Neue Studien zur Rechtslinguistik: Dem Gedenken an Bernd Jeand'Heur [1 ed.] 9783428503117, 9783428103119

Die Studien dieses Bandes sind aus der "Heidelberger Arbeitsgruppe der Rechtslinguistik" hervorgegangen. In di

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German Pages 257 Year 2001

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Neue Studien zur Rechtslinguistik: Dem Gedenken an Bernd Jeand'Heur [1 ed.]
 9783428503117, 9783428103119

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FRIEDRICH M Ü L L E R / RAINER W I M M E R (Hrsg.)

Neue Studien zur Rechtslinguistik

Schriften zur Rechtstheorie Heft 202

Neue Studien zur Rechtslinguistik Dem Gedenken an Bernd Jeand'Heur

Herausgegeben von

Friedrich Müller Rainer Wimmer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Neue Studien zur Rechtslinguistik : dem Gedenken an Bernd Jeand'Heur / Hrsg.: Friedrich Müller ; Rainer Wimmer. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 202) ISBN 3-428-10311-4

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10311-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Vorwort Nach „Untersuchungen zur Rechtslinguistik'4 (Berlin 1989), das gut aufgenommen wurde und seinen Platz in der Diskussion gefunden hat, sowie „Sprache und Recht" (Sonderband von „Sprache und Literatur' 4, Paderborn/München 1998) ist das vorliegende Buch die dritte gemeinsame Arbeit der Heidelberger Gruppe. Deren Mannigfaltigkeit nach Position, Vorgehensweisen und Temperament ihrer einzelnen Mitglieder hat sich während dieses Jahrzehnts - abgesehen von zahlreichen Beiträgen zu deutschen und ausländischen Zeitschriften und Sammelbänden - auch in einer Reihe von Monografien 1 ausgedrückt, die auf verschiedenen Wegen das weite Terrain einer Linguistik des Rechts erkunden. Der Ausdruck „Rechtslinguistik" war zuerst im Kreis des „Darmstädter Programms" seit 1970 in den Mittelpunkt gerückt. Dass diese Gruppe ihre Tätigkeit schon 1974 einstellte, ist verschiedentlich als ein nicht zufälliges Scheitern verstanden worden. In der Tat fielen ihr bewusster Formalismus und ihr Festhalten am überlieferten Positivismus (Logischer Positivismus, Subsumtionsmodell der Rechts„anwendung", Wortsemantik) nicht nur hinter differenziertere Ansätze der alten Hermeneutik und der Hamann-Herder-Wilhelm von Humboldt-Tradition zurück, sondern noch mehr gegenüber den Einsichten der Spätphilosophie Wittgensteins und der neueren Sprachwissenschaft und -philosophie des letzten Jahrhundertdrittels seit dem pragmatic turn. Im Sinn dieser jüngeren Entwicklung gibt es 1 Dietrich Busse, Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992; der s., Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, 1992; ders., Juristische Semantik. Grundfragen einer juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, 1993; Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989; dersJHans Kudlich, Theorie der gerichtlichen Begründung (in Vorbereitung); Birgit Feldner, Die Einrichtung verstärkter Senate beim OGH (in Vorbereitung); diesJNikolaus Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung. Prolegomena zu einer Theorie des Falls, 2000; Nikolaus Forgó , Recht sprechen. Zur Theorie der Sprachlichkeit des Rechts (in Vorbereitung); Bernd Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989; Olivier Jouanjan (Hrsg.), La question de Linguistique dans la Théorie Structurante du Droit (in Vorbereitung); Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., 1994; ders., Juristische Methodik, 7. Aufl., 1997; ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997; ders./R. Christensen/ M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997; Dennis Patterson , Law and Truth, 1996; dt. Recht und Wahrheit, 1999; ThomasM. Seibert, Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts, 1996; Alexander Somek, Rechtssystem und Republik. Über die politische Funktion des systematischen Rechtsdenkens, 1992; ders., Der Gegenstand der Rechtserkenntnis. Epitaph eines juristischen Problems, 1996; ders./Nikolaus Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken. Inhalt und Form des positiven Rechts, 1996.

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Vorwort

daher seit Mitte der 80er Jahre einen Neuanfang in Gestalt der „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik". Zu ihr gehören Forscher und Lehrer aus der Sprach- und der Rechtswissenschaft sowie Praktiker aus verschiedenen Bereichen. Ihre Arbeit geht linguistisch von der „Praktischen Semantik" aus, juristisch von der Strukturierenden Rechtslehre. Sie fasst das, was Richter und andere Juristen sprechen und schreiben (ζ. B. Urteile), nicht als bloße Äußerung „objektiver" und fixierbarer Sach- und Sprachstrukturen auf. Sie erfasst es vielmehr als Handeln: als reales, zu verantwortendes Handeln von (amtlich dazu bestellten) Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die „Konkretisierung" im Sinn einer Konstruktion der Rechtsnorm steht immer in einem Umfeld politischer, ökonomischer, sozialer Vorgaben; und sie alle sind durch Sprache vermittelt. Das nicht ernst genommen zu haben, war einer der Geburtsfehler des pseudo-naturwissenschaftlich agierenden traditionellen Gesetzespositivismus. Dagegen erschließen sich die intrinsischen Wechselwirkungen zwischen „Sollen" und „Sein", zwischen Sprache und Recht einer nachpositivistischen Rechtstheorie ebenso wie der avancierten Praktischen Semantik: „Rechtslinguistik" nicht als Addition selbstgenügsamer Disziplinen, sondern als Ort, wo beide sich grundsätzlich in Frage stellen lassen; Ansatz bei der Praxis des Sprechens in einer natürlichen Sprache ebenso wie bei jener des alltäglichen juristischen Entscheidens. Dem entspricht der induktive Ansatz: sowohl die Strukturierende Rechtslehre als auch die ihr zugehörige „Juristische Methodik" wurden aus ungezählten praktischen Fällen der Rechtsprechung analytisch entwickelt, erst nachträglich systematisiert und - gemäßigt - als Theorie abstrahiert. Die - durchweg unveröffentlichten - Beiträge dieses Bandes setzen dies in intensive Studien zu vor allem strafrechtlichen, verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Fällen um, in denen die praktische Rechtsprechung im Zentrum steht - der Ort, an dem Recht „gesprochen", das heißt zur verbindlichen Sprache wird, zum Text der fallentscheidenden Rechtsnorm im Ausgang von den Normtexten der „Gesetzbücher und in ihren (zu erarbeitenden) Grenzen. Schon bald nach Beginn der Vorbereitung dieses Bandes, an der er sich engagiert wie immer beteiligt hatte2, ist Bernd Jeand'Heur, kurz nach seinem 41. Geburtstag, am 15. Februar 1997 jäh einer tückischen Krankheit erlegen. Er hatte zu den sechs Gründern der Arbeitsgruppe gehört. Heute zählt sie viermal so viele Teilnehmer, aber seine menschliche Gegenwart wie die Texte, die von ihm nun nicht mehr geschrieben sein können, werden uns wie auch den aufmerksameren Mitgliedern der scientific community für immer fehlen. Dem Gedenken an Bernd Jeand'Heur ist dieses Buch gewidmet. Heidelberg, im Dezember 2000

Friedrich

Müller

2 Seine Arbeiten zur Linguistik des Rechts sind enthalten im Schriftenverzeichnis Bernd Jeand'Heur, in: W. Erbguth/F. Müller/V. Neumann (Hrsg.), Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur, 1999, S.441 ff.

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Theorie und Praxis Friedrich

Müller

Textarbeit, Rechtsarbeit. Zur Frage der Linguistik in der Strukturierenden Rechtslehre

11

Walter Grasnick Entscheidungsgründe als Textcollage

27

Dietrich Busse Semantik der Praktiker: Sprache, Bedeutungsexplikation und Textauslegung in der Sicht von Richtern

45

Teil 2 Praxis und Theorie Ekkehard Felder Sprachliche Argumente in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als fachdomänenspezifische und allgemeine Sprachgebrauchstopoi Wolfgang Buerstedde/Ralph

Christensen/Michael

85

Sokolowski

Leaving Babel. Die Aufgabe des Übersetzens als Chance für die Arbeit des EuGH ... 119 Philipp Knorr Die „Unbestimmtheit" von Verfassungsnormen und ihre Kontrolldichte - erläutert am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 II GG a. F.... 173 Ralph Christensen/Michael

Sokolowski

Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung

203

Thomas-M. Seibert Entfaltung des Zeichenlosen oder: Wie das Gericht mit tödlicher Gewalt umgeht

235

Teil 1

Theorie und Praxis

Textarbeit, Rechtsarbeit Zur Frage der Linguistik in der Strukturierenden Rechtslehre* Von Friedrich Müller I. Strukturierende Rechtslehre und moderne Linguistik Vorläufiges zu ihrem Verhältnis Die Strukturierende Rechtslehre macht - objektiv gesehen - linguistische Voraussetzungen; und sie hat bereits Wirkungen auf die Forschung in der Linguistik. Auf beides möchte ich eingangs hinweisen. Warum sagte ich bei den Voraussetzungen „objektiv"? Weil sie mir lange Zeit hindurch nicht bewußt waren. Die Einsichten der neueren und heute führenden Sprachtheorie seit dem „Pragmatic turn" und der Sprechakttheorie habe ich, biographisch gesehen, erst nachträglich rezipiert; d. h. erst nachdem meine Konzepte ausgearbeitet und publiziert waren. Es gibt also keine Einwirkung, noch weniger eine Wechselwirkung, während der Genese der Strukturierenden Rechtslehre. Umso bemerkenswerter sind wichtige Parallelen in der Sache. An diesen arbeiten seit etwas über einem Jahrzehnt die linguistischen und juristischen Teilnehmer der in der Literatur so genannten „Heidelberger Gruppe". Die Strukturierende Rechtslehre ist dezidiert ein work in progress ; und diese nicht dem Etikett, sondern der Sache nach interdisziplinäre Zusammenarbeit entspricht sehr gut ihrem Ansatz: bei der tatsächlichen Praxis nachzuschauen und induktiv vorzugehen. Juristen arbeiten unausweichlich nicht nur mit, sondern in Sprache. Die Jurisprudenz ist eine unverzichtbare gesellschaftliche Praxis. Daneben will sie auch eine wissenschaftliche Disziplin auf dem heutigen Stand der Humanwissenschaften sein. Um dies einlösen zu können, hat sie sich in die im engeren Sinn fachlichen Forschungen in bezug auf Sprache einzuschalten. Der Ausdruck „Rechtslinguistik" fiel dabei erstmals im Kreis des „Darmstädter Programms" seit 1970. Diese Arbeitsgruppe stellte aber ihre Tätigkeit schon 1974 ein. Sie scheiterte nach verbreitetem Eindruck am Formalismus ihres Ansatzes (Logischer Positivismus, Generative Transformationsgrammatik); ferner an ihrer Unfä* Deutsche Version des Vortrags „Travail de textes, travail du droit", der am 11.12.1999 vor dem Centre de Théorie et de Méthodologie Juridiques der Universität Strasbourg gehalten wurde. - Die Vortragsform blieb unverändert.

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Friedrich Müller

higkeit, vom altüberlieferten Positivismus loszukommen - ausgedrückt z.B. in ihrer Beschränkung auf Wörfsemantik und, in der Rechts„anwendung", auf das Subsumtionsmodell. Nicht zuletzt gegen die neuere Hermeneutik haben Anhänger des alten (positivistischen) Paradigmas ohnehin alle Reserven mobilisiert, die sie in der Sprachtheorie vor dem Pragmatic Turn zu finden meinen. Das Ziel ist, sich ihr dem 19. Jahrhundert in Treue verpflichtetes Glaubensbekenntnis bestätigen zu lassen: feste Wortbedeutungen, objektiver Textsinn, ein-eindeutige Beziehung zwischen Wort und Sache (Signifikant und Signifikat); zumindest aber die sogenannte AutorIntention, die empirisch exakt feststellbar sein soll. Solcher Objektivismus fällt hinter die differenziertere Sicht der alten Hamann-Herder-Wilhelm von Humboldt-Tradition und der alten Hermeneutik im Sinn von Schleiermacher zurück; und umso weiter hinter die Erkenntnisse der Spätphilosophie Wittgensteins und dann der neueren Sprachwissenschaft und -philosophie des letzten Jahrhundertdrittels. Das Anstreben objektiven Textsinns, „dieses Vertrauen in die Verläßlichkeit unserer Sprache und in die Objektivierbarkeit von Interpretationsergebnissen (bzw.,Bedeutungsfeststellungen')" hat für den heutigen Stand der Linguistik „etwas Rührendes" (Dietrich Busse, Juristische Semantik, 1993, S.226). Seit Mitte der 80er Jahre gibt es daher einen Neuanfang in Gestalt der „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik". Zu ihr gehören Forscher und Lehrer aus der Sprach- und der Rechtswissenschaft sowie Praktiker aus verschiedenen Bereichen. Ihre Arbeit geht linguistisch von der Praktischen Semantik aus, juristisch von der Strukturierenden Rechtslehre. Sie faßt das, was Richter und andere Juristen sprechen und schreiben (ζ. B. Urteile), nicht als bloße Äußerung „objektiver" und fixierbarer Sach- und Sprachstrukturen auf. Sie behandelt es vielmehr als Handeln: als reales, zu verantwortendes Handeln von (amtlich dazu bestellten) Menschen in konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen; wie seit Wittgenstein Sprache im Kontext von Lebensformen gesehen wird. Die „Anwendung des Gesetzes", moderner gesagt die „Konkretisierung der Rechtsnorm", steht immer in einem Umfeld politischer, ökonomischer, sozialer Vorgaben; und sie alle sind durch Sprache vermittelt. Das nicht gesehen zu haben, war einer der Geburtsfehler des (pseudo-naturwissenschaftlich agierenden) traditionellen Gesetzespositivismus. Dagegen erschließen sich die intrinsischen Wechselwirkungen zwischen „Sollen" und „Sein", zwischen Sprache und Recht einer nach-positivistischen Rechtstheorie ebenso wie der avancierten Praktischen Semantik: „Rechtslinguistik" nicht als Addition selbstgenügsamer Disziplinen, sondern als Ort, wo beide sich grundlegend in Frage stellen lassen; Ansatz bei der Praxis des Sprechens in einer natürlichen Sprache ebenso wie bei jener des alltäglichen juristischen Entscheidens. Auch dieses ist weit von einem eindeutigen Algorithmus entfernt; Rechtssprache ist nichts weiter als eine durch Fachtermini angereicherte natürliche Sprache auf der Basis von deren durchgängiger Polysemie. Eine weitere Analogie bildet der handlungstheoretische Ansatz: sprachliche Regeln werden nicht etwa abstrakt (ζ. B. in einer Grammatik) vorgefunden und dann in der Praxis „angewandt", sondern in der Praxis des Sprechens kreiert - und die Rechtsnorm steht gemäß der strukturierenden Theorie nicht im Gesetzbuch, sie

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wird vom Juristen im methodischen Vorgang der Lösung seines Streitfalls erst kreativ erzeugt. Dieser grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Norm und Normtext entspricht in der Praktischen Semantik die von Regel und Regelformulierung, bzw. jene zwischen Text und Textformular. Anders gesagt: Sprechen wie auch juristisches Entscheiden, Spracharbeit wie Rechtsarbeit sind nicht formal objektivierbare „Anwendung" vorgegebener sprachlicher bzw. rechtlicher Regeln. Sie sind vielmehr produktive Vorgänge in Orientierung an früheren Regelformulierungen bzw. Normtexten; die konkret wirksame Sprachregel wie die konkret bestimmende Rechtsnorm werden im Verlauf dieses Handelns erst als solche geschaffen. Alles andere würde - ob uns das gefällt oder nicht - die Leistungsfähigkeit der natürlichen Sprache ganz einfach überfordern. Diese chronische Überforderung ist der Preis für die positivistischen Lebenslügen der Tradition. Das strukturierende Paradigma räumt dagegen zunächst mit deren Illusionen auf; danach macht es neue Wege frei. Dem entspricht der Ansatz bei der alltäglichen Praxis wie der induktive Ansatz: sowohl die Strukturierende Rechtslehre als auch die ihr zugehörige „Juristische Methodik" wurden aus ungezählten praktischen Fällen der Rechtsprechung analytisch entwikkelt, erst nachträglich systematisiert und - gemäßigt - als Theorie abstrahiert. II. „Gesetz - Auslegung - Anwendung" und der Weg zu einem neuen Paradigma Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem seit Auguste Comte, begannen die Humanwissenschaften, quasi-naturwissenschaftliche Präzision und Objektivität anzustreben. Und der Gesetzespositivismus redet seitdem, als bewege sich das Recht im Rahmen eines Algorithmus und nicht im Raum natürlicher Sprache. So meinte man, die Kodifikationen stünden voller Normen; essenziell anwendungsfähig, dem Rechtsfall nur noch gemäß seiner Kontingenz anzupassen. Dabei stehen dort erst Textformulare, erst Normtexte; also (noch nicht normative) Vorformen dessen, was den Fall dann erst konkret regeln kann. Dies - der Leitsatz, der Text des rechtlichen Kerns der Entscheidung - kann überhaupt erst angesichts der Herausforderung durch den Konfliktfall entwickelt werden. Der reale Fall verlangt - wegen des Streits der Beteiligten - nach einer Lösung. Diese kann es nicht schon vor ihm, ante casum, geben; und es erweist sich als sinnvoll, erst diese Lösung, weil sie verbindlich und spürbar wird, als „Norm" zu bezeichnen. Erarbeitet wird diese im Vorgang der „Konkretisierung". Der Name kommt von folgendem Faktum: im Verlauf der Arbeit werden die verwendeten Argumente immer konkreter, den Fall immer genauer betreffend - bis die Lösung (die Rechtsnorm) ihn abschließend regelt. Die Eingangsdaten dieses Vorgangs sind der Fall mit seinen individuellen (Fallerzählung Sachverhalt) Fakten und seinen generellen Tatsachen (Sachbereich = die Fakten, die „typischerweise in einem solchen Fall eine Rolle spielen") und die Normtexte. Die Mittel der Arbeit sind die Argumentformen der jeweiligen Rechtskultur: die von juristischer Methodologie zu elaborierenden Figuren wie grammatische, historische, genetische, wie systematische, dogmatische, theoretische und

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Friedrich Müller

rechtspolitische Elemente; zu den zuletzt genannten gehören auch Anregungen aus der Komparatistik. Wichtig ist es, für den Fall des Konflikts zwischen diesen Elementen ein bewegliches System von Präferenzregeln aufzustellen; die Strukturierende Methodik hat das getan. Auf diese Art kann das Gericht den rechtlichen Kern seiner Entscheidung (den „Leitsatz", die „Rechtsnorm") wesentlich nachvollziehbarer begründen als in der Vergangenheit. Die inhärenten Grenzen der natürlichen Sprache hindern die Justiz daran, „en quelque façon nulle" zu sein: vorgegebene Bedeutungen aus dem Gesetz abzurufen, sie also „anzuwenden" nach dem Schema Obersatz-Untersatz-Konklusion. Das Montesquieu-Paradigma ist wissenschaftlich überholt. Wir sind re vera gezwungen, Bedeutungen zu erarbeiten, statt sie „finden" zu können. Wir leisten, linguistisch gesagt, Semantisierungsarbeit: Arbeit nicht nur instrumentell mit Begriffen, sondern schöpferisch an Begriffen; nicht nur mit Sprache, sondern in ihr; nicht nur Arbeit über Texte, sondern auch unmittelbare Textarbeit (also statt bloßer travail sur des textes vor allem travail de textes, wie es Olivier Jouanjan im Französischen ausgedrückt hat). Die Schwierigkeiten der traditionellen Auslegungslehre sind also nicht zuletzt ihrer Mißachtung der Rolle der natürlichen Sprache zuzuschreiben. Die Sprache des Gesetzes kann nicht einfach zu einem System stabiler Bedeutungen und Differenzen eingefroren werden. Denn es gibt keinen Punkt außerhalb und oberhalb der Sprache; keinen, der dem Spiel sprachlicher Differenzen entzogen wäre. Ob man ihn nun „Gesetzgeber" nennt oder „Rechtsidee" oder „Gerechtigkeit" oder „Natur des Textes" - immer muß er, um diskutiert zu werden, selber sprachlich formuliert sein. Und damit ist auch er nur Sprache, nur Differenz unter Differenzen im unabschließbaren Spiel der Semantisierung. Auch die „Natur" oder „eigentliche, wahre Bedeutung" des Textes ist uns jeweils nur als Text gegeben; ist der Auslegung nicht vorgeordnet, sondern ihr selber unterworfen. Den „Weg aus dem Fliegenglas" (Wittgenstein) öffnete hier die Strukturierende Rechtslehre: Normativität hat erst die Rechtsnorm; der Normtext im Gesetz hat erst „Geltung". D. h. die Menschen können sich an ihm im allgemeinen, ungenau, orientieren („Man darf nicht stehlen" - ohne die ganze Fachdogmatik des Strafrechts zu kennen). Und die amtlichen Juristen, z. B. Richter, müssen ihn kraft Amtspflicht heranziehen und durcharbeiten, falls er auf ihren Fall zutreffen könnte. Die sehr komplexe Arbeit der Richter hat der Positivismus hinter der Fassade einer angeblich präexistenten Textbedeutung rhetorisch versteckt. Die moderne Lehre schichtet „Geltung" (des Normtexts), „Bedeutung" (der im Fall erzeugten Rechtsnorm) und „Rechtfertigung" (des entscheidenden Juristen) als gesonderte Probleme voneinander ab. Im Gesetz steht eine bloße Zeichenkette (semiotisches Moment), der Normtext, linguistisch das Textformular. Der Rechtsnorm entspricht dann der „Text", der eine (im Fall erst jeweils herausgearbeitete) „Bedeutung" hat. Zwischen beiden vermittelt das juristische Handeln als semantische Praxis. Praktische Bindungen treten an die Stelle illusionärer (von der Art: „Dies ist die einzig richtige Bedeutung, alle anderen Lösungen sind irrig"): Heranziehen aller

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einschlägigen Normtexte und der individuellen (Sachverhalt) und generellen Tatsachen (Sachbereich) - plausibles Argumentieren aller einzelnen Schritte - Darlegen der möglichen Varianten und Angabe der Gründe für die Präferenz bei Widersprüchen, da der Fall ja am Ende entschieden werden muß. Das Ergebnis ist die generelle Rechtsnorm („in einem Fall wie diesem gilt...") und die aus ihr deduzierte Entscheidungsnorm („folglich ist die Klage abzuweisen" oder „Der Angeklagte wird freigespochen" oder „Die Gesetzesvorschrift ist verfassungsmäßig", etc.). Beide, Rechtsund Entscheidungsnorm, müssen den verwendeten Normtexten noch einschreibbar, ihnen also rechtsstaatlich-methodisch zurechenbar sein. Daher auch der Ausdruck „Normtext": weil die im Fall zu kreierende Norm diesem Text im Gesetzbuch muß eingeschrieben werden können. Die Tradition verlangte von der Rechtssprache und damit auch vom Juristen kategorial zu viel: sichere Begriffe, zwingende Ableitungen, einzig richtige Bedeutungen. Daß diese Doktrin - sie ist wissenschaftlich überwunden, in der Juristenausbildung aber noch herrschend - die wirkliche Praxis verfehlt, ist schon lange klar. Durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch suchten zahlreiche antipositivistische Ansätze nicht-positivierte Regeln an die Stelle der logisch-syllogistischen zu setzen: „soziale Funktion", „Interesse", „ökonomische Funktion", „Natur der Sache" oder „Rechtsidee" - von Freirechts- und soziologischer Rechtslehre bis zu Topik und Hermeneutik. Sie scheitern ihrerseits am positivistischen Normbegriff, den sie nicht überwinden; und am Mangel einer sprachtheoretischen und -praktischen Reflexion. Sie alle teilen noch das alte Schema von Regelanwendung und Regelverletzung im Sinn eines apriorischen Textmodells. Dieses behauptet die notwendige Verknüpfung zwischen Normtext und Rechtsnorm, zwischen Zeichenkette (Semiotik) und Bedeutung (Semantik). Die Strukturierende Rechtslehre vermeidet diese Fallen. Sie schreibt sich nicht dieser langen Reihe der Antipositivismen ein; stattdessen begann sie die Arbeit nochmals von vorn. Dem entspricht ihre Benennung als „nachpositivistisch". Dieses Konzept tut den Schritt in ein zukünftiges Paradigma: von der Rechtfertigungslehre zur realistischen Reflexion der Rechtserzeugung. Es läßt sich nicht länger die überholten, von der alltäglichen Praxis denunzierten Fragestellungen des Positivismus aufdrängen, wie: Gesetz-An Wendung, Norm-Wirklichkeit, Sprache-außersprachliche Referenten (=Bezugsobjekte). Die Sätze im Gesetzbuch haben nur Zeichen wert. Sie liefern Sprachdaten als Elemente konkreter Arbeit im Fall. Sie sind auf ihre tatsächlichen Gebrauchsweisen zu untersuchen und methodisch offen durchzuarbeiten. Sprechen und Semantisieren werden als Handeln offengelegt, die Entscheidungsarbeit ζ. B. der Richter ist ein durch Normen und Methodenstandards bestimmtes Sprachspiel. Kein Normtext kann über seine spätere Verwendung in späteren Fällen eine im vornhinein feste Regel seiner Verwendung angeben. Auch referieren seine Zeichen nicht, wie die Tradition meint, auf „außersprachliche Wirklichkeit; die Realdaten können nur dann in die Arbeit der Juristen eingeführt werden, wenn sie selbst sprachlich vermittelt sind (primäre vs. sekundäre Sprachdaten). Die

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„Bedeutung" ist kein Ding, das man eindeutig „finden" könnte. Sie steht in differentiellem Verhältnis zu allen anderen Zeichen; sie ist ihrerseits (nur) signifikant für weitere Signifikate. Dennoch stellt sich nicht etwa rechtliche Willkür ein - was die Tradition ja immer befürchtet, weshalb sie sich durch rhetorische Fassaden zu beruhigen versucht. Die Sprache selbst als „Organon der Wiederholbarkeit" (Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 134ff.) ist nicht willkürlich. Bedeutung und Referenz (d. h. der „Sinn des Gesetzes" und die von ihm erfaßten „Gegenstände der äußeren Welt") sind in jedem Fall neu festzusetzen. Aber nicht beliebig, sondern mit plausiblen Gründen - im Rahmen einer Argumentationskultur. Diese ist sowohl wissenschaftlich kontrollierbar als auch normativ kontrolliert (v. a. durch Gebote von Demokratie und Rechtsstaat wie Klarheit und Nachvollziehbarkeit, Verfassungskonformität, Begründungspflichten, Gesetzesbindung, Gleichheitssatz, Unbefangenheit im konkreten Fall, etc.). Ein-Eindeutigkeit im Sinn „inhaltlicher Sicherheit" der rechtlichen Begriffe, Bedeutungen und Referenzen ist nicht möglich. Was aber möglich ist und vor Willkür schützt, ist: eine relative (in der Ausdrucksweise Niklas Luhmanns „lokale", ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S.401 f.) Rationalität. Diese gibt die methodischen Einzelschritte korrekt und vollständig an, operiert mit ihnen auf verallgemeinerungsfähige Weise und nennt die Gründe für Präferenzen, wenn die einzelnen Argumente einander widersprechen sollten. Es gibt durchaus Standardfälle, die routiniert erledigt werden; und andere, bei denen Begriffe und Referenzen einfach liegen (so v. a. bei numerisch determiniertem Normtext, typisch für Form-, Frist- und bestimmte Verfahrens Vorschriften). Aber jeder dieser Fälle kann problematisch werden; wenn z. B. Rechtshandeln und/oder Sprachhandeln von Beteiligten vom Typischen abweichen. Und die Hauptmasse der praktischen Rechtsfälle ist von Anfang an hochkomplex. Die Juristen, die sie zu lösen haben, sind keine reaktiven „Ausleger", sondern sehr aktive TextProduzenten. Die Gesetzesbindung, der die Rechtsarbeiter von der Verfassung her unterliegen, ist - endlich realistisch begriffen - nicht die der Tradition. Sie kann sich nicht auf „die Norm" als etwas vor dem Fall Existierendes, als etwas Vorgegebenes beziehen. Sie bezieht sich auf die rechtlichen und wissenschaftlichen Anforderungen an einen aktiven Vorgang der Semantisierung.

I I I . Einige theoretische Formulierungen Der neue Ansatz ist, wie andere auch, theoretisch verschieden ausdrückbar. Er wird in der Strukturierenden Rechtslehre und Methodik selbst wie auch in der anwachsenden Sekundärliteratur in der Tat in unterschiedlichen Perspektiven angesiedelt, auch auf metaphorischer Ebene. Ich gebe hier einige wenige Beispiele aus der Eigendarstellung.

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Das neue Paradigma arbeitet integrativ, das althergebrachte dagegen additiv. Nach diesem besteht eine (jeweils) zwingende Verknüpfung zwischen Text und Bedeutung, zwischen Normtext und Rechtsnorm; nach dem neuen nicht. Die positivistischen Schulen addieren Semantik - und zwar lediglich Wort-, Merkmals- und logische Semantik - und juristisches Argumentieren äußerlich; d.h. als eine Verbindung kraft angeblich vorgegebener objektiver Regeln (Sprachregeln, Rechtsregeln). Die tatsächliche Textarbeit der Juristen, in einem Fall von auch nur durchschnittlicher Schwierigkeit, ist aber viel komplizierter. Die neue Rechtslinguistik untersucht sie im Sinn einer „integralen Analyse der juristischen Argumentation als semantischer Praxis" (F. Müller, Juristische Methodik7, 1997, S. 156f.). Dagegen beruft sich der alte mainstream auf die frühere, vor dem Pragmatic turn verbleibende formale Linguistik; und zwar wie auf einen Hilfssherrif, der ihr liebgewordenes Denken in den statischen Dualismen des 19. Jahrhunderts verteidigen soll. Es gibt nach modernem Diskussionsstand kein Sprachsystem, das sich neutral gegenüber all dem verhielte, was man mit ihm macht. Sprache ist nicht wie ein abgetrenntes Werkzeug im Sinn eines rein technischen Vollzugs einfach „nachträglich" (= nach dem Fassen eines vor-, außersprachlichen „Gedankens", „Sinns") verwendbar. Strukturierende Rechtslehre und Praktische Semantik verabschieden sich von diesen verjährten Illusionen. Sprache ist kein dem Denken und Handeln vor-geordnetes System; sie vollzieht sich vielmehr auf jeder Stufe: im Gebrauch, als Gebrauch. Auch Recht (das nur als Sprache sein kann) wird vollzogen: die den Fall tatsächlich dirigierende, entscheidende Norm ist nicht präexistent. Sie muß im Fall durch konkrete Rechtsarbeit, eine Sonderform von kommunikativem Handeln, geschaffen werden. Das hat Folgen für die Linguistik der Bedeutung, die Semantik. Die Tradition beschränkt sich auf Wortsemantik - „was bedeutet dieser Ausdruck im Gesetzestext?" (z.B. „Meinung", „Presse", „Freiheit" - ζ. Β. „Schaden", „Bereicherung" - ζ. Β. „Sache", „Gewalt", „Verletzung"). Und dann werden Merkmale gesucht, durch die eine einzelne Bedeutung - denn es gibt in der Regel mehrere - definiert werden soll. Im Deutschen gibt es unsagbar komische „Definitions"versuche der traditionellen Justiz, die ich aus Gründen der Kürze hier leider nicht vorstellen kann; ich bin sicher, daß es Ihnen in Ihrer Rechtsordnung an Beispielen solch unfreiwilliger Komik auch nicht fehlt. Wort- und Merkmalssemantik reichen aber nach heutiger Erfahrung nicht aus. Was wir real haben, sind ein Streitfall und legislatorisch gesetzte Zeichen (Buchstaben, Wörter) in einem Gesetzbuch. Welche Rolle diese Zeichen im Ergebnis für diesen Fall und seine Entscheidung spielen werden, ist aus dem Text der Kodifikation nicht einfach ablesbar; und ebensowenig aus einem Wörterbuch oder aus der merkmalssemantischen „Definition" durch ein früheres Gericht oder ein Lehrbuch. So macht es die positivistische Praxis, und es überzeugt bei näherem Zusehen nicht; denn was sich da im einzelnen abspielt, ist eben so gut wie nie logisch zwingend (außer, ich sagte es schon, bei einem Teil der numerischen Vorschriften). Übrigens 2 Müller/Wimmer

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Friedrich Müller

kann die herkömmliche Praxis gar nicht erklären, warum sie Vorentscheidungen und dogmatische Lehre heranzieht, sowenig wie Komparatistik und Theorie. Denn nach ihrem Axiom leitet sie die Entscheidung „aus der Norm im Gesetzbuch" ab. Was geschieht, linguistisch gewendet, bei einer Entscheidung wirklich? Der Richter bringt die Fallerzählung in professionelle Juristensprache und sucht dazu passende Normtexte, in aller Regel mehrere für einen Fall. Mit Hilfe dieser Zeichenketten kommt er zu ersten Assoziationen über individuelle und allgemeine Fakten (Sachverhalt, Sachbereich) und zu Urteilen darüber, die einen ein-, die anderen auszuschließen. Die Normtexte werden mit den Konkretisierungselementen (grammatisch, genetisch, historisch, etc.) bearbeitet. Sie führen zum Resultat der sprachlichen Interpretationen (Normprogramm). An diesem ist nun das vorher erstellte Modell aus den Realdaten, soweit es dem Normprogramm widerspricht, zu korrigieren. Der so erarbeitete „Normbereich" wird mit dem Ergebnis der sprachlichen (= primär sprachlichen) Interpretation zur allgemeinen Rechtsnorm verbunden. Diese ist also komplex, aus primären und sekundären Sprachdaten zusammengesetzt (traditionell: aus „Sollens-" und aus ,,Seins-"faktoren). All diese Operationen bedürfen einer breiteren Grundlage, als bloße Wort(Merkmals-)semantik sie liefern kann; nämlich einer Textlinguistik, die auch die pragmatische Seite umfaßt. Der Schritt von altgewohnter Wortsemantik zu Satzsemantik, Text- und Kontextsemantik ist unausweichlich. Die Praxis hat ihn schon lange getan; nur meist unter falscher Flagge und ohne sie begleitende Reflexion der Theorie. Noch ein weiterer Schritt nach vorn ist nicht zu vermeiden: „Verstehen" (der Topos der Hermeneutik) betrifft nur die erste Stufe der Rechtsarbeit: Formulieren des Falles, Aufsuchen der Normtexte, prima-vista-Interpretation, erste Urteile über tatsächliche Faktoren. Dieses Textverstehen hat bekanntlich intuitive Seiten, ist von der Ausbildung, der doktrinären Richtung, dem Vorwissen und (individuellen, sozialen, wissenschaftlichen) „Vorverständnis" besonders stark geprägt. Es ist dann nötig, sich gegenüber andern verständlich zu machen, also das eigene Verstehen zu erklären, zu verteidigen: gegenüber den Beteiligten am Verfahren zunächst, am Ende in der Urteilsbegründung. Diese intersubjektive Arbeitsweise nenne ich Textinterpretieren. Die Notwendigkeit, den Fall verbindlich zu entscheiden und selber Texte zu produzieren (Tenor, Gründe) erfordert noch mehr, nämlich eine Arbeit mit und an Texten. Provokant gesagt, werden Normtexte (Gesetze) nicht in oft jahrelangem politischen Streit in die Welt gesetzt, um „verstanden" zu werden. Sie werden es, um professionell eingesetzt zu werden, um zu funktionieren. Und damit auch, um die Institution, die sie benützt (z.B. die Gerichtsbarkeit), ihrerseits in Funktion zu halten. Ich gebe ein weiteres Beispiel, wie das Paradigma formuliert werden kann. Dabei beschränke ich mich wieder auf die linguistische Frage im nach-MontesquieuKonzept. Dessen drei Stützpfeiler, wie die des Positivismus im engeren Sinn, waren: ein Text habe Ursprung, (Bedeutungs-)Mitte und Ziel. Für die Rechtswelt also:

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„Gesetz", Gesetzes„inhalt" und „richtige" Entscheidung. D.h. für den ersten Faktor: in ihrer Bedeutung bereits vorgegebene Norm; für den zweiten: einzig richtiger Sinn; für den dritten: einzig korrekte Entscheidung des Falles - wie es bekanntlich und erstaunlicherweise noch heute R. Dworkin vertritt. Kein Punkt dieses klassischen Dispositivs hat sich als der Realität gewachsen erwiesen. Kein Normtext ist ein verläßlicher noch jemals ein „ursprünglicher" Ursprung. Er ist bereits Reaktion, Antwort auf Bedürfnis nach Regelung und Streit darüber. Er ist nur Glied in einer Kette, Differenz unter Differenzen. Diese Kette hat zirkuläre Form: Kreislauf aus gesellschaftlicher Problematik, Diskurs darüber, politischen Projekten, Gesetzgebungsverfahren, Interpretation und praktischer Umsetzung, Bestätigung, Kritik und weiterlaufendem Diskurs, manchmal Änderung der Judikatur, oft neuer Normsetzung nach rechtspolitischer Korrektur - und so weiter und so fort. Normtexte sind oft nur Formelkompromisse, sind nicht ernst gemeint, im Augenblick ihres Inkrafttretens manchmal schon obsolet. Im besten Fall sind sie eine ehrlich „gemeinte" Momentaufnahme im politisch-sozial-rechtlichen Stellungskrieg der Gesellschaft. Die zweite Vorstellung des einen richtigen Gesetzessinns überfordert kategorial die natürliche (Rechts-) Sprache; ich handelte schon davon. Ebensowenig ist die eine zutreffende Wirklichkeitsreferenz vor allen anderen Möglichkeiten zu privilegieren. Ein festes Sinnzentrum - Ort stabiler Sprache und damit stabilen Rechts - ist irreal. Ich als Richter kann nicht „den Sinn ,des' Gesetzgebers" im Normtext finden; provoziert durch meinen Fall, den ich lösen muß, kann ich nicht anders als „meinen" Sinn hineinlegen, ihm einschreiben. Beides-diese Vertauschung von Richter und Gesetzgeber sowie diese Irrealität - sind nicht etwa eine Randerscheinung. Sie sind das Grundphänomen von Vertextung und Verschriftung, gerade auch der des Rechts. Dem geschriebenen Text ist - am eindringlichsten hat das Jacques Derrida entwickelt - weder Sinneinheit noch Sinnzentrum und noch weniger des Textes eigener Sinn unterzuschieben. Der Text (z. B. der Normtext, der Kommentar, die Urteilsgründe) wird durch andere Texte in weitere Vorgänge von Semantisierung hineingerissen. Diese sind so unvermeidlich wie diskursiv nicht beendbar. Denn auch der höchste Gerichtshof kann sein Urteil, das Sprache ist und nichts anderes, nicht an eine Stelle über dem Diskurs stellen oder außerhalb des Spiels der Differenzen. Die letzte Entscheidung kann in Rechtskraft erwachsen; das heißt aber nur: prozeßrechtlich nicht weiter angreifbar sein. Der Diskurs - der fachliche wie der allgemeine - läßt sich dadurch nicht aufhalten: Das Urteil wird kritisiert, verteidigt, wird (schon wieder) „abweichend" verstanden. Das „unendliche Gewimmel der Kommentare" (Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1974, S. 18) macht auch nicht halt vor einer Entscheidung, die-dank der Staatsgewalt - „endgültig" ist. Der Staat kann, bestenfalls, Herrschaft über die sozialen Verhältnisse gewinnen, aber nicht über den Diskurs: das Gericht kann später seine Judikatur modifizieren, die rechtspolitische Diskussion kann gerade bei unangreifbar 2*

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gewordenen Urteilen neu entbrennen, die fraglichen Gesetze können geändert oder abgeschafft werden. Der Staat kann den Kreislauf des Rechts gewaltsam in bestimmte Stationen einteilen (Gesetzeskraft - Bestandskraft - Rechtskraft). Was er aber nicht kann, ist, das Fortgehen des Kreislaufs zu verhindern. Denn dessen Motor ist die natürliche (Landes-) Sprache und deren native speakers, sowie alle, die sich am rechtlich-politischen Diskurs beteiligen. Und dabei ist nicht einmal die Sprache als solche gewaltlos, rein kognitiv, unschuldig. Sie ist beim Spracherwerb der Kinder „Dressur" (Ludwig Wittgenstein), sie ist „der Faschismus" in ihrer konformistisch abrichtenden Funktion (Roland Barthes); und sie i s t - i m nüchternen Licht moderner Rechtstheorie und -linguistik - durchzogen, beherrscht von semantischen Kämpfen. Jeder aufmerksame Blick in eine juristische Bibliothek, in eine Diskussion unter Juristen, in einen Gerichtssaal legt davon Zeugnis ab. Ich gebe noch, als Beispiel, eine andere Formulierung, diesmal eine metaphorische. Die Strukturierende Rechtslehre weist eine Reihe von Metaphern auf: so die von der Mausefalle oder jene andere vom Tennisball. Ich erwähne hier eine der linguistischen, gemäß unserem heutigen Thema: Nach dem alten Paradigma ist das Gesetz ein Behälter, gefüllt mit Bedeutung. Darum sei die Entscheidung zu gewinnen durch Aus-Legung, durch Ab-leitung (ihrerseits diskrete Behältermetaphern). Ein solcher Gegenstand „im Normtext bereits aufbewahrte Bedeutung" ist aber nicht auffindbar und auf dem heutigen Stand der Sprachtheorie ein Köhlerglaube. Daher hat die Strukturierende Rechtslehre auch auf diesem Feld die Perspektive geändert, sozusagen die Achse gedreht. Der Normtext erscheint, realistisch, als Durchzugsgebiet für verschiedene, für einander widersprechende, für miteinander konkurrierende Interpretationsvarianten. Jeder Blick in einen Verfassungs- oder Gesetzeskommentar bestätigt das ad oculos: zahlreiche, gelegentlich hunderte von Textseiten zu ein, zwei, drei Sätzen des darüber thronenden kargen Normtexts (Art. X der Konstitution, Paragraph Y des Gesetzes). Wohlgemerkt: „Durchzug" heißt nicht Verwüstung. Man versucht, am plausibelsten zu erscheinen; aber man darf keine verbrannte Erde schaffen. Und: das Territorium des Durchzugs hat Grenzen, man kann auch - im alten Wortsinn extravagant4 - daneben, im Aus landen (Normprogrammgrenze der Konkretisierung). Funktionell gesprochen: Der Richter ist nicht frei für Willkür. Er ist an die einschlägigen Gesetze, an die Postulate der Verfassung und an die Standards der Argumentationskultur „gebunden". Auch hier wird, im neuen Paradigma, die Achse gedreht (wie man sieht, wieder eine Metapher): der Richter produziert die „Normativität 44 der Rechtsnorm. Und er übt Gewalt aus, die des Staates. Aber das Ausüben dieser Gewalt wird geteilt, erschwert und kontrolliert (Gewaltenteilung, Instanzenzug, Normprogrammgrenze, Argumentformen, weiterlaufender Diskurs).

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IV. Rechtstext und Textstruktur Wie sich durchgehend zeigt, argumentiere ich immer auch handlungstheoretisch. Das gilt auch für den Ausdruck „Text". Er benennt hier nicht einfach eine „grammatisch verknüpfte Satzfolge" - so aber die ältere, die vorpragmatische Sprach- und Rechtslehre. Er ist hier gefaßt „als (komplexe) sprachliche Handlung, mit der der Sprecher oder Schreiber eine bestimmte kommunikative Beziehung... herzustellen versucht" (Dietrich Busse, Textinterpretation, 1992, S. 19, 63 ff., 79). Nicht der Normtext handelt hierbei, sondern der Richter. Er ist es, der spricht, nicht das Gesetzbuch. Der Richter erscheint im Licht der modernen Diskussion nicht mehr als „bouche de la loi". Der Weg zur Rechtsentscheidung spielt sich in der alltäglichen Realität als semantischer Kampf ab - als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes für den konkreten Konflikt. Dieser und die latente Gewalt, an die er rührt, können nicht durch einen stummen Text rechtsstaatlich eingehegt werden, den man beim Blättern in der Kodifikation gefunden hat. Und dabei geht es längst nicht mehr um „Verstehen"; verstanden haben schon alle: die eigene Interpretation wie auch die der Gegenseite und die jeweiligen Interessenstandpunkte im Hintergrund. Es geht bereits um „Interpretieren" (Wie mache ich meine Version den anderen klar?") und noch mehr um „Arbeit mit und an Texten" (Wie beeinflusse ich die Texte der Entscheidung des Streits?"). Die Frage ist schon lange nicht mehr, wie das Gesetz im Fall zu verstehen sei; sondern welches der sich bekämpfenden Verständnisse sollte man vorziehen?, bzw. welches kann man durchsetzen? Der Weg des semantischen Kampfes führt vom gesellschaftlichen Konflikt, der die Entscheidung provoziert, und vom Normtext als Textformular hin zur Rechtsnorm als der Textbedeutung für diesen Fall. Damit schneidet der Richter den anderen Versionen und ihren Verfechtern das Wort ab. Er übt (Staats-) Gewalt über Text und Fall aus; unterdrückt alle in der Sprache durchaus möglichen und auch nach dem Urteil weiterhin möglichen sonstigen Varianten von Bedeutung. Er, der Richter, fait la loi. Recht ist nur vorübergehend Erkenntnis, letztlich ist es Entscheidung. Aber keine willkürliche: denn es spielt sich in Sprache ab. Und es ist nicht bloße Gewalt: denn diese wird im Sprachspiel „Rechtsentscheidung" einerseits durch Sprache selbst erschwert, aufgeteilt, kontrolliert (Gewaltenteilung als Textteilung, Text-Verteilung und Text-Kontrolle aufgefaßt). Und andererseits im Verfassungsstaat mit Rechtsstaat und Demokratie den legitimatorischen Standards unterworfen, von denen ich schon sprach. Sprache und die Tatsache, daß alles Recht Sprache ist (d. h. seine Textualität), sind die einzige Möglichkeit, die im Staat und seinen Institutionen angehäufte Gewalt einzugrenzen, sie zu kultivieren: durch die mit ihr gegebenen Brechungen, Faltungen (das wäre hierzu der Lieblingsterm von Gilles Deleuze), Selbstbindungen. Das gilt im Prinzip für jeden Staatsapparat; und nur die Strukturierungsweise und die Art der Semantik der vom Staat produzierten Textmasse unterscheiden ein rechtsstaatliches von anderen Staatsgebilden.

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Darin zeigt sich ein weiterer Aspekt des modernen Konzepts der Textstruktur. Der Rechtsstaat legitimiert sich durch das Streben nach Rationalität, und diese kann nur sprachlich sein. Die Legitimität liegt im tiefsten darin, möglichst wenig mit bloßer und möglichst viel mit sprachlicher (d. h. geformter, vermittelter und kontrollierbarer) Gewalt vorzugehen. Das drückt sich darin aus, daß dieser Verfassungsstaat eine gewaltige Masse von Rechtstexten erzeugt und in Umlauf hält: ein Kontinuum aus anordnenden und aus rechtfertigenden Texten. Es sind dies einmal abstrakt anordnende (Gesetzesvorschriften) und solche, die sie legitimieren (amtliche Gründe für Gesetzesvorlagen, Ausschußberichte, Parlamentsdebatten); und zum andern sind es konkret anordnende (Entscheidungsnormen der Justiz oder Verfügungen der Exekutive) und wiederum solche, die diese zu rechtfertigen haben (Gründe der exekutivischen bzw. der richterlichen Entscheidung). Zudem nimmt in der Demokratie der Rechtsstaat die Züge des „materiellen" Rechtsstaats an: die Konsensïxxvkiïon der Rechtstexte wird zum allgemeinen Postulat. Hieraus stammen auf der Seite der Anordnungstexte Forderungen wie Tatbestandsbestimmtheit, Rückwirkungsverbot, rechtliches Gehör, etc.; und auf der Seite der Rechtfertigungstexte das Gebot der Methodenehrlichkeit, die positivrechtlichen Begründungspflichten oder ζ. B. das Institut der Abweichenden Meinung (dissenting vote) in der Verfassungsjustiz. Generell muß der Richter überhaupt entscheiden (das moderne Rechtsverweigerungsverbot, im Gegensatz etwa zum Römischen Recht); und er muß rechtmäßig urteilen. Er muß also - in den „Gründen" - methodisch rational dartun können, daß die Entscheidungsnorm der Rechtsnorm und daß vor allem diese dem gesetzlichen Normtext korrekt, d. h. plausibel zugerechnet werden können. Dabei sind alle Stufen dieses Arbeitsprogramms vertextet: Normtext, Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm und Entscheidungsformel als die fünf hauptsächlichen Textstufen. Die Mittel im einzelnen auszuarbeiten, ist Aufgabe der juristischen Methodik; diese ist hier nicht Thema gewesen.

V. Einige praktische Punkte Dieses Thema war als theoretisches gestellt, und so habe ich es behandelt. Zu den praktischen Auswirkungen gebe ich daher nur ein paar Stichwörter an. Zentrale Postulate der rechtsstaatlichen Demokratie sind nur in Sprache realisierbar: ζ. B. Tatbestandsbestimmtheit und Rechtssicherheit, Normklarheit und Methodenehrlichkeit; nicht zuletzt die Gleichheit aller Menschen „vor dem Gesetz" - denn diese hat eine tatsächliche Gleichheit vor dem konkretisierten Gesetz zu sein, vor dem law in action , und nicht vor dem Buchstaben des law on the books. Eine auch linguistisch aufgeklärte Rechtslehre, wie ich sie hier vorstelle, macht die Kommunikation im Recht transparenter, durch genauere Abstufungen auch rationaler. Die Verantwortung der juristischen Entscheider wird endlich deutlich; sie kann nicht mehr an „den" Gesetzgeber abgegeben werden. Aber dafür haben wir präzisere Arbeitsmittel als bisher, damit auch differenziertere Begründungsmöglichkeiten.

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So werden die Urteile und vergleichbaren Textsorten für Beteiligte und Interessierte, für die anderen Gerichte sowie die Wissenschaft und Rechtspolitik leichter nachvollziehbar, diskutierbar, überprüfbar. Ferner führt dies für ein Land mit ausgefeilten Begründungspflichten wie Deutschland dazu, einen nicht-autoritären Stil der „Gründe" zu erwarten, jedenfalls bei den auftretenden Fragen der Semantik. Das heißt z.B., die Lösung nicht als einzig mögliche („logisch zwingende", etc.) auszugeben; sondern aus den und den Argumenten als vertretbar und präferabel. Für ein Land wie Frankreich mit einer unentwickelten Begründungskultur führt es rechtspolitisch dazu, auf normative Pflichten zu eingehender Begründung hinzuwirken. Solche Standards können geradezu als Maßeinheit für die erreichte Rechtsstaatlichkeit in einem Land dienen. Gleichzeitig kann der strukturierende Ansatz die Arbeit der Legislative im Sinn einerseits klarer differenzierender, andererseits weniger autoritärer Normtexte erleichtern. Ein interessanter Fall ist etwa die neuere strafrechtliche Regelungstechnik in Deutschland, die sogenannte Regelbeispiele zur Erleichterung der Interpretation angibt. Auch kann in den amtlichen Begründungen für Gesetzesvorlagen und Gesetze auf künftigen semantischen Dissens, soweit schon vorhersehbar, bereits eingegangen werden. Ein anderes praktisches Beispiel betrifft den Systemunterschied zwischen kontinentaleuropäischem und angloamerikanischem Recht, zwischen statute law und common law. Nähere linguistische Analysen zeigen, daß die Probleme der tatsächlichen Rechtsarbeit in den täglichen Entscheidungen analog liegen - nur mit „Gesetzen" bzw. „Präjudizien" als jeweiligen Referenztexten. Die eigentliche Arbeit besteht aber hier wie dort in einer komplexen Semantisierung; beide „Systeme" können miteinander in Austausch treten und viel mehr voneinander lernen, als das herkömmlich angenommen wird. In Ihrem Land wie in meinem ist staatliches Verhalten rechtsbestimmt: die Legislative an die Verfassung gebunden, Exekutive und Justiz an Verfassung und Gesetz. All das spielt sich in Sprache ab. Sprache im demokratischen Rechtsstaat zwingt zur Rechtfertigung und fordert diese ein. Das Konzept der Strukturierenden Rechtslehre arbeitet seit langem gerade auch an dieser rechtspolitischen Front: Irrationalität zu vermindern, Willkür zu erschweren und sie zudem besser kenntlich zu machen. Gesellschaftliche Gewalt wird so stückweise in konstitutionell legitimierbare Macht rückverwandelt. Der strukturierende Ansatz ist (nicht nur in Dogmatik und Methodik, in Rechtslehre und Verfassungstheorie, sondern) auch in der Rechtslinguistik ein Theoriekonzept gerade des Typus von Rechtsstaat, in dem die Gewalt durch und in Sprache bearbeitet und kultiviert wird.

