aus gesehen, erscheint es nur logisch, dass dem in Erz gegossenen Kaiser kein langes Leben beschieden war. Nach Ende des Ersten Weltkriegs ging mit dem erneuten Herrschaftswechsel 1918 auch eine deutliche symbolische »Zeitenwende«38 einher (vgl. Leitmuster 2). In der Nacht vom 20. auf den 21. November 1918 wurde die Kaiserstatue von elsässischen Studenten und Privatdozenten von ihrem Sockel gestoßen und zerstört. Den Kopf Kaiser Wilhelms I. schleifte der Mob bis zum Kleberplatz, wo er in einer symbolischen Geste der Statue des französischen Generals zu Füßen gelegt wurde.39 Der verwaiste Sockel des Kaiserdenkmals auf dem Kaiserplatz, der nun »Place de la R¦publique« hieß, erfuhr zunächst eine provisorische Neubelegung. Er diente bis 1920 als Stellplatz für ein deutsches Jagdflugzeug, das als Kriegsbeute präsentiert wurde.40 Auch danach geriet der ehemalige Denkmalstandort nicht in Vergessenheit; vielmehr gab es offenbar das Bedürfnis, den als deutsch konnotierten früheren Kaiserplatz41 symbolisch zu überschreiben. Im Laufe der 1920er-Jahre gab es eine Reihe von Denkmalprojekten, die jedoch allesamt auf Widerstand vor Ort stießen. Ein von Exil-Elsässern in Paris initiiertes Denk37 »Und abermals in Erz gegossen …«. In: Die Freie Presse, 8. Mai 1911. 38 Der Ausdruck stammt von Annette Maas; vgl. Dies.: Zeitenwende in Elsaß-Lothringen. Denkmalstürze und Umdeutung der nationalen Erinnerungslandschaft in Metz (November 1918 – 1922). In: Wienfried Speitkamp: Denkmalsturz: zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Göttingen 1997, S. 79 – 109. 39 Nach dem Bericht des Ministerialrats Michael Braubach, der Augenzeuge des Denkmalsturzes war, soll der Kopf des Kaisers anschließend in einer elsässischen Studentenkneipe als Papierkorb gedient haben. Vgl. Jean-Marie Le Minor : L’¦ph¦mÀre statue ¦questre de l’empereur Guillaume Ier, place de la R¦publique, ancienne Kaiserplatz, Strasbourg (1911 – 1918). In: Annuaire des Amis du Vieux Strasbourg 31 (2004/05), S. 133 – 140, hier S. 134. 40 Der Denkmalsturz selbst und die Zerstörung der Statue waren im Übrigen auch fotografisch dokumentiert worden und fanden als Postkartenmotive ein breites Publikum. Vgl. die Bilddokumentation in Le Minor ( Anm. 39), S. 139 f. 41 Zwar hatten die Straßburger den Platz binnen 48 Jahren im Prinzip als Teil des Stadtbilds akzeptiert – dies änderte sich jedoch im Zuge der Germanisierungsbestrebungen in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs wieder.
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malprojekt für die »Marseillaise« etwa wurde letztlich nicht auf der Place de la R¦publique, sondern, etwas versteckt, neben dem Rathaus errichtet. Auf Wunsch der Stadt war zudem eine Form gewählt worden, durch die, entgegen dem Siegesmotiv, »mehr das Friedensmotiv zur Geltung«42 kam. So fehlte die ursprünglich vorgesehene Gruppe Soldaten in den Uniformen der französischen Poilus aus dem Weltkrieg. Diese Version hätte eher dem Mythos von der Wiedergewinnung der verloren gegangenen Provinzen entsprochen, um den sich in Frankreich zwischen 1871 und 1918 ein wahrer Erinnerungskult gebildet hatte.43 Diese Beispiele zeigen, dass nationale Denkmal-Initiativen in Straßburg auch in der französischen Zeit umstritten und ohne die Zustimmung auf lokaler Ebene nur schwer zu realisieren waren (vgl. Leitmuster 3). Die nach 1918 von nationalen Kreisen angestrebte Französisierung des geschichtskulturellen Pantheons in Straßburg erwies sich vor allem deshalb als schwierig, weil die jüngste Vergangenheit immer noch gegenwärtig war : Viele Elsässer hatten im Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft, der Umgang mit den Kriegstoten erwies sich daher als problematisch. Erst 1936 wurde in Straßburg mit dem »Monument aux morts« ein zentrales Kriegerdenkmal errichtet. Gewidmet war es den Toten, die auf beiden Seiten gefallen waren. Die Inschrift lautete nicht »Morts pour la France« beziehungsweise »Mort pour la patrie« – wie sonst für Kriegerdenkmäler in Frankreich üblich – sondern schlicht »A nos morts« (»Unseren Toten«). In seiner Ikonografie war das Denkmal frei von patriotischen Gesten und zeugte eher von pazifistischen Intentionen. Es zeigt zwei sterbende Soldaten, die nicht in Uniform, sondern nackt dargestellt werden und die einander im Todeskampf die Hand reichen. Die gefallenen Soldaten lehnen an einer Frauenfigur, die den Tod ihrer gefallenen Söhne betrauert. Die anfänglichen Befürchtungen regionalistischer Kreise, deren Ansicht nach die Initiative lediglich ein Vorwand sei,
42 Auszug aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 10. Dezember 1921, betreffend das »Grand Monument proj¦t¦ par le Comite Nationale de la Marseillaise«. In: AVCUS, 154 MW 61. Zwischenzeitlich war auch der Standort »Place de Bordeaux« (ehemals »Schiltigheimer Tor«) für das Denkmal in Erwägung gezogen worden. Das für diesen Platz projektierte Denkmal in Gestalt eines 18 Meter hohen Obelisken sollte in der Tat ein großes Siegeszeichen darstellen, wurde aber wohl auch aufgrund fehlender Subskriptionen wieder verworfen. 43 Vgl. zum Mythos der »Provinces perdues« in Frankreich die Studie von Laurence Turetti: Quand la France pleurait l’Alsace-Lorraine. Les »Provinces perdues« aux sources du patriotisme r¦publicain. Strasbourg 2008. Dieses Master-Narrative vom französischen Elsass sollte in der Region selbst auch durch die Einführung des französischen Feiertagskalenders (hierzu gehörten vor allem der 14 juillet und der 1921 eingeführten Jeanne d’Arc-Feiertag, aber auch die Anniversarien des Waffenstillstands und – speziell in Straßburg – des Einzugs französischer Truppen am 22. November 1918) und somit durch regelmäßig wiederkehrende Feieranlässe entsprechend zeitlich gegliedert werden.
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um in Straßburg »[…] ein Denkmal des Krieges und Sieges zu errichten […]«,44 erwiesen sich daher als unbegründet. Das Denkmal stand und steht heute wieder auf der Place de la R¦publique – es war 1940 von den Nationalsozialisten gestürzt worden und sollte durch ein Bismarck-Denkmal ersetzt werden.45 Heute erinnert das Kriegerdenkmal auch an die sogenannten »Malgr¦-Nous«, die während des Zweiten Weltkriegs dazu gezwungen wurden, auf deutscher Seite zu kämpfen. Wenn es also mit Bezug auf die großen Denkmalprojekte in Straßburg ein verbindendes, transnationales Element in der lokalen Geschichtskultur gab, dann war dies die Erinnerung an die Toten.
Literatur Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007. Aleida Assmann: Jahrestage – Denkmäler in der Zeit. In: Paul Münch (Hrsg.): Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. München 2005, S. 305 – 316. Moritz Csky : Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien u. a. 2010. Moritz Csky : Altes Universitätsviertel: Erinnerungsraum, Gedächtnisort. In: Ders./Peter Stachel (Hrsg.): Die Verortung von Gedächtnis. Wien 2001, S. 257 – 277. FranÅois-Georges Dreyfus: Straßburg und der Rhein zwischen Frankreich und Deutschland. In: Horst Möller/Jacques Morizet (Hrsg.): Franzosen und Deutsche. München 1996. Etienne FranÅois: Kollektives Gedächtnis, Europäisches Gedächtnis. In: Hermann Krapoth/Denis Laborde (Hrsg.): Erinnerung und Gesellschaft. M¦moire et Soci¦t¦. Hommage Maurice Halbwachs (1877 – 1945). Wiesbaden 2005 (Jahrbuch für Soziologiegeschichte), S. 271 – 283. Heinz Gollwitzer : Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 10 (1982), S. 5 – 16. Wolfgang Hasberg: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? Überlegungen zu zwei (un-) vereinbaren Konzeptionen zum Umgang mit Gedächtnis und Geschichte. In: Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), S. 32 – 59. Paul Hugger : Das Fest – Perspektiven einer Forschungsgeschichte. In: Ders. (Hrsg.): Stadt 44 »Gefallenendenkmal für Strassburg?« In: Neue Zukunft vom 23. Februar 1935. In: AVCUS 154 MW 24. 45 Vgl. hierzu Bernadette Schnitzler : »La Kultur est pass¦e par la …« Les monuments de Strasbourg pendant l’Annexion (1940 – 1945). In: Annuaire des Amis du Vieux Strasbourg 32 (2006/07), S. 155 – 174, hier S. 155 – 159.
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und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Unterägi/Stuttgart 1987, S. 9 – 24. FranÅois Igersheim: L’Alsace et ses historiens 1680 – 1914. La fabrique des monuments. Strasbourg 2006. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2008 (Historische Einführungen, Bd. 4). Jean-Marie Le Minor : L’¦ph¦mÀre statue ¦questre de l’empereur Guillaume Ier, place de la R¦publique, ancienne Kaiserplatz, Strasbourg (1911 – 1918). In: Annuaire des Amis du Vieux Strasbourg 31 (2004/05), S. 133 – 140. Peter Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793 – 1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen, Osnabrück 2003 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 9). Annette Maas: Zeitenwende in Elsaß-Lothringen. Denkmalstürze und Umdeutung der nationalen Erinnerungslandschaft in Metz (November 1918 – 1922). In: Winfried Speitkamp: Denkmalsturz: zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Göttingen 1997, S. 79 – 108. Benot Majerus u. a. (Hrsg.): D¦passer le cadre national des » Lieux de m¦moire ». Nationale Erinnerungsorte hinterfragt. Innovations m¦thodologiques, approches comparatives, lectures transnationales. Methodologische Innovationen, vergleichende Annäherungen, transnationale Lektüren. Brüssel 2009 (Comparatisme et Soci¦t¦/ Comparatism and Society, Bd. 9). Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005. Wiesbaden 2010 (Veröffentlichungen des deutschen Polen-Instituts, Bd. 27). Klaus Nohlen: Das Bild der Stadt Strassburg zur Reichslandzeit. Historischer Kern versus Neustadt. In: Revue d’Alsace 131 (2005), S. 139 – 150. Günter Riederer: Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871 – 1918). Trier 2004 (Trierer Historische Forschungen, Bd. 57). Fritz Schellack: Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945. Frankfurt a. M. 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 315). Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps. Berlin 2012 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 10). Bernadette Schnitzler : » La Kultur est pass¦e par la … » Les monuments de Strasbourg pendant l’Annexion (1940 – 1945). In: Annuaire des Amis du Vieux Strasbourg 32 (2006/07), S. 155 – 174. Bernd Schönemann: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? In: Eugen Kotte (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2011 (Kulturwissenschaften als interdisziplinäres Projekt, Bd. 4), S. 53 – 73. Peter Stachel: Stadtpläne als politische Zeichensysteme. Symbolische Einschreibungen in den öffentlichen Raum. In: Rudolf Jaworski/Peter Stachel (Hrsg.): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Berlin 2007, S. 13 – 61. Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1996 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 108).
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Hans-Ulrich Thamer : Die gespaltene Erinnerung. Vergangenheit und Gegenwart in den Revolutionsfeiern von 1889, 1939 und 1989. In: Paul Leidinger/Dieter Metzler (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsbewusstsein. Festschrift Karl-Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag. Münster 1990, S. 535 – 559. Malte Thießen: Das kollektive als lokales Gedächtnis: Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik. In: Harald Schmid (Hrsg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis. Göttingen 2009 (Formen der Erinnerung, Bd. 41), S. 159 – 181. Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945. Berlin 2003. Holger Thünemann: Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. Zentrale HolocaustDenkmäler in der Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer Vergleich. Idstein 2005 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 17). Laurence Turetti: Quand la France pleurait l’Alsace-Lorraine. » Les Provices perdues » aux sources du patriotisme r¦publicain. Strasbourg 2008. Alfred Wahl: Die Zeitgeschichte im Elsaß. Ein kritischer Überblick. In: Jean-Marie Gall/ Wolf-Dieter Sick (Hrsg.): Das Elsaß. Bilder aus Wirtschaft, Kultur und Geschichte. Bühl 1991 (Alemannisches Jahrbuch, 1987/88), S. 135 – 147. Michael Werner/B¦n¦dicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire crois¦e und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607 – 636.
Quellen Auszug aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 10. Dezember 1921, betreffend das »Grand Monument proj¦t¦ par le Comite Nationale de la Marseillaise«. In: Archives de la Ville et de la Communaut¦ Urbaine de Strasbourg (AVCUS), 154 MW 61. »Der Kaiser in Straßburg«. In: Straßburger Neue Zeitung, Sonntag, 7. Mai 1911 (Drittes Blatt). »Der Kaiser in Elsaß-Lothringen«. In: Der Elsässer, 8. Mai 1911. »Gefallenendenkmal für Strassburg?« In: Neue Zukunft, 23. Februar 1935. In: AVCUS 154 MW 24. »Und abermals in Erz gegossen …«. In: Die Freie Presse, 8. Mai 1911.
IV. Sektion: Vernetzungen – Geschichte in den digitalen Medien und ihre Nutzung für das historische Lernen
Manuel Altenkirch
Geschichtsschreibung im digitalen Medium – Konstruktion von Geschichte in der »Wikipedia«
Als eine der berühmtesten Vorgängerinnen der »Wikipedia« gilt gemeinhin die »Encyclop¦die ou Dictionnaire raisonn¦ des sciences, des arts et des m¦tiers«. Der prägende Kopf hinter diesem Mammutprojekt, Denis Diderot, der auch als Autor von Artikeln tätig war, schildert im Artikel zum Thema »Enzyklopädie« seine Sicht auf die Bedeutung des Projektes. Ziel war es, das Wissen der Zeit in einem Werk zu sammeln, damit künftige Generationen eine gute Ausgangsbasis für ein »gelungenes« Leben haben: »Tatsächlich zielt eine Enzyklopädie darauf ab, die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen zu überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei; damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben.«1
Ähnliche, wenn nicht gar noch weitergehende Erwartungen werden heute an die »Wikipedia« gestellt. »Wir sammeln das Wissen der Welt«,2 wie einer der Leitsprüche lautet. Die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsdidaktik haben sich in der bisherigen Erforschung der »Wikipedia« vor allem auf eine Auseinandersetzung auf inhaltlicher Ebene beschränkt. Das bedeutet, dass in erster Linie das »Was« im Vordergrund stand.3 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit 1 Denis Diderot: Enzyklopädie. In: Anette Selg u. a.: Die Welt der Encyclop¦die. Frankfurt a. M. 2001, S. 68. 2 Ebd. 3 Vgl. hierzu: Hiram Kümper: Zeitgeschichte und Wikipedia: von der Wissens(ver)schleuder (ung) zum Forschungsfeld. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung / Contemporary History – Media – Historical Education. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 2), S. 283 – 297; Roy Rosenzweig: Can History be Open Source? Wikipedia and the Future of the Past. In: The Journal of American History 93 (2006), H. 1, S. 117 – 146; Peter Haber : Zur Quellenkritik von Wikipedia. Ein Forschungsbericht. Beitrag zur Tagung »Wikipedia: Ein kritischer Standpunkt, Leipzig 2010 (online verfügbar unter : http://www.cpov.de/?page_id=503, aufgerufen am 09. 11. 2013);
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dem Zustandekommen der Inhalte steht jedoch noch aus. Wie also Geschichte in der »Wikipedia« gemacht wird, stellt sich als Forschungsdesiderat dar. Den Produktionsprozess der Inhalte zu untersuchen, bietet die Chance, Geschichte in der Online-Enzyklopädie als Konstrukt sichtbar zu machen und auf explorative Weise dieses Feld der geschichtsdidaktischen Forschung zu öffnen. Hier setzt der vorliegende Beitrag an, indem im folgenden Autorentypen in der »Wikipedia« herausgefiltert und beispielhaft an einem Autorentyp veranschaulicht werden.4
1.
Fragestellung
Ziel der Untersuchung war es, mögliche Muster der Mitarbeit an geschichtlichen Inhalten in der »Wikipedia« herauszuarbeiten und zu Autorentypen zu verdichten. Leitend ist dabei die Vorstellung von der »Wikipedia« als einem System unterschiedlicher Ebenen, die einen Einfluss auf die Ausgestaltung der Artikelinhalte haben. Durch die »Wikipedia« weitet sich der Kreis derer, die eine »deutende Darstellung der Vergangenheit im kulturellen Orientierungsrahmen der Gegenwart«5 öffentlich mitgestalten können. Prinzipiell für alle offen, ermöglicht die »Wikipedia« die Mitarbeit an Artikeln aus dem Bereich Geschichte nicht nur für Historiker, sondern auch für interessierte Laien.6 Bei eben diesen interessierten Laien ist nicht zwingend davon auszugehen, dass sie sich bei ihrer Mitarbeit an den Artikelinhalten an einem klar definierten methodischen Vorgehen orientieren. Dennoch ist davon auszugehen, dass ein Autor eines »Wikipedia«-Artikels durchaus eine Idee davon hat, wie er vorgehen soll und was er genau machen will. Kann man also auch davon ausgehen, dass sich hier – bewusst oder unbewusst – ein eigenes methodisches Vorgehen zeigt? Und, eng damit verbunden: Lässt sich das mögliche methodische Vorgehen eines Nutzers in bestimmten Mustern der Mitarbeit an einem Artikel erkennen? Peter Haber: Digital past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. München 2011; Peter Haber : Wikipedia. Ein Web 2.0-Projekt, das eine Enzyklopädie sein möchte. In: GWU 63 (2012), H. 5/6, S. 261 – 270; Peter Haber/Jan Hodel: Wikipedia und die Geschichtswissenschaft. Eine Forschungsskizze. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 59 (2009), H. 4, S. 455 – 461. 4 Der Beitrag basiert auf einer Voruntersuchung, die im Rahmen des Dissertationsvorhabens zu »Situativer Erinnerungskultur am Beispiel von Konstruktionsprozessen von Geschichte in der Wikipedia« durchgeführt wurde. 5 Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte. Berlin 2003 (Kulturwissenschaftliche Interventionen, Bd. 2), S. 114. 6 Für eine genaue Anzahl der an der Wikipedia mitarbeitenden Personen, vgl. das Benutzerverzeichnis unter http://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:Benutzer (aufgerufen am 09. 11. 2013).
Geschichtsschreibung im digitalen Medium
2.
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Theoretischer Bezug
Die Muster der Mitarbeit einzelner Akteure in der »Wikipedia« zu untersuchen, bedeutet, sich über diesem Wege der Vorstellung von Geschichte der Akteure zu nähern. In diesem Sinne ließe sich die Erforschung von Konstruktionsprozessen von Geschichte in der »Wikipedia« im Schnittbereich zwischen der betrachtenden Analyse eines geschichtskulturellen Produktes und dem individuellen Geschichtsbewusstsein der beteiligten Akteure beschreiben.7 Die »Wikipedia« stellt gegenwärtig eines der bedeutendsten Produkte der Geschichtskultur dar. In ihr hat die »große Geschichte«, aber auch die »kleine Geschichte«, sofern sie eine gewisse Relevanz besitzt, Platz. Das Zustandekommen der Inhalte jedoch, die für den einfachen Leser der Artikel meist im Verborgenen bleibt, erfordert einen Abstimmungsprozess, der durch die Offenheit des Projektes einen »Zugang« zum Geschichtsbewusstsein der Akteure ermöglicht. Im Kern orientiert sich die Untersuchung der Konstruktionsprozesse also an den beiden zentralen Kategorien der geschichtsdidaktischen Forschung: der des »Geschichtsbewusstseins« und der der »Geschichtskultur«.8 Einen Teil des kulturellen Orientierungsrahmens stellt das World Wide Web und damit auch die »Wikipedia« dar, die sich als fester Bestandteil unserer Informationsrecherche durchaus etabliert hat. In zunehmendem Maße prägen Formen der virtuellen Kommunikation, Textproduktion und Diskussion die Art und Weise, wie wir Geschichte wahrnehmen und uns an Ereignisse, Personen oder Orte erinnern. Das World Wide Web ist längst ein fester Bestandteil der historischen Deutungen, und Wahrnehmungsmuster bilden sich aus dem Zusammenspiel der Einzelerinnerungen und einer gemeinsamen, kollektiven Erinnerung.9 Und gerade an diesem Schnittpunkt zwischen Darstellung der persönlichen und Aushandlung der gemeinsamen Erinnerung ist der Schreibprozess in der »Wikipedia« anzusiedeln. Die Vielzahl miteinander konkurrierender Vorstellungen über die Darstellung eines »Artikelinhaltes« im Medium der Online-Enzyklopädie führt zu Diskussionen, Absprachen und sogar zu streit7 Vgl. Elisabeth Erdmann: Geschichtsbewusstsein – Geschichtskultur. Ein ungeklärtes Verhältnis. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 35 (2007), S. 186 – 195. 8 Vgl. Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur, Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. 10 Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 3 (2004), S. 198 – 207; Marko Demantowsky : Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), H. 1, S. 11 – 20; Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu eine neuen Art über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füssmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1994, S. 3 – 26. 9 Vgl. Etienne FranÅois/Hagen Schulze: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1. München 2009, S. 9 – 26, hier S. 13.
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voller Auseinandersetzung.10 Diese Vielzahl unterschiedlicher Akteure, die alle einen mehr oder weniger großen Einfluss auf die »Wikipedia« haben, kann einen wichtigen Hinweis auf den Umgang mit Geschichte im World Wide Web geben.11
3.
Artikel- und Autorenanalyse
Untersucht wird eine zufällig gewählte Stichprobe von Artikeln aus dem Themenbereich Geschichte der »Wikipedia«. Hierfür wurde auf eine von »Wikipedia«-Autoren gepflegte Auflistung von Artikeln zurückgegriffen, welche als eine Datenbank zu verstehen ist, die Artikel verzeichnet, die im Sinne der »Wikipedia«-Autoren dem Fach beziehungsweise der Disziplin Geschichte zugeordnet werden können. Das Archiv ist in mehrere Abschnitte eingeteilt, die jeweils unterschiedlich große Zeitabschnitte der Erfassung von Artikeln abdecken. Direkt auf der Hauptseite der »Projektredaktion Geschichte« finden sich die Auflistungen der aktuell aufgenommenen Artikel.12 Für weitere, ältere Artikel wird hier auf ein Archiv verwiesen, in dem die übrigen Artikel zu finden sind.13 Im Artikelarchiv waren zur Zeit der Auszählung der Artikelstichprobe 53.322 Artikel aufgelistet.14 Ausgehend von dieser Artikelstichprobe wurden dann die beteiligten Autoren extrahiert. Alle Versionen eines Artikels wurden hinsichtlich der beteiligten Autoren ausgewertet und diese dann in einer Liste zusammengefasst. Unregistrierte Autoren wurden aufgrund der fehlenden Zuordbarkeit der Beiträge nicht in dieser Stichprobe berücksichtigt. Insgesamt waren an den Artikeln der Stichprobe 3.011 registrierte Autoren sowie 1.726 unregistrierte Autoren beteiligt. Um die große Zahl der Autoren der Stichprobe hinsichtlich einer Analyse handhabbarer zu machen, wurden zu-
10 Vgl. auch Aleida Assmann: Soziales und kollektives Gedächtnis, o. O., 2006 (online verfügbar unter : http://www.bpb.de/files/0FW1JZ.pdff, aufgerufen am 29. 06. 2011). 11 Vgl. auch Michael J. Eble: Das Gestern im Heute 2.0. Rekonstruktion und Vermittlung historischer Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im Social Web. In: Monika Flacke u. a. (Hrsg.): Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch – Konstruktionen historischer Erinnerungen. München 2011, S. 117 – 132. 12 »Wikipedia:Redaktion Geschichte«, vgl. http://goo.gl/cB6dF (aufgerufen am 09. 11. 2013). 13 »Wikipedia:Redaktion Geschichte/Neue Artikel/Archiv (bis 1. Halbjahr 2011)«, vgl. http:// goo.gl/j3n4K (aufgerufen am 09. 11. 2013). 14 Stichtag der Auszählung war der 13. 10. 2010. Leider werden die jeweiligen Wikipedia-Seiten im Archiv regelmäßig gelöscht. Deshalb kann keine genaue Adresse zu der für die Auszählung relevanten Wikipedia-Seite angegeben werden.
