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German Pages 349 [350] Year 2022
Sebastian Edinger Negative Anthropologie bei Plessner und Adorno
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände 45
Sebastian Edinger
Negative Anthropologie bei Plessner und Adorno
Theoretische Grundlagen – Geschichtsphilosophie – Moderne-Kritik
ISBN 978-3-11-077343-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077368-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077380-4 ISSN 1617-3325 Library of Congress Control Number: 2022930071 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
…der berührung des windes mit dem fluss…
Danksagung Dieses Buch konnte nur entstehen aufgrund der Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), der ich es verdanke, im Rahmen des Moduls „Eigene Stelle“ drei Jahre lang eine paradiesische Insel der theoretischen Neugierde bewohnt haben zu dürfen. Unterstützt worden bin ich dabei von der Universität Potsdam als der Gastgeberinstitution, die mein Anliegen mitgetragen hat, besonders Prof. Dr. HansPeter Krüger ist hier als Förderer zu nennen. Eine stets hilfsbereite und hilfreiche Ansprechpartnerin in allen administrativen Belangen war Frau Yvonne Wilhelm, der ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Besonders danken möchte ich Simon Schüz auch dafür, dass er das gesamte Manuskript gelesen hat, obwohl er selbst damit befasst war, seine konzise durchgearbeitete Dissertation mit dem Titel Das Problem der objektiven Geltung transzendentaler Argumente in Hegels Phänomenologie des Geistes und Fichtes Wissenschaftslehre 1804-II fertigzustellen; aber auch für eine lange währende Freundschaft, die in der Sache ihrem Begriff in dessen anspruchsvoller Auffassung gerecht wird. Mein freundschaftlicher Dank gilt ebenso Guido Tamponi, dessen scharfer Blick ebenfalls hilfreich war, und zwar ebenfalls in der heißen Phase der nebenberuflichen (!) Abfassung seiner nunmehr unter dem Titel George Santayana. Eine materialistische Philosophie der Vita contemplativa vorliegenden Dissertation, die eine anspruchsvolle Gesamtwerkerschließung eines – wie sein Buch m. E. zeigt – merkwürdigerweise unbekannten Philosophen enthält.
Inhalt Einleitung
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Erster Teil: Hintergrund und Gegentypen . .. ..
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Ulrich Sonnemanns Negative Anthropologie als Generalkritik jeglicher Anthropologie 9 9 Sonnemanns Negative Anthropologie Der Begriff und die epistemologischen Grundlagen der Negativen 12 Anthropologie Die Kritik der Menschenwissenschaften und des wissenschaftlichen Objektivismus in ihrer spezifisch negativ-anthropologischen 20 Fassung Sonnemanns Kritik der Testpsychologie 23 27 Sonnemanns Kritik der Psychoanalyse Sonnemanns Marx-Kritik: Das Paradoxon der Befreiung gemäß historisch-deterministischem Rezept 35 40 Synoptischer Grundriss von Sonnemanns kritischem Ansatz Zum Abschluss: Sonnemann und die Kritische Theorie 44 46 Arnold Gehlens positive philosophische Anthropologie Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch 47 Gehlens positive Anthropologie 58 58 Entlastung als teleologische Denkfigur Die teleologische Struktur von Gehlens Grundfragen 62 Die Mündung der anthropologischen Teleologie in den Ordnungskonservatismus der Institutionenlehre 64 Sonnemanns negativ-anthropologische Kritik von Gehlens 70 Institutionalismus
Zweiter Teil: Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie als Negative Anthropologie . .
Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und 93 Kampferprobung Einleitung und Bemerkungen zum Diskussionsstand um Plessners Philosophische Anthropologie als Negative Anthropologie 93 Der zeitgeschichtliche Rahmen von Plessners Denken 113
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Inhalt
Plessners phänomenologische Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen 119 119 Die Grundlegung in Die Deutung des mimischen Ausdrucks Doppelaspektivität, Mitte und Grenze als Grundkategorien des Lebendigen 122 Die Mitte als Grenze oder: Lebendigsein als Grenzverwirklichung und Grenzübergang 125 Ausgleich als negativ-ontologischer Grundbegriff von Plessners 126 Philosophischer Anthropologie Figuren der Negativen Ontologie des Organischen I: Der Antagonismus von Mitte und Organen und die immanent teleologische 128 Selbstvermittlung zur Ganzheit Figuren der negativen Ontologie des Organischen II: Seiende 131 Möglichkeit Figuren der negativen Ontologie des Organischen III: Harmonische Äquipotentialität 133 Die seiende Möglichkeit als menschliche Person oder die Abbildung der Negativen Ontologie in der Negativen Anthropologie der 135 Personalität Negative Anthropologie im Sturm der Geschichte: Die Grenzen der Gemeinschaft und Macht und menschliche Natur 139 Die Grenzen der Gemeinschaft: Der anthropologische Aufstand gegen den einseitigen Totalismus der Gemeinschaftsideologie 140 140 Ethos der Gemeinschaft vs. Ethos der Gesellschaft 142 Vom Ethos der Gesellschaft zur Ethos der Öffentlichkeit Vom Ethos der Öffentlichkeit zur Anthropo-Logik der 145 Öffentlichkeit Macht und menschliche Natur: Die Geburt der Geschichtlichkeit im und aus dem Sturm der Geschichte 148 149 Die diversen Bedeutungen von „Anthropologie“ Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht als Lebensphilosophie. Zum Verhältnis von Leben, Geschichte und der Geschichtlichkeit des geschichtlichen Lebens 154 Verklammerung der geschichtlichen Weltansicht mit der Lebensphilosophie: Der Begriff der Lebensführung 159 Eigenes und Fremdes: Die Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht 166 Negative Anthropologie zwischen logischer und ontologischer Unergründlichkeit. Synoptische Überlegungen zur Negativen 171 Anthropologie Plessners Jenseits von Freiheit und Notwendigkeit. Die Teleologie als AntiTeleologie 179
Inhalt
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Adorno: Negative Anthropologie zwischen Marxismus, Psychoanalyse und negativer Dialektik 185 . 185 Kritik von Adornos Anthropologie-Kritik . Zwischen Psychoanalyse und Deutschem Idealismus: Die positiven Grundlagen einer negativen Anthropologie bei Adorno 192 . Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse 192 .. Die Fundamentalität der Subjekt-Objekt-Relation als Subjekt-ObjektDialektik 192 Von der Subjekt-Objekt-Dialektik zum Subjekt-Objekt und Naturbegriff: .. Empfindung, Leiden, Eingedenken, Versöhnung als Begriffsreihe der 196 Überführung des Marx‘schen Naturbegriffs in Soziologie .. Adornos theoretisch inkonsequente Adaptation der Psychoanalyse. Das Subjekt-Objekt- und das Ich-Welt-Verhältnis 208 Grenzen des Subjektbegriffs I: Einzelwesen, Subjekt und ... 209 Individuum ... Vom Bewusstsein zum Ich und von der Erkenntnistheorie zur 210 Psychoanalyse ... Von Subjekt und Objekt zu Ich und Libido und zurück 216 220 Personalität als kritische Leerstelle bei Adorno . . Adorno im Verhältnis zu Sonnemann 226
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Negative Anthropologie als Logik des Zerfalls (Adorno) und als Logik der 232 Personalisierung (Plessner) Adorno: Zum Spannungsverhältnis zwischen der Logik des Zerfalls 232 und der Negativen Anthropologie Plessners Logik der Personalisierung 236
Dritter Teil: Plessner und Adorno im Vergleich . .. .. . . .
Negativ-anthropologische Konvergenzen geschichtsphilosophischer Art: 247 Unergründlichkeit (Plessner) und Nicht-Identität (Adorno) Hegel und Marx als komparative Bezugspunkte 247 Hegel 247 249 Marx Plessner: Kritik der Geschichtsphilosophie im Namen der Geschichtlichkeit 251 Adorno: Brechung des Weltgeistes an der „Dialektik im 257 Besonderen“ 262 Synopsis
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Inhalt
Negativ-anthropologische Konvergenzen in Plessners und Adorno Kritik der Moderne 266 266 Vorbemerkungen Adorno: Die „Entgeistung“ der Moderne in ihrer kapitalistischen Totalisierung und Geist als kritisches Differenzprinzip 266 Plessner: Das Prinzip der Unergründlichkeit und die Figur des homo absconditus als komplementäre Grundfiguren von Plessners ModerneKritik 275 Synopsis 282
Schluss: Negative Anthropologie – Ideengeschichtliche Nostalgie oder systematische Meliorisation? 286 Werkübersicht und Siglenverzeichnis Sonstige zitierte Literatur Namensregister Sachregister
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Einleitung Die Einschätzung, dass die Philosophische Anthropologie und die Kritische Theorie fundamental inkompatibel und entgegengesetzt seien, ist lange Zeit nicht hinterfragt worden. Wer von beiden sprach, sprach nicht einfach nur von zwei philosophischen Ansätzen, sondern befand sich an einer philosophischen Weggabelung: EntwederOder. Man mag das Entweder-Oder für keine natürliche Denkform der Kritischen Theorie in ihrer dialektisch anspruchsvollen Variante halten, doch im Prozess ihrer Schulbildung hat auch die antipodische Ablehnung der Anthropologie Schule gemacht. Das vorliegende Buch ist hervorgegangen aus einem von der DFG geförderten Projekt, das den Titel Das Projekt einer negativen Anthropologie als systematischer Konvergenzpunkt von Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie trug. Seine Zielsetzung war es, die eingangs skizzierte Frontstellung anhand der Philosophien Helmuth Plessners und Theodor W. Adornos zu untersuchen. Die erste Grundthese des vorliegenden Buches lautet: Plessners Philosophische Anthropologie – und seine exklusiv – stellt grundsätzlich, d. h. logisch und ontologisch, eine Negative Anthropologie dar, die als Philosophie im Ganzen dem Denken Adornos eher verwandt ist, als dass sie mit ihm verfeindet wäre. Die zweite Grundthese lautet: Dies liegt daran, dass Adorno selbst in der Entwicklung der systematischen Grundlagen seiner Philosophie, insbesondere in seiner Marx- und Freud-Adaptation, (negativ‐)anthropologische Gehalte nicht nur unbewusst mitführt, sondern ihrer systematisch bedarf und sie für die Emanzipation vom idealistischen Erbe und die Entfaltung der emanzipatorischen Motive seiner negativen Dialektik benötigt. Die simple Tatsache, dass der Begriff „Negative Anthropologie“ von Ulrich Sonnemann in seinem gleichnamigen Werk geprägt worden ist, erlegt mir einen Umweg auf, der jedoch dazu dient, die leitende Idee zu fokussieren. Denn auf der Hand liegt die Frage: Hat Sonnemann die erste negative Anthropologie entwickelt? Darauf gibt das erste Kapitel eine negative Antwort.¹ Im zweiten Kapitel wird mit Arnold Gehlens positiv-anthropologischem Ansatz eine paradigmatische Gegenfigur der Negativen Anthropologie dargestellt, um die die anthropologischen Theorietypen voneinander abgrenzen zu können. Arnold Gehlens Entwurf erwies sich, anders als der Schelers – was ich im Anschluss an das Gehlen-Kapitel in einem Exkurs begründe –, aus zwei
Hier ist dringend darauf hinweisen, dass verschiedene Arbeiten über Sonnemann parallel zu diesem Buch entstanden und früher als dieses veröffentlicht worden sind, ohne dass es noch möglich gewesen wäre, sie hier adäquat zu berücksichtigen, d. h. einzuarbeiten.Verweisen möchte ich hier ausdrücklich auf Martin Mettins Monographie Kritische Theorie des Hörens. Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns (Mettin 2020), den von Mettin und Heinze herausgegebenen Sammelband „Denn das Wahre ist das Ganze nicht…“ Beiträge zur Negativen Anthropologie Ulrich Sonnemanns (Heinze/Mettin 2021) und auf den von Hannes Bajohr und mir herausgegebenen Sammelband Negative Anthropologie (Bajohr/Edinger 2021), der etliche Bezugnahmen auf Sonnemann sowie einen Aufsatz Tobias Heinzes (Heinze 2021) über Sonnemann enthält. https://doi.org/10.1515/9783110773682-001
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Einleitung
Gründen als geeignet: (1) Seine philosophische Anthropologie ist explizit als solche entwickelt worden, ihr Status als Anthropologie ist nicht umstritten bzw. umständlich zu klären. (2) Gehlen operiert mit einer Reihe von zentralen Begriffen – Plastizität, Weltoffenheit, Instinktreduktion, hinzu kommt die grundlegende Ablehnung des Triebbegriffs –, die es nahelegen, Gehlens Anthropologie als eine negative aufzufassen. Im zweiten Kapitel zeige ich, was vordergründig für eine solche Lesart spricht, zeige aber auch, dass Gehlens Entwurf einer teleologisch unterfütterten Agenda folgt, die nicht allzu „weltoffen“ ist. Was hauptsächlich gegen die Auffassung von Gehlens Anthropologie als eine negative spricht, hat sich zugleich als roter Faden der weiteren Analysen erwiesen und tritt nicht nur bei Gehlen, sondern generell in der Philosophie – ob als „Problem“ oder nicht, sei dahingestellt – auf: die Voraussetzung von teleologischen Denkfiguren, die in verschiedenen Gestalten auftreten können und z. B. von Seyla Benhabib (1986), um einen Bogen zur Kritischen Theorie zu schlagen, unter dem Namen der „normativen Voraussetzungen“ verhandelt werden. Eine Teleologie reicht jedoch weiter als einzelne Voraussetzungen, sie organisiert nicht nur eine Philosophie im Ganzen, sondern sowohl die Wahl als auch das Verhältnis der zentralen Voraussetzungen zueinander. Das war im Fall Gehlens an der teleologischen Verschränkung des Entlastungsbegriff mit dem der Führungsordnung aufzuzeigen, die nicht nur teleologischer Art ist, sondern selber wiederum ihr τέλος in der Institutionenlehre findet. So wie normative Voraussetzungen nicht so ubiquitär vorhanden sind, wie Kritische Theoretiker dogmatisch vorauszusetzen geneigt sein mögen – ich verweise hier auf die Machttheorie von Panajotis Kondylis (1984) –, so muss eine Anthropologie nicht grundsätzlich die anthropologische Objektivation einer Teleologie darstellen. Helmuth Plessners (kontinuierlich großgeschriebene)² Philosophische Anthropologie enthält zwar eine „immanente Teleologie“, die das Kernstück seiner „Negativen Ontologie des Organischen“ bildet, doch die methodische Entwicklung dieser immanenten Teleologie nimmt ihren Weg über eine anspruchsvolle objektive Transformation der Phänomenologie; sie ist also keine als immanente Teleologie sich gebende Abbildung einer eingeschmuggelten Teleologie, die den Aufriss und die Entwicklung von Plessners Philosophischer Anthropologie gleichsam „von außen“ steuerte. Die negative Grundstruktur von Plessners Philosophischer Anthropologie ausführlich im Ausgang von der methodischen Grundlegung über die entscheidenden Wegmarken – harmonische Äquipotentialität, immanente Teleologie, seiende Möglichkeit – darzulegen, ist der Gegenstand der ersten Hälfte des großen Plessner-Kapitels. Anders verhält es sich mit dem zweiten Teil des Plessner-Kapitels (ab Kapitel 3.8.), in dem ich die vitale Präsenz der Grundlagen der Negativen Anthropologie bereits in den Grenzen der Gemeinschaft (1924) aufzeige und sie von Plessners Konzepten der In der Unterscheidung zwischen der „philosophischer“ und „Philosophischer“ Anthropologie folge ich Hans-Peter Krüger, der eine von Plessner selbst bereits getroffene Unterscheidung aufgenommen und durch konsequentes Festhalten an ihr terminologisch kodifiziert hat.Vgl. Krüger 2009: 55, 209 und 244.
Einleitung
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Geschichtlichkeit und der Unergründlichkeit aus Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931) her vertiefe. Hier versuche ich zu zeigen, dass Plessners Philosophische Anthropologie nicht in eine Natur- und Geschichtsphilosophie zerfällt, sondern dass Negative Anthropologie der legitime Name seiner Philosophie im Ganzen ist. Das Adorno-Kapitel nimmt seinen Ausgang von Adornos Veto gegen jegliche Anthropologie, dessen logische Unverbindlichkeit zunächst dargelegt wird (4.1.). bevor ich zeige, dass Adornos konsequente Transformation der Subjekt-Objekt-Relation der Erkenntnistheorie in eine Subjekt-Objekt-Dialektik zum Kern die Umdeutung von Hegels Begriff des Subjekt-Objekts hat. Hier lautet die zentrale These: Diese Umdeutung lässt sich nur verstehen, wenn Adornos „Vorrang des Objekts“ als legitimes Element einer materialistischen Dialektik anerkannt wird, insofern das Objektmoment über den Naturbegriff bestimmt wird. Damit erhalten für Adorno zentrale Ausdrücke und Begriffe wie „Eingedenken der Natur im Subjekt“, Leiden, das Somatische und indirekt die Versöhnung überhaupt erst eine systematische Grundlage. Des Weiteren werde ich (im Kapitel 4.3.) zeigen, dass Adorno den Naturbegriff über Freuds Libidobegriff näher bestimmt und die gesamte Subjekt-Objekt-Terminologie durch seine damit logisch inkompatible Aneignung der Psychoanalyse torpediert, weshalb er konsequenterweise einen Sprachspielpluralismus kultiviert, da Freuds Ichbegriff und der klassische Subjektbegriff nicht ineinander übersetzbar sind und der Begriff des Individuums zudem als höherstufige Zurechnungskategorie ins Spiel kommt. In Kapitel 4.4. ist dann zu zeigen, wieso Adorno den für ihn durch Scheler und Heidegger kontaminierten Begriff der Person konsequent meidet und als ideologisches Relikt verwirft, obwohl nicht nur bildungssprachlich, sondern auch philosophiegeschichtlich, nämlich von Hegel her, eine gründlichere Auseinandersetzung mit dem Personbegriff nahegelegen hätte. Im Kapitel 4.5. zeige ich, dass die Marginalisierung des Personbegriffs ein generelles Problem der Kritischen Theorie dieser Zeit ist, da auch Sonnemann zwar in verschiedener Weise den Personbegriff emphatisch aufnimmt, aber Personalität als Institution nicht zu denken vermag, weil zwar nicht Scheler oder Heidegger, aber Gehlen ihm im Weg steht, der für ihn die Einheit von Institutionalismus und Anthropologie verkörpert. Im fünften Kapitel, zugleich das letzte des zweiten Teils, sind die bis dahin entwickelten Überlegungen in einem synoptischen Vergleich zu bündeln. Dabei stelle ich die betrachteten Philosophien gemäß den sie bestimmenden Logiken gegenüber, die sich von Kant her bestimmen lassen. Adornos negative Anthropologie mündet dabei in einen negativ invertierten Kantianismus, d. h. die Denkfigur der Ermöglichungsbedingung kippt von der negativ-anthropologisch transformierten Subjekttheorie her in das Denken von historisch und gesellschaftlich determinierten Verunmöglichungsbedingungen, die allerdings in Gestalt z. B. der Utopie von Versöhnung (oder des Eingedenkens der Natur im Subjekt) sich wieder an der Negativen Anthropologie brechen. Umgekehrt hat Plessner eine Logik der Personalisierung entwickelt, die bereits in der Negativen Ontologie des Organischen wurzelt und in der exzentrischen Positionalität ihre höherstufige und genuin humanspezifische Spezifizierung erhält,
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aber erst im privat-öffentlichen Doppelgängertum und im Rollenbegriff zum Abschluss gelangt. Dabei soll vor allem gezeigt werden, dass die genannten Elemente solche ein und desselben Gefüges von Ermöglichungsbedingungen sind, die verschiedener Art und doch strikt ontologisch interdependent sind. Anders und exemplarisch gesagt: Die soziale Rolle als solche liegt auf einer anderen Ebene als die „seiende Möglichkeit“ der Stufen, aber ohne einander sind beide nicht im holistisch anspruchsvollen Sinn personal bestimmbar in der Theorie und nicht personal lebbar in der Praxis. In diesem Vergleich werden die gewichtigen Unterschiede zwischen Plessner und Adorno klar hervortreten; die verschiedenen Arten, die Kantische Denkungsart fortzusetzen – mittels einer immanenten Teleologie bei Plessner und einer Teleologie der Versöhnung bei Adorno, die eine negative Gegenteleologie gegen die im Weltgeist verkörperte darstellt –, werden Schlüssel und Leitfaden der Unterscheidung bilden. Diese Unterschiede treten allerdings erst dann klar hervor, wenn man die Philosophien im Detail unterscheidet und die Details gegenüber dem gemeinsamen Grundimpetus exponiert. Ist bis dahin der Vergleich zwischen Plessner und Adorno strikt unter dem Aspekt einer Negativen Anthropologie durchgeführt werden, so soll in den Kapiteln 6 und 7 anhand topologischer Analysen die These validiert werden, dass eine grundsätzliche, die Unterschiede zwischen Plessner und Adorno überwölbende geistige Wahlverwandtschaft ihrer Philosophien ausweisen lässt. Grundsätzliche Übereinstimmungen lassen sich – so in Kapitel 6 – dabei gerade geschichtsphilosophisch aufzeigen, weil sowohl Adornos Kategorie der Nicht-Identität als auch Plessners Kategorie der Unergründlichkeit auf eine Grundsatzkritik eines geschichtsphilosophischen Idealismus führen, die beide auch konkret an Hegel und Marx durchexerzieren. Im Falle Adornos wird gezeigt, dass seine Kritik der Geschichtsphilosophie, explizit die der Hegelschen und der Marxens, selber eine Geschichtsphilosophie in Anspruch nimmt, die auf Benjamins Denkbild und dem, was Adorno eine Dialektik im Besonderen nennt, basiert. Während Adornos Kritik daran ansetzt, dass Hegel und Marx Weltgeist bzw. Tauschprinzip geschichtsphilosophisch totalisieren, setzt Plessner ebenfalls an Hegel und Marx als Repräsentanten geschichtsteleologischer Ideologie an, jedoch mit der argumentativen Stoßrichtung, dass beide Philosophien kollektivistischen Selbstermächtigungen in die Hände spielen, die gerade der Übernahme der Geschichte in die Lebensführung unter Anerkennung der Unergründlichkeit diametral entgegengesetzt sind. Im siebten und letzten Kapitel zeige ich zunächst, dass Adorno auch in der Bestimmung des Begriffs der gesellschaftlichen Moderne seine Weichenstellungen von Hegel entlehnt, um das Gesetz, unter das die nationalstaatliche Moderne sich hernach gestellt hat, wiederum von Marx her zu formulieren. Dabei lässt sich zeigen, dass Adornos Verständnis der Moderne und der Geschichtsphilosophie nicht nur nominell aus denselben Quellen (Hegel und Marx) schöpft, sondern auch aus denselben systematischen Quellen: Die Nationalstaaten unterstehen dem Weltgeist, der sich im transnational den Kapitalismus bestimmenden Tauschprinzip manifestiert. Dadurch eröffnet sich allerdings für Adorno ein Problemhorizont, der kaum je in Auseinan-
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dersetzungen mit ihm diskutiert wird, nämlich die von ihm angesprochene Obsoleszenz der Nationalstaaten in der entfalteten Moderne, die dadurch in ein Spannungsverhältnis mit den Ermöglichungsgrundlagen ihrer Entfaltung gerät. Hier gerät Adornos Kritik der Moderne ambivalent, doch die Ambivalenz wird von Adorno nicht ausformuliert oder gar ausgetragen. Was aufgezeigt werden soll, ist, dass NichtIdentität hier in mehrfältiger Weise zur Grundfigur von Adornos Kritik wird: (1) Die Moderne entfremdet sich ihrer nationalstaatlichen Basis; (2) die Kritik der Moderne verlangt unter dem Prinzip der Nicht-Identität eine Kritik der kapitalistischen Totalisierung der Moderne sowie der Nationalstaatlichkeit, die in der Moderne gegen deren Totalisierungstendenzen zu beharren versucht; (3) die Kritik der Moderne ist eine Doppelkritik von Kapitalismus und Nationalstaatlichkeit, die allerdings nicht beide miteinander identifizieren darf. Während es auf der Hand zu liegen scheint, dass das Problem der Nationalstaatlichkeit den Ansatzpunkt einer Zusammenschließung von Adornos und Plessners Ansätzen bieten könnte, wähle ich allerdings gerade nicht den touristisch übervölkerten Weg über Die verspätete Nation, sondern versuche von übergreifenden Linien her Plessners Begriff der europäischen Moderne zu bestimmen. Der Hochkapitalismus ist nicht nur bei Adorno, sondern auch bei Plessner ein zentrales constituens der europäischen Moderne; hinzu kommt als Grundbegriff bei ihm der des Industrialismus, der die Konfliktlage provoziert, auf die die Grenzen der Gemeinschaft antworten. Während Adorno die Totalisierung des Kapitalismus zum gesellschaftsbestimmenden „Realprinzip“ im Auge hat, geht es Plessner in Macht und menschliche Natur und in den Grenzen der Gemeinschaft um eine Kritik von selbstermächtigenden Totalisierungen innerhalb der modernen Gesellschaft. Mit Adorno auf einer Linie ist Plessner wiederum, wie ich zeigen werde, da, wo er die NichtIdentität von zu lebendem Leben und kursierenden Ideologien ins Zentrum des Denkens der Unergründlichkeit rückt. Als letzter entscheidender Unterschied ist herauszuarbeiten, dass Plessner diese Linie der Kritik, die mit Adornos Kritik vom Impetus her übereinstimmt, im expliziten Rekurs auf die Biologie als wissenschaftlicher Errungenschaft der Moderne und der darauf basierenden naturphilosophischen Fassung der Philosophischen Anthropologie im Konzept des homo absconditus ausformuliert – und zwar in entschiedener Fortsetzung seines Frühwerks im Spätwerk. Denn in Plessners Denken ist, wie in dem Adornos, mehr Kontinuität als Diskontinuität im Grundsätzlichen auszumachen – Kontinuität, die wiederum philosophischsystematisch unterfüttert eine intentionale Gleichsinnigkeit trägt, die sich zwischen ihnen privat sogar als Freundschaft manifestiert hat. Die oberste Gepflogenheit, die bei der Abfassung eines Schlussteils zu beachten ist, kann man synoptische Rekapitulation nennen. Eine solche werde ich nur in äußerst komprimierter Form geben. Worum es mir im Schlussteil vor allem geht, ist, das Konzept der Negativen Anthropologie zur ideengeschichtlichen oder geistesphysiognomischen Entwicklung der westlichen Moderne seit der Formulierung der Negativen Anthropologie in Beziehung zu setzen und einen spekulativen Ausblick auf dessen mögliche künftige Rolle zu geben. Ich werde im Schlussteil Negative Anthropologie durchgängig großschreiben, obwohl ich zuvor bei Plessner und Adorno zwi-
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schen Groß- und Kleinschreibung unterschieden habe, weil es mir im Schluss um das Paradigma einer Negativen Anthropologie geht, das ich nicht aufgrund der möglichen Binnendifferenzierung terminologisch zerfasern lassen möchte, sondern als solches kompakt bezeichnen und in Stellung bringen möchte. Vor allem geht es mir darum, Gründe dafür zu geben, warum das Konzept der Negativen Anthropologie, das seine Grundlegung in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren und seine prägnante Ausformulierung bis in die späten 1960er Jahren erfahren hat, erst im 21. Jahrhundert sukzessive Präsenz zu erlangen beginnt, denn diese Arbeit ist nicht die einzige, die sich explizit diesem Thema widmet. Erste Versuche dazu sind anderweitig bereits vorgelegt³ worden und weitere Publikationen sind im Entstehen begriffen, so z. B. der Sammelband Negative Anthropologie. Ideengeschichte und Systematik einer unausgeschöpften Denkfigur (Hrsg. v. Hannes Bajohr und Sebastian Edinger) und eine englischsprachige Monographie von Hannes Bajohr. Was alle diese Versuche über alle Differenzen hinweg meiner Einschätzung nach eint, ist die Etablierung des Begriffs als Name eines systematisch entwickelten und ideengeschichtlich aufweisbaren Denktypus, der sich seinem systematischen Anspruch nach (Negative oder negative Anthropologie) intern differenzieren lässt.