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Friedrich Müller Literatur

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Entscheidungsgründe als Textcollage Von Walter Grasnick I. Einleitung Juristen arbeiten mit Texten. Ihre Rechtsarbeit ist Textarbeit, Arbeit mit fremden und eigenen Texten. Die fremden werden bearbeitet. Aus allen diesen Texten, den eigenen und den fremden, entsteht ein neuer Text. Eine Textcollage. Vor allem die Richter verfahren nach diesem Modell. Die Gründe für ihre Entscheidungen, die Entscheidungsgründe, sind Textcollagen. Von denen ist hier die Rede. Die Rechtsarbeit der Richter, gerade ihren spezifischen Umgang mit Texten eigens zu thematisieren, hat seinen guten Grund. Denn die richterliche Textarbeit gilt als Paradigma für Rechtsarbeit. Was Richter richtig entscheiden, wird nicht zu Unrecht als Recht akzeptiert. Sie schaffen Recht. Und damit am Ende Rechtsfrieden. Rechtsarbeit als Friedensarbeit, in jedem Fall aber unausweichlich Textarbeit. So sieht die Arbeit der Richter aus. Und wie ihre Texte? Welche kommen überhaupt in Betracht? Und wie (genau!) gehen die Richter damit um? Entscheidungsgründe als Textcollage, das meint - last but not least - die Frage der Überprüfbarkeit eben jener Collagen auf deren Richtigkeit. Damit ist der Rahmen unserer Arbeit abgesteckt, was jetzt folgt ist keine vollständige Ausarbeitung, sondern lediglich die Skizze eines Arbeitsprogramms, die nur gelegentlich etwas ausführlicher gerät. Am Beginn steht eine Unterscheidung. Die ist bekannt. Danach werden die Gründe, die Entscheidungsgründe - beides wird hier synonym gebraucht - unterschieden in die sogenannte Feststellung des Sachverhalts und dessen rechtliche Würdigung. Als Beispiel dient mir ein strafrichterliches Urteil, wobei ich die Strafzumessung - nach richtiger Ansicht ohnehin „nur" ein Teil der rechtlichen Würdigung - weitestgehend ausklammere. II. Der collagierte Sachverhalt oder: Herstellung statt Feststellung Herkömmlich spricht man von der Feststellung des Sachverhalts. Doch fälschlich. Sachverhalte werden nicht festgestellt. Sachverhalte werden hergestellt. Das ist den meisten Juristen nicht klar. Auch den Historikern in ihrer Mehrzahl nicht. Mit

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diesen werden die sogenannten Tatrichter gern verglichen. Wie jene wollten sie wissen, wie es wirklich gewesen ist. Dazu nun folgender Fall, der Tatort-Fall, von dem in den Gründen des tatrichterlichen Urteils u.a. folgendes zu lesen steht: „Am Freitag, dem 13. Mai 1997, wurde Professor Max Torf im Hörsaalgebäude der Universität Köln unmittelbar nach Beginn seiner Vorlesung, circa 11.18 Uhr, von dem Angeklagten, dem Studenten Hans Hahmann, niedergeschossen. Er war auf der Stelle tot". Unsere Frage: Wie gelangten die Richter zu ihren „tatsächlichen Feststellungen", von denen es im Urteil dann heißt, sie „beruhten" auf dem Geständnis des Angeklagten und den Bekundungen mehrerer, namentlich aufgeführter Zeugen? Denn - das ist der Clou nicht allein dieses Falles - eine Universität kann keiner sehen und eine Vorlesung niemand hören. Beide sind als solche mit den Sinnen so wenig wahrnehmbar wie der Viktualienmarkt in München, oder eine Cocktailparty. Von Wahrheit und Gerechtigkeit ganz zu schweigen. Aber nicht nur die zuletzt genannten Abstrakta machen Schwierigkeiten. Auch durchaus einfache Gegenstände bereiten Kopfzerbrechen. Beispielsweise der Füllfederhalter vor mir auf dem Tisch. Oder ein Taxi. Zu diesem gleich mehr. Ihre Ontologie, die Ontologie sozialer Dinge und Tatsachen, ist noch keineswegs geklärt. So viel ist immerhin sicher: Wir leben in Interpretationswelten. Umgeben von Interpretationskonstrukten. Was uns aber nicht hindert, im normalen Alltag so zu tun, als hätten wir es mit ganz gewöhnlichen Dingen zu tun. Wenn es zum Beispiel darum geht, ob ein Angeklagter zu einer genau bestimmten Zeit an einem fest fixierten Ort sein konnte und dies davon abhängt, ob er mit dem Taxi fuhr oder der Straßenbahn, dann lügt ein Zeuge, der, um dem Angeklagten zu helfen, aussagt, dieser habe die Tram genommen, während er „in Wahrheit" das Auto nahm. Wahrheit in diesem simplen Alltagsverstand wird also auch von den Interpretationisten und Konstruktivisten nicht geleugnet. Sie wissen nur, daß wir solchermaßen gleichsam eine „Philosophie des Als Ob" betreiben, bleiben also bei ihrer Einsicht, daß wir allezeit und überall nicht mit Dingen an sich umgehen, nicht einmal Dingen für uns-das wäre zwar nicht vollends falsch, aber zu kurz gedacht-, vielmehr mit von uns und für uns verfertigten Konstrukten. Sei es, daß wir sie selbst herstellen, sei es - wie im Alltag vielfach oder meist - , daß andere sie schon vor uns „machten" und wir sie lediglich „gebrauchen", auch „weiterreichen". Einen fahrbaren Gegenstand als Auto zu interpretieren und ein bestimmtes Auto als Taxi, das taten schon unsere Großeltern. Von denen wir lernten, daß ein so und so beschaffener Gegenstand eben ein Auto „ist" und dieses in bestimmten Fällen ein Taxi. Oder ein Gebäude, das Hörsaalgebäude in unserem Falle das der Kölner Universität. Ein Vorschlag zum Eingewöhnen in das den meisten noch Ungewöhnliche: Der Leser versuche bitte einmal, an Beschreibungsmöglichkeiten alles das zusammenzustellen, was er braucht, um einem, der noch nie etwas von einer Universität

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„gehört" oder „gesehen" hat, hinreichend klarzumachen, worum es sich dabei „in Wirklichkeit" handelt, das heißt: in unserer sozialen Realität. Einiges davon wird er auch benötigen, wenn er erklären soll, daß das, was der Professor im Begriff war zu tun, das Halten einer „Vorlesung" genannt wird. Derartige Aufklärungsarbeit brauchen die Zeugen des Tatort-Falles gegenüber den Richtern nicht zu leisten. Und dies nicht etwa deshalb, weil diese schließlich selbst einmal „auf der Universität" gewesen sind, worunter in aller Regel niemand versteht - es sei denn wir befänden uns wieder im Jahre 1968 - , sie hätten auf dem Dach des Unigebäudes gestanden oder gesessen. Wer will, mag diesen knappen Hinweis auf das soziale Umfeld unter „Text und Kontext" rubrizieren. Uns genügt es hier zu wissen, daß wir alle ganz einfach gelernt haben, das Wort „Universität" richtig zu gebrauchen. Das heißt so, wie das kompetente Sprachbenutzer normalerweise eben tun. Das Substantiv „Universität" gehört zu der von uns allen beherrschten, der öffentlichen Sprache. Was der Einzelne sich privat vorstellt, wenn er „Universität" sagt - sofern er sich überhaupt Gedanken darüber macht - , ist dagegen in aller Regel völlig belanglos. Unter anderem dies ist aus Wittgensteins berühmter Käfer-Parabel zu lernen. Deren Witz für uns darin besteht, daß „Universität" nicht als Name gebraucht wird für eine bestimmte Sache, eine kulturelle Einrichtung oder sonst etwas. Nein, nicht einmal auf ein „Etwas" wird referiert mit der Nennung des Terminus „Universität". Mit konkreten Dingen in der körperlichen, der physikalischen Welt hat das Reden von und mit über Universität jedenfalls unmittelbar nichts zu tun. Das nicht begriffen zu haben, war der fatale Irrtum jenes Mannes, der zum ersten Mal nach Oxford kam und dort gern die Universität sehen wollte. Er ist der Held eines sprach- und interpretationsphilosophischen Falles par excellence. Nachdem man dem Besucher alles gezeigt hatte, was es nur zu „sehen" gab, wie Colleges, Bibliotheken. Laboratorien, Hörsäle und so weiter und so fort, da war der neugierige Gast keineswegs zufrieden. Statt dessen beklagte er sich, man habe ihm alles gezeigt, nur eines nicht: die Universität. Warum, wollte er wissen. Wir kennen die Antwort: Weil sie niemand sehen kann. Sie ist ein Interpretationskonstrukt. Sie und die „in ihr" gehaltene Vorlesung auch. Wie alles rings um uns her. Bäume und Sträucher nur scheinbar ausgenommen. Denn auch sie gäbe es nicht, „als" Bäume und Sträucher, hätten wir nicht das, was da wächst, via Sprache erst zu Sträuchern und Bäumen gemacht. Wie das im einzelnen geschieht, welcher sozialen Herstellungsprozesse es bedarf, damit zum Beispiel aus Papier Geld wird oder Fahrscheine, das ist das weitverzweigte Thema einer interpretativen, konstruktiven Theorie sozialer Phänomene. Wichtig in unserem Zusammenhang ist vor allem eines: Wenn gilt „Wir können nicht nicht interpretieren" - und es gilt nun einmal - , dann sind der Angeklagte und die Zeugen von diesem universellen Geltungsanspruch nicht ausgenommen. Das bedeutet: Sie schildern dem Richter nicht, wie es wirklich gewesen ist, beschreiben keine Subjekt- und sprachunabhängige Realität. Sondern sie erzählen Geschichten dessen, was sie erlebten. Wobei die Geschichten ihrerseits nichts anderes sind als interpretative Konstrukte. Wir können es drehen

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und wenden wie wir wollen: Hinter Sprache, Interpretationen, Konstruktionen führt kein Weg zurück. Dahinter liegt kein Niemandsland. Dahinter „ist" überhaupt nichts. Wer darauf beharrt, es gäbe aber doch den Rohstoff für Interpretationen und Konstruktionen, mag dies tun. Es hilft ihm nichts. Denn auch Rohstoffe nehmen notwendig teil am Schicksal aller Dinge und Tatsachen. Sie sind gleichfalls Konstrukte. Die Stoffmetapher belegt es. Die dem Richter vorgetragenen Geschichten, diese Geschichtstexte werden von ihm bearbeitet. Das dazu notwendige Verfahren heißt herkömmlich: Beweiswürdigung. Für die tradierten Methodenlehren weitgehend eine terra incognita. Das findet seine Erklärung offenbar darin, daß hier ein Gebiet vermutet wird, das angeblich nichts mit dem zu tun hat, was Richter „eigentlich" interessiert. Das ist der Bereich des Normativen. Doch daß Faktizität ohne Normativität gar nicht zu haben ist, wird gründlich und gröblich verkannt. Es gibt aber erfreuliche ausbaufähige Ansätze für eine Neuorientierung, die freilich die Erkenntnisse der Interpretationsphilosophie erst noch zu integrieren hätte. Wie die der Konstruktivisten. Nicht anders als die noch auszuformulierenden Gedanken einer hier lediglich im Grundriß vorgestellten Theorie und Praxis richterlicher Textcollagen. Die erzählten Geschichten, diese narrativen Texte werden also collagiert, zum Sachverhalt zusammengefügt. Das meint: der Sachverhalt als Textcollage. Selbstverständlich wird diese nicht hergestellt, ohne daß jeweils zuvor der einzelne Collageteil bearbeitet worden wäre. Unwesentliches wurde ausgesondert, Unvollständiges durch Nachfragen ergänzt. Das Glaubhafte vom Nichtglaubhaften gesondert. Natürlich wird hernach gefragt: Stimmt die Collage denn auch? Das will vorab der Tatrichter selbst wissen. Dann die Betroffenen im weiteren Sinne. Das sind also nicht nur die „Parteien", sondern auch der Geschädigte, vielleicht weitere Zeugen und auch die vielberufene Öffentlichkeit. Schließlich die Revisionsrichter. Und ganz zum Schluß gar die Bundesverfassungsrichter als angemaßte oberste Tatrichter. Welches sind die Prüfkriterien? Hier ist ebenfalls noch vieles zu tun. Immerhin wissen wir, was als Kriterium ausscheidet, nämlich die „Wirklichkeit als solche". Und dies aus zwei Gründen. Zum einen gibt es sie nicht, und zum anderen wäre sie als historische Wirklichkeit ohnehin das, was der Name sagt, das heißt vergangen. Eine empirische Überprüfung des Sachverhalts als Textcollage kommt mithin nicht in Betracht. Die Collage kennt kein Bild, von dem sie Abbild sein könnte. Sie ist - um im Bilde zu bleiben - Urbild. Das freilich steht, nota bene, nicht für sich allein. Eine Kontrolle ist durchaus möglich. In doppelter Hinsicht. Der Sachverhalt als Collage muß - und hier bewährt sich der Collagegedanke erneut in praxi - stimmig sein. Das heißt als erstes, daß die Collage in sich stimmen muß. Das wiederum bedeutet zunächst einmal ganz trivial, daß die Collage keine Teile enthält, die nicht zueinander passen. Herkömmlich gesprochen: daß die Darstellung des Sachverhalts

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nicht in sich widersprüchlich ist. Die Collage darf auch keine gleichsam leeren Stellen haben. Traditionell spricht man davon, daß in der Beweiswürdigung nichts fehlt, also beispielsweise keine naheliegenden Möglichkeiten unerörtert bleiben. Doch Stimmigkeit meint mehr als solche Selbstverständlichkeiten. Wenn gerade hier, vermeintlich rein beiläufig, von der Darstellung die Rede ist, so doch tatsächlich in voller Absicht. In der Literatur wird fein säuberlich unterschieden zwischen dem Sachverhalt als Geschehnis - darunter wird das verstanden, was der Tatrichter wie ein Historiker angeblich erforscht - und dem Sachverhalt als Aussage oder eben Darstellung. Wir aber kennen diesen Unterschied nicht mehr. Darstellung ist für uns mit Herstellung aufs engste verknüpft. Mehr als das sogar. Denn die Herstellung ist vollendet erst in einer gelungenen Darstellung. Womit nicht etwa die alte Oberlehrerweisheit vom Unterschied zwischen Inhalt und Form zu unverdienten Ehren gelangt. Im Gegenteil: Herstellung und Darstellung sind vom Anfang bis zum Ende eins. Auch Wissenschaftsphilosophen und Mathematiker rekurrieren gern und häufig auf die Darstellung, zumindest bei ihren Ergebnissen, und anerkennen als Kriterien für gute Theorien und gelungene Beweise deren Eleganz und Schönheit. Stimmigkeit, Eleganz und Schönheit sind nicht die einzigen Kriterien. Aus guten Gründen vergleichen wir richterliche Entscheidungen nicht mit Collagen. „Collage" fungiert nicht als Metapher. Entscheidungsgründe sind Collagen. Und nichts anderes. Der einzige Unterschied zu „normalen" Collagen besteht ausschließlich in der Verschiedenheit des Materials. Und selbst diese Ausschließlichkeit ist so ausschließlich nicht. Denn auch „künstlerische" Collagen kennen unter ihren Bestandteilen durchaus geschriebene Texte, mitunter freilich lediglich nur Buchstaben. Wie auch immer: Alle Collagisten und Textmonteure achten auf die Schönheit und Eleganz ihrer Produkte. In eben diesen Kontext gehört, was über den Begriff des Guten in der Mathematik gesagt worden ist. Man spüre geradezu - so die Behauptung - , daß etwa eine Theorie oder ein Beweis „stimmig" sei, weil sie oder er „gut" ist. Wir können mit gleichem Recht sagen, daß etwas gut sei - die treffenderen Vokabeln bei uns wären „richtig", „rechtens" oder gar „gerecht" - , wenn und insofern es stimmig ist. Es ist kein Zufall, daß wir im alltäglichen Sprachgebrauch gleichfalls Sätze wie „Es ist richtig" und „Es stimmt" bedenkenlos synonym verwenden. Künstlern ergeht es mit ihren Werken kaum anders. Ein Strich zu wenig, und das Bild ist unvollendet. Einer zu viel, und es ist mißlungen. Die Kunst des Künstlers besteht nicht zuletzt auch darin, im „rechten" Augenblick aufzuhören. Das ist genau der, in dem er sagen kann: „Jetzt ist es gut. So stimmt's". Der gleichermaßen bildkunst-und wortkunsterfahrene Philosoph Gadamer sieht just darin das letzte Kriterium: im Stimmigen, in der Stimmigkeit, die uns sagen lassen: „So ist es. So, und nicht anders". Die Juristen greifen gern - wenn auch erst im Rahmen der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes, nicht schon bei dessen Herstellung - mit Vorliebe auf das

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zurück, was sie Judiz nennen. Das ist im Grunde ein und dasselbe. Freilich: Das „So stimmt's" muß noch ausbuchstabiert werden. Nicht alle Fälle liegen ja so simpel wie der des Amtsrichters, von dem die Anekdote zu berichten weiß, daß er die Klage eines mäkelnden Schneiderkunden abwies und zur Begründung nur einen Satz brauchte: „Die Hose paßt". Mitunter ist es schon etwas schwieriger. Dann müssen Her- und Darstellung weiteren Kriterien genügen. Die Stimmigkeit-in-sich, die, wenn von allen als evident erfahren, wirklich jedes weitere Wort überflüssig macht, findet ihr Pendant im „Passen". Genauer: Im Passen-für-uns. Die Textcollage, der collagierte Sachverhalt, das vom Tatrichter verfertigte Bild - nicht Abbild - muß in unser Bild passen. In unser Weltbild. Das hier fällige Stichwort lautet: Kohärenztheorie der Wahrheit. Was die angeht, so werden wir wieder bei den Philosophen fündig. Doch für diesmal bleiben wir bei den primär an der Collage ausgerichteten Überlegungen. Das Geschehen als Text, der her- und dargestellte Sachverhalt als Textcollage, dieses sprachliche Konstrukt, muß, wie gesagt, nicht nur stimmen, sondern auch passen. Und zwar zu meiner Welt, in meine eigene Welt-Collage. Früher sagte man: zu meinem Weltbild. Das habe ich erworben, im Laufe der Zeit erweitert und umgestaltet. Text für Text. Zum jeweils gültigen Gesamttext. Ohne daß ich über diesen Gesamttext zur Gänze verfügte, ihn in allen Textpartien auch nur jeder Zeit voll präsent hätte. Der Punkt beschäftigt uns nachher noch einmal in dem Abschnitt über Geheimtexte. Diesem Textgeflecht nun wird mit der Sachverhaltscollage ein Mehr an Text angesonnen. Ein Ansinnen, das ich als Zumutung zurückweisen kann. Als buchstäblich unpassend. Die Sprache ist, recht verstanden, auch hier wieder sehr klug. Wir sagen: „Das paßt mir. Das paßt zu mir". Oder eben: „Das paßt mir nicht". Aufgefordert zu sagen, warum, zu erklären, weshalb mir der collagierte Sachverhalt denn nicht paßt, bleibt nur eines: Ich muß meine Collage, dieses Gesamt von Wissen, Überzeugungen, Glaubenssätzen etc. beschreiben. In aller Regel dabei natürlich nur den eigenen Collageteil, zu dem die fremde Sachverhaltscollage ganz oder zum Teil nicht paßt. Diese Beschreibung geschieht wiederum mittels Sprache. Also durch Textvortrag, durch Textvorlage. Und schließlich durch Textvergleich. Aus den Texten werden wir niemals entlassen. Unsere Sinnentwürfe, unsere Weltentwürfe, unsere Sachverhaltsentwürfe, sind Textentwürfe. Die der anderen nicht minder. Auch die Verwerfung eines Textes, des Sachverhalts als Textcollage, geschieht also sprachlich. Durch einen Gegentext. Mit der Annahme der fremden Textcollage, ihrer Übernahme in meinen Gesamttext, der Integrierung in meine Gesamttextcollage sieht es nota bene genau so aus.

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I I I . Die collagierte Lösung oder: Argumentation statt Interpretation Der Untertitel weckt Bedenken. Bislang haben wir uns für eine durchgängige Interpretation (und Konstruktion) stark gemacht. Zur Erinnerung: „Wir können nicht nicht interpretieren". Und nun dies. Wie reimt sich das zusammen? Ganz einfach. Ich wende mich in dem zweiten Teil lediglich gegen eine ganz bestimmte Art der Interpretation, nämlich gegen das, was Juristen gleichbedeutend auch Auslegung nennen. Grundlos. Davon später. Zunächst auch hier ein Fall. Das ist der Verteilerkasten-Fall. Der hat viele Gerichte beschäftigt. Auch zwei Oberlandesgerichte, die bei jeweils gleichem Sachverhalt gegenteiliger Auffassung waren. Deshalb mußte der BGH einspringen. Die ihm vorgelegte strittige Frage lautete: „Kann der Tatbestand der... Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB durch Aufkleben eines Plakats auf einen Postverteilerkasten, der nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten, sondern nach technischen Erfordernissen gestaltet ist, verwirklicht werden, obwohl dieser nach seiner Zweckbestimmung keine eigene Ansehnlichkeit hat?". Die tautologische Fragestellung macht stutzig, dafür aber auch sonnenklar, daß hier auf ästhetische Gesichtspunkte abgestellt wird. Von denen in der genannten Vorschrift kein Sterbenswörtchen steht. So wenig wie übrigens auch in § 224 StGB. Reichsgericht und BGH sahen sich deshalb veranlaßt klarzustellen, daß auch ein häßlicher Mensch durchaus „in erheblicher Weise dauernd entstellt" werden kann. Das nennt man dann schwere Körperverletzung. Vielleicht gibt es ja auch schwere Fälle der Sachbeschädigung, ohne daß sie im Gesetz eigens genannt würden. Weshalb aber soll es, wenn schon auf die Ansehnlichkeit abgestellt wird, auf die des Verteilerkastens vor seiner „Beklebung" und nicht auf den Zustand danach ankommen, mithin auf die Schönheit oder Häßlichkeit des Plakats? Von dem wird in der Entscheidung nur mitgeteilt, es sei bunt gewesen. Wie, wenn es ein obszönes Bild gezeigt hätte oder deshalb zu beanstanden gewesen wäre, weil es nazistische Parolen enthielte? Spielt das alles gar keine Rolle, und zwar auch unter ästhetischen Gesichtspunkten? Der Verteilerkasten-Fall macht überdeutlich, was im übrigen nahezu jeder Fall lehrt: Die Lösung steht nicht im Gesetz. Da finden wir sie nie. Das Recht wird nicht gefunden, es wird hergestellt. Herstellung ist das passende Stichwort nicht nur für den sogenannten Sachverhalt. Es trifft im gleichen Maße zu für dessen rechtliche Würdigung. Die ist auch nicht einfach da. Man muß sie sich erarbeiten. Auch hier mit Hilfe verschiedener Texte. Das Gesetz ist nur einer davon. Zugegeben, einer der wichtigsten. Aber eben doch nur einer, der für sich allein nie reicht. (Es sei denn, es geht nur um Zahlen, um Fristen zum Beispiel.) Der schlagende Beweis hierfür ist die uni sono beschworene Auslegungsbedürftigkeit des Gesetzes. Dabei tun die Ausleger so, als hätten sie es vor und nach der sogenannten Auslegung wirklich und wahrhaftig nach wie vor lediglich mit einem Text zu tun, eben dem - jetzt ausgeleg3 Müller/Wimmer

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ten - Gesetzestext. Doch das trifft erkennbar nicht zu. Zunächst einmal muß gegen den anhaltenden Widerstand seitens der überkommenen Methodenlehre und einschlägigen Äußerungen in Lehrbüchern etc. daran erinnert werden, daß der vermeintliche Ausleger weder im Text, noch irgendwo sonst im Universum, nicht am Platonischen Ideenhimmel und nicht „in sich" dasfindet, was er angeblich sucht: die Bedeutung eines Wortes oder Satzes. Das ist so oft gesagt und begründet worden, daß hier nur noch einmal darauf verwiesen werden kann. Zur ständigen Wiederholung aber doch eines: Daß tatsächlich Bedeutungen nicht aus einem Text herausgelegt, vielmehr allenfalls hineingelegt werden können, zeigt mit bestürzender Eindringlichkeit die sogenannte ergebnisorientierte Auslegung. Nur ein Sonderfall davon ist die verfassungskonforme Auslegung. Hier wird fast zynischerweise einbekannt, was da realiter geschieht: der Text nämlich so lange gedreht und gewendet, bis er das gewünschte Resultat liefert. Das ist keine Interpretation. Das ist Manipulation. Dieser Vorwurf trifft dagegen nicht, wenn unter mehreren an sich denkbaren Lösungen derjenigen der Vorzug gegeben wird, die für sich in Anspruch nehmen darf, sie stimme mit Grundentscheidungen der Verfassung besser überein als andere. Nicht anders als im Fall der Manipulation erfolgt aber auch der ehrenhafte Umgang mit Gesetzestexten notwendig mittels weiterer Texte. Zusätzliche Texte benötigt also auch der Rechtsarbeiter, der nicht vorspiegelt auszulegen, sondern offenlegt, was er tut. Der, der offen argumentiert. Seine Gründe, seine Topoi, liefern ihm andere Texte als der Gesetzestext es tut. Wenn aber, wie gesagt, die Lösung nicht im Gesetzestext parat liegt, dann stellt sich unabdingbar die Frage, wozu wir ihn denn überhaupt brauchen. Daß es auch ohne geht, lehrt nicht nur, aber sehr ausdrücklich, das anglo-amerikanische Case-Law. Wobei nicht verkannt sein soll, daß mittlerweile von dort her eine Annäherung an den kontinentaleuropäischen Rechtskreis stattgefunden hat und umgekehrt. Letzteres belegt die auch bei uns steigende Bedeutung der Präjudizien. Und wie kommen wir auf diese? Durch das Gesetz! Hier sieht man die wichtigste Funktion der Gesetze. Die erkennt jeder, sobald er sich nur klarmacht, was das Gesetz - unabhängig von seiner rechtlichen Inanspruchnahme - „eigentlich ist": nichts anderes als ein Text wie jeder andere auch. Und das heißt nichts anderes als eine Ansammlung, eine Kette von Zeichen. Auch wie diese funktionieren, ist einsichtig. Eine treffende Formel besagt: „Zeichen sind das, was zu denken Anlaß gibt". Wir ergänzen: zum Weiterdenken. Das bedeutet auch, mit anderen zu denken. Dieses Weiter- und Mitdenken geschieht anhand weiterer Texte. Welche kommen in Betracht? Antwort mit Radio Eriwan: im Prinzip alle. Es gibt tatsächlich keinen - so gut wie keinen - Text, der nicht Rechtstext werden könnte, mithin ein Text, der zur Rechtsarbeit herangezogen wird. Die Menge der nächst dem Gesetz möglichen Texte sollte unterteilt werden in die kanonisierten Texte und den Rest.

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Die kanonisierten kennt jeder Jurist vom ersten Semester an. Die wichtigsten davon sind die bereits genannten Präjudizien. Ihnen zur Seite stehen als weitere große Untergruppe der kanonisierten Texte die Texte mit rechtswissenschaftlichen Lehrmeinungen. Als da sind dicke und dünne Lehrbücher, Grundrisse, Monographien, Urteilsanmerkungen, Rezensionen etc. Nicht zu vergessen - wer will, mag daraus eine eigene Untergruppe bilden - rechtsphilosophische Texte, zu denen heute zu Recht auch solche der Rechtstheorie und Juristischen Methodenlehre gezählt werden. Spannender ist ein Blick auf den Rest der Welt, zumindest potentieller, rechtlich relevanter Texte. In jüngerer Zeit gewinnen hier literarische Texte zunehmend an Aufmerksamkeit. Sie werden rubriziert unter „law and literature" sowie „law as literature". Ich belasse es bei dieser knappen Bemerkung. Andernfalls wäre ein großes eigenes Kapitel fällig. Statt dessen wähle ich aus der Masse möglicher anderer Texte zwei Sorten aus. Das sind die von mir so genannten Subtexte und Geheimtexte. Die Subtexte unter die nicht-kanonisierten Texte einzuordnen, ist keineswegs zwingend. Aber irgendwo müssen sie schließlich hin. Bei ihnen geht es - rein äußerlich betrachtet - um etwas uns durchaus Vertrautes. Nur kümmert man sich kaum jemals darum, was es damit in Wahrheit auf sich hat. Wir alle haben diese Texte gelernt. Wie Vokabeln. Angeboten werden sie - , wenngleich nur selten ausdrücklich - als Definitionen. Im Strafrecht hatten und haben sie hohe Konjunktur. Zur Erläuterung nur zwei Beispiele: Wegnahme „ist" - das kann wirklich jeder Jurist auswendig hersagen - „der Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht notwendig tätereigenen Gewahrsams". Auch die Urkunde kriegen die meisten problemlos hin. Sie „ist" eine „verkörperte Gedankenerklärung, die den Aussteller erkennen läßt und zum Beweis rechtserheblicher Tatsachen geeignet und bestimmt ist". Und so weiter und so fort. Das StGB rauf und runter. Was dessen Besonderen Teil anlangt, so hat Küper vor kurzem ein bemerkenswertes Buch veröffentlicht. Es enthält alle gängigen Definitionen nebst Erläuterungen. Er selbst bezeichnet es auch als „Definitionen-Lexikon" sowie „Wörterbuch der gesetzlichen Begriffe". Die von Küper gesammelten Begriffsbestimmungen enthalten jeweils das Kondensat und Konzentrat dessen, was h. L. und st. Rspr. zur Umschreibung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale herausgearbeitet haben. Das Buch packt man am besten und sichersten mit feuerfesten Glacéhandschuhen an. Glacé zum Zeichen der Bewunderung für das vom Autor Geleistete. Feuerfest, damit man sich nicht die Finger verbrennt. Im Ernst: Die Sache ist gefährlich. Die Subtexte fördern eine Subkultur des Nachplapperns. Doch nenne ich sie primär aus einem anderen Grunde so. Es geht nämlich zu wie im Kino oder Fernsehen mit fremdsprachlichen Filmen. Die Helden sprechen zum Beispiel französisch. Ihr Text gleicht dem Gesetzestext. Unten am Bildrand läuft der deutsche Text als Untertitel mit. Der entspricht, wenn er sehr gut ist, den Definitionen der Juristen. Die Texte dieser Begriffsbestimmungen werden alsdann in den richterlichen Begründungstext hineincollagiert. Mitunter so unauffällig, daß man gar nicht mehr 3*

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merkt, was hier vorgeht. So heißt es in einer Grundsatzentscheidung des BGH lapidar: „Gewahrsam ist ein tatsächliches, vom entsprechenden Willen getragenes Herrschaftsverhältnis über eine Sache". Aus. Widerspruch erfolglos. Warum? Weil Definitionen angeblich nichts anderes tun als das Wesen eines Begriffs zu benennen. Dieses Wesen hat man zuvor-wie auch immer, vermutlich mittels Wesensschau - erkannt. Und gegen wahre (!) Erkenntnis ist kein Kraut gewachsen. Offenbar aber sind nicht alle zu diesen Kognitionen fähig. Sonst brauchte man sie nicht als Definitionen zu lernen. Da gegen Erkenntnisse selbst die Erkennenden machtlos sind, müssen sie sich dann in unserem Beispiel u. a. mit dem angeblich für den Gewahrsamsbegriff essentiellen Willenselement herumschlagen. Das bereitet dann die bekannten großen Schwierigkeiten. Man denke nur an den Sachherrschafts willen eines Bewußtlosen. Besonders peinlich wird es, wenn der dann auch noch stirbt, ohne zuvor das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. In unserem Verteilerkasten-Fall ist es am Ende - wenn auch aus anderen Gründen - kaum weniger schlimm, jedenfalls schlimm genug. Wie so häufig, sehen wir auch hier: Der Subtext allein hilft nicht weiter. Zumindest, wie wir eingangs gesehen haben, dem BGH nicht. Denn weshalb versteift er sich auf die Ästhetik von Verteilerkästen? Die Ästhetik - richtiger natürlich: die Schönheit, ist doch Ästhetik lediglich die Lehre vom Schönen, was uns hier indessen so wenig kümmern soll wie den BGH - , die sogenannte Ästhetik also kommt in § 303 StGB nicht vor. Und in den gängigen Definitionen auch nicht. Darin ist - soweit sie für uns einschlägig sind - nur die Rede davon, daß derjenige eine fremde Sache beschädigt, der in der Weise auf sie körperlich einwirkt, daß er entweder deren Substanz verletzt oder aber ihren bestimmungsmäßigen Gebrauch beeinträchtigt. Als dritte Erscheinungsform der Sachbeschädigung wird schließlich deren nachteilige Veränderung genannt. Wobei als Maßstab das vernünftige Interesse des Eigentümers am bisherigen Zustand seiner Sache bestimmend sein soll. Sachbeschädigung als Vernunftsverstoß. Welchem Vernünftigen fällt so etwas ein? Warum bereitet die Sachbeschädigung solche Probleme? Zumal wir uns doch alle in den Normalfällen des Alltags durchaus auskennen. Beim Autounfall wurde der Wagen beschädigt. Der Sturm hat viele Häuser beschädigt. Das Buch ist beschädigt. Keine Probleme. Anders beim Verteilerkasten. Hier lassen uns die Subtexte im Stich. Wo liegt der Hase im Pfeffer? Wer den Fall lösen muß-und die Richter stehen nun einmal unter Entscheidungszwang - , der darf fast alles. Nur nicht hasengleich sagen, er wisse von nichts. Und was wußten die Bundesrichter? Das führt uns zu den Geheimtexten. Doch zuvor seien noch die Subtexte zusammenfassend vorläufig wie folgt charakterisiert: Sie dulden, weil angeblich nur das Wesen des vorgegebenen Begriffs erläuternd, prinzipiell keinen Widerspruch, ersparen auf diese Weise scheinbar eigenes Denken, spiegeln Sicherheit aber lediglich vor, lassen uns also ratlos allein. Wie nicht zuletzt Examenskandidaten stets erneut erfahren, die um so enttäuschter sind, je fleißiger sie ihre Vokabeln gebüffelt haben. Collagetechnisch gesprochen: Die Subtexte täuschen einen platten Realismus vor,

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ein naturalistisches Bild, das niemand ändern darf, ohne die Wahrheit zu verfälschen. So wird das offene Kunstwerk verraten zu Gunsten einer hermetisch abgedichteten, dem Betrachter auf diese vertrackte Weise von vornherein und - zumindest der Intention nach - für immer die Möglichkeit genommen, das Bild gedanklich „weiterzumalen". Belletristische Literatur kennt den „Lector in fabula". Im Hinblick auf die Subtexte jedoch ist textuelle Mitarbeit seitens eines „Spectator in pictura" unerwünscht. Härter noch: Sie wird nicht geduldet. Der mögliche, aus tradierter Sicht sogar naheliegende Einwurf, Entscheidungsgründe seien nicht zum Fortschreiben oder „Weitermalen" gemacht, vielmehr einfach zustimmend oder ablehnend hinzunehmen, verkennt, worum es geht. Der Entscheidungsprozeß, der rechtliche Herstellungsprozeß wird nur formal vorübergehend gestoppt, mit dem Urteil aber nicht ein für allemal gedanklich beendet. Der Prozeß geht weiter. Er kennt so wenig ein Ende wie jede Geschichte. Das belegen nicht nur fortwährende wissenschaftliche Diskussionen. Auch der Verurteilte schuldet nicht blinden Gehorsam. Er kann das Urteil nur weiterdenkend akzeptieren. Und nun zu den Geheimtexten. Die haben nichts Geheimnisvolles an sich. Ich nenne sie nur so, weil sie zwar die Entscheidungen maßgeblich bestimmen, dessen ungeachtet aber niemals offengelegt werden. In diesem Sinne sind sie geheim. Nun können allerdings unmöglich stets alle Texte, von und aus denen die Entscheidung lebt, ausnahmslos in die Textcollage eingearbeitet werden. Sie wäre dann auch eher ein Mosaik. Gleichviel. Die in aller Regel irreduzible Unvollständigkeit gilt vor allem für den breiten Bereich unseres sogenannten Hintergrundwissens, das seinen Namen gerade der Tatsache verdankt, daß es normalerweise im Hintergrund bleibt. Mithin nicht in jedem Falle vertextet wird. Unterstellt, es sei überhaupt schon einmal ausformuliert worden. Doch vieles davon bedarf erst noch der vollen begrifflichen Aufbereitung. Es lohnte sich gewiß, eine Phänomenologie der regelmäßig ungenannten Grundlagen der richterlichen Entscheidungen zu schreiben. Und keinem bleibt erlassen, diese Arbeit für sich selbst zu leisten, den hintergründlichen Begriffsnebel von Zeit zu Zeit zu lichten, so gut es geht. Helfer stehen parat. Das sind die Philosophen. Lediglich zwei seien hier ausdrücklich genannt: Nelson Goodman und Richard Rorty. Wittgenstein und Luhmann sind ohnehin immer dabei. Der springende Punkt: Sie bringen das von den meisten in aller Regel bestenfalls unfertig Begriffene auf den Begriff. Und räumen es notfalls zur Seite, um Neuem, Besserem Platz zu machen. Doch das ist allemal erst der zweite Schritt. Vorab gilt es, das Halbdunkel unserer Grundannahmen aufzuhellen. Diese sind häufig bis immer deckungsgleich mit den Alltagsauffassungen des common-sense. Ich zähle ein paar auf. Da ist der Glaube an eine Subjekt- und damit sprachunabhängige Welt voller Tatsachen, fix und fertig, die nur darauf warten, von uns erkannt zu werden und die es genau so, wie sie sind, auch gäbe, wenn wir nicht da wären. Ferner ist zu erinnern an die Beschreibungsfunktion der Sprache, namentlich die Bezeichnungs-

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funktion von Substantiven. Niemals zu vergessen: der Dualismus, wonach die Welt trennscharf eingeteilt ist in Außen und Innen. Juristen kennen in diesem Zusammenhang die äußere und innere Tatseite und sprechen demgemäß von objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen. Im übrigen reden gerade auch sie vor dem Hintergrund einer längst obsoleten Dingontologie und der dazu passenden ebenso veralteten Epistemologie. Das stört sie freilich in keiner Weise. Und wenn sie es ausnahmsweise merken, weil sie damit Schiffbruch erleiden, dann tauschen sie nicht etwa ihre „alteuropäischen" Denk- und Handlungsmuster gegen moderne aus. Sie suchen statt dessen ihr Heil in ad hoc ersonnenen Ausweichstrategien. Wer Beispiele braucht, vergewissere sich nur, was Strafrechtler alles anstellen, wenn es um die Freiwilligkeit des Rücktritts geht oder den dolus eventualis. Um für diesmal nur diese beiden aus der Dunkelkammer der Willensproblematik zu nennen. Längst überholte Hintergrundannahmen wirken sich auch verhängnisvoll aus bei der strafrechtlichen Bewältigung des Verteilerkasten-Falles. Zu diesem Zweck bringen die Bundesrichter ihre ästhetischen Vorstellungen von vorgestern ein und präsentieren sich obendrein als Wissenschaftstheoretiker uralter Schule. Wobei sie auch noch beides, also Ästhetik und Wissenschaftstheorie, unheilvoll miteinander verquicken. Das alles in einer Darstellung, die sich abschreckender kaum einer auszudenken vermag, der vorführen will, was schlechte, was unästhetische Rechtsrhetorik ist. Wir lesen: „Ob ein Verteilerkasten nach ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet worden ist und nach seiner Zweckbestimmung eigene Ansehnlichkeit hat, ist für die Anwendung des § 303 StGB ohne Bedeutung". Warum? Folgendes bieten die Richter zur Begründung an und muten sie dem Leser zu: „Die genannten Merkmale entziehen sich bei solchen Gegenständen der zuverlässigen Bestimmung". „Solchen Gegenständen" werden alsbald andere gegenübergestellt. Mit dieser Unterscheidung wird die hausgemachte Ästhetik des BGH fortgeführt. Ohne daß er uns verrät, woher er die Materialien für seine hausbackene Textcollage nimmt. Immerhin erfahren wir noch, daß „solche Gegenstände" näher qualifiziert werden als „technische Sachen und andere Gebrauchsgegenstände". Und weshalb nun lassen sich diese in ästhetischer Hinsicht nicht zuverlässig beurteilen? Trotz Weimar, Dessau und Ulm. Oder wo man sonst allein in Deutschland international anerkannte Bauhauskünstler und Industriedesigner finden mag. Man kann nur staunen. Die Bundesrichter berufen sich allen Ernstes darauf, es gäbe keine „allgemein gültigen Maßstäbe", um an ihnen zu messen, „ob technische Sachen und andere Gebrauchsgegenstände ästhetischen Wert haben und ansehnlich sind". In der Tat, die gibt es nicht. So wenig wie zum Beispiel allgemeingültige Maßstäbe dafür, ob das schon genannte Opfer einer Körperverletzung in „erheblicher Weise dauernd entstellt" ist. Oder ob ein Dieb auf frischer Tat betroffen wurde, wofür wir natürlich auch einen Subtext parat haben, wonach zwischen der Vortat und dem Bemerktwerden ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang bestehen muß. Wo aber-bitteschön - fängt der an? Wo hört der auf? Wieviel Meter darf sich der Täter denn vom Tatort entfernt und welche Anzahl von Minuten dazu gebraucht haben? Werfen wir

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nur einen Blick ins Zivilrecht. Wann beginnt denn eine „billige Entschädigung in Geld" unbillig zu werden? Gibt es etwa dafür „allgemeingültige Maßstäbe"? Bedürfte es wirklich solcher Maßstäbe, um richtige richterliche Entscheidungen zu treffen, diese wären auf weiteste Strecken unmöglich, eine „konsistente Jurisdiktion" nie und nimmer zu haben. Eigentlich möchte man unterstellen dürfen, die Bundesrichter wüßten das. Warum aber verwenden sie dann die Tatsache des Fehlens allgemeingültiger Maßstäbe als Argument, wenn es um die „eigene Ansehnlichkeit" von Verteilerkästen geht? Noch einmal: Wie kommen die Richter zu dieser verqueren Ästhetik? Aus welchen Quellen speist sie sich? Um die wissenschaftstheoretische Grundierung der Entscheidung steht es nicht besser. Denn nunmehr heißt es, für „Gemälde" etc. sollte im Gegensatz zu den Gebrauchsgegenständen „etwas anderes" gelten. Will sagen: In Bezug auf sie gäbe es durchaus die soeben noch vermißten „allgemeingültigen Maßstäbe". Wer „Gemälde" sagt und nicht schlicht von Bildern spricht, denkt vermutlich an Rembrandts Nachtwache und Dürers Hasen. Selbst die aber sind Meisterwerke nicht nach „allgemeingültigen Maßstäben", sondern nach allgemeiner Übereinkunft. Zu Zeiten der „Nachtwache" selbst sah das noch anders aus. Und wie steht es um Beuys heute? Ich breche hier ab und stelle nur abschließend fest, diesmal wirklich fest: kein solider Philosoph und/oder Wissenschaftstheoretiker wagt es heute noch, „allgemeingültige" Maßstäbe zu propagieren. Ohne daß die Abkehr von Absolutismus, Universalismus und Essentialismus den Schwenk bedeutete zu einem schrankenlosen Relativismus. Doch just dies beargwöhnen sicherheitsversessene Juristen stets und ständig. Sie müssen erst noch lernen, mit prinzipiellen Unsicherheiten zu leben. Und ihre Diskurse, ihre Rechtsdiskurse, auch als Unsicherheits- und Unbestimmtheitsdiskurse zu führen. Dazu kann und darf ein liberaler Rechtstheoretiker die Bundesrichter selbstredend nicht zwingen. Er kann dagegen - und muß es auch - von ihnen verlangen, sich mit der Moderne, notfalls Postmoderne auseinanderzusetzen. Offen. Der alte Witz, es gäbe dreierlei Urteilsgründe, die gesprochenen, die geschriebenen und die wahren, ist nicht länger zum Lachen. Eher zum Heulen. Um es mit anderen Worten zu wiederholen: Richtern, zumal Bundes- und Bundesverfassungsrichtern ist künftig nicht mehr nachzusehen, daß sie diese Auseinandersetzung scheuen. Sie mögen eine überholte Ästhetik vertreten und mit Geltungsansprüchen koppeln, die außer ihnen kaum noch jemand ernstnimmt. Sie sind frei, zeitgemäße Diskurse als zeitgeistbedingt, befallen vom (natürlich) bösen Zeitgeist zu geißeln. Aber die Begründung dafür bleibt ihnen nicht erlassen. Sie tragen die Beweislast. Ihre Beweistexte dürfen sie nicht als Geheimtexte verschließen. Diese gehören in die textcollagierte Lösung. Anderenfalls ist sie fehlerhaft. Das zu sagen, führt ohne Umwege zu der letzten großen Frage. Es ist wieder die Gretchenfrage. Wir fragen wie zuvor beim Sachverhalt als Textcollage, so auch bei der Lösung als Textcollage, nach den jeweiligen Prüfkriterien.