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nächst alle Autoren hinsichtlich ihrer Basisaktivität im Artikelraum der »Wikipedia« untersucht.15 Zu diesem Zweck wurden in einem ersten Schritt die letzten 500 Edits16 aller Autoren hinsichtlich eines feststellbaren Bezugs zu geschichtlichen Themen untersucht. Unter einem klar erkennbaren Bezug wird hier ein mindestens 33,3 prozentiger Anteil von Edits an Artikeln, die der Geschichte zuzuordnen sind, definiert. Auf diese Weise sollen Autoren, die sich nur sporadisch mit Geschichte in der »Wikipedia« auseinandersetzten und daher für die Untersuchung unbedeutend sind, aus der Stichprobe eliminiert werden. War kein klarer Bezug erkennbar, wurden die Autoren aussortiert. Auf diese Weise wurden 770 Autoren ausgewählt, die näher untersucht werden sollten. Dies entspricht 44,61 % der über die Artikelauswertung ermittelten Autoren. Insgesamt gehen in die Untersuchung 4,9 Millionen bearbeitete Artikelversionen, 11,2 Millionen Änderungen an der »Wikipedia« insgesamt, sowie 7,8 Millionen konkrete Änderungen an Artikeln ein. Bei der Auswertung der Autorenaktivität wurden die durch die Autoren geschaffenen Veränderungen an der »Wikipedia« im Hinblick auf eine mögliche Typisierung ausgewertet.
4.
Abduktion und Typisierung
Prinzipiell ist bei einer möglichen Typisierung festzuhalten, dass typenbildende Verfahren sowohl deskriptive als auch hypothesengenerierende Funktionen zukommen.17 Die Beschreibung einzelner Partizipationsmuster ist als strukturierendes und informationsreduzierendes Verfahren zu verstehen, das der Erhöhung der Übersichtlichkeit der Datenmenge dient. Über die beschreibende Analyse von Mustern ist es möglich, diese zu bestimmten Typen zu clustern. Diese Typen können dann in einem nächsten Schritt noch einmal anhand des Datenmaterials validiert werden. Hinsichtlich von Überlegungen zu möglichen Modellen der Theorie- beziehungsweise Typenbildung wurde das von Charles Sanders Pierce entwickelte Prinzip der Abduktion aufgegriffen, das Vorwissen und Vorannahmen in den 15 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Quotenauswahl bei Michael Häder : Empirische Sozialforschung. Eine Einführung. Wiesbaden 2010, S. 170 – 173. 16 Veränderungen in einer Version. Die Anzahl der zu untersuchenden Fälle bedingt, dass kein einheitlicher Stichtag für die Abfrage gewählt werden konnte. 17 Udo Kelle/Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. Wiesbaden 2010.
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forschungslogischen Aufbau einer Untersuchung integriert.18 Abduktive Verfahren kreieren aus der Beobachtung heraus, unter Berücksichtigung des vorhandenen Vorwissens, neue Theorien beziehungsweise neue Typen und sind als kreatives, offenes und unter Verzicht auf dogmatisches Beharrungsvermögen durchführbares Verfahren zu verstehen.19 Konkret bedeutet dies, dass unterschiedliche Systeme,20 die einen Einfluss auf die Mitarbeit an der »Wikipedia« haben können, definiert und im Hinblick auf mögliche Typisierungen ausgewertet wurden. Im Anschluss wurden die konkreten Autoren hinsichtlich ihrer Tätigkeit in der »Wikipedia« analysiert, ausgehend von den im Vorfeld erarbeiteten Typisierungsmustern. Neues theoretisches Wissen kann auf diese Weise nicht einfach aus dem Datenmaterial »emergieren«,21 da bewusst theoretische Vorannahmen berücksichtigt wurden. Hinsichtlich der Typisierung von Konstruktionsprozessen wurde für die hier skizzierte Untersuchung die Vorgehensweise von Udo Kelle und Susann Kluge genutzt, die sich auch bei Ralf Bohnsack22 und Udo Kelle23 in ähnlicher Form finden. U. Kelle und S. Kluge unterscheiden vier Teilschritte der Typenbildung, die jedoch nicht als starres, lineares Konstrukt zu denken sind, sondern vielmehr als komplexes, sich gegenseitig beeinflussendes System zu sehen sind. – Als erste Stufe sehen U. Kelle und S. Kluge die Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, was die Erstellung beziehungsweise Definition von Merkmalen und Kategorien beinhaltet, die Ähnlichkeiten sowie Unterschiede zwischen Fällen erfasst und so eine Charakterisierung von Gruppen und Typen ermöglicht.24 Insbesondere die Ausgestaltung von Merkmalsausprägungen im Sinne einer besseren methodischen Unterscheidung unterschiedlicher Vergleichsdimensionen ist in diesem Schritt besonders hervorzuheben.25 18 Vgl. Michael Meyer : Abduktion, Induktion – Konfusion. Bemerkungen zur Logik der interpretativen Sozialforschung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 12 (2009), H. 12, S. 302 – 320, hier S. 306 – 313. 19 Udo Kelle: Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte. Wiesbaden 2007, S. 125, und auch Udo Kelle: Empirisch begründete Theoriebildung. Zur Logik und Methodologie interpretativer Sozialforschung. Weinheim 1994, S. 127 – 129. 20 Hier das System »Enzyklopädie«, »Wiki-Technologie« und »Wikipedia als Organisationsstruktur«. 21 Kelle/Kluge (Anm. 17), S. 20. 22 Ralf Bohnsack: Dokumentarische Methode und Typenbildung: Bezüge zur Systemtheorie. In: Ren¦ John u. a. (Hrsg.) Die Methodologien des Systems. Wie kommt man zum Fall und wie dahinter? 1. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 291 – 320. 23 Kelle (Anm. 19). 24 Kelle/Kluge (Anm. 17), S. 91. 25 Ebd., S. 73 – 82. Vgl. auch die Ausführungen zu »Abduktion«.
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– Die zweite Stufe, die sich inhaltlich anschließt, beinhaltet vor allem die Gruppierung der gefundenen Fälle beziehungsweise, im vorliegenden Fall: der Konstruktionsmuster, im Hinblick auf die vorher definierten Vergleichsdimensionen und die anschließende Untersuchung dieser Gruppen auf empirische Regelmäßigkeiten. Zu beachten ist hier die »interne Homogenität«26 der definierten Gruppen, also die Merkmalsübereinstimmung zugeordneter Fälle, die besonders für die spätere (Stufe 3) Typisierung von Bedeutung ist und auch die Abgrenzung unterschiedlicher Gruppen – im vorliegenden Fall: Konstruktionsmuster – ermöglicht. – In der dritten Stufe der Typenbildung werden inhaltliche Sinnzusammenhänge analysiert, die den vorgefundenen Gruppen beziehungsweise Konstruktionsmustern zugrunde liegen und sie dadurch erklärbar machen. – Auf der letzten Stufe findet abschließend eine genaue Charakterisierung der gefundenen Typen statt, was gleichzeitig die Ausdifferenzierung der Merkmale des Konzepts der situativen Erinnerungskultur darstellt.27
5.
Autorentypen: der Hypertext-Autor
Auf Basis der in der Stichprobe erfassten Autoren konnten einige typische Muster der Mitarbeit abgeleitet werden. Aufgrund des nur geringen Rahmens dieser Ausführungen soll nur einer der ursprünglich elf Typen exemplarisch dargestellt werden. Der Hypertext-Autor stellt inhaltliche Beziehungen zwischen Artikel über die Verknüpfung mittels »Hyperlinks« dar. Dadurch konstruiert er ein Bedeutungsnetz, das sich in über die Verlinkung ergebenden inhaltlichen Beziehungen von Artikeln darstellt. Daher soll sich dieser Typ durch das Setzen von Hyperlinks in den Artikeln auszeichnen. Durch die Nutzung der Wiki-Software ergeben sich in der Online-Enzyklopädie Möglichkeiten der Verknüpfung unterschiedlicher Artikel über Hyperlinks.28 Auf diese Weise können inhaltliche Beziehungen zwischen zwei Artikeln zum Ausdruck gebracht werden. Es können Netzwerke von Inhalten entstehen, die erst durch die Verlinkung in einen inhaltlichen Zusammenhang gebracht werden.29 Solche Hypertext-Netze sind für 26 27 28 29
Ebd., S. 74. Für den Aufbau einer Untersuchung, vgl. auch Häder (Anm. 15), S. 75 – 138. Vgl. oben: interne Verlinkung in einem Wiki. Die Verknüpfung zwischen zwei Artikeln über einen »Link« findet sich bereits in der »Encyclop¦die« Diderots und D’Alemberts. In den Artikeln werden direkte Verbindungen über einen Hinweis auf einen anderen Artikel gegeben. So wird auch schon in der »Encyclop¦die« ein Netz von Artikeln aufgebaut; vgl. Diderot (Anm. 1).
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die »Wikipedia« typisch.30 Über Hyperlinks realisierte (Wissens-)Netzstrukturen sind für die Darstellung von Wissenszusammenhängen, gerade auch in Enzyklopädien, besonders geeignet.31 Hypertexte können als nicht lineare Organisation von Informationseinheiten verstanden werden, die durch den Einsatz von Hyperlinks strukturiert sind; nicht linear, weil der Nutzer, beziehungsweise Leser eines Hypertextes über die »Links« einer Verknüpfung von informationellen Wissenseinheiten selbstständig folgt, ohne dass ihm dabei eine direkt vorgegebenen Richtung angeboten wird.32 Ein Text, auch ein Artikel in der »Wikipedia«, kann mehrere Links zu anderen Texten beinhalten und bietet so multiple Verknüpfungsmöglichkeiten für den Leser. Die Beziehung zwischen zwei informationellen Einheiten muss jedoch durch den Leser selbst realisiert werden, auch wenn die inhaltliche Verknüpfung ursprünglich durch die Person, die den Link gesetzt hat – den Hypertext-Autoren – hergestellt wurde. Hieraus ergibt sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Frage, inwiefern Hypertext beziehungsweise Hypertext-Strukturen Einfluss auf die (Re-)Konstruktion von Geschichte haben. Jakob Krameritsch untersuchte in diesem Zusammenhang die Auswirkungen von Hypertext auf die Produktion von (geschichts-)wissenschaftlichen Inhalten am Beispiel der Konstruktion des Online-Angebotes »pastperfect.at«.33 J. Krameritsch betont die Bedeutung des Hypertext-Autors für die re-konstruktive Leseleistung des Hypertext-Nutzers. Gerade über Links definiere sich für den Leser Bedeutung. Dies hängt mit der Art und Weise zusammen, wie ein Text am Computer und damit auf einem Bildschirm gelesen wird: »Am Bildschirm wird nachgeschlagen, gelesen wird auf Papier. […] Längere Texte, die genau studiert, eventuell sogar annotiert und markiert werden sollen und in denen bei 30 Vgl. Axel Bruns: Blogs, Wikipedia, Second Life, and beyond: from production to produsage. New York 2008, S. 101 – 130. 31 Ulrike Haß: Deutsche Wörterbücher. Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. Berlin u. a. 2001, S. 374. 32 Vgl. Uwe Wirth: Zur Medialität enzyklopädischer Verknüpfung. Die Rolle des Hyperlinks im Rahmen hypertextueller Wissensorganisation. In: Waltraud Wiethölter u. a. (Hrsg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web. Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg 2005 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft), S. 287 – 303. 33 Vgl. Jakob Krameritsch: Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Münster/New York 2007. Das in dieser Arbeit untersuchte Internet-Angebot findet sich unter http:// www.pastperfect.at/ (aufgerufen am 01. 09. 2011). Das Angebot beschäftigt sich mit der Zeit der Renaissance und der Reformation. Im Rahmen eines großen Hypertextes kann der Nutzer hier auf über 700 Texte und Informationen zugreifen. Diese sind, unter Verzicht auf eine vorgegebene lineare Struktur, über Hyperlinks miteinander verknüpft, sodass eigene »Lernwege« selbstständig gewählt werden können. Vgl. auch Oliver Karl Josef Huber : Hypertext – eine textlinguistische Untersuchung (online verfügbar unter : http://www.edoc.ub.uni-muenchen.de/921/1/Huber_Oliver.pdf, aufgerufen am 01. 09. 2011).
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der Lektüre hin und her geblättert werden muss, kommen den Lesern in Papierform mehr entgegen als in der elektronischen.«34
Lesen am Bildschirm kann nicht als eine extensive Form des Lesens verstanden werden. Vielmehr gleicht das Lesen am Bildschirm einem oberflächlichen »Browsen«, was dem Schmökern in einem Buch oder dem Stöbern in einem Archiv ähnelt. Als wichtige, visuelle Ankerpunkte sind bei dieser Art, einen Hypertext zu lesen, die farbig hervorgehobenen Links zu sehen, denn »Links präsentieren Antworten auf nicht gestellte Fragen. Und indem Antworten angeboten werden, werden diese Stellen als fraglich eingefärbt. Der Hypertext richtet sich also nicht nur die Textvorlage zurecht, sondern modelliert zugleich auch den Leser.«35
Das bedeutet, dass – bei einer großen Anzahl von Links – der Hypertext-Leser zu einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit dem Text gezwungen wird. Er muss selbstständig über die Relevanz der zur Verfügung stehenden Links entscheiden, da die »Sequenzierung des Textes ja zusätzlich zum eigentlichen Lesen geleistet werden muss.«36 Mit Sequenzieren ist hier die Reihenfolge gemeint, in der ein Text (oder Texte) gelesen wird (oder werden). Entweder orientiert sich die Lesart an der vom Autor vorgegebenen Ursprungssequenz – was vor allem bei linearen Texten, z. B. in Büchern der Fall ist, oder der Leser generiert eine neue Lektürereihenfolge. Diese Form des (Hyper-)Text-Lesens kann als Konstruktionsprozess einer eigenen, neuen Narration gesehen werden. Denn wie eine Geschichte erzählt wird, richtet sich nicht nur nach dem Gegenstand, sondern auch nach dem Genre, in dem die Geschichte erzählt wird.37 Somit gestaltet der Leser über das Anklicken von Links in einem Text, also auch einem »Wikipedia«-Artikel, eine eigene Narration, die durch den Hypertext-Autor zumindest mitgeprägt ist. Der Hypertext-Leser generiert zwar über seinen eigenen Weg, den er über die Links in Artikeln einschlägt, eine neue historische Narration, unter den Bedingungen jedoch, die der Hypertext-Autor durch das Setzen von Links geschaffen hat.38 Dadurch ist auch bedingt, dass die Narration, die durch den Hypertext-Leser neu konstruiert wird, prinzipiell ohne Ende ist, denn es finden sich immer wieder neue Anknüpfungsmöglichkeiten, um einen 34 Dieter E. Zimmer : Die Bibliothek der Zukunft. Text und Schrift in den Zeiten des Internet. Hamburg 2000, S. 12 f. 35 Bernd Wingert: Äußerer und innerer Hypertext: Eine notwendige Differenzierung, verdeutlicht am Flusser Hypertext. In: Nachrichten für Dokumentation, 44 (1993), H. 1, S. 29 – 36, hier S. 35. 36 Vgl. Huber (Anm. 33), S. 50. 37 Vgl. Jörg Baberowski: Brauchen Historiker Theorien? Erfahrungen beim Verfassen von Texten Arbeit an der Geschichte. In: Ders. (Hrsg.): Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt a. M./New York 2009, S. 123. 38 Vgl. Jakob Krameritsch: Herausforderung Hypertext. Heilserwartung und Potenziale eines Mediums. In: Zeitenblicke 5 (2006), H. 3, S. 1 – 25, Abschn. 22.
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Text, oder, im Falle der »Wikipedia«, einen Artikel mit einem weiteren Artikel über einen Link zu verknüpfen.39 Dabei werden fachliche Grenzen im Sinne eines einheitlichen und mit vorgegebenen Strukturen und Beziehungen definierten Wissensraumes zugunsten eines grenzenlosen und nicht mehr an fachliche Grenzen gebundenen Wissensraumes aufgegeben. Ein geschichtlicher Inhalt kann, sofern dies im Artikel angelegt40 ist, mit prinzipiell allen denkbaren anderen Disziplinen verknüpft werden. Am Beispiel des Artikels zum Begriff »Geschichtswissenschaft«41 kann dies kurz verdeutlicht werden. Im Artikel wird auf 169 andere Artikel verwiesen. Darunter befinden sich sowohl fachspezifische Artikel, die eine Bandbreite der Disziplin wiedergeben,42 als auch Artikel, die auf den ersten Blick nur bedingt mit der Geschichtswissenschaft verknüpft werden.43 Auf den Artikel »Geschichtswissenschaft« verweisen 1.383 Artikel, wobei hier ebenso offensichtliche wie auch weniger klare Begriffe miteinander verknüpft werden.44 Allein die 39 Vgl. hier auch das Phänomen des »Lost in Hyperspace«; Ray McAleese: Hypertext: theory into practice. In: Ders. (Hrsg.): Hypertext. Theory into practice. Oxford 1999, S. 90 – 105; Deborah M. Ewards/Linda Hardman: Lost in hyperspace: cognitive mapping and navigation in a hypertext environment. In: Ebd., S. 90 – 105. Das Phänomen beschreibt einen Zustand des »Verlorenseins« in Hypertext-Strukturen. Ein Hypertext-Nutzer liest mit einer bestimmten Fragestellung einen Hypertext, verliert diese Fragestellung aber durch die intensive Nutzung der Verlinkungen zunehmend aus den Augen. Vielmehr schweift er ab und entfernt sich von seiner Ausgangsfragestellung. Im Extremfall kann die Ausgangsfrage vollständig ignoriert werden und andere, neue, jedoch nur temporäre Fragstellungen treten in den Vordergrund. Dieses Phänomen lässt sich auch in der »Wikipedia« beobachten. Vgl. auch den Klassiker des Hypertextes: Vannevar Bush: As we may think. In: The Atlantic Monthly 176 (1945), S. 101 – 108 (online verfügbar unter : http://www.theatlantic.com/magazine/archive/1969/12/as-we-may-think/3881/1/, aufgerufen am 10. 02. 2011). In diesem Zusammenhang vgl. auch die Idee des »World Brain« bei Herbert George Wells: The Idea of a World Encyclopedia. In: Harper’s Monthly Magazine (1937), H. 174, S. 472 – 482. Hierzu auch Boyd W. Rayward: H. G. Wells’s Idea of a World Brain: A Critical Reassessment. In: Journal of the American Society for Information Science, 50 (1999), H. 7, S. 557 – 573. 40 »Angelegt« bedeutet hier, dass ein entsprechendes Stichwort im Text enthalten ist. So kann sinnigerweise nur auf einen anderen Artikel per Hyperlink verwiesen werden, wenn sich die Begrifflichkeit, auch wenn diese nur umschrieben wird, im Text wiederfindet. 41 Wikipedia-Artikel »Geschichtswissenschaft«, vgl. http://www.goo.gl/g1QtW (aufgerufen am 09. 11. 2013). Der Artikel zum Thema »Geschichtswissenschaft« wurde hier als Beispiel ausgewählt, da er als Überblicksartikel viele Ansichten auf das Thema bündelt. In diesem Fall dient das Beispiel lediglich der Erläuterung der Verlinkungsmöglichkeiten in der »Wikipedia«. 42 Z. B. »Alltagsgeschichte«, »Archäologie«, »Frauengeschichte«, »Geschichtskultur«, »Historiker«, »Quellenkritik«, etc. Eine Auflistung aller Links findet sich unter : Wikipedia: »Verlinkung Artikel Geschichtswissenschaft vom 01. 09. 2011«, vgl. http://www.goo.gl/o3niO (aufgerufen am 09. 11. 2013). 43 Z. B. das Jahr »1707«, »Bürokratie«, »Handbuch«, »Polonistik«, etc. Für eine Auflistung vgl. Ebd. 44 Für eine Auflistung: Wikipedia: Verlinkung Artikel »Geschichtswissenschaft« vom 01. 09. 2011, vgl. http://www.goo.gl/yINdI (aufgerufen am 09. 11. 2013).
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große Anzahl von Verlinkungen, gerade auch auf, im Hinblick auf einen Bezug zur Geschichtswissenschaft, weniger offensichtlich verwandte Artikel, kann als Indiz für die enorme Bedeutung der Verlinkungen in einem Artikel gewertet werden. Da also die Gestaltung der Hypertext-Struktur der »Wikipedia« eine durchaus – im Sinne der durch den Leser zu konstruierenden Narration – relevante Tätigkeit bei der Erstellung des Artikelinhaltes darstellt, soll der Typ des Hypertext-Autoren definiert werden. Dieser Typ zeichnet sich durch die Ausgestaltung der Hypertext-Struktur, also der Verknüpfung von Artikeln in der »Wikipedia«, aus. Die typische Arbeit des Hypertext-Autoren in der »Wikipedia« soll in der Konstruktion eines Netzes von Artikeln durch das Setzen von Hyperlinks, und damit in der inhaltlichen Verknüpfung zweier Artikel miteinander bestehen. Der Autor »Floris V«45 ist seit dem 9. März 2005 in der »Wikipedia« registriert und hat seither in 65 Edits 60 Artikel bearbeitet. Wertet man diese Aktivität aus, so können gut zwei Drittel seiner Änderungen als Änderungen der Verlinkung definiert werden. Die von »Floris V« eingefügten Links dienen gänzlich der Vernetzung der bearbeiteten Artikel mit alternativen Sprachversionen. So verlinkt er in seinem zweiten Edit den Artikel zum Begriff »Jamnaja-Kultur« mit der niederländischen Version des Artikels.46 »Floris V« scheint – zumindest lässt dies seine Selbstauskunft auf seinem Autorenprofil als Vermutung durchaus plausibel erscheinen – selbst Niederländer zu sein.47 Sucht man in der niederländischen Sprachversion nach dem Autor, so findet sich eine Person gleichen Namens.48 Wertet man dessen Beiträge aus und gleicht diese mit den Aktivitäten des in der deutschsprachigen Version aktiven Autors ab, so kann man einige Parallelen ausmachen. Die Aktivitäten des »deutschen« »Floris V« entsprechen in weiten Teilen der Aktivität des »niederländischen« »Floris V«. Änderungen an Artikeln in der deutschen Sprachversion entsprechen Änderungen an gleichnamigen Artikeln in der niederländischen Version.49 Die Vermutung liegt also nahe, dass es sich um einen Autor handelt, der Verknüpfungen zwischen beiden Sprachversionen herstellt, indem er mehrere Artikel über Sprachversionen hinweg miteinander verlinkt.
45 Autorenprofil: Wikipedia: »Benutzer :Floris V«, vgl. http://www.goo.gl/tDI6I (aufgerufen am 09. 11. 2013). 46 Hier erkennt man die Verlinkung am grün unterlegten Text: Wikipedia-Artikel »JamnajaKultur«, vgl. http://www.goo.gl/eDByW (aufgerufen am 09. 11. 2013). 47 Vgl. die Angaben über seine Muttersprache auf seinem Autorenprofil: Wikipedia: »Benutzer :Floris V«, vgl. http://www.goo.gl/Ou2iA (aufgerufen am 09. 11. 2013). 48 Wikipedia: »Gebruiker :Floris V«, vgl. http://www.goo.gl/bXKLm (aufgerufen am 09. 11. 2013). 49 Aktivitäten des Autors »Floris V« in der niederländischen Sprachversion: Wikipedia: »Floris V:Gebruikersbijdragen«, vgl. http://www.goo.gl/OxFZr (aufgerufen am 09. 11. 2013).
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Ein ähnliches Verhalten lässt sich auch bei anderen Autoren feststellen. So verlinkt der Autor »Odejea«50 deutschsprachige Artikel fast ausschließlich auf die französische Sprachversion. Mehr als 53 % seiner Änderungen an der »Wikipedia« können als Verlinkungen zur französischsprachigen »Wikipedia« gewertet werden. Auch hier lassen sich wieder Parallelen zwischen einem »französischen« »Odejea«51und einem »deutschen« »Odejea« feststellen. Verlinkungen von Artikeln unterschiedlicher Sprachversionen werden häufig von Autoren durchgeführt, die in einer Sprachversion inhaltlich aktiver arbeiten und in anderen Sprachversionen die Verknüpfung zu ihrer »Heimsprachversion« herstellen. Eine andere Art der Verlinkung lässt sich bei »Soli« feststellen.52 »Soli«, der seit dem 30. November 2005 in der »Wikipedia« aktiv ist und in 2.063 Edits insgesamt 2.016 Artikel bearbeitet hat, verknüpft über Hyperlinks Artikel in einer Sprachversion miteinander.53 Etwa mehr als 43 % seiner Änderungen (900) können zu dieser Änderungsart gezählt werden. Auffällig ist bei den Verlinkungen von »Soli«, dass er fast ausnahmslos Artikel mit Bezug zur Schweiz verlinkt.54 Der Autor stellt so eine Verknüpfung zwischen hauptsächlich Personen- Artikeln und dem Artikel »Schweiz« her. Man kann hier von einer inhaltlichen Verknüpfung von Themen ausgehen. So zeigt sich an diesem Autorentyp die »Wikipedia« als Ländergrenzen überschreitendes Projekt, das aus geschichtskultureller Perspektive eine Verbindung zwischen unterschiedlichen national geprägten Erinnerungsdiskursen ermöglicht.