Vgl. Hannes Bajohr (2013, 2015, 2019 a + b, 2021); Dries (2012); Johannßen (2018).
Erster Teil: Hintergrund und Gegentypen
1 Ulrich Sonnemanns Negative Anthropologie als Generalkritik jeglicher Anthropologie „Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X.“ (Friedrich Nietzsche)
1.1 Sonnemanns Negative Anthropologie Sonnemanns Negative Anthropologie ist 1969 erschienen – im Todesjahr Adornos, der Sonnemanns Werk noch mit einer kurzen Rezension bedacht hat; zu einer philosophischen Kommunikation zwischen beiden oder zu einer durch Adorno vermittelten Eingemeindung Sonnemanns in den Frankfurter Kreis ist es jedoch nicht mehr gekommen. Einen Beleg dafür, dass Sonnemann weithin als nicht der Frankfurter Schule angehörig angesehen wird, bilden die großen ideen- und institutionengeschichtlichen Darstellungen der Frankfurter Schule, welche in essentia und fast vollständig ohne die bloße Erwähnung Sonnemanns auskommen.⁴ Ob Sonnemann daher auch der Kritischen Theorie nicht zuzurechnen sei, ist wiederum eine andere Frage,⁵ auf die Darstellungen teilweise emphatisch antworten, die ihn als Kritischen Theoretiker par excellence porträtieren. Schmied-Kowarzik beispielsweise spielt die institutionelle Randständigkeit und die kritisch-theoretische Authentizität Sonnemanns zu dessen Gunsten gegeneinander aus: Zwar kommt Sonnemann nicht aus dem engeren Schüler-Kreis um Adorno, erst nach seiner Rückkehr aus der Emigration nähert er sich der Kritischen Theorie und schließt sich ihr an. Ich glaube aber, nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, daß Ulrich Sonnemann zu den ganz wenigen Repräsentanten der Kritischen Theorie gehört, die aus dem Geist der Negativen Dialektik Adornos dessen Werk fortführten.⁶ (Schmied-Kowarzik 1999: 34)
Maria Schafstedde äußert in ihrem 2002 erschienenen Buch Spontaneität und Vermessenheit. Zur Genese Negativer Anthropologie bei Ulrich Sonnemann die Einschät-
Vgl. Wiggershaus (1988), Demirović (1999), Tenbruck et al (1999). Diese Frage wirft auch Muharrem Açikgôz in seinem Buch Die Permanenz der Kritischen Theorie: Die zweite Generation als zerstrittene Interpretationsgemeinschaft (Açikgôz 2014) auf und tendiert dazu, Sonnemann als „freien“, d. h. nicht institutionell gebundenen Vertreter der Kritischen Theorie aufzufassen, ohne dies allerdings inhaltlich zu begründen (vgl. ebd.: 25). Was das wiederum bedeutet, hängt stark davon ab, wie man die Stellung der Negativen Dialektik innerhalb der Kritischen Theorie im Ganzen bewertet. Wenn man Schmied-Kozwark zustimmt und die Bedeutung der Negativen Dialektik so einschätzt wie Joachim Fischer, der in Bezug auf die Kritische Theorie vom „Identitätskern einer materialistisch arbeitenden ‚negativen Dialektik‘“ (Fischer 2008: 575) spricht, dann verfehlt eine Auffassung der Kritischen Theorie, die Sonnemann übergeht, praktisch ihren Gegenstand. https://doi.org/10.1515/9783110773682-002
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1 Ulrich Sonnemanns Negative Anthropologie als Generalkritik jeglicher Anthropologie
zung, letzterer „wirkte nicht nur als politischer Schriftsteller, sondern wurde zugleich als originärer Denker Kritischer Theorie rezipiert“ (Schafstedde 1992: 9)⁷ – eine Einschätzung, welche durch die oben angesprochene Abwesenheit Sonnemanns in der Geschichtsschreibung der Kritischen Theorie und/oder Frankfurter Schule nicht bestätigt wird.⁸ Sonnemann selbst hat sich durchaus als einen originären Denker der Kritischen Theorie aufgefasst und die Negative Dialektik Adornos als deren programmatisch verbindliches Hauptwerk, wie sein eigener Versuch, dieselbe in seinem Essay Jenseits von Ruhe und Unordnung. Zur Negativen Dialektik Adornos als „das Grundsatzwerk der kritischen Theorie einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln“ (Sonnemann 1970a: 121), zeigt. Im Geiste dieser Einschätzung geißelt Sonnemann in dem Sammelband Unkritische Theorie. Gegen Habermas „Habermas’ vermeinte Fortsetzung der Frankfurter Schule als bedauerlichen Umschlag Kritischer Theorie in unkritische“. (S 5: 475)⁹ Sonnemanns Selbstverortung innerhalb der Kritischen
Zu den „Vertretern der originären Kritischen Theorie“ (Gürtler 1999: 200) zählt auch Sabine Gürtler Sonnemann. Unter Sonnemann-Sympathisanten werden die Einschätzungen Gürtlers und Schafsteddes durchaus geteilt: Eine indirekte Zuordnung zur Kritischen Theorie nehmen auch Johann Georg Lehmann (Lehmann 1999: 245) und Frank Hermenau (Hermenau 1999: 237) vor. Ulrich Müller und Eveline Goodman-Thau sprechen von „Sonnemanns Kritischer Theorie“ (Müller 1999: 191), letztere „kritisch“ kleinschreibend (Goodman-Thau 1999: 219). Sonnemanns Selbsteinschätzung findet in Schafsteddes Ausführungen ihre Bestätigung, durchgesetzt hat sich allerdings ein anderes Verständnis von Kritischer Theorie, worüber jedoch nicht vergessen werden sollte, dass es einen explizit Habermas-kritischen Strang der Kritischen Theorie gibt, der den Habermas‘schen Weg als „Unkritische Theorie“ (Bolte 1989) angegriffen hat. Zum von Bolte versammelten Autorenkreis gehört auch Sonnemann. Sinngemäß auch in Sonnemann 1984: 294. – Das theoretische Grundmotiv von Sonnemanns Habermas-Kritik in besagtem Essay besteht darin, dass die Diskursethik die Eigentümlichkeit freier Diskurse in der Bindung des Diskurses an Regeln unterminiere. Deshalb „unterliegt der vermeintlich herrschaftsfreie Diskurs so unverhohlen der Herrschaft eines ihm vorgängigen Sets fester Regeln, daß er nicht nur nicht von Herrschaft, sondern auch sonst nicht frei, ja noch nicht einmal, betrachtet man ihn genauer, Diskurs ist“ (Sonnemann 1989: 71). In der Fassung des Diskursbegriffe setzt sich Sonnemann zufolge ein „Kontrollkomplex“ (ebd.: 69) durch, der die „spontaneitätswidrige dürre Kontrolle“ (ebd.: 70), die dem Ich als Aufgabe und von ihm sich selbst gegenüber zu bewerkstelligende „Ich-Präokkupation“ (ebd.: 71) qua Kontrolle – bereits Male der Philosophien Kants und des Deutschen Idealismus – in die Sphäre von Kommunikation und Diskurs hinein prolongiere. – Sonnemanns Ansetzung am Begriff der Kontrolle beansprucht nicht, eine Schwäche bei Habermas auszumachen, sondern Habermas’ grundsätzlichen Mangel an diagnostischer Schlagkraft offenzulegen, denn Sonnemann wirft Habermas vor, dieser habe, indem er das inhaltliche Proprium der klassischen Kritischen Theorie aufgegeben habe, zugleich den Kern der von ihr thematisierten und auch noch von Habermas bewohnten Gesellschaft dem theoretischen Zugang entrückt: „Kontrolle ist der Zentralbegriff der verwalteten Welt, gegen die, in ihrer Frankfurter Spielart zumal, die Kritische Theorie, Adorno und Horkheimer, aufbegehrten: daß ohne das leiseste allgemeine Stutzen eine immer unkritischere nun mit ihr verwechselt wird, macht auf die Dringlichkeit aufmerksam, die Traditionslinie der deutschen IchHypostase bis in jene Camouflagen von Angstherrschaft hinein abzuschneiden, deren Präokkupation der Kontrolle gilt.“ (S 4: 117) – Nur beiläufig sei darauf hingewiesen, dass Sonnemann sich hier diagnostisch nominell mit Deleuze und seinem Begriff der „Kontrollgesellschaft“ trifft. Vgl. Deleuze 1993 und 2005: 305 f.
1.1 Sonnemanns Negative Anthropologie
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Theorie ist daher zugleich eine Parteinahme für eine Adornos Negative Dialektik als verbindlich anerkennende Kritische Theorie und gegen eine jegliche Kritische bzw. „Kritische“ Theorie, die den von Adorno inaugurierten Primat der Nicht-Identität gegenüber Identität unterbietet, revidiert oder nicht als verbindlich anerkennt. Klarer als sonst wo hat Sonnemann dies in seinem Essay Gesetz und Geschichte. Zum psychoanalytischen Erkenntnisbegriff (1985/86) ausgesprochen: Man muß Adornos Verteidigung des Freudschen Triebkonzepts gegen die Dissidenten lesen und sie mit Habermasens Psychoanalysekapitel aus ,Erkenntnis und Interesse’ vergleichen, wenn man der abgründigen Differenz erst vollends gewahr werden möchte, die zwischen authentischer Kritischer Theorie und einem höchst unkritischen vermeintlichen Fortsatz klafft, der auf das kontrollierende Ich baut. Wenn es zuletzt eine Bestimmung geben darf, die zum erstenmal in der ganzen Wissenschaftsgeschichte in der Erkenntnis der Psychoanalyse sich widerspiegelt, die von ihr bewahrheitet und erfüllt worden ist, ist es die, daß es immer das Nichtidentische in den Menschen ist, dessen Sache sie verficht. (S 3: 531)
Adornos in den Kreisen der Kritischen Theorie weitgehend unkritisch übernommenes Veto gegen eine jegliche Anthropologie (vgl. AGS 6: 134), das hier seinen (nicht‐) identitätstheoretischen Nachhall findet, wird von Sonnemann in seinem Hauptwerk, der Negativen Anthropologie, zum theoretischen und selbst als anthropologisch bezeichneten Programm erhoben. Zugleich knüpft Sonnemann an sein früheres Werk Existence und Therapy an, indem er einige Hauptmotive desselben generalisiert beibehält und theoretisch vertieft, so die Kritik der Menschenwissenschaften und deren Objektivismus (die negativ-anthropologische Kritik ersetzt die phänomenologische Kritik der Psychologie, ohne deren Impetus aufzugeben) und die Kritik der Psychoanalyse. Als zutreffend lässt sich hier an Schmied-Kowarziks Einschätzung anführen, wonach im Fortgang von Existence and Therapy zur Negativen Anthropologie „der Blick von der Psyche des einzelnen Menschen auf die Psychohistorie einer ganzen Gesellschaft“ (Schmied-Kowarzik 1999: 24) ausgeweitet werde, „trotzdem aber […] die Problemstellung in ihrer wesentlichen Grundstruktur die gleiche“ (ebd.) geblieben sei, obwohl Sonnemann in der Negativen Anthropologie „die Grenzen der Psychotherapie zur Kritischen Theorie hin überschreitet“. (Ebd.: 25) Das „obwohl“ ist hier entscheidend, denn die Gleichsetzung von Psychotherapie und Kritischer Theorie würde letztere gerade zum theoretischen Unterbau dessen degradieren, was Adorno in Die revidierte Psychoanalyse (vgl. AGS 8: 20 – 41) unter dem Namen der revisionistischen Psychoanalyse als therapeutische Komplizenschaft mit der inhumanen Gesellschaft und deren falschem Bewusstsein angreift. In den folgenden fünf Schritten gehe ich hier in der Darstellung der Negativen Anthropologie Sonnemanns vorzugehen: Zunächst soll (1) der Begriff der Anthropologie geklärt und die epistemologischen Grundlagen der Negativen Anthropologie anhand der Kritik dessen, was Sonnemann Historismus nennt, dargestellt werden, um von diesen Grundlagen aus
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(2) die Kritik der Menschenwissenschaften und des wissenschaftlichen Objektivismus in ihrer spezifisch negativ-anthropologischen Fassung zu skizzieren; anschließend sollen die (3) Kritik der Psychoanalyse und die (4) Kritik des Marxismus in ihrer Komplementarität verständlich gemacht werden, um letztlich (5) die Kritik der Daseinsanalyse und den Übergang von der Daseinsanalyse zur Negativen Anthropologie als dem Anspruch nach anthropologische Aufhebung jeglicher Anthropologie darzustellen. Anhand dieser Punkte sollen Begriff und Problemstellung der Negativen Anthropologie und ihr Verhältnis zum anthropologieaffineren Frühwerk Existence and Therapy aufgearbeitet werden. Die Negative Anthropologie erweist sich in dieser Betrachtung, so viel soll vorweggenommen werden, als Negation von Anthropologie überhaupt und damit auch als Negation bzw. Revision von Sonnemanns eigenem Frühwerk in der Tilgung noch der „Restspur philosophischer Anthropologie (positiver) aus der den amerikanischen Jahren voraufgegangenen deutschen und schweizerischen Studienzeit des Verfassers“. (S 4: 116) Die Antwort der Negativen Anthropologie auf die in Existence and Therapy in Bezug auf den Komplexitätsüberschuss von Persönlichkeit gegenüber Persönlichkeitstheorie gestellte Frage: „Muß von daher nicht jedes Konzipieren einer Menschenwissenschaft hoffnungslos erscheinen?“ (S 2: 422), lautet ironischerweise (und gänzlich unironisch): Ja. Was in umgekehrter Perspektive nach einem über mehrere hundert Seiten ausgedehnten „Nein“ klingt, stellt für Sonnemann die Einlösung eines Versprechens dar, zu welcher ihm in Existence and Therapy, mit dieser Einlösung bereits vor Augen, noch die theoretischen Mittel fehlten: „Was die neuen radikalen Horizonte angeht, welche die Reflexion dem Menschen eröffnet, macht die Daseinsanalyse und das ‚existentialistische‘ Denken insgesamt eher das Versprechen denn dessen Einlösung aus“ (ebd.: 464) – als die Einlösung jedoch tritt in der Negativen Anthropologie lediglich das Versprechen der Spontaneität auf, das als negativ-anthropologischen Komplement von Adornos Versöhnung angesehen werden kann.
1.1.1 Der Begriff und die epistemologischen Grundlagen der Negativen Anthropologie In Sonnemanns Negativer Anthropologie läuft Erkenntnistheorie nicht nur en passant mit, sondern die negative Anthropologie wird selbst als Erkenntnistheorie durchgeführt, weil Erkenntnis selbst, als Vermögen und Tätigkeit, bereits das anthropologische Grundcharakteristikum des Menschen statt bloß eine Verhaltensmöglichkeit unter anderen sei:
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Daher kann Anthropologie an Erkenntnis, dem Humanum per se, nicht vorbeigehen. Insoweit sie selbst welche ist, muß sie Erkenntnistheorie sein, bleibt als solche mit aller Erkenntnistheorie auf die Mittel verwiesen, die das Theoretisierte selbst anbietet; und zugleich wieder kann sie, insofern sie Wissenschaft ist, vom Spekulativen dieser Mittel keinen Gebrauch machen, den sie empirisch nicht einlöst. Aus diesem widerspruchsvollen Sachverhalt führt kein Weg heraus als kritische Reflexion auf ihn selbst. (S 3: 140)
Sonnemann formuliert an dieser Stelle den epistemologischen Grundsatz der Negativen Anthropologie. Mehreres ist hier hier auffällig: Indem Erkenntnis als „Humanum per se“ bezeichnet wird, wird der Erkenntnisbegriff essentialisiert, weil tierische Kognition als innerhalb der philosophischen Anthropologie, z. B. von der Primatenforschung, als Faktum erforschte von Sonnemann der Sphäre von Erkenntnis überhaupt entrückt wird. Zugleich wird die Erkenntnis samt der Erkenntnistheorie nicht nur zum Gegenstand der Anthropologie gemacht, sondern überdies „anthropologisiert“ insofern, als die „Mittel […], die das Theoretisierte selbst anbietet“ (ebd.), die Gesamtheit seiner Mittel umfassen, womit die psychophysische Verfasstheit des Erkennenden und Theoretisierenden in toto als Organon der Erkenntnis und als Gegenstand der Erkenntnistheorie angesetzt wird. Anders gesagt: Das Selbstverhältnis des Erkennenden als Mensch entzieht dieses erkenntnistheoretisch einer kognitivistischen Verkürzung auf die Vernunft, den Geist etc. Gegen Descartes wendet Sonnemann ein, dass gerade „die Ignorierung der Leiblichkeitserfahrung in der Ich-Konstitution erst die Scheidung der Welt in Cogitatio und Extensio ermöglicht“. (Ebd.: 167) Doch weder um eine Phänomenologie dieser Leiblichkeitserfahrung noch um eine genaue Verortung derselben innerhalb der Erkenntnissphäre bemüht Sonnemann sich. Stattdessen bleibt er bei der zwar unmittelbar verständlichen, aber nicht philosophisch vertieften Behauptung stehen, es gebe „kein Selbstinnesein, das komplett ohne leibliche Qualität, mit ihr ein Konstitutionsmoment von Erfahrung seines Verhältnisses zur Welt, zu einem Ort in ihr, also zum Raum wäre“. (Ebd.) Gerade die angeführte „Abhängigkeit der explikativen Methode von dem, was im anthropologischen Sachbereich ihr eigener Gegenstand wäre“ (ebd: 239), die Abhängigkeit vom Menschen als einem leiblich verfassten Erkennenden, stellt das Philosophieren vor das Desiderat einer Theorie dieses Erkennenden als solchen und damit vor das einer Anthropologie. Doch an die Stelle einer Anthropologie tritt bei Sonnemann in der Negativen Anthropologie eine Phänomenologie der Erkenntnis, deren Kernstück die Unterscheidung zwischen der „selbstobjektivierenden Reflexion“ (ebd.: 318) und der „Reflexion per se“ (ebd.) bildet. Die Aporie der selbstobjektivierenden Reflexion bestehe darin, dass sie gerade die Subjekt-ObjektRelation in Szene setze, welche die Aufmerksamkeit für die ursprüngliche Einheit des weltzugewandten bzw. kathektischen Erkennens töte: Die Bedingung der inneren Einheit und Identität, des sich selbst erfahrenden Ichselbstseins, ist die Begegnung mit dem Nicht-Selbst, die volle Weltaufmerksamkeit; ohne diese äußerste Spannung des Selbst auf seine Welt kann weder in seiner Welt etwas ganz, noch das Selbst ganz es selbst sein. Indem aber die Selbstobjektivierung, die ja Selbstbeobachtung ist, die Person in einen
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Subjekt-, einen Objektpol spaltet, vernichtet sie diese Einheit; die Aufmerksamkeit, da das IchObjekt sie beansprucht und auf sich zieht, kann ihren Fokus nicht länger auf die Welt richten. (S 3: 318)
Mit der Aufmerksamkeit, die man für eine psychologische Zustandsbezeichnung zu halten geneigt sein könnte, führt Sonnemann einen epistemologischen und gleichermaßen phänomenologischen Grundbegriff ein: Erkenntnis ist nur Welterkenntnis, wenn die Aufmerksamkeit Person und Welt und damit zugleich die Person ohne Aufhebung einer präsentischen Simultaneität von Person und Welt mit sich selbst vermittelt, d. h. hier aber: wenn und insofern sie diese innerhalb ihrer Sphäre kathektisch zusammenschließt. Das bedeutet außerdem: wenn Person und Welt in der personalen Aufmerksamkeit selbst, nicht im (als solchem bereits analytisch distanzierten und reifizierten) personalen oder kognitiven Zustand der Aufmerksamkeit, zur Kathexis gelangen, die präsentistisch der Analyse vorausliegt. Vermittlung meint hier keinen theoretischen Vorgang, sondern einen Vorgang innerhalb der Aufmerksamkeit meint nicht Aufmerksamkeit des Subjekts, d. h. seitens des Subjekts ist, sondern gerade Aufmerksamkeit des vital Erfahrenden für die Welt, für Andere, für mich selbst, für Stimmungen etc. Sie ist kein psychologischer Zustand, sondern selbst die Bedingung der inneren Einheit und Identität, des sich selbst erfahrenden Inneseins, ist die Begegnung mit dem Nicht-Selbst, die volle Weltaufmerksamkeit; ohne diese äußerste Spannung des Selbst auf seine Welt kann weder in seiner Welt etwas ganz, noch das Selbst ganz es selbst sein. (Ebd.)