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Wiederum wissen wir am besten und sichersten, was wir nicht haben: den Metatext. Hinter oder über dem Grundgesetz - auch nicht ihm vorgelagert - liegen oder lauern keine hehren Prinzipien und letzte Antworten. Nirgends. Gott ist tot und der metaphysische Himmel eingestürzt. Darin sind sich alle einig, deren Wort gegenwärtig etwas gilt, darunter im übrigen so zum Teil grundverschiedene Denker wie, sagen wir Abel, Derrida, Foucault, Goodman, Habermas, Luhmann, Lyotard, Peirce, Putnam, Quine und Rorty. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung, in einer Welt zu leben, richtiger: in Welten, in denen die großen Entwürfe ihre einstige Plausibilität verloren haben, die großen Erzählungen zuende erzählt worden sind. Die Topoi der nachmodernen Moderne tragen Namen, bei deren bloßer Nennung die juristischen Sicherheitsfetischisten sich am liebsten die Ohren verstopften, wären sie nicht ohnehin taub. Und obendrein blind, um die an anderen Orten längst vollzogenen Paradigmenwechsel auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Indessen: Wenn es auch den Text, den Supertext, nicht gibt, an Texten mangelt es keineswegs. An Texten, die allesamt als Metatexte fungieren. Das Gesetz selbst ist einer von ihnen, aber wiederum eben nur einer. Wie sollte auch für die Überprüfung einer Collage prinzipiell anderes gelten als für die Hervorbringung derselben! Wie dort, so bedarf es aber auch hier der Heranziehung weiterer Texte. Was die betrifft, so ist zunächst ebenfalls nicht mehr zu sagen als: alles, wie gehabt. Wie zuvor schon erweist es sich zudem erneut als nützlich, uns umzuschauen, wie es um die Kritik der Elaborate anderer Collagisten und Textmonteure bestellt ist. Was dabei die Literatur anlangt, so sei nur ein Name wenigstens kurz erwähnt, der bei den Juristen, so weit ich sehe, bislang ebenfalls nicht vorkommt. Obwohl ihn alle kennen, wenngleich eher als Verfasser dickleibiger Romane: Umberto Eco. Der selbst ein Collagist, ein Textmonteur von höchsten Graden ist. Und aufs exzellenteste vorführt, wie man das macht. Am amüsantesten im „Foucaultschen Pendel". Worin er uns ganz nebenbei verrät, was eine gute Geschichte, ein guter Text, am Ende haben muß: ein plausibles, rationales und klares Profil. Wie die „Entscheidungsgründe" genannte Textcollage. Wenn es nächst der faktischen Seite jetzt um deren „rein rechtliche" Dimension geht, können deren kritische Beurteiler wiederum im Grunde nichts anderes tun als Literaturkritiker oder Kunstkritiker. Was jetzt kommt, wird manchen zu wenig sein. Das also, werden sie sagen, sei des Pudels Kern. Von dem freilich vor Faust auch niemand vermutet hätte, daß er überhaupt einen hat. Darauf muß erstmal einer kommen. Auch das Einfache hat es schwer. Wittgenstein wußte es. Eco weiß es. Im „Pendel" ist es an vielen Stellen nachzulesen. Und wir müssen begreifen, was das eigentlich ist, das uns zuletzt doch aus der Patsche hilft, wenn es um die reklamierten Prüfkritererien für Entscheidungsgründe als Textcollagen geht. Es sind - ganz einfach - in aller Regel die ständige Rechtsprechung und herrschende Lehre. Mehr nicht? Nein! Das bedarf der Erläuterung. Sie gelingt am ehesten mit Blick vorab auf Dworkin. Der vertritt bekanntlich eine These, die seltsamerweise selbst einige ansonsten

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durchaus Aufgeklärte für richtig halten. Und die vor allem vielen Juristen entgegenkommt. Sie besagt, es gäbe in allen Rechtsfällen, sogar in hard cases, stets nur eine, allein zutreffende Lösung. Das widerstreitet nun allem, was ich zuvor geschrieben habe. Kein Zweifel: Dworkins One-answer-Doctrin paßt nicht in die heutige philosophische Landschaft. Zu allem Überfluß läßt sie sich auch nicht realisieren. Dworkin selbst ist das keineswegs verborgen geblieben. Er hat deshalb eigens eine Richterfigur ersonnen mit dem treffenden Namen Hercules. Der quasi-göttliche richterliche Jurist soll leisten können, was kein irdischer Richter je vermag. Auf deutsche Strafrechtsverhältnisse übertragen wäre der Superrichter Hercules derjenige, dem es gelänge, was auch bei uns noch niemand sonst nachweisbar geschafft hat, nämlich für jede Tat die angeblich allein schuldangemesssene Strafe zu finden, sie punktgenau zu fixieren. Anders gesagt: Hercules taugte auch zum Erfüllungsgehilfen eines Punktstrafentheoretikers namens Dworkin. So darf man diesen nennen nach dem strafzumessungsrechtlichen beispielhaften Anwendungsfall seiner Theorie von der allein richtigen Antwort auf jede Rechtsfrage. Diese gewinnt auch nicht, wenn man sie, wie mehrfach geschehen, als lediglich regulative Idee ausgibt. Mithin so ähnlich, wie manche die Korrespondenztheorie der Wahrheit einstufen. Wer aber zugibt, es sei lediglich möglich, sich der Wahrheit, der wahren Wirklichkeit optimal zu nähern - so wie der richtigen Lösung eines Rechtsfalles - , der gibt den Gedanken an beides ja keineswegs auf. Hier die Vorstellung von wahren Sätzen, die der Wirklichkeit korrespondieren, und dort die Annahme, ein Urteil könnte die einzig zutreffende Entscheidung einer Rechtssache wiedergeben. Wiedergeben deshalb, weil sie ja schon feststeht, bevor Hercules sie findet. Wir brauchten uns deshalb mit Dworkin gar nicht abzugeben, seine Richtigkeitsthese als bestenfalls interessant zur Kenntnis zu nehmen, hätte Dworkin nicht doch ein großes Verdienst. Um deswillen ist er für mich der Kolumbus der Rechtstheorie. Gleich diesem fand er zwar nicht, was er suchte, erfand aber immerhin das, womit er glaubte, das am Ende nicht Gefundene, weil nicht Vorhandene, gleichwohl aufdekken zu können. Das ist die Rezeptur für die vom Richter erst zu erarbeitende Norm. Dabei handelt es sich um die weder mit dem Gesetzestext noch mit anderen Texten identische Entscheidungsnorm (Friedrich Müller), anhand derer der Fall letztlich gelöst wird. Für uns mithin die die Entscheidung tragende Textcollage. Dworkin hilft dabei auf seine Weise, diese zu überprüfen, indem er aufzählt, was der Richter in der gedachten Idealsituation des Hercules alles tun muß, um zur richtigen, der angeblich allein richtigen Entscheidung zu gelangen, sie zu „finden". Ich nenne es ein Entscheidungsverfahren nach dem Trichtermodell. Oben wird alles hineingegeben, was denkmöglich überhaupt als entscheidungsrelevant in Betracht kommt. Das ist zum einen - für uns im Augenblick aber nicht wichtig - die Menge aller nur denkbaren Realdaten - zum anderen - und das ist jetzt in jedem Wortsinne entscheidend - sämtliche Rechtstopoi. Als da sind: Regeln und Prinzipien, möglicherweise bereits ausformuliert in Gesetzen und Präjudizien. Wobei unter Prinzipien auch moralische fallen und nicht zuletzt die unseren Rechtsstaat prägenden Grundsätze. Die Engführung des Trichters bewirkt, daß unten eine auf den jeweils zu entscheidenden

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Fall pfeilgenau zugespitzte Theorie herauskommt, die, wenn ich recht sehe, der Entscheidungsnorm Müllerscher Provenienz täuschend ähnlich sieht. In unserer Textcollagesprache heißt das: Alle Texte dieser Welt, der Welten, in denen wir leben, sind, soweit - und sei es nur am Rande - rechtlich relevant als Collagematerial heranzuziehen bei der Herstellung der Collage und bei ihrer Überprüfung. Das ist die Zeigestockfunktion der Dworkinschen Rechtstheorie: Paßt auf, daß ihr nur ja nichts außer acht laßt. Und das die Archimedesfunktion: nämlich so zu tun, als bekäme man tatsächlich von außen her alles, wirklich alles in den Griff. Doch da draußen ist für uns kein Platz. Wir müssen - wie allemal - drinnen entscheiden: im System. Wie die Literaturkritiker innerhalb des Literaturbetriebes und die Kunstkritiker innerhalb des Systems Kunst. Im System, das keiner überblickt. Von draußen schon gar nicht. Aber auch drinnen ist es niemandem mehr möglich, alles zu sehen, was es gibt. An Texten. An Rechtstexten und solchen, die es werden können. Das fällige Stich- und Schlagwort lautet Komplexität, aufgestockt inzwischen zur Hyperkomplexität. Der ist nur beizukommen durch Reduktion. Nichts anderes bleibt uns auch übrig im System der Rechtstexte. Reduktion also auch hier. Und zwar Reduktion durch Selektion. Die wird von vielen seit langem tatkräftig ins Werk gesetzt. Ihr Mittel: das Verfertigen von Texten. So treten zu der schier unübersehbaren Menge von Texten neue Texte hinzu. Die „Gesamtrechtstextcollage" wird mithin zunächst einmal vergrößert. Gleichwohl aber am Ende überschaubar. Das ist die Leistung der „ständigen Rechtsprechung". Und der „herrschenden Lehre". Doch beschränken wir uns jetzt auf erstere. Zum Beweis ihrer Beständigkeit produziert sie zwar zunächst einmal ein Mehr an Texten, nämlich die Belegtexte, das heißt die Inbezugnahme früherer Judikate. PC-routinierte Richter nutzen heute ihre Chance und übernehmen ganze Textpassgen aus anderen, auch eigenen älteren Entscheidungen. So entstehen serienweise „Fließbandtextcollagen". Der dennoch erreichte Einspareffekt: es bedarf keiner neuen Begründungstexte. Der Verweis auf die „st. Rspr." ist die Begründung. Die - wenn man denn unbedingt so will - Metabegründung. Wie auch immer. Es kann vorkommen - und kommt Gott sei Dank vor - , daß die alten Autoritäten neuen Anforderungen nicht gewachsen sind. Die „klassischen" Texte der st. Rspr. taugen nicht länger für auch künftig ansehnliche Textcollagen. Es treten eben Fälle auf, die mit den überkommenen Texten nicht befriedigend zu lösen sind. Zumal es häufig genug dann bereits an Gesetzestexten fehlt. Die traditionellen Methodenlehren sprechen hier von der Notwendigkeit, Gesetzes- oder Rechtslükken zu schließen. Ein weiterer Topos ist der von der notwendigen Fortentwicklung des Rechts überhaupt. Dabei ergeben sich Probleme, die wir hier lediglich aus unserer Textcollagensicht angehen wollen. Zunächst eine Klarstellung: Lücken im Sinne der überkommenen Auffassung können für uns gar nicht auftreten. Denn da es für uns nicht „das Recht" gibt, fehlt

Entscheidungsgründe als Textcollage

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mithin ein „Ding", das Löcher haben könnte. Das mit „Löchern" angesprochene defizitäre Element kann also höchstens darin bestehen, daß es an Rechtstexten mangelt für die zur Entscheidung eines bestimmten „neuen" Falles dienende Textcollage. Da wir nicht auf einen vorgegebenen Textcanon verpflichtet sind, macht uns das freilich keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Uns ist ja jeder Text recht, paßt er nur in unsere Collage. Er darf, wie wir sagten, überall herstammen. Selbst aus der Literatur oder - horribile dictu - der Philosophie. Nein, wenn es wirklich eine Kalamität geben sollte, dann formuliert sie die folgende Frage: Wie gelingt es, die Entscheidung des - immer unterstellt - völlig neuen Falles zu rechtfertigen? Gesetze fehlen. Ein Rückgriff auf die „st. Rspr." ist ausgeschlossen, weil es ja auch diese hierzu nicht gibt. (Anbei: Eine „h. L." konnte sich gleichsam per definitionem gleichfalls noch nicht bilden.) Dem Richter ist es zwar gelungen, den neuen Fall - im Zweifel nur der erste einer neuen Serie - einer passablen Lösung zuzuführen. Nehmen wir an, er hat dem in seinem Persönlichkeitsrecht Verletzten zum Ausgleich des ideellen Schadens eine Entschädigung in Geld zugesprochen. Der Fall ist bekannt. Und jeder weiß, der Richter entschied contra legem. Aber durchaus im Einklang mit Art. 20 Abs. 3 GG, sofern man es danach für erlaubt halten will, daß der Richter eine andere „Rechtsquelle" anzapft als nur das Gesetz. Aber welche sollte das sein? Die Bundesverfassungsrichter kennen „ein Mehr an Recht..., das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Ordnung als einem Sinnganzen besitzt". Hätten sie nicht richtiger Meer geschrieben? Egal. Aus solchen „Quellen" quillt kein reines Wasser. Das Sinnganze macht keinen Sinn. Und kein Recht. , Was bleibt? In der Geschichte der modernen Kunst gibt es hierzu ein hübsches und überdies lehrreiches Exempel: die bekannten Ready-mades von Marcel Duchamp. Als der eines schönen Tages des Jahres 1917 auf die exklusive Idee verfiel - und sie alsbald realisierte - , ein Urinal, versehen mit dem pfiffigen Titel „Fontaine", als Kunstwerk auszustellen, da war das für die allermeisten ein feister Skandal. Mit einigen anderen Gegenständen des täglichen Gebrauchs verfuhr der Künstler ebenso. Heute sind diese Ready-mades als Kunstwerke allgemein anerkannt. Damals waren sie Kunst „contra legem". Und die Kunst war und bleibt, die Brücke zu bilden zwischen etablierten Kunstwerken und avangardistischen Kunststücken. Denen man mit dem bloßen Auge nicht ansieht, daß sie Kunst sind. Man kann es so wenig „sehen" wie eine Universität. Mit der notwendigen Aufklärungsarbeit ist die überkommene Ästhetik hoffnungslos überfordert. Hier mußte die Philosophie einspringen. Mutig neue Rechtstexte als solche auszuweisen, das bringt, wie wir sahen, nicht einmal das Bundesverfassungsgericht zustande. Auch nicht eine auf Rechtsquellen eingeschworene Methodenlehre.

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Dazu benötigen wir diesmal ganz besondere Texte. Die stammen aus der Werkstatt der Rechtsrhetorik. Wie diese aussehen, wie man sie eincollagiert und es am Ende gelingt, eine stimmige Entscheidungscollage zu fertigen, die der Überprüfung standhält, wie - zu guter Letzt - diese erfolgt, das alles gibt Stoff für mehr als einen weiteren Beitrag. IV. Anmerkung Mit Fußnoten ist das so eine Sache. Deshalb habe ich sie diesmal einmal weggelassen. Zumindest seit uns Merton nachdrücklich daran erinnert hat, daß wir alle auf den Schultern von Riesen stehen, ist jedem eh bewußt, daß er das meiste von anderen hat. Eine Ausname aber muß sein. Für jene, die unbedingt noch etwas weiterlesen wollen, gebe ich einen Hinweis, und zwar auf - nota bene - Walter Grasnick und seinen Aufsatz „Das Recht der Zeichen im Zeichen des Rechts", zu finden in dem Sammelband „Fremde Vernunft" (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1367). Da gibt es auch Fußnoten. Genau 147!

Semantik der Praktiker Sprache, Bedeutungsexplikation und Textauslegung in der Sicht von Richtern Von Dietrich Busse I. Einleitung Um einschätzen zu können, welche Relevanz solchen juristischen Sprachtheorien zukommt, wie sie in einer Fülle von rechtswissenschaftlichen Publikationen zur Auslegungsproblematik und -theorie in allen denkbaren sprachwissenchaftlichen und -philosophischen Schattierungen entfaltet wurden, ist es nützlich, einen Blick in die Auffassungen von Sprache, Bedeutung und Interpretation zu werfen, wie sie von praktizierenden Richtern in der Rechtsprechung selbst entwickelt und geäußert werden. Beim richterlichen Umgang mit Sprache sind zwei Aspekte streng zu unterscheiden: Zum einen die Interpretation sprachlicher Texte (d. h. die Feststellung ihrer Bedeutung und der ihrer Bestandteile), die als Gesetzestexte in einen spezifischen institutionalisierten juristischen Handlungszusammenhang eingebunden sind (d. h. Sprache als Werkzeug der Juristen): hier treten all die Fragen der Auslegungstheorie, des juristischen Stellenwerts verschiedener Methoden sowie ihrer sprachtheoretischen Implikationen auf, die in der Diskussion der akademischen juristischen Auslegungstheorie aufgeworfen werden (vgl. dazu Busse, Juristische Semantik). Zum anderen die praktische Bedeutungsexplikation bei nicht-juristischen Texten, wie sie vor allem bei den sog. Äußerungsdelikten stattfindet (d. h. Sprache als Gegenstand der richterlichen Tätigkeit). In der vorliegenden Untersuchung geht es nur um ersteren der beiden Aspekte (der letztere bedürfte einer eigenen rechtslinguistischen Analyse anhand ausgewählter Fallkomplexe; eine solche Analyse liegt jedoch bislang nirgends vor und wäre ein dringendes Desiderat der Forschung). Der folgenden Darstellung und Diskussion richterlicher Sprachauifassungen liegen mehr als 120 Urteilstexte der obersten Bundesgerichte zugrunde1, die nach ver1

Dies hat seinen Grund einerseits in der Materiallage: Die Urteilstexte der obersten Bundesgerichte sind in den Entscheidungssammlungen gut zugänglich dokumentiert. (Insofern bewirkt die Beschränkung auf diese Texte im Rahmen der folgenden Darstellung auch deren bessere Überprüfbarkeit.) Urteile unterer Instanzen sind sehr viel schwerer zugänglich; bei Landund Amtsgerichten aus Datenschutzgründen und für Nicht-Juristen nahezu nicht zu erhalten. Die Beschränkung auf die obersten Gerichte kann aber auch insofern gerechtfertigt werden, als deren Urteile Vorbildfunktion (mit der faktischen Kraft einer starken Bindungswirkung) haben und die dort geäußerten Sprachauffassungen und Auslegungstheorien dadurch auf die Urteile

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schiedenen Gesichtspunkten ausgewertet wurden. Linguistisches Kriterium war zum einen die Sprache, in der in den Urteilen über Sprache geredet wird; dazu gehört vor allem auch die Frage, ob und wie Sprache überhaupt explizit (im linguistischen Sinne) zum Thema wird (einschließlich der Art der Bedeutungsexplikation, die allerdings durchgängig derartig intuitiv ist, daß sie mit linguistischen Termini nicht gefaßt werden kann). Am von den Richtern deutlich formulierten Gegensatz zwischen „Wortlaute-Interpretation und „Sinn"-Interpretation wird deutlich, daß „Sinn" oder „Bedeutung" der Rechtstexte für die deutschen Bundesgerichte weitgehend außersprachliche Phänomene sind. Die Diskussion dieses juristischen „Sinn"-Begriffs leitet über zu den sprach- und auslegungstheoretischen Fragen eher juristischen Zuschnitts. (Im Zwischenbereich zwischen eher linguistisch interessanten, und eher juristisch relevanten Problemkomplexen liegen die Fragen des Bedeutungswandels von Rechtsnormen, die Frage, ob der sogenannte „allgemeine Sprachgebrauch" ein zureichendes Kriterium für die Interpretation von Gesetzes-Ausdrükken ist, sowie die Einbindung eines Gesetzestextes in den Deutungshorizont, der durch seinen im Tatbestandsteil der Normen angeschnittenen Wirklichkeitsbezug gegeben ist.) Im Vordergrund der juristischen Diskussion von Auslegungsproblemen liegen verständlicherweise die in der „herrschenden Meinung" entwickelten Auslegungskanones, die in den Urteilstexten vor allem hinsichtlich der Frage ihres wechselseitigen Vorrangs behandelt werden. Damit in engem Zusammenhang steht die für das richterliche Selbstverständnis so zentrale Frage der Gesetzesbindung, hier vor allem die Frage danach, wie der „Wille des Gesetzgebers" am besten zur Geltung gebracht werden kann, aber auch das aus rechtsstaatlichen Gründen so wichtige Bestimmtheitsgebot für Rechtsnormen. Eine Frage kann bei alldem kurz und vorweg beantwortet werden: diejenige nach dem Verhältnis zwischen Theorie (in Form der akademischen juristischen Auslegungslehre, ausführlich dargestellt in Busse 1993) und Praxis. Was die Heterogenität an Lehrmeinungen angeht, findet sich da eine (zumindest für den juristischen Laien) äußerst erstaunliche Übereinstimmung; sie kann für die Auslegungstheorien (und die ihnen folgenden Praktiken) der bundesdeutschen Obergerichte mit einem Wort Feyerabends bündig zusammengefaßt werden: „anything goes". Was den Streit der juristischen Schulen angeht, so wird man für jede einem persönlich passende Meinung auch ein entsprechendes rechtfertigendes Zitat des Bundesverfassungsgerichts und/oder des Bundesgerichtshofes finden. (Die richterliche Praxis ist dementsprechend: Es existieren diametral entgegengesetzte, sich eigentlich wechselseitig ausschließende Auslegungstheorien in versäulten Zitationsketten seit Beder unteren Instanzen durchschlagen. Die herangezogenen Urteile werden im Folgenden nach den juristischen Zitierkonventionen belegt (Entscheidungssammlung + Bandzahl + Seite des Beginns des Urteils + Seite des Zitats; z.B. BVferGE 5, 150ff., 162). Abkürzungen: BVferGE = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts; BGHSt = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen; BGHZ = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen; BAGE = Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts; BSGE = Entscheidungen des Bundessozialgerichts; BFinHE = Entscheidungen des Bundesfinanzhofs.

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ginn der Bundesrepublik nebeneinander. Wenn man für ein konkretes Urteil eine bestimmte Auslegungstheorie zur Untermauerung benötigt, braucht man nur auf die Suche zu gehen und wird garantiert fündig.) Für den Außenstehenden ist es angesichts dieser Lage schwer, die einzelnen Ausführungen überhaupt noch ernst zu nehmen und nicht für eine vom gewünschten Ergebnis her zu Rechtfertigungszwekken argumentativ konstruierte Rhetorik zu halten; eine solche Einschätzung würde dem tatsächlichen Ernst mancher dieser Auseinandersetzungen allerdings nicht gerecht. Was den zweiten Punkt des Verhältnisses zwischen akademischer Auslegungstheorie und Bedeutungstheorie der Praktiker angeht, ist die Situation nicht weniger klar: Die linguistisch und sprachphilosophisch interessierten und/oder fundamentierten sprachtheoretischen Ausführungen der akademischen juristischen Auslegungslehre entbehren nahezu jeglicher Relevanz für die Praxis: liest man die Urteilstexte, so hat man den Eindruck, diese Bemühungen um sprachtheoretische Fundierung des juristischen Arbeitens mit Sprache hätten schlicht nicht stattgefunden. Die richterlichen Sprachauffassungen sind daher ausschließlich vorlinguistisch; entsprechend ist auch der praktische Umgang mit Sprache bei Fragen der Bedeutungsinterpretation. (Man kann sich an dieser Stelle entweder resigniert abwenden und sich ein anderes Forschungsthema wählen, oder es als Ansporn begreifen, erst recht für eine interdisziplinäre Aufklärung der rechtslinguistischen Problemstellungen einen Beitrag zu leisten. Es wird niemanden wundern, daß der Verfasser dieser Zeilen sich für letztere Lösung entschieden hat.) II. Das Sprechen von Richtern über Sprache Das richterliche Sprechen über Sprache kann mit den neueren Bemühungen nach mehr linguistischer und methodischer Fundierung von Bedeutungsexplikationen innerhalb der juristischen Methodendiskussion - wie schon angedeutet - nicht mithalten.2 Bedeutungsexplikationen von Richtern sind (außerhalb der juristischen Fachfragen) stets intuitiv und rekurrieren kontrafaktisch auf eine vermeintliche Homogenität der deutschen Sprache. Intuition als Führerin der semantischen „Lehnstuhl-Methode" (Max Weber) scheint bei den Richtern eine eigene Dignität zu haben, wie solche Formulierungen zeigen: „eine unbefangene Deutung des Wortes ergibt...", „ein unbefangener Leser wird das Wort ..." 3 , „die ungezwungene Auslegung dieses Worts" 4. Vor allem bei der juristischen Würdigung nichtjuristischer Texte (ζ. B. bei Beleidigungsfällen) kommt die fiktive Figur des „verständigen Durchschnittslesers"5 zur Anwendung. Die Urteilstexte enthalten keine Hinweise, die darauf schließen lassen könnten, daß die „unbefangene" Bedeutungsinterpretation bzw. 2

Gerechterweise muß hinzugefügt werden, daß die analysierten Urteilstexte aus einem Zeitraum stammen, der bis 1949 zurückreicht. (Zu den linguistischen Grundlagen der Bedeutungsexplikation vgl. Busse, Textinterpretation.) 3 ΒVferGE 1, 117ff., 135f. 4

BVferGE 17, 67'ff., 77.

5

BVferGE 13, 32ff., 34; BVferGE 14, 293ff., 296.

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die Rechtfertigung durch den „Durchschnittsleser" in irgendeiner Weise empirisch abgesichert sind. Wenn schon Linguisten nicht wissen, über welches Sprachvermögen ein „Durchschnittsleser" verfügt, die Richter scheinen es wunderbarerweise qua ihrer eigenen Eingebung zu wissen. Dabei wird unterschlagen, wie problematisch linguistisch gesehen ein normativer Sprachbegriff und überhaupt die Annahme einer einheitlichen und homogenen „deutschen Standardsprache" ist. Es darf vermutet werden, daß sich hinter der Argumentationsfigur des „allgemeinen Sprachgebrauchs" doch nur das sehr spezifische bildungsbürgerliche bzw. durch akademische Ausbildung trainierte Sprachvermögen der Richter höchstselbst verbirgt; von „Unbefangenheit" kann dann keine Rede mehr sein.6 Ganz selten einmal wird auf die Divergenz verschiedener Sprachgebräuche Bezug genommen, vor allem wohl, wenn es um die Abwehr von (durch Prozeßparteien vorgebrachte) Deutungen geht, welche zum beabsichtigten Urteilsspruch konträr liegen. So wehrt das Bundesverfassungsgericht bei der Definition von „Gewissen" (bei Kriegsdienstverweigerung, Art 4, 3 GG) vorgebrachte philosophische und theologische Definitionen ab, um dann mit der Floskel „im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs" ohne Nachweis irgendeiner näheren empirischen Prüfung (und sei es auch nur durch Zitate aus einem Wörterbuch) munter mit einer eigenen Definition dieses schwierigen Wortes zu beginnen.7 Was „die Sprache" ist, darüber kommen den juristischen Interpreten keine Zweifel. So kann ein bestimmtes Wort, „wenn der Sprache nicht Gewalt angetan werden soll" 8 , eben nur in einem einzigen Sinn verstanden werden (natürlich derjenige, den die Richter jeweils für richtig halten). Meist wird das Verhältnis Wort - Inhalt als völlig unproblematisch behandelt, wie das juristische Sprechen über Sprache zeigt. Eine Bedeutung „haftet dem Wort an", sie kann „dem Wortlaut entnommen werden" 9, eine Interpretation beruft sich auf den „aus dem Wortlaut eindeutig zu folgernden Willen des Gesetzes"10, wenn sich nicht die Deutung „aus dem objektiven Sinn des Gesetzes ergibt" 11 , womit jede Interpretation eigentlich überflüssig wäre, da alles ja schon „objektiv" gegeben ist. 6

Dies zeigen alle Untersuchungen zu Sprachbarrieren und Übersetzungsproblemen zwischen Angeklagten und Juristen vor Gericht; vgl. die gesprächsanalytischen Studien von Hoffmann,, Kommunikation vor Gericht und Ders., Rechtsdiskurse, und die in Reitemeier, Studien zur juristischen Kommunikation, und Nussbaumer, Sprache und Recht, nachgewiesenen Arbeiten. 7 BVferGE 12,45 ff., 54ff.; vgl. auch BGHSt 17,144ff., 148. Auch Formulierungen wie „erforscht man einmal den Sprachgebrauch des Gesetzes vom..." (BGHSt 1,302 ff., 304) sind rhetorische Floskeln für das eigene intuitive Bedeutungsverstehen. 8 BVferGE 1, 299 ff., 312 f. Bezeichnend sind Formulierungen wie: Ein Wort X kann „ohne daß dem vernünftigen Wortsinn Gewalt angetan würde" nur Ζ bedeuten (BVferGE 17, 306ff., 312). Was ein „vernünftiger" Wortsinn ist, kann natürlich nicht durch empirische Prüfung bestimmt werden, sondern nur durch Verweis auf die Vernunft selbst; und was die besagt, wissen die Richter. 9 BVferGE 1, 117ff., 135. 10 BVferGE 8, 28 ff., 28. 11 BVferGE8,274ff., 274; vgl. auch BVferGE 11,126ff., 130 („objektiver Gesetzesinhalt").

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Streit über konkurrierende Deutungen gar dekouvriert sich angesichts solcher Objektivitäts-Gewißheit als Kleinlichkeit bzw. Abweichung vom immer schon vorgegebenen Konsens selbst. Auslegung hat haltzumachen, „wenn ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers vorliegt" 12 . „Sprache als Kleid des Gedankens"13 ist dem Inhalt, so die alltagstheoretische Sprachauffassung der meisten Richter, äußerlich; beider Verhältnis zueinander somit unproblematisch. Der rechtliche Inhalt der „toten Buchstaben" ist eine eigenständige Wesenheit (quasi platonischer Prägung) wie es in schöner Juristen-Lyrik heißt: „[Das Gesetz] ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist." 14 Sprache, als reine „Form" wird so zur bloßen Hülle, welche die eigenständigen Rechtsgedanken kaum tangiert; darum können diese sich auch wandeln „solange dies nicht die Form sprengt". Offen bleibt allerdings, wann denn genau die „Form gesprengt" wird. Ab welcher Entfremdung von Inhalt (gemeint ist natürlich: die eigene Auslegung) und Form ist denn der (angeblich sakrosankte) „Wortlaut des Gesetzes" verlassen? Daß dafür keine allgemeingültigen Kriterien angegeben werden können, zeigt, daß solche Bestimmungen sprachlicher Phänomene rein rhetorischen (d. h. situationsbezogenen argumentativen) Zwecken dienen. In der Reduktion der Sprache auf reine Form wirkt die Tradition der Begriffsjurisprudenz fort, welche die Rechtsgedanken als eigenständige Entitäten, als „Rechtsbegriffe" aufgefaßt hat, die ihr Eigenleben führen. Dies wird in den zahlreichen Gleichsetzungen von „Wort" und „Begriff 4 deutlich. So kann eine Gesetzesformulierung durch eine andere ersetzt werden, „ohne daß damit der Begriff einen anderen Inhalt erhalten sollte" 15 . Als Auslegungsgegenstand wird häufig nicht das „Wort", sondern „der Begriff 4 angesehen16, wenngleich beides (darin der Umgangssprache folgend) meist gleichgesetzt wird. 17 Semantisch gesehen wird dem „Begriff' wenn der Terminus mit „Wort" synonym gebraucht wird, ebenso wie diesem der „Inhalt" gegenübergestellt.18 Gelegentlich klingt aber auch die Konzeption an, „Begriffe" (als quasi psychische Entitäten) mit „Vorstellungen" gleichzusetzen.19 12

BVferGE9, 89ff., 102. BSGE5, 127 ff., 135. 14 BGHStlO, 157ff., 159f. 15 BVferGE 5, 85 ff., 142. 16 BVferGE54, 277ff., 298. 17 So als Belegstelle dafür, daß der Interpretationsgegenstand im selben Kontext abwechselnd einmal als „Wort" und ein andermal als „Begriff" bezeichnet wird BVferGE 26, 186ff., 201. Vgl. auch BGHSt 14, 116ff., 118 (Das Gesetz „verwendet einen Begriff'. Der Begriff ist „gemeint wie in der Alltagssprache"); ähnlich Β GHZ 46, 74ff., 76; BAGE6, 321 ff., 353. Zu Geschichte und Gebrauch des Begriffs „Begriff" vgl. Busse, Historische Semantik, 77 ff. sowie Haller, „Begriff', 780 ff. 18 So BVferGE 12,45 ff., 53, wo vom „Sinngehalt der Begriffe" geredet wird, und BGHZ 31, 105 ff., 108 f., wo vermerkt wird, daß „kein einheitlicher Inhalt des Begriffs" festzustellen sei. 19 So BVferGE4, 331 ff., 346, „...denn diese Vorstellung ist mit dem Begriff von ,Richter' und ,Gericht' untrennbar verknüpft, ist diesem Begriff immanent." 13

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Zum Ausdruck kommt hier eine ungenaue Redeweise, in der „Begriff 4 einmal mit „Wort" (also dem angeblich so „toten Buchstaben") gleichgesetzt wird, ein andermal der „Inhalt4' in einer psychologistischen Semantik mit „Vorstellungen44, und schließlich die „Vorstellungen" wieder mit dem Begriff. Die sich daraus letztlich ergebende Gleichung Wort = Begriff = Vorstellung = Inhalt vermengt die einzelnen Aspekte des sprachlichen Zeichens, die zur Gewinnung eines aussagekräftigen Bedeutungsbegriffs eigentlich auseinandergehalten werden müßten.20 Der BegriffsBegriff ist, so scheint es, jener Angelpunkt der richterlichen Auslegung, der es erlaubt, einerseits an den Gesetzestext „Auslegungen44 anzuschließen, die das Sprachverständnis eines „unbefangenen Lesers44 (d. h. mit den Kriterien des „allgemeinen Sprachgebrauchs44 interpretiert) eindeutig sprengen, aber andererseits stets die (verfassungsrechtlich vorgeschriebene) „Bindung an den Wortlaut44 noch behaupten zu können. Das eigentümliche Verhältnis zwischen Sprache als reiner Form („toter Buchstabe44) und Inhalt („lebendiger Geist44) in der höchstrichterlichen „Sprachtheorie44 kommt ζ. B. dort zum Ausdruck, wo die Bindung an den Wortlaut näher erläutert wird: „Dabei ist in aller Regel [...] mit der Auslegung nach dem Wortlaut zu beginnen, und zwar schon deshalb, weil das nach dem Wortlaut sprachlich Mögliche, also der mögliche Wortsinn, den Bereich bildet und die Grenzen absteckt, innerhalb deren ein vom Gesetz verwendeter Begriff überhaupt ausgelegt werden kann.4421 Interessant ist hier die offensichtliche Trennung des „Wortsinns44 vom „Begriff 4 ; denn wenn der „Wortsinn 44 eine Grenzziehung für die Auslegung des „Begriffs 44 bewirken können soll, so muß er schon allein sprachlogisch etwas anderes sein, als dieser „Begriff 4 selbst (wenn die Formulierung ernst genommen und nicht als leere Rhetorik abgetan werden soll). Diese Trennung wirft die Frage auf, ob Gesetzesauslegung von den Richtern überhaupt als Sprach-Interpretation bzw. Bedeutungsexplikation im engeren, sprachlichen Sinne aufgefaßt wird. Viele Formulierungen in Urteilsbegründungen deuten darauf hin, daß die Richter als „Sinn44 einer Gesetzesnorm eine Entität verstehen, die nicht auf die sprachliche Bedeutung eingeschränkt werden kann, so wenn es heißt: „Innerhalb der Grenzen des sprachlich Möglichen ist jeder Begriff nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift auszulegen, zu deren Aufbau er verwendet wird. 4422 Hier wird der „Sinn und Zweck44 eines Normtextes offenbar als übergreifendes Kriterium aufgefaßt, welches die „Auslegung des Begriffs 44 steuert (also implizit als dieser vorgängig verstanden wird). Hier gibt es (nimmt man die Formulierung ernst) offenbar drei „Stufen 44 der Bedeutung eines Normtextes: (a) das „sprach20 Andererseits wird an anderer Stelle „Begriff" und Sprache in begriffsjuristischer Manier strikt getrennt. So BVferGE 1,299ff., 314. („Abgesehen vom Wortlaut [...] ist es auch begrifflich nicht möglich, [...] zu verstehen.") 21 BGHZ 46, 74ff., 76; mit Verweisen auf BGHSt 14, 116ff., 118; 18, 151 ff., 152; 19, 198 ff., 159. Auf das problematische Konzept der „Wortlautgrenze", das hier in klassischer Formulierung entwickelt wird, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen; vgl. dazu aber Busse, Juristische Semantik, passim. 22 BGHSt 3, 300ff., 303.

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lieh Mögliche", welches, da es der Auslegung des Begriffs die Grenzen angeben soll, von diesem notwendig getrennt gedacht sein müßte, (b) den „Begriff 4 , der der eigentliche „Auslegungsgegenstand" sein soll, und (c) den „Sinn und Zweck der Norm", welcher wiederum die Auslegung des Begriffs präformiert. Da hier zwei Steuerungs-Kriterien für die Begriffsauslegung angegeben werden, nämlich „das sprachlich Mögliche" und „Sinn und Zweck der Norm", müßte geklärt werden, welches Kriterium im Zweifelsfall das Entscheidende sein soll. Diese Formulierung vereinigt denn auch in verschleiernder Harmonisierung die eigentlichen Gegenpole der juristischen Auslegüngstheorie: nämlich, ob eine Normtextauslegung streng „am Wortlaut" zu haften hat, oder ob sie, sich von ihm freimachend, nach anderen Kriterien „Sinn und Zweck" der Norm entwickeln kann (die einmal auch als „ihre wahre Bedeutung" aus Systematik und teleologischen Gesichtspunkten abgeleitet bezeichnet worden ist 23 ). Daß „Wortlaut" und „Sinn" des Gesetzes von den Richtern offenbar als Gegensätze begriffen werden, ausgedrückt etwa in der stereotypen Redewendung „Wortlaut und Sinn des Gesetzes"24, wird durch eine Vielzahl von Formulierungen in der ständigen Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte deutlich. Schon in einem der ersten Urteile des Bundesverfassungsgerichtes heißt es in einem Fall, wo angeblich keine „zwingenden Schlüsse aus dem Wortlaut gezogen werden können": „Dann aber kann das rechte Sinnverständnis [...] nur aus einer vernünftigen Sinninterpretation gewonnen werden." 25 Gemäß der friedlichen Koexistenz der vier juristischen Auslegungs-„Kanones" wird unter dem „Sinngehalt" eines Normtextes nicht unbedingt das verstanden, was Linguisten unter der sprachlichen „Bedeutung44 verstehen. Allerdings könnte die Tatsache, daß dem „Wortlaut 44 nicht nur der „Sinn44, sondern häufig auch der „Sinnzusammenhang44 gegenübergestellt wird 26 , in dem der 23

BVferGE 35,263 ff., 279. Dort wird zwar gesagt, daß „Ziel jeder Auslegung die Feststellung [sie!] des Inhalts einer Norm" ist (278), doch umgehend hinzugefügt, daß der Richter „am Wortlaut nicht haltzumachen braucht" (dazu s.u.). So auch BVferGE22, 28ff., 37, das vom „wirklichen Sinn" spricht, der nur erreicht wird, wenn die Auslegung „nicht zu streng am Wortlaut haften" bleibt. 24 BVferGE2, 380ff., 398; 8, 28ff, 28. 25 BVferGE 1,283 ff., 294. Aufhorchen läßt stets das Wort „vernünftig"; dann nämlich ist zu erwarten, daß eine gewünschte Interpretation nach allgemeinen „Vernunftkriterien" (tatsächlich: die je spezifische Ratio der Richter, d. h. ihre subjektiven Überzeugungen, Argumentationslinien und Wertehierarchien) entschieden wird; und dies wiederum heißt, daß der „Wortlaut" im engeren Sinne einer sprachlichen Bedeutungsexplikation verlassen wird. Vgl. auch Formulierungen wie: „Daher kann dem §.. über seinen Wortlaut hinaus vernünftigerweise nur der Sinn zukommen .." „Gegenüber dieser aus dem Sinn des §.. gewonnenen Auslegung muß der Wortlaut zurücktreten." „Daher darf die Auslegung nicht zu streng an dem Wortlaut haften, sondern muß dem wirklichen Sinn der jeweiligen Bestimmung so weit als möglich Rechnung tragen." BVferGE22,28ff., 37. Vgl. auch BVferGE4,387 ff., 401, wo gegenüber dem „Wortlaut einer Bestimmung" erst die „Entstehungsgeschichte" „ihren Sinn erschließt". 26 So BVferGE2,380ff., 399 und vor allem BVferGE35,263 ff., 278: „Ziel jeder Auslegung ist die Feststellung des Inhalts einer Norm, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist." Interessant vom linguistischen Gesichtspunkt der Textkohärenz her ist die Stellung, die Richter zum Wert des sprachlichen (nicht: rechtssyste4*

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Bezugstext steht, darauf hindeuten, daß die Juristen hier (in ihrem eigenen Sprachgebrauch) der Tatsache der Text- und Kontextgebundenheit jeder Wort- und Satzbedeutung Rechnung tragen, welche in der Linguistik erst in den letzten drei Jahrzehnten im Rahmen der Textlinguistik stärker berücksichtigt wird. Der Rückgriff auf die das Textformular übergreifende Instanz eines „Normsinns", d. h. die methodische Auffassung, daß sich der „wirkliche Sinngehalt" eines Normtextes erst aus einer „Gesamtbetrachtung" ergebe27, wird mitunter durch Hinweis auf die „Mehrdeutigkeit" der Worte in der Umgangs- und Gesetzessprache begründet.28 Dieser Auffassung, welche nur beweist, daß das Konzept einer lexikalischen „Wortbedeutung" (als „Vereinigungsmenge" aller möglicher Wortverwendungen d. h. Teilbedeutungen und unangesehen des konkreten Verwendungskontextes) eine linguistische bzw. lexikographische Fiktion ist, welche, will man sie in konkreten Interpretationsakten zur Anwendung bringen, nur zu Verwirrungen führt, wäre von linguistischer Seite nicht entgegenzutreten, wenn nicht die Auflösung des „Wortsinns" zugunsten eines übergreifenden „Sinngehalts" in der richterlichen Auslegungspraxis ständig Gefahr liefe, die sprachliche Normtextgrundlage völlig zu verlassen zugunsten einer ungebundenen Auslegung nach einem angeblichen „Zweck" der Norm. So, wenn der BGH bestimmt, daß „auch gegenüber einem sprachlich eindeutigen Wortlaut eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes Platz greifen muß. [...] Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht sein Sinn und Zweck." 29 Es drängt sich der Eindruck auf, daß in einer Assoziationskette, in der zunächst dem „Wortlaut" der „Sinn" als etwas Unterschiedenes gegenübergestellt wird, dann dem „Sinn" der „Sinnzusammenhang" als Korrektiv beigegeben wird, und schließlich die Redewendung „Wortlaut und Sinn" zwanglos durch die Redewendung „Sinn und Zweck" ersetzt wird, eine zunehmende Befreiung vom Normtext stattfindet, die schließlich zu Auslegungsergebnissen führt, welche durch keine „vernünftige" Begründung mehr als im engeren Sinne sprachliche Bedeutungsexplikation bezeichnet werden können: die Freisetzung (von allen Schranken) eines Rechts, das sich als „lebendig sich entwickelnder Geist" versteht.30 matischen) Kontexts für die Interpretation von Textstellen bzw. einzelnen Wörtern einnehmen. So betont einerseits der BGH, daß die Bedeutung einer bestimmten Gesetzesformulierung an einer bestimmten Gesetzesstelle kein Indiz dafür ist, daß dieselbe Formulierung an einer anderen Stelle dieselbe Bedeutung habe (BGHZ 52, 259ff., 262); andererseits verweist ein anderes Urteil anhand eines inkriminierten Textes völlig zurecht darauf, daß bestimmte Textfunktionen (es handelt sich um Listen) nur durch Rückgriff auf andere Texte erschlossen werden können (hier eine Anweisung, die die Funktion und den Gebrauch der Listen beschrieb; BGHZ 28, 142 ff., 144). 27 BVferGE 74, 51 ff., 57. 28 BGHSt 18, 151 ff., 152f.; ähnlich BGHZ 46, 74ff„ 79. So z.B. auch der Hinweis darauf, daß sich für bestimmte Auslegungsfragen „durch eine Wortinterpretation nichts gewinnen läßt" (BVferGE 26, 186ff., 201) oder die Kritik an einer bestimmten Auslegung, die nur verständlich sei, „wenn man das Wort sprachlich isoliert." (BVferGE 36, 342ff., 365). 29 BGHZ 17, 266ff., 275 f.; ähnlich BGHZ 18, 44ff., 49. 30 BGHSt 10, 157 ff., 160. Gerechterweise muß hinzugefügt werden, daß unterschiedliche bis gegensätzliche Auslegungstheorien seit 1949 bis heute neben- und gegeneinander existie-

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Aufschlußreich sowohl aus Sicht einer pragmatischen Linguistik, als auch hinsichtlich der rechtstheoretischen Figur „Wille des Gesetzgebers" ist, welche Sprachauffassung die Gerichte bezüglich der „Intention" eines Textautors und seiner Relevanz für die Textinterpretation haben. Solange es sich um die richterliche Beurteilung inkriminierter Texte handelt (diese Einschränkung ist wichtig und bezeichnend!), also z.B. bei als beleidigend oder verfassungsfeindlich angeklagten Texten, ist die Position eindeutig: „Maßgebend dafür, ob die Schrift den äußeren Tatbestand des §... erfüllt, ist ihr Inhalt, wie ein verständiger Durchschnittsleser ihn verstehen muß. Eine Schrift wirkt auf den Leser ausschließlich durch ihren Inhalt. Erläuterungen des Verfassers können nur Bedeutung erlangen, wenn sie in oder mit der Schrift zum Ausdruck kommen."31 Die Zielrichtung ist klar: Eine etwaige Autor-Intention muß sich in dem Text ausgedrückt haben. Welchen Inhalt der Text hat, beurteilt einzig der Rezipient; der Textautor darf kein Interpretationsmonopol für seinen eigenen Text beanspruchen, solange er nicht die Lesart in demselben Text näher erläutert hat. Etwaig angenommene „Autor-Intentionen" werden damit sprachtheoretisch als irrelevant bezeichnet.32 Das heißt ζ. B., daß eine Schrift vom Gericht auch dann als verfassungsfeindlich eingestuft werden kann, wenn der Autor damit erklärtermaßen keine verfassungsfeindliche Absicht verfolgt hat: „Auch eine Schrift kann, nach ihrem Inhalt und nur nach diesem beurteilt, also vom Willen des Verfassers losgelöst, eine Tendenz aufweisen und in diesem Sinne etwas ,wollen' [...] Es kommt auch vor, daß eine Schrift etwas ganz anderes zum Ausdruck bringt, als es der Verfasser beabsichtigte. Ist diese Schrift einmal erschienen, so führt sie ein Eigenleben."33 Abgesehen von der eigenwilligen Verwendung des Modalverbs „wollen" 34 kann man in dieser Auffassung wohl eine Entsprechung derjenigen Position sehen, die ren. Die obersten Bundesgerichte spiegeln (entgegen aller Beschwörung der „Einheit der Rechtsordnung") so getreulich die Heterogenität der akademischen Lehrmeinungen wider. 31 BGHSt 13, 32ff., 34. 32 So in Fortführung des zitierten Urteils: „Eine Schrift ist im wesentlichen nach ihrem Inhalt zu beurteilen, wie er auf den Leser einwirkt. Die Beurteilung ihrer Verfassungsfeindlichkeit hängt deshalb nicht von der etwaigen verfassungsfeindlichen Absicht des Urhebers ab, sondern von ihrem Inhalt, wie er dem Leser bekannt wird, nötigenfalls ergänzt durch Gerichtsoder Allgemeinkundiges." (BGHSt 17, 28 ff., 32 mit Verweis auf BGHSt 13, 32 ff., 34 und 14, 293 ff., 294) Interessant aus linguistischer Sicht ist an dieser Formulierung die offenbar vom Gericht vertretene Auffassung, daß eine Schrift selbsttätig auf einen Rezipienten „einwirken" kann. Die Leser werden durch dieses Wort zu einem unbeschriebenen, weißen Blatt gemacht; ihnen wird jede aktive Rezeptionstätigkleit, die von linguistischer Seite aus notwendig angenommen werden muß, abgesprochen. Diese Fiktion mag gebraucht werden, um einer Schrift eine solche „Macht" zuzuschreiben, daß dieselbe verboten werden kann, statt sich Gedanken über die Menschen zu machen und die Tatsache, daß sie es sind, welche verfassungsfeindliche Gedanken entweder hegen oder nicht, daß also nicht „die Schrift" dafür verantwortlich gemacht werden kann. 33 BGHSt 14, 293 ff., 294f.; vgl. auch BGHZ 3, 270ff, 283, wo die „subjektive Überzeugung der Beklagten" als „für die objektive Widerrechtlichkeit der strittigen Äußerungen" völlig unmaßgeblich bezeichnet wird. 34 Ein schönes Beispiel für die Tendenz der Rechtssprache zur „Entpersönlichung", die von Polenz, Über die Jargonisierung .., 8Iff. und Ders., Deutsche Satzsemantik, 187ff. beklagt.

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das Gesetz nicht als „toten Buchstaben", sondern als „lebendig sich entwickelnden Geist" sehen möchte; hier schlägt also die rechtstheoretische Position derjenigen, die das Gesetz stets nur nach „Sinn und Zweck" interpretieren wollen, auch auf die Beurteilung außerrechtlicher Texte durch. 35 Im Endeffekt heißt dies, daß die Richter sich selbst als Interpreten das Recht zumessen, definitiv (und mit Rechtsfolgen versehen) festzulegen, was als der „Inhalt" eines Textes anzusehen sei (da sie erklärtermaßen keine empirische Verständnisforschung bei tatsächlichen „Durchschnittslesern" unternehmen und unternehmen wollen). Die zuvor zur Rechtfertigung bemühte Figur des „verständigen Durchschnittslesers" muß dann, wenn es um die Beurteilung eines inkriminierten Textes als „verfassungsfeindlich" geht, zugunsten des Textverständnisses der Richter zurücktreten, wie das zitierte Gericht deutlich zu erkennen gibt: „Der Maßstab des verständigen Durchschnittslesers hat [...] nur die Bedeutung, daß der Gesamtinhalt der Schrift sorgfältig und sachlich zu beurteilen ist. [...] Wollte man hier noch den nur gedachten Maßstab des gebildeten' oder gar des politisch gebildeten Durchschnittslesers' anwenden, so bestünde in Wirklichkeit überhaupt kein brauchbarer Maßstab mehr." 36 Im Klartext heißt dies: geht es darum, einen Textautor wegen eines inkriminierten Textes zu verurteilen, so ist nicht die erklärte Absicht des Autors entscheidend, sondern die vom Gericht als „Textinhalt" festgesetzte Interpretation, die aber nicht als subjektive Interpretation zu erkennen gegeben wird, sondern hinter der rhetorischen Figur des verständigen Durchschnittslesers' versteckt wird. Wagt es ein Beschuldigter (oder seine Verteidiger) an eben dieser Figur eines fiktiven Lesers anzuknüpfen, und (vermutlich mit Verweis auf die angezielten Adressatengruppen eines Textes) zu differenzieren und nun ebenfalls auf die Figur eines „gebildeten" oder „politisch gebildeten Durchschnittslesers" Bezug zu nehmen, dann wird diese Figur flugs vom Gericht als völlig irrelevantes rhetorisches Instrument abgetan und zum „Maßstab" einer bloß „sorgfältigen und sachlichen" Beurteilung degradiert. (Die skizzierte Auffassung von der Unmaßgeblichkeit jeglicher Autorschaft erstreckt sich allerdings nicht auf alle Rechtsgebiete gleichermaßen; zumindest im Urheberrecht wird der Autorintention noch eine zentrale Bedeutung zugemessen: „Jede sprachliche Festlegung eines bestimmten Gedankeninhalts ist [...] Ausfluß der Persönlichkeit des Verfassers." 37) 35 Wobei zu fragen wäre, welche Funktion die Kategorie „Zweck des Textes" dann bei diesen inkriminierten Texten bekäme. 36 BGHSt 14, 293 ff., 296. 37 BGHZ 13, 334ff., 205 f. Vielleicht knüpft diese Äußerung aber auch das Band zwischen der Vernachlässigung der Autorintention bei Verfassungsfeindlichkeit seiner Schrift und der Verurteilung des Autors dieser autorlos zu interpretierenden Schrift. Zwar hat er keinen Einfluß auf die Interpretation des Textes; dieser hat unangesehen jeglicher Absichten einen „wirklichen Inhalt", der vom Interpreten festgesetzt wird. Für diese vom Interpreten festgesetzte „Bedeutung" darf er aber dann doch den Kopf hinhalten, da ja jeglicher Text „Ausfluß der Persönlichkeit des Verfassers" ist. Daß der „Inhalt" des Textes qua Interpretation von den Rezipienten (den Richtern) festgesetzt wird, steht in merkwürdigem Kontrast zu der oben erwähnten Ansicht, daß dieser Text das eigentlich „einwirkende", den neutralen und unbeteiligten Leser beeinflussende Medium ist.

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Hinsichtlich des „verständigen Durchschnittslesers" hat der Bundesgerichtshof selbst festgestellt, daß er lediglich eine rhetorische Figur sei. 38 Wie steht es um den gleichfalls häufig bemühten „allgemeinen Sprachgebrauch"? 39 Das schon zitierte Urteil zum Begriff „Gewissen" (bei Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4, 3 4 GG) weist dem „allgemeinen Sprachgebrauch" die Funktion des Deutungshorizontes zu, da die Begriffe des Grundgesetzes grundsätzlich in dessen Sinne verstanden worden seien, fügt allerdings auch den tieferen verfassungsrechtlichen Grund für diese These bei: „Das Verfassungsrecht geht davon aus, daß die Grundlage des politischen Zusammenlebens einheitlich für alle Staatsbürger zu bestimmen sei. Verfassungsbegriffe sind daher für alle Bekenntnisse und Weltanschauungen gleich zu interpretieren." 4 0 Allerdings schließt sich an diese Behauptung, wie schon erwähnt, nun keine Betrachtung über den allgemeinen Sprachgebrauch an, sondern eine Festsetzungsdefinition, die nur als sehr spezifische (und vermutlich gar nicht der wirklichen Umgangssprache entsprechende, sondern eigenwillige) Interpretation des erkennenden Gerichts bezeichnet werden kann: „,Gewissen 4 i m Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs und somit i m Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG ist als ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind." 4 1 Das argumentative Vorgehen der Bundesver38 Die Charakterisierung als „Maßstab" ist selbst wiederum eine rhetorische Figur. Ein wirklicher Maßstab bedürfte Kriterien. Die vom BGH angebotene „sorgfältige und sachliche Beurteilung" stellt ein solches Kriterium, das eine Überprüfung getroffener Interpretations-Entscheidungen ermöglichte, nicht dar, da die Ausdrücke „sorgfältig" und „sachlich" selbst wieder unterbestimmte Leerformeln sind, in die sich jeder nach Gusto alles Mögliche hineindenken kann. 39 Die Berufung auf den „allgemeinen Sprachgebrauch" findet sich z.B. in BVferGE 12, 45 ff., 54 ff.; 26,16ff., 29; 26,338 ff., 395 f.; BGHSt 1,1 ff., 3; 17,144 ff., 148; B AGE 6,321 ff., 353. Der Ausdruck „Umgangssprache" wird in BGHSt 18,151 ff., 152f. verwendet. Auch wird zum Bedeutungswandel der Rechtsbegriffe darauf verwiesen, daß diese die „Entwicklung des allgemeinen Sprachgebrauchs" nachvollziehen müßten (BGHSt 1, 1 ff., 3). 40 BVferGE 12, 45 ff., 54. 41 BVferGE 12, 45 ff., 54. Demgegenüber lautet die Explikation eines gängigen deutschen Wörterbuchs etwa: „Das Bewußtsein des Menschen von Gut und Böse im eigenen Verhalten, das Vermögen, sich moralisch selbst zu beurteilen." Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 560. Das Gericht erläutert zwar weiter unten ähnlich: „Als eine Gewissensentscheidung ist somit jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte." (55), doch ist diese Erklärung sichtlich zirkulär, da die „Gewissensnot" den zu erklärenden Begriff „Gewissen" selbst schon wieder voraussetzt und somit nur eine Schein-Definition vorliegt. Zudem sind Bestimmungen wie „ernste" Entscheidung selbst wieder hochgradig unterbestimmt (im juristischen Sprachgebrauch: „Ermessensbegriffe") und damit von der vorgefaßten Meinung über die (abstrakte, aber auch konkrete) Anwendbarkeit dieses Prädikates abhängig. Darüber hinaus enthalten die zitierten Charakterisierungen schon so viele Momente einer situationsbezogenen Definition, daß sie selbst bereits als von einem vorgängigen Urteil geleitet angesehen werden müssen und nicht (wie in der Fiktion der juristischen Auslegungslehre gerne behauptet) abstrakte Definitionen sind, die als Leitgrößen der Begriffsanwendung dienen könnten.