6.
Reflexion
Greift man den zu Beginn dieses Beitrags zitierten Abschnitt aus der »Encyclop¦die« auf, so kann man im Hinblick auf die Typisierung von Autoren von historischen Inhalten in der »Wikipedia« den Einfluss der Akteure gut nachvollziehen. Sowohl die »Encyclop¦die« als auch die »Wikipedia« versuchen, das (relevante) Wissen der Zeit zu erfassen. Neu ist die prinzipielle Unabgeschlossenheit55 des Projekts »Wikipedia« und die Tatsache, dass viele Akteure versu50 51 52 53 54
Wikipedia: »Benutzer:Odejea«, vgl. http://www.goo.gl/WWyTS (aufgerufen am 09. 11. 2013). Wikipedia: »Utilisateur :Odejea«, vgl. http://www.goo.gl/zDxJ3 (aufgerufen am 09. 11. 2013). Wikipedia: »Benutzer :Soli«, vgl. http://www.goo.gl/ruQZM (aufgerufen am 09. 11. 2013). Wikipedia: »Benutzerbeiträge«, vgl. http://www.goo.gl/gtEzz (aufgerufen am 09. 11. 2013). Beispielsweise die Verknüpfung des Artikels zu FranÅois Bocion: Wikipedia: »›FranÅois Bocion‹ – Versionsunterschied«, vgl. http://www.goo.gl/tRE69 (Edits Nr. 2051). 55 Das Problem bei der Analyse der Daten ist in der Unabgeschlossenheit des Projektes an sich
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chen, Einfluss auf den Inhalt zu nehmen. Am Beispiel der Hypertext-Autoren wird deutlich, wie Inhalte miteinander in einen Sinnzusammenhang gebracht werden können, die wiederum vom Leser eines Artikels im Sinne einer rekonstruierenden Leseleistung nachvollzogen werden können. Gleichsam stellt dies die engen Grenzen dar, in denen sich die Verbindung von Inhalten darstellt. Die Typologisierung der »Wikipedia«-Autoren ist als ein erster Schritt zu verstehen, die Funktionsweise der Artikelentwicklung verständlicher zu machen und bietet so die Chance, den Artikel nicht nur hinsichtlich der jeweiligen inhaltlichen Aussage zu beurteilen, sondern auch die hinter dem Inhalt stehenden Mechanismen besser verstehen zu können. Die Auswertung der Artikel- und der Autorenstichprobe hat gezeigt, dass man bei Geschichtsartikeln in der Wikipedia von einer komplexen Mitarbeitsund Mitarbeiterstruktur ausgehen muss, die nur über eine singuläre Auswertung der Artikelentwicklung nicht verstanden werden kann. Vielmehr müssen die Autoren der »Wikipedia« als System in den Blick genommen werden.
Literatur Aleida Assmann: Soziales und kollektives Gedächtnis o. O., 2006 (online verfügbar unter : http://www.bpb.de/files/0FW1JZ.pdff, aufgerufen am 29. 06. 2011). Jörg Baberowski: Brauchen Historiker Theorien? Erfahrungen beim Verfassen von Texten. In: Ders. (Hrsg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt a. M./New York 2009. Ralf Bohnsack: Dokumentarische Methode und Typenbildung: Bezüge zur Systemtheorie. In: Ren¦ John/Anna Henkel/Jana Rückert-John (Hrsg.): Die Methodologien des Systems. Wie kommt man zum Fall und wie dahinter? 1. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 291 – 320. Axel Bruns: Blogs, Wikipedia, Second Life, and beyond: from production to produsage 2008. Vannevar Bush: As we may think. In: The Atlantic Monthly 176 (1945), S.101 – 108 (online verfügbar unter : http://www.theatlantic.com/magazine/archive/1969/12/as-we-maythink/3881/1/, aufgerufen am 11. 02. 2011). Marko Demantowsky : Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), H. 1, S. 11 – 20. Michael J. Eble: Das Gestern im Heute 2.0. Rekonstruktion und Vermittlung historischer Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im Social Web. In: Monika Flacke u. a. (Hrsg.): zu sehen. Die erhobenen Daten sind zum Zeitpunkt der Erhebung eigentlich schon veraltet, arbeiten die Autoren der »Wikipedia« doch stets weiter und vergrößern so den zu untersuchenden Korpus an Artikeln. Auch Aussagen über einzelne Artikel sind nur bedingt sinnvoll, kann doch die nächste Änderung die eben noch kritisierte Passage positiv verändern oder das positiv Vermerkte sichtlich verschlechtern.
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Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch – Konstruktionen historischer Erinnerungen. München 2011, S. 117 – 132. Elisabeth Erdmann: Geschichtsbewusstsein – Geschichtskultur. Ein ungeklärtes Verhältnis. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 35 (2007), S. 186 – 195. Deborah M. Ewards/Linda Hardman: Lost in hyperspace: cognitive mapping and navigation in a hypertext environment. In: Ray McAleese (Hrsg.): Hypertext. Theory into practice. 2. Aufl. Oxford 1999, S. 90 – 105. Etienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1. München 2009. Peter Haber : Zur Quellenkritik von Wikipedia. Ein Forschungsbericht. Beitrag zur Tagung »Wikipedia: Ein kritischer Standpunkt, Leipzig 2010 (online verfügbar unter : http:// www.cpov.de/?page_id=503, aufgerufen am 09. 11. 2013). Peter Haber : Digital past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. München 2011. Peter Haber : Wikipedia. Ein Web 2.0-Projekt, das eine Enzyklopädie sein möchte. In: GWU 63 (2012), H. 5/6, S. 261 – 270. Peter Haber/Jan Hodel: Wikipedia und die Geschichtswissenschaft. Eine Forschungsskizze. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 59 (2009), H. 4, S. 455 – 461. Michael Häder : Empirische Sozialforschung. Eine Einführung. 2. Aufl. Wiesbaden 2010. Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur, Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. 10 Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 3 (2004), S. 198 – 207. Ulrike Haß: Deutsche Wörterbücher. Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. Berlin u. a. 2001. Oliver Karl Josef Huber : Hypertext – eine textlinguistische Untersuchung 1998 (online verfügbar unter : http://www.edoc.ub.uni-muenchen.de/921/1/Huber_Oliver.pdf, aufgerufen am 02. 09. 2011). Udo Kelle: Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte. 1. Aufl. Wiesbaden 2007. Udo Kelle: Empirisch begründete Theoriebildung. Zur Logik und Methodologie interpretativer Sozialforschung. Weinheim 1994. Udo Kelle/Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. 2. Aufl. Wiesbaden 2010. Jakob Krameritsch: Herausforderung Hypertext. Heilserwartungen und Potenziale eines Mediums. In: Zeitenblicke 5 (2006), H. 3, S. 1 – 25. Jakob Krameritsch: Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Münster/New York 2007. Hiram Kümper: Zeitgeschichte und Wikipedia: von der Wissens(ver)schleuder(ung) zum Forschungsfeld. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung / Contemporary History – Media – Historical Education. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 2), S. 283 – 297. Ray McAleese: Hypertext: theory into practice. In: Ders. (Hrsg.): Hypertext. Theory into practice. 2. Aufl. Oxford 1999, S. 90 – 105. Michael Meyer : Abduktion, Induktion – Konfusion. Bemerkungen zur Logik der inter-
Geschichtsschreibung im digitalen Medium
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pretativen Sozialforschung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 12 (2009), H. 2, S. 302 – 320. Boyd W. Rayward: H.G. Wells’s Idea of a World Brain: A Critical Reassessment. In: Journal of the American Society for Information Science 50 (1999), H. 7, S. 557 – 573. Roy Rosenzweig: Can History be Open Source? Wikipedia and the Future of the Past. In: The Journal of American History 93 (2006), H. 1, S. 117 – 146. Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu eine neuen Art über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füssmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1994, S. 3 – 26. Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte. Berlin 2003 (Kulturwissenschaftliche Interventionen, Bd. 2). Anette Selg/Rainer Wieland (Hrsg.): Die Welt der Encyclop¦die. Frankfurt a. M. 2001. Herbert George Wells: The Idea of a World Encyclopedia. In: Harper’s Monthly Magazine (1937), H. 174, S. 472 – 482. Bernd Wingert: Äußerer und innerer Hypertext: Eine notwendige Differenzierung, verdeutlicht am Flusser Hypertext. In: Nachrichten für Dokumentation 44 (1993), H. 1, S. 29 – 36. Uwe Wirth: Zur Medialität enzyklopädischer Verknüpfung. Die Rolle des Hyperlinks im Rahmen hypertextueller Wissensorganisation. In: Waltraud Wiethölter/Frauke Berndt/Stephan Kammer (Hrsg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web. Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg 2005 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft), S. 287 – 303. Dieter E. Zimmer : Die Bibliothek der Zukunft. Text und Schrift in den Zeiten des Internet. Hamburg 2000.
Jonathan Peter
Collaboration und Résistance – der Kampf der Erinnerung im World Wide Web
»Le temps travaille aujourd’hui contre nous, t¦moins encore vivants […]« – so wird Pol Roux,1 Anführer des Maquis de Vabre, auf der Website http:// www.maquisdevabre.free.fr/, zitiert. Dieses Zitat gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass Websites mit geschichtlichem Inhalt als Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses, als neue Dimension des »kulturellen« und »kommunikativen Gedächtnisses«2 verstanden werden können. Der historische Wandel, der in der assmannschen Begrifflichkeit die Phase des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis mit sich bringt, begründet unter anderem die Entscheidung für das Thema meiner Untersuchung: Die abnehmende Zahl der Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges in Frankreich führt zu einer intensiven Auseinandersetzung auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene mit dieser Thematik. Seit Juni 2011 analysiere ich die französischsprachige Internet-Landschaft zu den Themen »R¦sistance und Collaboration im Zweiten Weltkrieg«. Diese Untersuchung besteht aus einer explorativen Studie der Verarbeitung von historischen Erinnerungen.
1.
Sampling und anbieterzentrierte Klassifizierung der erhobenen Websites
Der erste Schritt zur Erfassung erfolgte aus der Nutzerperspektive: Websites im Netz wurden anhand von Suchbegriffen mittels einer Suchmaschine gesammelt. Bei der Auswahl themengerechter Begriffe wurde dabei von allgemeinen Begriffen zu spezifischeren übergegangen: »DeuxiÀme/Seconde Guerre Mondiale«, 1 Pol Roux war jedoch nur ein »Nom de Guerre«. Rouxs richtiger Namen lautete Guy de Rouville. 2 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in früheren Hochkulturen. 7. Aufl. München 2007, S. 48 – 64.
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»R¦sistance«, »Collaboration«, »G¦n¦ral de Gaulle«, »Mar¦chal P¦tain«, »Maquis«. Die Verwendung von verschiedenen Schlüsselwörtern trug während der Erhebungszeit dazu bei, die Ergebnisse einzuschränken. Die erhobenen Websites lassen sich typologisch folgendermaßen ordnen3 : – Hochschulwebsites – Websites von Gedenkstätten und Museen – Websites von pädagogischen Einrichtungen mit normativem Inhalt in Form von kanonisierten Wissensbeständen (Seiten der verschiedenen »Acad¦mies« bzw. der »Circonscriptions administratives«, welche dem französischen Bildungsministerium unterstehen) – Websites, welche aus privaten Initiativen resultieren (»Ego-Websites«). – Websites von Stiftungen und Institutionen – Websites von Vereinen Im Hinblick auf die quantitative Verteilung der Stichproben stellen die privaten Websites ein besonderes Phänomen der populären Geschichtskultur zu den Themen »R¦sistance« und »Collaboration« dar, denn 45 von 92 der erhobenen Websites sind aus privaten Initiativen entstanden. Der Fokus der Untersuchung liegt auf diesem Typus von Websites, welche ich im Folgenden als »Ego-Websites« bezeichnen werde. Daher wird zunächst das Thema »Populärhistorische Geschichtsproduktion« angerissen. Darauf folgt die Darstellung der geschichtsdidaktisch verorteten theoretischen und methodischen Grundlegung dieser Arbeit und die damit verbundene Präzisierung der Forschungsfragen. Schließlich werden erste empirische Ergebnisse vorgestellt.
2.
Akademische Geschichtsschreibung versus Populäre Geschichtsschreibung
Rolf Schörken machte 1981 mit seinem Buch »Geschichte in der Alltagswelt« auf die verschiedenen Erscheinungsformen von Geschichte und insbesondere auf »populärhistorische Produktionen«4 aufmerksam. R. Schörkens Überlegungen 3 Die Erfassung des Samples erfolgt unter der Berücksichtigung bestimmter Kriterien: Es muss sich um Websites handeln, welche primär den Zweiten Weltkrieg zum Thema haben. Dies führt zum Ausschluss von Seiten, die enzyklopädisch vorgehen, und von solchen, auf denen der Zweite Weltkrieg nur ein Themenbereich unter mehreren anderen ist. Kommerzielle Einträge (Ebay, Amazon und sonstige kommerzielle Plattformen) werden nicht berücksichtigt. Außerdem werden digitalisierte Presseartikel zu den untersuchten Themen im Sample nicht aufgenommen, da diese primär als Printmedien und nicht als Websites konzeptioniert sind. 4 Rolf Schörken: Geschichte in der Alltagswelt. Stuttgart 1981, S. 9 – 19.
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beschränken sich nicht nur auf eine bloße Ausdifferenzierung zwischen akademischer Geschichtsschreibung und populären Produktionen, sondern gehen den Beweggründen und Faktoren nach, die zu solchen Produktionen führen. R. Schörken spricht sich somit für eine stärkere Berücksichtigung populärhistorischer Produktionen aus und bezieht ausdrücklich Stellung: »Wir vertreten die Auffassung, dass die Geschichtsliteratur außerhalb der fachwissenschaftlichen Publikationen, also das riesige Feld von Biographien, Romanen, Sachbüchern, Filmen und Fernsehproduktionen zu geschichtlichen Gegenständen, ein Reich eigenen Rechts sei, genauso unmittelbar zur ureigenen Aufgabe der historischen Selbstvergewisserung des Menschen wie die wissenschaftliche Forschung, unterschieden von dieser freilich durch andere Schwerpunktsetzung«.5 Der Fokus meiner Untersuchung folgt R. Schörkens Plädoyer für die Berücksichtigung populärer Geschichtskultur : Einer Analyse unterzogen werden oben genannte »Ego-Seiten«. Zum einen werden die von R. Schörken bereits erkannten Motive für die Beschäftigung mit Geschichte auf einer nicht akademischen Ebene festgestellt; zum anderen sollen die Motive, welche sich in neuen Produktionen im und durch das Medium Internet niederschlagen, untersucht werden. Der Begriff »Ego-Seite« leitet sich von Winfried Schulzes Definition »Ego-Dokument« ab. Ein »Ego-Dokument« ist, laut W. Schulze, eine Quelle, »[…] die uns über die Art und Weise, in der ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, informiert, unabhängig davon, ob es freiwillig – also etwa in einem Brief oder in einem autobiographischen Text – oder durch andere Umstände bedingt geschieht […]«.6 »Ego-Dokumente« im klassischen Sinne werden in den untersuchten Websites mit anderen Dokumententypen kombiniert. Die oft beobachtete rein willkürliche Zusammensetzung von »Ego-Dokumenten« (beziehungsweise Dokumenten mit Hinweisen auf den privaten Bereich der Autoren) mit anderen übernommenen Dokumenten oder eigenen Sinnbildungen beziehungsweise Rekonstruktionen bilden einen Komplex, welcher ebenfalls Informationen und Hinweise über den Autor liefert. Vor diesem Hintergrund wurde der Begriff »Ego-Seite« gewählt.
3.
Forschungsfragen und geschichtsdidaktische Situierung
1. Was sind die Motive und Intentionen der Autoren, welche sie zur Erstellung ihrer Website bewegt haben? 5 Rolf Schörken: Begegnungen mit Geschichte. Stuttgart 1995, S. 11. 6 Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, S. 9.
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2. Wie werden die Inhalte bereitgestellt? a. auf methodologischer Ebene: Wie ist der Quellenwert der angebotenen Inhalte zu bewerten? b. auf technischer Ebene: Welche Potenziale des Mediums Internet werden von den Autoren berücksichtigt? 3. Welche Sinnbildungen entstehen? 4. Lässt sich von einer Popularisierung/»Vulgarisation« von historischem Wissen sprechen? Mit dem Begriff »Vulgarisation« beziehe ich mich auf den französischen Forschungsdiskurs zu diesem Thema, da diese Forschungstradition die Formen von Wissenschaftstransfer stark prägt. Baudouin Jurdant beschreibt »Vulgarisation« als Kommunikationsphänomen und »Vulgarisateurs« als Vermittlungsagenten zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beziehungsweise Alltag,7 versteht darunter aber weit mehr als eine reine Übersetzungstätigkeit. Nun stellt sich aber die Frage, ob Autoren von Internet-Seiten als »Vulgarisateurs« gelten können. Angesichts der explosionsartigen Steigerung der Bereitstellung wissenschaftlicher Inhalte und aufgrund der neuen technologischen Errungenschaften muss die vorhandene Definition von »Vulgarisation« erweitert und Aussagen zum Prozess des Wissenstransfers müssen stark ausdifferenziert werden, um mit den Termini arbeiten zu können. Zum Beispiel gilt es, verschiedene Stufen beziehungsweise Niveaus der »Vulgarisation« in Form einer Skala herauszuarbeiten, wobei die Autoren, welche direkt aus der Forschungsliteratur heraus für die Laien »vulgarisieren«, einen Extrempunkt darstellen, und die Autoren, welche bereits vulgarisierte Inhalte nur weiterleiten, den anderen. Vor dem Hintergrund des Prozessmodells historischen Denkens nach »FUER Geschichtsbewusstsein«8 lässt sich das angerissene Problem wie folgt beschreiben: Durch De- und Rekonstruktionsleistungen entstehen Sinnbildungen, welche durch eine Bereitstellung im öffentlichem Raum (in diesem Fall das Internet) ein geschichtskulturelles Phänomen bilden. In meiner Untersuchung werden die Prozesse analysiert, die von einer Geschichtsbewusstseinsleistung zu einer geschichtskulturellen Leistung führen. Das Modell bietet durch die Ausdifferenzierung der verschiedenen Prozesse des historischen Denkens ein starkes Erklärungspotenzial. Die inneren Spezifika des Phänomens, nämlich die konstanten Aktualisierungs- und Erweiterungsmöglichkeiten der Inhalte durch 7 Baudouin Jurdant: Les problÀmes th¦oriques de la vulgarisation scientifique. Paris 1973, S. 23. 8 Vgl. Wolfgang Hasberg/Andreas Körber: Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Andreas Körber (Hrsg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag. Schwalbach/Ts. 2003 (Forum historisches Lernen), S. 179 – 202.
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die Autoren, entsprechen dem »spiralförmigen«,9 prozessualen Charakter der »Lebensorientierung durch historisches Denken«:10 Durch Aktualisierungen, also Bereitstellung neuer Inhalte oder Änderungen bestehender Inhalte, wird stets auf Vorhandenes aufgebaut.
Abb.: Geschichtsbewusstsein dynamisch. Das Prozessmodell historischen Denkens/historischer Orientierung; nach Hasberg/Körber (Anm. 8), hier S. 187.
Unter Berücksichtigung des Prozessmodells historischen Denkens kann nun eine Präzisierung der Fragestellungen, die dieser Untersuchung zugrundeliegen, erfolgen: – Inwiefern lassen sich bei den Autoren »Verunsicherungen« erkennen, und wie sehen diese aus? – Welche Schritte des Modells (implizit oder explizit) werden (erfolgreich/nicht erfolgreich) berücksichtigt? – Sind »Niveau-Sprünge« zu beobachten (d. h. erfolgt das Denken in diesen Etappen)? – Was ist kennzeichnend für die entstandenen Sinnbildungen? In welcher Art und Weise entstehen die Sinnbildungen? Handelt es sich um »Erkenntnisse fremder oder Aufbau eigener Vorstellungen von und Einstellungen zur Vergangenheit«?11
9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd.
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Über die Analyse der eigenen Sinnbildungen und der übernommenen Inhalte und deren Kontextualisierungen hinaus werden die Motive – also die »Verunsicherungen« und die daraus resultierenden Orientierungsprobleme – erschlossen. Der Untersuchungsvorgang besteht darin, Inhalte (Sinnbildungen, reine Übernahme vorhandener Sinnbildungen und deren neue Kontextualisierungen) zu dekonstruieren. Einerseits werden die Prozesse und Faktoren des historischen Denkens untersucht und andererseits die Art und Weise der Umsetzung in ein bestimmtes Geschichtsbild analysiert. Die Begrifflichkeit von Jörn Rüsen in Bezug auf die Dimensionen, Funktionen und Bedeutungen der Historik bietet weitere Differenzierungsmöglichkeiten des »FUER-Prozessmodells des historischen Denkens«. J. Rüsen unterscheidet verschiedene Funktionen der Historik für den historischen Erkenntnisprozess, die als typischer Aufgabenbereich dieser Disziplin zum Professionalisierungsprozess beitragen.12 Dank dieser Begrifflichkeit lässt sich folgender Beobachtungs- und Analyseschwerpunkt festlegen: – »Motivationsfunktion«13 und Umgang mit dem »Objektivierungszwang«:14 Nehmen Autoren ihre eigene Subjektivität wahr, und wie thematisieren sie diese? – »Organisationsfunktion«:15 Wie verfahren Autoren mit den »Stoffmassen«16 und der Fülle des historischen Wissens«?17 – »Selektions- und Begründungsfunktion«:18 Welche Dokumente werden aus welchen Gründen ausgewählt? – »Vermittlungsfunktion«:19 Wie sehen die Autoren ihre Beiträge im Gefüge der anderen Angebote zum gleichen Thema? In welchem Umfang wird über die Reichweite der angebotenen Inhalte reflektiert?
4.
Geschichtskulturelle Dimensionen der Untersuchung
Die Generierung von Sinnbildungen entsteht laut J. Rüsen durch Anregung des Geschichtsbewusstseins, also durch Bilder und Symbole. Das Geschichts12 Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 (Grundzüge einer Historik, Bd. 1), S. 33 – 38. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd.
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bewusstsein erbringt somit eine Orientierungsleistung, welche die Bildung historischer Identität fördert und darüber hinaus eine Richtung für die Lebenspraxis weist. Auf dieser Basis unterscheidet J. Rüsen drei Dimensionen der Geschichtskultur : die ästhetische, die politische und die kognitive Dimension.20 Selbstverständlich handelt es sich hier um idealtypische Dimensionen. Vor dem Hintergrund der Dimensionen der Geschichtskultur nach J. Rüsen und deren Erweiterungen durch B. Schönemann stellt sich jedoch im Rahmen der Studie folgende Frage: Wie lassen sich die Ergebnisse aus der Erhebung diesen Dimensionen der Geschichtskultur zuordnen, und welche Tendenzen zeichnen sich in Bezug auf die angebotenen Sinnbildungen und auf die damit verbundenen Motive der Autoren ab? Lässt sich eine »Instrumentalisierung«21 einer der Dimensionen erkennen? Das rein anthropologische Fundament von J. Rüsens Modell der Geschichtskultur macht es schwer operationalisierbar. Auf der Basis der sozialen Rekonstruktion von Vergangenheit entwickelt B. Schönemann dieses Modell weiter und bietet damit zusätzliche Dimensionen an, die für die Analyse, »[…] wie Gesellschaften es fertigbringen sich zu erinnern […]«,22 behilflich sind. Durch die kommerzielle Dimension ragen zwei Elemente des sozialen Systems hervor, welche von zentraler Bedeutung für die Untersuchung sind: Die Medien und die Adressaten.23 B. Schönemann weist darauf hin, dass kulturelle Kommunikation nicht per se erfolge, sondern dass sie intentional und adressatenspezifisch sei.24 Die Ergebnisse aus der Untersuchung ermöglichen also die Beantwortung folgender Fragen: Welche Dimensionen stehen im Verhältnis zu anderen im Vordergrund? Sind die vermittelten Inhalte in einer institutionellen, professionellen, politischen oder kommerziellen Hinsicht angeboten? Sind die Autoren von einem Bildungsauftrag bewegt, oder handelt es sich um eine reine Unterhaltungslogik?