Die Aufmerksamkeit ist kein Zustand, in dem die Person sein muss, um sich als unzerreißbare, nicht cartesisch spaltbare Einheit oder die Welt ohne objektivierende Distanzierung zu erfahren, sondern Aufmerksamkeit ist das Organon, das überhaupt erst den Welt- und Selbstkontakt herstellt. Wo dieser Welt- und Selbstkontakt besteht, sind wir aufmerksam, und wo wir aufmerksam sind, besteht dieser Kontakt faktisch, ohne erst noch zusätzlich erzeugt werden zu müssen. Erst in dem der eigentlichen Aufmerksamkeit entgegengesetzten Zustand der Objektivierung – gleichwohl einer abgeleiteten und nachträglichen Aufmerksamkeit, die keine Weltaufmerksamkeit ist – ist „menschliches Wesen objekthaften Bestimmungen unterworfen“. (Ebd.: 239) Aber was bedeutet es für die Epistemologie der negativen Anthropologie und der Anthropologie überhaupt, dass „menschliches Wesen“ nur in der Aufmerksamkeit, d. h. im Aufmerksam-sein, ganz bei sich und der Welt ist? Abgesehen davon, dass der Zustand der Weltaufmerksamkeit, der kathektische Zustand der Person, epistemologisch privilegiert wird, wird die cartesische SubjektObjekt-Relation von Sonnemann als Subjekt-Objekt-Spaltung¹⁰ bezeichnet – er spricht Den Begriff der Spaltung verwendet Sonnemann nicht exklusiv, um den cartesianischen Dualismus zu kritisieren, sondern greift – epistemologisch und geschichtsphilosophisch – Luther damit an, wenn er von der „spezifisch deutschen Weltspaltung“ (S 4: 351) spricht, die dieser mit seiner Zwei-ReicheLehre noch vor der cartesianischen Revolution eingeführt habe. In der Negativen Anthropologie be-
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umfassender von der diese beinhaltenden „kartesischen Weltspaltung“ (ebd.: 166) –, als eine Spaltung, die gerade das Produkt verdinglichender Reflexion außerhalb der genuinen Weltaufmerksamkeit bilde. Damit wird die neuzeitliche Philosophie als im methodologischen Ansatz verfehlt verworfen, denn weder kann sie die Grundlage einer negativen Anthropologie noch die einer positiven Anthropologie bilden, welche nicht in ihr methodisches Grab hineingeboren wird. Indem Sonnemann seinem phänomenologischen Erbe mit dem Aufmerksamkeitsbegriff die Treue hält, gerät er allerdings in eine prekäre Fraglichkeit, wie Reflexion als Selbstreflexion möglich sein soll, anders gesagt: ob es für die Selbstreflexion einen anderen als den „Retrospektionsstandort“ (ebd.: 56) geben kann, der den Kreißsaal der Spaltung bildet, weil „ein Subjekt der unmittelbaren Selbsterfahrung und ein Objekt dieses Rückblicks“ (ebd.) auf dieses Subjekt sich außerhalb der Weltaufmerksamkeit nur gegenüberstehen und deshalb gerade nicht begegnen. Die Aufmerksamkeit als das Geöffnetsein für Welt könnte in der reflexiven Variante nur ein Selbstinnesein sein, wie es der Reflexion in ihrem herkömmlichen Verständnis gerade vorausgeht. Aufmerksamkeit ist per se, ihrer Logik und ihrem Wesen nach, und per definitionem, ihrem phänomenologisch sinnvollen Begriff nach, eine Beziehung zwischen Person und Welt, die aller Spaltung beider genetisch vorausgeht, begrifflich aber nur retrospektiv einholbar ist. Die Aufmerksamkeit trägt sich nicht selbst, sondern wird getragen von der Spontaneität, die bei Sonnemann ebenfalls als epistemologischer Grundbegriff fungiert. Spontan ist eine Erkenntnis, die aus der Einheit von Theorie und Praxis heraus erfolgt, „Theorie und Praxis in einem“ (ebd.: 63) ist, und dieselbe deshalb nicht von außen beschwören oder nachträglich artifiziell zu bewerkstelligen versuchen muss. Die Spontaneität ist nicht der Reflexion per se, sondern der falschen, im schlechten Sinne abstrakten, entgegengesetzt, die das in ihr Reflektierte verdinglicht, anders gesagt: deren Objektivität auf Reifikation basiert. Die scheiternde Reflexion ist für Sonnemann die isolierende Ich-Reflexion der Psychoanalyse, welcher die Lebensvollzüge und Weltbezüge, aus der sie erwächst, entgleiten und die gerade dadurch das Ich in der ihm fremden Welt hervorbringen kann; über sie sagt Sonnemann: Scheitern muß diese [die Ich-Reflexion, S. E.], wo anders als in produktiver Selbsterkenntnis, in der urteilend der Mensch sich an dem mißt, was er als herausfordernden Anspruch eines ihn meinenden Nicht-Selbst erfährt, das Selbst nicht in seinen Weltbezügen, sondern als Ich in seiner Isolierung erfaßt wird, als Schatten eines introspektiven, selbst bereits chimärischen Dings. (Ebd.: 85)
Damit wird das Ich, welches das Präfix „re-“ im Begriff der Reflexion überhaupt erst legitimiert, nicht der Reflexion entzogen, denn das Seiner-selbst-Gewahrwerden kann durchaus reflexiv und spontan zugleich sein; die Reflexion kann nur nicht solches
zeichnet Sonnemann den spaltungsbedingten Spontaneitätsverlust als die geschichtsphilosophische Wurzel der „politische[n] Misere des revolutionsunfähigen Volkes“ (S 3: 84), als welches er die einer politischen Spontaneität unfähigen Deutschen ansieht.
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Gewahrwerden sein und zugleich verdinglichende Welteinteilungen und klassifikatorische Gegenstandsetikettierungen vornehmen. Die „gewahrende“ Reflexion zeichnet sich Sonnemann zufolge aus durch die „Spontaneität voller Aufmerksamkeit für die Welt als eine äußere und innere“. (Ebd.: 86) Die Spontaneität kann der Aufmerksamkeit also durchaus eine reflexive Richtung geben, ohne dass dadurch eine Selbstobjektivierung und -verdinglichung stattfinden müsse. Dem Unterschied zwischen der spontanen Reflexion und der selbstobjektivierenden Reflexion entspricht die fundamentale Differenz zwischen der Selbstbestimmung aus Freiheit und der „Ich-Präokkupation“ (ebd.: 318) auf der Basis verdinglichender Introspektion. Einen exemplarischen Vollzug einer Ich-Präokkupation weist Sonnemann, so viel sei vorausgreifend angemerkt, am Beispiel von Freuds „Spaltung des Bewußtseins in konkurrente Motivsysteme“ (ebd.: 82), d. h. in als entitär verfasste Bereiche des Bewussten und Unbewussten, auf. Die Ich-Präokkupation besteht in Freuds Fall wie bei jeglichem objektivierenden Denken darin, dass eine die Reflexion vorab kanalisierende Vermessung, de facto eine Vorprojektion des Ich durch dieses selbst, vorgenommen wird; sie wird von ihm vollzogen und bleibt ihm als Selbstobjektivierung zugleich äußerlich. Epistemologisch bedeutet dies: Erkenntnis kann nur Erkenntnis gemäß vorgegebener Schemata sein, die Spontaneität geht am Gängelband dieser Schemata und ist demgemäß keine (spontane) mehr. Wird die spontane Reflexion „lediglich“ durch die Aufmerksamkeitsrichtung der Spontaneität bestimmt, so kann man, wie Sonnemann dies tut, behaupten, „daß offenbar die reflexivsten, bewusstesten Bewußtseinszustände […] vor lauter Absorption durch Erkenntnis […] die Wahrheit eines welthaften Sachverhaltes, kurzum, vor Engagement, von aller Ich-Präokkupation gerade freibleiben“ (ebd.), insofern Reflexivität hier eine Qualität der Selbstgegebenheit in der Erfahrung meint und keinen analytischen Akt. Das Verhältnis von Spontaneität und Aufmerksamkeit ist nicht nur epistemologisch grundlegend bei Sonnemann, sondern es bildet darüber hinaus den Nukleus seiner Kritik aller positiven Anthropologie. Die spontane Erkenntnis und Reflexion sind das Organon der Selbstbestimmung aus Freiheit im Unterschied zur Ich-Präokkupation, einer Determination des Selbst durch abstraktes und verdinglichendes Denken. Die Psychoanalyse stellt Sonnemann als Pars pro toto einer anthropologischen Aporie dar; sie realisiere exemplarisch, „was im Prinzip für anthropologische Theorie generell“ (ebd.: 88) gelte, nämlich dass ihr Prinzip die „Reflexion eines Sichbestimmen-Wollenden […] erst eingreifend hervorbringt: bestimmt“. (Ebd.) Erfolgt die Bestimmung durch ein anthropologisches Prinzip, so ist sie, in Anlehnung an Adornos „Selbsterhaltung ohne Selbst“ (AGS 8: 115) gesprochen, eine Selbstbestimmung ohne Selbst. Diese Adorno-Adaptation ist insofern gerechtfertigt, als das substantielle Selbst der Selbstbestimmung bei Sonnemann aus der Spontaneität und damit aus Freiheit handelt; phänomenologisch tritt im Verhalten die Selbstbestimmung als ein Sich-zeigen von Spontaneität in der Gestalt von Freiheit auf: Was sich sponte begibt, begibt sich von selbst, also frei: ohne dieses von selbst glückt keine Wesensbestimmung der Freiheit, die aus ihrem Wesen verstanden nicht die libertas von Rechten
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und Einrichtungen, sondern etwas Ursprünglicheres ist. […] Die Freiheit, die in der Welt in Gestalt des Spontanen erscheint, will sich zeigen, sie will nicht bestimmt werden; sie ist selbst das Bestimmende (des Geistes) und die Bestimmung (des Menschen). (S 3: 316)
Die epistemologische Pointe der negativen Anthropologie besteht nun darin, das menschliche Wesen von der Spontaneität und Freiheit, also von einer ursprünglichen Selbstbestimmung her, so zu denken, dass jede positive anthropologische Theorie zum menschliche Spontaneität in ein epistemisches Korsett zwingenden Gewaltakt wird – etwa durch Vereinseitigungen (z. B. durch die Bestimmung des Menschen als Geistwesen) – und zudem einer zukünftigen Spontaneität¹¹ durch Theorien und Abstraktionen gewonnene und normativ überhöhte Verhaltensrestriktionen (auch theoretischer Art) aufbürdet. Die Spontaneität und Selbstbestimmung strukturell unterminierenden oder zumindest gefährdenden Resultate und (zugleich) Manifestationen einer positiven Anthropologie nennt Sonnemann Immobilismus und Manipulismus, die beide in der Negativen Anthropologie nicht explizit definiert werden. Der Manipulismus lässt sich allerdings tentativ definieren als die verhaltensbildende Internalisierung ausdrücklicher Definitionen oder unausdrücklich dirigistischer Bestimmungen oder Direktiven menschlichen Verhaltens.¹² Der Immobilismus lässt sich tentativ definieren als eine über den Apparat hinausreichende, gleichwohl durch ihn teilweise geformte, zumindest aber beeinflusste Praxis der Immobilisierung gesellschaftlicher und individueller Selbstreflexion und reflexiv selbstbestimmter Entwicklung; Sonnemann spricht aufgrund der den Bereich der Kultur im Ganzen durchdringenden Reichweite des Immobilismus auch vom „Kulturimmobilismus“ (S 3: 254), der „greifbare Folgen für Politik, Justiz und Erziehung“ (ebd.)¹³ habe – Folgen, die Sonnemann nicht nur benannt, sondern denen er, sowohl als Autor wie als Herausgeber, jeweils ein Buch gewidmet hat. Die Spontaneität im epistemologischen Sinne ist also nicht nur – dies wäre trivial und tautologisch – spontan, sondern sie übersteigt sich selbst hin auf zukünftige Spontaneität, d. h. auch: Die spontane Reflexion steht in einem negativen Verhältnis zu Resultaten und (der Herausbildung von apparativen) Strukturen, welche zukünftige Spontaneität unterminieren oder unter ihr Joch zwingen. Eine im engeren Sinne epistemologische Agenda der Negativen Anthropologie stellt die Kritik des Begriffsrealismus dar.¹⁴ Der Begriffsrealismus vollziehe eine Reifikation spontaneitätsgesättigter Phänomendeutungen durch abstrakte Begriffe – und damit letztlich teilweise eine funktionale Substitution von Erfahrung durch ver Die zukünftige Spontaneität fungiert hier als strukturelles Analogon dessen, was Krüger bei Plessner als „zukünftige Geschichtlichkeit“ freilegt, vgl. Krüger 2009: 139. „Es handelt sich beim Manipulismus, mit welchem Namen das zweiteilige Wesen des Selbstausbeuters, des Menschen des verinnerlichten Apparates, hier bestimmt sei“. (S 4: 157) Vgl. Sonnemann 1968, 1969 und 1970b. Eine solche Kritik ist nicht erst bei Sonnemann zu finden, sondern auf einer ähnlichen theoretischen Grundlage und mit vergleichbarer Stoßrichtung schon in den 1930er Jahren bei Max Horkheimer, der den Begriffsrealismus dem dialektischen Denken gegenüberstellt. Vgl. Horkheimer 1988: 184 ff.
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dinglichende Begriffe –, deren Genesis und Geltungsgrenzen nicht reflektiert und überdies zum Verschwinden gebracht würden. In Die Menschenwissenschaften und die Spontaneität (1958) führt Sonnemann aus: Dieser Begriffsrealismus, der paradoxerweise unter einer empiristischen, also nominalistischen Überzeugung sich entfaltet, zieht sich durch die gesamte Menschenwissenschaft der Moderne: für ein angeschautes Spontanphänomen wird eine Reifikation, ein abstrakter Objektbegriff gesetzt, die Phänomenalität des Erschauten verschwindet dann hinter dem Begriff. (S 2: 495)
Sonnemann setzt die Spontaneität als Grundbegriff an, weil gerade die Spontaneität des Menschen – vermöge der nicht mono-direktionalen (Außen‐)Gerichtetheit der Aufmerksamkeit – das nicht-begriffliche, jedoch notwendige und potente und als solches den Gefahren der Begriffslogik widerständige Korrektiv der Begriffslogik ist, dessen entscheidende Potenz in der lebendigen Reflexivität – der nicht-begrifflichen Reflexivierung spontaner Aufmerksamkeit – besteht: Vergegenwärtigung ist Spontaneität, nicht obwohl sie reflexiv ist, sondern weil sie es ist, denn ihre Reflexion stellt die Unmittelbarkeit einer in ihrem Begriff vergangenen Situation wieder her. Sie könnte es nicht, wenn sie dessen Abstraktes, den Widerstand des Begriffs, nicht durchbräche, Arbeit des Denkens wäre, daher gibt es weder eine ‚volle menschliche Gegenwart‘ als eine mitmenschliche ohne das Denken, noch kann diese mehr als bloßer Ablauf einer präkonditionierten Verstandesoperation sein, wo die Vernunft in ihrer Ursprünglichkeit, als mitmenschliche Spontaneität, nicht die Führung hat. (S 3: 298)
Die Spontaneität, menschliches und individuelles Vermögen zugleich bzw. als ersteres auf die individuelle Realisierung angewiesen, ist in Sonnemanns Verständnis per se politisch. Der politische Aspekt der Spontaneität scheint in der Negativen Anthropologie auf, wird aber in Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten wesentlich klarer artikuliert, wo er in Bezug auf den sowjetischen Staatsapparat sagt: Die Ersetzung des Apparats, seiner Abstraktionen und Schemata, durch das Interesse und seine Spontaneität holt die Revolution in den Westen und ins Herz des Menschen zurück als an die Orte der Wahrheit, von denen sie kommt, an denen sie bleibt und die ihr die einzige Chance gewähren, ihr Werk zu tun, die Ausbeutung also abzuschaffen. (S 4: 138)
Damit wird das Feld einer Phänomenologie der Spontaneität, welche die Epistemologie der Negativen Anthropologie trägt, in sowohl normativer als auch politischer Orientierung verlassen, um die Spontaneität im doppelten Sinne zum Wahrheitsmedium zu machen: zum Medium der wahren Erkenntnis und zum Medium der Erkenntnis des menschlich Wahren mit der Pointe, dass beide, über die möglichen Begründungsleistungen einer Phänomenologie der Spontaneität hinaus, in einem ethisch-erkenntnistheoretisch doppelt bestimmten Wahrheitsbegriff konvergieren. Was Sonnemann damit gewinnt, ist ein Begriff des Politischen, der dasselbe zugleich fasst und affirmiert als seinem genuinen Wesen nach ideologisch unvereinnahmbar.
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Im Hinblick auf Adorno ist hier noch auf eine Eigentümlichkeit von Sonnemanns Epistemologie hinzuweisen, die ihn gerade in Differenz zu ersterem setzt. Während Adorno die Subjekt-Objekt-Relation noch im Sinne der materialistischen Dialektik, wenngleich unter negativen Vorzeichen, ausformuliert, nimmt Sonnemann Bezug auf die Subjekt-Objekt-Relation als auf eine von einer unaufhebbaren Disjunktion durchzogene, welche der Spontaneität und Aufmerksamkeit nur in den Rücken fallen kann. Sonnemanns Phänomenologie der Aufmerksamkeit zielt auf eine Subjekt-Objekt-indifferente Sphäre, aus welcher die Unterscheidung von Subjekt und Objekt sich zwar sowohl nachträglich als auch abstraktiv gewinnen lässt, allerdings ohne für die Erfassung der epistemischen Struktur der Aufmerksamkeit fruchtbar zu sein. Wenn Sonnemann allerdings die Leiblichkeit als Konstitutionsmoment¹⁵ des Menschseins ins Feld führt, geht er unmerklich von der Phänomenologie zu einer Konstitutionstheorie über, welche gerade die Struktur der Subjekt-Objekt-Theorie annehmen kann, wie sie dies bei Adorno in Zu Subjekt und Objekt (AGS 10/2: 741– 758) tut, wo dieser die Objekthaftigkeit des Subjekts selbst gegen den Idealismus in Stellung bringt. Wie Sonnemann auf zwei Ebenen agieren kann, lässt sich im Rekurs auf Schopenhauer exemplifizieren, bei dem der Leib eine einzigartige Doppelstellung einnimmt und die Konvergenzfigur von Wille und Vorstellung bildet: „Objekt ist aber schon sein Leib, welchen selbst wir daher, von diesem Standpunkt aus, Vorstellung nennen.“ (Schopenhauer 1988a: 33) Der Leib als vorgestellter fällt in die Subjekt-Objekt-Relation, der Leib als der gefühlte, als welcher wir er sind, hingegen ist Vorgestelltes (erkannter Körper) und die Vorstellung Ermöglichendes (im Modus des unmittelbaren Sichselbstgegebensein „Bewohntes“) zugleich – Schopenhauer spricht innerhalb der klassischen Terminologie, gleichwohl (lediglich) intentional deren theoretischen Rahmen transzendierend, vom Leib als von einem „unmittelbaren Objekt“¹⁶ –, in der Sprache von Existence and Therapy: Der Leib ist selbst horizonthaftes Element als Medium von Aufmerksamkeit und Gegenstand sui generis derselben, etwa in der Propriozeption. Hier laufen bei Sonnemann zwei Systematiken nebeneinander her, die phänomenologische und die letztlich cartesianische, der die Negative Anthropologie sich gerade entwinden soll. Der Phänomenologie der Aufmerksamkeit zufolge ist Leiblichkeit gerade keine bloße Bedingung von Aufmerksamkeit im analytisch-dispositionellen Sinn, wie dies bei Konstitutionsmomenten auch in der dialektischen Verschränkung noch der Fall ist. Die Phänomenologie der Aufmerksamkeit kennt die Leiblichkeit deshalb nicht dispositionell als Konstitutionsmoment von Subjektivität, sondern indem sie sie als Konstitutionsmoment auffasst, fasst sie sie gerade als mehr denn als ein Konstitutionsmoment auf, nämlich als ein in der Erscheinung eines
Die „Vorstellung eines körper-, welt- und ortlosen Daseins, von der Descartes gerade ausgeht […] gelingt nicht, denn es gibt kein Selbstinnesein, das komplett ohne leibliche Qualität, mit ihr ein Konstitutionsmoment von Erfahrung seines Verhältnisses zur Welt, zu einem Ort in ihr, also zum Raum wäre“ (S 3: 167). „Denn der Leib ist Objekt unter Objekten und den Gesetzen der Objekte unterworfen, obwohl er unmittelbares Objekt ist.“ (Ebd.)