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fassungsrichter ist geeignet, das wirkliche Entscheidungsverfahren zu verschleiern. Wenn es, ausgehend von dem behaupteten verfassungsrechtlichen Erfordernis, daß Verfassungsbegriffe für alle Bürger gleich zu interpretieren seien, seine Definition des fraglichen Ausdrucks eigenständig (und unter Abweisung angebotener philosophischer und theologischer Interpretationen, s. o.) festsetzt, so hat das (in Umkehrung des Begründungsverlaufs) die tatsächliche Wirkung, daß eine Festsetzungsdefinition des Gerichts im Endeffekt als verbindlich für alle den Entscheidungen des Gerichte unterworfenen Bürger festgestellt wird. Soweit wäre dagegen nichts einzuwenden, wenn das Gericht nicht zusätzlich so weit gegangen wäre, diese eigene Festsetzungsdefinition (unter Hinweis auf die geforderte Einheitlichkeit der Interpretation von Verfassungsbegriffen) als „allgemeinen Sprachgebrauch" auszugeben. Tatsächlich ist dieser nichts anderes als eine rhetorische Figur, die der rechtfertigenden Absicherung der eigenen Interpretation dient. Während der äußere Textverlauf vom „allgemeinen Sprachgebrauch" über die Verbindlichkeit und Einheitlichkeit von Verfassungsbegriffen zur eigenen Definition des fraglichen Ausdrucks fortschreitet, ist das tatsächliche Vorgehen umgekehrt, beginnend bei der eigenen Interpretation, fortschreitend zu der Forderung, diese Interpretation müsse (da sie kraft Amtes als höchste Interpreten des Grundgesetzes als übereinstimmend mit dem Sprachgebrauch des Grundgesetzes zu gelten habe) für alle Bürger einheitlich und rechtlich verbindlich sein, endend bei der Behauptung, diese kraft Amtes erlassene Deutung sei gleichzusetzen mit dem „allgemeinen Sprachgebrauch". Es wäre allerdings verfehlt, wollte man diese Argumentationsstrategie als zufällige und willkürliche Rhetorik des erkennenden Gerichts betrachten. Vielmehr hat sie ihren Grund im zentralen verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot, das (vor allem für das Strafrecht) im Grundgesetz verbindlich festgeschrieben worden ist und in letzter Zeit zunehmend auch von den Gerichten vertreten wird. Wenn nach der Rechtsprechung Art. 103, Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Strafandrohung und damit auch Durchschaubarkeit ihrer sprachlichen Formulierung verlangt, „so kann das nur bedeuten, daß dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist. [...] Führt erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende »Interpretation 4 zu dem Ergebnis der Strafbarkeit eines Verhaltens, so darf dies nicht zu Lasten des Bürgers gehen."42 Die ständige Rechtsprechung ist allerdings weit davon entfernt, dieses anhand eines minderbedeutenden Bußgeldfalles entwickelte Verbot ausufernder Ausdeutungen des Gesetzestextes auf allen Rechtsgebieten und in breitem Umfang auch tatsächlich zu beherzigen (wie andere, gleichfalls aus dem Strafrecht stammende, Entscheidungstexte zeigen43). 42

BVferGE71, 108ff., 115. Schon in BVferGE 17, 306ff., 314 wurde Verständlichkeit von Gesetzestexten gefordert. 43 So BGHSt 14, 116ff., 118: „Verwendet ein Gesetz einen Begriff, der auch außerhalb der Rechtsanwendung im Alltagsleben üblich ist [es geht u.a. um „Fahrzeug", D.B.], so stellt sich für die Auslegung des Gesetzes die Frage, ob der in ihm verwandte Begriff in dem gleichen Sinne wie im alltäglichen Sprachgebrauch gemeint sei. Das muß nicht so sein. Denn das Gesetz gebraucht gelegentlich Begriffe in einem engeren Sinne als die tägliche Umgangssprache. [...]

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Allerdings ist die „Erkennbarkeit des gesetzgeberischen Wollens" im juristischen Argumentationszusammenhang kein allein sprachbezogen verstandenes Kriterium, deshalb wird auf das Bestimmtheitsgebot (und die damit zusammenhängende Frage, ob ein „Bedeutungswandel" von Gesetzestermini zugelassen werden kann) später zurückzukommen sein, wenn die richterlichen Stellungnahmen zu Gegenstand, Ziel und Methode der Gesetzesauslegung behandelt worden sind. I I I . Die Interpretationstheorien der Gerichte Die Richter sind in ihrer Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz „an Gesetz und Recht gebunden". Die Bindung an das Gesetz wird seit jeher als Bindung an „den Wortlaut" eines Normtextes verstanden. Jede juristische (und daher auch die richterliche) Auffassung von Wesen und Methode der Gesetzesauslegung muß sich daher mit dem Stellenwert des „Wortlauts" in der richterlichen Interpretationstätigkeit auseinandersetzen und damit, was darunter eigentlich verstanden werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer der ersten Entscheidungen die bis heute aufrechterhaltene und immer wieder zitierte offiziöse Charakterisierung des Auslegungsverfahrens wie folgt formuliert: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte der Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können."44 Diese höchstrichterliche Auslegungskonzeption ist insofern zweischneidig, als sich die gegensätzlichen Positionen der sog. „objektiven" und der „subjektiven" Auslegungstheorie gleichermaßen darauf berufen können (wenn letztere auch nur eingeschränkt). Zunächst ist sie die klassische Formulierung der „objektiven Theorie", da sie als Auslegungsziel den „objektivierten Willen des Gesetzgebers" bestimmt. Vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus ist die Formulierung allerdings problematisch. „Wille des Gesetzgebers" sieht zunächst so aus wie eine Berufung auf konkrete, feststellbare Absichten konkreter Personen (bzw. einer aus solchen bestehenden kollektiven Körperschaft). Jedoch wird diese Figur eingeschränkt auf den „objektivierten" Willen, wie er „im Wortlaut und Sinnzusammenhang" zum Ausdruck kommt; wir sehen hier eine Bestätigung der oben behandelten Auffassung, daß ein Text stets für sich alleine spreEs läßt sich nicht von vorneherein ausschließen, daß die Begriffe [...] ebenfalls in einer besonderen, den allgemeinen Sprachsinn einengenden Bedeutung gemeint sind. Ob das der Fall ist, läßt sich nur durch Ergründung des Gesetzeswillens erkennen." 44 BVferGE 1,299 ff., 312; vgl. auch viele weitere ähnlich lautende Urteile aller oberen Bundesgerichte.

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chen müsse. Wie im Fall der verfassungsfeindlichen Schriften wird hier jede Berufung auf explizit geäußerte „subjektive" Intentionen möglicher „Autoren" abgelehnt. Grundsätzlich besteht bei einer Berufung auf „Intentionen" als Kriterium der Bedeutungsfestlegung sprachlicher Äußerungen im Zusammenhang von Gesetzgebungsverfahren das Problem, daß als „Autor" verfassungsrechtlich nur „der Gesetzgeber" als abstrakte Figur angesehen werden kann, der konkret aus einer Körperschaft besteht (Bundestag, Bundesrat), die wiederum aus einzelnen natürlichen Personen (Abgeordnete) zusammengesetzt ist. Verbindlich ist aber nur der kollektiv erlassene Text. Einzelne Äußerungen einzelner Abgeordneter können nicht ohne weiteres als identisch mit der „kollektiven Meinung" der Körperschaft als Ganzer angesehen werden. Insofern findet die Beschränkung der Gerichte auf den Text selbst (und nur den im Gesetzblatt veröffentlichten Wortlaut) auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht ihre Berechtigung. An der sprachlichen Textform „Gesetzestext" findet die sprachtheoretische Figur „Intention des Autors" ihre praktischen Grenzen. Zwar wird niemand abstreiten, daß auch beim Verfassen und Verabschieden von Gesetzestexten Absichten, Vorstellungen und Ziele konkreter handelnder Personen im Spiel sind, doch ist die Berufung auf sie aus verfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, da ein einzelner Abgeordneter (eine einzelne Fraktion, ein Ausschuß) eben nicht identisch ist mit der allein zur Gesetzgebung befugten Körperschaft als Ganzer.46 Allerdings findet die Berufung auf subjektive Äußerungen (Auslegung aus der „Entstehungsgeschichte") entgegen dem zitierten Urteil ständig und erklärtermaßen dennoch statt. Dazu hat das Urteil dadurch ermächtigt, daß es die Heranziehung der „Entstehungsgeschichte" eines Normtextes „zur Bestätigung", aber auch zur „Behebung von Zweifeln" ausdrücklich zuläßt; es reicht daher schon, wenn ein „Zweifel", der sich bei der Interpretation von Sprachdaten so gut wie immer behaupten läßt, reklamiert wird, um das Abgehen vom „Wortlaut" zu rechtfertigen. Die Rechtsprechungsgeschichte der Bundesrepublik kennt daher zwei sich widersprechende, aber in Zitationsketten von Anbeginn säulenartig nebeneinanderher existierende Auslegungstheorien hinsichtlich der Verbindlichkeit des Gesetzes-„Wortlauts" für die richterliche Entscheidungstätigkeit. Zunächst sei die eine Linie skizziert, die die Auslegung an einen eng sprachlich gefaßten Begriff von „Wortlaut" und „Interpretation" binden will. In klassischer Formulierung: „Der 45

Weshalb häufig auf den „objektiven Sinn des Gesetzes" verwiesen wird, so ζ. B. BVferGE8, 274ff., 274. 46 Das Bundesverfassungsgericht beruft sich einmal mit Zitat (was sonst so gut wie nie vorkommt!) auf den großen demokratischen Staatsrechtler und sozialdemokratischen Justizminister der Weimarer Republik, Gustav Radbruch, der dazu gesagt hatte: „Der Staat spricht nicht in den persönlichen Äußerungen der an der Entstehung des Gesetzes Beteiligten, sondern nur im Gesetz selbst. Der Wille des Gesetzgebers fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes." (ι Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, 4. Aufl., 1950, S. 210f.; zit. nach BVferGE 11, 126ff., 130). Allerdings ist die Metapher „Wille des Gesetzes" selbst wiederum höchst problematisch und nicht gegen demokratiefremde Ausnutzungen gefeit!

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Wille des Gesetzgebers kann bei der Auslegung des Gesetzes nur insoweit berücksichtigt werden, als er in dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat. [...] Der , Wille des Gesetzgebers4 ist der im Gesetz objektivierte Wille. 4447 Noch im Tenor der „objektiven44 Lehre heißt dies: Bezugsgröße der richterlichen Auslegung ist einzig und allein der Text, der weitgehend eng an der sprachlichen Formulierung („hinreichend bestimmter Ausdruck 44) zu interpretieren ist. Bezeichnend ist, daß hier einmal ein Gericht die argumentative Figur „Wille des Gesetzgebers44 durch die Anführungsstriche implizit selbst als eine solche gekennzeichnet hat. Wenn eine gesetzgeberische „Absicht44 nicht „im Wortlaut des Gesetzes zum Ausdruck gekommen44 ist dann „muß eine solche Absicht bei der Auslegung des Gesetzes unbeachtet bleiben44.48 Letztlich kommt diese Aussage einer generellen Ablehnung der Figur „Wille des Gesetzgebers44 gleich, an dessen Stelle der „objektive Inhalt des Gesetzes44 tritt. Dieser ist aber eng an den „möglichen Wortsinn44 gebunden: „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. [...] Insoweit muß sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen.4449 Die „objektive Lehre44 in dieser Form nähert sich dem sprachwissenschaftlich relevanten Aspekt der Bedeutungsexplikation. Denn nun bekommt die Methode der Feststellung des „Inhalts44 eines Normtextes einen zentralen Rang in der richterlichen Arbeit. Das zitierte Gericht läßt keinen Zweifel daran, daß der „mögliche Wortsinn44 wenigstens vom Ideal her im Sinne einer allgemeinverständlichen Umgangssprache zu interpretieren ist. Ihm zufolge ist „in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgebend44. Diese (sprachwissenschaftlich gesehen) wenigstens im Anspruch strenge Position verbietet die in der widersprechenden Traditionslinie so beliebten „Auslegungs44künste nach „Sinn und Zweck44, die nicht unerheblich zur Entfremdung der Justiz von den Bürgern beigetragen haben, wenn als „Wortlaut 44 bezeichnet wird, was nach allem normalem „allgemeinem Sprachgebrauch44 keineswegs noch als „möglicher Wortsinn44 zugelassen wird. Diese strenge, auf den Normtext eng bezogene Traditionslinie, welche die richterliche Entscheidungsfreiheit auf Methoden der „herkömmlichen Interpretation 4450 zurechtstutzt, geht sogar so weit, daß sie nicht einmal mehr eine sich als „verfassungskonform 44 ausgebende Auslegung, die gegen den eindeutigen Wortlaut verstößt, zuläßt.51 Das Verfassungsgericht hat sich an den Wortlaut zu halten, und ist dieser verfassungswidrig, so kann es das 47

BVferGE 11, 126ff., 130; gleichlautend BVferGE62, Iff., 45; vgl. auch BVferGE25, 269ff., 285: „Die strafrechtlichen Normen müssen klar das Verbotene vom Erlaubten abgrenzen." 48 BVferGE 13, 261 ff., 268. 49 BVferGE71, 108ff., 115. 50 BVferGE69, Iff., 65. 51 „Der Richter darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht durch »verfassungskonforme 4 Auslegung einen entgegengesetzten Sinn geben." BVferGE 8, 28 ff., 28.

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Gesetz nicht durch „verfassungskonforme" Interpretation noch hinbiegen und damit retten, sondern muß es verwerfen. Das genaue Gegenteil behauptet diejenige rechtsmethodische Theorietradition der obersten Bundesgerichte, welche die Gesetzesauslegung, statt sie streng dem Wortlaut zu unterwerfen, lieber allgemeinen Zweckerwägungen unterordnen möchte: „Eine gesetzliche Vorschrift ist nicht verfassungswidrig, wenn eine Auslegung möglich ist, die im Einklang mit dem Grundgesetz steht, und die Vorschrift bei dieser Auslegung sinnvoll bleibt." 52 Diese Linie begreift richterliche Tätigkeit viel mehr als an allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen, Zweckerwägungen und „Wertentscheidungen der Verfassung" orientierte „Einordnung in die gesamte Rechtsordnung" eines konkreten Falles.53 Das „Gesetz" wird so zu einer eigenständigen Entität, die vom Gesetzestext (im eigentlichen, sprachlichen Sinne) abgehoben ist. 54 Der „wirkliche Sinn" einer Rechtsnorm wird dann zu etwas, das „über den Wortlaut hinaus" gehen kann und „nicht zu streng an dem Wortlaut haften" bleiben soll. 55 Exemplarisch wird diese Auffassung in einem Urteil des BGH in Zivilsachen entwickelt: „Entgegen der Auffassung der Beklagten muß auch gegenüber einem sprachlich eindeutigen Wortlaut eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes Platz greifen, wenn der zur Entscheidung stehende Interessenkonflikt bei Erlaß des Gesetzes noch nicht ins Auge gefaßt werden konnte, weil er erst durch die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nach diesem Zeitpunkt in Erscheinung getreten ist. Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht gestattet 52 BVferGE 59, 360ff., 386 mit Verweis auf BVferGE 2, 266ff., 282 und die „ständige Rechtsprechung". 53 So BVferGE 8,210 ff., 221 : „Die Interpretation dient vielmehr der legitimen richterlichen Aufgabe, den Sinn einer Gesetzesbestimmung aus ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung zu erforschen, ohne am Wortlaut des Gesetzes zu haften. Sind aber zwei verschiedene Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht." Was als „Wertentscheidung der Verfassung" anzusehen ist, setzen die Richter dann gleich selbst fest. 54 So die Unterscheidung von „Gesetz" und „Text des Gesetzes" in BVferGE8,274ff., 274: „Daß nach Art. 80 Abs. 2 Grundgesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung ,im Gesetz' bestimmt werden müssen, besagt nicht, daß sie im Text des Gesetzes ausdrücklich zu bestimmen sind." 55 So BVferGE 22, 28 ff., 37: „Daher kann dem §.. über seinen Wortlaut hinaus vernünftigerweise nur der Sinn zukommen .." „Gegenüber dieser aus dem Sinn des § .. gewonnenen Auslegung muß der Wortlaut zurücktreten." „Daher darf die Auslegung [...] nicht zu streng an dem Wortlaut haften, sondern muß dem wirklichen Sinn der jeweiligen Bestimmung soweit als möglich Rechnung tragen." Wörter wie „vernünftigerweise" sind Indizien, die stets aufhorchen lassen sollten. Üblicherweise soll eine Auslegung dem Zweck dienen, einen „Sinn zu gewinnen", nicht aber, aus diesem „gewonnen zu werden"; der formulierte Gegensatz von „Sinn" und „Wortlaut" entbehrt jeder Begründung, wenn der fachsprachliche Ausdruck „Wortlaut" überhaupt noch einen Sinn behalten soll. Wäre mit ihm allein der „tote Buchstabe" gemeint, so brauchte er nicht so oft zur Rechtfertigung bemüht werden; denn daß jede Interpretation eines sprachlichen Textes bei den Zeichen beginnt, aus denen er besteht, ist eine analytische Wahrheit und ihre Betonung darum nichtssagend. Auch Ausdrücke wie „wirklicher Sinn" (im Unterschied zum „Wortlaut") sind Indizien, die stets Anlaß zu kritischer Nachfrage sein sollten.

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dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern verpflichtet ihn sogar dazu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert. Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht sein Sinn und Zweck. Diesen im Einzelfall der Rechtsanwendung nutzbar zu machen und danach unter Berücksichtigung von Treu und Glauben den Streitfall einer billigen und vernünftigen Lösung zuzuführen, ist die Aufgabe des Richters." 56 Diese Formulierung beleuchtet schlaglichtartig einige zentrale Fragen im Umgang mit der „Gesetzesbindung". Tatsächlich ist es Aufgabe der Richter, Normtexte, die oft schon viele Jahrzehnte alt sind, auf heutige Situationen und Sachverhalte zu beziehen, und dabei (da sie wegen des Rechtsverweigerungsverbots gezwungen sind, eine Entscheidung zu fällen) die Kluft zu überbrücken, die zwischen der Vielfalt und Divergenz der zu entscheidenden Fälle einerseits, und dem Gebot der Gesetzesbindung andererseits besteht. Besonders außerhalb des Straf- und Verfassungsrechts wird deshalb häufig und gern das „Recht" als richterliche Legitimation zur „Rechtsfortbildung" vom „Gesetz" als dem schriftlich niedergelegten Normtext abgekoppelt.57 In der Tat ist der „Bedeutungswandel" bei teilweise beinahe hundertjährigen Kodifikationen ein Problem der praktischen Auslegungstätigkeit, das nicht nur von linguistischer Seite interessant ist, sondern auch die Frage aufwirft, was „Gesetzesbindung" und „Bindung an den Willen des Gesetzgebers" (im Sinne eines betont demokratischen Rechtsstaatsverständnisses) noch heißen kann, wenn unsere Richter gezwungen sind, mit Gesetzen zu arbeiten, die noch in der vordemokratischen Monarchie oder gar unter der antidemokratischen Naziherrschaft verfaßt wor56

BGHZ 17, 266ff., 275 f.: gleichlautend BGHZ 18,44ff., 49. Vgl. auch, noch fragwürdiger, BFinHE 72, 412ff. (hier zit. n. Juristenzeitung (JZ) 1963, 261): „Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH [...] ist nämlich die Auslegung eines Gesetzes gegen seinen Wortlaut nicht ausgeschlossen, sondern möglich, aber nur dann zulässig und geboten, wenn entweder anzunehmen ist, daß der Gesetzgeber tatsächlich etwas anderes gewollt hat, als er zum Ausdruck gebracht hat, oder wenn die wörtliche Anwendung der Bestimmungen zu einem wirtschaftlich nicht vertretbaren unsinnigen Ergebnis führen würde." Atemberaubend ist der Übergang der Modalitäten von „nicht ausgeschlossen" über „möglich" und „zulässig" zu „geboten", deren Häufung allein schon als Ausdruck für die Unsicherheit der formulierenden Richter gewertet werden kann. Noch weiter gehend als andere schon zitierte Urteile ist hier die Anmaßung, daß die Rechts-Interpreten mit ihrem Unterschieben eines gewollten Sinns bei der meist als rhetorisch zu erkennen gegebenen Figur des „Willens des Gesetzgebers" nicht haltmachen, sondern sich dazu aufschwingen, angeblich besser zu wissen, was der Gesetzgeber ganz real und konkret „gewollt" hat, als dieser selbst. Einen solchen unüblichen Umgang mit dem Modalverb „wollen" (dessen Wahrheit nur in der 1. Person Singular überprüft werden kann) gibt es ansonsten nur noch in der Psychoanalyse, in der der Therapeut auch stets besser über die „Wünsche" der Klienten Bescheid zu wissen behauptet, als diese selbst. Fischer, Sprache und Lebensform, 137 f. hat diese Haltung bei Psychoanalytikern zu Recht als Infantilisierung bzw. systematische Entmündigung der Patienten kritisiert; wäre daraus zu schließen, daß hier dasselbe, nur gegenüber dem Gesetzgeber, vorliegt? 57 Ζ. B. BVferGE 34,269 ff., 287: „Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch." „Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden."

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den sind.58 Allerdings kann sich auch die noch so fortbildungsfreundliche Gerichtsentscheidung (anders als im angelsächsischen Case-Law) in der positivistischen Rechtsfiktion des Kontinents nicht völlig von Gesetzestexten frei machen, sondern bedarf ihrer weiterhin als rechtsstaatlicher Legitimationsinstanz. Nur so ist die dem normalen Sprachverständnis völlig fremde Verwendung des Wortes „Auslegung" verständlich, die diese nicht mehr als Interpretation eines vorgegeben Sprachtextes auffaßt, sondern in der Formulierung „Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts" eine contradictio in adjecto vollzieht, die der gewünschten Ausweitung oder eigenständigen Neu-Setzung von „Recht" nur noch fälschlicherweise, und um sich mit dem Mantel der formalen Legitimation zu versehen, das Etikett „Auslegung" anheftet. Damit ist aber der Boden einer sprachtheoretisch noch einigermaßen sinnvollen Betrachtungsweise der richterlichen Tätigkeit vollständig verlassen. Mit „Sprache" und Bedeutungsexplikation von Normtexten im engeren, linguistischen Sinne hat ein solches rein argumentationstechnisches und rhetorisches Umgehen mit einer dann zur bloßen Rechtfertigungsinstanz gewordenen „Rechtsnorm" nichts mehr zu tun. „Das Recht" wird dann zur mythischen Figur, welche den Weg eröffnet zur reinen Teleologie der „Auslegung nach Sinn und Zweck". 59 Formulierungen wie „gerechte Entscheidung"60, „Berücksichtigung von Treu und Glauben" und „billige und vernünftige Lösung" beweisen, daß Gesetzesbindung im strengen Sinne hier obsolet geworden ist: „Am Wortlaut einer Norm braucht der Richter aber nicht haltzumachen."61 58

Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb einmal strenge Maßstäbe an das Weitergelten alten Rechts angelegt: „Um eine vorkonstitutionelle Norm zu einer nachkonstitutionellen zu machen, muß der Gesetzgeber vielmehr seinen konkreten Bestätigungswillen im Gesetz zu erkennen geben." (BVferGE 11,126ff., 132) Allerdings ist dieser strenge Maßstab v.a. im Zivilrecht dort nicht stark gemacht worden, wo viele Kodifikationen (nicht nur das BGB) zwar pauschal übernommen, aber nicht in ihren einzelnen Formulierungen aktualisiert wurden. 59 Vgl. auch BVferGE26,338 ff., 396: „Von größerem Gewicht als der Sprachgebrauch sind für die Auslegung [...] jedoch Sinn und Zweck dieser Bestimmungen." 60 So auch deutlich B AGE 2,165 ff., 175: „Die Rechtsanwendung ist, je mehr es sich um Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe oder gar Ermessensbegriffe handelt, nicht nur erkennend, sondern eine bewertende, aktualisierende, integrierende und im konkreten Fall die Verwirklichung der Gerechtigkeit anstrebende Willensentscheidung." 61 Der vollständige Text dieses Zitates lautet: „Ziel jeder Auslegung ist die Feststellung des Inhalts einer Norm, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist. [...] Am Wortlaut einer Norm braucht der Richter aber nicht haltzumachen. Seine Bindung an das Gesetz [...] bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben mit dem Zwang zu wörtlicher Auslegung, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Interpretation ist Methode und Weg, auf dem der Richter den Inhalt einer Gesetzesbestimmung unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung erforscht, ohne durch den formalen Wortlaut des Gesetzes begrenzt zu sein. Zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter der verschiedenen, insbesondere der systematischen und der teleologischen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen. Sie stehen zur grammatischen Auslegung im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung. Dabei kann gerade die systematische Stellung einer Vorschrift im Gesetz, ihr sachlich-logischer Zusammenhang mit anderen Vorschriften, den Sinn und Zweck der Norm, ihre wahre Bedeutung, freilegen." BVferGE 35, 263 ff., 278 f., mit Verweis auf BVferGE 8, 210ff., 221 und 22, 28 ff., 37.

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Man mag diese Position sprachwissenschaftlich gesehen als Eingeständnis an die in der modernen Textlinguistik entwickelte Erkenntnis sehen, daß ein Text in gewissem Sinne „mehr" ist als sein „bloßer Buchstabe" (dort als „Textformular" bezeichnet), d. h. daß eine komplexe sprachliche Zeichenfolge erst durch ihre Situierung in einem Gebrauchs- und Sinnkontext in vollem Sinne eine „Textbedeutung" bzw. „Textfunktion" bekommt. Allerdings wäre eine textlinguistisch reformulierte Auslegungstheorie zunächst noch immer eng an die Explikation der Textbedeutung im sprachwissenschaftlichen Sinn gebunden, von der aus die konkrete Textfunktion dann näher bestimmt werden müßte. I m Unterschied dazu gehen die Anhänger der „teleologischen" Auslegung von Gesetzestexten zu früh einen Schritt zu weit: sie schließen von den Problemen einer am Wortlaut orientierten sprachlichen Bedeutungsexplikation vorschnell auf die Unmöglichkeit einer solchen Bestimmung und gehen unter Auslassung möglicher Zwischenstufen die Anwendung des Normtextes von der Seite allgemeiner „Normzwecke" an, deren Herkunft und Weg ihrer Gewinnung sich weitgehend rationaler Überprüfbarkeit entziehen (allenfalls noch rechtshistorisch bzw. dogmatisch in Form einer Analyse juristischer Diskursstrategien nachvollzogen werden kann). Die höchstrichterlichen Auslegungstheorien gehen also das Problem der Interpretation der Rechtstexte von zwei Seiten her an: Die streng positivistische Tradition könnte mit ihren eigenen Worten als Auslegung nach „Wortlaut und Sinn" der Rechtsnormen bezeichnet werden; für sie ist der (wie auch immer im einzelnen konkret gefaßte) „mögliche Wortlaut" der Norm „Ausgangspunkt" und „Grenze" einer richterlichen Auslegung. Der „Sinn" der Norm, verstanden als Einordnung in einen den einzelnen Normtext übergreifenden rechtssystematischen und dogmatischen „Sinnzusammenhang", darf nur in einer imaginären Bindung an den Normtext ausgelegt werden, deren Grenze („Wortlautgrenze") allerdings kaum exakt angegeben werden kann. Die Gegenposition könnte man ebenfalls in ihren eigenen Worten als Auslegung nach dem „Sinn und Zweck" der Rechtsnorm bezeichnen; sie sieht ihr Geschäft in der Lösung konkreter Entscheidungsprobleme, die wiederum unter Rückgriff auf den systematischen und dogmatischen „Sinnzusammenhang" der Rechtsnorm geschieht, aber nicht „am Wortlaut haften bleiben" muß. Der „Wortlaut" wird zwar aus verfassungsrechtlichen Gründen rhetorisch noch beschworen als „Ausgangspunkt" einer Auslegung, jedoch kann er für sie keine Grenze angeben, da der Normsinn letztlich hauptsächlich eine Frage des „Normzwecks" ist, der wiederum frei von engen Bindungen unter Rückgriff auf allgemeine Prinzipien wie „Gerechtigkeit" oder „vernünftige Lösung" von den Richtern in einem „willenhaften" A k t festgesetzt werden. Das Vorschnelle dieser Variante liegt aus linguistischer Sicht hauptsächlich darin, daß ihre Anhänger den „Wortlaut" eines Normtextes zu sehr einschränken auf eine Agglomeration von zu einer Zeichenkette verbundenen Lexikonbedeutungen isolierter Sprachzeichen. Indem einzelne Wörter noch vor jeder Disambiguierung (bzw. Monosemierung) von Homonymen oder Bedeutungsvarianten auch in (dem juristischen Laien jedenfalls so erscheinenden) eindeutigen Kontexten als „mehrdeutig" behauptet werden (da es für sie im Wörterbuch mehrere Einträge gibt), wird

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ohne weitere Prüfung der sich aus dem Wortlaut-Kontext ergebenden Möglichkeiten der Auflösung der nur auf lexikalischer Ebene gegebenen Polysemie vorschnell die „Unmöglichkeit" der Auslegung aus dem „Wortlaut" behauptet um den Weg frei zu haben für eine Auslegung nach dem „Normzweck". 62 Sogar Bundesverfassungsrichter scheuen sich nicht, mit dem merkwürdigen Verweis auf die „lapidare Sprachgestalt, die Grundrechtsbestimmungen häufig eigen ist" 63 , auch bei der Auslegung von Verfassungsnormen den Normtext zu einem läßlichen Phänomen zu erklären, das lediglich noch die Funktion hat, bloßer Anlaß zu sein für eine „Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung insbesondere der Regelungstradition". Das Gericht 62 Ein anschauliches Beispiel für eine solche Argumentationslinie ist BGHZ 46,74 ff., 77 ff., wo anfangs zwar noch die Vorrangigkeit des „Wortlauts" verbal beteuert wird, um dann über die Behauptung, daß der Sinn des Wortes „Verlag" unklar sei, eine Auslegung nach dem „Zweck der Norm" anzustreben. Das Urteil ist auch deshalb interessant, weil das zentrale Argument der Uneindeutigkeit (und der daraus abgeleiteten Berechtigung der teleologischen Auslegung) gerade bei dem Bezugswort „Verlagserzeugnisse" mit der linguistisch gesehen unrichtigen oder wenigstens ungenauen Bedeutungsexplikation steht und fällt. Das Gericht argumentiert, daß mit „Verlag" im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (§ 16) schließlich auch ein „Bierverlag" gemeint sein könnte; es übergeht dabei, daß das zentrale Bezugswort im Gesetzestext nicht „Verlag" ist, sondern „Verlagserzeugnisse". Ein Bierverlag bringt aber nach eindeutigem Sprachgebrauch keine „Erzeugnisse" hervor, sondern vertreibt Erzeugnisse anderer Hersteller. Das Gericht argumentiert also unter Übergehung des tatsächlichen Wortlauts nicht am Wort „Verlagserzeugnisse", sondern am daraus von ihm selbst ausgekoppelten Lemma „Verlag", ohne daß die Argumentation dadurch stichhaltiger würde. Wenigstens sieht das Gericht dann die Bestimmung des Norm-Sinns aus dem „Zweck der Norm" als eine Frage der „Entstehungsgeschichte" an, d. h. des nachweisbaren und überprüfbaren Produktionskontextes des Normtextes. Zum vorschnellen Schluß auf „Mehrdeutigkeit" mit der Folge des Sprungs auf den „Normzweck" vgl. auch BGHSt 18, 151 ff., 152f. 63

BVferGE 74, 51 ff., 57: „Der Sinngehalt der Vorschrift »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht' läßt sich nicht aus deren knapper und lapidarer Formulierung allein bestimmen. Wird von deren Wortsinn eine bestimmte inhaltliche Ausdeutung nicht ausgeschlossen, ist dies für sich noch kein genügender Anhaltspunkt dafür, daß diese Deutung auch den Inhalt des vom Verfassungsgeber mit der Formulierung normativ Festgelegten zutreffend erfaßt. Um diesen zu ermitteln, muß festgestellt werden, was insgesamt als Sinn und Zweck der normativen Festlegung, die mit der gegebenen Formulierung zum Ausdruck gebracht wird, gemeint war und ist. Dies findet bei der lapidaren Sprachgestalt, die Grundrechtsbestimmungen häufig eigen ist, nicht schon stets im Wortlaut einen ausreichenden Niederschlag, vielmehr ergibt sich der Sinngehalt vielfach erst aus einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung insbesondere der Regelungstradition und der Entstehungsgeschichte." Ist es Zufall, daß das Gericht die „lapidare Sprachgestalt" als quantité négligeable gerade bei der Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" entdeckt und nicht etwa bei Grundgesetz-Formulierungen wie „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung"? Interessant aus linguistischer Sicht ist an diesem Urteil die offensichtliche Unterscheidung der Normtextbedeutung von dem „mit der Formulierung normativ Festgelegten". Danach wäre das wirkliche „Festgelegte" ein mysteriöses Phänomen, welches als „Phänomen der dritten Art" (Bestandteil des „Dritten Reiches" der Gedanken Freges) über dem Normtext schwebt, in dem es gar keinen sprachlichen Niederschlag gefunden zu haben braucht. Diese Auffassung widerspricht eklatant der in anderen Zusammenhängen erhobenen Forderung, daß nur dasjenige als „Wille des Gesetzgebers" bei der Auslegung und Anwendung einer Norm eine Rolle spielen dürfe, was vom Gesetzgeber im Gesetzestext auch „objektiviert", d. h. eindeutig sprachlich ausgedrückt sei.

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setzt hier an die Stelle des Normtexts die eigene Interpretationsgeschichte als Bezugsgröße der Entscheidungstätigkeit und letztlich, wenn es dabei bliebe, die Selbstbestätigung der eigenen Tätigkeit an die Stelle des vom Gesetzgeber gesetzten Rechts.64 Die Bestimmung des Inhalts eines Normtextes wird von beiden geschilderten Positionen der richterlichen Auslegungstheorie aus im wesentlichen auch als eine Bestimmung des „Sinns" aus dem „Sinnzusammenhang, in den die Norm hineingestellt ist" aufgefaßt. 65 Aus linguistischer Sicht stellt sich hier die Frage nach dem sprachtheoretischen Status des „Sinnzusammenhangs"; zu klären wäre also, was mit dieser auslegungstheoretischen Figur gemeint ist, und ob alle Richter damit dasselbe meinen. Linguistisch gesehen kann als „Sinnzusammenhang" eines einzelnen Normtextes sowohl der Gesamt-Text, aus dem dieser ein Teil ist, verstanden werden; es stellte sich dann die Frage danach, ob es einen solchen „Gesamttext" mit einer einheitlichen Textbedeutung auch bei Gesetzestexten gibt, d. h. die Frage nach der Texthaftigkeit (Textualität) von Gesetzen als Agglomerationen oftmals unterschiedlichster „Regelungsgehalte". „Sinnzusammenhang" kann aber auch einen den einzelnen Normtext, ja sogar den einzelnen Gesetzestext übergreifenden Kontext meinen, wie er etwa in der „systematischen Auslegung", d. h. den Auslegungstraditionen der juristischen Dogmatik, durch Verknüpfung des Bezugstextes mit Texten anderer, oftmals weit entfernt liegender Normtexte, oder mit allgemeinen Auslegungsgrundsätzen hergestellt wird; auch hier wäre die Frage nach der Textualität dieses Zusammenhanges oft unterschiedlichster Sprachdaten zu stellen. Schließlich kann „Sinnzusammenhang" auch den Deutungshorizont meinen, in dem eine Norm hinsichtlich ihrer Anwendung auf bestimmte Sachverhalts-Bereiche steht. Für alle drei Varianten des Terminus „Sinnzusammenhang" gibt es in den untersuchten Urteilstexten Belege. Zur Frage des systematischen Zusammenhanges gibt es eine Deutung des Bundesverfassungsgerichts, die linguistisch gesehen eine Bestätigung des Textcharakters (der Textualität) eines Gesamtgesetzes darstellt: „Bei der systematischen Auslegung ist darauf abzustellen, daß einzelne Rechtssätze, die der Gesetzgeber in einen sachlichen Zusammenhang gestellt hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, daß sie logisch miteinander vereinbar sind. Denn es ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber sachlich Zusammenhängendes so geregelt hat, daß die gesamte Regelung einen durchgehenden, verständlichen Sinn ergibt." 66 Danach wäre ein Gesetz ein durchgängiger, d. h. kohärenter, Text mit einer die Be64

Ein Vorgehen, das wie eine Illustration zu Michel Foucaults Charakterisierung des „unendlichen Gewimmels der Kommentare" als „durchdrungen vom Traum einer maskierten Wiederholung" wirkt (Foucault , Die Ordnung des Diskurses, 27; dt. 18). 65 BVferGE l,299ff., 312. 66 BVferGE48, 246ff., 257. Etwas weiter oben heißt es: „Zur Erfassung des Sinnes einer Norm sind alle Auslegungskriterien, insbesondere die Stellung der Einzelnorm im Gesetz sowie der Zweck der Regelung heranzuziehen. Dabei kann gerade die systematische Stellung einer Vorschrift im Gesetz, ihr sachlich-logischer Zusammenhang mit anderen Vorschriften diesen Sinn und Zweck freilegen." 5 Müller/Wimmer

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deutungen der einzelnen Teiltexte (Paragraphen) übergreifenden und zusammenfassenden einheitlichen „Textbedeutung" bzw. „Textfunktion". Bei der Präsentationsform vieler Gesetze, die zwar meist nach systematischen inhaltlichen Kriterien gegliedert sind, deren einzelne „Rechtssätze" (Paragraphen) aber oft recht eigenständig und manchmal scheinbar unvermittelt nebeneinander stehen, ist diese These von der Homogenität des Gesamttextes eines Gesetzes (das oftmals vielfach ergänzt, gekürzt, verändert wurde) und der Unterordnung der Teilbedeutungen der Paragraphen unter eine Gesamtbedeutung des Gesetzes („durchgehender, verständlicher Sinn") eine starke Behauptung. Der Verweis auf die Intentionen des „Gesetzgebers" („ist davon auszugehen") deutet darauf hin, daß hier möglicherweise eine weitere auslegungstheoretische Fiktion eingeführt wird. Die hier angesprochene „systematische Stellung einer Vorschrift im Gesetz" wurde in einer anderen Entscheidung67 als „ihre wahre Bedeutung" bezeichnet. Diese Einschätzung bezieht sich nicht nur auf den Ko-Text, als engere sprachliche Umgebung etwa eines Auslegungsprobleme aufwerfenden Gesetzesterminus.68 Unter dem Gesichtspunkt der Textualität ist auch interessant, daß der Normtext sich nicht nur aus dem in einem Gesetzestext unmittelbar vorfindlichen Sprachmaterial konstituieren muß, sondern mittels des Querverweises auf andere Normen aus anderen Gesetzen (aus Platzgründen, und um Wiederholungen zu vermeiden) den Wortlaut der Bezugsstellen zum Bestandteil des auszulegenden Normtextes machen kann.69 „Normtext" als Bezugsgröße der richterlichen Interpretationstätigkeit meint also von vorneherein nicht nur einen auch räumlich zusammenhängenden „Text" (wie etwa eine Erzählung oder eine wissenschaftliche Abhandlung). Dadurch bekommt der linguistische Begriff der „Textkohärenz" im Zusammenhang des juristischen Umgangs mit Sprache eine spezifische Ausprägung: der Textzusammenhang ist hier weniger räumlich definiert, als vielmehr „sachlich", d. h. von rechtsdogmatisch behaupteten inhaltlichen Bezügen her (in linguistischer Terminologie könnte man dies evtl. als eine Kohärenz bezeichnen, die sich aus der „Textfunktion" begründet). Mit dem (üblichen) Gebrauch solcher Charakterisierungen wie „sachlich" und „logisch" für den „Sinnzusammenhang" als Auslegungsmoment wird allerdings der Bereich einer allein linguistisch beschreibbaren, sprachlich im Text auch wiederfindbaren Textkohärenz überschritten. Mit „Sinnzusammenhang" ist daher nach gängigem Sprachgebrauch der juristischen Dogmatik ein rechtsdogmatisch definierter Sachzusammenhang gemeint, der semantisch gesehen als Deutungshorizont fungiert, ohne daß die unter Verweis auf ihn erzielten Interpretationsergebnisse im einzelnen 67

Vgl. das schon in Anm.61 zitierte Urteil BVferGE35, 263ff., 278f. So etwa in BVferGE 36, 342ff., 365, wo zu Recht abgelehnt wird, ein Wort, um dessen Bedeutungsexplikation es geht, isoliert (also ohne seinen Kontext) zu betrachten. 69 Solche Querverweise (auch auf Normtexte anderer Kompetenzbereiche, ζ. B. von einem Bundesgesetz auf die Verordnung einer Landesbehörde etc.) sind laut BVferGE47,285 ff., 312 ausdrücklich zulässig: „Denn eine solche Verweisung bedeutet lediglich den Verzicht, den Text der in Bezug genommenen Vorschriften in vollem Wortlaut in die Verweisungsnorm aufzunehmen." 68

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im sprachlich niedergelegten Text auch auffindbar sein müssen.70 „Rechtsdogmatisch" hergestellter Sinnzusammenhang meint, daß der behauptete sachliche Zusammenhang in vergangenen Akten der Normtext-Interpretation und auf ihnen fußenden Entscheidungen von oberen Bundesgerichten und/oder der akademischen Jurisprudenz hergestellt worden ist und sich zum festen Bestandteil des komplexen juristischen Lehrgebäudes entwickelt hat, ohne das eine Rechtsanwendung und Normtext-Interpretation heutzutage nicht mehr denkbar ist. Man könnte die juristische „Dogmatik", welche im wesentlichen für das Herstellen von „Sinnzusammenhängen" verantwortlich ist, auch in gewissem Sinne als einen „Diskurs" (im Sinne eines wissens-regulierenden Mechanismus) bezeichnen. Als hauptsächliches Element der juristischen Ausbildung wird die Dogmatik zum Teil des semantischen und epistemischen Aspekts der Rechtssprache: die „Bedeutung" einer Rechtsnorm ist somit für ausgebildete Juristen zunächst immer ihre „rechtsdogmatische", bzw. dogmatisch abgesicherte Funktion in einem anwendungsbezogenen Argumentationszusammenhang. Damit wird die fachliche (ich scheue mich zu sagen: fachsprachliche) Bedeutung von Rechtsnormen für Laien weitgehend unsichtbar.71 Die (nirgends einheitlich und verbindlich festgelegten) „Aussagen" der juristischen Dogmatik (meist als „herrschende Meinung" bezeichnet) werden so zu einem „Text neben dem Text", quasi einer gedachten „Interlinearversion" zwischen den gedruckten Gesetzes-Zeilen mit allerdings nicht geringerer Verbindlichkeit. So heißt es schon in einer frühen Entscheidung: „Das Verfassungsrecht besteht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung, sondern auch aus [...] sie verbindenden [...] Grundsätzen und Leitideen."72 Es werden also Sinn-Instanzen eines fragwürdigen epistemischen Status zu tragenden Fundamenten der Rechtsordnung gemacht. Der dogmatisch hergestellte „Sinnzusammenhang" ergibt sich zwar auch aus der Kombination durchaus nachvollziehbarer Interpretationen einzelner Normtexte („Rechtssätze")73; zum entscheidungsrelevanten „Normtext" kann so auch eine Kombination einzelner „Rechtssätze" aus mitunter räumlich weit voneinander entfernten Kodifikationsstellen werden, „Textkohärenz" also zu etwas, das vom wissenden Juristen aktiv erst hergestellt wird. Wenn man jedoch nach dem ver70 So ergibt sich aus BVferGE 8, 274ff., 307, daß aus dem „Sinnzusammenhang" einer Norm auch ein Sinn zu erschließen ist, der nicht „im Text des Gesetzes ausdrücklich" bestimmt ist. 71 Damit ist ein schwerwiegendes rechtsstaatliches Problem berührt; der in manchen Gerichtsurteilen entwickelten Auffassung, daß der Sinn einer Norm (vor allem im Strafrecht) den rechtsunterworfenen Staatsbürgern die Strafbarkeit eines Verhaltens klar vor Augen führen muß, wird tatsächlich durch die existierende juristische Dogmatik und die durch sie hergestellten Deutungshorizonte bzw. „Sinnzusammenhänge" weitgehend der Boden entzogen. Dem „normalen" Staatsbürger fehlt entsprechend dem Gebrauch in der Umgangssprache ζ. B. schon das Verständnis solcher noch relativ leicht nachvollziehbarer juristischer Differenzierungen wie derjenigen zwischen „Mord" und „Totschlag". 72 BVferGE 2, 380ff., 381. 73 „Der relevante Gesamtregelungsinhalt ergibt sich aus dem Zusammenwirken der Rechtssätze." BVferGE 60, 135 ff., 155.

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bindenden Element fragt, welches den Zusammenhang erst bewirkt bzw. rechtfertigt (denn: nach welchen Kriterien dürfen welche „Rechtssätze" zu einem entscheidungsrelevanten Normtext-„Obersatz" zusammengestellt werden?), dann wird von juristischer Seite wenig mehr angeboten als die genannten „Grundsätze und Leitideen" (wenn man nicht die gesamte juristische Praxis der Fallbearbeitung, welche die Jura-Studenten vom ersten Semester an eingepaukt bekommen, als das „missing link" ansehen will). 74 Sucht man nach näheren Charakterisierungen des „Sinnzusammenhangs" als eines die Auslegung bestimmenden Elementes, so findet man häufig, daß vom „Wortlaut" einer Norm ohne viele Zwischenstufen der Schritt direkt zu ihrer „Einordnung in die gesamte Rechtsordnung"75 getan wird, also zur weitest möglichen Definition, welche der Terminus „Sinnzusammenhang" überhaupt erfahren kann. Anknüpfend an die Unterscheidung von „Gesetz und Recht" im Grundgesetz wird „das Recht" zu einem übertextlichen Phänomen, welches als quasi universeller Deutungshorizont jeglicher Rechtstexte deren Interpretation noch dort zu übersteigen vermag, wo die textliche Grundlage völlig verlassen wird: „Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Ordnung als einem Sinnganzen besitzt [...]; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung."76 Die „verfassungsmäßige Ordnung als ein Sinnganzes", dies heißt: Es existiert ein Supra-Text, d. h. ein Sinn vor jeglichem Text, der zu seiner Existenz der Sprache offenbar nicht mehr bedarf; Geist aus reinem Geist, für den allein Hegel den treffenden Namen gekannt hat.77 Beide diese Arten von „Sinnzusammenhang", die „gesamte Rechtsordnung" als „Super-Text", d. h. als Text, der alle einzelnen juristischen Texte schon in sich enthält, sowie die „verfassungsmäßige Ordnung als Sinnganzes", als Supra-Text vor jedem Text, sind mit linguistischen Kategorien nicht mehr faßbar (und zwar, weil „Sprache" und Sprachliches im engeren Sinne mit ihnen nicht mehr gemeint ist). „Sinnzusammenhang" im Sinne eines Deutungshorizontes meint in vielen Urteilstexten aber auch einen Kontext, der in den nächsten Auslegungskanon, den „historisch-genetischen" Aspekt, hineinführt: die „Entstehungsgeschichte" der Norm, d. h., von der Materialseite aus gesehen, der Kontext und Ko-Text, welcher durch die sog. „Gesetzesmaterialien" gestiftet wird, d. h. schriftlich dokumentierte Überlegungen, welche aus dem Prozeß der parlamentarischen Behandlung und Ver74 Eine präzisere Beschreibung der juristischen „Textualität" (bzw. Textkohärenz) kann an dieser Stelle noch nicht angeboten werden. Sie erfordert eine umfassende Beschreibung und Erklärung des faktischen Umgangs der Juristen mit Texten, die möglicherweise von einem fachexternen Linguisten alleine gar nicht geleistet werden kann. Vgl. für erste Überlegungen hierzu Busse, Recht als Text, 41 ff. und 259 ff. 75 So BVferGE8, 210ff., 221 (zitiert in Anm.53); ähnlich BVferGE35, 263ff., 278 (Zit. in Anm.61). 76 BVferGE34, 269ff., 287. 77 So schimmelt hier in der juristischen Auslegungslehre der Anspruch jener Hermeneutik durch, welche als einzige schon vor ihr bestanden hatte, der theologischen.

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abschiedung eines Gesetzestextes stammen. 78 I m Gegensatz zu vielen anderslautenden Urteilen, denen zufolge der „Entstehungsgeschichte" einer Gesetzesnorm bei deren Auslegung „keine ausschlaggebende Bedeutung" zukomme, da allein der i m Wortlaut ausgedrückte „objektivierte Wille des Gesetzgebers" maßgebend sei 79 , gibt es eine Auslegungstradition, welche dem durch die schriftlich dokumentierte „Entstehungsgeschichte" bereitgestellten Produktionskontext eines Gesetzestextes eine auch für die Auslegung wichtige Funktion zumißt. 8 0 Während das Bundesverfassungsgericht mit den „Gesetzesmaterialien" vorsichtig umgeht, und ihnen allenfalls „unterstützende" Funktion für eine eigentlich nur auf den „Wortlaut und Sinnzusammenhang" verwiesene Gesetzes-Interpretation zuweist, wird der „Entstehungsgeschichte" vor allem i m Zivilrecht häufig sogar eine entscheidende Wirkung für die Auslegung zugemessen. So begründet der B G H in einer wegweisenden Entscheidung, daß bei nicht eindeutigem Wortlaut der Sinn eines Normtextes „ i m Wege 78

Diese enge Beziehung, in die der „Sinnzusammenhang" mit der „Entstehungsgeschichte" gerückt wird, zeigt sich z.B. in BVferGE51,304ff., 317, wo es heißt: „Er [der Sinnzusammenhang der Norm, D. B.] wird deutlich aus ihrer Entstehungsgeschichte." und in BVferGE 60, 135 ff., 155 f.: „Besondere BSie und Ihnedeutung kommt in solchen Fällen dem Sinnzusammenhang zu, in den die gesetzliche Vorschrift eingebettet ist. Der Blick ist mithin auch auf die Entstehungsgeschichte [...] und auf die rechtsgeschichtliche Entwicklung [...] zu richten." 79 Ζ. B. BVferGE6,389 ff., 431 : „Allerdings kann der Gesetzesgeschichte für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ausschlaggebende Bedeutung in der Regel nicht zukommen." (gleichlautend BVferGE 41, 291 ff., 309; 51, 97ff., 110) BVferGE 10, 234ff., 244: „Die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder ist nicht entscheidend." BVferGE 13, 261 ff., 268: „Zweifel über den Inhalt der Vorschrift sind nur verständlich, wenn man ihre Entstehungsgeschichte ungebührlich in den Vordergrund rückt. Der Gesetzgeber mag die Absicht gehabt haben [...], diese Absicht ist aber im Wortlaut des Gesetzes nicht zum Ausdruck gekommen." BVferGE 45, 187 ff., 227: „Der Entstehungsgeschichte, den Vorstellungen und den Motivationen des Verfassunggebers kommt für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes nicht unbedingt eine ausschlaggebende Bedeutung zu." (In einer solchen Position kann aber auch die rechtsstaatlich bedenkliche Auffassung stecken, die Auslegung des „objektiven Gesetzesinhalts" sei durchaus auch gegen den Willen des Gesetzgebers als real erkennbare Absichten der Beteiligten, nicht als theoretische Fiktion zulässig.) In BVferGE47,109ff., 127 heißt es, „daß die Gesetzesmaterialien keine verbindlichen Auslegungsregeln enthalten können, soweit die Absicht des Gesetzgebers im Wortlaut und Sinnzusammenhang des Gesetzes keinen objektivierten' Niederschlag gefunden hat." 80

In einigen Urteilen noch vorsichtig, z.B. in BVferGE8, 274ff., 307: „Auch die Entstehungsgeschichte kann vor allem zur Bestätigung des Ergebnisses der Auslegung herangezogen werden." oder in BVferGE 11, 126 ff., 130, nach dem auch „die Heranziehung der Gesetzesmaterialien, soweit sie auf den objektivierten Gesetzesinhalt schließen lassen" erlaubt ist. Allerdings fragt sich, wieso es zur Auslegung, wenn es einen „objektivierten Gesetzesinhalt" gibt, noch der Gesetzesmaterialien bedarf. Vgl. auch BVferGE4, 387 ff., 401, demzufolge die Entstehungsgeschichte einer Norm neben dem Wortlaut „ihren Sinn erschließt". Allgemeine Verweise auf die Zulässigkeit des Rekurses auf die „Entstehungsgeschichte" geben eine Vielzahl von Urteilen, u.a.: BVferGE 13,181 ff., 199; 16,64 ff., 79; 17,67 ff., 79 f.; 18,112ff., 119; 18, 192ff., 194f.; 20, 26ff., 29f.; 25, 371 ff., 389; 28, 282ff., 290f.; 32, 333ff., 340f.; 51, 304 ff., 317 (Dies ist eines der Urteile, in dem der „Sinnzusammenhang" mit der „Entstehungsgeschichte" verknüpft wird.); 60, 135 ff., 155 (Hier wird direkt von einer genetischen Auslegung „aus dem Sinnzusammenhang" gesprochen.); 72, 330ff., 393 f.; BGHSt 18, 151 ff., 153.