20 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1994, S. 3 – 26, hier S. 11 – 15. 21 Ebd., S. 18. 22 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. In: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 11), S. 26 – 58, hier S. 46. 23 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 11 – 22, hier S. 18. 24 Ebd., S. 19.
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5.
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Erste Ergebnisse
Hier soll nicht versucht werden, die oben genannten Grundfragen hinsichtlich der Dimensionen der Geschichtskultur mit den ersten Ergebnissen zu beantworten, denn dies könnte im aktuellen Stadium der Empirie zu voreiligen Schlüssen führen. Stattdessen werden hier die aus einem ersten Codierungsverfahren entstandenen Kategorien und Merkmale vorgestellt, da diese deutliche Tendenzen im Hinblick auf Motive, Vorgehensweisen und die daraus resultierenden Sinnbildungen zeigen. Auf der Basis der bereits erwähnten theoretischen Hintergründe beziehungsweise der heuristischen Konzepte lassen sich aufgrund der Analyse von 15 Internet-Seiten verschiedene Kategorien, Unterkategorien und Merkmale aus dem Datenmaterial herausarbeiten. Die ersten 15 Seiten haben gezeigt, dass die Inhalte überwiegend linear beziehungsweise »monosequenziert«25 aufgebaut sind und dass die hypertextuellen Möglichkeiten nicht oder nur sehr eingeschränkt wahrgenommen werden. Es lässt sich beobachten, dass die Autoren mit Schwierigkeiten historiografischer Ordnung konfrontiert sind: Die Organisation der Inhalte ist meistens konfus. Die Autoren haben Schwierigkeiten, sich für eine thematische, geografische oder chronologische Organisation der Inhalte zu entscheiden. Diese beiden Beobachtungen, nämlich die lineare Struktur der Seiten und die unpräzise Organisation der Inhalte, weisen darauf hin, dass das Potenzial des hypertextuellen Werkzeugs entweder nicht bekannt ist oder nicht wahrgenommen wird. Der Hypertext würde es ermöglichen, diese Schwierigkeiten partiell zu umgehen und bietet vor allem die Möglichkeit, eine neue Art historischer Narration zu gestalten. Diese Möglichkeit wird aber nicht in Anspruch genommen. Die Kategorie »Zeit« berücksichtigt das Alter der Seite und das Aktualisierungsverhalten der Autoren. Diese Elemente geben Hinweise auf die Kontinuität und damit auf das Engagement der Autoren, aber auch auf die Erfahrung mit dem Medium. Beispielsweise besteht die Seite »secondeguerre.net« seit 2002 und wird regelmäßig aktualisiert. In Anbetracht der Tatsache, dass der Altersdurchschnitt einer Internet-Seite zwischen drei und 48 Monaten liegt,26 lässt sich im vorliegenden Fall von einem »Internet Grand-Cru« sprechen. 25 Peter Haber : Digital Past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. München 2011, S. 118; vgl. auch: Jakob Krameritsch/Martin Gasteiner: Schreiben für das WWW: Bloggen und Hypertexten. In: Wolfgang Schmale (Hrsg.): Schreibguide Geschichte. Schritt für Schritt wissenschaftliches schreiben lernen. Wien 2006, S. 243 – 271, hier S. 247. 26 Mike Ashenfelder: The average lifespan of a webpage. Vgl. http://blogs.loc.gov/digitalpreservation/2011/11/the-average-lifespan-of-a-webpage/ (aufgerufen am 25. 02. 2012).
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Spannend wird es, wenn man verschiedene Narrationen unter die Lupe nimmt. Untersucht man die Geschichte der Historiographie und der populären Darstellungen zu Vichy,27 lassen sich folgende Narrationen typologisieren: – »La France r¦sistante«, also ein positives Bild Frankreichs. Hierfür bringt Henry Rousso den Begriff »R¦sistancialisme« hervor, wonach es – bewusst überspitzt formuliert – nur Widerstandskämpfer und Opfer der Diktatur gibt. – Ein manichäisches Bild Frankreichs in diesen Jahren, d. h. »die Widerstandskämpfer gegen die Kollaborateure« (beinhaltet eine Minimierung der Verantwortung Vichy). – Und schließlich das, was dem aktuellen Stand der Forschung entspricht, nämlich Widerstand, Kollaboration und dazwischen ein erheblicher Anteil von »Attentistes«. Die bisher gesichteten Inhalte lassen sich in den allermeisten Fällen dieser Typologie zuordnen. Die Beobachtungen, die unter die Kategorie »Herangehensweise« fallen, betreffen die Schwerpunkte »Autorschaft«, »Quellen« und »Motive«. Geben sich die Autoren als Autoren an, geben sie Informationen über sich oder bleiben Sie anonym? Mit welchen Dokumenten wird gearbeitet? Hier werden auch Hinweise dafür gesammelt, ob eher de- oder rekonstruiert wird, ob es sich eher um die »Erkenntnis fremder Vorstellungen«28 oder um den »Aufbau eigener Vorstellungen« handelt. Die Beobachtungen in den Kategorien »Vorgehensweise« und »Inhalte« ermöglichen es, einen neuen Typus innerhalb der Kategorie der »Ego-Seiten« zu erkennen: Im aktuellen Stadium der Untersuchung beschäftigen sich zehn Seiten mit dem Familiengedächtnis. Interessant ist dabei vor allem die Vorgehensweise der Autoren dieses neuen Typus: Die »Quelle« beziehungsweise das Rohmaterial, welches für die Entwicklung der Narration verwendet wurde, besteht in allen bis dato analysierten Seiten aus Zeitzeugenberichten. Diese werden entweder unverändert übernommen oder vom Familienangehörigen nachbearbeitet und in der Ich-Form geschrieben. Als Beispiel dafür kann aus dem Corpus folgende Seite, welche im Jahr 1993 entstand, herangezogen werden. Der Autor stellt den Inhalt der Seite wie folgt vor: 27 Zum Thema »Geschichte der Historiographie von Vichy«, vgl. Henry Rousso: Vichy. L’¦v¦nement, la m¦moire, l’histoire. Paris 1992. Zum Thema »Historiographie der populären Darstellungen zu Vichy« und zum Begriff »Resistancialisme«, vgl. Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 nos jours. Paris 1990. 28 Vgl. Wolfgang Hasberg/Andreas Körber : Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Andreas Körber (Hrsg.): Geschichte– Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag. Schwalbach/Ts. 2003 (Forum historisches Lernen), S. 179 – 202.
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»Le 28 aot 1977, j’ai enregistr¦ un long entretien avec mon pÀre sur ,sa‹ Seconde Guerre Mondiale. Je n’avais jamais pris le temps de d¦crypter la cassette et d’en retranscrire le contenu. Voil chose faite! […] Plutút que pr¦senter ce t¦moignage avec les questions qui cassent le rythme du r¦cit et cr¦ent une distance avec le lecteur, j’ai pr¦f¦r¦ le proposer d’une maniÀre lin¦aire, la premiÀre personne du singulier et au pr¦sent.«29
Die Vorgehensweise und Autorenaussagen über die Entstehung der Narration geben Hinweise auf Motive der Autoren. In dem eben erwähnten Beispiel ist klar zu erkennen, dass der Autor adressatenorientiert arbeitet. Es ist ihm wichtig, dass er rezipiert wird, damit das Gedächtnis seines Vaters nicht in Vergessenheit gerät. Die Tatsache, dass der Bericht schon 1977 aufgenommen wurde und erst 1993 transkribiert wurde, und vor allem, dass die Seite bis heute erhalten und gepflegt wird, ist symptomatisch für einen Übergang von einer kommunikativen Gedächtnisleistung zu einer kulturellen Gedächtnisleistung. Um aus Untersuchungen Rückschlüsse auf mögliche Motive zu ziehen, soll dies am Beispiel der Seite »La Deuxieme Guerre Mondiale en ModÀles R¦duits« veranschaulicht werden. Der Name ist Programm: Es geht hier um Produktion und Präsentation von Modellbau im konzeptuellen Zusammenhang von militärischen Operationen im Zweiten Weltkrieg. Die Autoren stellen eigene Modellbauten, wie zum Beispiel die »Chenillette Lorraine« dar. Dieses Fahrzeug wird mit einem Bild aus dem Archiv (leider ohne Quellenangaben) eingeführt. Es folgt eine technische Beschreibung des Fahrzeuges und eine historische Darstellung der Einsätze der Chenillette und letztendlich eine Fotografie des hergestellten Modells.30 Diese Seite bietet viel mehr als nur Modellbauteile an. Zum Beispiel ist die Rubrik »Je me souviens« dem »Devoir de m¦moire«, also der Erinnerungsarbeit gewidmet.31 Die Autoren leisten bewusst Gedächtnisarbeit und stellen ihre Modellarbeit in den Dienst eines erinnerungskulturellen Auftrages. In der Rubrik »Les protagonistes« kann man in einem ersten Einführungstext Folgendes lesen:«Dans ce chapitre, nous retrouverons les principaux protagonistes qui provoquÀrent ou dirigÀrent cette guerre.«32 (An anderer Stelle im selben Einführungstext ist auch die Rede von der »Karriere dieser Herren«33). In einem zweiten Einführungstext zu dieser Rubrik lässt sich Folgendes 29 »Souvenirs de Guerre de Albert Pognant, Avant-propos«, vgl. http://ppognant.online.fr/ cadalb02.html (aufgerufen am 15. 08. 2012). 30 Jean Pierre Chaput: »La Deuxieme Guerre Mondiale en ModÀles R¦duits«, vgl. http:// www.2iemeguerre.com/blindes/indexfrance.htm (aufgerufen am 10. 09. 2012). 31 Ebd., »Je me souviens«, vgl. http://www.2iemeguerre.com/jemesouviens/intro.htm (aufgerufen am 10. 09. 2012). 32 Ebd., »Les Protagonistes«, vgl. http://www.2iemeguerre.com/protagonistes/intro.htm (aufgerufen am 10. 09. 2012). 33 Ebd. (aufgerufen am 10. 09. 2012).
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nachlesen:«Il s’agit aussi de d¦montrer dans ce chapitre que ces hommes avaient entre leurs mains la vie de millions de gens autant civils que militaires et que par leurs d¦cisions et leurs agissements ils furent les seuls et uniques responsables de ce conflit ¦tant les d¦cideurs.«34 Der Autor vermittelt eine personalisierte Version der Ereignisse. Die Geschichte des Konfliktes ist auf ein paar wichtige Akteure reduziert. Es werden die Taten »großer Männer der Geschichte« erzählt. Die erste Einführung schließt damit: »Place l’histoire sans parti pris, simplement des faits!«35 Weitere Positionierungen zu den Handlungen aufseiten der vorgestellten Protagonisten können noch hervorgehoben werben: »Tous croyaient d¦fendre le bon droit mÞme dans leurs atrocit¦s les pires qu’on peut imaginer. […] Nous ne rapportons que les faits.«36 Hier versucht der Autor den von J. Rüsen erwähnten »Objektivierungszwang«37 zu lösen. Der Wunsch der Autoren, unparteiisch zu sein, wird hier von einer »philanthropischen Naivität« verraten. Da der Autor aufgrund der Konfrontation mit Geschichte mit der eigenen Subjektivität konfrontiert wird, weicht er dieser aus, indem er auf folgendes Bild verweist: »Wir fällen keine Urteile, errare humanum est, wir berichten nur«. Als Motiv in diesen Zeilen ist ein Bildungsauftrag herauszulesen. In der Originalsprache Französisch durch die Verwendung des Verbs »d¦montrer« ist das weitaus offensichtlicher (» […] il s’agit aussi de d¦montrer […]«38), was in deutscher Sprache mit dem Verb »aufzuzeigen« übersetzt werden kann: »Es geht darum, aufzuzeigen, dass diese Menschen, Millionen von Leben, sowohl Soldaten als auch Zivilisten, in Ihren Händen hatten.«
6.
Fazit
Durch die Analyse von 15 Websites wurde ein neuer Typus von »Ego-Seite« erkannt, nämlich »Familiengeschichten-Websites«. Die bisherige Untersuchung dieses geschichtskulturellen Phänomens hat gezeigt, dass innerhalb dieses ersten Typus methodisch ähnlich vorgegangen wird. Man kann anhand der gesammelten Daten Hinweise zu Motiven und den damit in Wechselbeziehung stehenden Sinnbildungen erkennen. Die erwähnten Beispiele haben gezeigt, dass Autoren von einem Bildungsauftrag bewegt sein können und/oder sich in einem Prozess der Identitätskonstruktion befinden, worin die Familienge34 35 36 37
»la carriÀre de ces messieurs.«, Ebd. (aufgerufen am 10. 09. 2012) Ebd. (aufgerufen am 10. 09. 2012). Ebd. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 (Grundzüge einer Historik, Bd. 1), S. 33. 38 Jean Pierre Chaput: »La Deuxieme Guerre Mondiale en ModÀles R¦duits. Les Protagonistes«, vgl. http://www.2iemeguerre.com/protagonistes/intro.htm (aufgerufen am 10. 09. 2012).
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schichte rekonstruiert und weiter tradiert wird. Autoren fühlen sich fast in allen Fällen von einer Erinnerungspflicht motiviert, anders formuliert: Sie fühlen sich beauftragt, eine gesellschaftliche oder individuelle Gedächtnisleistung zu erbringen.
Literatur Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in früheren Hochkulturen. München 2007. Peter Haber : Digital Past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. München 2011. Wolfgang Hasberg/Andreas Körber : Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Andreas Körber (Hrsg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag. Schwalbach/Ts. 2003 (Forum historisches Lernen), S. 179 – 202. Baudouin Jurdant: Les problÀmes th¦oriques de la vulgarisation scientifique. Paris 1973. Udo Kelle/Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. Wiesbaden 2010. Jakob Krameritsch/Martin Gasteiner : Schreiben für das WWW: Bloggen und Hypertexten. In: Wolfgang Schmale (Hrsg.): Schreibguide Geschichte. Schritt für Schritt wissenschaftliches schreiben lernen. Wien 2006, S. 243 – 271. Henry Rousso: Vichy. L’¦v¦nement, la m¦moire, l’histoire. Paris 1992. Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 nos jours. Paris 1990. Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1994, S. 3 – 26. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 (Grundzüge einer Historik, Bd. 1). Wolfgang Schmale (Hrsg.): Schreibguide Geschichte. Schritt für Schritt wissenschaftliches schreiben lernen. Wien 2006. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 11 – 22. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. In: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 11), S. 26 – 58. Rolf Schörken: Begegnungen mit Geschichte. Stuttgart 1995. Rolf Schörken: Geschichte in der Alltagswelt. Stuttgart 1981. Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996.
Christoph Pallaske
»Bei der Arbeit musste man viel selber denken.« – Individuelles Geschichtslernen mit digitalen Medien
Zwei in den vergangenen Jahren viel diskutierte Schwerpunkte allgemeindidaktischer Diskussionen um die Weiterentwicklung von Schule und Unterricht – erstens: »Individuelles Lernen«, sowie zweitens: »Lernen mit digitalen Medien«, – sind Reaktionen auf sich wandelnde gesellschaftliche und bildungspolitische Rahmenbedingungen. Zum einen galten verstärkte individuelle Förderung und Differenzierung nach Veröffentlichung der PISA-Studie von 2001 als möglicher Weg zur Verbesserung von Lernergebnissen und -erfolgen. Auch hat der Ausbau von Ganztagsschulen in den letzten Jahren vorgeführt, dass lehrerzentrierter Unterricht bei bis zu acht verschiedenen Unterrichtsstunden und -fächern pro Schultag an Grenzen stößt. Zum anderen sind der digitale Wandel und besonders das Internet als Informations- und Kommunikationsmedium dabei, die Alltagswelt (auch und gerade) von Jugendlichen und damit die Bedingungen schulischen Lernens nachhaltig zu verändern. Beide Diskussionen dauern bereits einige Jahre an, dennoch spielen Individuelles Lernen und Lernen mit digitalen Medien in der Breite der Unterrichtspraxis bis heute eine nur geringe Rolle. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind angesichts der öffentlich und oft kontrovers diskutierten Erwartungen verunsichert. Der Veränderungsprozess erweist sich auch deshalb als schwierig, weil entsprechende Unterrichtskonzepte nicht einfach »von oben« verordnet werden können. Die Übersetzungsarbeit, wie sich Individuelles Lernen und Lernen mit digitalen Medien in den Unterrichtsfächern sinnhaft umsetzen lassen, ist in erster Linie Aufgabe der Fachdidaktiken. Sie müssen Konzepte entwickeln, sie in Zusammenhang zu jeweiligen fachspezifischen Grundlagen stellen und Potenziale theoretisch reflektieren, pragmatisch konkretisieren und empirisch überprüfen. Immer dann aber, wenn Ansprüche von außen an Fachdidaktiker gestellt werden, gibt es spürbare Vorbehalte. Als fremdbestimmt wahrgenommene Forschungsfelder zu beackern, heißt immer auch, über Zäune zu schauen und gelegentlich den eigenen Grund zu verlassen. Letztlich profitieren aber nicht nur Schulen und andere Bildungsträger, sondern auch die Fachdidaktiken selbst, die ihre wissenschaftsdisziplinäre Matrix immer wieder auf ihre Evidenz hin
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Christoph Pallaske
überprüfen müssen und dabei – auf lange Sicht – einen für alle Wissenschaften notwendigen Transformationsprozess durchlaufen, sich weiter ausdifferenzieren und interdisziplinär vernetzen. Das historische Lernen und zentrale Kategorien der Geschichtsdidaktik weisen Schnittmengen und Potenziale zu den oben skizzierten Herausforderungen und Ansprüchen Individuellen Lernens und Lernens mit digitalen Medien auf, die in diesem Beitrag diskutiert und in Beziehung gesetzt werden sollen. Anschließend werden das Projekt »segu – selbstgesteuert-entwickelnder Geschichtsunterricht« als pragmatischer Umsetzungsversuch und – als Ausblick – Vorüberlegungen für das Forschungsdesign einer empirischen Untersuchung individuellen Geschichtslernens mit digitalen Medien vorgestellt.1
1.
Individuelles Geschichtslernen
Der Ruf nach mehr individueller Förderung und Differenzierung war neben der Diskussion um Kompetenzen einer der Schwerpunkte der Nach-PISA-Debatte. Die verbreitete Unterrichtsform des lehrerzentrierten Unterrichts wurde vielfach kritisiert, und es galt als normativ gesetzt, dass offene Unterrichtsformen zu einer Verbesserung von Lernergebnissen führen. Augenfälliges Beispiel hierfür war die Umformulierung des ersten Paragrafen, »Recht auf Bildung, Erziehung und individuelle Förderung«, im Schulgesetz von NRW im Jahr 2006.2 Eine solche Festlegung ist nicht unproblematisch, weil die Wirksamkeit offener und auf individuelles Lernen zielender Unterrichtsformen bis heute als nicht hinreichend empirisch erforscht gilt.3 Bisherige Ergebnisse (vor allem zu MINT1 »Bei der Arbeit musste man viel selber denken.« – so äußerte sich die Schülerin einer 8. Klasse in einer schriftlichen Evaluation im Rahmen einer empirischen Stichprobe der Arbeit von Schülerinnen und Schülern mit den »segu«-Lernmaterialien (sieh Punkt 4. Ausblick: Empirische Studie zum individuellen Geschichtslernen mit digitalen Medien). 2 Der Paragraf wurde ein Jahr nach Veröffentlichung des neuen Schulgesetzes nachträglich um die Formulierung »und individuelle Förderung« ergänzt; sieh »Zweites Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen«. In: GV NRW, Nr. 16, vom 07. Juli 2006, S. 277. 3 Insgesamt bilanzieren Thorsten Bohl und Diemut Kucharz in ihrer Meta-Studie über »Offenen Unterricht« von 2010: »Die Erforschung von offenem Unterricht ist aufgrund der großen Unterschiede in der Konzeption und Begrifflichkeit sowie der Komplexität des Geschehens bisher nur ansatzweise möglich«; vgl. Thorsten Bohl/Diemut Kucharz: Offener Unterricht heute. Konzeptionelle und didaktische Weiterentwicklung. Weinheim/ Basel 2010, S. 82. Vgl. zum Forschungsstand und zur bereits viele Jahrzehnte dauernden Entwicklung offener Lernformen außerdem: Paul Josef Resinger : Schüler in den Mittelpunkt. Sicherheit in offenen Unterrichtsformen praktisch erwerben. Marburg 2008, S. 31 – 36; Michael Bannach: Selbstbestimmtes Lernen. Freie Arbeit an selbst gewählten Themen. Hohengehren 2002, S. 115 – 147; Falko Peschel: Offener Unterricht. Idee – Realität – Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion, Bd. 1. Baltmannsweiler 2009, S. 91 – 192.
Individuelles Geschichtslernen mit digitalen Medien
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Fächern) kommen zu dem Schluss, dass einerseits der kognitive Lernzuwachs in offenen Unterrichtsformen eher niedriger ausfällt, genauer : dass leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler dieselben Lernerfolge erzielen, leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler aber schlechter abschneiden und somit im »Offenen Unterricht« benachteiligt werden. Andererseits ließ sich nachweisen, dass offene Unterrichtsformen Schülerinnen und Schüler besser motivieren können. Der Erfolg offener Lernformen hängt zudem stark vom Grad der Strukturiertheit der Lernkonzepte ab. In jüngster Zeit rückt die bildungspolitische und allgemeindidaktische Diskussion tendenziell wieder von den Forderungen nach mehr individueller Förderung und Differenzierung ab.4 Eine besondere Affinität historischen Lernens zu individuellen und auf Differenzierung zielenden Lernformen liegt deshalb nahe, weil sich die Ausbildung von Geschichtsbewusstsein – soweit besteht weitgehend Konsens innerhalb der Geschichtsdidaktik – aufgrund verschiedener Lebensbezüge, Vorprägungen und unterschiedlicher Orientierungsbedürfnisse jeweils individuell vollzieht. Die Geschichtsdidaktik hat in den vergangenen Jahren zunehmend nicht mehr nur Zielmarken und Festlegungen, was ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein ausmacht, sondern auch vermehrt operationale und prozessuale Faktoren historischen Denkens und der Ausbildung von Geschichtsbewusstsein in den Blick genommen. Dafür wurden verschiedene Kompetenz-Modelle vorgeschlagen, mittels derer solche Lernprozesse darstellbar und operationalisierbar gemacht werden sollen.5 In der Geschichtsdidaktik gibt es bislang nur relativ wenige Ansätze, Projekte und Publikationen (mit einem Schwerpunkt in Österreich und der Schweiz), die sich explizit mit Individuellem Lernen oder Aspekten »Offenen Unterrichts« beschäftigen.6 Eine Ausnahme stellt die Projektarbeit dar, die bereits seit den 4 Die derzeitige Rezeption der Studie »Visible Learning« von John Hattie verdeutlicht beispielhaft die verstärkte Orientierung hin zu Aspekten der Lehrerrolle und des lehrerzentrierten Unterrichts; vgl. Martin Spiewak: Hattie-Studie: Ich bin superwichtig! In: »Die Zeit« Nr. 2 vom 3. Januar 2013, S. 55 f. 5 Die Konkurrenz der Kompetenz-Modelle aber – so wurde auch in den Diskussionen während der KGD-Nachwuchstagung in Ludwigsburg 2012 betont – sorgt eher für Irritationen. Unter anderem deshalb wird der Kompetenz-Begriff inzwischen zunehmend infrage gestellt. Einen Überblick zu den Kompetenz-Modellen geben: Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. PD Göttingen 2009. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 63 – 73; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 207 – 246. 6 Eine umfassende Darstellung oder empirische Untersuchung zu »Individuellem Geschichtslernen« und »Offenem Geschichtsunterricht« steht noch aus. Wichtige Veröffentlichungen, die den Schwerpunkt auf konkrete Umsetzungen Individuellen Lernens im Geschichtsunterricht legen, sind: Christoph Kühberger/Elfriede Windischbauer : Individualisierung und Differenzierung im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012; Elfriede Windischbauer : Offene Lernformen im Geschichtsunterricht. In: GWU 37 (2006), H. 11, S. 628 – 649, Dies.:
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Christoph Pallaske
1980er-Jahren als Methode des Geschichtslernens etabliert ist. Dabei wird häufig der emanzipatorische Anspruch von Projektarbeit und damit eine besondere Affinität zur historisch-politischen Bildung und zum Unterrichtsfach Geschichte betont.7 Insgesamt aber markieren sowohl theoretische als auch konzeptionelle Überlegungen zu individuellem Geschichtslernen sowie empirische Unterrichtsforschungen hierzu ein Forschungsdesiderat.