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horizonthaften Mediums von Erkenntnis selbst sich Zeigendes, dessen man in der Aufmerksamkeit gewahr werden kann. Hier zeigt sich exemplarisch, dass es Sonnemann darum mindestens so wichtig ist, mit verschiedenen Systematiken zu kommunizieren und auf sie, teils kritisch, teils integrativ Bezug zu nehmen, wie es ihm darum zu tun ist, eine eigene negativ-anthropologische Systematik zu entwickeln. Das Kernstück der Negativen Anthropologie bildet nicht eine positive Theorie, sondern eine theoretisch und phänomenologisch unterfütterte Apologie der Spontaneität, die kognitiv mit der Aufmerksamkeit und praktisch mit der Freiheit verschwistert ist, wie Sonnemanns politische Schriften zeigen: Die theoretische Absicherung des Spontanen oder einfach der Freiheit, deren Verständnis im deterministischen Zeitalter völlig verlorenging, ist nicht nur in den Menschenwissenschaften jetzt fällig, sondern politisch geboten: keine künftige Doktrin, die den insgeheim längst vakanten Platz des alten Liberalismus beanspruchen will, käme ohne sie aus. (S 4: 417)
Dass ein politischer Impetus ins theoretisch-systematische Zentrum der Negativen Anthropologie sowohl hineinreicht als auch dessen movens bildet, mag der Grund dafür sein, dass Sonnemann stringenter als in der Entwicklung einer eigenen Systematik in seinen Kritiken verfährt, wie nun am Beispiel seiner Kritik der im obigen Zitat angesprochenen Menschenwissenschaften gezeigt werden soll, deren epistemologische Grundlagen dabei zur Schärfung des hier Dargelegten explizit gefasst werden sollen.
1.1.2 Die Kritik der Menschenwissenschaften und des wissenschaftlichen Objektivismus in ihrer spezifisch negativ-anthropologischen Fassung Der Begriff der Menschenwissenschaften ist weitgehend außer Gebrauch gekommen. Unter den prominenten Autoren im deutschsprachigen Raum hat Norbert Elias diesem Begriff zur Verbreitung verholfen und die Menschenwissenschaften wesentlich als Sozialwissenschaften aufgefasst. (Vgl. Elias 1991: 202) Elias spielt allerdings in Sonnemanns Schriften keine Rolle, zudem entspricht sein Begriff der Menschenwissenschaften nicht dem Sonnemanns. Søren Kjørup sagt in seiner Einführung Humanities. Geisteswissenschaften. Sciences humaines: Was haben so unterschiedliche Fächer wie Linguistik und Geschichte, Germanistik und Musikwissenschaft, Archäologie und Psychologie eigentlich gemeinsam – und gemeinsam mit Fächern wie Anthropologie und Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Ethnologie? […] Es sind Menschenwissenschaften – so der Titel dieses Buches in seiner dänischen Originalausgabe. Im Französischen spricht man ganz analog von sciences humaines und im Englischen von humanities. Das Deutsche verwendet dafür die Bezeichnung Geisteswissenschaften. (Kjørup 2001: VII)
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Sowohl durch die fortgeschrittene Internationalisierung der Geisteswissenschaften als auch aufgrund von Foucaults Kritik der sciences humaines hat letzterer Begriff eine Wirkmächtigkeit erlangt, welche die des Begriff der Menschenwissenschaften überstrahlt; dabei ist nicht auszublenden, dass Sonnemann mit „Menschenwissenschaften“ eine Praxis bezeichnet, die heute in der praktisch bzw. instrumentell orientierten Psychologie aufgegangen ist. Sonnemann hat diese Veränderung im Sprachgebrauch antezipiert, wo er in Existence and Therapy von den „Menschenwissenschaften in der Psychologie“ (S 2: 45) spricht. Die Kritik der Menschenwissenschaften erhält in der Negativen Anthropologie eine andere, eher politische, allerdings auf sehr ähnlichen theoretischen Grundlagen basierende Prägung als in Existence and Therapy, wo sie eher phänomenologisch-wissenschaftstheoretischer Natur war. Der Fall, an welchem Sonnemann in der Negativen Anthropologie seine Kritik der Menschenwissenschaften exemplarisch entwickelt, ist die Testpsychologie bzw. die Psychometrik; in Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten erfährt diese Kritik eine Vertiefung und Erweiterung am Beispiel der Demoskopie. Die Stichworte, unter denen die Kritik der Menschenwissenschaften sich fassen lässt, lauten Manipulismus und Objektivismus, die hier zwei Seiten einer Medaille bilden. Manipulismus und Objektivismus bilden das Junktim der als solche aufgefassten Definitions- und – insofern – Machtpraktiken Testpsychologie und Demoskopie einerseits und der ihnen zugeordneten Wissenschaften Psychologie und Soziologie andererseits, die Sonnemann als solche von der negativen Anthropologie her angreift und in Frage stellt: Was not tut (unter anderem) wäre eine negative Anthropologie: eine, die ihre positiven Vorgänger sämtlich zerstört: die den Menschen gegen seine eigenen Selbstbestimmungen als Objekt in Schutz nimmt, die herausarbeitet, was alles, den Mythologemen der Soziologen und Psychologen zum Trotz, er nicht zu sein braucht, wesentlich also nicht ist, unweigerlich dort aber wird, also jene Ansichten von sich selber bestätigt, wo er sich in ihrem Sinne bestimmt, sich nämlich auf ihre Betrachtungsart einläßt. (S 4: 275)
Zurückgestellt werden soll hier zunächst die bemerkenswerte Tatsache, dass Sonnemanns Absicht, die positiven Anthropologien zu zerstören, in der Negativen Anthropologie nicht die Gestalt einer immanenten Kritik angenommen hat, gegenüber der Tatsache, dass Soziologie und Psychologie hier als die mythopoietischen Kernwissenschaften der Menschenwissenschaften dargestellt werden, die negative Anthropologie also da, wo sie noch Desiderat ist – sechs Jahre vor dem Erscheinen der Negativen Anthropologie –, als Wissenschaftstheorie und -kritik und als solche wiederum als Ideologiekritik konzipiert wird. Diese Ideologiekritik soll nun anhand der Demoskopie und der Testpsychologie dargestellt werden. In der Kritik der Demoskopie offenbart sich bereits eine gravierende Ambivalenz in Sonnemanns Argumentation, da er die Demoskopie sowohl als Wissenschaft anerkennt, sie aber zugleich als eine gefährliche Mythologeme produzierende Praktik ansieht:
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Es wird an der Demoskopie als Wissenschaft ja überhaupt hier nicht gezweifelt: wenn Grund bestünde, das zu tun, wäre sie als Tätigkeit nicht so erfolgreich, wie sie offenbar sein muß, um das vollkommen andere – sozialphilosophische, politische – Problem, als das wir sie antrafen, ernstlich aufwerfen zu können. (Ebd.)
Was die Demoskopie als Wissenschaft qualifiziert, ist ihr Erfolg, d. h. die Reliabilität ihrer Ergebnisse und deren (damit auch ihre, der Demoskopie) Validierbarkeit. Indem Sonnemann Erfolg hier als hinreichendes Kriterium von Wissenschaftlichkeit ansetzt, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Erfolg und Wahrheit im Lichte der Frage danach, was Wissenschaft sei. Sonnemann unterscheidet zwischen der „Demoskopie als Verfahren der Sozialwissenschaft“ (ebd.: 320) und der „Demoskopie als Bemächtigungsinstrument“. (Ebd.) Der Riss, der durch die Demoskopie geht, ist selbst kein wissenschaftlicher oder wissenschaftsinterner, sondern rührt von der funktionalen Rolle der Demoskopie innerhalb eines ihrer als Wissenschaft intentional fremden und auf Beherrschung und Manipulation zielenden Apparats her. Nicht nur die Demoskopie als solche gerät hier in den Blick, sondern auch das Verhalten der Demoskopen, da „die Meinungsforscher zwar Wissenschaftler, Sozialwissenschaftler sind, sich aber als Techniker verhalten“ (ebd.) – nicht lediglich als Techniker ihrer Wissenschaft , sondern auch als selbst als Werkzeuge außerwissenschaftlicher Interessen dienende Sozialtechniker, deren „Forschung in Zwecke eingespannt wird, die selbst in der Regel nicht von der Wissenschaft, auch nicht von anderen artikulierten gesamtgesellschaftlichen Interessen, sondern von auf Profit oder Macht gerichteten partikularen Interessen innerhalb der Gesellschaft bestimmt werden“. (Ebd.: 315) Ein klassisches Beispiel für Sonnemanns Behauptung ist die von psychodiagnostischen Interessen motivierte und Bildungsstratifikationen determinierende Entwicklung von Intelligenztests durch Alfred Binet im frühen 20. Jahrhundert. Weniger die Epistemologie im strikten Sinn bemüht Sonnemann in seiner Kritik der Demoskopie als vielmehr einen „Standpunkt der Wissenschaftstheorie“ (ebd.: 322), der ein ideologiekritischer ist. Und auch von diesem Standpunkt aus erschöpft die Kritik sich in der Feststellung, dass es der Demoskopie eher darum zu tun ist, „die Nützlichkeit ihrer wissenschaftlichen Existenz unter Beweis zu stellen anstatt ihre innere Wahrheit“. (Ebd.) Doch welche „innere Wahrheit“ kann für Demoskopie überhaupt erreichbar sein jenseits quantitativ basierter Voraussagen? Da ihr Objekt „nicht wie im Fall der Naturwissenschaften die Welt des Objektiven selbst, sondern der Mensch ist“ (ebd.), müsste ihre innere Wahrheit mit der konvergieren, welche dem Menschen über sich selbst offenstünde oder sie müsste die menschliche Wahrheitssuche gar befördern. Genau davon ist sie aber durch ihr zentrales Kriterium des prognostischen Erfolgs unaufhebbar abgeschnitten. Sonnemanns Kritik der Demoskopie ist im Wesentlichen eine Zweckentfremdungskritik, da er nicht prinzipiell ausschließt, die Demoskopie könne „durch präzise, aufs umsichtigste formulierte, aber dem Inhalt nach überraschende, ja schockierende Fragen die Bewußtseinsdumpfheit so mancher der Befragten bekämpfen, mithin auf ihre Weise beitragen,
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Öffentlichkeit hierzulande endlich herzustellen“. (Ebd.: 326) Doch dann würde die Demoskopie Fragen aufwerfen, auf die sie gerade die Antworten nicht mehr erwarten kann, die sie schnell und mühelos zu gewinnen hofft; ihr gesellschaftlicher Effekt würde ihre prognostische Effektivität sabotieren. Wo sie für Sonnemann sinnvoll würde, würde sie ihren eigenen Richtlinien nach sinnlos werden und eher einer politischen Intervention im wissenschaftlichen Gewand ähneln, als Meinungsbilder zu ermitteln. Die Kritik der Demoskopie ist also keine im strikten Sinne epistemologische, sondern eher eine wissenschaftspolitische; anders steht es um die Kritik der Testpsychologie, da hier eine dezidierte Konzeption des getesteten „Gegenstands“ der wissenschaftlichen Konzeption direkter inhäriert.
1.1.3 Sonnemanns Kritik der Testpsychologie Wie die Demoskopie, so nimmt Sonnemann auch die Testpsychologie in einem weiteren als in einem technischen, nämlich in einem politisch-pädagogischen Rahmen in den Blick. Sonnemann unterscheidet zwischen einer „optimalen Pädagogik, die das Testen überhaupt erübrigte“ (ebd.: 201), und der schlechten, realen Pädagogik, in welcher der Psychometrik im Ganzen der Status eines totalitären Staatsorgans zugeschrieben wird: „Die Psychometrik ist die Geheimpolizei des psychologisch-pädagogischen Notstandes.“ (Ebd.: 190) So knackig die Formulierung klingt, sie verharmlost gar, worum es in der Psychometrik geht, als deren „klassisches Land“ (ebd.: 186) Sonnemann die USA bezeichnet, nämlich um eine geschichtsphilosophisch keineswegs kontingente „Gestalt des human engineering“ (ebd.). Das objektive Dilemma jeglicher Testpsychologie als Gestalt des human engineering bestehe darin, dass sie den Menschen zugleich in funktional inkompatibler Doppelwertigkeit ansetze, als Maß und als Messbares der psychometrischen Konstruktion: Der Mensch ist Maß oder Meßbarkeit: er kann nicht beides zugleich sein, und insofern er Meßbarkeit ist oder sein könnte, stellt sich die Frage nach den Inhabern des Maßes: der Mitmensch, da er selber solcher Messung unterläge, kann den Maßstab nicht haben, denn woher sollte er ihn eigentlich nehmen? (Ebd.: 191 f.)
Die Messbarkeit der Intelligenz ist das Resultat der vermessenen Vermessung des Unvermessbaren, das der Mensch als derjenige ist, woran Maß zu nehmen wäre, woran aber gerade nicht Maß im quantitativen Sinne genommen werden kann. Wesentliches Merkmal und konstitutiver Mangel eines jeden Tests ist Sonnemann zufolge, dass „er Hinfälliges festhält, auf Zufälliges Wertskalen baut, dem Mangel an Maßstäben mit Durchschnittskalkülen begegnet“ (ebd.: 204). Seine Unfähigkeit, die nötigen Kriterien seines Operierens zu gewinnen, überdeckt er mit so glattgebügelter wie nahtloser Funktionalität, die daraus gewonnen wird, dass mittels der Durchschnittskalküle Leistung überhaupt als statistische Größe definiert wird, um sie an-
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schließend gemäß einer Definition differentiell zu bestimmen, die zu ihrer Voraussetzung hat, das Maß (den Menschen, der über eine originäre Intelligenz verfügt) von der Messung (von Durchschnittsleistungen innerhalb so steriler wie artifizieller Problemlösungskonstellationen, deren jede gemessen an dem, was nennenswerte Intelligenz zu vollbringen weiß, primitiv ist) her bestimmt zu haben. Insofern vollstreckt die Testpsychologie als konkrete Manifestation des menschenwissenschaftlichen Paradigmas Sonnemanns Disjunktion zwischen Maß und Messbarkeit zugunsten letzterer. Diese Interpretation bestätigt Sonnemanns Generalverdikt über die positiven Menschenwissenschaften in seiner anthropologischen Zuspitzung: Der archimedische Irrtum der positiven Menschenwissenschaften ist selbst Anthropologicum: die ihr Spiel mit ihnen treibende Illusion von Menschen, deren Weltverhältnis auf Extensivierung, Vergegenständlichung von allem und jedem (die in der Konsequenz ihres Gesetzes auch sie selbst dann nicht ausspart) geeicht wurde, unter den besonderen Geschichtsbedingungen der Erkenntnis in ihrer imperialistischen Phase. (Ebd.: 28 f.)
Die Ambivalenz in Sonnemanns Ausführungen lässt sich am ehesten daraus erklären, dass er, wie bereits am Beispiel der Demoskopie gezeigt, unausdrücklich zwischen einem instrumentalistischen und einem maieutischen Umgang mit menschenwissenschaftlichen Verfahren unterscheidet, ohne diese Unterscheidung in der Fundamentalität seiner Kritik der Menschenwissenschaften abzubilden, die dadurch einer Relativierung bedürfte, welche ihre Schlagkraft minderte. Der Hauptansatzpunkt von Sonnemanns Kritik ist, wie im Fall der Demoskopie, die instrumentalistische Verkürzung des prinzipiellen Potenzials psychometrischer Testverfahren, kurz: das „zerstörerische Wesen des Spezialismus“ (ebd.: 195), der die Praxis der Testanwendung beherrscht und unhinterfragt bestimmt. Denn durchaus könnten prinzipiell „psychometrische Teste für Ältere […] ausgezeichnete Prüfverfahren enthalten – etwa für die Beherrschung logischer Relationen, die den Unzulänglichkeiten des Zeitgeistes ja ihrem Wesen nach nicht ausgesetzt sind“. (Ebd.: 195 f.) Die implizite Vorgabe für den legitimen Test besteht also in der Exzision der geschichtlichen Welt aus dem Testverfahren selbst, das in der geschichtlichen Welt zur Anwendung kommt. Um eine Paradoxie handelt es sich im Falle der negativ-anthropologischen Kritik, deren Grundlage, die negative Anthropologie, sich als selbst geschichtliche Theorie versteht, dabei deshalb nicht, weil in der Beschränkung auf logische Aufgaben die geschichtliche Welt von ihrer Beschlagnahmung durch eine spezifische und kontingente, sich aber ihrer geschichtlichen Gebundenheit überhebenden geschichtliche Welt – anwesend in Form von „von jeweiligen ’Werten’ und Konventionen abhängigen Fragen“ (ebd.: 196) – verschont bleibt. Für die Intelligenztests folgt daraus, dass sie in der Reduktion von Intelligenz auf Logik letztlich zu bloßen Logik-Tests würden und die mittlerweile auch in der Psychologie zum Streitgegenstand gewordene Mehrfältigkeit des Intelligenzbegriffs¹⁷ zugunsten des quan-
Exemplarisch dafür ist die populäre Theorie der multiplen Intelligenzen von Howard Gardner
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tifizierend Handhabbaren der Logik eliminierten. Sie würden ihre Seriosität durch eine Beschränktheit erkaufen, welche die explanativen und sozialadministrativen Aspirationen ihrer Lobredner parodierten, darin diesen aber indirekt ihren realistischen Platz im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Anspruchsgefüge zuweisen und ihr eine anthropologische Abstinenz verordnen würden. Gegen das Gebot der anthropologischen Abstinenz wird verstoßen, wo Intelligenz gegenüber ihren menschlichen Möglichkeiten auf spezifische und partikulare Fähigkeiten innerhalb eines über die zu erbringende Intelligenzleistung und ihren Wert vorentscheidenden normativen Rahmens festgelegt wird. Auch der psychometrisch sinnvolle Logiktest ist dann ein solcher und eben kein Intelligenztest. Selbst als Test einer spezifischen Intelligenzform – will man logisches Denken als eine solche bezeichnen –, verbleibt der Logiktest innerhalb der Sphäre dessen, was Sonnemann die „Leistungsintelligenz“ (S 3: 194) nennt, die er von der „wesentlichen Intelligenz des Menschen“ (ebd.) unterscheidet. Die Nicht-Unterscheidung beider zugunsten der Leistungsintelligenz perhorresziert das Gebot der anthropologischen Abstinenz in der axiologischen Privilegierung der Leistungsintelligenz. Kriterien einer Messung der wesentlichen Intelligenz nennt Sonnemann ebenfalls: Und schließlich gibt es Aufgaben, deren Lösung überhaupt nicht a priori festlegbar, gleichwohl aber klassifizierbar sind, und zwar einfach nach dem Kriterium ihres Erfolges in der Bewältigung einer Problemsituation. Nach dem Ausgeführten wären gerade diese die der wesentlichen Intelligenz angemessensten Testprobleme. (Ebd.: 201)
Das wesentliche Merkmal, das Sonnemann der wesentlichen Intelligenz hier zuschreibt, ist ihr schöpferischer Charakter und damit ihr Vermögen, sich selbst als eine wesentliche Intelligenz unabhängig von bzw. gerade auch gegen gelenkte Festlegungen von außen auf nicht prognostisch bestimmbare und lediglich erwartbare Ergebnisse produzierende Weise zu betätigen. Die wesentliche Intelligenz kommt nur dort zum Vorschein, wo sie ihrer eigenen immanenten Gesetzmäßigkeit folgen kann, statt ihre Leistungen dem „Gesetz des Apparates“ (ebd.: 194) zu unterwerfen und (2011). Die paradigmatische Gegenposition findet sich in ihrer prominentesten Ausformulierung bei Arthur Jensen (1998). Dabei erkennt Jensen selber den trotz eifriger Bemühungen fehlenden Konsens darüber an, was der Gegenstand des Intelligenztests jenseits des Nomens „Intelligenz“ sei: „The word ‚intelligence as an intraspecies concept has proved to be either undefinable or arbitrarily defined without a scientifically acceptable degree of consensus.“ (Ebd.: 45) Damit gibt es mindestens drei Grundprobleme: (1) Die wissenschaftstheoretisch akzeptable Definition des Gegenstandes, d. h. der Intelligenz überhaupt, (2) die Bestimmung eines nicht umsonst abstrakt denominierten generellen Faktors „g“ (statt des speziellen Faktors „s“) als wesentliche Determinante des bisher unzureichend bestimmten Gegenstandes, (3) die Ermittlung der am besten geeigneten Methoden, um zwei Unbekannte mittels ihrer zu bestimmen, wobei diese Ermittlung eine möglichst konzise und möglichst viele Facetten differenziert erfassende Auffassung des Gegenstandes erfordert, um die Methoden entsprechend differenzieren zu können. Die Methodenfrage wird dabei dann wiederum zu einem eigenen Problem und letztlich Forschungsbereich, weil auch „g“ nicht direkt zugänglich ist, sondern nur über eine Faktorenanalyse bestimmbar wäre.
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damit „ihre“ Leistungen zum anonymen Gehorsam gegenüber „dem“ Apparat zu machen. Der Apparat wird von Sonnemann als die zweckentfremdende Instanz identifiziert, die das Testwesen beschlagnahme und in einer wenig aufschlussreichen sowie wenig aufschließenden Passage auch als „Dummheit“ bezeichnet und zu einer dämonischen Entität erklärt wird: Denn natürlich ist das Testwesen von jetzt kein dämonologischer Jemand, es ist nicht der Feind, sondern von diesem, der es denaturiert, nur beschlagnahmt. Der Feind ist, wie immer, jene Dummheit, die halb aus Sturheit, halb aus Stumpfheit besteht, von keinem Intelligenztest erfaßt wird und einziger Gegenstand einer möglichen Dämonologie wäre. (S 3: 202)
Die Anonymität des Apparates wird hier weder aufgehoben noch der Apparat selbst als anonymer in seiner Funktionsweise konzise bestimmt. Die Macht des Apparats begründet seine Gefährlichkeit, die sich in zweierlei Weise manifestiert: (1) in seiner praktischen Macht als Ausleseinstrument und damit als Schicksalspräjudiz sowie (2) in seiner psychologischen Wirkung, die Sonnemann im „allgemeinen naiven Respekt“ (ebd.) vor der Testpraxis ausmacht, d. h. in der Aura, die das Prestige guter Ergebnisse begründet. Der naive Respekt erwächst aus Unwissen und Reflexionslosigkeit gegenüber einer Macht, die gerade dadurch Respekt erheischt, dass die Frage nach ihrem wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Status ungestellt bleibt, während zugleich biographisch folgenreiche psychodiagnostische „Wahrheiten“ ermittelt werden, wo Sonnemann zufolge lediglich „die Fachpsychologen verbissen einer Naturwissenschaftlichkeit nach[eifern], deren heutige Naturwissenschaftler sich nicht ohne Rührung erinnern“. (Ebd.: 203) Doch Sonnemann bleibt der Nicht-Quantifizierbarkeit der Intelligenz stehen, ohne den Anspruch der Quantifizierung innerhalb des methodischen Rahmens einer den Anschein von Naturwissenschaftlichkeit erheischenden Psychometrie mit einem elementaren beweislogischen Kriterium zu konfrontieren, das Joseph Weizenbaum in seiner Kritik des Intelligenzbegriffs in Anschlag bringt, um das diagnostische Versprechen der Psychologe als self-fulfilling prophecy zu darzustellen: „Der Test selbst ist zum Kriterium für einen Sachverhalt geworden, mit dem er erst noch korreliert werden müßte!“ (Weizenbaum 1990: 270) Naturwissenschaftlichkeit als solche kann allerdings kein Kriterium und kritischer Maßstab einer negativen Anthropologie sein, solange die negative Anthropologie nicht selbst der Naturwissenschaftlichkeit als einem ihr immanenten oder vorgeordneten Kriterium unterliegt, denn begründen kann sie Naturwissenschaftlichkeit als Kriterium erst recht nicht. Daran ändert nichts, dass Sonnemann strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen der Heisenberg’schen Quantentheorie und der negativen Anthropologie festzustellen können meint, wonach beide Theorien die Subjekt-Objekt-Spaltung valide revozierten. Da Sonnemann die Physik als die methodisch und epistemologisch maßgebliche Disziplin im Bereich der Naturwissenschaften ansieht (vgl. S 2: 205 f.), kann die Testpsychologie weder den methodischen und epistemologischen Ansprüchen der negativen Anthropologie noch denen der modernen Naturwissenschaften Genüge tun. Die Testpsychologie verfehlt Sonnemanns Analysen
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zufolge sämtliche Minimalansprüche, die sie anthropologisch legitimieren könnten: (1) Den Ansprüchen einer legitimen Naturwissenschaft, deren anthropologische Implikationen dann selbst wiederum einer kritischen Evaluation bedürften, vermag sie nicht zu genügen, während sie (2) ihren Gegenstand anthropologisch beschlagnahmt, ohne sich ihrer Verfahrungsweise reflexiv zu vergewissern, kurz gesagt: Sie ist methodisch unzulänglich fundiert und steht in einem methodisch naiven Verhältnis zu ihrem Gegenstand, den sie anthropologisch präokkupiert. Sonnemanns Kritik der Testpsychologie hatte auf deren Verfahrungsweise, Verbreitung und Erfolg keine Auswirkungen. Die Psychoanalyse hingegen, um deren Kritik es im folgenden Abschnitt geht, hat in der Zwischenzeit eine deutlich einschneidendere Kritik als die Testpsychologie erfahren und ist aus dem Mainstream der akademischen und der wissenschaftlichen Psychologie weitgehend abgedrängt worden. Um sie geht es im Folgenden.