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der Auslegung der Vorschrift nach ihrem Zweck ermittelt werden" müsse und fährt fort: „Die Entstehungsgeschichte gewinnt damit hier eine maßgebliche und letztlich sogar die entscheidende Bedeutung für die Auslegung."81 Vor allem also die auslegungstheoretische Figur der „Absicht des Gesetzgebers", welche häufig mit dem „Zweck der Bestimmung" einfach ineins gesetzt wird, wird zur Rechtfertigung herangezogen, warum ein Rückgriff auf die „Gesetzesmaterialien" (Ausschuß- und Bundestagsprotokolle, Papiere der Ministerialbürokratie etc.) zur Gewinnung eines Auslegungsergebnisses notwendig sei.82 In den unterschiedlichen auslegungstheoretischen Traditionen der Rechtsprechung spiegelt sich der rechtstheoretische Gegensatz zwischen „subjektiver" und „objektiver" Lehre wider: Anhänger der „subjektiven" Lehre wollen eine „reale" Absicht des Gesetzgebers als verbindlich ansehen und müssen folgerichtig danach trachten, so viele Indizien wie möglich für eine solche „Absicht" zufinden. Da der „Gesetzgeber" jedoch eine Körperschaft ist, kommen eine Vielzahl von Äußerungen, welche die mit der Kodifikation verknüpften Intentionen erläutern könnten, in Betracht, die seitens dieser Körperschaft, von Teil-Körperschaften (Parlamentsausschüsse, Ministerien) und sogar einzelnen Angehörigen (Abgeordnete) erfolgt sind. Dies wirft aber das schon behandelte Problem auf, daß (auch sprachtheoretisch gesehen) eine im Umfeld einer „Äußerung" (Gesetzestext) erfolgte weitere Äußerung nicht notwendig mit dem „Sinn" der zu interpretierenden Äußerung identisch sein muß. Aus diesem Grund wird die Heranziehung der Gesetzesmaterialien von den Anhängern der „objektiven" Lehre abgelehnt: „Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann hiernach bei der Interpretation insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen."83 Allerdings wirft diese Auffassung von einer „objektivierten" Textbedeutung um keinen Deut geringere Probleme auf. Problematisch wird der Rekurs auf die „Entstehungsgeschichte" jedenfalls dort, wo diese zur Rechtfertigung einer Auslegung gegen den Wortlaut herangezogen wird. 84 Auslegungstheoretisch wichtig wird daher die Abgrenzung der verschiede81

BGHZ 46,74ff., 79. Der BGH stellt in diesem Urteil zur eigenen Rechtfertigung die gesamte Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG und BGH zur „historisch-genetischen" Methode dar bis hin zur „völligen Freigabe". 82 „Anhaltspunkte für die vom Gesetzgeber mit der Schaffung einer Vorschrift verfolgte Absicht liefert in erster Linie die Entstehungsgeschichte." BGHSt 14, 116 ff., 119. 83 BVferGE62, 1 ff., 45. 84 So ζ. B. BVferGE58, 45ff., 57: „Diese Auslegung ist zwar vom Wortlaut der Norm gedeckt, ihr steht jedoch entscheidend die Entstehungsgeschichte der Vorschrift entgegen." Vgl. auch BVferGE 5, 85 ff., 142, wo sogar zwei Formulierungen, die im Gesetzgebungsverfahren gegeneinander ausgetauscht wurden, unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte als inhaltsgleich behauptet werden. Im Gegensatz dazu nimmt das lange Zeit entscheidende Urteil zur Auslegungstheorie, BVferGE 1, 299ff., 312, die Entstehungsgeschichte, d.h. die mehrfache Änderung des Wortlautes einer Norm im Gesetzgebungsverfahren, gerade zum Anlaß, „den Wortlaut des Gesetzes emst zu nehmen".

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nen Auslegungskanones gegeneinander. Die eher skeptische Position zur „genetisch-historischen" Methode vermeidet es, den Schritt vom „Wortlaut" zu den (vermuteten) „Regelungsabsichten des Gesetzgebers" gleichzusetzen mit einer unproblematisierten Geltendmachung von während der „Entstehungsgeschichte" der Norm gefallenen Äußerungen; sie begründet dies mit der fehlenden rechtlichen Bindungswirkung von außergesetzlichen Textelementen. Der Figur der „Regelungsabsicht" (zu deren Beleg der Rekurs auf die Gesetzgebungsmaterialien zugelassen wird) wird lediglich eine Art Begrenzungswirkung zugesprochen, indem „über die erkennbare Regelungsabsicht die Auslegung nicht hinweggehen [darf]" 85 (womit diese hierin eine ähnliche Funktion ausübt wie die vielbeschworene „Wortlautgrenze"). Linguistisch gesehen kann einer Heranziehung von Gesetzgebungsmaterialien insofern eine wichtige Funktion bei der Feststellung der Normtext-Bedeutung zukommen, als dort etwa verzeichnete Vorformen (Textvarianten, verworfene oder abgeänderte Formulierungsvorschläge, Begriffe etc.) einen Kontext (Sub-Text, oder vielleicht besser: Anti-Text) bilden, der als Folie zur genaueren Einschätzung der gemeinten Bedeutung dienen kann. Die Normtext-Bedeutung kann dann als Differenz zu einem Feld nachweisbarer Varianten besser eingegrenzt werden. Eines der wenigen Urteile, das die gegensätzlichen Schulen der juristischen Auslegungstheorie (objektive und subjektive Lehre) erwähnt (und nicht lediglich die eigene Auffassung als verbindlich hinstellt) nimmt auch zu den Auslegungskanones Stellung, und zwar hinsichtlich ihrer Eignung, den Auslegungsgegenstand, nämlich den „im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers" zu erzielen: „Diesem Auslegungsziel dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus 85

Dokumentiert ist diese Position im Urteil BVferGE 54, 277ff., 297 f., aus dem sich ein längeres Zitat lohnt: „Zwar ist nicht zu verkennen, daß dieses Ergebnis [einer bestimmten Auslegung, D. B.] den Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich der Wirkungsweise und Entlastungsfunktion der Ermessensregelung, die in verschiedenen Äußerungen während des Gesetzgebungsverfahrens zum Ausdruck gekommen sind, in Teilen zuwiderläuft. Zumal bei zeitlich neuen und sachlich neuartigen Regelungen kommt den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erhebliches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel ofifenlassen. Über die erkennbare Regelungsabsicht darf die Auslegung in solcher Lage nicht hinweggehen. Dies gilt allerdings nur für die in dieser Regelung erkennbar ausgeprägten und in ihr angelegten Grundentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecke. Konkrete Vorstellungen, die von Ausschüssen oder einzelnen Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften über die nähere Bedeutung oder Reichweite der einzelnen Bestimmungen, eines Normbestandteils oder eines Begriffs und ihrer Handhabung und Wirkung geäußert werden, stellen für die Gerichte jedenfalls nicht eine bindende Anleitung dar, so erhellend sie im Einzelfall für die Sinnermittlung auch sein mögen. Sie sind als solche nicht schon Inhalt des Gesetzes." Berührt wird hier wieder das sich auch linguistisch stellende Problem, daß Aussagen über die Bedeutung einer Äußerung nicht mit dieser Bedeutung selbst gleichgesetzt werden dürfen. Eine intentionale Handlung kann durch eine Erläuterung (die ja selbst wieder eine neue intentionsgeladene Handlung ist) zwar erklärt werden, doch ist die fragliche Intention von dieser neuen Handlung streng zu unterscheiden, da nicht garantiert werden kann, daß es von Bezugshandlung (-Äußerung) zur Erklärungshandlung nicht doch eine Verschiebung gegeben hat. Eine Intention steht stets nur für sich selbst.

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ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung). Um den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, sind alle diese Auslegungsmethoden erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das gilt auch für die Heranziehung der Gesetzesmaterialien, soweit sie auf den objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen."86 Dieses Urteil beruht insofern auf einem Trick, als der „objektive Wille des Gesetzgebers" als übergreifende Instanz den einzelnen Auslegungsmethoden entzogen und ihnen als Leitfigur („Auslegungsziel") vorangestellt wird. Damit wird etwa verhindert, daß Anhänger der „subjektiven" Theorie, welche den „Willen des Gesetzgebers" als konkrete Absichten auffassen, die sich aus einem Studium der Gesetzgebungsmaterialien entnehmen lassen, einen monopolisierten Zugang zum Gesetzgeberwillen für sich reklamieren können. Diese scheinbar salomonische Haltung nimmt auch ein anderes Urteil ein, das den „Grundsatz" aufstellt, „wonach in Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet." 87 Die Zulässigkeit und Vorrangigkeit der Kanones wird damit vom Ergebnis her geregelt, eine Einstellung, die daher als Auslegungsregel nichts taugt (und somit keine echte auslegungstheoretische Aussage darstellt, sondern wohl so etwas wie eine Erinnerung an die Funktion von Grundrechten sein soll). In Anlehnung an die alte Forderung (auch dies keine echte Auslegungsregel, sondern eine Selbstverständlichkeit, die in Urteilen hervorheben zu müssen einiges aussagt über den Sprachbezug des Begriffs „Auslegung", wie ihn Juristen häufig zu verwenden pflegen), wonach jede Auslegung „mit dem Wortlaut zu beginnen" habe88, wird allerdings meist eine gewisse Rangordnung unter den Kanones eingeführt, wonach Zweckerwägungen oder Auslegungen nach der Entstehungsgeschichte eher unterstützende Funktion haben sollen und dann anzuwenden sind, „sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel offenlassen". 89 Die Diskussion über Ziel und Gegenstand der Auslegung von Normtexten, wie sie in der Charakterisierung der einzelnen Kanones (Wortlaut, Sinnzusammenhang, Entstehungsgeschichte, Zweck) zum Ausdruck kommt, also die Diskussion über die Quellen des Rechts und der richterlichen Entscheidung, nimmt unvergleichlich mehr Raum ein als diejenige über deren Objekt, d.h. Funktion und Rolle, die die so86 BVferGE 11, 126ff., 129. Vgl. zur Gleichrangigkeit der Kanones auch BVferGE 35, 263 ff., 279 (zitiert in Anm.61) und BVferGE48, 246ff., 256: „Zur Erfassung des Sinns einer Norm sind alle Auslegungskriterien, insbesondere die Stellung der Einzelnorm im Gesetz sowie der Zweck der Regelung heranzuziehen. Dabei kann gerade die systematische Stellung einer Vorschrift im Gesetz, ihr sachlich-logischer Zusammenhang mit anderen Vorschriften, diesen Sinn und Zweck freilegen." Deutlich wird die jeweils unterschiedliche Gewichtung! Vgl. auch BVferGE72, 330ff., 393f., 397. 87 BVferGE6,55 ff., 72 (hier zitiert nach BVferGE51,97 ff., 110, wo auch auf BVferGE32, 54 ff., 79 und 39, 1 ff., 38 hingewiesen wird). 88 Vgl. statt vieler anderer Urteile im Zusammenhang mit der Zulässigkeitserklärung aller vier Kanones BGHZ 46, 74 ff., 76. 89 BVferGE54, 277ff., 297.

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ziale Wirklichkeit (als Sachverhalt im Prozeß gegenwärtig) bei der Norm„anwendung" spielen kann. So wird vor allem der „Bedeutungswandel" von Rechtsnormen, mit dem tatsächlich aber der Wandel der in einer Entscheidung (und der sie begründenden Gesetzesauslegung) relevant werdenden „Wirklichkeit" gemeint ist, als Begründung dafür angeführt, warum ein Rekurs auf die „Entstehungsgeschichte" einer Rechtsnorm, d. h. die konkreten Absichten, welche die Beteiligten des Organs „Gesetzgeber" mit einem Normtext verknüpft haben, nicht zulässig sei. „Einmal wächst mit dem ,Altern der Kodifikationen 4, mit zunehmendem zeitlichem Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts. Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich u. U. mit ihnen wandeln."90 Behauptet wird hier nicht mehr und nicht weniger, als daß ein sprachlicher Text überhaupt keinen festen „Inhalt'4 hat; damit würde (wäre den Richtern die Konsequenz solcher Formulierungen klar geworden) aber auch der allseits bemühte „objektive Gesetzesinhalt44 als nichtexistent behauptet und damit obsolet. Unklar würde aber auch, was, bei sich wandelndem Inhalt, dann eigentlich noch mit dem Terminus „Wortlaut" gemeint sein soll (der ja bekanntlich Beginn und Grenze jeder Auslegung darstellen soll), etwa in der folgenden hübschen Bemerkung: „Überdies kann eine Gesetzesbestimmung bei gleichlautendem Wortlaut durch Veränderung der Verhältnisse einen Bedeutungswandel erfahren. 4491 Wenn der „Inhalt44 als frei wandelbar aufgefaßt wird, kann kein „Wortlaut 44 mehr eine Begrenzungswirkung entfalten, da er selbst ja ebenfalls von der Verschiebung erfaßt würde. Eine solche Deutung wäre nur dann vermieden, wenn unter „Wortlaut 44 eben doch nur der „tote Buchstabe44 verstanden würde (als solcher kann er aber ebenfalls keine Begrenzungswirkung haben), was aber erklärtermaßen mit der Behauptung abgelehnt wird, das Gesetz sei „lebendig sich entwickelnder Geist44.92 Es fragt sich dann aber auch, auf welche Weise sich dann noch in einer solchen Entscheidung der „Wille des Gesetzgebers44 manifestieren soll, wenn Ausgangslagen entschieden werden sollen, die er erklärtermaßen nicht vorhergesehen hat; vor allem aber fragt sich, was „Gesetzesbindung44 noch heißen kann, wenn der vom Gesetzgeber verbindlich erlassene Normtext als „eine Norm mit wechselnden Inhalt44 aufgefaßt wird, „die zu ihrem inhaltlichen Bestandteil die sich wandelnde Wirklichkeit hat44.93 Mit der Behauptung 90

BVferGE 34, 269 ff., 288. BVferGE 7, 342 ff., 351. 92 Sodas schon zitierte Urteil BGHSt 10,157 ff., 159f.: „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwikkelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist." 93 BVferGE7, 342ff.,351. 91

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vom „Bedeutungswandel" der Rechtsnormen wird also das gesamte Gebäude der rechtsstaatlichen Legitimation richterlicher Entscheidungen brüchig, weshalb ihr von der Gegenposition auch Widerstand entgegengesetzt wird. 94 Sicherlich wirft die Vielschichtigkeit der von einer Gesetzesnorm möglicherweise betroffenen Sachlagen ein echtes auslegungstheoretisches Problem auf, insofern „der Gesetzgeber nicht von vorneherein jede Einzelheit mit voller Sicherheit überblicken und einer in sich vollkommenen Regelung zuführen" kann.95 Damit wird es ein Problem auch der Semantik, daß Gesetzestexte nicht mit den Kategorien einer für deskriptiven Sprachgebrauch entwickelten Sprachtheorie beschrieben werden können, weil der Kern ihrer „Bedeutung" eine pragmatische Funktion in Handlungszusammenhängen ist, die in der analytischen Rechtstheorie als „präskriptiv" bezeichnet wird. Wenn in vielen Urteilen im Hinblick auf diese normative, präskriptive Funktion von Gesetzestexten, in der immer auch ein zeitliches Moment, eine „Prädiktion" bzw. Vorhersage oder Vorhersehen steckt, dem „sprachlich eindeutigen Wortlaut eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes"96 gegenübergestellt wird, dann könnte damit eben dieser Unterschied zwischen einer puren Deskription und einer auch solche Fälle erfassenden normativen Funktion gemeint sein, welche zum Zeitpunkt der Formulierung des Normtextes überhaupt noch nicht beschrieben werden konnten, da sie noch nicht existierten. Es wäre (doch müßte eine endgültige Einschätzung des Problems einer genauen sprechakttheoretischen Analyse von Rechtsnormen vorbehalten bleiben) in solchen Fällen möglicherweise ein „Auseinanderklaffen" von propositionalem Teil und Illokution des normativen „Sprechakts" zu verzeichnen, angesichts dessen sich das Gericht die Anwendbarkeit des normativen Gehalts vorbehält, obwohl der propositionale Teil nicht zu „passen" scheint. Zu fragen wäre dann aber, ob ein solches Vorgehen (falls es tatsächlich in dieser Terminologie richtig beschrieben wäre) noch mit dem Bestimmtheitsgebot und dem Gesetzesbindungspostulat vereinbar wäre. Semantisch wichtig ist auch die Frage, welchen Grad an Konkretion eigentlich der „propositionale" Teil von Norm94 So BVferGE56, llOff., 125, wo die Zulässigkeit der Annahme eines „Bedeutungswandels" der Rechtsnormen verneint wird. Positiv dazu stehen dagegen BVferGE 2, 380ff., 401 und 7,342 ff., 351. Gelegentlich wird ein „Bedeutungswandel" auch insoweit zugestanden, als er „allgemeiner Sprachgebrauch" geworden sei (so BGHSt 1, 1 ff., 3). 95 BVferGE 22,28 ff., 37; die Richter fahren fort: „Daher darf die Auslegung des [...] Gesetzes nicht zu streng an dem Wortlaut haften, sondern muß dem wirklichen Sinn der jeweiligen Bestimmung so weit als möglich Rechnung tragen." Als »wirklicher Sinn' wird hier offensichtlich ein pragmatischer Anwendungsgehalt (oder Regelungsgehalt) der Norm verstanden; insofern könnte hier dasjenige Problem gemeint sein, das die Sprechakttheorie mit der Unterscheidung von lexikalischer Bedeutung und Handlungsgehalt (Proposition und Illokution) eines Sprechaktes zu erklären versucht hat. 96 BGHZ 17, 266ff., 257f.: „Entgegen der Auffassung der Beklagten muß auch gegenüber einem sprachlich eindeutigen Wortlaut eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes Platz greifen, wenn der zur Entscheidung stehende Interessenkonflikt bei Erlaß des Gesetzes noch nicht ins Auge gefaßt werden konnte, weil er erst durch die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nach diesem Zeitpunkt in Erscheinung getreten ist." Ähnlich auch BGHZ 18, 44ff., 49.

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texten hat; die meisten Gesetzesformulierungen bemühen sich um höchstmögliche Abstraktion, so daß die Frage einer „Anwendbarkeit" einer Normtext-Formulierung auf einen konkreten Fall sich häufig schon in der Bedeutungsexplikation einzelner Normtextbestandteile (ζ. B. Begriffe) erschöpft. Auftretende Probleme sind dann ζ. B. der Art, ob ein Gesetzesterminus einen konkreten Fall (Gegenstand oder Sachverhalt) auch „trifft". Auslegung nach dem „Sinn und Zweck" eines Normtextes meint dann häufig allgemeine Überlegungen zu einer „sinnvollen, vernünftigen und gerechten Lösung", deren semantischer Bezug zu dem zur Rechtfertigung der Entscheidung herangezogenen Normtext dann zumindest aus linguistischer Sicht häufig fragwürdig ist. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß in mehreren Urteilen schon die Berücksichtigung von „Absichten", die „der Gesetzgeber" ausweislich von Gesetzgebungsmaterialien gehabt haben mochte, als für die Auslegung eines Normtextes irrelevant bezeichnet wurde, soweit diese Absichten nicht i m Normtext selbst „ z u m Ausdruck gekommen" seien. 97 Müßte diese Haltung sich nicht umso mehr auf Überlegungen zum „Sinn und Zweck" einer Norm beziehen, die i m Widerspruch dazu auch eine Auslegung über den Wortlaut hinaus für möglich halten? Unter dem rechtsstaatlichen Gesichtspunkt des „Bestimmtheitsgebotes" gesetzlicher Regelungen sind dazu eindeutige Aussagen erfolgt. 98 So bestimmt das Bundesverfassungsgericht einmal für das Strafrecht: „ D i e strafrechtlichen Normen müssen klar das 97

BVferGE 13,261 ff., 268; vgl. auch BVferGE61,149ff., 199f. und das schon zitierte Urteil BVferGE 11, 126 ff., 130 f. 98 Die rechtsstaatlichen Hintergründe des Bestimmtheitsgebots werden in BVferGE 40, 237 ff., 249 angesprochen: „Die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, der Vorrang des Gesetzes also, würden ihren Sinn verlieren, wenn nicht schon die Verfassung selbst verlangen würde, daß staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen nur Rechtens ist, wenn es durch das förmliche Gesetz legitimiert wird. [...] Im Rahmen einer demokratisch-parlamentarischen Staatsverfassung, wie sie das Grundgesetz ist, liegt es näher anzunehmen, daß die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen muß." Deutlich wird hier, daß die gegensätzlichen auslegungstheoretischen Positionen der erkennenden Gerichte selbst wieder schon auf Interpretationen (nämlich des Grundgesetzes) beruhen: Während die einen aus der Formulierung „Gesetz und Recht" (Art. 20, 3 GG) den Vorrang des Gesetzes vor dem (durch Richter gesprochenen) „Recht" entnehmen, fühlt sich die Gegenseite durch diese Formulierung ebenso legitimiert, da die Rechtsprechung an Gesetz „und Recht", mithin an ihre eigene Tätigkeit, gebunden sei. Zum Bestimmtheitsgebot vgl. auch BGHSt23,167 ff., 171 mit deutlichem Hinweis auf die bei uns herrschende Demokratie (dessen offenbare Notwendigkeit für sich spricht): „Bestimmt die in einem Strafgesetz vorausgesetzte Schuldform sich mangels ausdrücklicher Vorschrift maßgeblich nach dem Willen des Gesetzgebers, so darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß in den Anforderungen an die Klarheit und Bestimmtheit seines Willensausdrucks entgegen der Ansicht des vorlegenden Gerichts unter der Herrschaft des Grundgesetzes eine wesentliche Wandlung eingetreten ist. Aus rechtsstaatlichen Erwägungen ist der Gesetzgeber gehalten, bei Erlaß oder Neufassung von Strafvorschriften die Strafbarkeitsvoraussetzungen möglichst genau festzulegen. Der Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz fordert, daß die Strafbarkeit gesetzlich ,bestimmt' ist. Jedermann soll voraussehen können, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist, um sein Verhalten entsprechend einrichten zu können."

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Verbotene vom Erlaubten abgrenzen. Die Tatbestandsmerkmale sind so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen." 99 Es wurde auch deutlich ausgesprochen, daß die geforderte Erkennbarkeit und Bestimmtheit gesetzlicher Ver- und Gebote eindeutig aus der Sicht der betroffenen Bürger gegeben sein muß. 1 0 0 Die Standards dafür sind in einem neueren Urteil sehr hoch angesetzt worden: „Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Es geht einerseits um den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe oder der Auferlegung eines Bußgelds bedroht ist. I m Zusammenhang damit soll andererseits sichergestellt werden, daß der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entscheidet." 101 Damit wurde jeglichem 99

BVferGE25, 269ff., 289. „Ein gesetzliches Verbot muß in seinen Voraussetzungen und in seinem Inhalt so klar formuliert sein, daß die davon Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach bestimmen können. Gewiß können bei einer gesetzlichen Regelung nicht alle Unklarheiten und Zweifel von vorneherein vermieden werden. Es muß aber verlangt werden, daß der Gesetzgeber wenigstens seinen Grundgedanken, das Ziel seines gesetzgeberischen Wollens, vollkommen deutlich macht besonders dann, wenn es sich um die Regelung eines verhältnismäßig einfachen und leicht zu übersehenden Lebenssachverhalts handelt und die Formung des gesetzlichen Tatbestandes deshalb wenig Schwierigkeiten bereitet." BVferGE 17, 306ff., 314. 101 BVferGE71, 108ff., 114ff. Dieses in rechtsstaatlicher Hinsicht äußerst wichtige Urteil verdient es, ausführlich zitiert zu werden: „Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber [...], die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. [...] Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Es geht einerseits um den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe oder der Auferlegung eines Bußgeldes bedroht ist. Im Zusammenhang damit soll andererseits sichergestellt werden, daß der Gesetzgeber über die Strafbarkeit [...] entscheidet. [...] Wenn hiernach Straf- und Bußgeldvorschriften in der dargelegten Weise bestimmt sein müssen, so schließt dies nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Strafrecht - gleiches gilt im Recht der Ordnungswidrigkeiten - steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Auch ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, daß in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muß der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Regelung voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise für ihn wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar. Unter diesem Aspekt ist für eine Bestimmtheit einer Strafvorschrift in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgebend. Das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit schließt nach der Rechtsprechung eine analoge oder gewohnheitsrechtliche Strafbegründung aus [...]. Dabei ist »Analogie' nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechts-, An Wendung', die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz zieht der Auslegung von Straf- und Bußgeldvorschriften eine verfassungsrechtliche Schranke. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Wenn, wie gezeigt, Art. 103 Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Straf- oder Bußgeldandrohung für den Normadressaten verlangt, so kann das nur bedeuten, daß dieser Wortsinn aus 100

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„Richterrecht" (jeder „Rechtsfortbildung"), welches etwa im Wege der „Analogie" Gesetzesbestimmungen aus dem mit ihnen angezielten Sachverhaltsbereich auf andere („neue" oder „unvorhersehbare") Verhältnisse übertragen möchte, die rechtsstaatliche Zulässigkeit abgesprochen. Damit sind aber auch einem Begriff von „Auslegung" eindeutige Grenzen gesetzt, welcher über eine Form der Bedeutungsexplikation hinaus geht, die noch als im engeren Sinne sprachbezogen (d. h. als Textinterpretation im eigentlichen Sinne) aufgefaßt werden kann; insofern enthält das Urteil eine notwendige Festlegung des anderenorts ausufernd und der Alltagssprache fremd gebrauchten Begriffs „Interpretation", der hier auf seinen sprachlichen Kern zurückgestutzt wird. Freilich sei nicht verschwiegen, daß andere Senate an ihrer anderen (und im zitierten Urteil scharf kritisierten) Auffassung von „Auslegung" weiterhin festhalten. Wenn das „Bestimmtheitsgebot" und das „Gesetzesbindungspostulat" des Grundgesetzes dahingehend ausgelegt werden, daß der „Wortlaut" eines Normtextes „beim Wort genommen" werden muß, und zwar in einer Form, in der der „Sinn" des Normtextes nach allgemeinverständlichen sprachlichen Kriterien bestimmt werden muß, dann bekommt der auch sprachwissenschaftlich relevante Aspekt der Interpretation, d. h. der Bedeutungsexplikation, wieder eine zentrale Stellung für die juristische Auslegungstheorie, und mit ihr die semantische Theorie, die zeitweilig bei der Analyse einiger richterlicher Thesen zur Gesetzesauslegung als vollständig unpassend erscheinen mußte. Übergreifende Figur sowohl für Anhänger einer strengen Befolgung des Bestimmtheitsgebots, als auch für Anhänger des „Richterrechts" ist immer der „Wille des Gesetzgebers" gewesen, der bei der bisherigen Behandlung auslegungstheoretischer Aussagen der obersten Bundesgerichte ständig schon durchschimmerte. Abschließend soll die Verwendung und Definition dieser Argumentationsfigur näher beleuchtet werden; vor allem hinsichtlich der Frage, ob der „Wille des Gesetzgebers" Anhaltspunkte dafür gibt, mit der bedeutungstheoretischen Figur der „Autorintention" verknüpft werden zu können. Die offizielle Version (die bis heute immer wieder zitiert wird) steht seit dem schon häufig herangezogenen ersten Verfassungsgerichtsurteil zur Auslegungsproblematik fest, wo es schon im Leitsatz heißt: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung."102 der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist. [...] Führt erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende ,Interpretation' zu dem Ergebnis der Strafbarkeit des Verhaltens, so darf dies nicht zu Lasten des Bürgers gehen. [...] Insoweit muß sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen. Es ist seine Sache, zu entscheiden, ob...". 102 BVferGE 1, 299ff., 299, 312; wiederholt u.a. in BVferGE20, 283ff., 293; 53, 207ff., 212; 59, 128 ff., 153; BGHZ 46, 74ff., 76.

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Im Sinne einer sens-clair-Doktrin könnte man diese klassische Formulierung der „objektiven" Lehre auch so zusammenfassen: Der Gesetzgeber hat gesprochen; es gilt das gesprochene Wort; entsprechend forensischer Gepflogenheiten kann dieses jederzeit gegen ihn verwendet werden. Man sieht, daß die Figur „Wille des Gesetzgebers" von „Wortlaut und Sinnzusammenhang" sofort überspielt wird; nicht einmal zusätzliche Erläuterungen der Gesetzgebungsorgane werden noch akzeptiert. 103 Der „Wille" des Gesetzgebers ist keine „Absicht", oder „Intention" in normalem Verständnis, sondern jeglicher persönlichen Deutung, auch solcher von Autorseite, entrückt: er ist „objektiviert". Gleichwohl werden konkrete psychologische Termini wie „Absicht", „Vorstellungen" und „Ziel des Gesetzgebers" in anderen Urteilen verwendet, obgleich ebendort der „Wille des Gesetzgebers" getreu der einmal eingeschlagenen objektivistischen Linie zum anthropomorphen „Willen des Gesetzes" mutiert. 104 Dabei wird verkannt, daß psychologische Prädikate nur Menschen zugesprochen werden können; wird der „Wille des Gesetzgebers" als konkrete Absichtserklärungen von Angehörigen der Gesetzgebungsorgane für irrelevant erklärt, so besteht der Verdacht, daß die Aufrechterhaltung der Rede vom „Willen" (des Gesetzes) verdecken soll, daß ein Wille anderer Menschen (eben der Richter) implantiert wird. 105 Im Gegensatz zu der Auffassung, daß der Auslegung Grenzen gezogen sind, „wenn ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers vorliegt" 106 , wird von den Anhängern der „objektiven Lehre" ein Rekurrieren auf Absichten des Gesetzgebers dann abgelehnt, wenn sie nicht „im Wortlaut des Gesetzes zum Ausdruck gekommen" sind; wenn „dies nicht geschehen ist, muß eine solche Absicht bei der Auslegung des Gesetzes unbeachtet bleiben." 107 Hier wird der objektivistische Gesetzespositivismus anscheinend so weit getrieben, daß sogar das Vorliegen einer ausdrücklichen Willenserklärung (wie sie sich aus den Gesetzesmaterialien ergeben könnte) für vernachlässigenswert erklärt wird. 108 Die Unterwerfung unter den „Willen des Gesetzgebers" wird mitunter mit deutlichen Anzeichen der Indignation abgeschüttelt: „Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Ent103 „Der Wille des Gesetzgebers kann bei der Auslegung des Gesetzes nur insoweit berücksichtigt werden, als er in dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat. [...] Der ,Wille des Gesetzgebers' ist der im Gesetz objektivierte Wille." BVferGE 11, 126ff., 130f.; aufgegriffen in BVferGE59,128ff., 153; ähnlich BVferGE47, 109ff., 127; 53, 135ff., 147; 61, 149ff., 199f. 104 So in BVferGE8,28 ff., 33. Der „Wille des Gesetzes" sei „aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte eindeutig zu folgern". Vom „Ziel, das die gesetzliche Regelung verfolgt" wird auch in BVferGE 8, 274ff., 307 gesprochen. 105 Weshalb in BVferGE 34, 269ff., 287 ja auch von der richterlichen Gesetzesanwendung als einem „Akt des bewertenden Erkennens" gesprochen wird, „dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen". 106 BVferGE9, 89ff., 102. So auch BVferGE54,277ff., 297f.: „Über die erkennbare Regelungsabsicht darf die Auslegung [...] nicht hinweggehen." 107 BVferGE 13, 261 ff., 268. 108 „Der Entstehungsgeschichte, den Vorstellungen und Motivationen des Verfassunggebers kommt für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes nicht unbedingt eine ausschlaggebende Bedeutung zu." BVferGE45, 187ff., 227.

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Scheidungen des Gesetzgebers." Gleichwohl wird die eigene „willengeleitete" Entscheidungstätigkeit immer wieder auf die „gesetzgeberischen Weisungen" zurückgebogen. 110 Allerdings wird in einigen Urteilen auch schon vom „sogenannten" Willen des Gesetzgebers gesprochen; hier schlägt der Positivismus schon so weit durch, daß jede Zusatz-Information, welche den „objektiven Gesetzesinhalt" beeinträchtigen könnte, als unerwünscht erklärt wird. 111 Damit bekommt die Figur „Wille des Gesetzgebers" aber einen Status, der nicht mehr mit psychologischen Prädikaten wie „Absicht", „Vorstellungen" erklärt werden kann; der Wille wird eher zur „volonté" im Sinne Rousseaus: ein Wille, der auch demjenigen zugesprochen werden kann, der von ihm noch gar nichts weiß. Gelegentlich wird, wie Formulierungen wie „Wille des Gesetzes" andeuten, die voluntative Kraft dem Text selbst zugesprochen: das Gesetz selbst verliert dann seinen beklagenswerten Zustand als „toter Buchstabe" und wird zum „lebendig sich entwickelnden Geist". 112 Dieser Geist ist so aktiv und wirkungsmächtig, daß ihm auch attestiert werden kann, daß nicht, wie für den juristischen Laien zu erwarten gewesen wäre, die Bedeutungsexegese des sprachlich vorliegenden Textes den „Gesetzeswillen" erkennen läßt, sondern daß umgekehrt die „Ergründung des Gesetzeswillens"113 dazu verhilft, zu erkennen, in welcher Bedeutung die Gesetzesworte verwendet wurden. Wunderbarerweise ist der „Gesetzeswille" also etwas, was die Worte, in denen er materialisiert ist, erklärt, und nicht umgekehrt. Es liegt dann nahe, Auslegungen „nach dem Zweck der Regelung" vorzunehmen114, die angeblich dann stattfinden sollen, können und dürfen, wenn der „Wortlaut" kein eindeutiges Auslegungsergebnis ergibt. Offen bleibt dann nur die Frage, auf welchem Wege dieser „Zweck" erkundet wird, wenn der nach dem Bestimmtheitsgebot und dem Gesetzesbindungspostulat allein verbindliche Wortlaut des Gesetzes stumm bleibt. Möglicherweise fühlen sich manche Richter im Besitz einer höheren Wahrheit, die ihnen diesen „Zweck" auch bei unklarem „Wortlaut" eingibt; gibt es doch unter ihnen, wie gezeigt, auch Kollegen, die es vermögen, dem 109

BVferGE34, 269ff., 287. So im selben Urteil, BVferGE 34, 269ff., 287: „Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden." 111 „Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann hiernach bei der Interpretation insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen." BVferGE62, Iff., 45. 112 BGHSt 10, 157 ff., 159f. 113 BGHSt 14, 116ff., 118 spricht davon, welcher Sprachgebrauch in einem konkreten Gesetzestext vorliegt, „läßt sich nur durch die Ergründung des Gesetzeswillens erkennen". Trotz dieses objektivistischen Einschlags wird auf die „Entstehungsgeschichte" rekurriert: „Anhaltspunkte für die vom Gesetzgeber mit der Schaffung einer Vorschrift verfolgte Absicht liefert in erster Linie die Entstehungsgeschichte." (119) 114 Vgl. BVferGE 14, 76ff., 99f.; 54, 94ff., 98; 72, 330ff., 393 ff. 110

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Dietrich Busse

Gesetzgeber vorzuhalten, daß er „tatsächlich etwas anderes gewollt hat, als er zum Ausdruck gebracht hat." 115 Auflösung all dieser Rätsel könnte die schlichte semantische Feststellung sein, daß mit dem Ausdruck „Wille des Gesetzgebers" von verschiedenen Gerichten eben Verschiedenes gemeint ist: Während die Einen damit die durchaus konkreten Regelungsabsichten der gesetzgebenden Organe und ihrer Mitglieder meinen, die, eine entsprechende Materiallage vorausgesetzt, durch Ermittlung der Entstehungsgeschichte, d. h. mittels der historisch-genetischen Auslegungsmethode, ermittelt werden können (der Normtext selbst wäre dann nur ein Moment unter verschiedensten Sprachdaten, allerdings eines, das mit besonderem Vorrang ausgezeichnet ist), meinen die Anderen damit eine abstrakte Entität eines (auf welchem Wege, wird nicht gesagt) „objektivierten" Gesetzgeberwillens, eine Entität von durchaus fragwürdigem epistemischen und erkenntnistheoretischen Status, die zur Klarheit dann häufig auch gleich als „Wille des Gesetzes" bezeichnet wird. Der „Vorrang des Gesetzes", der von den Anhängern eines strengen Gesetzesbindungspostulats gefordert wird 116 , muß nicht notwendigerweise mit dem Vorrang des Wortlauts eines einzigen problematischen Gesetzesparagraphen gleichgesetzt werden. Schon bei der „normalen" Auslegung unstrittiger Paragraphen wird (z. B. im Zivilrecht) nicht ein einzelner Paragraph auf einen Sachverhalt schlicht „angewandt", vielmehr besteht die Arbeit der Richter häufig darin, ein Rechtsverhältnis, dessen vollständige Konstruktion sich aus dem komplizierten Zusammenwirken mehrerer Einzel-Normtexte ergibt, anhand eines vorliegenden Sachverhaltes erst aufzubauen, um einen entscheidungsfähigen „Rechtssatz" (dann als „Obersatz" mehrerer einzelner „Rechtssätze") zu gewinnen. Gerade deshalb bekommt in den richterlichen Auslegungstheorien der „Sinnzusammenhang" einer Rechtsnorm eine Bedeutung, die derjenigen des „Wortlauts" zumindest gleichkommt, sie häufiger noch übersteigt. 117 Eine linguistische Analyse, unter textlinguistischem Blickwinkel, die das juristische Arbeiten mit Texten in allen seinen (linguistisch relevanten) Aspekten erfassen will, muß zu klären versuchen, inwieweit und mit welchen Mitteln sich dieser „Sinnzusammenhang" linguistisch beschreiben läßt.118 Wenn dabei geprüft werden soll, ob und inwieweit der Begriff „Textkohärenz" auf solche sich bei der Auslegung von Normtexten ergebenden Zusammenhänge anwendbar ist, dann muß dabei die Vielschichtigkeit des Begriffs „Sinnzusammenhang" in seiner Verwendung bei den Richtern beachtet werden: Er enthält in seinen verschiedenen Verwendungsformen ein Spektrum, das vom Ko-Text der einzelnen Rechtsnorm, d. h. dem sie umgebenden vollständigen Gesetzestext, über den systematischdogmatischen Zusammenhang mit Rechtsnormen anderer Gesetze, über einen inhaltlichen Zusammenhang, der aus der Entstehungsgeschichte der Norm oder sogar 1,5

BFinHE 72,412ff. (zitiert nach JuristenZeitung 1963, 261). BVferGE40, 237 ff., 248 f. (zitiert in Anm.98). 117 Der sich aus dem „Sinnzusammenhang" eines Normtextes ergebende Sinn wird deshalb auch gelegentlich als seine „wahre Bedeutung" bezeichnet (so BVferGE35,263 ff., 279; zitiert in Anm.61). 118 Vgl. für den Versuch einer solchen ersten Analyse Busse, Recht als Text, 119 ff. 116

Semantik der Praktiker

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der Rechtsgeschichte (Dogmatik?) sich ergibt, bis zu einem „sachlich-logischen" Zusammenhang bei bestimmten Tatbeständen (der selbst schon wiederum Ergebnis von Auslegungsakten ist) und schließlich einem ganz allgemeinen S ach- oder Deutungshorizont reicht, der aus den „Regelungszielen" nicht nur der zu interpretierenden, sondern auch „benachbarter", „sachähnlicher" Rechtsnormen begründet wird. Bei einer genaueren Analyse des faktischen Arbeitens der Juristen mit Rechtstexten könnte sich herausstellen, daß manche der widersprüchlichen Aussagen der obersten Bundesgerichte zu Sprach- oder Auslegungsfragen auch damit zu tun haben, daß richterlicher Umgang mit Texten das einfache Schema Text-Textbedeutung-Bedeutungsexplikation sprengt. 119 Dabei wird besonderes Augenmerk auch auf die „Textfunktion" (oder Sprechaktqualität) der Rechtstexte zu richten sein, die möglicherweise doch einen großen, auch sprach- und bedeutungstheoretisch relevant werdenden Unterschied dieser spezifischen institutionellen Sprachform zu anderen, „alltäglicheren" Sprachformen bewirkt.

Literatur Busse, Dietrich: Historische Semantik. Stuttgart 1987. — Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik. Opladen 1991. — Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. (= Reihe germanistische Linguistik 131) Tübingen 1992. — Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht. (= Schriften zur Rechtstheorie 157) Berlin 1993. Fischer, Hans Rudi: Sprache und Lebensform. Frankfurt am Main 1987. Foucault , Michel: L'ordre du discours. Paris 1971. (dt., München 1974) Haller, Rudolf: Art. „Begriff'. In: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Darmstadt 1971, 780-787. Hoffmann, Ludger: Kommunikation vor Gericht. Tübingen 1983. — (Hrsg.): Rechtsdiskurse. Untersuchungen zur Kommunikation in Gerichtsverfahren. Tübingen 1989. Nussbaumer, Markus: Sprache und Recht. (= Studienbibliographien Sprachwissenschaft 20) Heidelberg 1997. von Polenz, Peter: Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprachen und wider die Deagentivierung. In: Theo Bungarten (Hrsg.), Wissenschaftssprache. München 1981, 85-110. — Deutsche Satzsemantik. Die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin/New York 1985. Reitemeier, Ulrich: Studien zur juristischen Kommunikation. Eine kommentierte Bibliographie. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 56) Tübingen 1985. Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. München 1986. 119

Vgl. zu dieser Problematik ausführlich Busse, Recht als Text, 259 ff.

6 Müller/Wimmer

Teil 2

Praxis und Theorie

Sprachliche Argumente in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als fachdomänenspezifische und allgemeine Sprachgebrauchstopoi Von Ekkehard Felder Es gibt keinen schlimmeren Feind des Denkens als den Dämon der Analogie. André Gide (Tagebuch)

I. Einleitung Wesentlicher Bestandteil juristischen Handelns sind Argumentation und Entscheidung. Mit jeder Sprachhandlung des Entscheidens geht eine des Begründens einher. Die derzeitigen juristischen Argumentationstheorien unterscheiden sich in ihrem Erkenntnisinteresse: eine Richtung der Argumentationstheorien versteht sich als Theorie normativer Verhaltensanweisungen an den Rechtsanwendenden (präskriptive Argumentationstheorie), eine andere konzipiert Argumentationstheorie als verstehende und fragt nach dem Sinn juristischer Argumentation (verstehende Argumentationstheorie) und eine dritte Richtung versteht sich als empirisch und untersucht, wie juristische Argumentation in der Rechtspraxis aussieht (empirische Argumentationstheorie). 1 Die hier vorliegende Untersuchung betrachtet eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (= BVferGE 92,1) mit einem empirischen Erkenntnisinteresse. Es sollen „sprachliche Argumente", die zunächst definiert und im Spiegel juristischer und nicht juristischer Argumentationen diskutiert werden, klassifiziert und ihr Stellenwert in der Gesamtbegründung beschrieben werden. II. Das Textkorpus der Untersuchung Die Untersuchung beschäftigt sich mit dem folgenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995: „Die erweiterte Auslegung des Gewaltbe1 Jochen Schneiderl Ulrich Schroth, Sichtweisen juristischer Normanwendung: Determination, Argumentation und Entscheidung, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 51989 S. 421-464, hier S.431.

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Ekkehard Felder

griffs in § 240 Abs. 1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG" (= BVferGE 92, 1 - Sitzblockaden II). Ausgangspunkt der richterlichen Tätigkeit ist der folgende Sachverhalt, der vom Ersten Senat des BVerfG folgendermaßen wiedergegeben wird: „Der Verurteilung liegt eine Blockadeaktion vor dem Sondermunitionslager der Bundeswehr in Großengstingen zugrunde, in dem atomare Kurzstreckenraketen des Typs Lance gelagert waren. Mit der Aktion sollte gegen die Stationierung der Raketen protestiert werden. [...] Als sich zwischen 10.30 Uhr und 10.45 Uhr ein Fahrzeug der Bundeswehr mit Postsendungen näherte, setzten sich fünf Demonstranten auf die Fahrbahn. Hauptfeldwebel B. gab wenige Meter vor den Sitzenden den Befehl zum Anhalten und forderte sie auf, Durchfahrt zu gewähren. Als dies ohne Erfolg blieb, ordnete er an, umzukehren und in die Kaserne zurückzufahren. Währenddessen standen die Beschwerdeführer mit den übrigen Demonstranten am Straßenrand. [...] Als um 12.15 Uhr Hauptfeldwebel B. mit einem Verpflegungsfahrzeug eintraf und die Demonstranten erneut die Zufahrt blockierten, gab Polizeihauptkommissar Z. die Verfügung des Landratsamts bekannt und wies auf die Strafbarkeit des Verhaltens wegen Nötigung hin. Nachdem die Demonstranten der Aufforderung nicht gefolgt waren, ordnete er an, die Sitzenden wegzutragen. Das Fahrzeug konnte daraufhin in das Sondermunitionslager einfahren. Gegen 12.30 Uhr wiederholte sich der Vorgang, als das Fahrzeug das Munitionslager wieder verlassen wollte. Als sich Hauptfeldwebel B. und der ihm unterstellte Soldat in Begleitung von Polizei um 17.15 Uhr erneut mit einem Verpflegungsfahrzeug näherten, setzten sich die Beschwerdeführer und eine weitere Person auf die Fahrbahn. Die übrigen Demonstranten standen am Straßenrand. Wie zuvor forderte Polizeihauptkommissar Z. die Sitzenden zur Räumung der Straße auf und ordnete dann an, sie wegzutragen. Gegen 17.30 Uhr konnten die Soldaten die Fahrt fortsetzen." [BVferGE 92,2]

Sämtliche Angeklagte wollten gegen die in ihren Augen sich ständig steigernde Hochrüstung - namentlich der Großmächte Sowjetunion und USA, die sie für existenzbedrohend und lebensvernichtend hielten - ein symbolisches Zeichen setzen. Eine Möglichkeit, solches zu demonstrieren, sahen sie in von ihnen so bezeichneten „gewaltfreien Aktionen", zu welchen das Versperren der Zugänge und Zufahrten zu militärischen Einrichtungen durch Zusammenstehen oder gemeinsames Sitzen auf der Fahrbahn gehört. Gegenstand des hier untersuchten Beschlusses des Ersten Senates - nämlich die Auslegung des Gewaltbegriffes in § 240 StGB - wurde vom BVerfG in seinem früheren Urteil vom 11.11. 1986 [BVferGE73, 206 - Sitzdemonstrationen vor militärischen Einrichtungen in Mutlangen] als für vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG (Bestimmtheitsgrundsatz) erklärt, und zwar sowohl hinsichtlich des Gewaltbegriffs in Absatz 1 als auch der Verwerflichkeitsklausel in Absatz 2 dieser Vorschrift. In der hier vorliegenden Entscheidung wird im Unterschied zur damaligen Entscheidung die Auslegung des Gewaltbegriffs (StGB § 240 Abs. 1) für ««vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 erklärt, die Verwerflichkeitsklausel aus Abs. 2 bedurfte keiner Entscheidung [BVferGE 92, 14].

Sprachliche Argumente in einer BVferGE

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I I I . Die Streitfragen des Rechtszugs Im Mittelpunkt des juristischen Disputs stehen in Bezug auf den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) zwei Fragen, die von den vorherigen Instanzen unterschiedlich beantwortet wurden: - Handelt es sich bei der Sitzblockade um Gewalt im Sinne von § 240, Abs. 1 StGB (es wird in diesem Zusammenhang von „psychischer", „vergeistigter" oder „entmaterialisierter Gewalt" gesprochen)? - Wie ist im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel der angestrebte Zweck im Verhältnis zum Mittel der Blockade zu bewerten (§ 240, Abs. 2 StGB)? Oder anders formuliert: Ist diese Mittel-Zweck-Relation als verwerflich anzusehen und liegt infolgedessen eine rechtswidrige Gewaltanwendung vor? Bevor die argumentationsstrategischen Aspekte der Entscheidungsbegründungen im einzelnen nachgezeichnet werden, sollen hier vorweg aus Gründen der Übersichtlichkeit die einzelnen Gerichtsentscheidungen in Bezug auf die strittigen Fragen bilanziert werden. - Zum Gewaltbegriff : Vom Amtsgericht Münsingen bis zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe wird der „entmaterialisierte" Gewaltbegriff befürwortet, das Bundesverfassungsgericht verneint aus verfassungsrechtlichen Gründen eine solche fachrechtliche - hier strafrechtliche - Auslegung. Dass den BVerfG-Entscheidungen innerhalb der Textsorte Gerichtsurteile und Bescheide eine Sonderstellung zukommt, da sie nach verfassungsrechtlichen und nicht fachrechtlichen Gesichtspunkten ihre Entscheidungen fällen und formulieren, ist in der Rechtstheorie und Rechtspraxis von zentraler Bedeutung, wird allerdings in der Bevölkerung nicht oder kaum als Unterscheidungskriterium wahrgenommen. - Zur Verwerflichkeitsklausel·. Ausschließlich die 2. kleine Strafkammer des Landgerichts Tübingen hat als einzige fachgerichtliche Instanz in der Sitzung vom 16. Februar 1987 die Tat als nicht verwerflich angesehen! Das Landgericht Tübingen sprach die Angeklagten mit der Begründung frei, sie hätten zwar Gewalt angewendet, aber nicht verwerflich gehandelt. Das BVerfG äußert sich in seiner Entscheidung vom 10.01.1995 nicht dazu, sondern nur zur „extensiven Auslegung des Gewaltbegriffs" (§ 240, Abs. 1 StGB). Das BVerfG sieht also in der Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 StGB Abs. 1 durch die Strafgerichte einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG (Bestimmtheitsgrundsatz). Weder über die Verwerflichkeitsklausel in Abs. 2 der Vorschrift noch über ihre Auslegung wurde hier entschieden, somit hat weiterhin das Urteil vom 11. November 1986 (BVferGE 73, 206 - Mutlangen) Gültigkeit. Inhaltlich lassen sich die strittigen Fragen in Bezug auf Absatz 1 (die Auslegung des Gewaltbegriffs) und Absatz 2 (Verwerflichkeitsklausel) des Nötigungsparagraphen wie folgt skizzieren:

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Ekkehard Felder

1. Es stellt sich im Zusammenhang mit dem Gewaltbegriff die Frage, ob es sich bei der Sitzblockade um Gewalt im Sinne von § 240, Abs. 1 StGB (Nötigung) handelt. Vom Amtsgericht Münsingen über das Landgericht Tübingen und das Oberlandesgericht Stuttgart bis zum Bundesgerichtshof [BGHSt 35, 270] sprechen die Gerichte von „psychischer" oder „entmaterialisierter" Gewalt (= unwiderstehlicher psychischer Zwang beim Opfer, also beim Insassen des Fahrzeuges). Sie begründen das damit, dass beim Gewaltverständnis nach § 240 Abs. 1 StGB nicht der „unmittelbare Einsatz körperlicher Kraft" vorausgesetzt werde, sondern dass schon geringer körperlicher Kraftaufwand (= das bloße Dasitzen) genüge, um beim Opfer (hier der Fahrzeugführer) einen psychischen Prozess in Lauf zu setzen. Dieser Vorgang fällt nach Ansicht des Bundesgerichtshofs unter den Gewaltbegriff. Für die Strafbarkeit sei also das Ausmaß der psychischen Einwirkung auf das Opfer ausschlaggebend und nicht der körperliche Kraftaufwand des Täters. Das BVerfG sah dies anders und verneinte dieselbe Frage am 10.01.1995 - dadurch wurde der BGH-Beschluss gegenstandslos - mit der Begründung [BVferGE92,1], der Gewaltbegriff werde dabei zu weit ausgelegt und widerspreche damit dem im Grundgesetz (Artikel 103, Absatz 2) festgelegten Bestimmtheitsgrundsatz (Grundprinzip des Strafrechts), demzufolge ein Straftatbestand das als strafbar angesehene Verhalten hinreichend genau umreißen muss. Zum anderen müssen Strafbarkeit und Strafrahmen für ein Verhalten festgestanden haben, ehe es verwirklicht wurde. Das Bundesverfassungsgericht weist darauf hin, dass der Staatsbürger verlässlich wissen soll, was der Gesetzgeber als strafwürdiges Verhalten ansehe. Nur dann könne sich der Einzelne danach richten. Wenn die Strafgerichte allerdings den Gewaltbegriff so weit wie oben beschrieben fassten, dann sei für den einzelnen Bürger das strafwürdige Verhalten aus der Gesetzesformulierung nicht mehr erkennbar. Mit diesem Bestimmtheitsgrundsatz soll also staatliche Willkür durch weit und unscharf gefasste Tatbestände vermieden werden. 2. In der Auseinandersetzung um den Verwerflichkeitsbegriff wird ebenfalls äußerst kontrovers darüber diskutiert, ob der angestrebte Zweck im Verhältnis zum eingesetzten Mittel der Blockade verwerflich (§ 240, Abs. 2 StGB) sei - damit ist „ein erhöhter Grad sozialwidrigen Handelns"2 gemeint. Es geht demnach um die Angemessenheit oder Unangemessenheit von dem angewendeten Mittel der Sitzblockade zum Erreichen des Zwecks in diesem konkreten Fall (die Mittel-Zweck-Relation). Hierbei gilt es der Frage nachzugehen, ob nur das Nahziel des Blockierens mit seinen Auswirkungen auf das Opfer (nämlich den Fahrzeugführer, der an der Weiterfahrt gehindert wurde) oder auch Fernziele (hier ζ. B. die Bevölkerung eindringlich und überzeugend auf die Gefahr der atomaren Rüstung hinzuweisen) vorrangig zu berücksichtigen seien. Dazu gibt es gegensätzliche juristische Positionen. Wie bereits erwähnt, musste das BVerfG in diesem Beschluss zur Verwerflichkeitsklausel keine Stellung nehmen. 2 Eduard Dreherl Herbert Tröndle, S. 1232.

Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 48. Auflage 1997,

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IV. Argumentationstheoretische Untersuchungsmethode 1. Begriffliche Abgrenzungen

Gegenstand der Untersuchung sind Sprechhandlungen (Illokutionen), die konstitutiv sind für Argumentationen und für den Gewinn von tatsächlicher oder vermeintlicher Erkenntnis, soweit diese sich in der Sprache vollzieht. Klein nennt sie konklusive (Inferenzen oder Schlüsse verwendende) Sprechhandlungen, weil ihr gemeinsames klassenbildendes Merkmal die Operation des Schließens ist, wobei Schließen nicht als identisch mit deduktivem Schließen betrachtet wird. 3 In unserem Untersuchungszusammenhang stehen als terminologische Subtypen des Begriffs „Argumentieren" die Termini „Begründen" (als Terminus für das Stützen oder Angreifen eines Wahrheitsanspruches einer strittigen Behauptung) und „Rechtfertigen" (als Terminus für das Stützen strittiger Richtigkeitsansprüche) im Vordergrund 4, welche gleichsam als Bezeichnung für die in dieser BVferGE überwiegend relevanten Sprechhandlungen dienen. Man argumentiert also, indem man die Sprechhandlung des Begründens oder Rechtfertigens vollzieht. Der Terminus Argumentation wird hier - im Unterschied zur angelsächsischen Argumentationsforschung - nicht in der auf Toulmins5 Einfluss zurückgehenden und in der englischsprachigen Logik üblichen Bedeutung von „argument" verwendet (jede Schlussfigur aus Prämissen und Konklusion unabhängig von pragmatischen Aspekten), sondern er wird eingeschränkt auf solche Sprechhandlungen, die neben dem Merkmal Schlusscharakter das pragmatische Merkmal Strittigkeit aufweisen6. Unter Argumentation wird hier das Anführen von Gründen für oder gegen eine Behauptung verstanden. Argumentieren als Anführen von Gründen ist eine Sprechhandlung, die sich auf eine „Quaestio"7 bezieht, die unter den argumentierenden Diskursteilnehmern als strittig erachtet wird. Somit verstehe ich im Sinne von Kienpointner unter Argument „die als Schlussregeln formulierten inhaltlichen Relationen" von Prämissen und Konklusionen, die kategorisiert als Argumentationsschemata oder Topoi bezeichnet werden.8 3

Josef Klein, Die konklusiven Sprechhandlungen, Studien zur Pragmatik, Semantik, Syntax

und L e x i k von BEGRÜNDEN, ERKLÄREN-WARUM, FOLGERN und RECHTFERTIGEN. Tübingen

1987, S. 1. Als primäre konklusive Sprechhandlungen werden BEGRÜNDEN, ERKLÄREN - WARUM, FOLGERN und RECHTFERTIGEN behandelt. Andere konklusive Sprechhandlungen, wie z. B. WIDERLEGEN oder BEWEISEN führt Klein auf diese zurück bzw. betrachtet sie als deren Varianten. 4 Josef Klein, Die konklusiven Sprechhandlungen, S. 19. 5 Stephen Toulmin, The Uses of Argument, Cambridge 1958. 6 Josef Klein, Rhetorik und Argumentation. Eine Einführung, in: Der Deutschunterricht 51. Jg., Heft 5/99: Rhetorik und Argumentation. (Hrsg.: Josef Klein), S.3-12, hier 3f. 7 Wolf gang Klein, Argumentation und Argument, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 10. Jg., Heft 38/39, 1980, S.9-57, hier S. 10. 8 Manfred Kienpointner, Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustem, Stuttgart 1992, S.44.

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Ein Argument stützt oder widerlegt demnach strittige Propositionen und gilt als ein Grund im Sortiment der angeführten Gründe. Unter sprachlichen Argumenten verstehe ich eine Klasse von Gründen, die Aspekte des Sprachgebrauchs, des fachlichen (im Unterschied zum alltagsweltlichen) Sprachsystems und des (Fach) Sprachenwandels zur Stützung einer Behauptung anführen. Die den Argumentationen jeweils zugrundeliegenden Sprachauffassungen können in starkem Maße divergieren. 2. Argumentetypologie, Argumentationsschemata und Topikforschung

Versteht man unter „Topik" die Lehre von den Gesichtspunkten (Aristoteles: Rhetorik 1358a) oder von den standardisierten Schlussregeln9, die beim Anführen von Gründen für oder gegen eine Behauptung verwendet werden, so können diese „Fundstellen" oder Suchverfahren für Argumente innerhalb des menschlichen Wissens als Argumentationsschemata bezeichnet werden, die sich Aristoteles zufolge in „spezifische " Topoi - das sind fachdomänen- oder disziplinspezifische Wissensbestände über die Bildung von Schlussregeln - und „«allgemeine " Topoi unterteilen lassen.10 Topoi sind Schemata für den einzelnen Argumentationsschritt zur Bewältigung wiederkehrender komplexer Aufgaben 11, für den Übergang von - wie auch immer konstituierten - Daten zur Konklusion. a) Das für die juristische Topik grundlegende Werk von Viehweg betont hinsichtlich der spezifischen Topoi, dass bei der Bestimmung des Verhältnisses von „Topik und Jurisprudenz" (als Technik der Problemerörterung 12) an die formale Topik, also an die Analyse der topischen Struktur juristischen Redens, anzuknüpfen sei und es den Gesichtspunkt der Situationsbezogenheit der Argumentation zu betonen gelte: daher sollte versucht werden, „alle Argumentation aus der Redesituation verständlich zu machen" 13 Dieser Ansatz von Viehweg wie auch weiterführende Ansätze14 der juristischen Topik teilen als gemeinsamen Ausgangspunkt der juristischen Argumentationstheo9

Vgl. dazu Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart 1996, S.86ff. Josef Klein, Rhetorik und Argumentation, 1999, S.7 bezeichnet sie als „bereichsabhängige" oder „bereichsunabhängige" Topoi. 11 Josef Klein, Komplexe topische Muster: Vom Einzeltopos zur diskurstyp-spezifischen Topos-Konfiguration, in: Thomas Schirren/Gerd Ueding (Hrsg.): Rhetorik und Topik. Tübingen 2000. 12 Gerhard Otto, Zwanzig Jahre Topik-Diskussion: Ertrag und Aufgaben, in: Rechtstheorie, 1. Bd. 1970, S. 183-197 untersucht als „topikverdächtige" Aspekte der Jurisprudenz die Benutzung anerkannter Sätze als Prämissen (Aristoteles), die Suche nach Prämissen (Cicero) und die Problemerörterung (Viehweg) und kommt zu dem Schluss, dass „unsere Jurisprudenz nicht dem [entspricht], was historisch Topik war" (ebenda S. 197). 13 Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, München51974. S. 27 und S. 111. 14 Vgl. die Ansätze von Ottmar Ballweg, Waldemar Schreckenberger, Thomas Seibert, Hubert Rodingen, Fritjof Haft in Ulf rid Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt 1985, 54ff. 10

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rie die Überzeugung vom Vorrang der Pragmatik gegenüber Syntax und Semantik, „die Hervorhebung der Situationsgebundenheit der Argumentation und die Kritik der Ontologisierungen, zu denen ein naives Sprachverständnis tendiert." 15 Diese Kritik an der-zum Teil auch in der hier untersuchten BVferGE vorkommenden - „essentialistischen" Begrifflichkeit und dem „realistischen Begriffsverständnis" der Rechtsdogmatik (Ballweg) sowie an der - in der richterlichen Tätigkeitsbeschreibung unterstellten - Bedeutungsinvarianz sprachlicher Äußerungen wird bei der Untersuchung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung noch von Bedeutung sein. Juristische Argumentation ist durch einen (fachdomänen-) spezifischen oder bereichsabhängigen Bestand an Argumentationsformen gekennzeichnet, die Seifert 16 m. E. zu weit gefasst und die Aristotelische Unterscheidung nicht berücksichtigend folgendermaßen klassifiziert: 17 Argumentation zur Auslegung von Gesetzen, spezielle juristische Argumentationsformen (argumentum a simili, argumentum e contrario, argumentum a fortiori, argumentum ad absurdum) und Argumentation mit juristischer Dogmatik und Argumentation mit Präjudizien. Die von Seifert als „spezielle juristische Argumentationsformen" (argumentum a simili etc.) bezeichneten Argumentetypen gehören mit Sicherheit zu den bereichsunabhängigen oder allgemeinen Topoi. Ansonsten bietet diese Aufteilung nur eine - sicherlich nicht zufriedenstellende - Grobstrukturierung, deren erkenntnisstiftende Kraft hinter die in einem Münchner DFG-Projekt schon Ende der 1970er Jahre herausgearbeiteten Argumentetypen zurückfällt. Dort wurden innerhalb der spezifischen juristischen Topoi laut Schroth 18 folgende Argumentetypen bei der richterlichen Entscheidungsfindung und -rekonstruktion unterschieden: - Wortlautargumente, - Genetische Argumente, - Historische Argumente, - Interessenargumente, - Prinzipienargumente, - Teleologische Argumente, - Argumente der Verfassungswidrigkeit einer Regel, - Rechtssicherheitsargumente, 15

Ulf rid Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt 1985, S.55. Ralph Walter Maria Seifert, Argumentation und Präjudiz. Zur argumentativen Verarbeitung von Vorentscheidungen durch die Justiz, Baden-Baden 1996, S.57. 17 In Anlehnung an Ulrich Klug, Juristische Logik, Berlin 1966, S. 109ff. 18 Ulrich Schroth, Eine Methode der formalen Rekonstruktion von Gerichtsurteilen, in: Winfried Hassemerl Arthur Kaufmann! Ulf rid Neumann (Hrsg.): Argumentation und Recht, ARSPBeiheft n. F. Nr. 14 (1980), S. 119-126. 16

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- Gerechtigkeitsargumente, - Folgeargumente, - Argumente der Gesetzessystematik, - Praktikabilitätsargumente, - Paralogische Argumente. Die von Gerhard Struck-ohne Anspruch auf Vollständigkeit-1971 in dem Werk Topische Jurisprudenz vorgeschlagene Übersicht an 64 Topoi hat nur „eine Familienähnlichkeit mit den Topoi-Annahmen und Maximen der traditionellen Rhetorik und Dialektik, sie umschreiben Verfahrens- und Argumentationsprinzipien moderner Rechtspraxis in Deutschland"19. In diesem Zusammenhang wurde der Sinn solcher Topoikataloge in Frage gestellt. So bezweifelt beispielsweise Alexy den heuristischen Wert solcher Zusammenstellungen.20 Diese Diskussion soll hier nicht weitergeführt, sondern unter einer spezifischen Fragestellung betrachtet werden: Welche Typen von Argumenten weisen eine Ähnlichkeit auf mit den hier untersuchten „sprachlichen Argumenten"? In der erwähnten Palette an Argumentetypen steht nur einer in besonders enger Verwandtschaft mit dem hier fokussierten sprachlichen Argument als spezifischem Sprachgebrauchstopos, nämlich das Wortlautargument. Dem Verständnis der Wortlautargumente liegt die oben beschriebene naive Bedeutungsvorstellung zugrunde, von der ich mich selbstredend abgrenze. Ich vertrete hier vielmehr einen Ansatz der praktischen Semantik, der auf Ludwig Wittgensteins gebrauchstheoretische Bedeutungskonzeption zurückgeht. Sprache muss dabei im Rahmen bestimmter Sprachspiele gesehen werden als Teil einer Tätigkeit in einer Bezugswelt. Wörter an sich gelten als bedeutungslos, sie erhalten erst aus ihrer Verwendungsweise in spezifischen Handlungsbereichen bestimmte Funktionen (Bedeutung). Die von den Bundesverfassungsrichtern gerade im ersten Teil der Entscheidung implizierte Sprachauffassung „Wörter haben Bedeutung" ist also zu ersetzen durch die Maxime „mit Worten macht der Sprecher Bedeutung", welche die Richter mitunter im dritten Teil ihrer Begründung zugrundelegen. b) Neben den spezifischen Argumentationstopoi gilt es, den Blick auf die allgemeinen Topoi zu richten. Obwohl schon Aristoteles in seiner Rhetorik-Schrift betont hat, dass die Schlüsse bzw. Inferenzen, die dem Argumentieren in Alltag, Politik und vor Gericht zugrunde liegen, in wichtigen Hinsichten vom formal-logischen Schließen abweichen (Rhetorik 1356b- 1357b), ist diese Tatsache erst in den 1958 erschienenen Grundlagen-Werken der Neuen Rhetorik (Perelman/OlbrechtsTytecas) und der modernen Argumentationstheorie (Toulmin) wieder ins Bewusst19 Ekkehard Eggs , Argumentation, in: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 1, Tübingen 1992, S.914-991, hier S.977. 20 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt 1983, S.40.

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sein gehoben worden. Die wichtigsten Tatsachen in diesem Zusammenhang sieht Klein darin, dass erstens alltagssprachliche Begründungen und Rechtfertigungen nicht alle ihre Prämissen explizit machen und dass zweitens eine von den Kommunikationsbeteiligten als geltend akzeptierte regelhafte Beziehung zwischen Argument und Behauptung bestehen muss.21 Wir haben es bei den allgemeinen Topoi in Aristoteles „Rhetorik" mit einer groben Systematisierung zu tun, die auch Chaim Perelman und L. OlbrechtsTytecas22 mit ihrer Einteilung der Argumentetypen in drei Klassen nicht wesentlich voranbrachten, als sie unterschieden zwischen - quasi-logischen Argumenten (die an eine formale Struktur naturwissenschaftlicher oder logischer Natur erinnern) und - Argumenten, die auf einer Wirklichkeitsstruktur gründen (Argumente der Aufeinanderfolge, des Nacheinander und der Koexistenz, der Gleichzeitigkeit), sowie - Argumenten, die eine Wirklichkeitsstruktur begründen (also mittels einem Beispiel zur Ausbildung eines Gesetzes, einer Verallgemeinerung oder wenigstens zu der Wahrscheinlichkeit führen). Zwischenzeitlich hat sich m. E. Kienpointners alltagslogische Klassifikation der topischen Argumentationsschemata mithilfe einer dreistufigen Typologie durchgesetzt; er unterscheidet zwischen - Schlussregel-benützende Argumentationsschemata (Einordnungs-, Vergleichs-, Gegensatz- und Kausalschemata), - Schlussregel-etablierenden Argumentationsschemata (induktive Beispielargumentation) und - Argumentationsschemata, die weder die erstgenannte Schlussregel einfach benützen noch die zweitgenannte induktiv etablieren (illustrative Beispielargumentation, Analogie- und Autoritätsargumentation). 23 Klein sieht noch dahingehend einen Erweiterungsbedarf, dass bei diesen bereichsunabhängigen Argumentationsschemata (Topoi) im Rahmen argumentativer Stützung von strittigen Behauptungen zwischen Datentopos (Situationsbeschreibungen), Prinzipientopos (Werte/Normen/Prinzipien), Motivationstopos (Situationsbewertungen) und Finaltopos (Ziele/Zwecke) zu unterscheiden sei.24 Wengeler typologisiert in seinem Aufsatz „Sprachthematisierungen in argumentativer Funk21

Josef Klein, Rhetorik und Argumentation, 1999, S.5. Chaim Perelman/L. OlbrechtsTytecas, Traité de Γ Argumentation. La Nouvelle Rhétorique, Paris 1958. 23 Manfred Kienpointner, Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustem, Stuttgart 1992, S.246. 24 Josef Klein, Rhetorik und Argumentation, 1999, S.9. 22

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tion" im Rahmen seiner Untersuchung zum Einwanderungsdiskurs sechs verschiedene allgemeine Topoi mit sprachlichen Aspekten:25 - Berufung auf Wortverwendungs-Konventionen, - Berufung auf die referentielle Funktion von Ausdrücken, - Berufung auf den Bewusstsein und Handlungen mit-bestimmenden Charakter von Sprache, - Berufung auf den strategischen/kämpferischen Aspekt von Sprache, - Berufung auf die emotive Funktion sprachlicher Zeichen, - Berufung auf die sozial- und mentalitätsgeschichtliche Funktion von Sprache. Diese allgemeinen Topoi werden im Folgenden durch das von mir als Sprachgebrauchstopos bezeichnete Argumentationsschema ergänzt (zum Unterschied zu Wengelers Topoi siehe weiter unten). Der Sprachgebrauchstopos wird dahingegen in der domänenspezifischen - also hier der juristischen - Diskurs welt grundlegend anders gebraucht als in bereichsunabhängigen oder allgemeinen Argumentationsschemata, wie im Anschluss gezeigt werden soll. 3. Der fachdomänenspezifische und der allgemeine Sprachgebrauchstopos

Wie oben erwähnt, verstehe ich unter sprachlichen Argumenten in Abgrenzung zu sonstigen Argumentetypen eine Klasse von Gründen, die Aspekte des Sprachgebrauchs, des fachlichen im Unterschied zum alltags weltlichen Sprachsystems und des (Fach) Sprachenwandels zur Stützung einer Behauptung anführen. Die hinter den Argumentationen zu vermutenden Sprachauffassungen können in Abhängigkeit vom jeweiligen Argumentationskontext stark divergieren. Dabei gilt es, im Aristotelischen Sinne zwischen spezifischem und allgemeinem Sprachgebrauchstopos zu unterscheiden, die beide im untersuchten Textkorpus vorkommen. Unter fachdomänenspezifischen Sprachgebrauchstopoi verstehe ich Bedeutungsexplikationsversuche juristischer Fachwörter oder Syntagmen durch Angabe von Teilbedeutungen im Rahmen einer ganzheitlichen Bedeutungsauffassung (bezogen auf Wortinhalte und auf ihr In-Beziehung-Setzen zum juristisch konstituierten Sachverhalt) unter Herstellung intertextueller Bezüge durch den Einbezug und die Darlegung bisheriger Interpretations- und Präzisierungsversuche in Gerichtsentscheidungen und der juristischen Fachliteratur (Sprachgebrauchsnormierung durch Setzung und Konventionalisierung in juristischen Sprachspielen). Im Bereich der allgemeinen Topoi verstehe ich unter Sprachgebrauchstopoi Argumentationsschemata, die zum Begründen strittiger Behauptungen auf einem lai25

Martin Wengeler (1996): Sprachthematisierungen in argumentativer Funktion. Eine Typologie, in: Karin BökelMatthias Jung/Martin Wengeler (Hrsg.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven, Opladen, S. 413-430, hier S.418.

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enhaften Sprachverständnis basierende Sprachargumente in objektivistischem Duktus vorbringen (ζ. B. „wie schon das Wort sagt", „nach allgemeinen Sprach Verständnis", „darunter versteht man im Allgemeinen" „mit dem Wort χ ist gemeint" und ähnlichen alltagssprachlichen Begründungsfloskeln). Der domänenspezifische - also hier der juristische - Sprachgebrauchstopos unterscheidet sich demnach grund-

legend von den bereichsunabhängigen oder allgemeinen Argumentationsschemata: im Rahmen der spezifischen Sprachgebrauchstopoi sind Wortbedeutungsaspekte als diskutabler Gegenstand zu explizieren und durch juristisch anerkannte Verweise („Autoritätstopos") zu belegen, während bei der Verwendung des allgemeinen Sprachgebrauchstopos - auch in der untersuchten BVferGE - Bedeutung als einheitlich bestimmbar und gegeben impliziert wird. Aufgrund dessen ist die oben erwähnte Typologisierung von Wengeler am Beispiel des Einwanderungsdiskurses - trotz geringfügiger Ähnlichkeiten in den Bezeichnungen bei Wortverwendungs-Konventionen und der referentiellen Funktion von Ausdrücken - nicht zu vergleichen mit den domänenspezifischen juristischen Topoi, sondern mit den oben dargelegten allgemeinen Sprachgebrauchstopoi (Argumentationsschemata). Typologien einzelner Diskurswelten sind nicht ohne Weiteres auf andere (hier Jurisprudenz im Vergleich zur politischen öffentlichen Kommunikation) übertragbar. Den Grund dafür hat Wimmer 26 überzeugend erläutert: die Konventionalisierungsregeln oder Referenzfixierungsakte (Namengebungsakte) sind im öffentlichen Diskurs als einem gemeinsprachlichen Beispiel weder zu vergleichen mit den Bedingungen fachdomänenspezifischer Sprachgebrauchsregeln im Allgemeinen noch mit den Bedingungen für die juristisch-fachsprachliche Terminologisierung der institutionellen Sprach-Normierungsinstanzen im Speziellen, die „im Namen des Volkes" Sprachgebrauchsnormen setzen. Damit unterscheidet sich der Terminus sprachliches Argument grundsätzlich von der - vereinzelt in der juristischen Literatur - vorzufindenden Bezeichnung „semantisches Argument". Ich beziehe lexikalische, syntaktische, semantische, pragmatische, textlinguistische und verstehenstheoretische Aspekte mit ein, während in der Rechtsliteratur bei der Verwendung der Bezeichnungen semantisches Argument27, sprachliche Festsetzungen, semantische Interpretationen (des Gesetzgebers, des Juristen oder eines anderen Sprachkreises) 28 oder Wortlautargumente (Aussagen über die Regeln der Umgangs- bzw. juristischen Fachsprache29) meist auf die kontextabstrahierte und als invariant unterstellte Wortbedeutung - als „Wortlaut" oder 26 Rainer Wimmer, Zur juristischen Fachsprache aus linguistischer Sicht, in: Sprache und Literatur 29. Jg. Heft 1/1998: Sprache und Recht, S.8-23. 27 Hubert Rottleutner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt 1973, S. 190ff. 28 Hubert Rottleutner, Plädoyer für eine empirische Argumentationstheorie, in: Winfried Hassemerl Arthur Kaufmann! Ulf rid Neumann (Hrsg.): Argumentation und Recht, ARSP-Beiheft n. F. Nr. 14 (1980), S. 87-118, hier S. 103 und 107. 29 Ulrich Schroth, Eine Methode der formalen Rekonstruktion von Gerichtsurteilen, in: Winfried HassemerlArthur Kaufmann!Ulfrid Neumann (Hrsg.): Argumentation und Recht, ARSPBeiheft n. F. Nr. 14 (1980), S. 119-126, hier S. 122.

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„Wortsinn" bezeichnet - abgestellt wird, und das im Sinne einer essentialistischen Bedeutungstheorie. V. Sprachliche Argumente auf der Grundlage pragmatischer Beschreibungskriterien 1. Im „Wortlaut" liegende Argumente der richterlichen Begründung

Die Entscheidungsbegründung der Bundesverfassungsrichter liest sich in großen Teilen wie eine meta-sprachliche und rechtstheoretische Reflexion. Im Folgenden zitiere ich - die Textsequenzabfolge der BVferGE beibehaltend - sukzessive Auszüge aus der Entscheidungsbegründung und interpretiere die angeführten sprachlichen Argumente im Anschluss unter linguistischen Gesichtspunkten. Die Begründung gliedert sich in drei Teile: - Zunächst fasst das BVerfG die grundsätzliche Bedeutung des Bestimmtheitsgebotes von Art. 103 Abs. 2 GG zusammen [BVferGE92,11 ff.], so wie das Gericht es in mehreren Verfahren dargelegt hat (zuletzt BVferGE 71, 108 [114 ff.] und BVferGE 73, 206 [234ff.]). - Anschließend erklärt es „§ 240 StGB hinsichtlich der - hier allein einschlägigen - Gewaltalternative mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar" [BVferGE 92, 13 f.]. In diesem kurzen Abschnitt werden keine sprachlichen Argumente verwendet, daher habe ich keine Zitate entnommen. - Im dritten Teil der Begründung stellt das Gericht fest, dass „die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB durch die Strafgerichte gegen Art. 103 Abs. 2 GG" verstößt [BVferGE92, S. 14ff.]. a) Die implizierte Sprachauffassung Im ersten Teil der BVferGE wird die grundsätzliche Bedeutung des Bestimmtheitsgebotes nach Art. 103 Abs. 2 GG dargelegt. Die Ausführungen, die wesentlich der Rechtsregel nullum crimen, nulla poena sine lege entsprechen, implizieren eine reduzierte Sprachauffassung, wie im Folgenden belegt wird: „Danach enthält diese Regelung [gemeint ist der Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG/Anm. E. F.] nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, daß die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, daß die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Ge-

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wait gefällt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt." [BVferGE 92, 11 f]

In dieser Passage werden ein fachdomänenspezifischer („aus dem Wortlaut ergeben [sich] [...] durch Auslegung") und ein allgemeiner Sprachgebrauchstopos („Normadressaten können [verbotenes Verhalten aufgrund des Wortlautes] voraussehen") verwendet. Damit unterstellen die Richter idealiter ein präzise bestimmbares Verhältnis zwischen Gesetzestext und Rezeption desselben durch den Normadressaten. Das BVerfG trägt dadurch zum Fortbestand der - in der Jurisprudenz verbreiteten aber unter sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht haltbaren - Fiktion bei, „Voraussetzungen der Strafbarkeit" ließen sich „so konkret umschreiben", dass „Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände" sich entweder „aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen". Bei solch einer Formulierung stellt sich zunächst einmal die Frage nach der Sprachauffassung. Ganz offenbar haben wir es hier mit einer instrumentalistisch reduzierten - wenn nicht sogar - mechanistischen Sprachauffassung zu tun, die die Bundesverfassungsrichter offensichtlich so wie die meisten Staatsbürger verinnerlicht haben. Hierbei wird Sprache als ein Werkzeug betrachtet, mit dem der „Sprach-Mechaniker" effizient umgehen sollte. Mit diesem statischen Sprachverständnis wird der Eindruck erweckt, als wäre das Zuordnungsverhältnis von Ausdruck und dem dazugehörigen Wortinhalt unter Berücksichtigung eines gewissen Spielraums eindeutig ebenso wie das Verhältnis zwischen den Worten und der Sache, auf welche mit Hilfe der Worte verwiesen wird. Damit werden linguistische Erkenntnisse der hermeneutischen und pragmatischen Problematik von Verstehen, Verständigung und Textwirkung ignoriert. Die Implikationen der „Wortcontainer-Metapher" - also die verkürzte und falsche Vorstellung, derzufolge der Textproduzent Bedeutung in einen Ausdruck „einpacke", den der Textrezipient anschließend im Verhältnis 1:1 „auspacke" - suggerieren dem Normadressaten bezüglich Sprache eine vermeintliche Neutralität bis hin zu Objektivität im Sinne eines klar realisierten Willens der Legislative, indem sie aus Perspektive des Gesetzgebers als Textproduzent eine rezipientenabstrahierte einheitliche Verstehens- und Wirkungsautomatik des Gesetzestextes unterstellen. Damit wird dem unscharfen Medium Sprache etwas zugeschrieben, was es nicht zu leisten in der Lage ist. Zugleich soll der Begründungskraft eines Gesetzestextverweises (sprachliches Argument) eine rechtstaatliche Legitimation zugeschrieben werden, der das Medium nicht gerecht zu werden vermag. Stattdessen gilt es bei der rezeptiven Verarbeitung von (juristischen) Texten das Vagheitspotential von Sprache und die Unvorhersehbarkeit von (Gesetzes- oder Richter-) Textwirkungen zu betonen30. In Erweiterung der traditionellen Hermeneutik bringen Kategorien der linguistischen Pragmatik wie Adressatenproblematik, Polyfunktionalität, Situa30 Vgl. Werner Wolski, Schlechtbestimmtheit und Vagheit - Tendenzen und Perspektiven. Tübingen 1980; Manfred Pinkal, Logik und Lexikon. Die Semantik des Unbestimmten. Berlin 1985.

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tionsdeutung, Bedeutungsexplikation und Intertextualität vor dem Hintergrund unterschiedlicher Diskurserfahrungen und -prägungen erheblich mehr Klarheit über einen nur schwer nachvollziehbaren Vorgang. Insofern sind sprachliche Kriterien mit Hilfe von pragmatischen Beschreibungskriterien folgendermaßen zu konkretisieren: „Pragmatisch-semantische Textanalyse wäre zu abstrakt und alltagsfern ohne sozialpragmatische Begriffe wie Kontakt, Selbsteinschätzung, Partnereinschätzung, Image, Vermeidungsritual, Routineformel, Sanktionen, Solidarisierung, Gruppensymptom, Status, Rolle, Stereotyp, Leerformel, Vagheit usw."31 Die Konsequenzen dieser pragmatischen Erkenntnisse für ein hermeneutisches (verstehenstheoretisch reflektiertes) Konzept von Sprache bestehen darin, dass es insbesondere unterschiedliche Situationsdefinitionen, divergierende Funktionsselektionen, verschiedene intertextuell-diskursive Vorgeschichten sind, die Deutungs- und Bedeutungsdifferenzen zwischen Textproduzent und Rezipient begründen. Diese linguistischen Erkenntnisse verbieten es schlechthin von den Normadressaten und dem Wortlaut zu sprechen, wie dies die Bundesverfassungsrichter in dem hier untersuchten Beschluss tun.32 Formulierungen der BVerfGEntscheidung wie ζ. B. „aus dem Wortlaut ergibt sich" sind Indiz für eine naive, abbildtheoretische Bedeutungsvorstellung.33 Es sei jedoch schon hier angemerkt, dass im dritten Teil der BVferGE eine andere Sprachauffassung impliziert wird. Diese einseitige und in der Bevölkerung weit verbreitete instrumenteile Sprachauffassung scheint mir unter Rechtsstaatsgesichtspunkten aus zwei Gründen problematisch zu sein: (1) Die meisten Staatsbürger hängen in der Bewertung des Sprachgebrauchs einem Objektivismus nach und berücksichtigen daher nicht den Rezipienten in seiner Subjektivität mit je unterschiedlichen Vor-Einstellungen, wie es Grundlage einer funktionalen und medialen Sprachperspektive ist. In der Folge vernachlässigen sie den Aspekt, dass es kein klar bestimmbares Ursache-Wirkungs-Verhältnis (Kausalbeziehung) zwischen sprachlichem Mittel und Rezipientenwirkung geben kann. Eine derart einseitige instrumentelle wenn nicht sogar mechanistische Auffassung kann zur rechtsstaatlichen Verunsicherung beitragen, indem die im Rechtsstaat Berechtigten per institutioneller Setzung ein - teilweise von den Normadressaten als willkürlich erlebtes - Sprach-Begründungsgerüst derart für sich instrumentalisieren, dass die „Unterlegenen" sich der Sprache gegenüber ausgeliefert erleben. Der Staatsbürger erlebt eine eigentümliche Di31 Peter v. Polenz, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens, Berlin 21988,S. 73. 32 Vgl. dazu Busses Beitrag in diesem Band. Er hat 120 Urteilstexte der obersten Bundesgerichte daraufhin untersucht, wie „in den Urteilen über Sprache geredet" wird. 33 In der Rechtstheorie gibt es jedoch seit den 1970er Jahren die von Friedrich Müller begründete Strukturierende Rechtslehre (Berlin 21994), die im Gegensatz dazu einen Ansatz der praktischen Semantik vertritt, der auf Ludwig Wittgensteins gebrauchstheoretische Bedeutungskonzeption zurückgeht.

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chotomie-um nicht zu sagen Schizophrenie: Sprache, genauer Sprachgebrauch, wird als Instrument einer bestimmten richterlichen Entscheidungsbegründung in objektivistischem Duktus verwendet, während gleichzeitig andere Richter dasselbe Medium mit gleicher Haltung benützen, um zum genau gegenteiligen Resultat zu gelangen, und fatalerweise wiederum mit sprachobjektivistischem Impetus. Die meisten Staatsbürger neigen ohnehin dazu, Sprache monolithisch zu hypostasieren und erkennen nicht die oben dargelegten medialen Unschärfen als substantiellen Bestandteil von Sprache. Dadurch wird suggeriert, der rhetorisch Kompetente sowie juristisch und politisch Mächtige verfüge mit strategisch cleveren Sprachmitteln willkürlich über Herrschafts- und Manipulationswissen, dem sich der Einzelne nur schwer erwehren kann. Eine Art Ohnmacht vermag dies mitunter bei weniger selbstbewussten Menschen auszulösen. Würden die Richter die mediale Unschärfe thematisieren, so führte dies nicht wie mitunter befürchtet zur Auflösung der rechtsstaatlichen Verankerung gerichtlicher Entscheidungsmacht und -akzeptanz, sondern genau im Gegenteil zu mehr rechtsstaatlicher Identifikation, weil die Vagheit zugegeben und somit für den Einzelnen im Rahmen seiner strategischen Handlungsabsichten kalkulierbarer und damit nicht-wie beim Ignorieren der Vagheit-als willkürlich empfunden würde. (2) Der Unterschied zwischen den mit Sprache vermittelten Inhalten einerseits und bewusstseinsindizierender, handlungsstrategischer Vermittlungsform andererseits wird mit dieser Sprachauffassung nicht erfasst. Es bleibt bei dieser Sprachauffassung unberücksichtigt, dass selbst bei scheinbar objektivierenden Sprechhandlungen wie benennen oder feststellen von (juristischen) Sachverhalten eine perspektivisch bedingte Selektion und Deutung vorgenommen wird, welche die Rezipienten nicht teilen müssen. Folge einer solchen Auffassung sind z. B. Erwartungen an Richter, Parlamentarier oder gegenüber Repräsentanten staatlicher Institutionen, sie müssten eine „korrekte" Sprache verwenden in völliger Verkennung der diesen Sprachspielen zugrundeliegenden Regeln. Zugespitzt formuliert könnte man feststellen: Wenn Staatsbürger solch eine illusionäre Sprachauffassung verinnerlicht haben, dann sind wir weit weg vom mündigen-den rechtspolitischen Diskursregeln gewachsenen - Staatsbürgern. Vielmehr wird dadurch Rechtsstaats- oder allgemein Politikverdrossenheit gefördert, weil die Bürgererwartungen gegenüber institutioneller Sprache fernab von dem angesiedelt sind, was das unscharfe Medium Sprache zu leisten in der Lage ist. b) Die Adressatenproblematik Neben dem verkürzten Sprachbegriff besteht aus linguistischer Sicht ein weiteres Problem in der Verwendung des Konstruktes „Normadressat". Da in der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung mehrfach von dem (sie!) Normadressaten die Rede ist, soll im Folgenden d e r - i n der linguistischen Forschung herausgearbeite7*

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te - Adressatenbegriff ausgeführt und für den Rechtskontext näher bestimmt werden. Den sprachwissenschaftlichen Ansätzen liegt einheitlich ein enger, am alltagssprachlichen Gebrauch orientierter Adressatenbegriff zugrunde. „Als Adressat einer Äußerung gilt derjenige, der aus der Sprecher-/Schreiber-Perspektive als absichtlich gemeint beschrieben werden kann."34 Kühn spricht deshalb vom „gemeinten, intendierten oder anvisierten Adressaten" 35. Ein solcher Adressatenbegriff ist in unserem Zusammenhang wenig hilfreich, weil der Gesetzgeber ebenso wie das Bundesverfassungsgericht den Normadressaten nicht näher beschreiben und stattdessen in der juristischen Ausbildung eine prototypische Vorstellung vom Normadressaten als dem Laien (= juristisch Unkundigen) modelliert wird. Der derart eng gefasste Adressatenbegriff sollte daher aus Gründen der nützlicheren Handhabbarkeit sinnvollerweise erweitert werden auf den „aktiven Rezipienten". Bei beiden Positionen handelt es sich um Extremstandpunkte: Mit dem reduktionistischen Adressatenbegriff sind aus der Sprecher-/Schreiber-Perspektive die unabsichtlichen und ungewollten Adressierungen nicht zu erfassen und zu beschreiben. Beim expansiven Adressatenbegriff kann nicht klar unterschieden werden zwischen denjenigen Adressaten und Adressierungen, für die ein Sprecher oder Schreiber verantwortlich gemacht werden kann bzw. für die er nicht verantwortlich ist. Aus linguistischer Sicht der Adressatenbestimmung scheint mir im juristischen Kontext ein sinnvoll erweiterter bzw. reduzierter Adressatenbegriff der folgenden Art sinnvoll: Normadressat ist derjenige Betroffene gesetzlicher Regelungen, der in spezifischen Lebenskontexten von in Gesetzestexten formulierten Sachverhalten in seiner Handlungs- und Verhaltensweise in irgendeiner Form betroffen ist. Damit wird der „Schwarze Peter" an den agierenden Staatsbürger weitergegeben, ein solcher Adressatenbegriff betont nicht die Sprecher-/Schreiber-Absicht (-Wille), sondern ist auf die von Gesetzestexten Betroffenen ausgerichtet. Eine Einengung dieses immer noch großen und daher inhomogenen Adressatenkreises kann dadurch vorgenommen werden, dass alle Rechtsbestimmungen nie für alle Staatsbürger als potentielle Normadressaten relevant sind (wer keine Partei oder Vereinigung unterstützt, der kann nicht gegen StGB § 85 „Vereinigungsverbot" verstoßen) und dass umgekehrt spezifische Normen nur für bestimmte Staatsbürger in Abhängigkeit von Situationskontexten (zu Hause auf dem Sofa ist für mich § 315c StGB „Gefährdung des Straßenvekehrs" bedeutungslos) relevant sind. Damit ist nicht die subjektive, nur bedingt antizipierbare Gesetzgeberabsicht das konstitutive Kriterium bei der Adressatenbestimmung, sondern die plausibel beschreibbare Betroffenheit der Normadressaten. Ob ein Staatsbürger beim Agieren in gesellschaftlichen Kontexten als Betroffener einer Norm anzusehen ist, muss er - so zeigt es die Praxis - eventuell mithilfe von juristischen Experten eruieren. In diesem Sinne hat schon Biere die Rednermaxime „Sorge dafür, dass Dein Gegenüber versteht, was du sagst" umge34 Peter Kühn, Mehrfachadressierung. Untersuchungen zur adressatenspezifischen Polyvalenz sprachlichen Handelns. Tübingen 1995, S.47. 35 Ebenda.

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wandelt in „Sorge dafür, daß du verstehst, was Dein Partner sagt" . Rechtstheoretisch lässt sich präzisieren: Sorge als Normadressat dafür, dass du die für dich relevanten Gesetze so weit wie möglich (evtl. mit fremder Hilfe) verstehst. Bei solch einem Adressatenverständnis haben wir es mit einem inhomogenen Adressatenkreis zu tun, auf den man sich theoretisch unterschiedlich einstellen kann37 Man orientiert sich (1)am anspruchsvollsten Teil der Adressaten und knüpft an dessen Erwartungen, Wissen und sprachliche Fähigkeiten an; (2) an den Voraussetzungen des größten Teils der Adressaten; (3) an den Adressaten mit den - relativ gesehen - geringsten intellektuellen Fähigkeiten. Unter Berücksichtigung des sog. Verständlichkeitsdilemmas („Wer allen etwas sagen will, kann nur wenig Spezifisches sagen. Wer Spezifisches sagt, schließt viele aus") kommt in juristischen Kontexten wohl nur die Variante der spezifischen Ausdrucksweise in Betracht, in deren Folge soziale Benachteiligungen nur durch effektiv organisierte und finanziell bewältigbare Expertenunterstützung (z.B. Rechtsberatungsstellen, Rechtsanwälte) abgefedert werden können. Legt man dem Adressatenbegriff ein kommunikativ-sprachliches Verständigungsmodell zugrunde, das die Sinn-Intentionen der Gesetzgebungsautoren nicht als reale Entitäten begreift, die objektiv feststellbar sind, sondern ihre Funktion in den Sinn-Unterstellungen seitens der Sprach-Rezipienten sieht, so ist die Fiktion des Normadressaten im Sinne des konkreten Anderen als konkreter Rezipient aufzugeben zugunsten einer anderen sinnverbürgenden Instanz, nämlich der „sozialpsychologischen Instanz des generalisierten »Anderen' (G. H. Mead)", die erst Intersubjektivität und damit kommunikative Verständigung ermöglicht. [Busse 1993: 259]. Die Verstehensforschung hat gezeigt, wie schwierig es ist, einen abstrahierten, relativ homogenen Rezipienten - hier als Normadressaten - zu modellieren 38. Ein juristischer Adressatenbegriff in dieser Allgemeinheit wirft allerdings die Frage auf, ob der Normbetroffene überhaupt dem Bestimmtheitsgebot zufolge zur Erfassung von Tatbeständen für fähig erachtet werden kann oder ob diese Fiktion nicht zugunsten einer Normtextbetroffenheitsahnung seitens des Staatsbürgers aufgegeben werden sollte - wie dies das BVerfG (allerdings mit anderen Worten) nur in „Grenzfällen" [BVerfG 92, 12] erwägt. In diesem Gedankengang ist das juristische Konstrukt der „Parallelwertung in der Laiensphäre" von Interesse, derzufolge der Täter normative Tatbestandsmerkmale 36 Bernd Ulrich Biere, Verständlich-Machen. Hermeneutische Tradition - Historische Praxis - Sprachtheoretische Begründung. Tübingen 1989, S.201. 37 Ludger Hoffmann , Mehrfachadressierung und Verständlichkeit, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi), Heft 55, 1984, S. 71-85, hier S.75ff. 38 Bernd Ulrich Biere, Verständlich-Machen. Hermeneutische Tradition - Historische Praxis - Sprachtheoretische Begründung. Tübingen 1989, S. 245 ff.

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(ζ. Β. Urkunde, Fremdheit der Sache) auch ihrem rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt nach richtig einzustufen in der Lage sein muss. Es wird dabei nicht von einer juristisch korrekten Subsumtion ausgegangen, sondern es reicht zur Bejahung des Vorsatzes, dass der Täter den Bedeutungsgehalt nach Laienart richtig erfasst hat [BGHSt 8, 321 [323] = NJW 1956, 389]. Fehlt diese laienhafte Kenntnis, liegt ein Tatbestandsirrtum vor. Hält der Täter trotz laienmäßiger Bedeutungskenntnis des Tatbestandsmerkmals sein Verhalten für nicht verboten, scheidet dagegen ein Tatbestandsirrtum aus. Eine zufriedenstellende Definition eines „Normadressaten" ist derzeit nicht zu modellieren, sie sollte aber realistischerweise von einem heterogenen Adressatenkreis und im Regelfall von einer Normtextbetroffenheitsahnung auf Seiten des einzelnen Staatsbürgers ausgehen.

c) Der Aspekt der Polyfunktionalität In der Entscheidungsbegründung führen die BVerfG-Richter die Unterscheidung von Gesetzesrecht und Richterrecht an: „Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen." [BVferGE 92, 12] Bevor dieser Satz in seinem Kontext näher analysiert wird, ist hervorzuheben, dass nach herrschender Meinung die „Unterscheidung von Gesetzesrecht und Richterrecht" Gemeingut ist, „wonach es eine Klasse von Entscheidungen gibt, die vollständig aus dem Gesetz,,abgeleitet', ,nachvollzogen' oder entnommen' werden, und eine weitere Klasse von Entscheidungen, die jenseits liegen und als Richterrecht anzusehen sind."39 Diese Unterscheidung wirft einige Probleme auf, wie am Beispiel des folgenden Entscheidungsausschnittes gezeigt werden soll. „Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG [gemeint ist der Bestimmtheitsgrundsatz mit dem Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften/Anm. E. F.] einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt."

„Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Strafrecht steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, daß in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muß der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar." [BVferGE 92, 12] 39 Ralph J. Christensen: Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Nr. 73, 1987, S. 75-92, hier S.77.

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In diesem Abschnitt treffen wir zwei sprachliche Argumente an, die zum einen sich dem fachdomänenspezifischen und zum anderen dem allgemeinen Sprachgebrauchstopos zurechnen lassen: zum ersten Schema gehört der Hinweis auf die „Verwendung von Begriffen [...], die in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen". Zum anderen Typus ist „der Normadressat" zu zählen, der „im Regelfall [...] anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen [kann], ob ein Verhalten strafbar ist". In unmittelbarem Zusammenhang zu diesen Topoi befindet sich die Problematik der Rechtsanwendungslehre und der Rechtserzeugungslehre. Gemäß der Rechtsanwendungslehre im Rahmen eines positivistischen Normverständnisses subsumiert der Jurist einen - als Entität gefassten - Wirklichkeitsausschnitt, den sog. Sachverhalt, unter den Tatbestand einer als vorgegeben verstandenen, abstrakten Rechtsnorm. Die apriorische vorgefertigte „Rechtsnorm erscheint dabei als bloßer Text und die Arbeit des Juristen lediglich als begriffliche Einordnung" 40. Für diesen gedanklichen Unterordnungs- bzw. Vergleichsvorgang ist die Auslegung von Tatbestand und Sachverhalt sowie des öfteren auch die Ausdehnung (Analogie) oder Einschränkung (Reduktion) des Tatbestandes und damit des Anwendungsbereiches eines Rechtssatzes erforderlich. Die Rechtserzeugungslehre im Rahmen der von Friedrich Müller begründeten Strukturierenden Rechtslehre41 geht dagegen davon aus, dass die Rechtsnorm erst - nach der Formulierung einer Normtexthypothese aufgrund des vorgelegten Sachverhalts - als Zwischenergebnis aus Normprogramm (Sprachbestandteil einer Rechtsnorm aufgrund der Interpretation der Sprachdaten) und Normbereich (Sachbestandteil einer Rechtsnorm aus den aktuellen Realdaten des Fall- bzw. Sachbereichs) entsteht42. Aufgrund dessen ist die richterliche Tätigkeit per se als schöpferisch und normerzeugend anzusehen, weil eben die Rechtsnorm nicht schon in dem bloßen Normtext vorgegeben ist, sondern als etwas anderes bei jeder Rechtsanwendung inhaltlich angereichert und fortgebildet wird. Diese rechtstheoretische Position korrespondiert mit dem - in der linguistischen Pragmatik - präzisierten Phänomen der Polyfunktionalität 43. Neben dem Aussagegehalt einer Äußerung werden in der Sprechakttheorie zusätzlich zwei Handlungskomponenten unterschieden: Es handelt sich zum einen um die Sprecherhandlungen (Illokutionen), die der Emittent durch das kommunikative Äußern von Sätzen gegenüber Adressaten vollzieht. Die zweite, eng mit der Sprecherhandlung (Illokution) verbundene Handlungskomponente ist der Versuch der Textproduzenten, mit 40

Ebenda, S. 79. Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994. 42 Friedrich Müller, Ralph Christensen, Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin, 1997, S. 123. 43 Werner Holly , Politikersprache. Inszenierungen und Rollenkonflikte im informellen Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten. Berlin, New York 1990, S.54; Ekkehard Felder,, Rhetorik zwischen Instrumentalismus und Hermeneutik, in: Der Deutschunterricht 51 .Jg. Heft 5/99: Rhetorik und Argumentation. (Hrsg.: Josef Klein), S. 79-93, hier 83 f. 41

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einer Sprecherhandlung beim Hörer etwas zu bewirken (Perlokution). „Jeder Sprecherhandlungstyp ist regelhaft, aber stark kontextbedingt, mit einer oder mehreren Arten von erwartbaren Wirkungen verbunden. Dabei ist (nach Holly) zu unterscheiden zwischen Bewirkungsversuch, Bewirkungsziel (das zu Bewirkende) und tatsächlichen Folgen."44 Die linguistische Pragmatik schreibt unterschiedliche Funktionen nicht nur verschiedenen Textsorten oder Textsequenzen zu (wie in der Rhetoriktradition), sondern operiert mit dem Terminus der Polyfunktionalität; dies bedeutet: derselben Äußerung können - bezogen auf ein kommunikatives Handlungsspiel - verschiedene Funktionen und Wirkungsintentionen zugrunde liegen. Das Beschreibungskriterium der Polyfunktionalität kann dazu beitragen, die unbefriedigende Unterscheidung von Gesetzesrecht und Richterrecht obsolet werden zu lassen, wie an der folgenden Schwierigkeit der BVferGE gezeigt werden soll. Die Bundesverfassungsrichter unterscheiden nämlich zwischen Gesetzesrecht - Entscheidungen, die aus dem Gesetz(estext) entnommen werden - und dem Richterrecht als einem Typ von Entscheidungen, der jenseits liegt und als Richterrecht angesehen wird. Für den ersten Entscheidungstyp gelten die Grundsätze der Rechtsanwendung, für den zweiten die Befugnis der Rechtsfortbildung durch das Gericht. Die Hüter der Verfassung thematisieren zwar, dass es in „Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht". [BVferGE 92, 12] Dieser Zweifel wird aber bagatellisiert, indem behauptet wird, dass „jedenfalls im Regelfall der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können [muß], ob ein Verhalten strafbar ist" [BVferGE 92, 12]. Offensichtlich verunsichert über das tatsächliche Ausmaß des Regelfalles im Gerichtsalltag wird noch für alle Skeptiker ergänzt: „In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar" [BVferGE 92,12] Ob ein Rechtsunterworfener unter Gesichtspunkten der Rechtssicherheit sich wirklich mit einer Gesetzgebung, die das „Risiko einer Bestrafung erkennbar" macht, zufrieden geben kann, lasse ich dahin gestellt. Auf alle Fälle kann es in Grenzfällen vorkommen, dass für den Normadressaten „das Risiko einer Bestrafung" nur intuitiv „erkennbar" ist. Es bleibt also zu bilanzieren: der Normadressat sollte ohne juristische Ausbildung erahnen können, was Rechtsexperten zu formulieren nicht in der Lage sind. Dieses rechtstheoretische Problem kann mithilfe des Beschreibungskriteriums der Polyfunktionalität insofern ein Stück weit entschärft werden, als eine Äußerung in einem Gesetzesparagraphen bei unterschiedlichen Adressaten divergierende Funktionen erfüllen und damit Wirkungen auslösen kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, die Fiktion des (homogen gedachten) Normadressaten aufzugeben - wie oben dargelegt - zugunsten der Annahme heterogener Adressaten, die 44 Peter v. Polenz, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens, Berlin 21988, S. 209.