2.
Geschichtslernen mit digitalen Medien
Die meisten Jugendlichen sind heutzutage – zu Hause wie unterwegs – mit digitalen Geräten ausgestattet; seien es PCs, Notebooks, Tablets oder Smartphones. Das Internet als virtueller Informations- und Kommunikationsraum ist längst zum Leitmedium der heutigen Schülergeneration aufgestiegen. Vor den meisten Klassenzimmern hingegen hat der digitale Wandel bislang Halt gemacht. An hiesigen Schulen sind die im internationalen Vergleich geringe oder veraltete Ausstattung mit digitalen Geräten und deren seltene Nutzung besonders auffällig.8 Zudem mangelt es oft an geeigneten Lehr-Lern-Konzepten. Bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als sich das Internet als Massenmedium etablierte und multimediale und hypertext-strukturierte Lernangebote als CD-Rom-Formate aufkamen, wurden die Grenzen des Lernens mit digitalen Medien offensichtlich. Erwartungen, dass Schülerinnen und Schüler sich die neuen Lernangebote aus eigenem Interesse erschließen oder dass beim Lernen Planarbeit. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 103 – 106; zum Aspekt der Differenzierung im Geschichtsunterricht: Peter Adamski: Auf vielen Wegen ins Land der Pharaonen. Innere Differenzierung im Geschichtsunterricht. In: Geschichte Lernen 130 (2009), S. 2 – 13; Franziska Conrad: Diagnostizieren im Geschichtsunterricht. In: Geschichte Lernen 116 (2007), S. 2 – 11; Peter Gautschi: Lernumgebungen zur Ausdifferenzierung des Geschichtsbewusstseins. In: Bernd Schönemann, Hartmut Voit (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen. Idstein 2002, S. 66 – 83. Wichtige Hinweise gibt zudem die Studie von Bärbel Völkel: Wie kann man Geschichte lehren? Die Bedeutung des Konstruktivismus für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2002. In der einschlägigen Handbuchliteratur zur Geschichtsdidaktik und zum Geschichtsunterricht findet das Thema »Individuelles Lernen und Differenzierung« insgesamt nur wenig Berücksichtigung. 7 Vgl. Peter Adamski: Historisches Lernen in Projekten. In: Geschichte Lernen 110 (2006), S. 2 – 9; Bodo von Borries: Historische Projektarbeit. »Größenwahn« oder »Königsweg«. In: Lothar Dittmar/Detlef Siegfried (Hrsg.): Spurensucher. Ein Praxisbuch für historische Projektarbeit. Hamburg 2005, S. 333 – 350. 8 Laut OECD belegt Deutschland bei der digitalen Ausstattung der Schulen einen der hintersten Plätze; vgl. Bardo Herzig/Silke Grafe: Digitale Lernwelten und Schule. In: Kai-Uwe Hugger/ Markus Walber (Hrsg.): Digitale Lernwelten. Konzepte, Beispiele und Perspektiven. Wiesbaden 2010, S. 115 – 127, hier S. 116.
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im Internet von selbst informelle Lernprozesse ausgelöst würden, blieben meist unerfüllt. Verschiedene, oft aufwendig erstellte multimediale CD-Roms zum Geschichtslernen kamen im Geschichtsunterricht nur selten zum Einsatz.9 Seit Ende des vergangenen Jahrzehnts hat die Diskussion zum Lernen mit digitalen Medien wieder stark an Fahrt gewonnen. Immer kürzere Zyklen grundlegender technologischer Innovationen – ablesbar zuletzt an der rasanten Verbreitung von Tablets und Smartphones – führen zu einer beschleunigten Dynamik des digitalen Wandels. Auch die Aktivitäten im Internet haben stark zugenommen; das Web 2.0 ermöglicht durch »Social Media« oder einschlägige »Blogs« neue Formen eines direkten und beschleunigten Austausches zwischen netzaffinen Praktikern (insbesondere Lehrerinnen und Lehrern) und Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Angesichts der schnelllebigen Diskussionen über das digitale Lernen ist es dabei gelegentlich schwierig, richtungsweisende Entwicklungen von digitalen »Eintagsfliegen« zu unterscheiden. Es gibt eine Fülle von Ideen, die – da vorrangig von Netz-Akteuren diskutiert – selbstreferenziell als digital »gelabelt«und für gut befunden, aber nicht immer hinreichend didaktisch reflektiert und erprobt werden. Im Bereich der historisch-politischen Bildung und speziell auch des digitalen Geschichtslernens wird dieser Austausch vergleichsweise intensiv geführt.10 Zudem haben seit 2007
9 Das schulische Geschichtslernen mit digitalen Medien wird in der Handbuchliteratur zum Geschichtsunterricht und zur Geschichtsdidaktik mit Verweis auf die großen, aber unerfüllten Erwartungen Ende der 1990er-Jahre oft skeptisch beurteilt. Michael Sauer diskutiert in der neuesten Auflage des Handbuchs »Geschichte unterrichten« von 2012 Nutzen und Nachteil des Internets und von CD-Roms (die als digitales Medium inzwischen allerdings kaum mehr Verwendung finden) für das historische Lernen und kommt betreffs des Unterrichtseinsatzes zu einem negativen Fazit; vgl. Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und ihre Methodik. 10. Aufl. Seelze-Velber 2012, S. 277 – 280. Hilke Günther-Arndt zeigt sich im »Handbuch der Geschichtsdidaktik« in der Auflage von 2009 dem Computereinsatz gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen, formuliert zugleich eine Reihe von Einwänden; vgl. Hilke Günther-Arndt: Computer und Geschichtsunterricht. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 4. Aufl. Berlin 2009, S. 219 – 232. Der im vergangenen Jahr erschienene Beitrag im »Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts« von Waldemar Grosch: Der Einsatz digitaler Medien in historischen Lernprozessen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 125 – 145, gibt sich aufgeschlossen, lässt aber wichtige neue Aspekte der in den letzten Jahren diskutierten Möglichkeiten digitalen Geschichtslernens unberücksichtigt. 10 Einen ersten Überblick der verschiedenen Aktivitäten und aktuellen Diskussionen zum Stand von 2013 gibt das Blog: »dgl_seminar. Digitales Geschichtslernen« (online verfügbar unter : http://www.dgl.hypotheses.org), das Beiträge von Studierenden in parallelen, von Alexander König und Christoph Pallaske durchgeführten Seminarveranstaltungen an der Universität des Saarlandes und der Universität zu Köln dokumentiert, u. a. auch Angebote zum kooperativen und kollaborativen Lernen (beispielsweise »Wikis«, »Blogs« oder »Etherpads«) sowie die aktuell im Internet verfügbaren Lernangebote und -plattformen.
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Christoph Pallaske
eine Reihe geschichtsdidaktischer Tagungen zum Thema stattgefunden.11 Einige theoretische Aspekte zu Auswirkungen des digitalen Wandels auf das historische Lernen wurden inzwischen eingehend diskutiert, beispielsweise hypertextstrukturelle Narrative und situatives Erzählen,12 oder spezifische »historische Online-Kompetenzen«.13 Andere grundsätzliche Aspekte der Diskussion sind nicht abgeschlossen, etwa mittels welchen Medienbegriffs historisches Lernen unter den Bedingungen der Digitalisierung operationalisierbar gemacht werden kann.14 Auch der Begriff des »Digitalen« selbst steht in der Diskussion. Gerade das schwer zu fassende Zusammenwirken verschiedener – technischer, medialer und kommunikativer – Aspekte ist für den digitalen Wandel kennzeichnend. Wolfgang Schmale brachte in einem Essay von 2010 diese Spezifik auf die Formel: »Digitalisierung vergegenwärtigt nicht nur, sondern verlebendigt auch.«15 Die Formulierungen »Geschichtslernen mit digitalen Medien« oder (kurz) »digitales Geschichtslernen« beschreiben die vielschichtigen Veränderungen des Lernens im digitalen Wandel ganz zutreffend, während der Begriff der 11 2007 stellten Astrid Schwabe und Uwe Dancker auf der von ihnen veranstalteten Tagung in Flensburg noch fest, dass sich die Geschichtsdidaktik dem Thema »Lernen mit dem Internet« nur zögerlich angenommen hatte; vgl. Uwe Danker/Astrid Schwabe: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach/Ts. 2008, S. 5 – 12, hier S. 8. Empirische Forschungen standen im Mittelpunkt einer von Bettina Alavi 2009 in Heidelberg durchgeführten Tagung; vgl. Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010. Im März 2013 fand in München eine von Marko Demantowsky und Christoph Pallaske veranstaltete interaktive Netztagung mit dem Titel »Geschichte Lernen digital« statt. Einen Überblick über die Tagung gibt das Tagungsblog (online verfügbar unter : http://www.gelerndig.hypotheses.org); der Tagungsband folgt. Im Mai 2013 veranstaltete Christoph Kühberger die Tagung »Nutzung digitaler Medien im Geschichtsunterricht« in Salzburg. 12 Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter der digitalen Medien. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010, S. 261 – 281; Astrid Schwabe: Hypertext und Multimedia. Reflexionen zu Geschichtsdarstellungen im Internet. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin 2010, S. 177 – 188. 13 Jan Hodel: Historische Online-Kompetenz. Informations- und Kommunikationstechnologie in den Geschichtswissenschaften. In: Rainer Pöppinghege (Hrsg.): Geschichte lehren an der Hochschule. Bestandsaufnahme, methodische Ansätze, Perspektiven. Schwalbach/Ts. 2007, S. 194 – 210. 14 Daniel Bernsen, Alexander König und Thomas Spahn haben 2012 in ihrem Beitrag »Medien und historisches Lernen« einen medienpädagogisch orientierten Ansatz für eine »digitale Geschichtsdidaktik« entwickelt und differenzieren vier Modi: Lernen am, mit, über oder im digitalen Medium; vgl. Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen. Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften (2012), H. 1 (online verfügbar unter : http://www.universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/ view/294, aufgerufen am 15. 02. 2013). Als ähnlich weit gefasster Medienbegriff, der Medien als »Mittel« und »Mittler« kennzeichnet, vgl. Horst Gies: Geschichtsunterricht. Ein Handbuch zur Unterrichtsplanung. Köln 2004, S. 214. 15 Wolfgang Schmale: Digitale Geschichtswissenschaft. Wien u. a. 2010, S. 15 f.
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»neuen Medien« inzwischen – weil digitale Medien längst nicht mehr neu sind – seine Plausibilität eingebüßt hat. Empirische Studien zum digitalen Geschichtslernen gibt es bislang nur wenige.16 Von zentraler Bedeutung für die Weiterentwicklung historischen Lernens mit digitalen Medien ist die Vermessung »digital konfigurierter Lernräume« – gemeint sind meist solche digitalen Geräte, die auf ihren Displays und über Lautsprecher und Mikrofon neben anderen Funktionen einen multicodalen und multimodalen Zugang in das Internet als Informations- und Kommunikationsraum eröffnen. Schülerinnen und Schüler arbeiten in Phasen, in denen sie einen PC, ein Notebook, Tablet oder Smartphone bedienen, notwendigerweise in Einzelarbeit, Partnerarbeit oder in kleinen Teams. Digitales Lernen ist somit vorrangig selbstständiges Lernen. Im Sinne des »Blended Learnings« soll schulisches Lernen in digital konfigurierten Lernräumen in der Regel punktuell oder in zeitlich begrenzten Unterrichtssequenzen eingesetzt werden. Schülerinnen und Schüler lernen keineswegs atomisiert und nur für sich; beispielsweise sollen in nachgeschaltete Plenumsphasen immer auch Präsentationen und Diskussionen von Lernergebnissen eingebunden werden. Digital konfigurierte Lernräume ermöglichen Lernen im Sinne verschiedener Lerntheorien, bieten aber insbesondere Potenziale für Lernformate im Sinne einer konstruktivistischen Didaktik.17 Aus geschichtsdidaktischer Perspektive bieten digital konfigurierte Lernräume, abgesehen von den genannten hypertextstrukturellen Narrativen, eine 16 Bettina Alavi/Marcel Schäfer : Historisches Lernen und Lernstrategien von Schüler/innen. Eine empirische Untersuchung zu historischer Selbstlernsoftware. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 75 – 93; Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web. Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktischmediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012; Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente. Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden. Bern 2013. 17 Zu digital konfigurierten Lernräumen vgl. Franz Josef Röll: Pädagogik der Navigation. Selbstgesteuertes Lernen durch Neue Medien. München 2003, S. 151 – 159; Kai-Uwe Hugger/ Markus Walber : Digitale Lernwelten. Annäherungen aus der Gegenwart. In: Dies. (Hrsg.): Digitale Lernwelten. Konzepte, Beispiele und Perspektiven. Wiesbaden 2010, S. 9 – 18, hier S. 9 f.; Huberta Kritzenberger : Multimediale und interaktive Lernräume. München 2005. Zur Ausdifferenzierung der Möglichkeiten digitalen Geschichtslernens sind nach derzeitigem Stand drei Entwicklungsstufen des digitalen Wandels maßgeblich, die Alexander König anschaulich gemacht hat: Entgrenzung und Entlinearisierung im Web 1.0; (Ent-)Individualisierung und Enthierarchisierung im Web 2.0 sowie neuerdings »Mobile Learning«, Entkopplung und Entdeckung im Web 3.0; vgl. Alexander König: Geschichtsvermittlung in virtuellen Räumen: Eine kleine Geschichte technologischer Möglichkeiten und eine Prognose zur Zukunft historischen Lernens. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Kulturelle Bildung (online verfügbar unter : http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/143889/geschichtsvermittlung-in-virtuellen-raeumen, aufgerufen am 15. 2. 2013).
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Reihe spezifischer Potenziale: erstens bezogen auf selbstständiges Lernen und die individuelle Ausbildung von Geschichtsbewusstsein; zweitens werden Räume historischen Denkens durch das Internet und die weltumfassende digitale Verfügbarkeit historischer Zeugnisse und Geschichtsdarstellungen ausgeweitet und entgrenzt. Die heutige Praxis der Internet-Recherche führt dabei zu einer verstärkten Hinwendung zur Geschichtskultur und bietet u. a. neue Zugänge zu einer »glokalisierten« Regionalgeschichte und zum Geschichtslernen »vor Ort«.18 Drittens könnte Quellenarbeit durch digitalisierte Archivalien einen Bedeutungsschub erfahren. Viertens sind »Wikis«, »Blogs« oder »Etherpads« neue Web 2.0-basierte Werkzeuge, die kooperatives und kollaboratives Lernen ermöglichen und verdeutlichen, wie historische Narrative als Aushandlung verschiedener, ggf. kontroverser Perspektiven und Positionen entstehen. Historisches Lernen an sich ist vielfältig und mehrdimensional. Gemessen an den aufgezeigten Möglichkeiten digitalen Geschichtslernens und den zahlreichen geschichtsdidaktischen Anknüpfungspunkten bilden sich umfassende Potenziale für das historische Lernen ab. Diese Potenziale aber bleiben insofern unspezifisch, als sie in ihrer Gesamtheit kein kohärentes Konzept digitalen Geschichtslernens erkennen lassen. Eine Theoriebildung zum digitalen Geschichtslernen steht erst am Anfang. Zugleich stellt der Anspruch, die Veränderung historischen Lernens unter den Bedingungen des digitalen Wandels zu beschreiben und empirisch zu erforschen, Geschichtsdidaktiker auch deshalb vor große Herausforderungen, weil die technische Entwicklung mit großen Schritten voranschreitet und einschlägige Veröffentlichungen hierzu deshalb oft nur eine geringe »Halbwertszeit« besitzen.19
18 Andreas Körber hat die Frage aufgeworfen, ob eher das Internet oder der Klassenraum eine reale Lernwelt darstellt und stellt fest, dass sich die Nutzung des virtuellen Raums besser zur »Bewältigung von neuen Anforderungen in der realen Welt eignet«; vgl. Andreas Körber : Kompetenzorientiertes Geschichtslernen in virtuellen Räumen? In: Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach/Ts. 2008, S. 42 – 59, hier S. 46. Eine Lernsituation mit Lehrer und Schulbuch hingegen sei selektiv und perspektivierend (S. 49). 19 Zwar werden Didaktiker nicht müde zu betonen, dass nicht die Geräte das Lernen, sondern didaktische Konzepte den Einsatz von Geräten bestimmen sollten. Dennoch ist gar nicht zu verkennen, dass veränderte technische Möglichkeiten neue Lernformate überhaupt erst denkbar machen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die aktuelle Diskussion über »Mobile Learning« mittels Navigationstechnologien. Erst durch die Verbreitung von Smartphones sind diese neuen Lernformate, wie historische Erkundungen mittels »Apps«, (Beispiel: »Die Berliner Mauer«) oder »Geocaching« an außerschulischen Lernorten möglich.
Individuelles Geschichtslernen mit digitalen Medien
3.
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Entwicklung der Online-Lernplattform »segu – selbstgesteuert-entwickelnder Geschichtsunterricht«
Die Entwicklung der Online-Lernplattform »segu – selbstgesteuert-entwickelnder Geschichtsunterricht« wurde durch die Frage angestoßen, ob und wie sich ein Konzept zum individuellen Geschichtslernen im meist zweistündigen Nebenfach Geschichte (beziehungsweise Gesellschaftslehre) der Sekundarstufe I (Schwerpunkt Gymnasium und Gesamtschule) realisieren lässt. Leitidee des Projekts ist die Verschränkung von selbst gesteuertem Lernen und Geschichtslernen mit digitalen Medien über die Organisationsform »internet-basierter Planarbeit« mittels modularisierter Lernmaterialien. Zugleich (und im Laufe des Projekts zunehmend) stellte sich die Frage, inwieweit Möglichkeiten digitaler Medien und des Internets für das historische Lernen sinnvoll genutzt werden können. Bezogen auf den Grad der Öffnung von Unterricht bedeutet das angestrebte Konzept internet-basierter Planarbeit zunächst offenes Lernen in organisatorischer Hinsicht, also der freien Wahl verschiedener Lernmaterialien, der Sozialform (Einzel-, Partner- oder Teamarbeit) und der Bearbeitungszeiten. Auf der schüleradressiert gestalteten Lernplattform finden sich verschiedene »Module«, also aufgabenbezogene Arbeitsblätter. Schüler und Schülerinnen können die Module auswählen, sollen sie dann ausdrucken und handschriftlich bearbeiten. Viele Lernmodule und Aufgaben geben geschlossene oder halb offene Fragestellungen vor, insbesondere die »Startermodule«, die »normalen« »Lernmodule« und die »Methodenmodule«. Im Sinne der Ausbildung historischer Fragekompetenz – und um höhere Grade selbst gesteuerten Lernens zu erreichen20 – werden zudem verschiedene Möglichkeiten zur inhaltlichen Öffnung durch Angebote zum forschend-entdeckenden Lernen gegeben. Die »Forschermodule« zielen auf eigenständige Internet-Rrecherchen oder regen eine regional- beziehungsweise lokalgeschichtliche Spurensuche an. Darüber hinaus gibt es in jedem Inhaltsfeld durch die »freien Forschermodule« auch die Möglichkeit, eine eigene historische Frage zu entwickeln und zu beantworten. Der »Offene Geschichtsunterricht wird« durch den »segu-Planer« strukturiert, den die Lehrerinnen und Lehrer, bezogen auf die Themenformulierung einer Unterrichtsreihe sowie auf die Modulauswahl (mit Pflicht- und Wahlmodulen), vorgeben und auf den die Schülerinnen und Schüler die von ihnen 20 Fortgeschrittenes selbst gesteuertes Lernen zielt darauf, dass Lernende dazu befähigt werden, ihren eigenen Lernprozess vollständig selbst zu steuern, d. h. eine relevante historische Fragestellung zu erkennen, Lösungsstrategien zu entwickeln und anzuwenden sowie den Lernprozess und -fortschritt abschließend zu evaluieren. Dieser hohe Grad kann – ohne Schülerinnen und Schüler zu überfordern – sinnvoll erst nach Einübung organisatorischer Modi der Selbststeuerung angestrebt werden.
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bearbeiteten Module eintragen. Lerneinheiten bilden Inhaltsfelder beziehungsweise Unterrichtsreihen mit jeweils etwa sechs bis maximal 15 auszuwählenden Modulen und einer Bearbeitungszeit von ca. zwei bis vier Wochen. Die Module werden in der Regel in Einzel- oder Teamarbeit mit Hilfe des Schulbuches oder des Internets bearbeitet. Das Produkt der Arbeit auf der Lernplattform sind die schriftlichen Ergebnisse in den Geschichtsmappen, die auch als Grundlage zur Leistungsbewertung herangezogen werden können. Die Schülerinnen und Schüler sollen nach Abschluss einer Unterrichtsreihe ihren Lernerfolg mittels des Arbeitsblattes »Wissen vernetzen« zusammenfassen und evaluieren. Wichtig für die Durchführung des Lernkonzepts ist zudem, dass in geblockten Zeitfenstern zusammen mit der ganzen Lerngruppe Ergebnisse präsentiert und diskutiert werden.21 Zudem gibt es auch einige »Klassenmodule«, die mit der ganzen Lerngruppe durchgeführt werden, wenn diese sich dafür entscheidet. Nach zweijähriger Laufzeit standen im März 2013 etwa 130 der rund 200 geplanten Module zur Verfügung. Die Lernplattform hat das Angebot um Lernvideos mit integrierten Aufgaben sowie Rätselformate, die auf der Seite »LearningApps.com« erstellt wurden, erweitert. Außerdem findet sich eine Sequenz zum bilingualen Geschichtsunterricht (Inhaltsfeld: »American History«). Die »segu«-Lernmaterialien werden seit Ende des Jahres 2011 als »OER – Open Educational Resources« gelabelt, also als freie Bildungsmedien.22 Unter Verwendung der »Creative Commons«-Lizensierung, insbesondere von Bildmedien (meist aus der Bilddatenbank »Wikimedia«) können die Lernmaterialien ohne Verletzung von Urheberrechten weiter verbreitet und von Lehrerinnen und Lehrern verändert werden. Dafür stehen die Module nicht nur als PDF, sondern auch als Textdateien zur Verfügung. Die Lernplattform hat sich ohne kommerzielle Werbung im Netz verbreitet und etabliert.23 Das Projekt will in der aktuellen Diskussion um das didaktische Potenzial digitaler Lernformate – beispielsweise bei der Entwicklung digitaler Schulbücher oder der Verwendung 21 Für Lehrerinnen und Lehrer bedeuten offene Lernformen ein verändertes Rollenverständnis verstärkt hin zu einem Initiator von Lernprozessen. Auch die Schulen stehen bei der Umsetzung offener Lernformen vor Herausforderungen; beispielsweise lassen sich solche Konzepte sinnvoller in längeren Zeitfenstern als 45 Minuten realisieren. 22 Der Begriff »Open Educational Resources« wurde 2002 von der UNESCO eingeführt, um freie Bildungsmedien kennzeichnen zu können. Bedingungen für die Kennzeichnung sind, dass die Lernmaterialien erstens frei verfügbar, zweitens veränderbar und drittens mit OpenSource-Software erstellt sein müssen; vgl. Open Educational Resources, online verfügbar unter : http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/access-to-knowledge/open-educational-resources, aufgerufen am 21. 3. 2013. 23 Die Benutzerstatistik der Seite »segu-geschichte.de« weist einen steten Anstieg der Zahl der heruntergeladenen Module (entweder als PDF oder Textdatei) auf. Nach Angaben des Hosters wurden im Oktober 2011 ca. 2.500, im Mai 2012 13.000 und im März 2013 ca. 22.000 Module heruntergeladen; zuletzt also etwa 700 Module täglich.
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unterschiedlicher digitaler Geräte (PCs, Notebooks, Tablets oder Smartphones) im Unterricht – Impulse setzen.
4.