1.1.4 Sonnemanns Kritik der Psychoanalyse Am Anfang dieses Kapitels wurde gesagt, dass Sonnemann seine negative Anthropologie als Erkenntnistheorie durchgeführt habe. Diese These findet ihre explizite Bestätigung in Sonnemanns Kritik der Psychoanalyse, die explizit als eine erkenntnistheoretische Kritik und als solche wiederum als eine Verdinglichungskritik entfaltet wird. Sein Psychoanalyse-Kapitel aus der Negativen Anthropologie, „Die entdämmte Vergangenheit: Freud“, leitet Sonnemann konstitutionstheoretisch bzw. ontologisch ein: „Nach psychoanalytischer Lehre hat die menschliche Gesellschaft den Bau der Kultur in mühevoller Arbeit gegen den blinden und maßlosen Anspruch der Triebe errichtet, die ihn ewig einzureißen drohen; aber was sind das, die Triebe?“ (S 3: 619) Dennoch setzt seine Kritik epistemologisch an der Frage, wie die psychoanalytische Theorie zu dem, was man ihre im weitesten Sinne ontologischen Grundlagen nennen könnte, gekommen sei, an; die Konstitutionslogik der Psychoanalyse nennt Sonnemann explizit „ein Problem für die Erkenntnistheorie“. (Ebd.: 69) Sach- und erkenntnistheoretische Dilemmata verstricken sich in Freuds theoretischem Entwurf auf unheilvolle Weise, wie Sonnemann in einer Kritik zeigt, in der sich ebenfalls mehrere Fäden verschlingen, so dass Sonnemanns Kritik nicht deduktiv darlegbar, sondern in der rekursiven Analyse einander überlappender Motive zu entfalten ist. Sonnemanns Freud-Kritik ist insofern wesentlich eine Verdinglichungskritik, als sie eine Kritik von Anthropologisierungen ist. Die erste Anthropologisierung, als solche eine epistemologische (Fehl‐)Leistung, macht Sonnemann in der anthropologischen Generalisierung der Psychoanalyse der Hysterie aus. Nicht nur „nahm Freud die Hysterie als ‚Muster der Psychoneurosen‘ schlechthin“ (ebd.: 83), er habe sie auch zur Grundlage eines „anthropologischen Normal- und Gesamtmodell[s]“ (ebd.) gemacht. Diese Anthropologisierung kritisiert Sonnemann zweigleisig: (1) erkenntnistheoretisch und (2) gesellschaftstheoretisch. Seine Hauptkritik setzt an Freuds Hy-
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sterie-Konzept an, vorangestellt wird hier einleitend seine Kritik von Freuds Projektionslehre. Die erste Anthropologisierung der Psychoanalyse macht Sonnemann in Freuds Theorie der Projektion aus, „die als speziell klinische begonnen hatte“ (ebd.: 89), später „in anthropologischer Erweiterung aber schließlich die ganze Menschheit betraf, Denken, Erkenntnis überhaupt auf diesen Mechanismus zurückführte“. (Ebd.) Eine Analyse von Sonnemanns Kritik sieht sich allerdings mit dem nicht unerheblichen Problem konfrontiert, dass Sonnemann selbst keine Analyse von Freuds Projektionstheorie gibt, sondern stattdessen den Leser mit knapp gehaltenen philologischen Lektürehinweisen zur Entwicklung der Theorie bei Freud abspeist. (Vgl. ebd.: 92, FN 9) Freud bestimmt Projektion als „Mechanismus der paranoischen Symptombildung“ (Freud 1943: 303), in dem sich Verdrängung, Widerstand und Übertragung in Externalisierungsleistungen vermischen; damit werden nicht eigene Gefühle, Motive etc. auf andere projiziert, sondern andere (und man selbst) werden durch die projektiven Zuschreibungen mit einer Identität ausgestattet, derer sie sich im Zweifelsfall zu erwehren haben. Die Projektion wehrt nicht nur ab, sie greift erzeugend in die soziale Realität ein. Diese Leistung der Projektion veranlasst Sonnemann dazu, sie auf der nächsthöheren Ebene auf den Theoretiker der Projektion anzuwenden, indem er als Aporie der Projektionstheorie ausmacht, dass sie sich selbst „auf das Unbewußte ihres Urhebers komplett sich zurückführen“ (ebd.) lasse. Als epistemologisches Dilemma der Projektionstheorie macht Sonnemann daher aus, dass sie sich qua Verifikation falsifiziere und qua Falsifikation verifiziere: Weil die Projektion gemäß der Freud‘schen Theorie gerade ein Verdeckungsmanöver ist, mittels dessen die Psyche das Reich der Wahrheit in ihrem Sinne zu konfigurieren versucht, führt sie immer auf das Gegenteil des Behaupteten – mit dem allerdings pikanten Problem, selber Behauptungen über Behauptungen gemäß sich selbst ad absurdum führenden Wahrheitskriterien (Jeder Weg zur Wahrheit führt über eine Psychologie der Entlarvung der Projektion) aufzustellen, weshalb Sonnemann sie auffasst als „eine Wiederkehr der alten Aporie aus der griechischen Sophistengeschichte von dem Kreter […], der sagt, daß alle Kreter lügen“. (Ebd.: 90) Die projektionstheoretische Anthropologisierung mündet in eine Anthropologie des Verdachts und der Entlarvung, derzufolge Menschen Lügner, Alles-Verdränger oder notorisch über ihre eigentlichen Motive sich selbst und andere belügende Wesen sind, im Prinzip Paranoiker qua Menschennatur; das Gesellschaftsleben wird zu einem aus Projektionsleistungen erbauten Labyrinth, in dem Wahrheit und Authentizität fromme Illusionen bedauernswerter und letztlich durch Aufklärung zu heilender Naivlinge sind.¹⁸
Die anthropologische Dimension der Projektion deutet sich bei Freud besonders in dieser Passage an: „Die Projektion innerer Wahrnehmungen nach außen ist ein primitiver Mechanismus, dem z. B. auch unsere Sinneswahrnehmungen unterliegen, der also an der Gestaltung unserer Außenwelt normalerweise den größten Anteil hat. Unter noch nicht genügend festgestellten Bedingungen werden innere Wahrnehmungen auch von Gefühls- und Denkvorgängen wie die Sinneswahrnehmungen nach außen projiziert, zur Ausgestaltung der Außenwelt verwendet, während sie der Innenwelt verbleiben
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Die zweite und zentrale Anthropologisierung stellt in Sonnemanns Freud-Kritik die Hysterie dar, deren Analyse etwas detaillierter ausfällt und anhand deren die erkenntnistheoretische und die gesellschaftstheoretische Dimension von Sonnemanns Kritik genauer sich entfalten lassen. Die Anthropologisierung der Hysterie nimmt erkenntnistheoretisch ihren Weg über Freuds am Modell des Hysterikers entwickelte Theorie des Unbewussten bzw. die Theorie der Spaltung des Bewusstseins in Bewusstes und Unbewusstes. In Freuds Theorie des Unbewussten macht Sonnemann die Verschränkung einer zirkulären Methodik mit einer unzulässigen Angleichung aus: Damit das Unbewusste der Aufmerksamkeit zugänglich sein kann, darf es kein strikt Unbewusstes mehr sein; zugänglich ist es daher nur, soweit es Gegenstand von Bewusstsein ist (ohne Bewusstes in dem Sinn sein zu müssen, dass es im Bewusstsein aufgeht). Soll es identifizierbar sein, muss es sich artikulieren; als sich Artikulierendes wird es jedoch gerade dem logisch Zugänglichen angeglichen und somit logifiziert. Was Sonnemann nicht philologisch untermauert, lässt sich anhand von Freuds Studien zur Hysterie aufzeigen, wo die Angleichung des Unbewussten ans Bewusste unübersehbar ist: Man darf nämlich an einen Gedankengang bei einem Hysterischen, und reichte er auch ins Unbewußte, dieselben Anforderungen von logischer Verknüpfung und ausreichender Motivierung stellen, die man bei einem normalen Individuum erheben würde. (Freud 1952: 298)
Der Begriff des „Gedankengangs“ konzipiert die Psychodynamik gemäß der Logik, die behauptete Identität der Anforderungen, die an Bewusstes und Unbewusstes zu stellen seien, gehorcht dem Primat der Logik, wie auch der Begriff der unbewussten Intelligenz zeigt: „Anderseits darf man seine unbewußte ‚Intelligenz‘ nicht überschätzen und ihr nicht die Leitung der ganzen Arbeit überlassen.“ (Ebd.: 297) Die Logifizierung des Unbewussten stellt eine theoretische Überkompensation einer sachlichen Unterbestimmtheit dar: „Offenbar muß das Zuviel, das dem Unbewußten zugeschanzt wird, zunächst ja auf alle Fälle ein nachweisbares Zuwenig sein, das für die theoretische Fassung des Bewußtseins in Freuds Lehre entfällt.“ (S 3: 78 f.) Das Unbewusste erhält in der theoretischen Artikulation des Psychoanalytikers, was ihm selbst an Artikuliertheit abgeht, und muss seine Artikuliertheit von außen erhalten,
sollten. Es hängt dies vielleicht genetisch damit zusammen, daß die Funktion der Aufmerksamkeit ursprünglich nicht der Innenwelt, sondern der von der Außenwelt zuströmenden Reizen zugewendet war, und von den endopsychischen Vorgängen nur die Nachrichten über Lust- und Unlustentwicklungen empfing. Erst mit der Ausbildung einer abstrakten Denksprache, durch die Verknüpfung der sinnlichen Reste der Wortvorstellungen mit inneren Vorgängen, wurden diese selbst allmählich wahrnehmungsfähig. Bis dahin hatten die primitiven Menschen durch Projektion ihrer Wahrnehmungen nach außen ein Bild der Außenwelt entwickelt, welches wir nun mit erstarkter Bewußtseinswahrnehmung in Psychologie zurückübersetzen müssen.“ (Freud 1940: 81) Die Psychologie nimmt damit ein anthropologisches Erbe auf dem Stand ihrer Zeit auf und kann dies deshalb, weil die Transformation der Projektion durch ihre zusätzliche Internalisierung, von ihrer Unüberschreitbarkeit zehrt.
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denn „ohne das Moment von Artikulation an der Selbsterfahrung des Phänomens des Bewußtseins ist dessen Begriff selbst nicht bestimmbar“ (ebd.: 79), was qua Übertragung für das ihm angeglichene Unbewusste ebenso gilt. Dennoch ist die Angleichung keine Gleichsetzung, in der das Unbewusste zum durch seine Andersbezeichnung verklärten Doppelgänger des Bewusstseins wird, wie Sonnemann zurecht feststellt, wo er die Parallelisierung des Bewussten mit Kalkül und Rationalität und des Unbewussten mit der Spontaneität anspricht: „Freud sagt ständig bewußt, wo die Selbsterfahrung der Person kontrolliert und kalkuliert sagt, unbewußt, wo sie spontan sagt“. (Ebd.: 81) Was Freud damit vollziehe, sei eine „Einschränkung der Reichweite des Bewußtseins aufs Ego“ (ebd.: 88), aufgrund derer die Spontaneität dem Bewusstsein in seiner es beschneidenden Purifizierung entrissen und ins Unbewusste abgedrängt werde, wodurch „die Beschränkung des Bewußtseins aufs Ich auf eine theoretische Verkennung des Spontanen hinauslief“. (Ebd.: 93) Damit wird aber nicht lediglich ein Moment des Selbst oder der Erkenntnis, damit auch des Weltbezugs des Selbst, weniger scharf gefasst als es möglich wäre, sondern in der Verkennung des Spontanen ereignet sich der Verlust des Selbst- und Weltbezugs gerade in der Introspektion, die seiner möglichst direkten Erforschung dienen soll: „Der Selbstbeobachter hat es nicht mehr mit der Wirklichkeit des Selbst, das es seinerseits, wenn unbeobachtet, gar nicht mit sich, sondern gerade mit dem Nicht-Selbst, der Welt zu tun hat, zu tun“ (ebd.: 84), sondern mit den Schemata seiner sich selbst spaltenden kategorialen Einteilungen, die ein Unbewusstes erzeugen als „Produkt des Verfahrens“ (ebd.: 85), das „dann in exemplarischer Zirkelmethodik für die Wirklichkeit eines Unbewußten gehalten wird“. (Ebd.: 85) Die Introspektion teilt mit der Beobachtung des Patienten das Dilemma, gespannt zu sein zwischen „ein immer schon vergangenes Faktisches“ (ebd.: 85 f.) der klinischen Beobachtung und den explanatorischen und vor allem, mit Blick auf die entgegengesetzte Zeitrichtung, den prognostischen Anspruch der Theoriebildung. Beobachtung und Prognose sind der Psychoanalyse als einem Verfahren der Herstellung beider logischerweise nicht außerhalb ihrer selbst zugänglich, beide sind daher durch sie präformiert, so dass theoretische Arsenalelemente wie der Triebbegriff Sonnemann zufolge als „präkathektisch präokkupierendes Präjudiz“ (ebd.: 96) wirken. In einer solchen Lage „verschlingen sich, wie in den stillschweigenden Voraussetzungen, die nach schon vorgetragener Analyse dem Denkansatz der Psychoanalyse den Horizont setzen, das sach- und das erkenntnistheoretische Dilemma bereits im Material ihres Zugriffs“ (ebd.: 86), d. h. Objektivität und theoretische Konstruktion sind nur von der Konstruktion her unterscheidbar, deren uneingestandene problematische Voraussetzung nach Sonnemann ist, dass Freud den Hysteriker auf unzulässige Weise zum anthropologischen Modellfall erhoben habe auf der Basis von in ihrer Allgemeinheit präjudizierend wirkenden, faktischen und theoretischen Unterscheidungen. Solche Unterscheidungen bilden z. B. Bewusstes und Unbewusstes, die dann zu verdinglichten (und verdinglichenden) Personkompartimenten werden. Indem verschiedene Personkompartimente nicht analytisch unterschieden, sondern verdinglichend bereichstheoretisch bestimmten Vermögen (das Spontane hat seinen Ort im Unbe-
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wussten, die ratio ihren im Ich) zugeordnet werden, vollzieht Freud – sowohl in der Introspektion als auch in der Beobachtung – eine Spaltung, die Sonnemann seine „Spaltung des Bewußtseins in konkurrente Motivsysteme“ (ebd.: 82) nennt, womit das Unbewusste gemäß der angesprochenen Logifizierung desselben durch Freud von Sonnemann in seiner Freud-Kritik dem Bewusstsein gerade zugeschlagen wird. Freud reproduziert damit psychoanalytisch die Spaltung, die Sonnemann als den bereits angesprochenen Geburtsfehler des Cartesianismus (vgl. Kapitel 1.1.1.) ausgemacht hat. Doch die Spaltung zwischen Bewusstem und Unbewusstem ist Sonnemann zufolge eine nicht nur eine epistemologische Spaltung, sondern zugleich eine, in der ein geschichtlich und gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis in Gestalt eines normativen Primats sich in die psychoanalytische Theorie hinein fortsetzt; sie ist – darin zeigt sich der Vorrang der Motive Kritischer Theorie vor allen anderen – primär „gesellschaftlich, nicht psychologisch“ (ebd.: 98) bedingt.Was Freud tue, sei, das „Bewußtsein also für das Ich zu beschlagnahmen“ (ebd.: 82), welches das „deliberierende Ich“ (ebd.: 80) ist; das Beschlagnahmte wird dabei jedoch wie ein Überwachungsinstrument dem Kontrolleur zugeschanzt, der die subversiven Regungen der Spontaneität zu kontrollieren hat, wobei unter solcher Kontrolle die „Beschränkung des Bewußtseins auf die Kontrollfunktion eines grämlichen Ich“ (ebd.) erfolgt, das nach Sonnemann wie „ein typischer Funktionär“ (ebd.: 81) agiert. Freuds Bewusstseinstheorie wird hier als Theorie der Herrschaft entfaltet, die ihre Legitimität daraus bezieht, dass das ihr zugrundeliegende und modellbildende Phänomen, die Hysterie, in die gleiche herrschaftskritische Perspektive eingerückt wird. Die Hysterie nennt Sonnemann die „seelische Erkrankung einer Epoche“ (ebd.: 83), „die Zeit selbst war hysterisch geworden“ (ebd.), die Hysterie beherrschte „als geschichtliche Macht des Zeitalter der europäischen Diktaturen“. (Ebd.) Während Sonnemann über die europäischen Diktaturen nichts Erhellendes vorbringt und stattdessen abgestandenes Anekdotisches, nämlich dass ein „hysterisch einst Erblindeter, bekannter Teppichbeißer“ (ebd.) an der Spitze der mächtigsten europäischen Diktatur stand, suggestiv zum Besten gibt, geht er, ebenfalls im Rückgriff auf den Hysteriebegriff, historisch die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück und verquickt die politische Geschichte mit der Ideengeschichte umstandslos, wenn er sagt: Seit Schopenhauer, der einzige deutsche Philosoph mit Breitenwirkung im bürgerlichen Publikum um die Jahrhundertwende, der auch auf den jungen, später so antiphilosophischen Freud, wie seinerzeit Hegel auf Marx, sehr stark gewirkt hatte, den Menschen als Theaterdirektor seines eigenen Schicksals bestimmt hatte, lag das Motiv der Selbstvergegenständlichung in der Luft der deutschen Kultur. Während es als prinzipielles Auseinandertreten eines wahrnehmenden Ich und seiner innerlichen Wahrnehmbarkeiten noch ältere Wurzeln in der deutschen Geistesgeschichte hat, mit denen der Spontaneitätsverlust, also die politische Misere des revolutionsunfähigen Volkes begann, machte nach dem bürgerlichen Scheitern von 1848 erst Schopenhauer es populär derart faßbar, daß es den Prozeß dieses Verlustes, der Hysterie also, ebenso nähren mußte wie es ihm Rechtfertigungsvorwände liefert und zuletzt, mit Freud, die generelle anthropologische Theorie. (Ebd.: 84)
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Das Scheitern der deutschen Revolution, die nach Sonnemann bereits hysterische Hinwendung des Bürgertums zu Schopenhauer nach dem Scheitern, die Kulmination dieser Hinwendung in Freud im Wien der Jahrhundertwende – alles mit einem Zauberschlag zusammengeführt in allzu großzügig gezogenen Linien. Die Ironie von Sonnemanns allzu verkürzter Zusammendrängung von politischer Geschichte und Ideengeschichte zeigt sich an der weit ausgreifenden Verwendung des Hysteriebegriffs, der hier zwar nicht in psychologischer Absicht verwendet wird, aber doch gerade den Primat des Gesellschaftlichen insofern ad absurdum führt, als eine psychologische Kategorie als geschichtsphilosophischer Kitt von Disparatem herhalten muss. Was Sonnemann Freud vorhält, nämlich die Hysterie theoriemodellierend zu überfrachten, vollzieht er selbst, indem er sie zur geschichtsphilosophischen Signatur (v)erklärt, mittels derer sich die Logik von Diktaturen und die (Psycho‐)Logik der Psychoanalyse typologisch erfassen lassen. Doch in seinen Ausführungen geht z. B. unter, dass Freud ideengeschichtlich maßgeblich vorbereitet worden ist durch physiologische Theorien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Widder 1999), die weder mit Schopenhauer noch mit der deutschen Revolution etwas zu tun hatten; oder dass das Wien der Jahrhundertwende ein hochgradig spezifischer Nährboden für Freuds denkerische Entwicklung war, die durch eine Schopenhauer-Lektüre in einer österreichischen Provinz ohne klinisch-neurologische Tätigkeit vermutlich nicht hätte vorbereitet werden können. Klar ist allerdings, dass der Übergang von der epistemologischen Kritik zur Kritik im Sinne der Kritischen Theorie sich in solchen Überlegungen stattfindet. Das Motiv, die Psychoanalyse dem Primat der Gesellschaftstheorie zu unterstellen, prägt auch Sonnemanns Analyse des Verhältnisses zwischen Therapeut und Patient, das in hohem Grade gesellschaftlich vorgeprägt ist und fundamentale gesellschaftliche Machtdynamiken in Mikrorelationen therapeutischer Interaktionsphänomenen wie Widerstand und Übertragung austrägt. Von der Übertragung gibt Sonnemann eine konzise Definition: „Übertragung meint eine solche von Gefühlen, liebenden wie hassenden, des Patienten, die seine Kindheit in ihm ausbildete und die sich in ihrer Ursprünglichkeit auf elterliche, speziell väterliche Autorität beziehen, nun auf die des Analytikers.“ (S 3: 71) Doch weil gerade die väterliche Autorität selbst keine causa sui, sondern gesellschaftlich vermittelt ist, ist die Übertragung keine zu überwindende Unannehmlichkeit,¹⁹ in der sich je individuelle psychische Zufälligkeit entlädt, sondern die selbst wiederum von der gleichen überindividuellen und sozialen Struktur geprägte „Bedingung schlechthin für den behandelnden Analytiker, die gesamte Konstellation von Ich, Es und Über-Ich durch Induktion heilender Selbstreinigung, Katharsis, beeinflussen zu können“. (Ebd.: 71) Wenn die gesamte Konstellation des Ichmodells in der analytischen Situation in ihrer vollen Gewichtigkeit in die Waag-
Sie ist aber auch das, wodurch sie die Psychoanalyse zur Verschränkung von Immunisierung und Entlarvung reizt: „Einwände gegen die Psychoanalyse sind von vornherein ohne Gewicht, weil sie ja nur von unbewußten Widerständen gegen die Psychoanalyse motiviert sein können.“ (Ebd.: 339)
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schale fällt, stößt die Therapie an beiderseitige dialogische Kapazitätsgrenzen. Freud ist aber gerade zugute zu halten, was Sonnemann ihm von seiner Binswanger‘schen Prägung her vorhält: „Solcher Widerstand, wie immer subjektiv seine Auftrittsformen, wird von Freud von vornherein nicht als dialogischer Widerspruch konzipiert.“ (Ebd.: 70) Die Psychoanalyse vollbringt hier jedoch selber Widerstandsleistungen, z. B. den Widerstand gegen die Spontaneität der unvoreingenommenen Begegnung im Dienste der präjudizierenden Theorie, die in ihrer therapeutischen Zurüstung zu einer Herrschaftspraxis wird – sowohl des Wissens wie der Behandlungstechnik: Da der jetzige gesellschaftliche Gebrauch der Psychoanalyse auf jene Perpetuierung menschlichen Objektseins, die als adjustment sich absolut setzt, hinausläuft, muß sie an Übertragung und Widerstand schon als herrscherliche Behandlungstechnik deren mögliche Mechanik verwirklichen, während der Sinn von Psychotherapie wäre, an diesen Prozeßmomenten selbst bereits eine edukative Mitmenschlichkeit zu erschließen, die ihr sokratisches Potential ist. (Ebd.: 133)
Was sich in dieser „herrscherlichen Behandlungstechnik“ ereignet, hat Sonnemann an anderer Stelle in einer Kritik der Traumdeutung angemerkt, dass diese nämlich auf der Basis ihres Deutungsinventars allzu gut Bescheid wisse²⁰ über die Sprache des Traums, die doch immer wieder am konkreten Fall zu enträtseln sei. Auf die Behandlungstechnik lässt die Kritik sich übertragen, da auch hier „der herrscherliche Anspruch des Wissens sich gegen sich selbst kehrt: nämlich, noch und gerade indem dies Wissen recht behalten muß und wird, was immer sein Gegenstand tut“. (Ebd.: 72) Obwohl es nun den Anschein hat, als würde Sonnemann die psychoanalytische Therapie rundheraus verwerfen, macht er ihr auf paradoxe Weise Zugeständnisse: Sie ist gerade dadurch teilweise erfolgreich, dass sie eine Mechanik menschlicher Verhältnisse konzipiert, welche der an sich schon falschen Mechanik einer aufgrund ihrer falsch eingerichteten Welt strukturell entspricht: „Was immer an der Psychoanalyse vor dem Denken sich zuletzt nicht bewähren mag, für ein Verständnis der Mechanik in unseren menschlichen Verhältnissen reicht sie hin“. (Ebd.: 68) Sie ist hinreichend für ein Verständnis der Mechanik in den menschlichen Verhältnissen, insoweit diese Verhältnisse als falsche eine Mechanik verkörpern; deshalb bleibt, „was diese noch ändern, der Mechanik entwinden könnte, […] jenseits eines psychoanalytischen Blickes.“ (Ebd.: 68) Daher gilt hier ein Sowohl-als-Auch, in dem summarisch die Psychoanalyse trotzdem schlecht abschneidet: Im Ganzen „versagte Freuds System als Theorie wie als Therapie“ (ebd.: 82), eine Ausnahme bilden allerdings „jene von jeher nicht zu häufigen Fälle, von denen Freud ausging und die nach dem Hysterieschwund noch seltener wurden, in denen die genuine Anamnese verdrängter Traumata die Störung behebt“ (Ebd.: 86) Die therapeutische Leistung der Psychoanalyse verdankt sich mehr der Wirkung ihrer anamnestischen Freilegungsmaieutik als der Behandlung, soweit und vor allem sobald sie Asymmetrien des Wissens und der Autorität in
Im Sinne des Bescheidwissens, wie Adorno und Horkheimer es in der Dialektik der Aufklärung aufs Korn nehmen, vgl. AGS 3: 235.