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als aktive Rezipienten dem gegebenen Gesetzestext eine individuelle Sinnvermutung zuschreibt. Solch ein Gedankengang dürfte wohl bei vielen Juristen auf Ablehnung stoßen, weil sie darin die Rechtssicherheit (insbesondere Erkennbarkeit des Rechts und Sicherheit der Durchsetzbarkeit des Rechts) als wesentliches Merkmal des Rechtsstaatsprinzips in Frage gestellt sehen. Dennoch scheint eine die realen Gegebenheiten berücksichtigende und auf empirischen Erfahrungen basierende Annahme sinnvoller als die Kultivierung eines realitätsfernen Idealtypus von Normadressaten, die der Annahme des Bestimmtheitsgebotes aus Art. 103 Abs. 2 GG zugrunde liegt. Der Vorteil des hier vorgeschlagenen Gedankengebäudes besteht darin, dass ein und derselbe (Gesetzes) Text bei verschiedenen Adressaten unterschiedliche Funktionen erfüllen und damit Wirkungen erzielen kann. So ist es durchaus denkbar, dass ein juristischer Laie (bei öffentlichen Kundgebungen) durch das Tragen von Buttons (Ansteckplaketten) mit politischen Losungen unbewusst zum Beispiel gegen § 90a „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole" oder gegen § 187a „Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens" verstößt und sich dabei der juristisch relevanten Sprecherhandlung des Verunglimpfens oder Verleumdens schuldig macht, wohingegen der Plakettenträger sich selbstsicher auf Art. 5 GG „Meinungsfreiheit" beruft. Je nach Öffentlichkeitsgrad der Aktion und gesellschaftlichen Stellung des Betroffenen kann jedoch gegebenenfalls von ihm erwartet werden, dass er zur eigenen Absicherung sich bei einem Rechtsbeistand über die rechtliche Bewertung seines Tuns informiert, also die Sprachhandlung des SichUmfassend-kundig-Machens durchführt. Darüber hinaus bietet m. E. die Unterstellung und Berücksichtigung eines heterogenen Adressatenkreises auch in Bezug auf Rechtstheorie und Rechtssicherheit Vorzüge. So kann man sich den Wissensstand des Normadressaten graduell abstufbar und relevanz- und situationsgebunden denken. Basale Grundkenntnisse des täglichen Lebens (ζ. B. Schutz von Rechtsgütern wie Leben, Eigentum, Vermögen) erfährt der Staatsbürger in der schulischen Bildung, berufs- und fachdomänenspezifische Rechtskenntnisse in seinem jeweiligen Ausbildungsgang. Zudem erlernt er Grundkompetenzen wie Informationsbeschaffung etc. ebenfalls in den diversen Bildungseinrichtungen. Die übrigen rechtlichen Wissenslücken dürften dann so gering ausfallen, dass Gerichte bei Wissenslücken (Tatbestandsirrtum) gemäß dem Grundsatz in dubio pro reo und somit dem Bestimmtheitsgebot gerecht werdend entscheiden könnten. Dem Gesetzgeber bleibt es ungenommen, entstehenden Gesetzesdesideraten nachzukommen. d) Situationsdeutung contra „ Wortlaut grenze " Die oben skizzierte verkürzte Sprachauffassung vernachlässigt die Situationsabhängigkeit sprachlicher Äußerungen und korrespondiert mit einem hypostasierten Sprachverständnis, demzufolge nach positivistischem Rechtsverständnis von Enti-

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täten, die nur erkannt werden müssen, ausgegangen wird. Eine ausreichende Berücksichtigung der Situation inklusive ihrer Deutungspotentiale widerspricht dem juristischen Konstrukt der „Wortlautgrenze" als fachdomänenspezifischem Sprachgebrauchstopos, wie anhand des folgenden Auszuges dargelegt werden soll: „Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist »Analogie' nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen." [BVferGE 92, 12]

Das sprachliche Argument der „Wortlautgrenze" wird in Zusammenhang gebracht mit dem zuvor schon erwähnten und von den Richtern mehrfach angeführten allgemeinen Sprachgebrauchstopos der „Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten". Die Abgrenzung zwischen „verfassungskonformer Auslegung" und „Analogie" ist mit Sicherheit ein schwieriges Unterfangen - sowohl die Rechtstheorie als auch die richterliche Praxis betreffend. In der herrschenden Methodenlehre wird nach Schiffauer unter „verfassungskonformer Auslegung" ein Unterfall der Gesetzesauslegung verstanden. „Sind dem Wortsinne und dem Kontext mehrere Auslegungsvarianten möglich, so sei derjenigen den Vorzug zu geben, bei der die Norm, an Verfassungsprinzipien gemessen, Bestand haben kann."45. Eine solchermaßen verstandene Gesetzesauslegung ist dann nur Rechtsentfaltung, Ermittlung des Sinnes einer vorhandenen Norm. Von „analoger Anwendung" eines Rechtssatzes wird herkömmlicherweise dann gesprochen, wenn ein Rechtssatz, der für einen bestimmten Tatbestand aufgestellt ist, auf einen anderen abweichenden Tatbestand angewandt wird, der mit dem ersten in wesentlichen Beziehungen übereinstimmt 46. Die herrschende Meinung in der Methodenlehre macht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Auslegung und Analogie (Rechtsfortbildung), wobei das Abgrenzungskriterium in der „Grenze des möglichen Wortsinnes" gesehen wird 47 . Die sog. Wortlautgrenze oder Wortsinngrenze geht von einem-nicht von dem - eindeutigen, objektiv feststellbaren Sinn aus und beinhaltet das linguistisch nicht haltbare Konzept der „wörtlichen" oder „wahren Bedeutung". Sie erliegt der Fiktion einer eindeutigen und präzisen Rechtssprache und hofft bei eingeräumten 45

Peter Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S.28 in Anlehnung an Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin u.a. 1975, S. 334. 46 Peter Schiffauer; Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S.32 mit Bezug auf Ulrich Klug, Juristische Logik, Berlin 1966, S.97. 47 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin u.a. 1975, S. 309.

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Unbestimmtheiten auf eine klare Klassifizierung nach Vagheit, Mehrdeutigkeiten usw.48 Peter Schiffauer 49 hat überzeugend kritisiert, wie das Konzept der Wortsinn- bzw. Wortlautgrenze zu einer Reduktion der Semantik auf Wortsemantik führt. Busse hat in diesem Sinne bei der Untersuchung des Konzeptes der „Wortlautgrenze" und dessen fragwürdiger Unterscheidung zwischen „Bedeutungskern" und „Bedeutungshof 4 nachgewiesen, für wie illusionär Sprachwissenschaftler die Vorstellung des Richters als „Mund des Gesetzes" im Sinne eines „Subsumtionsautomaten" halten50. Aus diesem Grunde kann Schiffauers Fazit nur zugestimmt werden: „Wenn bei der Interpretation einer Norm die Bedeutung eines Wortes zweifelhaft geworden ist, darf das semantische Argument nicht mehr verwendet werden." 51. Schiffauers Auseinandersetzung mit dem Abgrenzungsproblem kulminiert in der folgenden These. „Die Begriffe ,verfassungskonforme Auslegung' und ,Analogie4 haben im Zusammenhang gerichtlicher Entscheidungsbegründungen keinen spezifischen Begründungsgehalt."52 Dieser Ansicht ist aus linguistischer Sicht nur zuzustimmen, das BVerfG scheint sie jedoch nicht zu teilen. „Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich (und notwendig) erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Würde erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Deutung zur Strafbarkeit eines Verhaltens führen, so müssen sie zum Freispruch gelangen. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will." [BVferGE 92, 13]

Es wird behauptet, dass eine Trennung zwischen Auslegung und Analogie möglich sei. Diese deklarierte Trennlinie untermauert das Begründungsgerüst, demzufolge das für juristische Textarbeit grundlegende Phänomen der Analogiebildung als klar strukturierbar behauptet wird. Weiter oben in der Begründung sprechen die BVerfG-Richter von Analogie im engeren und weiteren Sinne. „Dabei ist,Analogie4 nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht." [BVferGE 92,12] Wurde zuvor die Illusion vom bestimmbaren Wortsinn kultiviert, so wird nun synonymisch vom „Inhalt4' eines Textes gesprochen, dessen 48 Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, S.77ff.; Dietrich Busse, Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht. Berlin 1993, S.254. 49 Peter Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S.57, 61 f., 69f. 50 Dietrich Busse, Juristische Semantik, Berlin 1993, S.46ff. 51 Peter Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S. 103. 52 Peter Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S.254.

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Grenzen scheinbar genauso klar zu bestimmen sind wie die des Wortlauts. Analogiebildung wird in Abgrenzung zu Auslegung auf einer konträren - mit diesen beiden Polen versehenen - Skala als graduell diagnostizierbar unterstellt. Das Analogieverbot im Strafrecht unterstützt die behauptete Trennbarkeit von „Auslegung" und „Analogie" mit der Begründung, dass aufgrund der Vielfältigkeit der Lebenssachverhalte und der Abstraktheit des Normtextes ohne „Analogie [...] im engeren technischen Sinne" [BVferGE 92,12] die richterliche Arbeit überhaupt nicht zu leisten wäre. Dem entgegen steht das propagierte Eindeutigkeitspostulat, das als Topos permanent wiederholt und diskursspezifisch durchzusetzen versucht wird: „Den Gerichten ist es verwehrt, seine [gemeint ist der Gesetzgeber] Entscheidung zu korrigieren." Damit behaupten die BVerfG-Richter, dass Worte, Sätze, Texte genauso eindeutig zu bestimmen sind wie die Lücken. Unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten scheint die Position von Christensen weitaus überzeugender. Die Wortlautgrenze ist seiner Ansicht nach keine absolute, sondern eine relative Größe, die je nach Situation „vom Rechtsarbeiter fordert, dem jeweils normtextnäheren Argument Vorrang zu geben oder, umgekehrt formuliert, einem normtextferneren Element nur präzisierende, nicht aber derogierende Wirkung zuzugestehen."53 Damit ist die Unterscheidung von Auslegung und Analogie auf der unhaltbaren Fiktion der Wortlautgrenze obsolet. e) Bedeutungsexplikation

im Paradigma der praktischen Semantik

Nachdem im ersten Teil der BVferGE die grundsätzliche Bedeutung des Bestimmtheitsgebotes nach Art. 103 Abs. 2 GG dargelegt und im zweiten Teil die hier einschlägige Gewaltalternative des § 240 StGB als vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erklärt wurde, wird im dritten Teil der BVferGE begründet, inwiefern die Auslegung des Gewaltbegriffs in §240 Abs. 1 StGB durch die Strafgerichte gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt. Im Folgenden stelle ich wiederum einige für die hier formulierte Fragestellung relevante Zitate zusammen und analysiere sie. „Den angegriffenen Entscheidungen liegt das Verständnis des Gewaltbegriffs zugrunde, das sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Lauf der Zeit entwickelt hat. Diese Entwicklung ist durch die abnehmende Bedeutung der Entfaltung körperlicher Kraft auf Seiten des Täters und die wachsende Bedeutung der bei dem Opfer eintretenden Zwangswirkung gekennzeichnet [...] Zwar hat die Rechtsprechung bis heute daran festgehalten, daß Gewalt im Sinn des Nötigungstatbestands nur beim Einsatz körperlicher Kraft vorliegt. Doch ist das Maß der aufgewandten Kraft, die für nötig gehalten wird, damit von Gewalt gesprochen werden kann, stetig verringert und das Erfordernis einer körperlichen Zwangswirkung beim Nötigungsopfer gänzlich aufgegeben worden." [BVferGE 92, 14 f.]

Die beiden sprachlichen Argumente innerhalb der fachdomänenspezifischen Sprachgebrauchstopoi - „das Verständnis des Gewaltbegriffs [hat] sich in der 53

Ralf J. Christensen: Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Nr. 73, 1987, S. 75-92, hier S.91.

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höchstrichterlichen Rechtsprechung im Lauf der Zeit entwickelt" [BVferGE 92,15] und das Syntagma „die Rechtsprechung [hat] bis heute daran festgehalten" [BVferGE 92, 15]-stehen in krassem Widerspruch zu der erwähnten Aussage: „Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich (und notwendig) erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren." [BVferGE 92, 13] Denn Rechtsgüter werden durch Rechtsbegriffe geschützt: „Juristen denken in Begriffen, sie denken etwa Tatbestände als Begriffe (resultativ) und nicht als Vorgänge (prozessual)."54 Hier werden in der Argumentation der Bundesverfassungsrichter Tätigkeiten der gängigen richterlichen Berufspraxis eingeräumt, die kurz zuvor unter theoretischen Gesichtspunkten als rechtswidrig verworfen wurden. Die Richter nehmen in diesem Zusammenhang einen Bedeutungsexplikationsversuch zum Gewaltbegriff vor, indem sie Teilbedeutungen als Bedeutungsaspekte einer ganzheitlichen Bedeutungsauffassung separat herauszuarbeiten versuchen. Ihre Bedeutungsexplikation hinsichtlich des Gewaltbegriffs korrespondiert mit dem Paradigma der praktischen Semantik, die auf Ludwig Wittgensteins gebrauchstheoretische Bedeutungskonzeption zurückgeht. In diesem Zusammenhang argumentieren die BverfG-Richter auf der Grundlage eines kontextbezogenen semantischpragmatischen Ansatzes, der mithilfe von Sprachgebrauchs- bzw. Verwendungsregeln Bedeutung zu explizieren versucht. Diese Argumentation der Richter enthält jedoch noch ein Problem, das sich in folgender Passage widerspiegelt: „Den angegriffenen Entscheidungen liegt das Verständnis des Gewaltbegriffs zugrunde, das sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Lauf der Zeit entwickelt hat" [BVferGE 92, 14 f.] widerspricht dem Gedanken, dass der „Normadressat im Regelfall [...] aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können [muß], ob ein Verhalten strafbar ist." [BVferGE92, 12] Im Regelfall soll demnach der Normadressat als Textrezipient ausschließlich auf der Grundlage des Gesetzestextes die Absichten des Textproduzenten erschließen können. In Nicht-Regelfällen kann jedoch der Normadressat nicht ausschließlich anhand der gesetzlichen Vorschrift sein Wissen beziehen, er muss regelmäßig juristische Entscheidungen und Literatur studieren, um über den aktuellen Fachsprachen· und Fachwortgebrauch informiert zu sein.

f) Der Aspekt der Inter textualität Das vielfältige Geflecht an Verweisen auf diverse Textsorten und Textsequenzen im juristischen Diskurs verdeutlicht, dass der Textbegriff erweitert werden muss, 54

Markus Nussbaumer, ... - Juristen und Sprachkritik, in: Axel Gellhaus/Horst Sitta (Hrsg.): Reflexionen über Sprache aus literatur- und sprachwissenschaftlicher Sicht. Tübingen 2000, S. 61-93, hier S.65.

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denn Texte stehen nicht für sich alleine, sondern sind stets in einem intertextuellen Verweiszusammenhang eingebettet, für den der vieldeutige Ausdruck Diskurs verwandt wird. Ohne die spezifisch philosophischen, literarischen oder sprach- und literaturwissenschaftlichen Verwendungsweisen nachzeichnen zu können, wird hier unter Diskurs ein Textkorpus verstanden, dessen Texte sich inhaltlich im weitesten Sinne mit einem bestimmten Thema beschäftigen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen.55 In Bezug auf den juristischen Diskurs hält es auch Busse für fraglich, ob den Gesetzestexten überhaupt eine Textstruktur im Sinne des linguistischen Textbegriffs (als abgeschlossenes „Werk") unterstellt werden kann. „Verläßt man die Ebene eines einzelnen Gesetzestextes (der wenigstens noch aufgrund seiner äußeren formalen Geschlossenheit als zusammenhängender Text betrachtet werden könnte), dann kann die Frage nach einer möglichen Textstruktur auf der den einzelnen Gesetzestext übergreifenden Ebene der „Obersätze" bzw. des „systematischen Zusammenhangs" neu gestellt werden. Die praktische juristische Tätigkeit könnte linguistisch als das Herstellen eines (neuen?) „Entscheidungstextes" aus den Versatzstücken (gesetzlicher oder dogmatischer) Einzeltexte (Paragraphen, sprachlich formulierte Rechtsprinzipien u. a.) gesehen werden." 56 2. In der Relation zwischen Textteilen liegende Begründungen Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der Interdependenz von Absatz 1 und 2 des Nötigungsparagraphen 240 StGB entschieden, dass die in Abs. 1 erwähnte Gewaltanwendung nicht indiziell für die in Abs. 2 aufgeführte Verwerflichkeit und damit für die Rechtswidrigkeit betrachtet werden dürfe, dass also nicht jede als Gewalt klassifizierte Verhaltensweise gewissermaßen zwangsweise Beleg für die Verwerflichkeit der Handlung und damit für die Rechtswidrigkeit sei. Vielmehr sind laut einer früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.11.1986 [BVferGE73, 206, 260] die Rechtswidrigkeit der Nötigung bei Sitzblockaden unter Abwägung aller im Einzelfall für die Mittel-Zweck-Relation und ihre Bewertung wesentlichen Umstände zu prüfen. Der Nötigungsparagraph weicht damit - wie auch der Bundesgerichtshof ausführt [BGHSt 35,275] - vom allgemeinen strafrechtlichen Grundsatz ab, demzufolge die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands die Rechtswidrigkeit indiziert. 57 55 Vgl. dazu weitere, nicht-juristische Diskursbeispiele in Ekkehard Felder, Rhetorik zwischen Instrumentalismus und Hermeneutik, in: Der Deutschunterricht 51. Jg. Heft 5/99: Rhetorik und Argumentation. (Hrsg.: Josef Klein), S. 79-93, hier 82ff. 56 Dietrich Busse, Juristische Semantik, Berlin 1993, S.256. 57 Die Verwirklichung des Tatbestands entfalle nach strafrechtlichem Grundsatz nur dann, wenn die tatbestandsmäßige Handlung durch eine Gegennorm (etwa: Notwehr, § 32 StGB; Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193 StGB) erlaubt sei [BVferGE92, 13].

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Die Besonderheit des § 240 StGB bestehe darin, dass die im Tatbestand aufgeführte Handlung - die Ausübung von Zwang im Sinne von Absatz 1 - die Rechtswidrigkeit nicht indiziere. Diese Ausnahme vom allgemeinen Verbrechensaufbau hat ihren Sinn darin, dass angesichts der Weite der Tatbestandsbeschreibung in Absatz 1 zahlreiche Verhaltensweisen, die im Sozialleben, im Erziehungswesen, in der Arbeitswelt oder im Verkehrsbereich erforderlich oder unvermeidlich sind, der Strafandrohung unterfielen, obwohl sie im täglichen Umgang der Bürger miteinander als sozial-adäquat empfundene Verhaltensweisen betrachtet würden. Um das zu vermeiden, habe der Gesetzgeber nach Ansicht des BVerfG § 240 Abs. 2 StGB derart bestimmt, dass erst die Verquickung des Nötigungsmittels mit der angestrebten Verhaltensweise des Genötigten den Schluss auf tatbestandsmäßig rechtswidriges Verhalten begründen könne [BVferGE 92, 16]. Aufgabe des § 240 Abs. 2 StGB ist es somit, zu bewirken, dass die Verbindung von Nötigungsmittel und angestrebter Verhaltensweise nur unter der einschränkenden Voraussetzung der Verwerflichkeit strafbar sei, wobei der Begriff,verwerflich' zugleich einen Wertungsmaßstab festlege. Im Folgenden sei der entscheidende Abschnitt der Begründung angeführt: „Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt wird dadurch in einer Weise entgrenzt, daß es die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Funktion, unter den notwendigen, unvermeidlichen oder alltäglichen Zwangseinwirkungen auf die Willensfreiheit Dritter die strafwürdigen zu bestimmen, weitgehend verliert. Es bezieht zwangsläufig zahlreiche als sozialadäquat betrachtete Verhaltensweisen in den Tatbestand ein, deren Strafbarkeit erst durch das Korrektiv der Verwerflichkeitsklausel in §240 Abs. 2 StGB ausgeschlossen wird. Der Bundesgerichtshof hat sich deshalb veranlaßt gesehen, der Ausweitung des Gewaltbegriffs dadurch zu begegnen, daß er auf das ,Gewicht' der psychischen Einwirkung abgestellt hat. Damit wird die Eingrenzungsfunktion aber einem Begriff aufgebürdet, der noch weit unschärfer ist als der der Gewalt. An einer befriedigenden Klärung, wann eine psychische Einwirkung gewichtig ist, fehlt es daher auch. Der Verweis auf das Korrektiv der Verwerflichkeit ist deswegen nicht geeignet, die rechtsstaatlichen Bedenken zu zerstreuen, denen die Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung begegnet." [BVferGE 92, 17]

Das hier erwähnte sprachliche Argument der interlexematischen Begriffspräzisierung (in einem unterstellten lexikalischen Feld) ist unter linguistischen Gesichtspunkten insofern interessant, als jeweils verschiedenen Textteilen in einem als abgeschlossen dargestellten Gesetzesparagraphen unterschiedliche Funktionen hinsichtlich der Erfüllungsbedingungen (von Illokutionen/Sprechhandlungen) unterstellt werden. Absatz 1 und 2 des Nötigungsparagraphen können als zwei Stellglieder einer Tatbestandseinheit betrachtet werden, die sich zum Zwecke der Präzisierung gegenseitig beeinflussen. Damit soll die Relation zwischen beiden Textteilen - genauer zwischen Gewaltbegriff und Verwerflichkeitsklausel - das Vorliegen des Tatbestandes bestimmen. Jedoch kann die Unschärfe des einen Begriffes (Gewalt) kaum dazu dienen, die Vagheit des anderen zu objektivieren, obgleich der Eindruck eines balancierenden, ausgewogenen Systems mit dem Anschein der Wissenschaftlichkeit entstehen soll, in welchem die Erfüllung eines Tatbestands von meh-

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reren interdependenten Aspekten oder Merkmalen abhängt.58 Aus diesem Grunde hat der Bundesgerichtshof versucht, mit dem Heranziehen eines weiteren Begriffs, nämlich dem des Gewichts der psychischen Einwirkung, den Gewaltbegriff zu vereinheitlichen. Jedoch kann auch dieser Begriff aufgrund seiner eigenen Vagheit nicht die gewünschte Eingrenzungs- und Präzisierungsfunktion übernehmen. Interessanterweise argumentieren diejenigen Richter, welche die abweichende Meinung vertreten, mit dem gleichen intertextuellen Verweis-Argument. Sie kommen nur zum gegenteiligen Schluss, dass nämlich den beiden Komponenten in ihrer Relation sehr wohl Präzisierungscharakter innewohne, welche unerwünschte Auslegungsmöglichkeiten (wie hier das Erfassen von sozialadäquatem Verhalten unter den Tatbestand) ausschließe. Der entsprechende Abschnitt aus der abweichenden Meinung sei hier zitiert: „Diese Auslegung des Gewaltbegriffs führt schließlich nicht dazu, daß sozialadäquates Verhalten bestraft wird. Dies wird vielmehr hinreichend dadurch ausgeschlossen, daß die Bestrafung nach dem Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB von der Absicht des Täters abhängt und der Tatbestand im übrigen in der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ein Korrektiv findet, das verhindert, auch solche Verhaltensweisen zu pönalisieren, für die die angedrohte Sanktion nach Art und Maß unverhältnismäßig wäre (vgl. BVferGE73, 206 [253*, 254f.])." [BVferGE92, 23]

3. In der Gewichtung juristischer Textsorten liegende Begründungen Zu den wichtigsten sprachlichen Argumenten in juristischen Begründungen gehört die Bezugnahme auf Paragraphen, Gerichtsentscheide oder die rechtswissenschaftliche Literatur (Autoritätstopos). „Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung ist sowohl in der strafrechtlichen als auch in der verfassungsrechtlichen Literatur umstritten (vgl. die umfassenden Nachweise in BVferGE 73, 206 [232* f.]). Das Mutlangen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die erhoffte Klärung wegen der Stimmengleichheit im Senat nicht herbeigeführt. Die Ausführungen zum Gewaltbegriff haben vielmehr ihrerseits Kritik gefunden (vgl. etwa Bertuleit/Herkströter, KJ 1987, S. 331; Calliess, NStZ 1987, S. 209; Kühl, StV 1987, S. 122; Meurer/Bergmann, JR 1988, S.49; Otto, NStZ 1987, S.212; Prittwitz, JA 1987, S. 17; Schmitt Glaeser, BayVBl. 1988, S.454; Starck, JZ 1987, S. 145; Tröndle, Rebmann-FS, 1989, S.481; Zuck, MDR 1987, S.636), die je nach Standpunkt die tragende oder die nichttragende Auffassung betrifft." [BVferGE 92, 15]

In diesem Falle dient die Bezugnahme auf Judikatur und Literatur dazu, den Regelungsbedarf durch das Bundesverfassungsgericht zu unterstreichen, weil sich sowohl in Rechtsprechung als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur bisher keine einhellige Meinung herausgebildet hat. 58

Es ist beim Aufbau der Strafnorm für den § 240 davon auszugehen, dass Abs. 1 erfüllt sein muss, bevor Abs. 2 geprüft wird [BVferGE92,13 und 19]; außerdem bezieht sich der in Abs. 2 angesprochene Zweck auf die in Abs. 1 ausgeführte „Handlung, Duldung oder Unterlassung".

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„Der Begriff der Gewalt, der im allgemeinen Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird, muß hier im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden. [...] Eine Ausweitung der Mittel im Wege der Interpretation, etwa auf List oder Suggestion, scheidet nach einhelliger Auffassung in Judikatur und Literatur aus. Das gilt selbst dann, wenn diese Mittel eine ähnliche Wirkung auf das Nötigungsopfer haben wie die beiden im Gesetz pönalisierten." [BVferGE 92, 16]

In dieser Passage soll der Verweis auf Judikatur und Literatur das Vorhandensein einer herrschenden Meinung belegen und kann damit als Bestätigung des eigenen Argumentationsschemas herangezogen werden. „Die Ungewißheit, die dem erweiterten Gewaltbegriff anhaftet, ist auch nicht durch ein im Lauf der Zeit gefestigtes Verständnis seiner Bedeutung entfallen, zumal der Bundesgerichtshof in anderen Bereichen wie dem der Vergewaltigung von einem erheblich engeren Gewaltbegriff ausgeht (vgl. BGH, NJW 1981, S. 2204). Wie die eben erwähnten Beispiele zeigen, ist aber selbst die Strafbarkeit von Blockadeaktionen als Nötigung höchst ungewiß geblieben. Auch die fortbestehenden Divergenzen in Judikatur und Literatur hinsichtlich der strafrechtlichen Würdigung von Sitzdemonstrationen der vorliegenden Art (vgl. Schäfer, LK, a.a.O., Rdnr.21 bis 27; Otto, NStZ 1992, S.568) zeigen, daß sich eine gefestigte Rechtsauffassung bisher nicht hat bilden können." [BVerGE 92, 18]

Wir haben es mit einem interessanten Kontext-Argument zu tun, welches mit den Worten paraphrasiert werden könnte, dass dem Gewaltbegriff in anderen Rechtsoder Gesetzesparagraphenkontexten abweichende Teilbedeutungen zugeschrieben wurden. Das Gericht geht offensichtlich davon aus, dass Rechtstermini idealiter überwiegend konstante Teilbedeutungen im Rechtsdiskurs hervorbringen sollten - unabhängig vom engeren Kontext. Dies ist aus der Perspektive des Normadressaten sicherlich zu begrüßen, da ihm - wie oben ausgeführt - in anderen Begründungszusammenhängen weitaus mehr an juristischen Detailkenntnissen abverlangt wurde. In der abweichenden Meinung verweisen die unterzeichnenden Richter ebenfalls auf die Kommentarliteratur und nehmen gleichsam eine Bewertung der dort vertretenen Ansicht vor: „Nach dieser Rechtsprechung, die auch in der Kommentarliteratur unbeschadet gewisser Bedenken zustimmend referiert worden ist (vgl. BVferGE 73, 206 (242*) m.w.N.), stand außer Zweifel, daß für die Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt vorhersehbar war, daß ihr Verhalten als Nötigung mittels Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB angesehen werden würde. Daß sich in der Literatur kritische Stimmen fanden, die eine engere Eingrenzung des Gewaltbegriffs befürworteten, ändert daran nichts." [BVferGE 92, 24]

Die Senatsmehrheit führt kritische Gegenstimme als Indiz dafür an, dass keine einheitliche herrschende Meinung vorherrscht. Die Gegenstimmen werden zwar erwähnt, aber als nicht relevant gewichtet.

8 Müller/Wimmer

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VI. Schluss Zur Charakterisierung sprachlicher Argumente wurden fachdomämenspezifische von allgemeinen Sprachgebrauchstopoi unterschieden. Der Stellenwert der sprachlichen Argumente in der hier untersuchten BVferGE ist von zentraler Bedeutung, weil der Entscheidungsgegenstand - nämlich die erweiterte Auslegung des Gewaltbegriffs § 240 StGB - ein genuin rechtssprachliches Problem darstellt und aufgrund dessen der Beschluss in erster Linie mit sprachlichen Argumentationsschemata begründet wurde. Die Untersuchung mithilfe semantisch-pragmatischer Kriterien hat ergeben, dass - obwohl sprachliche Argumente in der Begründung der BVerfG-Richter eine zentrale Rolle spielen - die implizierte Sprachauffassung als uneinheitlich und widersprüchlich bezeichnet werden muss. In der Bundes Verfassungsgerichtsentscheidung ist eine Dichotomie festzustellen: In den rechtstheoretischen Ausführungen (im ersten Teil der Begründung) implizieren die Richter eine instrumentalistische Sprachauffassung inklusive einer hypostasierten essentialistischen Bedeutungstheorie, wohingegen sie bei der Beschreibung der Rechtsempirie (im dritten Teil der Begründung) offensichtlich eine Bedeutungsauffassung im Paradigma der praktischen Semantik zugrunde legen. Im Sinne der Rechtssicherheit und der angestrebten Transparenz des juristischen Diskurses sollte jedoch der Staatsbürger nicht in der ohnehin vorherrschenden illusionären Sprachauffassung der eindeutigen Zuordnung von Ausdruck und Wortinhalt bestärkt werden, sondern vielmehr die teilweise vorkommende rechtssprachliche Unbestimmtheit als ein nur bedingt kalkulierbares Moment in der juristischen Auseinandersetzung verstehen und berücksichtigen lernen, um nicht dem Gefühl bedingter Willkür in der Anwendung und Auslegung von Rechtstermini Vorschub zu leisten. Neben der problematischen, weil uneinheitlichen Sprachauffassung wurden auf der Grundlage der pragmatischen Kriterien wie (Gesetzestext) Adressierung, Polyfunktionalität, Situationsdeutung, Bedeutungsexplikation sowie dem Phänomen der Intertextualität weitere rechtstheoretische Schwierigkeiten aus linguistischer Perspektive herausgearbeitet. In Bezug auf die Adressatenproblematik muss die prototypische Vorstellung der BVerfG-Richter von dem (sie!) Normadressaten als unhaltbare Fiktion zurückgewiesen werden. Stattdessen wird hier das Konstrukt einer heterogen Adressatenvorstellung vorgeschlagen, wobei der einzelne Normadressat als „aktiver Rezipient" im Rahmen einer Normtextbetroffenheitsahnung selber dafür Sorge zu tragen hat, dem folgenden Grundsatz gerecht zu werden: Sorge als Normadressat dafür, dass du die für Dich relevanten Gesetze so weit wie möglich (evtl. mit fremder Hilfe) verstehst. Eine zufriedenstellende theoretische Herleitung der Normadressatenproblematik bleibt derzeit Desiderat, ist allerdings kein Grund dafür, an der vorherrschenden Fiktion des Normadressaten festzuhalten.

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Mithilfe des Aspektes der Polyfunktionalität können die beschriebenen rechtstheoretischen Schwierigkeiten im Zusammenhang der Adressatenproblematik ein Stück weit entschärft werden. Unter Polyfunktionalität wird in der linguistischen Pragmatik verstanden, dass derselben Äußerung - bezogen auf ein kommunikatives Handlungsspiel - verschiedene Funktionen und Wirkungsintentionen zugrunde liegen können. Bezogen auf Gesetzestexte bedeutet dies, dass derselbe Gesetzesparagraph bei unterschiedlichen Adressaten divergierende Funktionen erfüllen und damit Wirkungen auslösen kann. So kann man sich den Wissensstand von Normadressaten und damit die Funktionen und Wirkungen des Gesetzestextes graduell abstufbar und relevanz- und situationsgebunden denken. Basale Grundkenntnisse des täglichen Lebens (ζ. B. Schutz von Rechtsgütern wie Leben, Eigentum, Vermögen) erfährt der Staatsbürger in der schulischen Bildung, berufs- und fachdomänenspezifische Rechtskenntnisse in seinem jeweiligen Ausbildungsgang. Mithilfe der Annahme der Normtextbetroffenheitsahnung und von - als aktive Rezipienten gedachten - Normadressaten trägt das Zusammenspiel von Adressatenheterogenität und Polyfunktionalität zu mehr rechtstheoretischer Stringenz bei. In der Zurückweisung der äußerst problematischen Abgrenzung zwischen „verfassungskonformer Auslegung" und „Analogie" auf der Grundlage der „Wortlautgrenze", welche zentrale pragmatische Erkenntnisse der Situationsdeutung vernachlässigt, habe ich mich im Wesentlichen der plausiblen Argumentation von Schiffauer und dessen Fazit angeschlossen: „Die Begriffe ,verfassungskonforme Auslegung4 und ,Analogie4 haben im Zusammenhang gerichtlicher Entscheidungsbegründungen keinen spezifischen Begründungsgehalt."59 Diese Einschätzung vermag die BVerfG-Richter offensichtlich nicht zu überzeugen. Anstelle der obsolet gewordenen Unterscheidung könnte Christensens Resümee gesetzt werden, demzufolge der Rechtsarbeiter je nach Situation „dem jeweils normtextnäheren Argument Vorrang 44 geben „oder, umgekehrt formuliert, einem normtextferneren Element nur präzisierende, nicht aber derogierende Wirkung 4460 zugestehen sollte. Bei der Beschreibung der Rechtsempirie verwenden die BVerfG-Richter als wichtigsten fachdomänenspezifischen Sprachgebrauchstopos das Konzept einer juristischen Bedeutungsexplikation im Paradigma der praktischen Semantik. Dem ist aus linguistischer Sicht nur zuzustimmen, beinhaltet aber die Schwierigkeit, dass - theoretisch betrachtet - der Normadressat sich idealiter durch das Studium aktueller Gerichtsentscheidungen und juristischer Literatur laufend über die vorherrschenden Verwendungsregeln der juristischen Fachsprache informieren müsste. Der Aspekt der Intertextualität ist unter dem Gesichtspunkt interessant, welche Textsequenzen und Textsorten als relevant gewichtet oder für die Konstitution der herrschenden Meinung herangezogen werden. Darüber hinaus wurde daigelegt, wie 59

Peter Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S. 254. Ralf J. Christensen: Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Nr. 73, 1987, S. 75-92, hier S.91. 60

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das sprachliche Argument der Begriffspräzisierung durch interlexematische Abgrenzung (in einem unterstellten lexikalischen Feld) benutzt wird und dabei jeweils verschiedenen Textteilen in einem als abgeschlossen dargestellten Gesetzesparagraphen unterschiedliche Funktionen hinsichtlich der Erfüllungsbedingungen (von Illokutionen/Sprechhandlungen) unterstellt werden. Rechtsbegriffe innerhalb des Nötigungsparagraphen wurden als zwei Stellglieder einer Tatbestandseinheit betrachtet, die sich zum Zwecke der Präzisierung gegenseitig beeinflussen. Damit sollte die Relation zwischen Textteilen - genauer zwischen Gewaltbegriff und Verwerflichkeitsklausel - das Vorliegen des Tatbestandes bestimmen. Jedoch konnte die Unschärfe des einen Begriffes (Gewalt) kaum dazu dienen, die Vagheit des anderen zu objektivieren. Auch das Heranziehen eines weiteren Begriffs, nämlich dem des Gewichts der psychischen Einwirkung, vermochte aufgrund der eigenen Unbestimmtheit nicht zur Vereinheitlichung des Gewaltbegriffs beizutragen. Unter linguistischen Gesichtspunkten sind die metasprachlichen Darlegungen der juristischen Begründungen nicht befriedigend und für ein oberstes Verfassungsorgan mit Sicherheit verbesserungsbedürftig. Literatur Alexy, Robert: Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt 1983. Biere, Bernd Ulrich: Verständlich-Machen. Hermeneutische Tradition - Historische Praxis - Sprachtheoretische Begründung. Tübingen 1989. Busse, Dietrich: Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht. Berlin 1993. Christensen, Ralph J.: Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Nr. 73, 1987, S. 75-92. — Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989. Dreher, Eduard/Tröndle,

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Leaving Babel Die Aufgabe des Übersetzens als Chance für die Arbeit des EuGH Von Wolfgang Buerstedde, Ralph Christensen und Michael Sokolowski Der Name Babel bedeutet die Stadt des Herrn. Aber die Bewohner wollten sich einen eigenen Namen machen, um das Höchste für sich zu besetzen. Anstelle des göttlichen sollte es ihr Name sein, der die Sprache beherrscht. Sie forderten damit den Zorn des Herrn heraus. Ihre Zungen wurden verwirrt. Seitdem muß jeder Versuch, namens der einen Sprache zu sprechen, sich in einer unabsehbaren Vielfalt der Stimmen verlieren. Übrig bleibt das Problem der Übersetzung.

Es gibt nicht die deutsche Sprache, sondern es gibt 81 Millionen Sprachen in Deutschland. So viele, wie es eben Sprecher gibt.1 Das Problem der Übersetzung stellt sich also nicht erst, wenn wir den deutschen Sprachraum verlassen, sondern es stellt sich zu Hause.2 In besonderer Weise für Juristen, denn sie entscheiden über Sprachkonflikte. Schon der Sachverhalt, der zugrunde gelegt werden soll, wird in verschiedenen Varianten erzählt und auch die Sichtweisen des Rechts existieren in verschiedenen Sprachen. Trotzdem muß der Richter entscheiden. Darin liegen Chance und Risiko. Das Risiko realisiert sich, wenn der Richter eine Sprachvariante zur einzig verbindlichen erklärt und dafür die Autorität der Sprache in Anspruch nimmt. Die vom Richter ausgeübte Gewalt und seine Verantwortung verschwinden dann hinter der Sprache als Legitimationsinstanz. Die Chance sprachlicher Vielfalt liegt darin, daß die sprachnormierende Tätigkeit des Richters deutlich sichtbar wird und damit auch die Begründungslasten seines Tuns. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist ein junges und eminent wichtiges Gericht. Gemeinschaftsrecht ist dem nationalen Recht übergeordnet. Die nationalen Gerichte sind gehalten, Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts dem EuGH vorzulegen. Dieser entscheidet dann verbindlich. Bei seiner eigenen Entscheidungstätigkeit ist dem EuGH der Einsturz des Turms von Babel Alltag. Er ist von Anfang an mit Rechtstexten konfrontiert, die in verschiedenen Sprachen existieren. Damit wird die Entscheidung über die sprachliche Fassung von Recht zu einem eigenen Problem. 1 Wir danken Rainer Wimmer für diesen mündlichen Beitrag (ersch. in The Wimmer Tales. A Pilgrimage through Language). 2 So auch Quines berühmtes Diktum. Dazu W. V. Qui ne, Unterwegs zur Wahrheit, Paderborn 1995, S. 68 f. Zur Ausarbeitung dieses Gedankens D. Davidson, Radikale Interpretation, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1986, S. 183 ff.

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I. Artikel 314 EG: Die Mehrsprachigkeit des Gemeinschaftsrechts Die Vielsprachigkeit wird in der europäischen Gemeinschaft als ein Grundübel angesehen: sie hindere Integration und erschwere Rechtsprechung. Das geht soweit, daß eine einzige Originalfassung gefordert wird 3 . Nicht gesehen wird dabei, welche wichtige Rolle die Sprachenvielfalt in der Gemeinschaft spielt. Insbesondere wirkt sie sich positiv auf die juristische Methodik des EuGH aus. Darüber hinaus kann der durch sie ausgelöste methodische Zwang für nationale Entscheidungsverfahren vorbildlich wirken. Der EuGH ist ausschließlich mit Gesetzestexten verschiedener Sprachfassungen konfrontiert. Die Konfrontation folgt nicht aus einer Laune des Gerichts, sondern sie ist in den Gemeinschaftsverträgen angeordnet. Art. 248 des EGV lautet: „Dieser Vertrag ist in einer Urschrift in dänischer, deutscher, englischer, französischer, griechischer, irischer, italienischer, niederländischer, portugiesischer und spanischer Sprache abgefaßt, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist."

Und in der gleichlautenden Bestimmung des Amsterdamer Vertrages wurde noch die finnische und schwedische Sprache hinzugefügt (Art. 314). Diese Vorschriften enthalten mehr als eine bloße diplomatische Höflichkeitsfloskel. Sie sind Ausdruck davon, daß der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Mitgliedstaaten auch bei der juristischen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden muß. Der Wortlaut der verschiedenen Sprachfassungen ist vom EuGH gleichermaßen zu berücksichtigen. Damit sind diese Vorschriften auch Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips, wonach alle staatliche Gewalt auf den Wortlaut von Gesetzestexten (Normtext) zurückgeführt werden muß4. Art. 314 des EG als sprach- und methodenbezogene Norm verbietet eine Sprache der anderen überzuordnen. Daher können die verschiedenen Fassungen der Verträge nicht als Übersetzungen voneinander betrachtet werden. Eine Hierarchisierung von maßstäblichem Ausgangstext und abgeleiteter Übersetzung ist nicht möglich. Damit wäre prinzipiell zwar die Möglichkeit offen, die verschiedenen Fassungen lediglich als unterschiedliche sprachliche Einkleidungen des gleichen Gehalts zu betrachten. Die verschiedenen sprachlichen Versionen der Verträge wären somit nichts anderes als Übersetzungen des einen, ihnen gemeinsamen Gehalts an Recht. Diesen Weg geht der EuGH aber nicht. Er akzeptiert die Texte in ihrer sprachlichen Authentizität. Sie sind nicht inhaltsgleich, sondern weisen verschiedene Bedeutungshorizonte auf. Trotzdem haben die 3 P. Braselmann, Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR 1992, Heft 1, S.55ff., 58. 4 F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., Berlin 1997, Rn. 163; R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, Berlin 1989, S.290.

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Vertragsparteien mit ihnen denselben Vertrag geschlossen. Entscheidend ist, daß der Prozeß der Rechtskonkretisierung, der unter Berücksichtigung sämtlicher Sprachfassungen vorgenommen wird, eine einheitliche Bedeutungsfestsetzung hervorbringt. Die normative Vorgabe der Sprachengleichwertigkeit zwingt den EuGH, sein sprachliches Vorgehen offen zu legen. Nachdem er die verschiedenen Bedeutungshorizonte und sprachlichen Möglichkeiten entfaltet hat, muß der EuGH offen bekennen, daß er mit seinen Entscheidungen Sprachnormierung betreibt. Er muß vor allem die juristischen Argumente zur Rechtfertigung dieser Sprachnormierung offen deklarieren. Das Gericht kann sich nicht mehr hinter der Sprache verstecken. Dort, wo nationale Gerichte gerne die eine und einzige Sprache auftreten lassen, welche ihnen die Entscheidung abnimmt, stößt der EuGH auf eine Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten.

II. Was bedeutet Mehrsprachigkeit für das Recht? Ist public policy dasselbe wie öffentliche Ordnung? Sind die englische und die deutsche Tradition vergleichbar? Lässt sich also public policy schlichtweg mit öffentliche Ordnung übersetzen? Bedeuten sie das gleiche oder muß ein ganz anderer Ausdruck für beide gefunden werden? Der EuGH war anlässlich einer Vorabentscheidung mit genau diesem Problem konfrontiert. Es lag folgender Sachverhalt zugrunde (Pierre Boucherau. Ersuchen um Vorabentscheidung, vorgelegt vom Marlborough Street Magistrates Court, London): Ein Arbeitnehmer französischer Staatsangehörigkeit wurde zum wiederholten Mal wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln im Jahre 1976 von einem englischen Gericht verurteilt. Das Gericht beabsichtigte dem Minister die Ausweisung nach dem Immigration Act von 1971 zu empfehlen. Dabei tauchten für das Gericht einige Fragen auf, die es dem EuGH zur Entscheidung vorlegte: „1. Stellt eine Ausweisungsempfehlung, die ein Gericht eines Mitgliedstaates an die vollziehende Gewalt dieses Staates richtet eine »Maßnahme' im Sinne des Artikels 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie Nr. 64/221/EWG dar? (...) 3. Ist der in Artikel 48 Absatz 3 des Vertrages zur Gründung der EWG enthaltene Begriff der,public policy' aus deren Gründen Beschränkungen der in Art.48 verankerten Rechte gerechtfertigt sein können, dahin auszulegen, a) daß er reasons of state umfaßt, auch wenn kein breach of the public peace or order droht, oder b) in einem engeren Sinne, der die Vorstellung des threatened breach of public peace, order or security umfaßt, oder c) in einem anderen weiteren Sinne?"

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Folgt man den gängigen Vorstellungen von Übersetzung, dann hätte der EuGH nach dem gemeinsamen Bedeutungskern von „öffentlicher Ordnung" im deutschen, französischen und englischen Recht zu suchen. Übersetzung wäre dann eine Frage des semantischen Transfers von der einen in die andere Sprache nach Maßgabe der gleichbleibend stabilen Bedeutung. „Vorausgesetzt wird dabei, daß man in letzter Instanz weiß, wie man Einheit und Identität einer Sprache genau und nach strengem Maß bestimmen kann: ihre Grenzen müssen eine Gestalt haben, über die sich entscheiden läßt."5 1. Das normative Konzept von Wörtlichkeit scheitert Den Griff zum Wörterbuch praktizieren Juristen auch innerhalb nationaler Rechtsordnungen. Aber schon dort wird die Leistung des Wörterbuchs zumeist falsch eingeschätzt. Es soll die Spracharbeit der Juristen von ihrem Legitimationsdruck erlösen, indem es die Grenzen legitimen Sprechens definiert. Aber es zählt nur Beispiele des Sprachgebrauchs auf und gibt so der Spracharbeit der Juristen zwar einen Plausibilitätsraum aber keine Entlastungsinstanz. Ein normatives Konzept von Wörtlichkeit liegt zwar der Erwartung der Juristen, aber nicht den existierenden Wörterbüchern zugrunde. Auch beim Übersetzen ist die Rolle des Wörterbuchs keine andere. Seine begrenzte Leistung wird nur sehr viel schneller sichtbar. Es liefert Nuancierungen und Plausibilitäten, aber es ermöglicht nicht, der „wirklichen" Bedeutung fremdsprachlicher Wörter und Sätze habhaft zu werden. Wenn man das Wörterbuch als Werkzeug zur technischen Aneignung einer fremden Sprache verwenden will, ist es überfordert. Gerade in der Übersetzungswissenschaft wird immer wieder gewarnt: „Die Übertragung einer fremden Sprache vollzieht sich nicht als Aneignung eines unbekannten Textes, sondern als Hineinversetzen in den anderen Bedeutungshorizont."6 Die Übersetzung kann und darf sich nicht dadurch aus ihrer „Verantwortung für die Unberührbarkeit und Fremdheit der anderen Sprache" stehlen, daß sie sich mit aller darin liegenden Gewalt das übersetzte Werk mittels lexikalischer Äquivalenzen7 5 J. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/M. 1997, S. 119ff., 128. 6 L. Heidbrink, Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S.349ff., 355. 7 Siehe H.-J. Frey, Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 37 ff., 57 gegen „eine Übersetzungstheorie", „die auf der Forderung nach Äquivalenz beruhte. Äquivalenz wäre nur vom Zeichen zu verlangen, das auf etwas von ihm Unabhängiges verweist und daher ohne Beeinträchtigung des Bezeichneten ersetzbar ist." Eine solche Theorie vertritt etwa R. Jakobson, Grundsätzliche Übersetzbarkeit: Linguistische Aspekte der Übersetzung, in: ders. y Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1981, Frankfurt/M. 1988, S. 481 ff. Nach ihm ist eine „Übersetzung im eigentlichen Sinne" „eine zwischensprachliche Übersetzung und deutet sprachliche Zeichen mittels einer anderen Sprache." Zur Kritik J. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 119ff., 128 f.; hier zit. 128.

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entlang des Wörterbuchs gefügig macht.8 Es hat der Übersetzung überhaupt nicht um „Entsprechungen von Wörtern" zu gehen, sondern einzig um die Entsprechung „zum gesagten Wort (in) der anderen Sprache, was immer die spezifische Erfahrung und Denkungsart (in) der anderen Sprache einschließt."9 Das Wörterbuch mag dem „Übersetzen" 10 zwar auf den „Sprung über den Graben" helfen, „der die fremde von der eigenen Sprache trennt." 11 Denn immerhin läßt sich das Wörterbuch, „das einsprachige Diktionär wie auch das mehrsprachige, in der Regel zweisprachige Wörterbuch", „als die möglichst vollständige und möglichst strukturierte Sammlung aller Verständnis- und Übersetzungsmöglichkeiten ansehen."12 Den Sprung aber muß die Übersetzung immer erst selbst mit jedem Wort tun. Sie muß immer wieder erst zum „Versetzen an das andere Ufer, das kaum bekannt ist", ansetzen als einem „Über-setzen in den anderen Denkraum". 13 Denn letztlich kann die Übersetzung nicht auf das Wörterbuch bauen, sondern dieses verdankt sich umgekehrt dem Vertrauen in sie. „Die Wörterbücher sind erst dann und allein da möglich, wo ein verläßliches Übersetzen durch gesicherte, eingeführte und vertraute Äquivalenzen gewährleistet i s t - u n d selbst diese Gewährleistung kann sich sehr schnell als Schein erweisen". 14 Als Brückenschlag taugt das Wörterbuch, wie im übrigen jedes derart „gesicherte" Wissen um Sprache ohnehin nur, solange sich nicht jenes Befremden mit Macht einstellt, das der Königsweg zu einem Verständnis des zu übersetzenden Textes in 8

Zur „Unmöglichkeit der Äquivalenz" H.-J. Frey, Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt, in: A.Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 37 ff., 57; zur „Defizienz lexikalischer Translation" L. Heidbrink, Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: ebd., S. 349 ff., 353 und 368 gegen Übersetzung als „eine Assimilation des Fremden". Weiter H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: ebd., S. 263 ff., 321 anhand von Lacan, dessen „Suche nach »Äquivalenzen'" in seinem Übersetzungsbemühen gerade „in keinem Augenblick eine Suche nach Einszu-eins-Entsprechungen" ist. Allgemein zur „alles gleich machende(n) Gewalt der Sprache, die sich am krassesten im Wörterbuch zeigt" L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt/M. 1984, S.445 ff., 480. Allerdings zugleich auch zu einer der Übersetzung notwendigen „Gewaltsamkeit" L. Heidbrink, a. a. O., 357 f. 9 H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 263 ff., 271. Zum Zusammenhang von Sprache und „Versionen und Sichtweisen" N. Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1990, S. 13ff. 10 L. Heidbrink, Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 349ff., 363 bestimmt dies als eine Übersetzung, die noch „an den Vorrang des Eigenen gebunden (bleibt)", als „ein Über-setzen in die geschichtliche Überlieferung der jeweils eigenen Sprachtradition". 11 Ebd., S. 357. 12 H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 263 ff., 264. 13 L. Heidbrink, a. a. O., S. 363; sowie insges. S. 356ff. Zum Bild M. Heidegger, Heraklit, Gesamtausgabe Bd. 55, Frankfurt/M. 1979, S.45. 14 H.-D. Gondek., a.a.O., S.271.