Ausblick: Empirische Studie zum individuellen Geschichtslernen mit digitalen Medien
In der zweiten Projektphase stehen bei der empirischen Erforschung des individuellen Geschichtslernens mit digitalen Medien drei Fragen im Mittelpunkt: 1. Lassen sich in selbst gesteuerten Lernformaten individuelle Lernprozesse – abhängig von unterschiedlichen Vorprägungen und Orientierungsbedürfnissen sowie mit Blick auf variierende Abfolgen der Ausbildung von Kompetenzen – abbilden und Erklärungsmodellen zuordnen? 2. Wie beeinflussen digital konfigurierte Lernräume das Geschichtslernen? 3. Gibt es im Sinne der Verschränkung von individuellem Geschichtslernen und Geschichtslernen mit digitalen Medien Schnittmengen oder Wechselwirkungen? Die qualitative, explorative Analyse von Geschichtsmappen, die im Rahmen einer im September 2012 an einem Gymnasium in Bonn durchgeführten Stichprobe der Arbeit von Schülerinnen und Schülerinnen mit dem »segu«Lernkonzept entstanden sind, bietet eine Grundlage für die Entwicklung eines weiterführenden Forschungsdesigns. Beobachtungen während der Stichprobe ergaben, dass das Konzept internet-basierter Planarbeit nach einer kurzen Instruktionsphase umgehend funktionierte; der Grad der Schüleraktivierung war durchgängig hoch.24 Nach Durchführung der Stichprobe wurden zudem mittels Fragebögen Eindrücke zur Einschätzung des selbst gesteuerten Lernens eingeholt.25 Vor allem die Geschichtsmappen bieten umfassendes Datenmaterial für 24 Die Planung sah eine sechsstündige Unterrichtsreihe mit dem »segu-Lernkonzept« zum Thema »Nur Könige, Ritter und Burgen? Europa im Mittelalter« in einer 8. Klasse mit 32 Schülerinnen und Schülern vor, wobei der »segu-Planer« drei Basis- und elf Wahlmodule sowie die Bearbeitung der Datei »Wissen vernetzen« vorgab. Der Geschichtsunterricht fand als 90-minütige Doppelstunde in der 8. und 9. Unterrichtsstunde im Nachmittagsunterricht in einem Computerraum mit 16 stationären PCs statt. Nach einer kurzen Instruktionsphase haben die Schülerinnen und Schüler, zumeist in Partnerarbeit, teils auch in Gruppen mit drei oder vier Schülerinnen- und Schülern, mit der Bearbeitung des Starter-Moduls begonnen. Die zweite Doppelstunde musste wegen Abwesenheit des Fachlehrers ausfallen; die Schülerinnen und Schüler erhielten deshalb die Aufgabe, selbstständig mindestens ein Modul in der ausgefallenen Unterrichtsstunde zu bearbeiten. 25 Danach gaben 59 % der Schülerinnen und Schüler an, mehr als im normalen Unterricht gelernt zu haben, 75 % gaben an, das selbst gesteuerte Lernen mit dem Computer habe mehr Spaß gemacht. Als negative Aspekte wurden häufig die Mehrarbeit, zu schwierige Aufgaben
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eine qualitative Auswertung, da sie sowohl bezüglich der Auswahl und des Verlaufs der bearbeiteten Module als auch in den schriftlichen Ergebnissen jeweils voneinander abweichen.26 Die Durchsicht der Mappen erfolgt mit Blick auf sich abbildende Kompetenzen; zur Vorbereitung weiterer Erhebungen wird zurzeit anhand der durchgeführten Stichprobe ermessen, welches KompetenzModell sich zur Einordnung und Graduierung der Daten als nützlich erweist. Als sinnvolle Untersuchungsstrategie bietet sich erstens an, einzelne Schülermappen längsschnittartig mit Blick auf individuelle Lernprozesse zu analysieren und Abfolgen und Beziehungen zwischen erreichten (oder nicht erreichten) Kompetenzbereichen und Kompetenzstufen zu erheben. Zweitens lassen sich die Ergebnisse unterschiedlicher Schülerinnen und Schüler zu einem Modul, das zu digitalem Geschichtslernen anleitet, querschnittartig vergleichen und verschiedene Nutzungsstrategien digital konfigurierter Lernräume nachvollziehen. Ergebnisse einer breiteren empirischen Untersuchung individuellen Geschichtslernens mit digitalen Medien können dazu beitragen, erstens sinnhafte Lernkonzepte im Sinne der beiden eingangs vorgestellten Diskussionsschwerpunkte zu begründen und zweitens die Lernplattform »segu – selbstgesteuertentwickelnder Geschichtsunterricht« zu evaluieren und anzupassen.
Literatur Individuelles Geschichtslernen Peter Adamski: Auf vielen Wegen ins Land der Pharaonen. Innere Differenzierung im Geschichtsunterricht. In: Geschichte Lernen 130 (2009), S. 2 – 13. Bodo von Borries: Historische Projektarbeit. »Größenwahn« oder »Königsweg«. In: Lothar Dittmar/Detlef Siegfried (Hrsg.): Spurensucher. Ein Praxisbuch für historische Projektarbeit. Hamburg 2005, S. 333 – 350. Peter Gautschi: Lernumgebungen zur Ausdifferenzierung des Geschichtsbewusstseins. In: Bernd Schönemann/Hartmut Voit (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen. Idstein 2002, S. 66 – 83. Christoph Kühberger/Elfriede Windischbauer : Individualisierung und Differenzierung im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012. Bärbel Völkel: Wie kann man Geschichte lehren? Die Bedeutung des Konstruktivismus für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2002. oder ein hoher Arbeitsdruck angegeben, positiv das Lernen mit dem Computer, die Möglichkeit, Module auszuwählen oder dass es kein »Tafelabschreiben« gebe. 26 Die in der Stichprobe entstandenen Geschichtsmappen unterscheiden sich beispielsweise im Umfang ganz erheblich; die Schülerinnen und Schüler haben zwischen drei und acht Module bearbeitet; die Zahl ganzer, handgeschriebener Seiten lag zwischen vier und 33.
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Elfriede Windischbauer : Offene Lernformen im Geschichtsunterricht. In: GWU 37 (2006), H. 11, S. 628 – 649.
Geschichtslernen mit digitalen Medien Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010. Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen. Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften (2012), H. 1 (online verfügbar unter : http://www.universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/294, aufgerufen am 15. 02. 2013). Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach/Ts. 2008. Waldemar Grosch: Der Einsatz digitaler Medien in historischen Lernprozessen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012. Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web. Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012.
Plenum
Sebastian Barsch
Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
1.
Inklusion, Bildungspolitik und Schule
»Seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Diskussion über Inklusion erheblich an Dynamik gewonnen und inzwischen auch Teile der Gesellschaft erreicht, die sich vorher nicht mit diesem Thema befasst haben. Und nicht nur das: Heute ist es zu einer Frage der politischen Korrektheit geworden, für umfassende Inklusion zu sein. Dabei ist es vor allem bei Menschen mit schweren geistigen Behinderungen heute weitgehend unklar, wie deren Inklusion aussehen kann und welche Folgen es für die Betroffenen hat, bisherige Betreuungs- und Hilfsstrukturen aufzugeben und durch neue, bislang kaum evaluierte und empirisch überprüfte Strukturen zu ersetzen. Insofern könnte man behaupten, dass im Zeichen der Inklusion ein erhebliches Humanexperiment mit ungewissem Ausgang in Gang gesetzt wird.«1 Im Jahr 2009 hat die Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Damit wurde politisch vorgegeben, was von wissenschaftlicher Seite aus mehrheitlich schon in den Jahren zuvor gefordert wurde, nämlich zeitnah ein inklusives Schulsystem aufzubauen und somit langfristig die Beschulung von Schülern mit Behinderungen in Förderschulen abzuschaffen. Die Auswirkungen dieses Beschlusses sind mittlerweile in jedem Bundesland zu spüren. Zahlreiche Förderschulen werden in beratende Förderzentren umgewandelt, und die Zahl der im gemeinsamen Unterricht beschulten Kinder wächst stetig.2 Die Debatte um Inklusion wird dabei auch dominiert
1 Vortragsankündigung Markus Dederich: Gibt es Grenzen der Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung? Vortrag im Rahmen des Friedrichshainer Kolloquiums »Inklusion und Exklusion: Zwei Perspektiven« des Instituts für Mensch, Ethik und Wissenschaft in Berlin am 16. 10. 2012. In: IMEW-Newsletter 11/2012 (online verfügbar unter : http://www.imew.de/ index.php?id=846, aufgerufen am 19. 02. 2013). 2 Torsten Dietze: Sonderpädagogische Förderung in Zahlen – Ergebnisse der Schulstatistik 2009/10 mit einem Schwerpunkt auf der Analyse regionaler Disparitäten. In: Zeitschrift für
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Sebastian Barsch
durch die nationale wie internationale Kritik am deutschen Schulsystem.3 Dieses ist ein System, welches nach der Logik der leistungsbezogenen Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Schulformen ein fünfgliedriges ist. Das vor allem von »oben« nach »unten« durchlässige Schulsystem endet nicht bei der Hauptschule, sondern sieht für Schüler, die auch in dieser Schulform nicht ausreichend gefördert werden können, den Besuch der »Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen«4 vor, die ihrerseits die in ihrem Rahmen nicht förderfähigen Schüler in die »Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung« (also einer Einrichtung für geistig behinderte Schüler) überweisen kann.5 Der größte Teil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gilt als »lernbehindert«.6 Ziel dieses Beitrages ist es, das Thema »Inklusion« generell für die Geschichtsdidaktik greifbar zu machen. Dazu sollen Befunde zum Geschichtsbewusstsein und zum Geschichtsunterricht von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zusammengetragen werden. Es können keine ausgearbeiteten Theorien historischen Denkens dieser Gruppe vorgestellt werden. Der Artikel hat somit einen vorläufigen und einen Übersichtscharakter. Die zusammengetragenen Befunde sollen vor allem den Zweck erfüllen, diese Schülergruppe zu fokussieren und Diskussionen anzuregen.
3 4 5 6
Inklusion 2 (2011) (online verfügbar unter : http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/105/106, aufgerufen am 19. 02. 2013). OECD (Hrsg.): OECD-Wirtschaftsberichte 2010. Deutschland. Paris 2010, S. 40. Diese Bezeichnung gilt für die meisten Bundesländer. Es gibt, je nach Bundesland, bis zu neun verschiedene Förderschultypen, sodass für nahezu jede medizinisch definierbare Behinderung ein eigener Schultyp existiert. Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Dokumentation Nr. 196 – Februar 2012. Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2001 bis 2010 (online verfügbar unter : http://www.kmk.org/fileadmin/pdf/Statistik/KomStat/Dokumentation_SoPaeFoe_2010.pdf, aufgerufen am 19. 02. 2013). Das Wort »lernbehindert« wird heute nur noch selten verwendet. Stattdessen haben sich Bezeichnungen wie »Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen« etabliert, die jedoch m. E. vor allem einen Verschleierungseffekt haben. So wird dieser spezielle Förderbedarf nur in wenigen Ländern überhaupt gesehen. In den meisten Ländern gibt es keine Bezeichnung für diese Schülergruppe. Demnach gibt es für sie auch keine eigenen Institutionen. Zahlreiche Autoren vermuten daher, dass es sich bei der Lernbehinderung um einen sozialen Zuschreibungsprozess handelt, nicht um eine diagnostizierbare Behinderung. Dazu etwa Lisa Pfahl: Techniken der Behinderung: Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien. Bielefeld 2010. Im Kontext von Geschichtsdidaktik dazu auch Sebastian Barsch: »Die Anderen da draußen« – Behinderung als Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011), S. 105 – 116.
Geschichtsbewusstsein von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
2.
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Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und Geschichtsdidaktik: eine Bestandsanalyse
»Neue Wege – neue Themen – neue Methoden« lautete das Motto der Nachwuchstagung der KGD in Ludwigsburg, aus welcher der vorliegende Band hervorgegangen ist. Die Inklusion fordert alle drei Bereiche heraus. Was aber genau haben die gegenwärtigen Entwicklungen, die ja in erster Linie die Schulstrukturen betreffen, mit der Geschichtsdidaktik zu tun? – Viel, denn eine eigenständige Disziplin wie die Geschichtsdidaktik würde es ohne den Geschichtsunterricht an Schulen nicht geben. Obwohl die Geschichtsdidaktik in ihrem heutigen Selbstverständnis die Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft ist,7 bleibt eines ihrer zentralen Forschungsfelder das Historische Lernen an Schulen und somit das Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern. Eine derzeit schon große Anzahl an Untersuchungen widmet sich diesem Feld, und im Zuge der empirischen Wende ist auch für die Geschichtsdidaktik davon auszugehen, dass die Unterrichtsfachforschung weitere Stärkung erlangen wird. Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden bislang allerdings noch nicht explizit in die geschichtsdidaktische Theoriebildung einbezogen. Bodo von Borries etwa verzichtete bei seinen quantitativen Erhebungen auf die Einbeziehung dieser Gruppe. »Eine Befragung von Sonderschülern und Privatschülern scheidet ohnehin aus.«8 Diese Sichtweise scheint mittlerweile durchbrochen zu sein. Innerhalb der Geschichtsdidaktik ist generell das Bewusstsein für die Problemfelder »Diversität«, »Heterogenität« und »Inklusion« gewachsen.9 Gleichzeitig fällt jedoch auf, dass ein interdisziplinärer Ansatz oft zu kurz kommt. So schreibt etwa Hans-Jürgen Pandel 2012 im »Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts« über »Sonderschulen«, die seit mehreren Jahren in fast keinem Bundesland mehr so genannt werden, sondern jetzt »Förderschulen« heißen:
7 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9 – 33, hier S. 12. 8 Bodo von Borries: Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland. Weinheim/München 1995, S. 17. 9 Sieh etwa Martin Lücke: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Michele Barricelli/Ders. (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 136 – 146.
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Sebastian Barsch
»Akademische geschichtsdidaktische Literatur für diese Schulform gibt es nicht, und gedruckte Unterrichtsmaterialien sind nicht nur spärlich, sondern weichen sogar den Fachproblemen aus.«10 Das ist falsch.11 Insbesondere in sonderpädagogischen Fachzeitschriften sind Aufsätze zum Thema erschienen,12 und im selben Band, in dem sich H.-J. Pandels Aussage findet, befasst sich Birgit Wenzel mit »Heterogenität und Inklusion«. Sie wirft einen etwas fundierteren, allerdings auch nicht detaillierten, Blick auf die Forschungslandschaft.13 Ihr Beitrag ist darüber hinaus eher allgemeinpädagogisch gehalten und widmet sich vor allem der Frage, wie die Pragmatik eines inklusiven Geschichtsunterrichts aussehen müsse. Eine spezifisch geschichtsdidaktische Positionierung findet nicht statt, und auch das Allgemeinpädagogische ist – zumindest was die sonderpädagogischen Bezüge angeht – veraltet.14 Bezogen auf Kenntnisse über das Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf mag H.-J. Pandels Aussage dagegen eher zuzustimmen sein. Es gibt sowohl national als auch international recht wenige Studien über den Umgang von Menschen speziell mit Lernschwierigkeiten15 beziehungsweise »Lernbehinderungen« mit Geschichte. Bislang blenden Forschungen den Lernraum »Schule« fast komplett aus, wie einige Beispiele zeigen:
10 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht in den unterschiedlichen Schulformen (insbesondere Sekundarstufe I). In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 167 – 175, hier S. 173. 11 Ein erster Überblick über Aufsätze im Kontext von Geschichtsdidaktik und Sonderpädagogik findet sich im Internet: http://geschichte-konkret.blogspot.de/p/theorie.html (aufgerufen am 19. 02. 2013). 12 Dazu etwa Sebastian Barsch: Geschichtsdidaktik und Sonderpädagogik – Historische Kompetenzen im Fokus sonderpädagogischer Förderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 62 (2011), S. 136 – 142. 13 Birgit Wenzel: Heterogenität und Inklusion – Binnendifferenzierung und Individualisierung. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 238 – 255. 14 So stellt sie z. B. den Wert eines offenen und individualisierenden Unterrichts auch für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im inklusiven Unterricht heraus. Allerdings konnten verschiedene empirische Untersuchungen sichern, dass gerade kognitiv weniger leistungsfähige Schüler gerade davon nicht profitieren, sondern von sehr geschlossenen Unterrichtssettings und direkter Instruktion. Dazu etwa Matthias Grünke: Zur Effektivität von Fördermethoden bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen. Eine Synopse vorliegender Metaanalysen. In: Kindheit und Entwicklung 15 (2006), S. 238 – 253. 15 Der Ausdruck »Menschen mit Lernschwierigkeiten« wird derzeit als Alternative zu »Menschen mit geistiger Behinderung« diskutiert.
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– Michael Dillon und Steve Holburn beklagen fehlende Studien zur Lebensgeschichte von Menschen mit Lernschwierigkeiten, insbesondere solchen, die eine persönliche Erfahrung mit institutionalisierter Separierung haben.16 – Corinne Manning berichtet von einem Forschungsprojekt, bei dem ehemalige Bewohner einer Wohneinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung zu ihrer persönlichen Vergangenheit befragt wurden. Hier zeigte sich, dass gerade mit der Unterstützung audiovisueller Medien Erinnerungen konkretisiert und konkreten Erlebnissen und Eindrücken zugeordnet werden konnten.17 Explizit auf die im deutschen Sprachraum als »Geistigbehinderte« bezeichnete Gruppe zeigte eine Untersuchung zum Ost-West-Vergleich der Bewertung der persönlichen Vergangenheit (n=282) die Tendenz, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten, die im Osten aufwuchsen und die Wende bewusst miterlebt hatten, ihre persönliche Vergangenheit vor dem »Mauerfall« positiver einschätzen als die westdeutsche Vergleichsgruppe.18 In der Fokussierung auf »Menschen mit geistiger Behinderung« deuten diese Beispiele auf ein gravierendes Problem: Dadurch, dass es nur in wenigen Ländern die Gruppe der »Lernbehinderten« gibt, existieren zumindest im geschichtsdidaktischen Kontext auch keine Forschungen darüber. Aber auch der Blick zur Forschungslandschaft derjenigen Länder, in denen es diese Behinderungskategorie gibt, ist ernüchternd. Zum Geschichtsbewusstsein speziell von Schülern mit Lernbehinderungen gibt es bislang lediglich eine einzige Studie aus dem Jahr 1977.19 Die qualitativ-quantitative Studie von Franz Henkemeier ist methodisch der Studie von Bodo von Borries aus den 1990ern recht ähnlich. F. Henkemeier versucht auf dem damaligen Stand der Forschung mittels Fragebogenerhebung und einzelnen narrativen Interviews herauszufiltern, über welche Facetten des Geschichtsbewusstseins diese Schülergruppe verfügt. Er befragte dazu Schulabgänger der Sonderschule für Lernbehinderte. Wesentliche Ergebnisse sind vor allem, dass diese Schülergruppe, genauso wie die von ihm herangezogene Vergleichsgruppe der Hauptschüler, über kein ausgeprägtes chronologisches Verständnis verfügt, Geschichte eher statisch sieht und an die 16 Michael Dillon/Steve Holburn: Preserving Oral Histories: Example of the institutional experience. In: Mental Retardation 41 (2003), S. 130 – 132. 17 Corinne Manning: My memory’s back! Inclusive learning disability research using ethics, oral history and digital storytelling. In: British Journal of Learning Disabilities 38 (2010), S. 160 – 167. 18 Sebastian Barsch: Politisch-gesellschaftliche Wertvorstellungen und Beurteilung der persönlichen Vergangenheit von Menschen mit geistiger Behinderung in Ostdeutschland. In: Heilpädagogische Forschung 35 (2009), S. 108 – 111. 19 Franz Henkemeier: Geschichte für Lernbehinderte. Entwurf einer Geschichtsdidaktik für lernbehinderte Schüler. Bochum 1986.
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kausale Wirkmächtigkeit einzelner großer Männer (Adolf Hitler) glaubt. F. Henkemeier räumt ein, dass der Zeitpunkt der Befragung ein wenig problematisch sei, da er Schüler befragte, die als Schulabgänger zu nahezu 100 % vor einem Leben als Arbeitslose standen und von daher Fächern wie Geschichte seit mehreren Jahren eher wenig bis kein Interesse entgegenbrachten, da es für sie als noch wertloser erachtet wurde als die anderen Schulfächer. Von 1977 bis heute hat sich die Schülerschaft an Förderschulen massiv verändert.20 Diese Tatsache und die nunmehr tatsächlich vor der Umsetzung stehende gemeinsame Beschulung müssen dazu führen, dass diese Schülergruppe erneut von der Geschichtsdidaktik empirisch erfasst wird. Ein erster Schritt dazu soll die im Folgenden knapp umrissene Studie sein, die sich derzeit in der Auswertungsphase befindet.
3.
Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und Geschichtsdidaktik: ein neuer Versuch
Um die historische Sinnbildung dieser Gruppe zu untersuchen, wurde der Bereich der historischen Imagination von Förderschülerinnen und -schülern der 6. Klasse fokussiert.21 Es wurde ein mehrschrittiges, experimentelles Untersuchungsdesign entwickelt. Die Schüler sollten u. a.sowohl in Einzel- als auch Gruppeninterviews erzählen, wie sie sich die Zeit der Industrialisierung vorstellen. Während der Einzelinterviews wurden dazu neun Rekonstruktionszeichnungen als Impuls verwendet, die jeweils der Frühen Neuzeit, dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart zugeordnet werden können.22 Die Probanden sollten die Bilder auswählen, die ihrer Meinung nach zur Industrialisierung passen (beziehungsweise der »Zeit vor 150 Jahren«). Sie sollten begründen, warum ihre Auswahl ihren Vorstellungen am meisten entsprach. Anschließend sollten die je drei Bilder eines Themas in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden. Die Gruppendiskussion begann mit dem verbalen Impuls »Wie 20 Nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ. Es sind nämlich mehr Schüler geworden. Dazu Lisa Pfahl: Die Legitimation der Sonderschule im Lernbehinderungsdiskurs in Deutschland im 20. Jahrhundert (online verfügbar unter : http://bibliothek.wzb.eu/pdf/ 2008/i08 – 504.pdf, aufgerufen am 19. 02. 2013). 21 Grundlegend dazu sieh Rolf Schörken: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik. Paderborn 1994. 22 Die Bilder zeigen Ereignisse aus den Themenbereichen: Arbeit, Herrschaft, Wohnen. Zwar werden durch den Einsatz von Bildern die Vorstellungen der Befragten beeinflusst, es gibt jedoch Hinweise, dass durch den Einsatz von Bildern die Antwortqualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten in Interviews generell steigt. Dazu etwa Jonathan Perry : Interviewing People with Intellectual Disabilities. In: Eric Emerson u. a. (Hrsg.): The International Handbook of Applied Research in Intellectual Disabilities. Chichester 2004, S. 115 – 132.
Geschichtsbewusstsein von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
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stellt ihr euch die Welt vor, wie sie vor 150 Jahren war? Diese Zeit nennt man auch Industrialisierung.« Die Erhebung der Daten fand jeweils vor und nach Durchführung von Unterrichtseinheiten zur Industrialisierung im Umfang von ca. 360 Minuten statt. Da noch keine abschließenden Ergebnisse vorliegen, sollen im Folgenden erste Befunde vorgestellt werden, die in Teilen bereits an anderer Stelle publiziert werden.23 Die befragten Schülerinnen und Schüler konnten in der Regel sicher zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden. Die Vergangenheit selbst jedoch wurde in der Regel nicht weiter differenziert. Auffallend war, dass viele Schülerinnen und Schülern all diejenigen Wissensbestände unter dem Begriff »Vergangenheit« subsumierten, die im Unterricht zuvor behandelt wurden. Eine chronologische Einreihung fand jedoch oft nicht mehr statt, eine Orientierung an Daten ebenso wenig. Darüber hinaus fiel auf – dies ist jedoch noch nicht systematisch ausgewertet worden – dass die Vergangenheit von sehr vielen Schülerinnen und Schülern mit Worten wie »hart«, »grau« oder »schwer« oder Ähnlichem attribuiert wurde. Oft wurde auch die Bezeichnung »hässlich« gewählt, was jedoch damit zusammenhängen kann, dass dieser Ausdruck in der Jugendsprache verwendet wird. So bezeichneten sich während der Gruppendiskussionen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegenseitig nicht selten als »hässlich«. Hinweise über den Einfluss der durchgeführten Unterrichtseinheiten auf die Vorstellung der Schülerinnen und Schüler finden sich an verschiedenen Stellen. So zeigten sich etwa in einer Gruppendiskussion von Schülern einer Aachener Förderschule vor der Durchführung der Unterrichtseinheit Vorstellungen über problematische Lebensumstände in der Vergangenheit. Ökonomische Schwierigkeiten und ein Übermaß an Arbeit wurden als wesentlicher Bestandteil der Lebensumstände gedeutet. Dem entgegengesetzt wurde das umfangreiche Freizeitverhalten der Gegenwart. Diese Deutungen blieben jedoch sehr vage und wurden nicht vertieft, wie dieses Beispiel zeigt: Anne:24 »Man musste viel arbeiten. Man musste viel tun. Für die Familie. Geld verdienen.« Mike: »Da gab’s noch keine Maschinen.« Batu: »Nur arbeiten, schlafen, das war’s.« Anne: »Ja, wa.« 23 Für eine ausführliche Darstellungen des Designs und erster Ergebnisse der Pilotierung sieh Sebastian Barsch: Historische Imagination von Schülerinnen und Schülern mit »Lernbehinderungen«. Empirische Zugangsweisen und Ergebnisse einer Pilotierung. In: Jan Hodel/ Monika Waldis/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 12. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 12«. Bern 2013, S. 95 – 107. 24 Namen anonymisiert.