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Anschlag bringt. Ihre Leistung entfaltet sie also gerade da, wo sie noch am ehesten dialogisch im Sinne der Dialogeröffnung wirkt, bevor ihr „Monologismus“, den Sonnemann ihr unentwegt vorhält (vgl. ebd.: 70, 76, 84), die Problembehandlung durch eine für ihr Gegenteil gehaltene Problemerzeugung „psycho-logischer“ Art übernimmt. Ihr Monologismus ist es, der sie an den meisten Fällen gerade diagnostisch scheitern lässt, weil er ihr die Spontaneität verbietet, die eine Begegnung ermöglichen würde, in welcher der Behandlungsfall zum Korrektiv sich als modifikationsbedürftig erkennender und sich modifizierender Theorie würde. Sie wäre dann nicht nur Behandlungsmethode, sondern ein gleichermaßen hermeneutisches wie maieutisches und veränderungsoffenes Forschungs- und Behandlungsverfahren; ihr Monologismus hat zur „Crux, daß die Begrifflichkeit der analytischen Interpretation gerade Kriterien ihrer Wahrheitsprüfung […] nicht hergibt“. (Ebd.: 87) Eine nichtmonologische Psychoanalyse müsste einem nicht dem Bewusstsein angeglichenen Unbewussten sich stellen und eine theoretische und praktische Antwort auf die folgende Frage Sonnemanns zu geben bzw. überhaupt erst zu suchen vermögen: [W]as wäre ein Unbewußtes, eine ihrem Begriff nach, wenn auch gegen Freuds Begriffsgebrauch, kategorial noch gar nicht bestimmte Tendenz, die in noch so großer Vermitteltheit nachprüfbar doch bestätigen könnte, was im Widerspruch zu ihrer Unbewußtheit ihr die Deutung gerade an Artikulation unterstellt? (Ebd.)
Theorie wie Therapie der Psychoanalyse sind nicht schlicht Fehlleistungen, sondern in Sonnemanns Sicht gerade unabgeschlossene Leistungen, nicht zu Ende gedacht worden, d. h. nicht bis an den Punkt gedacht worden, wo das Denken erkennt, dass es an sein eigenes Ende gelangt, ohne dass die Realität mit seinen Resultaten konvergierte. Das prinzipielle Motiv, „Vergangenheit zu entdämmen“ (ebd.: 96), führte Freud auf seine Entdeckungen, während gerade das Zuwenig von Entdämmung, ihr Abbruch in Theorie hinein, der Fehler war, weshalb es nach Sonnemann nötig ist, „Entdämmung der Vergangenheit weiter zu verstehen als Freud selbst sie verstehen konnte“. (Ebd.) Solches Hinaustreiben der Entdämmung über das von Freud Geleistete formuliert Sonnemann folgendermaßen maximenhaft: [D]ie Gegenwärtigkeit dessen, was er abschließt, verdeckt, wiederherstellend, muß er, dessen eingedenk, also Entdämmung von Vergangenheit reflexiv auch noch gegen sich selbst kehren, beherzt über sich hinaustreiben, in revidierender Widerrufung seiner gesellschaftlichen Täuschungsfunktion. (Ebd.: 97)
Die Realisierung dieser Maxime würde die Psychoanalyse in Kritische Theorie überführen durch die Transzendierung der künstlich-analytisch zum Abschluss gebrachten Biographie, die nur als in sich (ab‐)geschlossen betrachtbare zum klinischen Fall werden kann, der als solcher innerhalb der konventionellen Grenzen der kodifizierten Psychologie bearbeitbar ist. Wird die Vergangenheit gegen die Psychoanalyse, d. h. über ihre Entdämmungsintention hinaus, entdämmt, so werden auch die Grenzen der psychoanalytischen Betrachtung überstiegen hin auf das, was im Zentrum aller Kri-
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tischen Theorie steht: Freiheit. Denn der Patient werde dann zum Menschen in der Befreiung von der „Sabotage an Gegenwärtigkeit überhaupt“ (ebd.: 97), die auch die Therapie noch im Namen der deterministisch reifizierenden Theorie vollziehe. Erst in der Befreiung des Patienten von dem, was ihn zum bloßen Patienten macht, würde er gesehen und behandelt als jemand, der sich anders zu sich selbst verhalten kann als am Gängelband von Therapieanweisungen, zu denen er sich dann selbst wiederum spontan erkennend verhalten könnte. Freiheit ist deshalb für Sonnemann nicht das Resultat von Therapie, sondern das Schibboleth des Sprengens der klinischen Verhaltens(an‐)ordnung von Therapie und die „Voraussetzung einer gesellschaftlichen Kanalisierung von Zukunft, denn in anthropologischer Anwendung läuft dies Neue auf die Einsicht hinaus, daß die Menschennatur, die Freud zu erforschen im Sinn hatte, selbst schon geschichtlich, ja in ihrem Kern bereits gesellschaftlich ist“. (Ebd.: 98) Die Entdämmung ist in ihrer konsequenten retrospektiven Ausweitung zugleich eine Entdämmung der Gegenwart gegen die Sabotage an der Spontaneität durch reifizierende Theorie und eine Entdämmung der Zukunft durch die Freiheit, sich von der Einsperrung in Theorie zu befreien. Damit ist auch eine entscheidende Zirkularität bei Sonnemann zur Sprache gebracht: Freiheit entsteht durch Freiheit, sie ist auf keine Ursache hin übersteigbar, die nicht durch sie selbst instanziiert und bereits ihr Ausdruck wäre; sie lässt sich weder verordnen noch durch die Entfernung äußerer Hindernisse instaurieren, die letztlich bloß äußerliche Hindernisse sind, weil Freiheit bei Sonnemann wesentlich an die nicht induzierbare Spontaneität gebunden ist. Es kann daher keine Therapierung zur Freiheit geben, wohl aber eine Therapierung von Freiheit (gerade im Namen der Freiheit), die mit ihrer Abschaffung koinzidiert. Die angesprochene „Kanalisierung von Zukunft“ bildet auch den Kern von Sonnemanns Marx-Kritik, die im Folgenden entlang dieses Motivs weit kürzer umrissen werden soll als es im Fall der Psychoanalyse möglich war.
1.1.5 Sonnemanns Marx-Kritik: Das Paradoxon der Befreiung gemäß historisch-deterministischem Rezept Die Marx-Kritik Sonnemanns verhält sich zu seiner Freud-Kritik komplementär, weil Marx und Freud für Sonnemann „einander nicht äußerlich sind, nicht zusammenfügbare Komplemente, sondern in einem Verhältnis von Konvergenz stehen“. (Ebd.: 222 f.) Bilden Geschichte und Gesellschaft blinde Flecke der Psychoanalyse, so scheitert Marx mit seiner Revolutionstheorie gerade am blinden Fleck des Einzelnen und seiner Spontaneität – Sonnemann spricht in einer Gegenüberstellung vom „Primat der Praxis“ (Marx) und dem „Primat der Theorie“ (Freud) (vgl. ebd.: 232) –, um den die Psychoanalyse sich in aporetischer Weise dreht und rankt. Die gemeinsame Wurzel der Marx‘schen und der Freud‘schen Fehlleistungen wird von Sonnemann auf den Begriff des Objektivismus gebracht. Inwiefern der Marx‘sche Objektivismus ein geschichtsmetaphysisch-spekulativer ist, ist im Folgenden zu zeigen. Weil es sich bei Marxens Geschichtstheorie „aufs Entscheidende gesehen, um Hegels Theorie, nicht
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um Marxens“ (ebd.: 55) Theorie handele, ist hier ein komprimierter expositorischer Rückgang auf Hegel nötig. Hegel beansprucht für seine Geschichtsphilosophie einen doppelten, empirischen und spekulativen, Boden. Zunächst gilt: „Die Geschichte aber haben wir zu nehmen, wie sie ist; wir haben historisch, empirisch zu verfahren.“ (Hegel 1989: 22) Zugleich gilt: „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen“. (Ebd.) Damit gilt ein doppeltes Verbot: das Verbot des bloßen Positivismus, der die Geschichte als Summe von Fakten auffasst, und das Verbot der luftig an ihr vorbeikonstruierten Spekulation, die in sich selbst kreist, ohne von der Geschichte substantiell etwas zu wissen. Die Terminologie vom angeführten Zitat bringt Hegels Intention besser auf den Punkt als der Titel Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: Es geht nicht primär um die Geschichte, sondern um die Geschichte als Weltgeschichte und um die Weltgeschichte und finaliter um „die philosophische Weltgeschichte“ (ebd.: 11). Im Unterschied zur ursprünglichen Geschichte, wie Hegel sie in der antiken Geschichtsschreibung realisiert sieht, geht es ihm zunächst um eine reflektierende Geschichte, die nicht der historiographischen Ordnung, sondern der vom Geist als ihrem Prinzip bestimmten Ordnung der Geschichte untersteht: „Es ist die Geschichte, deren Darstellung nicht in Beziehung auf die Zeit, sondern rücksichtlich des Geistes über die Gegenwart hinaus ist.“ (Ebd.: 14) Hegel unterscheidet verschiedene Arten reflektierender Geschichte; entscheidend für unsere Betrachtung ist die Art der reflektierenden Geschichte, die er auch als „Begriffsgeschichte“ (ebd.: 19) bezeichnet und die den „Übergang zur philosophischen Weltgeschichte“ (ebd.) vollzieht, die nochmals eine eigenständige philosophische Reflexion der reflektierenden Geschichte darstellt bzw., wie Hegel sagt, „nichts anderes als die denkende Betrachtung derselben bedeutet“ (ebd.: 20), und zwar gemäß der Annahme, „daß die Vernunft die Welt beherrsche“ (ebd.). Die philosophische Geschichtsbetrachtung muss den notwendigen Gang der Geschichte gemäß dem Geist mit der Geschichte auf der Ebene der Ereignisse in der Sphäre des menschlichen Handelns versöhnen; Hegel fasst diese Versöhnung in der Formel der Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit: Jene Frage [wie Individuen und Völker Mittel und Werkzeuge des notwendigen historischen Gangs werden, S. E.] nimmt auch die Form an, von der Vereinigung der Freiheit und Notwendigkeit, indem wir den inneren, an und für sich seienden Gang des Geistes als das Notwendige betrachten, dagegen das, was im bewußten Willen der Menschen als ihr Interesse erscheint, der Freiheit zuschreiben. (Ebd.: 40)
Damit ist die Verschränkung der beiden Denkmotive gewonnen, die das Spannungsfeld konstituieren, das Hegels Geschichtstheorie zentral bestimmt und Marxens Geschichts- und Revolutionstheorie nachdrücklich prägt und in ihr gegen ihre eigene Intention fortlebt. Als die anti-hegelianische Intention Marxens macht Sonnemann den Willen aus, die Theorie der Geschichte in geschichtliche Praxis überzuführen. Laut Marx hat
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Hegel „nur den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden, die noch nicht die wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Subjekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist“. (MEW 40: 570) Was Hegels Denken mit Abstraktheit schlägt, ist nicht die unverbindliche Luftigkeit leerer logischer Bestimmungen, sondern – im Hinblick auf die kommunistische Revolution – die Disjunktion zwischen Gedanke und Aktion, in welcher die Geschichte vom Gedanken in die Praxis übergeführt wird: „Die Geschichte wird sie [die kommunistische Aktion, S. E.] bringen, und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozeß durchmachen.“ (Ebd.: 553) Marx hat sich die Verwirklichung seiner Prophetie vermutlich anders vorgestellt, als sie ausgefallen ist, nämlich, trotz aller Kritik an Hegel, letztlich selber insofern philosophisch, als die Pointe der Überführung der spekulativen Dialektik in die historische Praxis Hegels Idee der Versöhnung von Freiheit und Notwendigkeit in der romantischen Verschmelzung von Gedanke und Aktion explizit verpflichtet bleibt, wie die Ökonomischphilosophischen Manuskripte an der folgenden Stelle zeigen: Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung. (Ebd.: 536)
Der Kommunismus ist die ultimative, geschichtsphilosophisch deduzierte Notwendigkeit, die deshalb gut hegelianisch und selbstgerecht über Leichen gehen kann, die zu Opfern des notwendigen Gangs der Geschichte auf dem Weg zur Realisierung ihres Endzwecks²¹ erklärt werden können. Freiheit und Notwendigkeit werden bei Marx im Kommunismus zugunsten der Notwendigkeit versöhnt, die der Kommunismus selber darstellt; die Freiheit, von der Marx, anders als von der Notwendigkeit, selten spricht, muss dem Kommunismus zugeschlagen werden, d. h. der Kommunismus muss als geschichtliche Notwendigkeit den Ort der Freiheit wie der Versöhnung von Freiheit und Notwendigkeit darstellen; dann kann Marx Hegels zentrales geschichtsphilosophisches Diktum philosophisch einholen: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ (Hegel 1989: 32) In der Marx‘schen Wendung zur Praxis ist diese Erkenntnis erst und nur dann eine genuine, wenn sie realisiert wird. Sonnemanns Marx-Kritik setzt an diesem Verhaftetsein in Hegels Geschichtstheorie an, um zu zeigen, dass Marx
Explizit heißt es bei Hegel: „Dieser Endzweck [die Freiheit, S. E.] ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht werden.“ (Hegel 1989: 33)
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den genuinen Anspruch von Praxis philosophisch über- und damit zugleich unterbietet. Nach Sonnemann feiern die entscheidenden geschichtsphilosophischen Fehlleistungen Hegels ihr Fortleben in Marxens Geschichtstheorie, da, wie oben bereits dargelegt, dessen Theorie hinsichtlich der geschichtsphilosophischen Logik eine Reprise der Hegelschen darstellt. Bereits Hegel, so Sonnemann, „fehlt […] durchaus ein authentisches Verhältnis zur Praxis“ (S 3: 44);²² Marx vertiefe diesen Mangel gerade, wo er dessen Behebung proklamiere, indem er mit der Anrufung des „wirklichen Menschen“ das Problem erzeuge, denselben inhaltlich konkret bestimmen zu müssen oder durch die Erwartung eines unbestimmten, erst historisch sich bestimmen müssenden seine Geschichtstheorie vor einen offenen Horizont zu stellen, wobei diese Geschichtstheorie sich bestenfalls in einer Ausrufung des Endes des Kapitalismus und seines Menschentypus erschöpfen müsste, ohne den wirklichen Menschen des Kommunismus vorab definieren zu können. Sonnemann bezeichnet dieses Dilemma als ein anthropologisches Dilemma Marxens, das in der Not besteht, den wirklichen Menschen überhaupt erst bestimmen zu müssen: „Die deutsche Philosophie wie auch der deutsche Staat haben vom ‚wirklichen Menschen‘ abstrahiert, zu ihm will Marx zurück, von ihm ausgehen; aber was ist das, der wirkliche Mensch?“ (Ebd.: 39) Die Logik der Hegelschen Geschichtstheorie verweist Marx hier auf die Vergangenheit, in der zu finden ist, was im Kommunismus zum wahren und freien Menschen sich aufzuheben hat. Marx ist daher gespannt zwischen einen Menschentypus, den er überwinden will, und einen noch fiktiven Menschentypus, der sich selbst überhaupt erst hervorbringen muss in der Geschichte, und zwar aus der psychologisch-geschichtlichen und autobiographischen Verwurzelung im Falschen heraus. Marxens Not, den wirklichen Menschen vorweg zu bestimmen, um ihn nicht nur ex post historistisch registrieren zu können, ist eine philosophische; seine philosophische Mission in diesem Aspekt der Theoriebildung ist eine anthropologische. Sonnemanns Antwort auf die Frage, „was“ der wirkliche Mensch sei, lautet daher: Offenbar dasjenige, als was er sich zeigen würde, gewännen Hegels Bestimmungen des Menschen und seiner Einrichtungen in Staat und Gesellschaft auch empirische Wahrheit, verwirklichten sie sich zukunftsgeschichtlich, das aber setzt voraus, daß diese Bestimmungen selbst eine empirische Wurzel haben, daß ihr Ausgangspunkt eine Anthropologie ist: ist diese Bedingung nicht erfüllt, liegt im Denken Marxens eine Ungereimtheit, mindestens Inkonsequenz vor. (Ebd.: 39)
Mit dieser Inkonsequenz geht Marx allerdings insofern konsequent um, als er nicht versucht, die Geschichte sich selbst zu überlassen, sondern die „zukunftsgeschichtliche“²³ Bestimmung konsequent über die Köpfe der Akteure hinweg durchzuführen, Das ist die freundliche Variante von Schopenhauers Spott gegenüber hegelianischer Geschichtsphilosophie, derzufolge das theoretisch Präjudizierte ganz sicher real werde, „sobald nur der vom Professor berechnete Zeitpunkt da“ (Schopenhauer 1988b: 199) sei. Das Kompositum ist insofern bemerkenswert, als es über die Zukunft nominell verfügt wie über eine abgeschlossene Vergangenheit; es kann nur auf der Grundlage einer Geschichtsphilosophie ge-
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deren Bedeutung für die Verwirklichung des Kommunismus wichtiger ist als deren Wirklichkeit als Menschen. Um der Wirklichkeit des Kommunismus willen überspringe Marx gar die Wirklichkeit des bisherigen Revolutionärs, der „aus einer für ihn absolut geltenden Überzeugung vom Rechten und Wahren, einem Ethos also, gehandelt“ (ebd.: 42) habe, und ersetzt ihn durch den unwirklichen, weil am Reißbrett entworfenen „proletarische[n] Revolutionär, wie Marx ihn vorzeichnet“ (ebd.), der „aus einem rein Ontischen, seiner Rolle als Klassenkämpfer im künftigen Geschichtsprozeß“ (ebd.) gemäß der Theorie des künftigen Prozessverlaufs zu schöpfen habe und dabei „mit der Schuldlast einer vorwegbestimmten Geschichtsrolle nun beschwert wird“. (Ebd.: 45) Sonnemann moniert dabei einen naturalistischen Fehlschluss im geschichtsphilosophischen Format, welcher die geschichtstheoretische Deduktion als unverbindlich-subjektives Programm entlarve: „Da aus einem faktischen Prozeß ein Sollen nicht ableitbar ist, gibt es nicht nur keine Hegelsche Ethik […] sondern muß Marxens Umstülpung des ganzen Weltbildes unvermeidlich Weltbild, also aber Programm bleiben.“ (Ebd.: 46) Die epistemologische Aporie dieses Programmentwurfs besteht darin, dass Marx „für seine Erkenntnis einen außerhalb der Geschichte liegenden gleichsam archimedischen Punkt finden“ (ebd.: 40) müsste, um als Dirigent der Geschichte – aber wiederum: in ihr – auftreten zu können. Anders als in seiner Kritik Freuds benennt Sonnemann die beiden leitenden Grundgedanken seiner Marx-Kritik bündig, indem er bei Marx zum Einen eine „inhaltliche, anthropologische Schwäche, ein gerade zu [sic!] undialektisches, nämlich äußerlich-endgültiges, statisches Menschenbild“ (ebd.: 57), andererseits eine „formale, methodische“ (ebd.) Schwäche ausmacht, die er auf das Stichwort der „Retrospektivität“ (ebd.) bringt. Mit Retrospektivität bezeichnet Sonnemann den Sachverhalt, dass Marx Hegels Geschichtsbild unreflektiert als „dialektische[s] Bewegungsbild, das diesem zugrunde liegende Gesetz der objektiven Vernunft, übernimmt, das von jener nicht nur vermittelt wird“ (ebd.: 45), und dieses Bewegungsbild „in die geschichtliche Zukunft projiziert und diese damit präjudiziert“. (Ebd.) Dazu sind erläuternde Bemerkungen nötig, gerade weil Sonnemann Marx ein undialektisches Menschenbild und ein dialektisches Geschichtsbild in einer einheitlich formulierten Kritik vorhält. Marxens Menschenbild, damit auch seine Anthropologie, ist nach Sonnemann undialektisch nicht nur des archimedischen Standpunkts wegen, den Marx beanspruchen und durch dessen Beanspruchung er sich der Geschichte entheben muss, sondern auch, weil das Subjekt der Geschichte, der Revolutionär, lediglich die Marionette eines objektiven Geschichtsprozesses ist, dessen individuelle Fassade die Subjekte lediglich sind. Anders gesagt: Die Dialektik wird von Marx anthropologisch um die Dialektik gebracht, indem sie zunächst zur „Realdialektik“ (ebd.: 57) und dabei zur „Linear-Dialektik“ (ebd.: 49) zurechtgebogen wird. Die „Ersetzung des en-
bildet werden, für die sich nur noch realgeschichtlich zu ereignen habe, was im Denken sich schon ereignet hat.