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seiner Eigenart eines Originals ist. 15 Diese Eigenart erschließt sich nur einem „unangeleiteten Hinblicken" als eben dem,„Blicksprung' in den fremden Bedeutungshorizont" 16 über die Grenzen und Begrenztheit eigener Sprache hinweg.17 Ein Verständnis der Eigenart des zu übersetzenden Textes verlangt so, „daß der blinde Eigensinn des gewöhnlichen Meines gebrochen und verlassen werden muß". 18 Im Dienste eines solchen Verständnisses und Sinns für das Original wird dies der Übersetzung geradezu zur „Aufgabe". „Wenn einst vertraute Wörter, eines nach dem anderen unverständlich fremd werden, wenn sie sich rücksichtslos gegen ihre althergebrachten, herkömmlichen Bedeutungen wenden (...), dann ist dies letztendlich die Funktion der Übersetzung." 19 Es ist zumindest der „Weg", auf den sich die Übersetzung bringen muß. Dieser Weg „folgt keinen festen Routen, sondern muß seinerseits erblickt werden." 20 Die Übersetzung kann zu ihrem dem Original geschuldeten Verständnis21 nur jenseits der Bahnen eines durch Wörterbuch und Sprachkenntnis „eingeführten und vertrauten" semantischen Transfers kommen.22 Die taugen nur so lange als Leitlinie, solange die „tiefe(n) Beunruhigungen" 23 stillgehalten werden können, denen die Übersetzung ausgesetzt ist und die sie treiben. 24 Hier nun nicht solche, „die durch ein Mißdeuten unserer Sprache entstehen".25 Sondern ganz im Gegenteil solche, die aus einem immer „tieferen" Verständnis jener Eigenart des Originals herrühren, als die die andere zu „einer gänzlich fremden Sprache" 26 gerät. Beunruhigungen indes, die „so tief in uns (wurzeln) wie die Formen unserer Sprache und ihre Bedeutung ist so groß wie die Wichtigkeit unserer Sprache".27 15

Vgl. ebd., S. 273 f. L. Heidbrink,, a.a.O., S.355f. 17 Zum „übersetzerische(n) Grenzgang zwischen den Sprachen" A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders. (Hrsg.), S. 396ff., 420. Weiter auch J. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: ebd., S. 119 ff., 145. 18 L. Heidbrink, a. a. O., S. 353. Heidbrink greift hierM. Heidegger, Hölderlins Hymne ,Der Ister', Gesamtausgabe Bd. 53, Frankfurt/M. 1984, S. 75 f. auf. Weiter auch P. de Man, Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers", in: Hirsch (Hrsg.), a. a. Ο., S. 182 ff., 201 zur Erschütterung der „Stabilität des Alltäglichen" anhand eines scheinbar so lapidaren Beispiels wie das Übersetzen von dtsch. Brot in frz. pain. 19 C. Jacobs, Die Monstrosität der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 166ff., 167. 20 L. Heidbrink, a. a. O., S. 355. 21 Zu „Schulden" und „Schuld" der Übersetzung J. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 119ff., 140ff. 22 Vgl. L. Heidbrink, a. a. O., S. 358 f. 23 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, 16

§111.

24 Vgl. allgem. A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders. (Hrsg.), a.a.O., S.396ff., 421 im Anschluß an Lévinas. 25 L. Wittgenstein, a. a. Ο., § 111. 26 Vgl. ebd., §206. 27 Ebd., §111.

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Der genuinen Sprachlichkeit von Recht jedenfalls muß die Notwendigkeit zu übersetzen so erst einmal Schwierigkeiten machen. Sie droht buchstäblich ins „Bodenlose" zu fallen. 28 Recht wird mit Sprache gemacht und ist ohne sie nicht zu haben, „sofern Recht überhaupt nicht anders von Bedeutung sein kann denn in der Sprache."29 Vor allem aber ist Recht in seiner Bedeutung immer erst anhand seines Textes zur Sprache zu bringen. Recht ist an den „Buchstaben des Gesetzes" gebunden und aus ihm zu schaffen. 30 Das Gesetz steckt den Rahmen ab, in dem jeglicher Anspruch auf Recht erst auftreten und sich als ein solcher rechtfertigen kann.31 Es „ist, um zum Recht zu werden, unausweichlich auf Sprache angewiesen."32 Die Sprache ist aber in der Situation einer Mehrsprachigkeit von Recht „ausgesetzt".33 Sie steht erst als Übersetzung in Erwartung. Darin liegt die babylonische Situation des EuGH. Das vorgeblich feste Vertrauen in die ruhige Architektonik der einzigen Sprache, von den nationalen Gerichten häufig bemüht, ist ihm durch die Mehrsprachigkeit von vornherein entzogen. „Der ,Turm(bau) zu Babel' gestaltet nicht bloß die irreduktible Vielfalt der Sprachen, er stellt auch ein Unvollendetes aus, die Unmöglichkeit des Vollendens, des Totalisierens, des Sättigens, die Unmöglichkeit, etwas zu Ende zu bringen, etwas zu vollbringen, was sich dem Bereich des Aufbauens zuordnen ließe, den Bereich der Konstruktionen, die Architekten besorgen, den Bereich des Systems und der Architektonik."34 Welchen Weg findet der EuGH aus dem babylonischen Turm? Wie stellt er sich im Fall der Frage nach öffentlicher Ordnung und public policy dem Problem des Unvollendeten, Unvollständigen der sprachlichen Konstruktionen? Der EuGH formuliert in seiner Entscheidung Pierre Boucherau folgenden Leitsatz: „ l . D i e verschiedenen sprachlichen Fassungen einer Gemeinschaftsvorschrift müssen einheitlich ausgelegt werden; falls die Fassungen voneinander abweichen, muß die Vorschrift daher nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört." 28 Vgl. mit Verweis auf Heidegger H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: A. Hirsch (Hrsg.) S. 263 ff., 281. Mit Verweis auf Benjamin auch J. Derrida , a. a. O., S. 161. 29 R. Christensen/M. Sokolowski , Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Zeitschrift für Semiotik, i. Vorb., Mss. 17. 30 Vgl. F. MüllerlR. Christensen/M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997, S. 80f. Ansonsten umfassend zum Problem der Gesetzesbindung R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, hier v. a. S. 18 ff., 68 ff., 269 ff. 31 Vgl. F. MüllerlR. Christensen/ M. Sokolowski, a. a. O., S. 80. 32 Ebd., S. 38. 33 Vgl. Α. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/M. 1997, S. 396ff., 421 im Anschluß an Lévinas. 34 Ebd., S. 119.

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Die Aufnahme des Problems der verschiedenen Sprachfassungen in einen Leitsatz weist darauf hin, daß sich das Gericht sprachlicher Probleme bewußt ist und diese auch in einer besonderen Weise zu lösen versucht. Nach der Formulierung des ersten Leitsatzes scheint das Gericht davon auszugehen, daß es einerseits Fälle gibt, in denen verschiedene sprachliche Fassungen die gleiche Bedeutung haben können, welche von den Fällen unterschiedlicher Bedeutungen abgegrenzt werden können. Damit wird vermieden eine sprachliche Fassung als die allein richtige zu qualifizieren. Zu einer Ontologisierung kommt es nicht. Am Ende des Auslegungsprozesses soll eine gemeinschaftlich einheitliche Bedeutung vorliegen. Dem Gericht ist damit bewußt, daß es die Bedeutung festsetzt. Das Problem der Mehrdeutigkeit versucht das Gericht daher auf einer anderen Stufe zu lösen: es zieht die Systematik und den Zweck zu rate. Die Vorstellung einer von der Sprache normativ vorgegebenen Bedeutung ist damit verlassen. Auch der 2. Leitsatz bestätigt diese Annahme. Danach kann der Sinn eines Wortes - hier der Maßnahme - kontextbezogen festgesetzt werden. Vorliegend liefert Artikel 3 diesen Kontext. Diese im Hinblick auf Sprache durchaus reflektierte Argumentation zeigt sich auch im weiteren (S. 2002): „Die Kommission untersucht dann den Ausdruck »public policy', der im englischen Text der oben erwähnten Rechtsvorschriften den Ausdrücken ,ordre public' ,ordine pubblico', »öffentliche Ordnung'... in den übrigen Fassungen dieser Verschilften entspricht; sie gelangt zu der Auffassung, daß dieser Begriff in Art. 48 des EWG-Vertrages in öffentlich-rechtlichem Zusammenhang gebraucht wird und deshalb nicht dahingehend ausgelegt werden dürfe, daß er ein nahezu unbeschränktes Ermessen einräume. Eine solche Auslegung sei auch weder mit den Art. 8, 9, 10 und 11 der Konvention zum Schutz der Menschenrecht und Grundfreiheiten (...) noch mit Art. 2 des Protokolls zu dieser Konvention vereinbar (...), die vorschreiben, daß die Ausübung der in den erwähnten Artikeln gewährleisteten Rechte keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden dürfe als denjenigen, die ,in einer demokratischen Gesellschaft' im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit »notwendig sind'. Ebenso ergebe die Rechtsprechung des Gerichtshofes, daß der Begriff der öffentlichen Ordnung im Zusammenhang der fraglichen Bestimmungen genauer bestimmt sei, als es sich auf den ersten Blick aus dem englischen Ausdruck »public policy' ergebe."

Der erste Teil der Argumentation der Kommission versucht aufzuzeigen, daß es sich bei der „public policy" um einen Begriff handelt, dessen Referenzbereich dem der anderssprachigen Fassungen gleicht. Jedenfalls hinsichtlich ihrer Abstammung aus dem öffentlichen Recht. Daraus schließt die Kommission, daß ein ganz bestimmter Referenzbereich, der der eingeschränkten Ermessensausübung, einheitlich in den einzelnen Rechtsordnungen sei. Die Kommission führt dann weiter aus, daß der Begriff aufgrund systematischer Erwägung und vorangeganger Rechtsprechung des EuGH näher bestimmbar sei. Zur ersten Frage führt die Kommission aus: „Nach Ansicht der Kommission verbietet die enge Auslegung von Ausnahmen, durch die Rechte eingeschränkt werden, welche einer beliebigen Person durch den EWG-Vertrag oder durch hierzu ergangene Ausführungsvorschriften eingeräumt worden sind, einerseits eine

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weite Auslegung des Begriffs »öffentliche Ordnung', die die Rechte der einzelnen erheblich beschränken würde, und andererseits eine enge und allzu wörtliche Auslegung des Ausdrukkes ,Maßnahmen', die einschränkendes einzelstaatliches Handeln, das die Freizügigkeit beschränken könnte, außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie ließe.

Eine vergleichende teleologische Auslegung des Art. 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie bestätige, daß der Ausdruck ,Maßnahmen' weit ausgelegt werden müsse. Aus Art. 2 Abs. 1, insbesondere aber aus der Präambel der Richtlinie und aus Art. 56 des EWG-Vertrages ergebe sich, daß man unter Forschriften' oder ,Maßnahmen' alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu verstehen habe." Zunächst rekurriert die Kommission hier auf einen Argumentationssatz, der zirkulär ist: Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen. Wie weit die Vorschriften reichen, muß erst festgestellt werden. Die Rede von einer allzu wörtlichen Auslegung von Ausdrücken läßt wieder an eine sprachlich klar umrissene Bedeutung denken. Bei der vergleichenden teleologischen Auslegung behauptet sie einen Telos der genannten Vorschriften, ohne diesen näher darzulegen. Diese Vorgehensweise kann als dynamische Auslegung begriffen werden. Nicht am Wortlaut kleben, sondern die Bedeutung durch den Zweck des EWG-Vertrages bestimmen, der hier eine möglichst uneingeschränkte Freizügigkeit gewährleisten soll. Zur dritten Frage: „Zum Begriff der öffentlichen Ordnung bemerkt die Kommission zunächst, daß jeder Mitgliedstaat seine eigene Auffassung von der öffentlichen Ordnung habe und daß es bisher nicht möglich gewesen sei, eine Definition im Rahmen der Gemeinschaft auszuarbeiten."

Hier äußert die Kommission, daß der Referenzbereich der öffentlichen Ordnung in den einzelnen Staaten unterschiedlich ist. Erklärungen der Metropolitan Police zur dritten Frage: „Der in Artikel 48 Absatz 3 gebrauchte Begriff »öffentliche Ordnung' (public policy) sei weiter als der der öffentlichen Sicherheit. Anderenfalls wäre es nicht nötig gewesen, ihn ausdrücklich zu erwähnen. ... [man] könnte ihm vielmehr eine dem Begriff des öffentlichen Wohls (public good) angenäherte Bedeutung geben."

Hier wird innerhalb der selben Sprachfassung argumentiert. Ein anderer Wortlaut habe eine andere Bedeutung. Eine Argumentation, die man bei Übersetzungen nicht zu finden scheint, sofern die Übersetzung nach funktionaler Äquivalenz strebt. Dennoch wurde hier wohl eine wörtliche (direkte) Übersetzung vom französischen „ordre public" ins Englische vorgenommen. Der Ähnlichkeit der Schreibweise war wahrscheinlich hierfür die Ursache. Konsequent wäre es eigentlich, die Bezeichnung „Übersetzung" zu vermeiden. Jede sprachliche Fassung ist schließlich für sich authentisch. Es müßte also eine funktionale Gleichwertigkeit der verschiedenen Sprachfassungen bestehen.

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Erklärung der Regierung des Vereinigten Königreichs S. 2005 zur dritten Frage: „...Eine genauere Definition des Begriffes der öffentlichen Ordnung sei weder möglich noch nötig, da immer die Umstände des Einzelfalls maßgebend seien."

Diese Aussage erfolgt weniger aus Einsicht als aus dem einfachen Grund, daß die Regierung ihren Spielraum nicht einschränken möchte. Entscheidungsgründe des Gerichts: „Die Regierung des Vereinigten Königreiches... trägt vor, eine Entscheidung eines nationalen Gerichts könne keine »Maßnahme' (measure) im Sinne des Artikel 3 darstellen."

In diesem Zusammenhang macht sie geltend, die Identität des englischen Ausdrucks ,measures4, der sowohl in Art. 2 als auch in Art. 3 verwendet werde, zeige, daß dieser Ausdruck in beiden Fällen die gleiche Bedeutung haben müsse; aus der ersten Begründungserwägung zur Richtlinie ergebe sich, daß er in Art. 2 lediglich Rechts- und Verwaltungsvorschriften, nicht aber gerichtliche Entscheidungen betreffe. Ein Vergleich der verschiedenen sprachlichen Fassungen der genannten Bestimmungen zeigt, daß die anderen Fassungen mit Ausnahme der italienischen in den beiden Artikeln verschiedene Ausdrücke verwenden, so daß man aus der verwendeten Terminologie keine rechtlichen Folgerungen ziehen kann. „Die verschiedenen sprachlichen Fassungen einer Gemeinschaftsvorschrift müssen einheitlich ausgelegt werden; falls die Fassungen voneinander abweichen, muß die Vorschrift daher nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört." Der EuGH erkennt zwar, daß der Referenzbereich der öffentlichen Ordnung in den Ländern verschieden ist, gibt aber gleichzeitig an, daß ein Teil dieses Bereiches durch das Gemeinschaftsrecht einheitlich behandelt werden muß. Insgesamt ergibt sich aus der Entscheidung folgendes: Ausgangspunkt der Spracharbeit des EuGH sind die Gemeinschaftstexte. Und zwar nicht nur die sprachliche Fassung, bei welcher sich der Rechtsstreit entzündet hat, sondern sämtliche Fassungen der Gemeinschaftssprachen. Jede sprachliche Fassung ist im juristischen Sinne authentisch. Der nationale Richter, der das Gemeinschaftsrecht auszulegen hat, kann nicht nur von der sprachlichen Fassung seines Landes ausgehen, sondern hat theoretisch sämtliche Fassungen zu berücksichtigen. Dabei ist die Gleichberechtigung der Sprachen für die Konkretisierung nicht nur als diplomatische Floskel behauptet. Vielmehr ist sie für die Konkretisierung eine tatsächliche Stütze. Auch ist sich der EuGH darüber im klaren, daß er die Bedeutung seiner Texte nicht einfach erkennt, sondern festsetzt.

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2. Die magische Sprache der Propositionen steht nicht zur Verfügung

Das von der grammatischen Auslegung nationaler Gerichte häufig verwendete Konzept von Wörtlichkeit geht davon aus, daß Wörterbücher die Grenzen legitimen Sprechens definieren. Dieses normative Konzept von Wörtlichkeit scheitert in der Situation offensichtlicher Mehrsprachigkeit. Das Wörterbuch nimmt den Juristen das Legitimationsproblem nicht ab. Aber vielleicht gibt es trotz der Verschiedenheit der Sprachen einen gemeinsamen gedanklichen Gehalt, der eine technische Lösung des Übersetzungsproblems erlaubt. Dies hätte wiederum den Vorteil, die Juristen von ihrer Verantwortung zu entlasten. Eine bestimmte Vorgehensweise des EuGH bei Auslegungsproblemen scheint zunächst in diese Richtung zu deuten. Es handelt sich um die „Gemeinsame-Nenner-Regel". Danach findet die Auslegung Vorrang, die sich auf die gleichen Bedeutungsvarianten der verschiedensprachigen Wortlaute stützen läßt. Enthält der Wortlaut einer Fassung die Bedeutungsvarianten a und b und eine andere Fassung die BedeutungsVarianten b und c usw., so ist die gemeinsame Bedeutungsvariante b vorzuziehen. Der Vorteil dieser Regel besteht darin, daß jeder Wortlaut nicht nur formell beim Konkretisierungsverfahren, sondern inhaltlich, das heißt, mit der gemeinsamen Bedeutungsvariante, berücksichtigt wird. Wenn man die „Gemeinsame-Nenner-Regel" als Bezug auf die den verschiedenen Sprachen gemeinsamen geistigen Gehalte oder Propositionen versteht, dann wäre Übersetzen ein rein technisches Problem. Diesen Eindruck von der Übersetzung als Technik mag „ein ungeheurer Fundus an Übersetzungserfahrung und -wissen (niedergelegt in Wörterbüchern, Nachschlagewerken aller Art und neuerdings in Computerprogrammen, vor allem aber in den wirkungsmächtigen Übersetzungen (...) und zunehmend der Spezialliteratur zum Vorgang und zu den Zielen des Übersetzens)" erwecken, den eine lange Tradition geschaffen hat.35 Nach der sich darin niederschlagenden Auffassung ließe sich immer ein Bedeutungsgehalt erkennen, der, beispielsweise in Form von Propositionen, einem übersetzten Satz und seiner Übersetzung gemeinsam wäre. Übersetzungsarbeit beschränkte sich auf den Fleiß, zum Transfer der Sprachen die Signifikanten füreinander auszutauschen. Kontrolliert und sicher bei der Hand genommen wäre dieser Austausch durch die von ihm unberührt bleibende gemeinsame Proposition. Dies mag als alltägliche Erfahrung des Übersetzens einleuchten. Allerdings löst sich diese Plausibilität in Luft auf, sobald die ebenso bescheidende wie naheliegende Frage gestellt wird, was denn nun diese Propositionen sind. Sind sie geistige, intentionale Entitäten, logische Konstrukte, mentale Bilder? Blitzschnell füllen sich die Regale der Bibliotheken. Um der gemeinsamen Proposition habhaft zu werden, muß sie jedenfalls formulierbar sein. Dies kann nur in einer Sprache geschehen. Die Annahme einer gemeinsamen Bedeutung geleitet also die Übersetzung keineswegs auf die sicheren Bahnen eines kleinen Grenzverkehrs zwischen den Sprachen. Sie ver35

H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: A. Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/M. 1997, S. 263 ff., 264. 9 Müller/Wimmer

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mehrt die Teilnehmer. Denn auch die Sprache der Propositionen w i l l übersetzt und damit verstanden sein. „Somit müsste ich eine dritte Sprache einführen, um die Wahrheit der Proposition, die von der ersten und zweiten transportiert wird, zu bestätigen. Doch diese Operation könnte nur mit der Einführung einer vierten zu den ersten dreien gewährleistet werden und so weiter. Ein anderer Turm von Babbei, eine collage de farce."

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Die Theorie der Propositionen liefert also dem Übersetzen kein sicheres Gerüst, sondern führt i m Gegenteil zu der Folgerung: „Die Schwierigkeit des Übersetzens (läßt sich) niemals als eine bloß technische erfassen". 37 Spätestens mit der Provokation der Quineschen These von der radikalen „Unbestimmtheit der Übersetzung" 38 gerät diese dem Recht just in dem Moment zum Grundproblem, in dem es für seinen Einsatz 39 zu seinem Text zu finden hat. 40 Recht ist nicht allein schon mit den gesetzlichen Regelungen greifbar und gegeben. Recht ist immer wieder erst durch die Bearbeitung von derart in Geltung gesetzten Texten zur Norm zu erzeugen. 41 Davor ist mit einer Mehrsprachigkeit von Recht aber die „Aufgabe" des Übersetzens 42 gesetzt. Durch sie wird die Arbeit am Text des Rechts 43 unmittelbar in das Problem der Sprache verstrickt. „Übersetzung rührt an das Ganze der Sprachen." 44 Sie setzt die Erzeugung von Recht aus dem 36

D.B. Allison , Die Dijférance

der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 375ff.,

382. 37

L. Heidbrink, Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S.349ff., 353. 38 W. V. Quine, Unterwegs zur Wahrheit, Paderborn 1995, S. 62ff. Siehe ursprüngl. ders., Wort und Gegenstand (Word and Object), Stuttgart 1980, S.59ff. Dazu P. Gochet, Quine zur Diskussion, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1984, S.79ff. 39 Dazu R. Christensen/M. Sokolowski, Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Zeitschrift für Semiotik, i. Vorb. 40 Zum Begriff des Textes in diesem Zusammenhang R. Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gesetzespositivistischen Textmodells, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S.47ff., 52 ff. Weiter F. Müller, Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995-1997), Berlin 1997, S.55ff. Aus linguistischer Sicht D. Busse, Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, Tübingen 1992, S.41 ff. 41 Ausführlich dazu F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., Berlin 1997, Rnn. 162 ff. 42 Siehe grundlegend J. Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/M. 1997, S. 119 ff. Dazu auch A. Hirsch, Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas, München 1995. 43 Zur juristischen Textarbeit F. Müller, Rechtstext und Textarbeit (1996, mit Ralph Christensen), in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995-1997), Berlin 1997, S. 71 ff.; ders JR. Christensen/M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997. 44 H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S.263ff. 263, 321.

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dann allerdings in seiner Bedeutung dafür 45 bindenden Normtext unvermittelt der „Sprachlichkeit von Sprache" 46 aus. „Übersetzung ist eine Beziehung von Sprache auf Sprache, keine Beziehung auf eine aussersprachliche Bedeutung, die kopiert, paraphrasiert oder nachgeahmt werden könnte."47 Tatsächlich übernimmt der EuGH aber mit der „Gemeinsamen-Nenner-Regel" gerade nicht die Theorie der Propositionen. Danach müsste er ja nach einem gemeinsamen Minimalgehalt suchen. Das macht das Gericht nicht. Das wird auch in der Methodenliteratur zur Arbeit des EuGH klar gesehen: „Verwenden die Verträge in den verschiedenen offiziellen Fassungen unterschiedliche Begriffe, ist nicht nach dem gemeinsamen Minimum der Vertragsbedeutung zu suchen; die Möglichkeit der Vertragsauslegung erstreckt sich vielmehr, da der Vertragswille auf alle offiziellen Fassungen gerichtet ist, auf den ganzen Inhalt der Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen."48 Diese Einschätzung bestätigt sich auch in der Praxis des Gerichts. Das Gemeinsame-Nenner-Verfahren erfolgte etwa in der Hälfte von 45 zwischen 1970 und 1980 entschiedenen Fällen. Dieses Verfahren wird vom EuGH besonders geschätzt. Dadurch wird die Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Wortlaute in besonderem Maße, nämlich auch im Ergebnis, berücksichtigt. Das Gemeinsame-Nenner-Verfahren hilft aber bei einer echten Bedeutungskonfrontation nicht weiter. Dies gilt für ein Drittel der 45 untersuchten Fälle, bei denen der EuGH echte Bedeutungsdivergenz festgestellt hat. Dann schlägt er einen anderen Weg ein. Er setzt eine der Bedeutungsvarianten mit Hilfe anderer Auslegungselemente fest. Dabei scheint es nicht darauf anzukommen, ob diese Bedeutungsvariante auch in den anderssprachigen Wortlauten möglich ist. Von der Notwendigkeit getrieben, die Bedeutungsdivergenz zugunsten einer einheitlichen Auslegung zu überwinden, verschiebt sich die Rechtfertigung der Entscheidung durch die innersprachlichen Bedeutungen auf die Rechtfertigung der Festsetzung einer bestimmten Bedeutungsvariante durch andere Auslegungselemente. Zur Veranschaulichung soll das Urteil des EuGH vom 12.7.1979 in der Rechtssache 9/79 dienen.49 Die deutsche Klägerin erhielt von dem Raad van Arbeid Hengelo Zahlungen einer Familienbeihilfe nach niederländischem Recht. Diese Zahlung wurde aber ein45 Siehe hier zugunsten von zweitem zur „Differenz zwischen »Bedeutung haben' und ,νοη Bedeutung sein'" F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., Rn. 186. 46 Vgl. J. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., 159. 47 Ρ: de Man, Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers", in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 182ff., 192. 48 Albert Bleckmann, in: ders., Gemeinschaftsrecht: Das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften, Köln, 6. Auflage 1997, § 8, Rn.541. 49 EuGH Slg., S. 2718 ff. Diese Entscheidung wird sprachwissenschaftlich eingehender untersucht von P. Braselmann, Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: Gemeinschaftsrecht 1992, Heft 1, S.61 ff. *

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gestellt, weil der Ehemann der Klägerin in Deutschland berufstätig war und dort Kindergeld bezog. Der „Raad van Arbeid" vertrat nämlich die Auffassung, im niederländischen Text von Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 574/72 sei zwar von der ,echtgenote' (Ehefrau) die Rede, jedoch sei darunter auch der ,echtgenoot' (Ehemann) zu verstehen, was den Anspruch der Klägerin ausschließen würde. Der EuGH hatte also im Vorlageverfahren zu entscheiden, ob unter ,echtgenote' im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 574/72 auch ein Ehemann verstanden werden könnte. Bei einer innersprachlichen Konkretisierung der Bedeutung von ,echtgenoot' käme man aufgrund der bestimmenden Wirkung des grammatischen Auslegungselements nicht dazu unter einer Ehefrau auch einen Ehemann zu verstehen. Der geschlechtsspezifische Unterschied kann nicht überbrückt werden, denn diesem liegt gerade die sprachliche Unterscheidung der Wortlaute ,echtgenoot' und ,echtgenote' zugrunde. Es müßte, um auch den Ehemann zu erfassen, ein geschlechtsneutraler Begriff wie Ehegatte verwendet worden sein. Die Bedeutung der niederländischen Fassung wäre also Ehefrau und nicht Ehemann, selbst wenn sämtliche andere Fassungen den Ehemann einschließen. Bezieht man daher die gleichermaßen notwendige Verbindlichkeit der Wortlaute auf die festgesetzte Bedeutung innerhalb einer Sprachfassung, läge eine unlösbare Divergenz vor. Auch der EuGH stellt eine Bedeutungsdivergenz fest, sagt aber: „Die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung der Gemeinschaftsverordnungen verbietet es aber, diese Fassung für sich alleine zu betrachten, und zwingt dazu, die Vorschrift unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen."

Er nimmt dann einen Textvergleich vor. Das sieht so aus, daß er die anderen Sprachfassungen betrachtet und feststellt, daß die anderen Sprachfassungen den Ehemann umfassen. Schließlich ,bestätigt' er dieses Ergebnis durch das Ziel der Vorschrift. Der EuGH bedient sich also insbesondere der systematischen Auslegung. Damit scheint der EuGH jeden Wortlaut gleichermaßen in den Prozeß der Rechtskonkretisierung Eingang finden zu lassen. Eine inhaltliche Verbindlichkeit eines bestimmten Bedeutung ergibt sich aber nicht. Die Verbindlichkeit erstreckt sich darauf, die durch die normtextbezogenen Auslegungselementen ermittelte Bedeutungsvarianten einer Sprachfassung bei der weitergehenden Konkretisierung zu berücksichtigten. Die weitere Konkretisierung erfolgt nun auf einer gemeinschaftlichen Ebene4. Hier kann dann durch den Vergleich mit den BedeutungsVarianten der anderen Sprachfassungen eine Bedeutungsvariante konkretisiert werden. Die Konkretisierung durch den Textvergleich stößt allerdings da auf seine Grenzen, wo zwischen den Bedeutungsvarianten keine Übereinstimmung mehr besteht. Dann hilft der Vergleich der verschiedenen Fassungen nicht weiter. Hier ist für die Bedeutungsfestsetzung auf allen Fassungen gemeinsame systematische und teleologische Auslegungselemente zurückzugreifen. Die Wortlaute der jeweiligen Sprachfassung

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bieten insofern nur Bedeutungsvarianten, Plausibilitäten, die noch im Laufe der Konkretisierung auf eine bestimmte, gemeinschaftliche Bedeutung festgezurrt werden müssen. In vorliegenden Fall wäre dies der „Ehegatte", insbesondere aufgrund des Gleichheitssatzes. Wird mit dieser Vorgehens weise die rechtsstaatliche Grenzfunktion des Wortlautes übergangen bzw. wo kommt dieser noch zur Geltung oder wurde die niederländische Sprachfassung durch die Entscheidung des Gerichts vergewaltigt 50? Im vorliegenden Fall wäre die Wortlautgrenze innerhalb der niederländischen Fassung überschritten, wenn man allein diese für die Rechtskonkretisierung heranziehen würde 51. Die Wortlautgrenze ergibt sich im Gemeinschaftsrecht aber nicht mehr zwingend aus einer bestimmten konkretisierten Bedeutung einer Sprachfassung. Sondern erst auf einer weiteren Ebene nach Wahl einer der Bedeutungsvarianten mit Hilfe teleologischer Erwägungen. Die dadurch geschaffene Bedeutung stellt nun die Wortlautgrenze dar. Dies ist eine Konsequenz aus der Verbindlichkeit sämtlicher Wortlaute. Genauso wie innerhalb einer sprachlichen Fassung sich aus dem Wortlaut mehrere Bedeutungen ergeben können, bei denen man sich für eine Bedeutung entscheiden muß, geschieht dies auch im Gemeinschaftsrecht: Zunächst auf der innersprachlichen Ebene der einzelnen Sprachfassung und dann auf der gemeinschaftlichen Ebene4 aus den aus allen Sprachfassungen sich ergebenden BedeutungsVarianten. Damit läßt sich die Wahl einer Gemeinschaftsbedeutung nicht mehr unmittelbar auf einen bestimmten Normtext zurückführen. Vielmehr wird die Gemeinschaftsbedeutung in einem von den verschiedenen Sprachfassungen definierten Plausibilitätsraum festgesetzt. Mit der Anerkennung der verschiedener Bedeutungsvarianten, die sich aus den verschiedensprachigen Wortlauten ergeben, kann der EuGH seine Rechtsentscheidung nicht mehr in einem normativen Konzept von Wörtlichkeit verstecken. Er ist damit gezwungen, die Bedeutungsfestsetzung aus anderen Erwägungen herzuleiten. Die aktive Sprachnormierung, die er betreibt, hat er durch den Vorgang seiner Normierungstätigkeit nun zu rechtfertigen. Er muß die tragenden juristischen Sachgründe offenlegen. Unabhängig davon, ob der EuGH dies erkannt hat oder weil er sich nicht anders zu helfen weiß, da ja der Wortlaut wegen der Bedeutungsdivergenz nichts eindeutiges hergibt, greift er auf andere Auslegungselemente zurück. So erklärt er etwa auch im Leitsatz der Entscheidung ,Pierre Boucherau': „Falls die Fassungen voneinander abweichen, muß die Vorschrift daher nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört."

Sich auf diese Auslegungselemente zu stützen, entspricht den rechtsstaatlichen Anforderungen einer juristischen Methodik. 50

So Braselmann, a. a. O. S. 62. Würde es sich bloß um einen offensichtlichen Übersetzungsfehler handeln, so entfaltet dieser Wortlaut natürlich keine Grenzfunktion. Hierzu auch F. Müller, Juristische Methodik, Berlin 1997, Rnn. 304ff. 51

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Dabei ist zu beachten, daß die divergenten Bedeutungsvarianten weiterhin eine wichtige Rolle haben. Man kann nicht blind auf Systematik und Zweck zurückgreifen, die festgestellten Bedeutungsvarianten geben die Plausibilitätsräume vor, aus denen dann eine gemeinschaftliche Bedeutungsvariante ausgewählt werden kann. Diese Plausibilitätsräume entstehen zunächst aus der grammatischen Auslegung. Hierbei werden die herkömmlichen Verwendungsweisen der Begriffe auf ihren Alltags- oder Fachgebrauch untersucht und in ihren Kontext eingebettet. Allerdings ist bei der Bedeutungsbestimmung zu beachten, daß aufgrund der Funktion der Rechtstexte Zweckbestimmungen einfließen, die mit gängigen bedeutungstheoretischen Modellen nicht mehr erfaßt werden können52. Insbesondere kann sprachwissenschaftlich keine für die Rechtswissenschaft eindeutige Bedeutung ermittelt werden. Entscheidend ist daher nicht, ob Juristen tiefgründige philologische Untersuchungen vornehmen, sondern vielmehr, daß die angewandten normtextbezogenen Auslegungselemente rechtsstaatlich nachvollziehbar sind53. Sie stellen nur Untersuchungsrichtungen dar, die dazu dienen, Kontexte in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen54. Es geht nicht darum, das Unmögliche zu erreichen, und nach der positivistischen Vorstellung ein schon objektiv feststehende Bedeutung zu finden. Vielmehr muß der Jurist die Wahl einer der Bedeutungsvarianten und damit seine sprachnormierende Tätigkeit rechtfertigen. Entscheidend ist damit, daß die verschiedenen Auslegungselemente nicht einfach hintereinander gereiht werden und ihr argumentativer Wert im luftleeren Raum schwebt. Ihre Aufgabe besteht darin eine bestimmte Bedeutungsvariante zu rechtfertigen. Die anderen Auslegungselemente werden zwar vom EuGH meist nicht mit dem ausdrücklichen Zweck aufgeführt, eine bestimmte Bedeutungsvariante zu rechtfertigen. Insbesondere der Akt der konstitutiven Festsetzung wird nicht deutlich angesprochen. Häufig wird eher nur auf eine unterstützende Funktion der anderen Auslegungselemente hingewiesen. Aber jedenfalls wird die aktive Sprachnormierung 55 nicht mehr in einem normativen Konzept von Wörtlichkeit versteckt.

52 D. Busse, Rechtssprache als Problem der Bedeutungsbeschreibung. Semantische Aspekte einer institutionellen Fachsprache, in: Sprache und Literatur, 1998, Heft 81, S.24ff., 43. 53 Insoweit schlägt die linguistische Kritik an den sprachlichen Untersuchungen des EuGH bzw. der Generalanwälte bei P. Braselmann, Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: Gemeinschaftsrecht 1992, Heft 1, S. 55 ff., 73. nicht durch. 54 R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, Berlin 1989, S.263. 55 R. Wimmer, Zur juristischen Fachsprache aus linguistischer Sicht, in. Sprache und Literatur, 1998, Heft 81, S. 8 ff., 20.

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3. Die rechtliche Entscheidung wird in der Sprache sichtbar

Das Problem der Mehrsprachigkeit läßt sich nicht technisch lösen. Weder das Wörterbuch noch ein gemeinsamer geistiger Gehalt der europäischen Sprachen garantieren einen Austausch von Sätzen nationaler Währung gegen Europropositionen. Wenn es aber keinen automatischen Transfer zwischen den Semantiken des nationalen Rechts gibt, was heißt dann Übersetzen im Recht? Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten zum Problem der Übersetzung in der Literatur, der Wirtschaft und sogar der Religion. Nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ findet der Interessierte schnell eine ausbaufähige Grundlage. Gerade im Bereich des Rechts mit seinen großen gesellschaftlichen und politischen Relevanz fehlt eine solche Basis leider fast völlig. 56 Weder die Übersetzungswissenschaft 57 noch die Rechtstheorie58 haben dieses Problem bisher aufgenommen. Dieser Mangel wird im Bereich des Gemeinschaftsrechts zum echten Problem: „Mit der Öffnung des Binnenmarktes seit dem Jahr 1993 streben die Länder der EG einer gemeinschaftlichen Wirtschaft zu und eine symbolische Einheitswährung sowie eine gemeinschaftliche Flagge sowie ein Gemeinschaftsgefühl bestehen bereits;- doch was die Sprache anbetrifft, da trägt die Gemeinschaft ein Harlekinskostüm. Die Völker der Gemeinschaft sprechen neun verschiedene Sprachen, es fehlt die Vorherrschaftsstellung einer Sprache, wie sie sie im Römischen Imperium von der Antike bis zum Beginn der Neuzeit die lateinische hatte. Und obwohl die EG bereits ihre rechtliche Strukturierung besitzt, die sich in ihren Institutionen, internationalen Verträgen und Gerichtsentscheidungen für die Gemeinschaft darstellt, und obwohl diese Struktur gerade das bürgerliche Leben in der Gemeinschaft in seiner Osmose des Zusammenwachsens stützt, stellt sich immer mehr das Problem der Übertragung von Rechtstexten der Gemeinschaft in die Sprachen der einzelnen Staaten als vorrangig heraus. Das ist ein ganz neues und in sich widersprüchliches Ereignis der europäischen Rechtskultur: Nach dem Aussterben des Lateinischen als Mittler der Sprache und des Rechts - nur in der katholischen Kirche blieb das Erbe erhalten - , fehlt jetzt zum ersten Mal die Übereinstimmung von Rechtskultur und ihrem spezifischen Ausdrucksmittel" 59. Erschwert wird dieses Problem noch durch die methodenbezogenen Normen des Gemeinschaftsrechts, welche eine Hierarchisierung der Sprachen verbieten. Denn 56

Vgl. dazu Vittorio Frosini, Gesetzgebung und Auslegung, Baden-Baden 1995, S. 130. Vgl. dazu W. Wilss, Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden, 1977 oder G. Mounin, Die Übersetzung. Geschichte, Theorie, Anwendung, 1968, der dem Rechtsproblem immerhin eine Seite widmet. Sowie F. M egale, Il traduddore di libri nel diritto d'autore italiano in: Diritto e società 1992 Nr. 3, S. 521 ff. 58 Mit der rühmlichen Ausnahme von Vittorio Frosini, Gesetzgebung und Auslegung, Baden-Baden 1995, S. 128 ff. 59 Ebd., S. 128. 57

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damit ist gleichzeitig geboten, den Eigenwert der jeweils involvierten Sprachen auch in der Situation juristischer Entscheidung zu respektieren. Diese Forderung ist in der Jurisprudenz als explizite Norm neu, aber zumindest in der Übersetzungswissenschaft anerkannt. Profan 60 liegt der der Übersetzung auferlegte Respekt vor der „Würde der Sprache" in der für sie essentiellen Forderung des „Originals", das nach ihr verlangt und das sie aufgibt. 61 Es ist dies die unumstößliche Forderung 62 des übersetzten Textes und Werkes, mit der Übersetzung sein „Fortleben" und mehr noch sein „Überleben" in deren Sprache zu sichern und zu gewährleisten.63 Die damit dem Original geschuldete „Treue", in der sich die Übersetzung in ihrem Idiom selbst verleugnen muß 64 , konstituiert die ganze Moral 65 und Verantwortung 66 von Übersetzungsarbeit. Die Übersetzung hat sich daran messen zu lassen, ob es ihr gelingt „in ihrer eigenen Sprache das Echo des Originals erwecken." 67 Das heißt nun nicht etwa, daß sich die Übersetzung in der Rekapitulation des Originals erschöpfen würde oder daß ihr das auch nur möglich wäre. Sie „ist keine Wiederholung des Originals, sondern das Erwecken eines Echos ihrer selbst."68 Als schlichte „Wiedergabe", als reine „Darstellung" oder gar als bloßes „Bild" oder „Abbild" 69 würde die Übersetzung von vornherein den Anspruch des übersetzten Werkes und Textes auf eine sprachbildende70 und -schöpferische Leistung verfeh60 Siehe ansonsten J. Derrida , Theologie der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. Ο., S. 15 ff., 33 f.; ders., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: ebd., S. 119ff., 161 ff. Weiter auch C: Jacobs, Die Monstrosität der Übersetzung, in: ebd., S. 166 ff., 174ff.; A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ebd., S. 396 ff., 400 ff. 61 Zur Übersetzung als „(Er)fordern" durch das „Original" „nicht als Instanz, die ihre Empfänger und Übersetzer hervorbringt, sondern die, indem sie ein Gesetz aufstellt, solche fordert, erfordert, verlangt oder befiehlt" J. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 119ff., 136f. 62 J. Derrida , a. a. O., S. 136, 138 u. ö. spricht unmißverständlich von einem „Gesetz". 63 W. Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Schriften, Band IV. 1, Frankfurt/M. 1972, S. 10f. Im Anschluß daran/. Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 119ff., 134ff. WeiterP. de Man, Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers", in: ebd., S. 182ff., 198 f. 64 A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders., A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 396ff., 397. Zur „Schuld des Übersetzers" in diesem Zusammenhang auch J. Derrida, a. a. O., S. 136ff. 65 Zur „Ethik der Übersetzung" A. Hirsch , a. a. O., S.419ff. 66 Vgl. ebd., S.406f. 67 C. Jacobs, Die Monstrosität der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.) S. 166ff., 172. Siehe auch W. Benjamin, a. a. Ο., 1972, S. 16. 68 Ebd., S. 172. 69 Genau dagegen / . Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 119ff., 136. 70 Zur Reflexion auf das Bildungsmoment, „das nicht von dem zu trennen ist, was man den Imperativ der Übersetzung, die Aufgabe des Übersetzens, das Übersetzen-Müssen zu nennen wohl berechtigt wäre" J. Derrida, Theologie der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 15 ff., hier 16.

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len. Durch sie vermag sich der übersetzte Text schon in seiner Sprache nur als ein eigenständiges Werk in Szene zu setzen. Nur dank dieser Leistung kann der Text seine singuläre 71 Ausprägung als ins Werk gesetzte Sprache erfahren. Die Übersetzung muß also das Original in einem „emphatischen und starken Sinne" bei seinem Wort nehmen als eben dem „schöpferische(n) Wort" 72 . Übersetzung ist vollgültig immer „ein auf den Zugang zum Wort (vs. die Wörter) als Ursprung der Sprache ausgerichtetes Übersetzen."73 Und sie ist darin vollgültig Übersetzung, daß sie sich nicht als ein schlicht „»wörtliches4 Übersetzen" „mit einem rein technischen Bedeutungstransfer begnügt", sondern der Forderung genügt, „daß das wörtliche durch ein wortgetreues 4 Übersetzen abgelöst werden muß, soll das ,Ganze4 der fremden Sprache bedacht werden. 4474 Mit der Mehrsprachigkeit von Recht vervielfachen sich nicht etwa lediglich die Versionen seiner Formulierung. Die Beziehung von Ausgangstext und Übersetzung darf man aber nicht „als eines der Darstellung oder Wiedergabe mißverstehen4475. Es gibt keinen gemeinsamen Rechtsgedanken, welcher im Sinne der Theorie der Propositionen die identische Wiedergabe in verschiedenen Sprachen garantieren könnte. Recht und Sprache stehen nicht in einem Repräsentationsverhältnis. 76 Recht ist nichts anderes77 als die semantische Praxis seiner methodengerechten Formulierung. „Recht ist eine Frage des Verfahrens der Arbeit mit und an seinem Text in seiner Bedeutung dafür und nicht sonst.4478 Sich als eine solche „Arbeit 44 und „Anstrengung4479 den fremden Text in seiner Sprache als ein Zeichen von Recht zu erschlie71

Vgl. A. Hirsch, a. a. O., S. 420. Ebd., S. 171. 73 H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 263 ff., 270 im Anschluß an Heideggerder dies allerdings jeglichem Sprechen nachsagt. Vgl. M. Heidegger, Parmenides, Gesamtausgabe Bd.54, Frankfurt/M. 1982, S. 17. Vgl. auch C.Jacobs, Die Monstrosität der Übersetzung, in: ebd., S. 166 ff., 171: „Im Text der Übersetzung ersetzt das Wort Satz und Proposition als grundlegende Einheit." Zu Wort und wörtlich P. de Man, Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers", in: ebd., S. 182ff., 203 f. 74 L. Heidbrink, Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in A. Hirsch (Hrsg.) S. 349 ff., 356 mit Verweis auf Heidegger, Vgl. M. Heidegger, Heraklit, Gesamtausgabe Bd. 55, Frankfurt/M. 1979, S.44. 75 J. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 119ff., 136. 76 Vgl. Vgl. F. Müller/R. Christensen/M. Sokolowski, a. a.O., S. 19ff. 77 Dazu, in welchem Sinne „es so etwas wie das Recht gar nicht gibt" R. Christensen/M. Sokolowski, Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Zeitschrift für Semiotik, i. Vorb., Mss. 19. 78 R. Christensen/ M. Sokolowski, Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Neue Untersuchungen zur Rechtslinguistik, i. Vorb., Mss. 21. Siehe ansonsten ausführlich/?. Christensen,, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, S. 274ff.; F. MüllerlR. Christensen/ M. Sokolowski, a. a. O., S. 31 ff. 79 Vgl. allgem. So/. Derrida , Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S.119ff., 156f. 72

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ßen, um ihn in der eigenen Sprache zur Geltung zu bringen, ist genau das Problem der Übersetzung80 und nicht etwa dessen Lösung, wie es ein technisches Denken von Übersetzung vermeint, das im Übersetzen lediglich „eine Art »Umleitung4 des sprachlichen Verkehrs" sieht.81 Und schon gar nicht kann die Übersetzung einen ihr durch die Worte der anderen Sprache zugesicherten Angriffspunkt, Hebel und Halt im Original als einem Zeichen für Recht finden 82, wie es ein „instrumentalisierendes" Denken83 erhofft, das glaubt, sich an irgendwelchen, sich durch die Sprachen stabil durchhaltenden und mit der Übersetzung weiter zu stabilisierenden Bedeutungen schadlos halten zu können.84 Auch für die Übersetzung liefert der zu übersetzende Text „keinen Ort stabiler Sprache, welcher als punktuelle Größe" von ihr „nur verfehlt oder getroffen werden könnte." Ebensowenig im übrigen, wie ohnehin „die vom Gesetzgeber geschaffene Zeichenkette" für die Auslegung in der eigenen Sprache.85 Wenn denn schon, so ist der „Bedeutungsort" allenfalls „der transitive Übergangsort - des Überquerens, des Setzens und des Erschließens" 86, in den sich die Übersetzung immer wieder erst einzufinden hat. „Es gibt keinen ,Sinn\ keine Bedeutung an sich', zu denen das Denken sprachund kulturunabhängig direkt durchstoßen könnte."87 Auch nicht das Denken von Recht in seiner Sprachlichkeit und die Arbeit an seinem Text. Daß der Gedanke an solch unabhängige Bedeutung nie mehr sein kann als eine grammatikalische Illusion"**, das lehrt der Mythos des Turmbaus von Babel, hier vor allem in der Lesung durch Derrida} 9 Dieser Mythos drängt wirkungsmächtig das Denken von Übersetzung in ein Denken von Sprache und treibt dieses zugleich umgekehrt in ein Denken der Übersetzung. Denn der Babel-Mythos läßt das mit ihm begründete Denken dadurch nie zur Ruhe kommen, daß sich dieses mit jedem Ansatz wieder dem „Nach80

Zu dem hier anklingenden hermeneutischen Charakter der Übersetzung im Anschluß an Heideggers wechselseitiger Bestimmung von Übersetzen und Auslegen H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 263 ff.; L. Heidbrink, Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: ebd., S. 349 ff. 81 Ebd., 362. 82 Zur Differenz von Zeichen und Wort im Anschluß an Humboldt H.-J. Frey, Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt, in: A.Hirsch (Hrsg.), a.a.O., S. 37 ff. Ansonsten auch Th.Schestag, Sem, in: ebd., S.64ff., 66ff. 83 Vgl. A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders. (Hrsg.), a. a. O., S. 396ff., 402. 84 Dagegen P. de Man, Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers", in A. Hirsch (Hrsg.), a. a. O., S. 182 ff., 207; H.-D. Gondek, Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits - Lacan als Übersetzer Heideggers, in: ebd., S.263 ff. 85 F. Müller/R. Christensen/M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997, S. 32. 86 D.B. Allison, Die Différance der Übersetzung, in: A. Hirsch (Hrsg.) S.375ff., 379. 87 A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders. (Hrsg.) S. 396 ff., 417. 88 D.B. Allison, a. a. O., S. 390. 89 Siehe J. Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hrsg.) S. 119 ff., 119 ff.

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Vollzug (des) heterogenen und diskontinuierlichen Spannungsverhältnis sprachlicher Konstitutionsbewegung" stellen muß.90 „Im Babel-Mythos" finden sich „jene das Sprachgeschehen im allgemeinen beschreibenden Momente wieder, die" vor allem und neuerlich grundlegend Derrida „anhand seiner Konzeption der ,Schrift 4 (écriture) entfaltet hat: die différentielle, nicht instrumentalisierbare Konstitution sprachlichen Bedeutens44 und „damit einhergehend die Aufkündigung identischen sprachlichen Bedeutens.4491 Kurzum: „Differenz ist die Bedingung der Möglichkeit einer jeden Sprache.4492 Und Übersetzung ist nicht deren Nivellierung zu wohlfeilen Synonymien, die folglich doch nur in unbedeutender Sprachlosigkeit enden würde. Übersetzung ist das Wirken von Differenz in einer Arbeit an Sprache. Es ist die Mühe, im Dienste der Forderung der Übersetzung, „den Text der eigenen Sprache nachhaltig mit der Fremdheit der anderen Sprache (zu) vernetzen. Dies könnte im Vollzug der Übersetzung gleichwohl nur geschehen, wenn Elemente des Fremdtextes in den Text der eigenen Sprache aufgenommen würden und als radikal differente erhalten blieben.4493 Mit der Mehrsprachigkeit von Recht diffundieren, vervielfältigen und streuen94 die Versionen seiner Formulierung in einer unabsehbar irritierenden Weise95. Damit entziehen sie der Arbeit am Text des Rechts jenen „Grund der Sprache" 96, auf den sie doch eigentlich bauen will. Der gerät ihr ausgerechnet in dem Moment zum „Abgrund" 97 , in dem sie sich des Wortlauts gesetzlicher Vorschriften als ihrem Anlass, ihrem Einsatz und zu ihrer Rechtfertigung zu versichern hat.98 Zwar wird heutzutage kaum noch jemand abseits sprachideologischer Verblendung oder unfrommer positivistischer Lebenslügen und schon gar nicht „außerhalb der Juristerei (...) von einem den Sinn determinierenden Wortlaut zu sprechen wagen, ohne zu riskie90

A. Hirsch, a.a.O., S.422. Ebd., S.402. Siehe dann allgem. J.Derrida , Grammatologie, Frankfurt/M. 1983; v.a. S. 120ff.; ders., Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 124 ff. Im engeren Kontext des Problems der Rechtsarbeit F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., Berlin 1997, Rnn. 505 ff. 92 A.Hirsch, a.a.O., S.398. 93 Ebd., S.420. 94 Im Sinne von „diffèrance und Zerstreuung (