292 Mike: Anne: Anne: Batu: Mike: Anne: Batu: Anne: Mike: Anne: Batu: Anne: Mike:
Sebastian Barsch
»Gab es noch kein, ähm,« »gab’s keine Freizeiten. Gab’s keine Playsi.« (…) »(…) Ja. Keine Ahnung. Hart. Man durf, man konnte fast nie alle Krankheiten heilen. Manche Leute wu, lebten auf der Straße, mussten betteln, klauen.« »Keine richtigen Toiletten.« »Keine richtigen Häuser und so.« (lacht) »Hast Du mal ,Galileo‹ geguckt, wie die im Mittelalter« »Keine richtigen Möbel.« »gelebt haben? Ah. Ist das hier ekelhaft. Ja, nun.« (..) »Nicht mal ’ne richtige Dusche.« »Hör mal, natürlich kannste doch nicht« »Noch nicht mal ein richtiges Klo.« »riechen.« »Ein Plumpsklo bestimmt.«
Etwa zwei Wochen nach der letzten Unterrichtseinheit wurde erneut die Diskussion mit derselben Gruppe durchgeführt. An der generellen Bewertung der Vergangenheit änderte sich nichts. Jedoch wurden die Vorstellungen um inhaltliche Details ergänzt. Interviewer : Anne: Mike: Anne: Batu: Anne: Batu: Anne: Mike: Anne: Interviewer :
»(…) Also, die Industrialisierung, wie war die denn so? Die Zeit.« »Hart.« »Alt.« »Das Leben ist hart. Scheiße.« »Hatten kaum Anziehsachen. Richtige.« »Ach, oder was. Was stinken.« »Die hatten keine richtigen Häuser.« »Häuser hatten sie wohl. Aber ist im Vergleich« »So ganz klein. So klein.« (zeigt Entfernung mit Daumen und Zeigefinger) (lacht) »Verdammt klein, aber auch nicht so klein. (Oh. mein Gott).« »Jetzt habt ihr mehrmals ›hart‹ gesagt. Was war denn so hart an dem Leben?« Batu: »Arbeit.« Mike: »Dass die Kinder arbeiten mussten.« Batu: »Ja.« Mike: »Dass die nur, dass die in einer Woche zwei Taler nur bekommen haben. (Solche) ist schlimm zum arbeiten.« (unverständlich) (…) Batu: »Die hatten alte Maschinen. Die haben mit der Hand gearbeitet.« Mike: »Die hatten keine Sich-, keine Sicherung gehabt.« Anne: »Ah. Voll viele sind gestorben.« Mike: »Das war Kanarienvogel.« Anne: »Ja, ne. Ganz verwundet sind die.« Mike: »Ja. Genau so.« Anne: »Weiß nicht.« Batu: »Keine Ahnung.« Interviewer : »Was war mit dem Kanarienvogel?« Anne: »Ach, früher, sind die in so’n Bergwerk gegangen, hatten immer so’n Vogel dabei. Und wenn wer, wenn der abgekratzt ist, wussten die, dass da irgend’n Gas ist.«
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Es kann und soll an dieser Stelle keine tiefere Deutung der Gespräche vollzogen werden. Es zeigte sich jedoch, dass zumindest auf der Sachebene die Argumentationen durch den Unterricht beeinflusst worden sind. Insofern hat durch den Unterricht auch eine Beeinflussung der historischen Imagination dieser Schüler stattgefunden, denn diese erlangt nun einen höheren Grad an historischer Triftigkeit. Dies ist sicherlich kein besonders unerwartetes Ergebnis, zumal der Unterricht erst kurz vor den Interviews beendet wurde. Dennoch lassen sich hier zaghafte Rückschlüsse auf historisches Denken ziehen. Jedoch wird erst eine systematische Analyse empirisch belastbare Ergebnisse produzieren. Die beiden sehr kurzen Auszüge sollen vor allem exemplarisch zeigen, wie Schülerinnen und Schüler mit »sonderpädagogischem Förderbedarf Lernen« (»Lernbehinderte«) Ausschnitte der Vergangenheit deuten und über diese subjektive, jedoch kollektiv beeinflusste Vorstellungen entwickeln. Darüber hinaus sollte verdeutlicht werden, dass diese Gruppe mit etablierten Forschungsmethoden der Geschichtsdidaktik erfasst werden kann und dadurch erlangte Befunde in die Theoriebildung der Disziplin einbezogen werden sollten.
4.
Fazit und Diskussion
Der Geschichtsdidaktik bleibt nichts anderes übrig, als sich mit dem Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auseinanderzusetzen. Die Inklusion wird kommen, sie ist politisch gewollt und moralisch gefordert. Für die Geschichtsdidaktik bedeutet dies vor allem auch, vor jeder Theoriebildung die empirische Erkundung des Geschichtsbewusstseins derjenigen Schülerinnen und Schüler voranzutreiben, die bislang davon nicht berücksichtigt wurden. So weisen die fehlenden empirischen Kenntnisse über Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auch auf ein Problem der Pragmatik des Geschichtsunterrichts hin. Nach welchen Kriterien etwa muss zukünftiger Geschichtsunterricht binnendifferenziert werden? Wie sollen die leistungsschwächeren Schüler im inklusiven Unterricht bewertet werden? Es gilt vor allem auch die diagnostische Kompetenz von Geschichtslehrkräften, aber auch Hochschullehrern in der Geschichtslehrerausbildung zu schulen. Dazu sind empirisch gesicherte Modelle zu entwickeln, die ermöglichen, Graduierungen historischer Kompetenzen und historisches Denken überhaupt zu definieren und zu messen. Nach der Etablierung von Kompetenz-Modellen hat die akademische Geschichtsdidaktik es vollkommen versäumt, diese für die Praxis greifbar zu machen. Speziell – aber nicht ausschließlich – bei Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird die diagnostische Kompetenz drängend, da diese Gruppe ja
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Sebastian Barsch
gerade darüber definiert wird, von einer vermeintlichen Norm abzuweichen. Worin diese Abweichung im historischen Denken bestehen könnte, vermag bislang niemand zu sagen. Aber auch Fragen nach der Methodik des Geschichtsunterrichts müssen erneut aufgeworfen werden. Wenn es z. B. wirklich so sein sollte, dass lernschwache Schüler – und zu denen sollten auch die heutigen Hauptschüler gezählt werden – vor allem von direkter Instruktion profitieren, entspringt daraus automatisch die Frage nach der Rolle der Geschichtslehrerin oder des Geschichtslehrers, somit nach der Dominanz historischer Narration und Deutung im Unterricht. Letztlich werden auch andere pragmatische Fragen aufkommen, die mit der Fokussierung auf Lernbehinderungen in diesem Beitrag noch gar nicht angerissen wurden. Wie zum Beispiel stellen sich geburtsblinde Schüler einen mittelalterlichen König vor? Wie groß ist der Einfluss der Stimme und Rhetorik Adolf Hitlers auf die Bewertung dieser Person durch Schülerinnen und Schüler, und was würde dies für gehörlose Schüler bedeuten? Wie muss mit den Konzepten Alterität und Fremdverstehen umgegangen werden, wenn Schülerinnen und Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen Geschichte rekonstruieren? All diese Fragen müssen gestellt werden. Eine Antwort steht noch aus.
Literatur Sebastian Barsch: Politisch-gesellschaftliche Wertvorstellungen und Beurteilung der persönlichen Vergangenheit von Menschen mit geistiger Behinderung in Ostdeutschland. In: Heilpädagogische Forschung 35 (2009), S. 108 – 111. Sebastian Barsch: »Die Anderen da draußen« – Behinderung als Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011), S. 105 – 116. Sebastian Barsch: Geschichtsdidaktik und Sonderpädagogik – Historische Kompetenzen im Fokus sonderpädagogischer Förderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 62 (2011), S. 136 – 142. Sebastian Barsch: Historische Imagination von Schülerinnen und Schülern mit »Lernbehinderungen«. Empirische Zugangsweisen und Ergebnisse einer Pilotierung. In: Jan Hodel/Monika Waldis/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 12. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 12«. Bern 2013, S. 95 – 107. Bodo von Borries: Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland. Weinheim/München 1995. Markus Dederich: Gibt es Grenzen der Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung? Ankündigung zum Vortrag im Rahmen des Friedrichshainer Kolloquiums »Inklusion und Exklusion: Zwei Perspektiven« des Instituts für Mensch, Ethik und
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Wissenschaft in Berlin am 16. 10. 2012. In: IMEW-Newsletter 11/2012, online verfügbar unter : http://www.imew.de/index.php?id=846, aufgerufen am 19. 02. 2013). Torsten Dietze: Sonderpädagogische Förderung in Zahlen – Ergebnisse der Schulstatistik 2009/10 mit einem Schwerpunkt auf der Analyse regionaler Disparitäten. In: Zeitschrift für Inklusion 2 (2011) (online verfügbar unter : http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/105/106, aufgerufen am 19. 02. 2013). Michael Dillon/Steve Holburn: Preserving Oral Histories: Example of the institutional experience. In: Mental Retardation 41 (2003), S. 130 – 132. Matthias Grünke: Zur Effektivität von Fördermethoden bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen. Eine Synopse vorliegender Metaanalysen. In: Kindheit und Entwicklung 15 (2006), S. 238 – 253. Franz Henkemeier : Geschichte für Lernbehinderte. Entwurf einer Geschichtsdidaktik für lernbehinderte Schüler. Bochum 1986. Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9 – 33. Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Dokumentation Nr. 196 – Februar 2012. Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2001 bis 2010 (online verfügbar unter : http:// www.kmk.org/fileadmin/pdf/Statistik/KomStat/Dokumentation_SoPaeFoe_2010.pdf, aufgerufen am 19. 02. 2013). Corinne Manning: My memory’s back! Inclusive learning disability research using ethics, oral history and digital storytelling. In: British Journal of Learning Disabilities 38 (2010), S. 160 – 167. Martin Lücke: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Michele Barricelli/Ders. (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 136 – 146. OECD (Hrsg.): OECD-Wirtschaftsberichte 2010. Deutschland. Paris 2010. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht in den unterschiedlichen Schulformen (insbesondere Sekundarstufe I). In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 167 – 175. Jonathan Perry : Interviewing People with Intellectual Disabilities. In: Eric Emerson u. a. (Hrsg.): The International Handbook of Applied Research in Intellectual Disabilities. Chichester 2004, S.115 – 132. Lisa Pfahl: Die Legitimation der Sonderschule im Lernbehinderungsdiskurs in Deutschland im 20. Jahrhundert (online verfügbar unter : http://www.bibliothek.wzb.eu/pdf/ 2008/i08 – 504.pdf, aufgerufen am 19. 02. 2013). Rolf Schörken: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik. Paderborn 1994. Birgit Wenzel: Heterogenität und Inklusion – Binnendifferenzierung und Individualisierung. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 238 – 255.
V. Sektion: Miteinander statt nebeneinander – Geschichte lernen in der globalisierten und multiethnischen Gesellschaft
Manuel Köster
Identitätsbalance bei widersprüchlichen Identitätsbezügen. Historisches Textverstehen in der multiethnischen Gesellschaft
1.
Forschungsstand und Fragestellung
Trotz der immensen Bedeutung, die dem Lesen für den historischen Wissenserwerb, etwa durch Hilke Günther-Arndt1 oder Saskia Handro,2 zugeschrieben wird, stellt die Frage, welche Faktoren das Verstehen historischer Texte beeinflussen, ein geschichtsdidaktisches Forschungsdesiderat dar. In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik liegen, neben der Hamburger Studie zum Schulbuchverständnis,3 nur die Arbeiten von Helmut Beilner und Martina Langer-Plän zum Quellen- und Begriffsverständnis vor.4 Im englischsprachigen Raum gibt es einige kleinere Studien zu der Frage, was das Lesen geschichtsbezogener Texte ausmacht. Diese nicht immer genuin geschichtsdidaktischen Erhebungen konzentrieren sich dabei vor allem auf zwei Fragen: Zum einen untersuchten sie, inwiefern es Schülerinnen und Schülern gelingt, die Aussagen einzelner, einander nicht selten widersprechender Texte zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen; zum anderen wurde untersucht, inwiefern Ju1 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Basiskompetenz Lesen – Lernen aus Fachtexten am Beispiel des Geschichtsunterrichts. In: Barbara Moschner/Hanna Kiper/Ulrich Kattmann (Hrsg.): PISA 2000 als Herausforderung. Perspektiven für Lehren und Lernen. Baltmannsweiler 2003, S. 139 – 156; Dies: Literacy, Bildung und der Geschichtsunterricht nach PISA. In: GWU 56 (2005), S. 668 – 683. 2 Vgl. Saskia Handro: Die Verfertigung der Geschichte beim Lesen. In: Judith Martin/Christoph Hamann (Hrsg.): Geschichte – Friedensgeschichte – Lebensgeschichte. Herbolzheim 2007, S. 137 – 148. 3 Vgl. Bodo von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 9). 4 Helmut Beilner : Empirische Zugänge zur Arbeit mit Textquellen in der Sekundarstufe I. In: Bernd Schönemann/Hartmut Voit (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen. Idstein 2002, S. 84 – 96; Martina Langer-Plän: Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In: GWU 54 (2003), S. 319 – 336.
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gendliche Einsicht in den spezifischen epistemologischen Status verschiedener Darstellungstypen und Quellensorten haben.5 Leserseitige Einflussfaktoren jenseits dieses prozeduralen beziehungsweise epistemischen Wissens standen nicht im Fokus dieser Studien, sodass die Frage, welche Faktoren das Textverstehen im Geschichtsunterricht beeinflussen, trotz der vorliegenden Arbeiten als weitgehend ungeklärt einzustufen ist. Diese Forschungslücke versucht das empirische Qualifikationsprojekt »Identität und historisches Textverstehen in der multiethnischen Gesellschaft« zu schließen. In der geschichtsdidaktischen Diskussion wird die identitätskonstitutive, affektiv-emotional aufgeladene Funktion von Geschichte betont.6 Geschichte verleiht Gruppen und deren Angehörigen ein Gefühl davon, wer sie sind, was sie ausmacht und wie sich die Gruppe entwickelt hat.7 Zentrale Funktionen der Geschichte, wie Orientierung und Identitätsstiftung, spielen in bisherigen kognitionspsychologischen empirischen Erhebungen zum Textverstehen allerdings keine Rolle. Zwar werden auch hier leserseitige Faktoren diskutiert,8 jedoch wird der Leseprozess im Sinne eines eher funktionalistischen »Literacy«-Konzeptes
5 Vgl. z. B. Samuel S. Wineburg: On the Reading of Historical Texts. Notes on the Breach between School and Academy. In: American Educational Research Journal 28 (1991), S. 495 – 519; Charles A. Perfetti/M. Anne Britt/Mara C. Georgi: Text-Based Learning and Reasoning. Studies in History. Hillsdale (NJ) 1995; Steven A. Stahl u. a.: What Happens When Students Read Multiple Source Documents in History? In: Reading Research Quarterly 31 (1996), S. 430 – 456; Gaea Leinhardt/Kathleen McCarthy Young: Two Texts, Three Readers: Distance and Expertise in Reading History. In: Cognition and Instruction 14 (1996), S. 441 – 486; JeanFrancois Rouet u. a.: Understanding Historical Controversies. Students’ Evaluation and Use of Documentary Evidence. In: James F. Voss/Mario Carretero (Hrsg.): Learning and Reasoning in History. London 1998 (International Review of History Education, Vol. 2), S. 95 – 116. 6 Vgl. z. B. Jochen Huhn: Historische Identität als Dimension des Geschichtsbewußtseins. In: Uwe Uffelmann (Hrsg.): Identitätsbildung und Geschichtsbewußtsein nach der Vereinigung Deutschlands. Weinheim 1993 (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Bd. 15), S. 9 – 34; Klaus Bergmann: Identität. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 23 – 29; Jürgen Straub (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a. M. 1998 (Erinnerung, Geschichte, Identität, Bd. 1). 7 Gruppenidentität wird hier mit Klaus Bergmann verstanden als die »[…] Fähigkeit von Gruppen, sich als Zusammenschluß von Menschen zu begreifen und darzubieten, deren innerer und äußerer Zusammenhalt ungeachtet aller Unterschiedlichkeiten der sie tragenden Individuen in der Anerkennung gemeinsamer Vorstellungen über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft durch die in ihr zusammengeschlossenen und an sie gebundenen Personen begründet ist.«; Bergmann (Anm. 6), S. 23. 8 Vgl. z. B. Tobias Richter/Ursula Christmann: Lesekompetenz: Prozessebenen und interindividuelle Unterschiede. In: Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim/München 2002, S. 25 – 58; Wolfgang Schnotz: Textverständnis. In: Detlef H. Rost (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. 3., überarbeitete u. erweiterte Aufl. Weinheim u. a. 2006, S. 769 – 778.
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als vorrangig rationaler Prozess der Informationsentnahme verstanden,9 bei dem jenseits kognitiver Faktoren vor allem Lesemotivation und thematisches Interesse als Einflussgrößen thematisiert werden.10 Aus geschichtsdidaktischer Perspektive stellt sich die Frage nach einer domänenspezifischen Profilierung des Leseprozesses. Eine Besinnung auf die von Wolfgang Hasberg im Einführungsvortrag unterstrichene Tatsache, dass die Didaktik der Geschichte in deutlich näherer Verwandtschaft zur Geschichtswissenschaft als zu anderen »Fachdidaktiken« stehe,11 mag dabei helfen, einer kognitivistischen Verengung des analytischen Blickes auf geschichtsbezogene Leseprozesse vorzubeugen und etwaige Domänenspezifika historischen Textverstehens herauszuarbeiten. Der an gleicher Stelle erfolgte Verweis12 auf Jörn Rüsens »disziplinäre Matrix der Geschichtsdidaktik«13 kann hier aufgegriffen werden: Befunde zum Zusammenhang der schülerseitigen Lernbedürfnisse mit der Pragmatik schulischen Lernens stehen bezüglich des Textverstehens noch aus, müssten also mit Hilfe der Methoden der empirischen Forschung erhoben werden. Hilke Günther-Arndt hat mit der Kategorie »Identität« auf ein mögliches Lernbedürfnis – mit anderen Worten: ein historisches Orientierungsproblem – verwiesen.14 Empirische Befunde zum Zusammenhang von Identitätskonstruktion und historischem Textverstehen stehen bislang noch aus, werden aber durch Erträge der Nachbardisziplinen, vor allem der Sozialpsychologie, nahegelegt.15 Eine fachspezifisch ausgerichtete Untersuchung des Zusammenhangs von Identität 9 Vgl. z. B. Cordula Artelt u. a.: Die PISA-Studie zur Lesekompetenz: Überblick und weiterführende Analysen. In: Groeben/Hurrelmann (Anm. 8), S. 139 – 168, hier S. 141. 10 Vgl. z. B. Jens Möller/Ulrich Schiefele: Motivationale Grundlagen der Lesekompetenz. In: Ulrich Schiefele u. a.: Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden 2004, S. 101 – 124. 11 Vgl. Wolfgang Hasbergs Beitrag in diesem Band, S. 15 – 62, hier S. 45. 12 Der gleiche Verweis erfolgte bereits bei Wolfgang Hasberg: Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Problemanzeige zur Methodologie einer Wissenschaftsdisziplin. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 59 – 77, hier S. 62 f. 13 Vgl. Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nicht-narrative Faktoren. In: Internationale Schulbuchforschung 18 (1996), S. 501 – 544, hier S. 514 – 522. 14 Vgl. Günther-Arndt (Anm. 1), S. 142. 15 Vgl. Bertjan Doosje u. a.: Guilty by Association: When One’s Group Has a Negative History. In: Journal of Personality and Social Psychology 75 (1998), S. 872 – 886; Ders./Nyla R. Branscombe: Attributions for the Negative Historical Actions of a Group. In: European Journal of Social Psychology 33 (2003), S. 235 – 248; Sven Zebel/Bertjan Doosje/Russell Spears: The Threat of Those who ›Understand‹: Ways in which Out-Groups Induce Guilt. In: European Journal of Social Psychology 39 (2009), S. 154 – 162; Baljinder Sahdra/Michael Ross: Group Identification and Historical Memory. In: Personality and Social Psychology Bulletin 33 (2007), S. 384 – 395; Sven Zebel u. a.: Vessels with Gold or Guilt: Emotional Reactions to Family Involvement Associated with Glorious or Gloomy Aspects of the Colonial Past. In: Group Processes & Intergroup Relations 10 (2007), S. 71 – 86.
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und Textverstehen scheint dabei gerade aufgrund der heterogenen Identitätsbezüge innerhalb einer Schulklasse relevant, schließlich verfügen über 30 Prozent der schulpflichtigen Alterskohorten in Deutschland über einen sogenannten »Migrationshintergrund«.16 Die vorliegende Studie fokussiert die Frage, auf welche Weise sich diese unterschiedlichen Identitätsbezüge auf das Textverstehen im Geschichtsunterricht auswirken. Anhand des thematischen Beispiels »Holocaust« ging sie der Frage nach, welche Rolle Identitätsbedürfnisse und gruppenspezifische Werturteile beim Verständnis historischer Darstellungstexte spielen. Konkret wurde untersucht, ob Schülerinnen und Schüler, die sich selber affirmativ als Deutsche wahrnehmen, Texte zum Holocaust anders verstehen als solche Jugendliche, für die die Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe der Deutschen beim Aufbau ihrer Identität weniger zentral ist. Das Themengebiet »Nationalsozialismus und Holocaust« wurde gewählt, da es in hohem Maße identitätsrelevant ist und verbreitete Einstellungen hier disziplinübergreifend belegt sind. So kamen empirische Studien unterschiedlicher wissenschaftlicher Domänen zu dem Schluss, dass gängige Einschätzungen des Nationalsozialismus trotz einer grundsätzlichen Verurteilung des Nationalsozialismus dazu geeignet sind, die deutsche Mehrheitsgesellschaft des »Dritten Reiches« von Mitwisserschaft und Mittäterschaft freizusprechen.17 Besondere 16 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2009 (Fachserie 1, Reihe 2.2). Wiesbaden 2010, S. 32. Die Geschichtsdidaktik stellt bereits seit einiger Zeit Überlegungen an, wie der Geschichtsunterricht dieser Tatsache angemessen ›Rechnung tragen kann. Vgl. z. B. Bettina Alavi: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Berlin 1998 (Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Migrationen, Ethnizität und gesellschaftlicher Multikulturalität, Bd. 9); Dies./Gerhard Henke-Bockschatz (Hrsg.): Migration und Fremdverstehen. Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen Gesellschaft. Idstein 2004 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 16); Dies./Rainer Ohliger : Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Hamburg 2009; Viola B. Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg 2003; Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 26). 17 Vgl. z. B. Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 2); Ders.: Jugendliche und das Thema Holocaust – Empirische Befunde und Konsequenzen für die Schulbuchkonstruktion. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. 2. Aufl. Berlin 2011, S. 105 – 120; Ders.: Vorstellen und Verstehen: Jugendliche betrachten den Holocaust. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Visualität und Geschichte. Berlin 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 1), S. 55 – 68; Emma Dresler-Hawke: Reconstructing the Past and Attributing the Responsibility for the Holocaust. In: Social Behavior and Personality 33 (2005), S. 133 – 148.
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Bedeutung erlangen diese Urteile im intergenerationellen Dialog über die Vergangenheit beziehungsweise bei der Repräsentation von Nationalsozialismus und Holocaust im Gedächtnis deutscher Familien.18 Dabei sind Nationalsozialismus und Holocaust nicht nur für diejenigen, für die die Zugehörigkeit zur Gruppe der Deutschen identitätsrelevant ist, Gegenstand von Identitätsbildungsprozessen. Wer in Deutschland lebt, muss sich dieser Gruppe und ihrer Geschichte gegenüber positionieren, auch wenn er oder sie eine affirmative Übernahme dieses Identitätsangebotes bewusst ablehnt19 oder möglicherweise das Gefühl hat, dieses Angebot stehe ihm oder ihr, zum Beispiel aufgrund des eigenen »Migrationshintergrundes«, gar nicht zur Verfügung. Bevor zentrale Ergebnisse der Studie dargestellt werden, sollen der theoretische Rahmen der Untersuchung umrissen und einige Anmerkungen zur Durchführung der Studie gemacht werden.
2.