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gagierten eigenen Interesses durch die Einsicht in die Realdialektik“ (ebd.: 57) ist gerade die Ersetzung der Dialektik geschichtlicher Praxis durch die Dialektik spekulativer Geschichtstheorie. Denn eine gelingende Theorie geschichtlicher Praxis erfordert nach Sonnemann, „daß ein Abstand gewahrt bleibt zwischen ihrem eigenen Prozeß und den Bestimmungen ihrer Objekte“ (ebd.: 156 f.) – mit der dialektischen Pointe, dass die Objekte als Subjekte zu einer Selbstbestimmung fähig sind, die wiederum auf die Theorie zurückschlagen kann. Der Mangel an dialektischer Offenheit gegenüber Praxis in Marxens hegelianisch-dialektischer Theorie der Praxis ist der methodische Mangel, den Sonnemann kritisiert. Das anthropologische und das geschichtstheoretische Defizit verschränken sich darin insofern, als die Marxsche Dialektik aufgrund ihrer Hegelschen Grundlagen sich gegen die Dialektik von Praxis und Geschichte selbst und deren Zurückschlagen auf Theorie abschließt. Marxens Auffassung der Geschichte bestimmt vorrangig das Menschenbild bzw. die Geschichte determiniert die Anthropologie als positive, indem sie sowohl aus der Geschichte als auch aus der Anthropologie das exkommuniziert, was das deterministische Schema theoretisch in Frage stellen und praktisch durchbrechen kann: den spontan handelnden Menschen, um den Sonnemanns gesamter denkerischer Ansatz kreist.
1.1.6 Synoptischer Grundriss von Sonnemanns kritischem Ansatz Die hier dargelegten Überlegungen haben zentrale Motive von Sonnemanns philosophischem Denken versammelt, ohne auf eine vollständige Abbildung desselben gezielt zu haben; so sind Sonnemanns Ausführungen zu Sartre ausgespart worden, weil sie nicht die Fundierung der Kritischen Theorie – weder in Sonnemanns noch in der „klassischen“ Frankfurter Variante – betreffen. Den roten Faden von Sonnemanns Denken bilden die Begriffe der Freiheit und der Spontaneität. Seine epistemologische Kritik ist im Wesentlichen eine Kritik des reifizierenden Überspringens von Spontaneität und Freiheit mittels und im Namen von Abstraktionen. Diese Verdinglichung qua Abstraktion hat sich in vier maßgeblichen Gestalten ausgeformt, die in aller Kürze rekapituliert werden sollen: (1) In der „kartesischen Weltspaltung“,²⁴ deren philosophischer Ausdruck die Subjekt-Objekt-Relation ist, die Sonnemann konsequent als Subjekt-Objekt-Spaltung thematisiert. Diese Spaltung bildet die Grundlage einer modernen Zwei-Reiche-Lehre, die das Subjekt mit der immateriellen Innerlichkeit, das Objekt mit der materiellen Körperlichkeit identifiziert. Gerade die Identifizierung der Objektseite mit der Körperlichkeit in ihrer Quantifizierbarkeit und Manipulierbarkeit schlägt die Brücke zur (2) Psychometrie und Testpsychologie der Menschenwissenschaften, die die Differenz von quantitativ Messbarem und einer nicht beobachtbaren innerlichen Qualität, wie im Fall der Intelligenztests und der Demoskopie, zur Grundlage haben. Son-
Vgl. vor allem S 2: 118 und 331; S 3: 166 f.
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nemanns kritisches Hauptmotiv besteht darin, zu zeigen, wie hier die Subjekt-ObjektSpaltung im Manipulismus der Menschenwissenschaften Teil eines Verhängniszusammenhangs geworden ist, der dadurch gekennzeichnet ist, dass spontane Vollzugsleistungen wie das originäre Denken auf der Grundlage von Tests quantifiziert werden und diese Quantifizierungen als solche von in diesen Quantifizierungen verdinglichten Subjektvermögen aufgefasst und – im Fall der Intelligenz – zu Vermögensmessungen erklärt werden. (3) In der Psychoanalyse verschiebt die Fokussierung sich auf das Innenleben des Subjekts, das in der Unterscheidung verschiedener Instanzen (Ich, Es; Bewusstes, Unbewusstes; Bewusstsein, Trieb) seziert wird, während die Körperseite des Menschen vorrangig²⁵ als Symptomprojektor in den Blick kommt. Sonnemann hält Freud vor, dieser habe aus unzureichendem empirischem Material die therapeutische Verfahrungsweise und das Modell des Patienten (über‐)determinierende, objektivistische Abstraktionen herausdestilliert, die dann zu Instanzen (Unbewusstes, Trieb) verklärt worden seien, die wiederum mit Eigenschaften (Abwehrverhalten) ausgestattet worden seien, die eine prekäre Zirkularität instanziieren: Wenn die Abwehr durch Projektion stattfindet, wie steht es dann um die Projektion des Analytikers sowie um dessen Unbewusstes? Als epistemologisches Dilemma der Psychoanalyse macht Sonnemann aus, dass Freud keine zur Entscheidung solcher Fragen nötigen Kriterien ausgearbeitet habe. (4) Als geschichtsphilosophisches Komplement des psychologischen Determinismus Freuds macht Sonnemann den messianischen Geschichtsdeterminismus und -objektivismus Marxens aus. Marx hat Sonnemann zufolge einerseits dem Revolutionär seine Rolle und Identität präskriptiv auf notwendig positiv-anthropologischer Grundlage zugewiesen und ihm das historische τέλος seines Handelns, das dieser innergeschichtlich zu realisieren habe, vorgegeben, indem er nicht nur die Notwendigkeit einer spontan sich ihre Gestalt zu geben habenden Revolution, sondern die Notwendigkeit der kommunistischen Revolution gemäß eigenem Rezept geschichtsphilosophisch deduziert hat. Eine Schlüsselstellung kommt in diesem kritischen Panorama Sonnemanns MarxKritik zu, weil in ihr das zentrale philosophische Motiv Sonnemanns und seine Abweichung von der Hegel-Marx‘schen Linie klar hervortritt – auch wenn Sonnemann dies leider nicht explizit so ausführt, wie es in der vorliegenden Studie im Rückgang auf Hegel und Marx aufgewiesen worden ist. Marx hat in seiner Auseinandersetzung mit Hegel dessen Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit ihr
Dies zeigt sich an Freuds Unterscheidung zwischen Affekten und Neurosen; während erstere vorwiegend physischer Natur und deshalb situativ begrenzt auftreten, sind Neurosen der tiefgreifend in die Physis hineinwirkende und ihr sich einschreibende Fixpunkt seiner gesamten Arbeit: „Der Affekt ist ein rasch vorübergehender Zustand, die Neurose ein chronischer, weil die exogene Erregung wie ein einmaliger Stoß, die endogene wie eine konstante Kraft wirkt. Das Nervensystem reagiert in der Neurose gegen eine innere Erregungsquelle wie in dem entsprechenden Affekt gegen eine analoge äußere.“ (Freud 1952b: 338 f.)
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volles Gewicht gelassen und mit ihr unter den gleichen Vorzeichen, nämlich denen des Vorrangs der Notwendigkeit vor der Freiheit, gerungen. Sonnemann hingegen kehrt dieses Verhältnis nicht nur um, sondern verwirft jegliche maßgebende Notwendigkeit, die über die immanente Konsequenz der spontanen Selbstbestimmung hinausgeht. Nicht der Vorrang der Freiheit vor der Notwendigkeit, sondern die Perhorreszierung der Notwendigkeit zugunsten der Freiheit charakterisiert Sonnemanns Ansatz am ehesten, wenn man Hegel und Marx als komparative Bezugspunkte nimmt. Die Freiheit erfährt bei Sonnemann keine dialektische Herleitung, ebenso wird sie nicht psychologisch freigelegt oder „bewiesen“. Beides wäre objektiv gleichermaßen unmöglich wie unnötig. Sie ist kein demonstrandum, sondern das, woraus wir leben und bei Sonnemann insofern unhintergehbar, als sie gleichermaßen Erstes (worauf wir stoßen, wenn wir bei uns selbst sind) und Letztes (das, worauf wir stoßen, wenn wir uns durch das Dickicht der Verdinglichungen zu uns selbst durchkämpfen; das Letzte, worauf wir verzichten können, wenn wir uns noch im emphatischen Sinn als Menschen verstehen können wollen). Letztbegründungstheoretiker dürften in dem, was Sonnemann Freiheit nennt, eine Anrufungsfigur sehen und seine Philosophie der Freiheit in einem Dogmatismus der Freiheit gründend betrachten. Wer Freiheitsbeweise verlangt, dem würde Sonnemann vermutlich vorhalten, dass er sich zur Freiheit verhalte wie der Objektivist zur Intuition,²⁶ aus der heraus er lebt, bevor er Objektivist werden kann, derer er aber nicht verlustig gehen kann, ohne sich um das zu bringen, was den Unterschied zwischen einem erkennenden Menschen und einem bloßen Schablonenjongleur ausmacht. Nicht unbeträchtliche theoretische Probleme ergeben sich aber aus der Art und Weise, wie Sonnemann mit Marx und dessen revolutionärem Impetus gegen Marx und dessen historisch-anthropologischen Determinismus denkt. Sonnemanns Parteinahme für die Freiheit und gegen die Notwendigkeit verbindet sich mit einer grundsätzlichen Kritik der mit der Notwendigkeit verschwisterten Denkfigur des Gesetzes: Was ist ein Gesetz, sinngemäß nicht als Norm des erlaubten Verhaltens, sondern als Prinzip von Geschehen verstanden, also wie in der Naturwissenschaft? Es ist eine Verneinung der Freiheit, und für diesen Punkt ist es völlig gleichgültig, ob die Doktrin, in der es figuriert, auf explizite Weise materialistisch ist wie bei Marx oder wie bei Hegel auf explizite Weise idealistisch; was geschichtlich geschieht, gilt in beiden Fällen als durch das Gesetz determiniert. (S 5: 101)
Was setzt Sonnemann diesem Determinismus gleichermaßen philosophisch und politisch entgegen? Die „Spontaneität der Vernunft“ (ebd.), die ihre politische Erfüllung findet in der permanenten Revolution: „Selbstveränderung des Menschen nach Maß-
„Intuitionen – vorausgesetzt, es handelt sich um wahre – sind Wahrnehmungen und Einsichten, welche seine sinnliche und noetische Fassungskraft übersteigen, der er sie Intuitionen zu nennen pflegt; statt das aber sich klarzumachen, ist der Objektivist schnell bei der Hand mit dem Schluß nicht nur, das ihm Entgleitende müsse, wo überhaupt, eine liederliche Art von Wissen sein, sondern überdies,daß die, die es haben, alles zu fürchten hätten vor den Argusaugen statistischer Verifizierung.“ (S 2: 334 f.)
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gabe seiner Idee von sich selber, deren spontan Kritisches seine Bestimmung spiegelt, begreift sich zu Recht als permanente Revolution.“ (S 3: 160) Hier tun sich einige theoretische Probleme auf; nur auf zwei genuin philosophische kann hier eingegangen werden, weil sonst Sonnemanns gesamte politische Publizistik aufgerollt werden müsste: (1) Eine „Idee von sich selber“ muss, um überhaupt eine Idee zu sein, mehr als nur eine situativ gebundene Idee einer konkreten gesellschaftlichen Veränderung (Revolution) sein. Damit aber wird der Kreislauf der Ideen von sich selbst, die genau das sind, was Sonnemann bei Marx und Freud kritisiert, nicht durchbrochen, sondern der Kreislauf wird allenfalls dynamisiert und ent-dogmatisiert, indem er im Namen einer Spontaneität, die als eine höhere Art von Sich-selbst-verstehen eingeführt wird und womöglich gerade diesem mitsamt dem Ideellen das Verstehen austreibt, indem er strikt ent-theoretisiert wird. Die Privilegierung der ideell gesättigten, auf kein spezifisch-essentialistisch bestimmtes Was-sein sich versteifenden Spontaneität gegenüber der in sich versteinerten Idee, ist selber eine Idee, die im Prozess ihrer Bestimmung der Logik des Begriffs nicht sich zu entziehen vermag. Die Logik von Ideen selbst eröffnet damit ein Spannungsverhältnis zur Spontaneität (wenn auch nicht notwendig eine Aporie), weil die Idee eine „Idee von sich selbst“ und zugleich eine Idee zu sich selbst ist, die sie nur sein kann, wenn dieses „zu sich selbst“ eine bestimmte (nicht notwendig eine fixe) Idee ist. (2) Nicht nur kann die permanente Revolution nur schwer ein Wohin, eine Zielvorstellung und ein Zukunftsbild von sich selbst entwerfen, sie enthält überdies neben der Präsupposition ausgerechnet der kategorischen Notwendigkeit von Revolution auch die Präsupposition, dass diese nicht zu einem Ende kommen dürfe. Ihr wohnt die dubiose Voraussetzung inne, dass Revolution, deren praktisches Korrelat Veränderung ist, prinzipiell immer – wenn auch nicht überall, nicht in jedem Detail jeweiliger historischer Aktualität – nötig sei; eine Präsupposition, die ihren Widerschein in Sonnemanns Ausdruck der „Kritikwürdigkeit des je Bestehenden in seiner Unwahrheit“ (ebd.: 120) findet. Doch was präsentiert Sonnemann uns mit der „Kritikwürdigkeit des je Bestehenden“ in seiner Abstraktheit substantiell mehr als ein revolutionstheoretisch bzw. -rhetorisch verbrämtes nobody‘s perfect? Darüber hinaus verfällt Sonnemanns permanente Revolution, die begrifflich weit mehr als nur Kritik meinen muss, selbst dem Futur II (vgl. S 3: 97), das er als aporetisches Denkkorsett des prophetischen Determinismus von Marx ausmacht; der Revolution wird per se Absolution erteilt in der vorauslaufenden Anerkennung ihres Berechtigt-gewesen-seinwerdens, ihre Legitimität wird kategorisch in die Zukunft vorprojiziert: Was nötig war oder, melancholisch gesprochen, nötig gewesen wäre, wird auch in Zukunft immer nötig sein und nötig gewesen sein. Doch in welcher Form genau es nötig ist, welche konkrete Gestalt Kritik anzunehmen habe, das bleibt – unter Präsupponierung eines Woran ihrer Spezifizierbarkeit – offen und der Spontaneität überantwortet, die als Gesetzgeber zugleich das zu erfüllende Kriterium der Revolution ist und keinen „fabrizierten“ Kriterien unterworfen sein kann.
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1 Ulrich Sonnemanns Negative Anthropologie als Generalkritik jeglicher Anthropologie
Dass Revolution und Kritik bei Sonnemann in besonderer Weise miteinander enggeführt werden können – womit der Revolutionsbegriff wiederum entschärft wird –, zeigt sich in seiner Bestimmung der Revolution in Die Einübung des Ungehorsams: „Die politische Revolution, wo sie stattfand, hat immer Institutionen gestürzt. Die Revolution der Politik, die in Deutschland stattfinden könnte, hat keine Institutionen zu stürzen, sondern die Herrschaft eines institutionalistischen Seelentypus, der zugrunde richtet, was er berührt.“ (S 5: 183) Solche Revolution ist für Sonnemann denkbar als eine im Medium von Kritik entfaltbare, als Veränderung eines Menschentypus in einer transformativen Kritik, die ein Gesellschaftsklima im Ganzen prägt und sich nicht in einzelnen Akten kritischer Äußerungen erschöpft. Eine solche Kritik müsste mehr sein als Kritik im Namen der Spontaneität, sie müsste zur revolutionär wirksamen Kritik vermittelte Spontaneität sein.
1.1.7 Zum Abschluss: Sonnemann und die Kritische Theorie Sonnemann unterscheidet zwischen einer allgemeinen Kritischen (großgeschrieben) und einer speziellen kritischen (kleingeschrieben) Theorie. Die allgemeine kritische Theorie ist die der großgeschriebenen Kritischen Theorie, die er dezidiert der Frankfurter Schule zuordnet: „die allgemeine Kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, die diese Schule, Horkheimer zumal, entwickelte“ (S 3: 383). Zu ihr tritt hinzu die spezielle kritische Theorie, die den Teil seines Werkes charakterisiert, der sich unter dem Rubrum der politischen Publizistik fassen ließe. Der speziellen kritischen Theorie „sind meinerseits ja viele Veröffentlichungen vor wie nach der ‚Negativen Anthropologie‘ entsprungen“. (Ebd.) Seine wegweisenden politischen Schriften, die Sonnemann als ein „Speziellwerden kritischer Theorie“ (S 3: 348) versteht, sind jedoch zwischen Existence and Therapy (1955) und der Negativen Anthropologie (1969) entstanden – so Das Land der unbegrenzten Unzumutbarkeiten (1963), Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland (1964) und Institutionalismus und studentische Opposition (1968) –, weshalb die Negative Anthropologie als Systematisierung von deren Motiven verstanden werden kann. Zugleich ist die (hier unbeantwortet bleibende) Frage plausibel, ob die Subsumierung der politischen Werke unter das Label kritische Theorie nicht eine Rückprojektion auf der Grundlage seiner Bekanntschaft mit Adorno darstellt. Das Speziellwerden der kritischen Theorie ist jedenfalls mehr als ein Slogan, denn Sonnemanns politische Werke sind in sich systematisch gegliedert und konsequent auf drei Bereiche fokussiert, an denen seine Kritik des (notwendig anthropologischen) Institutionalismus sich abarbeitet: Politik, Justiz und Erziehung: „Die Domäne solcher Kritik, wie sie als negative Anthropologie heute fällig wird, reicht von den Geistes- und Sozialwissenschaften über die Phänomene des Kulturimmobilismus bis in deren greifbare Folgen für Politik, Justiz und Erziehung.“ (S 3: 254) Während die Politik in sämtlichen Monographien Sonnemanns ein bestimmendes Thema ist, hat sich das Speziellwerden der kritischen Theorie bezüglich Justiz und Politik in zwei von Sonnemann herausgegebenen Bänden materialisiert, deren Titel eine Zuordnung
1.1 Sonnemanns Negative Anthropologie
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leicht machen: Wie frei sind unsere Politiker? und Wie frei ist unsere Justiz? ²⁷ Diese Schriften fügen sich allerdings der theoretischen Entwicklung der Frankfurter Schule nur schlecht ein, da Horkheimer institutionell und Adorno publizistisch in der Nachkriegszeit zu deren bestimmenden Figuren wurden und letzterer seinen Fokus eher von politischer Publizistik auf philosophische und soziologische Theoriebildung verlagert hat. Insofern kann hier mit einer Frage geschlossen werden: Inwieweit handelt es sich bei Sonnemanns negativer Anthropologie um das Speziellwerden seiner kritischen Theorie, inwieweit um ein Speziellwerden der allgemeinen Kritischen Theorie in Gestalt der Philosophie Adornos? Und wenn der Unterschied stark genug ist, ist dann womöglich Adornos Kritische Theorie näher an einer negativen Anthropologe im Sinne einer positiven Anthropologie, deren Desiderat Sonnemann selber eingestanden hat? (vgl. S 4: 275) Auf die letztere Frage wird das Kapitel 4 mit der Ausarbeitung einer negativen Anthropologie bei Adorno umfangreich antworten. Bevor diese Fragen wieder aufgenommen, ist der Unterschied zwischen einer positiven (Gehlen) und einer – im Falle Plessners groß geschriebenen²⁸ – Negativen Anthropologie (Plessner) genauer zu klären. Im Folgenden geht es mit Arnold Gehlens philosophischer Anthropologie um einen Ansatz, dessen Zuordnung zur philosophischen Anthropologie unstrittig ist. Dabei wird zu zeigen sein, dass Gehlens positive Anthropologie, die prima facie von negativistischen Denkfiguren entscheidend strukturiert wird, teleologisch unterfüttert ist und dass und wie diese Denkfiguren deshalb seine Institutionenlehre fundieren können.
In Bezug auf die Justiz ist erwähnenswert, dass die Otto Kirchheimer, der der Frankfurter Schule angehörte, und dessen der Sache ihren Namen und ihre wegweisende theoretische Elaborierung gebendes Hauptwerk Politische Justiz (Kirchheimer 1993) bei Sonnemann keine Rolle spielen. In diesem Buch erfolgt in der Großschreibung der Anschluss an Hans-Peter Krügers Kodifikation einer Plessner’schen Unterscheidung: „Seit den 1920er Jahren ist umstritten, ob die philosophische Anthropologie nur eine besondere Disziplin innerhalb der Philosophie darstellt, welche die erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien generalisierend integriert, oder ob sie darüber hinaus die Fundierungs- und Begründungsaufgaben der Philosophie selbst übernehmen kann. Der letztere Anspruch wird ‚Philosophische‘ Anthropologie genannt, also ‚Philosophisch‘ großgeschrieben statt kleingeschrieben. Diese terminologische Unterscheidung hat Plessner in seiner Groninger Antrittsvorlesung 1936 eingeführt.“ (Krüger 2009: 55)
2 Arnold Gehlens positive philosophische Anthropologie Arnold Gehlens (1904 – 1972) philosophische Anthropologie ist während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden, 1940 in Der Mensch in gereifter Form vorgelegt worden und nach dem Zweiten Weltkrieg in opportunistischer Weise überarbeitet worden; die Bezugnahmen auf den amerikanischen Pragmatismus hat Gehlen erst in späteren Auflagen eingefügt.Worum es hier dennoch auf keinen Fall geht, ist, Gehlens Anthropologie als eine rechte darzustellen, nach rechten Einflüssen in ihr zu suchen oder in irgendeiner Weise der Assoziation zuzuarbeiten oder Vorschub zu leisten, die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Anthropologie ließe sich aus den politischen Rahmenbedingungen ihrer Entstehungszeit hinreichend oder erschöpfend erklären oder wäre gar übersetzbar oder gleichbedeutend mit dem Unterschied zwischen einer rechten (positiven) und einer linken oder liberalen (negativen) Anthropologie. Worum es hier also nicht geht, ist die Verachtung von Theorie und ihre Erledigung in akademisch verbrämtem Feuilletonismus. Deutlich ergiebiger als solche konformistischen Verbeugungen ist die Herausarbeitung der teleologischen Struktur, die Gehlens Anthropologie als eine positive Anthropologie qualifiziert, so sehr sie auch anhand negativer Denkfiguren ausbuchstabiert wird. Dabei wird nicht ein Begriff von positiver Anthropologie vorausgesetzt oder vorab definiert, der anschließend durch Gehlens Ansatz exemplifiziert wird, sondern grundlegende Merkmale des Theorietypus „positive Anthropologie“ werden in der Auseinandersetzung mit Gehlens Ansatz bestimmt und aus dessen Analyse gewonnen. Gehlens Hauptwerk Der Mensch enthält nicht dessen philosophische Anthropologie im Ganzen, sondern die theoretische Grundlegung derselben. Gehlens philosophische Anthropologie hingegen ist über mehrere Werke hinweg formuliert, Der Mensch und Moral und Hypermoral sowie Urmensch und Spätkultur bilden insofern verschiedene Kapitel derselben. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil Gehlens Grundlegung seiner philosophischen Anthropologie diverse Begriffe (wie z. B. Plastizität und Weltoffenheit) um ihren teleologischen Kern herum versammelt, die durchaus in die Richtung einer negativen Anthropologie weisen und hätten entwickelt werden können. In diesen negativistisch legierten Begriffen wird die positive Anthropologie ausformuliert, doch, so wird hier zu zeigen sein, von einer teleologischen Struktur her wird diese Ausformulierung organisiert.²⁹ Gehlens spätere Werke stülpen
Der Übergang von Anthropologie zu Kulturkritik erfolgt deshalb der hier entfalteten Argumentation gemäß organischer als Wöhrle suggeriert, wenn er von einer „rasante[n] Kurzschließung von ‚sachlicher‘ Anthropologie und scharfzüngiger Kulturkritik“ (Wöhrle 2010: 135) spricht. Worin meine teleologisch orientierte Analyse mit Wöhrles Diagnose über andere Wanderrouten sich trifft, ist die These, dass in Der Mensch eine „untergründige soziologische Problemstellung“ (ebd.: 17) die Federführung des Autors beeinflusst. Auch soll nicht verschwiegen werden, dass meine Darstellung notgedrungen in Sachen Gründlichkeit der sehr gelungenen monographischen Studie in Sachen Differenziertheit inhttps://doi.org/10.1515/9783110773682-003
2.1 Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch
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insofern nicht seine negativ-anthropologische Grundlegung tendenziös um, sondern entwickeln die positive Anthropologie nur zielstrebig und gemäß der teleologischen Anlage der positiven Anthropologie in eine bestimmte Richtung.