Theoretischer Rahmen: Mehrebenenmodelle des Textverstehens und Schematheorie
Aus Sicht der kognitionspsychologischen Leseforschung handelt es sich beim Textverstehen keineswegs um einen einfachen Prozess der Informationsüber18 Vgl. z. B. Harald Welzer/Robert Montau/Christine Plaß: »Was wir für böse Menschen sind!« Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen. Tübingen 1997 (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord, Bd. 1); Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2002; Olaf Jensen: Geschichte machen. Strukturmerkmale des intergenerationellen Sprechens über die NS-Vergangenheit in deutschen Familien. Tübingen 2004 (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord, Bd. 9); Dan Bar-On: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern. (Orig. Hamburg 2003). 2., erweiterte Neuausgabe. Hamburg 2004. Im Osten Deutschlands ist zudem eine häufige Parallelisierung von NS-Staat und DDR zu beobachten. Vgl. Sabine Moller : Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerung an die NS-Zeit in Ostdeutschland. Tübingen 2003 (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord, Bd. 8); Nina Leonhard: Politik- und Geschichtsbewusstsein im Wandel. Die politische Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Verlauf von drei Generationen in Ostund Westdeutschland. Münster u. a. 2002 (Politik und Geschichte, Bd. 3). 19 Identitätsangebote müssen selbstverständlich nicht unbedingt affirmativ angenommen werden. Der Gruppenidentität entspricht aufseiten des Individuums die soziale Identität, deren Kern gerade darin besteht, zwischen den verschiedenen Identitätszumutungen unterschiedlicher Gruppen zu vermitteln. »Soziale Identität erlangt das Individuum durch seine in Sympathie verankerte und in Loyalität oder Solidarität sich ausdrückende Zugehörigkeit zu verschiedenen Bezugsgruppen. Es bewahrt seine soziale Identität, wenn es ihm gelingt, die mit seiner Zugehörigkeit zu verschiedenen – oft scheinbar nicht zu vereinenden – Bezugsgruppen gegebenen und ihm zugemuteten Rollen und sozialen Erwartungen zu einer Einheit integrieren zu können.«; vgl. Bergmann (Anm. 6), S. 25.
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tragung vom Text zum Leser. Vielmehr wird angenommen, dass die Leserin beziehungsweise der Leser während der Lektüre aktiv an der Erzeugung von Bedeutung beteiligt ist.20 Dabei geht der auch dem Textverstehensmodell der PISA-Studie zugrunde liegende Ansatz von Walter Kintsch und Teun van Dijk21 davon aus, dass der Leser beim Lesen, angeleitet durch den Text, in einem Konstruktionsprozess mit der Absicht der Kohärenzbildung einen Text auf verschiedenen Ebenen mental repräsentiert: Während auf der Ebene der Textoberfläche die sprachlichen Details eines Textes repräsentiert werden, handelt es sich bei der Textbasis (auch »Propositionsmodell«) um eine mentale Repräsentation der inhaltlichen Aussagen des Textes. Auf der Ebene des »Situationsmodells« schließlich fügt der Leser diese Propositionen mit seinem Vorwissensbestand zu einem Gesamtbild zusammen. W. Kintschs und T. van Dijks Modell ist anschlussfähig an kognitionspsychologische Theorien zur mentalen Organisation menschlichen Wissens. So gehen Vertreter der »Schematheorie« davon aus, dass sämtliches Wissen eines Menschen in Form kognitiver Schemata gespeichert ist. Beim Lesen wird durch den Text ein passendes mentales Schema ausgelöst. Schemata sind nicht bloßes Hintergrundwissen, sondern enthalten Anteile prozeduralen und deklarativen Wissens. Sie wirken bei der Textlektüre wie ein Filter, der nur solche Informationen passieren lässt, die sich in das aktivierte Schema einpassen lassen. Zudem generieren aktivierte Schemata Informationserwartungen. Sie lassen eine Leserin oder einen Leser also ganz gezielt nach solchen Informationen suchen, die zu dem jeweiligen Schema passen.22 Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum legen nahe, dass derartige Schemata gruppenspezifisch ausgeprägt sind, dass also die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu einer bestimmten Ausprägung mentaler Schemata führt. In diesen Studien zeigte sich eine derartige Gruppenspezifik nicht nur beim Vergleich von geografisch weit entfernten, kulturell stark unterschiedlichen Gruppen,23 sondern auch beim Vergleich verschiedener Subkulturen innerhalb einer Gesellschaft.24 20 Vgl. z. B. Schnotz (Anm. 8), S. 774. 21 Vgl. z. B. Walter Kintsch: Lernen aus Texten. In: Joachim Hoffmann/Walter Kintsch (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie I: Kognition. Bd. 7: Lernen. Göttingen u. a. 1996, S. 503 – 528; Walter Kintsch/Teun A. van Dijk: Toward a Model of Text Comprehension and Production. In: Psychological Review 85 (1978), S. 363 – 394. 22 Vgl. David E. Rumelhart: Schemata and the Cognitive System. In: Robert S. Wyer/Thomas K. Srull (Hrsg.): Handbook of Social Cognition. Hillsdale (NJ) 1984, S. 161 – 188; Wolfgang Schnotz: Aufbau von Wissensstrukturen. Untersuchungen zur Kohärenzbildung beim Wissenserwerb mit Texten. Weinheim 1994 (Fortschritte der psychologischen Forschung, Bd. 20), S. 61 – 93. 23 Vgl. Margaret S. Steffensen/Chitra Joag-Dev/Richard C. Anderson: A Cross-Cultural Perspective on Reading Comprehension. In: Reading Research Quarterly 15 (1979), S. 10 – 29.
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Der aufmerksamkeitssteuernden Funktion kognitiver Schemata ähnelt auf geschichtsdidaktischer Seite eine Eigenschaft historischer Werturteile: Es wird angenommen, dass bei der Beschäftigung mit einem historischen Sachverhalt ein unreflektiertes Werturteil ausgelöst wird, das sich auf die weitere Wahrnehmung dieses Sachverhaltes auswirken kann. Dieses reflexartige, unreflektierte Werturteil hatte Karl-Ernst Jeismann bereits in seiner ursprünglichen Konzeption der geschichtsdidaktischen Zentralkategorie »Geschichtsbewusstsein« berücksichtigt.25 Ein bereits zuvor erworbenes Werturteil steuert demnach in K.-E. Jeismanns Konzeption die Wahrnehmung des zu verhandelnden Sachverhaltes.26 Die Möglichkeit, neues Wissen aus Texten zu entnehmen, stößt daher möglicherweise dort an Grenzen, wo Textinhalte vorhandenen Werturteilen widersprechen.
3.
Methodisches Setting
Diese theoretischen Überlegungen wurden in eine Studie überführt, die einen möglichen Zusammenhang des Textverstehens mit den zentralen geschichtsdidaktischen Kategorien »Historische Orientierung« und »Identität« untersuchte. 272 Schülerinnen und Schüler 10. Klassen nordrhein-westfälischer Gesamtschulen bearbeiteten einen Fragebogen, der fachspezifische und fachunspezifische potenzielle Einflussgrößen, wie themenspezifisches Vorwissen, Lesemotivation, das Interesse an Geschichte sowie themenbezogene Einstellungen auf Werturteilsebene, erfragte. Eine quantitative Analyse der Fragebögen ermöglichte es, das Sample zu strukturieren und 50 Teilnehmer für qualitative Interviews auszuwählen. Diese Jugendlichen lasen einen für diese Studie verfassten Experimentaltext, der die in der Forschung identifizierten apologetischen Werturteile in verdichteter Form präsentiert. Durch eine Fokussierung auf Adolf Hitler als alleinigen Akteur des Holocaust, durch Verschleierung von 24 Vgl. Ralph E. Reynolds u. a.: Cultural Schemata and Reading Comprehension. In: Reading Research Quarterly 17 (1982), S. 353 – 366. 25 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte: Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts. In: Günter C. Behrmann/Karl-Ernst Jeismann/Hans Süssmuth: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978 (Geschichte, Politik. Studien zur Didaktik, Bd. 1), S. 50 – 107, hier S. 59. 26 Empirische Hinweise auf diesen postulierten Zusammenhang lieferten bereits Ludwig von Friedeburg und Peter Hübner bei ihrer Analyse des »Geschichtsbildes der Jugend«: »Das wertende Urteil ist so nicht das Ergebnis historischer Erkenntnis, sondern sowohl Form als auch Inhalt des Geschichtsbildes sind das Ergebnis der Intentionalität des wertenden Urteils, das sich in diesem Geschichtsbild bloß seiner scheinbaren rationalen Begründung versichert.« Vgl. Ludwig von Friedeburg/Peter Hübner: Das Geschichtsbild der Jugend. München 1964 (Überblick zur wissenschaftlichen Jugendkunde, Bd. 7), S. 17.
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Täterschaft mittels Verwendung passivischer Formulierungen sowie durch die Darstellung der nicht jüdischen deutschen Mehrheitsbevölkerung als erstes Opfer des Nationalsozialismus lädt dieser Text zur exkulpierenden Identifikation mit dieser Gruppe ein. Als Kontrast diente ein Auszug aus dem Vorwort zu Daniel Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker«.27 Dieser von der Fachwissenschaft scharf kritisierte Text wurde gewählt, da er eine Gegenposition zu apologetischen Schemata in Form eines pointierten Urteils präsentiert. D. Goldhagen sieht die Hauptursache für den Holocaust in einem bereits vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten in der deutschen Bevölkerung tief verwurzelten Antisemitismus. Die Interviewtranskripte wurden sowohl qualitativ als auch quantitativ analysiert.
4.
Ergebnisse: Identitätsbestätigung durch Bedeutungskonstruktion
Im Folgenden sollen zentrale Befunde der qualitativen Analyse der Interviewtranskripte dargestellt werden. Die Transkripte demonstrieren, dass es sich beim Textverstehen um einen hoch individuellen Konstruktionsprozess handelt. Das Verständnis vom Inhalt der Texte, das die Jugendlichen bei der Lektüre erwarben, war von einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren abhängig, von denen zwei besonders deutliche Wirkung zeigten: Es handelt sich dabei einerseits um die Frage, wie stark sich die Jugendlichen bei der Lektüre mit der in den Texten diskutierten nicht jüdischen deutschen Bevölkerung identifizierten, sowie andererseits um bereits vor der Lektüre vorhandene Werturteile zu Nationalsozialismus und Holocaust. Das Textverstehen im Geschichtsunterricht stellte sich im vorliegenden Sample somit als ein eminent domänenspezifischer Prozess dar, bei dem für die Domäne »Geschichte« spezifische Identifikationsprozesse, Wissensbestände, Fertigkeiten und (Wert-)Urteile interagierten. Das Zusammenspiel der beiden Faktoren »Identifikation« und »(unreflektiertes) Werturteil« führte bei zahlreichen Schülerinnen und Schülern dazu, dass sie ein Verständnis beider Texte konstruierten, welches als Bestätigung der durch die Lektüre aktivierten Identitätskonstrukte fungieren konnte. Bei der Analyse kristallisierten sich vier Muster der Identitätsbestätigung durch den Text heraus, die sich in analytischer Hinsicht trennen lassen, die allerdings im Einzelfall oft miteinander verwoben waren und einander nicht selten gegenseitig bestärkten: 27 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1998, S. 8, S. 22.
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1. Identitätsbestätigung durch Dichotomisierung: Eine Abgrenzung von »Deutschen« und »Nazis« ermöglichte es den Schülern, die Verantwortung für den Holocaust allein den »Nazis« anzulasten, selbst wenn der Text eine derartige Deutung explizit verneinte. Eine weitere häufig anzutreffende Dichotomisierung manifestierte sich in der Abgrenzung von »Deutschen« und »Juden«, die bei einigen Jugendlichen mit der Zuweisung einer Teilschuld an die »Juden« einherging. 2. Identitätsbestätigung durch Anwendung prozeduralen Wissens: Prozedurales Wissen führte häufig nicht zu einer kritischeren Lesehaltung. Ausgehend von der Kenntnis, dass historische Darstellungen vom Standpunkt des Autors beeinflusst werden können, identifizierten einige Jugendliche vielmehr D. Goldhagens jüdische Herkunft und wiesen seine potenziell identitätsdestabilisierende Argumentation pauschal als »parteiisch« zurück. Diesen Jugendlichen gelang es zwar, D. Goldhagens These einer Mitverantwortung der nicht jüdischen Mehrheitsbevölkerung im Text zu erkennen, aber nur, indem sie diese Position sogleich zurückwiesen. 3. Identitätsbestätigung durch Personalisierung: Vor der Lektüre vorhandene personalisierende Vorstellungen zum Nationalsozialismus führten bei denjenigen Jugendlichen, die im Text Bezüge zu ihrer nationalen und/oder ihrer familiären Identität fanden, zu einem Verständnis beider Texte, welches Adolf Hitler als alleinigen Verantwortlichen des Holocaust ausmachte. Jugendliche ohne derartige Identitätsbezüge dagegen konnten ihr personalisierendes NS-Bild durch die Textinformationen differenzieren. 4. Identitätsbalance bei widersprüchlichen Identitätsbezügen: Dieses Muster soll im folgenden Fallbeispiel anhand des Schülers Finlay exemplarisch erläutert werden.
5.
Fallbeispiel: Identitätsbalance bei widersprüchlichen Identitätsbezügen – Finlay
Finlays Vater stammt aus Schottland, er selber wurde, genau wie seine Mutter, in Deutschland geboren. Finlay fühlt sich, wie der Fragebogen zeigt, trotzdem vor allem als Schotte, schottlandbezogene Identitätsangebote wie Muttersprache und kulturelle Herkunft sind ihm sehr wichtig. Finlays Werturteile zum Nationalsozialismus fallen ambivalent aus. So glaubt er, wie zahlreiche andere Jugendliche im Sample, an einen Unterschied von »Nazis« und »Deutschen«. Während er davon ausgeht, dass die meisten Deutschen keineswegs mit dem Programm und der Ideologie der Nationalsozialisten
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übereinstimmten und er zudem davon überzeugt ist, »die Nazis« hätten »die Deutschen« betrogen, so ist er doch der Ansicht, man habe vom Holocaust gewusst, allerdings nicht gehandelt, und habe dadurch eine Mitverantwortung auf sich geladen. Ganz ähnlich verhält es sich bei Finlays Einschätzung der Ursachen der Shoah, die er zu Beginn des Interviews präsentiert. Auch hier schwankt er zwischen stereotypen Klischees und Kritik. Interviewer : Finlay : Finlay : Interviewer : Finlay :
»Ja. Genau. Wer wurde da verfolgt?« »Die Juden.« »Ja, weil, ääh, Arbeitsplätze von den Deutschen weggenommen hat.« »Hmmh.« »Weil die (.) ’ne andere Kultur da hatten.« (S4K1F, 11 – 16)
Ohne die beiden vermeintlichen Ursachen gegeneinander abzuwägen – oder auch nur zum Ausdruck zu bringen, dass es sich um zwei verschiedene Ursachen handelt, die zunächst nichts miteinander zu tun haben – präsentiert Finlay hier einerseits das im Sample extrem dominante, nach Argumenten heutiger fremdenfeindlicher Parolen modellierte Argument, Juden hätten nicht jüdischen Deutschen die Arbeitsplätze weggenommen, und andererseits die Aussage, Juden seien verfolgt worden, da sie eine andere Kultur gehabt hätten. Die Gleichzeitigkeit und Unverbundenheit der beiden durch Finlay vorgebrachten Ursachen erklärt sich möglicherweise daraus, dass er diese beiden Ursachen unterschiedlichen Informationsquellen entnommen hat. Auch wenn er sich nicht als Teil der Wir-Gruppe der Deutschen sieht, so wurde Finlay doch in Deutschland geschichtskulturell sozialisiert. Gängige Klischees werden ihm also aus dem Alltag, aus TV-Dokumentationen, vielleicht auch aus dem Internet, wo er sich historisch informiert, vertraut sein. Gleichzeitig begegnet er im Unterricht, möglicherweise auch in Medien der außerschulischen Geschichtskultur, anderen Ursachenzuschreibungen. Die Tatsache, dass Finlay hier zwei so verschiedene Erklärungen gleichranging und unvermittelt präsentiert, lässt vermuten, dass er für sich noch keine Möglichkeit gefunden hat, die verschiedenen Ursachenzuschreibungen zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Nach der Lektüre kann Finlay zentrale Punkte der Argumentation D. Goldhagens korrekt wiedergeben (S4K1F, 84 – 100). Er stellt zudem heraus, dass D. Goldhagen in der Freiwilligkeit, mit der zahlreiche Deutsche am Holocaust mitgewirkt hätten, einen zentralen Beleg für die ideologische Übereinstimmung von »Volk« und »Führer« sieht (S4K1F, 166 – 176). Auch den apologetischen Argumentationsgang des zweiten, speziell für diese Studie verfassten Textes, gibt er nach der Lektüre angemessen wieder (S4K1F, 104 – 130).
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Trotz der weitgehend zutreffenden mentalen Modelle, die Finlay für beide Texte entwickelt hat, kann er allerdings keinen fundamentalen Unterschied in der Position der Texte erkennen. Stattdessen kommt er zu einer typisch personalisierenden Bewertung: Finlay : (2) »Jaa, ich –, ich würd’ sagen, die haben beide die gleiche Richtung.« Interviewer : »Hmmh.« Finlay : »Die Texte gehen beide Hitler und, äh, was der gemacht hat.« (S4K1F, 134 – 136) Interviewer : »Hmmh. Wenn Du jetzt diese beiden Texte, mmm, nebeneinander legen würdest, ähm, wer ist in den beiden Texten jeweils schuld am Holocaust, an der Judenverfolgung? Wer trägt da die Verantwortung?« Finlay : »Adolf Hitler.« Interviewer : Hmmh. Finlay : »Unnnd (.) die Leute, die da mitgemacht haben, die Leute da umzubringen.« Interviewer : »Hmmh. Würdest Du sagen, dass diese Frage, wer Schuld hat, dass die in beiden Texten gleich beantwortet wird, oder sind da Unterschiede?« Finlay : »Na, ich glaube, in den einen Text wird mehr beschr-, äh, mehr (1) beschrieben als im anderen Text.« Interviewer : »Was wird mehr beschrieben?« Finlay : »Ääh, wer Grund hat.« Interviewer : »Hmmh.« Finlay : »Ääh, wer die Schuld, äh, hat, wegen den, wegen der Verfolgung.« Interviewer : »Hmmh. Und war das der erste oder der zweite Text? (2) Wo das mehr beschrieben wird?« Finlay : »Ja, für mich war deer (.) mit den drei Gründen (.)« Interviewer : »Hmmh.« Finlay : »Am meisten, äh, – .« (S4K1F, 193 – 211)
Die grundlegend unterschiedlichen Positionen der zwei Texte kann Finlay hier nicht erkennen. Zwar ist ihm bewusst, dass D. Goldhagens Beurteilung der Verantwortung differenzierter ausfällt als die des anderen Textes, schließlich entnimmt er allerdings auch D. Goldhagens Darstellung eine Hauptverantwortung Hitlers. Als Mitverantwortliche sieht er schließlich nicht die gesamte Bevölkerung, sondern »[…] die Leute, die da mitgemacht haben, die Leute da umzubringen.« Angesichts seines detaillierten Modells der Argumentation D. Goldhagens verwundert dieses Fazit ein wenig. Möglicherweise spielen auch hier wieder, wie bei der Einschätzung der Hintergründe der Shoah, einander widerstrebende, auf unterschiedliche Quellen zurückgehende Werturteilsschemata eine Rolle: Einerseits hat Finlay kein Interesse daran, sich mit der nicht jüdischen Bevölkerung zu identifizieren und diese deshalb in identitätsstabilisierender Absicht zu exkulpieren. Er hat deswegen keine Mühe, nicht apologetische Aussagen im Text zu erkennen und mental zu repräsentieren. Andererseits
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ist ihm der personalisierende Ansatz der »Hitlerisierung«28 aus seinem geschichtskulturellen Umfeld bekannt, er hat diesen im Laufe seiner geschichtskulturellen Sozialisation internalisiert, auch wenn er ihn nicht mit seiner sozialen Identität verknüpft hat. Ihm fehlt jedoch das methodische Rüstzeug, um mit der Tatsache, dass zwei Texte zum gleichen historischen Sachverhalt unterschiedliche Positionen vertreten können, umgehen zu können. Angesichts dieses Konfliktes, möglicherweise auch als Methodeneffekt der Interviewsituation, entscheidet er sich schließlich für die kognitiv weniger anspruchsvolle Bewertung der Personalisierung. Derselbe Konflikt zeigt sich an einer weiteren Stelle in Finlays Transkript. Auf die Frage, ob die nicht jüdische Bevölkerung in D. Goldhagens Text vom Holocaust wusste, antwortet er : »Ja, die, äh, (3) die wu –, äh, wussten davon, aber die haben sich nicht getraut, was zu sagen, weil die (.)« Interviewer : Hmmh. Finlay : »wären dann auch, (.) hätten auch Ärger bekommen.« (S4K1F, 144 – 147)
Finlay :
Obwohl Finlay bereits erwähnt hat, dass D. Goldhagen einem großen Teil der nicht jüdischen deutschen Bevölkerung eine ideologische Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Führung attestiert, nennt er hier nicht diese Übereinstimmung als Ursache des ausbleibenden Widerstandes, sondern vielmehr die Angst, selber verfolgt zu werden. Schon die Tatsache, dass er überhaupt eine derartige Rechtfertigung anführt, ist bemerkenswert. Er wurde lediglich gefragt, ob die Bevölkerung vom Holocaust wusste, nicht, warum sie nichts dagegen unternahm. Die Tatsache, dass Finlay diese Rechtfertigung an dieser Stelle ungefragt vorbringt, erklärt sich möglicherweise daraus, dass er ein feines Gespür für die mit dem Nationalsozialismus und der Shoah verbundenen moralischen und ethischen Fragen entwickelt hat. Er weiß, dass die Frage, warum niemand eingegriffen hat, bei der Diskussion der Shoah stets auftaucht. Die Angst der Bevölkerung, selbst zum Opfer zu werden, ist Finlay eventuell im Unterricht oder einem anderen Zusammenhang als sozial erwünschte Antwort begegnet. Im Interview bringt er nun diese Facette des Themas ein, da er gängige Frageroutinen verinnerlicht hat und erwartet, dass das Gespräch auf diese Frage zulaufen wird. Er entspricht damit zudem dem im gesamten Sample sehr weit verbreiteten Trend, die gelesenen Texte nicht in der Tiefe zu diskutieren, sondern sie als Ausgangspunkt für generelle Reflektionen über Nationalsozialismus und Holocaust zu nutzen. Es ist freilich nicht auszuschließen, dass diese Tendenz ein Effekt der Erhebungsmethode ist. 28 Zülsdorf-Kersting (Anm. 17), S. 107.
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6.
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Fazit
Viola B. Georgi vertritt in ihrer Dissertation die These, die Vergangenheitsbezüge junger Deutscher »mit Migrationshintergrund« leiteten sich vor allem aus ihrer Selbstverortung in der heutigen deutschen Gesellschaft ab. So identifiziert sie bei denjenigen Jugendlichen »mit Migrationshintergrund«, die apologetische Werturteilsschemata zum Nationalsozialismus aufweisen, ein starkes Bedürfnis, zur deutschen Gesellschaft dazuzugehören.29 Wie Finlays Fall zeigt, müssen die Übernahme gängiger Klischees und das Bedürfnis, dazuzugehören, nicht unbedingt Hand in Hand gehen. Vielmehr scheinen Finlays Werturteile zum Nationalsozialismus und sein daraus resultierendes Textverständnis eine Art Mischprodukt zu sein, eine Zwischenstufe eines noch nicht abgeschlossenen Aushandelns verschiedener, einander widerstrebender Identitätszumutungen. Die durch Finlay vertretenen Werturteile ergeben kein kohärentes Gesamtbild, vielmehr zeigen sich sowohl Elemente der Abgrenzung vom Volk der Täter als auch Elemente der Apologie dieser Gruppe. Beide nehmen dabei Einfluss auf sein Textverstehen. Finlay zeigt damit exemplarisch auf, dass eine rein kognitive Modellierung historischen Textverstehens zu kurz greift. Das Verständnis historischer Darstellungstexte ist offenbar kein Ergebnis bloß rationaler Informationsentnahme, sondern vielmehr ein domänenspezifisches Produkt individueller Bedeutungskonstruktion. Bei der Erstellung des mentalen Modells vom Textinhalt spielten die Lernvoraussetzungen der Jugendlichen, ihre historischen Orientierungsund Identifikationsbedürfnisse, eine entscheidende Rolle. Zusammen mit möglicherweise im Laufe der geschichtskulturellen Sozialisation erworbenen, themengebundenen Werturteilen verdichteten sich diese zu vier unterschiedlichen, jedoch häufig miteinander interagierenden Mustern der Identitätsbestätigung durch Bedeutungskonstruktion. Diese Muster stellten sich dar als eine Mischung aus selektiver Textwahrnehmung, dem interessegeleiteten Einbringen prozeduralen Wissens und werturteilsabhängigen Deutungen.
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