2.1 Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch Zunächst möchte ich darlegen, was der Bestimmung von Gehlens Anthropologie als eine positive prima facie widerspricht; es soll also zuerst die Lesart gestützt werden, gegen die hier argumentiert wird, um die Unterscheidung der Anthropologie-Typen als eine auszuweisen, die aufgrund sachlicher Ambivalenzen und der partiellen Selbstübersteigung eines jeden Typus – des positiven wie des negativen – in sein Gegenteil hinein einer gewissen Unterscheidungsfähigkeit bedarf. Gehlen definiert als Ziel seiner philosophischen Anthropologie, zu „einer wissenschaftlichen, d. h. empirischen Analyse des Menschen“ (GA 3/1: 4) zu gelangen, die auf die Frage eine Antwort zu geben vermag, was das Bedürfnis der Selbstdeutung für diesen bedeute oder worauf es beruhe. Doch Gehlens Intention ist nicht einlösbar, ohne über die empirisch-wissenschaftliche Analyse hinauszugehen und anzuvisieren, wovon er ebenfalls spricht, ohne die Divergenz beider Zielvorgaben zu thematisieren, nämlich eine „Gesamtwissenschaft vom Menschen“. (Ebd.: 13) Eine derartige Gesamtwissenschaft kann nicht bei der oberflächlichen Amalgamierung einzelwissenschaftlichen Wissens stehenbleiben, das sie emsig aufschnappt, sondern sie muss – ohne mit den empirischen Wissenschaften in Widerstreit zu geraten – die „Einheit des Strukturgesetzes aufzeigen […], das alle menschlichen Funktionen von den leiblichen bis zu den geistigen beherrscht“ (ebd.: 20), anders gesagt: Wir wollen also ein System einleuchtender, wechselseitiger Beziehungen aller wesentlichen Merkmale des Menschen herstellen, vom aufrechten Gang bis zur Moral, sozusagen, denn alle diese Merkmale bilden ein System, in dem sie sich gegenseitig voraussetzen: ein Fehler, eine Abweichung an einer Stelle würde das Ganze lebensunfähig machen. (Ebd.: 13)
sofern nicht das Wasser reichen kann, als hier nicht Nuancenverschiebungen wie der Übergang von Gehlens „geradezu prometheische[r] Betonung der menschlichen Umarbeitungs- und Schaffenskraft“ (ebd.: 91) in Der Mensch zur Unterordnung seines Handlungsbegriffs unter die „Führung seines stabilisierungs- und ordnungstheoretischen Denkens“ (ebd.: 92) in Urmensch und Spätkultur nachverfolgt werden kann. Was wie eine strikte Linearisierung in meiner Darstellung aussieht, verdankt sich weniger der Indifferenz gegenüber Nuancen als vielmehr der Exponierung eines alle publizistischen Manöver Gehlens unbeschadet überstehenden roten Fadens, was den Zusammenhang von dezidiert anthropologischer handlungs- und kulturtheoretischer, aber letztlich ebenfalls anthropologischer Institutionentheorie angeht. Dieser Zusammenhang bleibt unberührt von dieser oder jener „oftmals suggestive[n] Dachkonstruktion, unter der die Disparität verschiedener Begründungsinteressen und Denkmotive zum Verschwinden gebracht wird“ (ebd.: 30).
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2 Arnold Gehlens positive philosophische Anthropologie
Ein solches Vorhaben wäre allzu prekär angelegt, würde es sich an die empirischen Wissenschaften ketten. Eine Gesamtwissenschaft hingegen bedarf gerade spezifisch philosophischer Konzepte; es empfiehlt sich insofern, Gehlen großzügig gegen seine seinen Ansatz unterbietenden,³⁰ explizit formulierten Ansprüche zu lesen. Erst in der Gesamtwissenschaft bilden die Merkmale „ein System“ (GA 3/1: 13), erst in ihr werden sie systematisiert und in einem durchgängigen, logisch und begrifflich geordneten Zusammenhang organisiert. Erst in der Gesamtwissenschaft überschreitet die empirische Analyse sich selbst zum System hin. Doch dieses System ist nicht nur das Resultat einer über empirische Erkenntnisse hinausreichenden Synthese, sondern erhält als philosophisches System seine geistige Physiognomie von philosophischen Vorentscheidungen, die wiederum gegen andere Vorentscheidungen gerichtet sind. In Gehlens Fall fungiert als zentraler Begriff seiner Philosophie der Begriff der Handlung. Alle weiteren Bestimmungen, um die es im Folgenden gehen wird, alle kodifizierten Termini von Gehlens philosophischer Anthropologie sowie ihre Beziehungen sind „Entfaltungen der Grundbestimmungen: der Handlung“. (Ebd.: 30) Die Handlung versteht Gehlen als psychophysisch neutral, da sie „in ihrem realen Verlauf eine erlebnismäßig völlig untrennbare, vorproblematische Einheit eigener Art“ (GA 4: 71) sei. Entscheidend ist hier das Wort „erlebnismäßig“; Gehlen fasst die Handlung phänomenologisch und gerade nicht empirisch auf, denn in der empirischen Betrachtung lassen sich die physischen und psychischen Aspekte des Handlungsvollzugs nicht neutralisieren. Phänomenologisch ist entscheidend, dass für den Handelnden selbst von „einer Verschiedenheit oder Unterscheidbarkeit von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, von psychisch oder physisch […] während des Vollzugs einer Handlung selbst schlechterdings nichts gegeben“ (ebd.) sei. Alle im eigentlichen Sinne empirischen Bestimmungen von Handlungen seien Produkte „nachherige[r] Reflexion“. (Ebd.) Theoretisch flagranter ist allerdings, dass Gehlen den Handlungsbegriff teleologisch unterfüttert, indem er von der „Bestimmung des Menschen zur Handlung“ (GA 3/1: 20) spricht, die das „durchlaufende Aufbaugesetz aller menschlichen Funktionen und Leistungen ist“. (Ebd.) Diese teleologische Unterfütterung seiner philosophischen Anthropologie, die sich keineswegs auf den Handlungsbegriff beschränkt, soll im Folgenden als das theoretische Grundmerkmal aufgewiesen werden, das Gehlens philosophische Anthropologie als positive Anthropologie qualifiziert. Doch zunächst zu den negativistischen Denkfiguren, die den Anschein erwecken, dies wäre nicht der Fall. In vornehmlich vier Begriffen bündeln sich anthropologische Motive, die es denkbar erscheinen lassen, Gehlens Anthropologie als eine negative zu lesen. Diese Begriffe sind
„Unsere wissenschaftliche Philosophie stellt sich also die Aufgabe, wissenschaftliche Aussagen über den Menschen zu machen, und sie macht die Voraussetzung der Lösbarkeit dieser Aufgabe.“ (GA 4: 68)
2.1 Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch
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(1) der Begriff der Plastizität des menschlichen Verhaltens, der menschlichen Antriebsstruktur und beider Bildungsstrukturen; (2) der Begriff der Instinktreduktion; (3) die dazu komplementäre Ablehnung des Triebbegriffs; und (4) der Begriff der Weltoffenheit. Zu (1): Plastizität menschlicher Verhaltens- und Antriebsstruktur Der Begriff der Plastizität erstreckt sich sowohl auf die Verhaltens- als auch auf die Antriebsstruktur des Menschen und meint eine ganze Fülle von Fähigkeiten des Menschen: die „Hemmbarkeit des Antriebslebens, seine Besetzbarkeit mit Bildern und die ‚Verschiebbarkeit‘“. (Ebd.: 57) Gehlen spricht von der „motorische[n] Plastizität“ (ebd.: 189) wie von der „Plastizität der Antriebsstruktur“ (ebd.: 390), und seine synoptische Definition von Plastizität akzentuiert deren produktive Potenz im Sinne der Ermöglichung und Konsolidierung von Weltoffenheit: Der Ausdruck ‚Plastizität‘ ist sehr vieldeutig und hat mehrere Seiten. Er meint einmal die Abwesenheit ursprünglich festgelegter, gesonderter Instinkte, sodann die Entwicklungsfähigkeit der Antriebe, d. h. deren Fähigkeit, Verbindungen einzugehen oder abzubrechen, Neuorientierungen zu finden, nachzuwachsen, sich auf Ähnliches oder Zugehöriges zu verteilen und sogar neu zu entstehen: es tauchen im späteren Verlauf des Lebens neue und ursprüngliche Bedürfnisse auf. (Ebd.: 416)
Was alle diese Bestimmungen vereint, ist, dass Plastizität hier als eine unhintergehbare Potenz des Menschen angesprochen wird, durch die er sein Handeln organisiert, ohne dass die Plastizität selbst als etwas selbst wiederum Bedingtes angesprochen wird; sie ist ein vielfältig Ermöglichendes, ohne ein Bedingtes zu sein. Andere Stellen geben Aufschluss darüber, dass Gehlen die Plastizität als entstehungsloses (wenngleich nicht entwicklungsloses) Erklärungsprinzip ansetzt, so z. B., wenn er von der „angeborenen, unfertigen Plastizität“ (ebd.: 189) spricht, die nötig sei, um „komplizierte Führungs- und Unterordnungsleistungen“ (ebd.) in seinem Bewegungsleben ausbilden zu können. Indem Gehlen die Plastizität als „angeboren“ bezeichnet, biologisiert er sie in obskurer Weise, denn das Angeborensein besagt letztlich mehr, als dass sie nicht vom Himmel gefallen und hinter sie nicht zurückgegangen werden kann. Zugleich ist sie nicht nur angeboren, sondern wird als „biologische Notwendigkeit“ (ebd.: 416) wiederum auf Organmangel und Unspezialisiertheit zurückgeführt wird – allerdings nicht kausal und physisch, sondern teleologisch: „Die Plastizität des menschlichen Antriebslebens ist eine biologische Notwendigkeit, die der Organrückbildung oder besser dem Organmangel, der Unspezialisiertheit und Handlungsfähigkeit des Menschen entspricht.“ (Ebd.: 416) Eine teleologische anstelle einer kausalen Erklärung ergibt von Gehlens Intentionen her gesehen begründungslogisch Sinn, weil die Plastizität in dieser Erklärungsweise das Antriebsleben bzw. die „Plastizität der Antriebsstruktur“ (ebd.: 390) mit dem Bewegungsleben bzw. mit der „motorische[n] Plastizität“ (ebd.: 189) harmonisch verschränkt und zugleich – allge-
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2 Arnold Gehlens positive philosophische Anthropologie
meiner und mit Blick auf die traditionelle Körper-Geist-Unterscheidung gesprochen – das kognitive und das motorische Moment des menschlichen Handelns auf ein einheitliches Gesetz zurückführt. Die Frage kann nicht ungestellt bleiben, wie die Plastizität sowohl Bewegungsleistungen als auch kognitive Leistungen fundieren kann. Sie kann es, weil sie sowohl den Bewegungsleistungen selbst eingeschrieben ist als auch sie ermöglicht; was die Bewegungsleistungen nach Gehlen entscheidend kennzeichnet, ist die „Intelligenz und Plastizität, die ‚Sprachmäßigkeit‘ der Bewegungen selbst“. (Ebd.: 217) Die Plastizität ist kein Resultat – weder der Intelligenz noch der Bewegungen –, sondern sie ist die Qualität der „‘Intelligenz der Bewegungen‘“. (Ebd.: 167) Ihr Zustandegekommensein ist nicht erklärbar, auch nicht aus dem Organmangel, solange man nicht behauptet, dass dieser sie kompensatorisch erst hervorbringe, was Gehlen allerdings nirgends sagt. Sie ist ein nicht erklärbares Erklärungsprinzip, das allerdings keine kausale qualitas occulta, sondern bereits eine Qualität des Beobachtbaren selbst und dessen immanentes Organisationsprinzip zugleich ist. Sie erklärt das, dessen Eigenschaft sie zugleich ist, und sie muss dies tun, weil Gehlen sonst, mit einer in Physis oder Psyche ihre genetische Quelle findenden Plastizität, die psychophysische Neutralität aufgeben müsste, die er dem Handlungsbegriff zu verleihen sucht.³¹ Zu (2): Der Begriff der Instinktreduktion Eine Gefahr für Gehlens Konzept der Plastizität ist der Instinktbegriff, denn Instinkte würden Handlungen eine starre Gestalt geben, ebenso wäre das menschliche Antriebsleben nicht im eigentlichen Sinne das des Menschen, sondern die Antriebe würden nicht steuerbar den Menschen bestimmen, der kein handelndes, sondern nur mehr noch ein sich verhaltendes Wesen wäre. Die Differenz zwischen Mensch und Tier wäre nur noch eine der bloßen Verhaltensintelligenz. Die Plastizität lässt sich in Gehlens Denken nicht von der Instinktreduktion einerseits und Weltoffenheit andererseits trennen und bildet beider Grundlage. Weltoffenheit bedeutet für Gehlen – anders als für Scheler, dessen Begriff Gehlen sich aneignet: Der Mensch „entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu“.
Dies tut Gehlen ohnehin, ohne es zu merken. Eine schwerwiegende Inkonsistenz seines Ansatzes besteht darin, dass er für das Gehirn bzw. den Zusammenhang zwischen Neurophysiologie und Erkenntnis keinen Ort parat hat. Die Flucht in einen phänomenologischen Handlungsbegriff kann nur dann woanders hin als in eine Sackgasse führen, wenn das Gehirn als Organ der Verhaltensbestimmung ausgeschlossen werden kann, weil sonst ein organisches Substrat existiert, das die psychophysische Neutralität des Handlungsbegriffs kausalistisch unterminiert, worauf Gehlens Erwägung, das Gehirn sei „dasjenige Organ, welches jede spezialisierte, also auf bestimmte Umweltfaktoren zugeschnittene Organausbildung unnötig macht, also unter dem allein brauchbaren Gesichtspunkte des Verhaltens das Organ der Plastizität, Variabilität und Umstellbarkeit“ (ebd.: 129), hinausläuft. Ob Gehlen, diese Kalamität ahnend, deshalb die Etablierung des Plastizitätsbegriffs in den Neurowissenschaften seiner Zeit, maßgeblich durch Donald Hebbs in The Organization of Behavior (1949) entwickeltes Konzept synaptischer Plastizität inauguriert, nicht rezipiert hat, muss offen bleiben.
2.1 Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch
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(Ebd.: 34) Dabei handelt es sich nicht primär um einen Luxus, sondern um die Zwangslage eines „in keinem bestimmten Ausschnitt-Milieu natürlich lebensfähigen Wesens“. (Ebd.) Was Tieren diese Lebensfähigkeit in Umwelten, die für sie und für die sie geschaffen sind, ermöglicht, sind gerade die Instinkte; Tiere sind gerade keine Mängelwesen, sondern die grundsätzlich in hohem Grade umweltangepassten Nutznießer des „urtümlichen Zusammenhangs von Auslöserreiz und Instinktbewegung“. (GA 4: 197) Die beiden Hauptmomente von Instinkten sind (strikt deterministisch zustandsbedingte) Periodizität und die invariable Gebundenheit an Auslöserreiz: „Wäre unser Verhalten im echten Sinne instinktiv, so würden die Periodizitäten der inneren Reizerzeugung und Reizerschöpfung im Verein mit dem Wechsel der auslösenden Situationen uns an einer Reihe zusammenhangloser Gegenwarten entlanggleiten lassen.“ (Ebd.: 190) Uexkülls Unterscheidung zwischen tierischer Umwelt und menschlicher Welt reformuliert Gehlen im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen instinktiver Eingepasstheit in umweltliche Zusammenhänge und in eine Welt, die bereits in „kommunikativen Umgangsbewegungen“ (ebd.: 39 f.) eine variable Codierung erhält, in der also sowohl endogene menschliche Zustände und Dispositionen reflexiv veränderlich sind als auch Dingen, anderen Personen etc. eine Wertigkeit oder Bedeutung zukommt. Bereits „alle Umgangsbewegungen des Kindes sind kommunikative, sensomotorische Prozesse“ (ebd.: 237) und als solche „sprachähnlich, indem sie ebenfalls zurückempfundene (gesehene, gefühlte, getastete) Bewegungen sind, indem sie weiter auch kommunikativ und drittens symbolisch und variabel“ (ebd.: 273) sind; sie erhalten einen Andeutungs-, Repräsentations- und einen bereits in der Andeutung gegebenen Gebrauchswert: „Am Ende also ‚enthält‘ jedes Erfahrungsding sowohl Andeutungen seiner Eigenschaften als auch Andeutungen seiner Verwendbarkeit in einer Erfahrung.“ (Ebd.: 264) Im frühesten Stadium der Weltaneignung bilden sich bereits die Keimformen der abstraktiven Generalisierungsleistungen aus, welche die symbolvermittelte Sprache und mit ihr die „Übersicht“³² kennzeichnen. Instinkte bestimmen keinen Aspekt dieses Prozesses inhaltlich, sie motivieren auch keine dieser Leistungen; sie erklären somit nichts anthropologisch Wesentliches, wie sie auch keine Qualität menschlichen Handelns darstellen oder solches Handeln tragen können. In Der Mensch spricht Gehlen von Instinktreduktion (vgl. ebd.: 23, 28, 86, 390 – 393) und von Instinktresiduen (vgl. ebd.: 63 und vor allem 391). Interessanter als das Ereignis der Instinktreduktion sind im Licht der Instinktforschungen, die nach dem Erscheinen von Der Mensch stattgefunden und weite Verbreitung gefunden haben, die Instinktresiduen. Gehlen setzt sich mit dieser Forschung, insbesondere mit Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt, in seinen späteren Publikationen Fortschritte der Instinktforschung beim Menschen (vermutlich 1970; GA 4: 225 – 235) und Philosophische Die Sprache erlaubt höherstufige Abstandnahmen und Vergegenständlichungen, weil „nur in symbolischen Feldern Übersicht möglich ist; die Unnötigkeit, sich auf die mögliche sinnliche Ausgiebigkeit und Fülle der Dinge einzulassen, diese Entlastung gestattet Übersicht über ganze Felder von Andeutungen.“ (GA 3: 199)
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2 Arnold Gehlens positive philosophische Anthropologie
Anthropologie (1971, GA 4: 236 – 246) auseinander, nicht ohne der späteren Forschung Zugeständnisse zu machen: „An dieser Stelle muß ich einräumen, in dem Buche ‚Der Mensch‘ in der Ablehnung umschriebener Instinktklassen zugunsten der Vorstellung eines unspezialisierten Antriebsüberschusses zu weit gegangen zu sein.“ (GA 4: 224) Gehlen führt diesen Mangel darauf zurück, dass ihm während der Entstehungszeit seines Hauptwerks „eine experimentell abgesicherte und theoretisch durchdachte Instinktlehre nicht zur Verfügung“ (GA 4: 241) gestanden habe, „bevor K. Lorenz eine große Zusammenfassung seiner Resultate gab“. (Ebd.) So erkennt Gehlen das Kindchenschema als einen genuinen Instinkt an (vgl. ebd.: 245), dem Lorenz 1943 seinen in die Alltagssprache Eingang gefunden habenden Namen gab. Auch „Sexualität, Aggression und Rangstreben“ (GA 4: 225) und manche Ausdrucksbewegungen³³ erkennt Gehlen als „Instinktgruppen“ (ebd.) an, aber Gehlens Kulanz endet da, wo die eigene Theorie eine grundlegende Revision erfordern würde. Zum einen sieht Gehlen „erlebnismäßig ‚reines‘ Instinktverhalten als Ausnahmefall, der den Normalfall gerade voraussetzt“ (GA 4: 187), an, wobei der Normalfall gerade den Fall meint, den seine Theorie beschreibt; zum anderen stehen Normalfall und Ausnahmefall nicht unverbunden nebeneinander, was in dem Fall heißt, dass die Instinkte determinierend im Hinblick auf Dispositionen, nicht aber auf Verhaltensschemata oder Verhaltenspotentiale wirken, sie sind also Vergegenständlichung, Kontrolle, Hemmung oder Antriebsumlenkung nicht als determinierendes factum brutum entzogen. So heißt es in Bezug auf die Aggression: „Die Verzweigungen dieses Instinktes gehen in ähnlichem Sinne wie die der Sexualität bis ins Geistige“ (GA 4: 228); und in grundsätzlicher Weise: „Der ‚Eindruck der Umstände ihrer Erfüllung‘ gehört beim Menschen, um es so zu formulieren, in die Definition der Instinkte hinein.“ (Ebd.: 230) Auch wenn Gehlen die Existenz von Instinkten statt bloß die von Instinktresiduen anerkennt, im Ganzen des menschlichen Verhaltens nehmen sie wiederum die Bedeutung von Residuen an, denn sie treten als schwacher Einflussfaktor – nicht als bestimmende Kraft – in einer Geschichte von Dispositionsbildungen auf, die maßgeblich vom Menschen als einem Handelnden geprägt ist.
Auch für Ausdrucksbewegungen gilt, dass sie individuationsgeschichtlich überformt werden: „Das ‚Hineinwachsen‘ angeborener Antriebsrichtungen in die Kanalisierungen, die von außen hervorgegeben sind, muß als anthropologisch fundamentaler Wesenszug aufgefaßt werden, und anscheinend unterliegen nur die vorhin genannten sprachanalogen mimischen Ausdrucksbewegungen dieser Gesetzlichkeit nicht.“ (GA 4: 232) Zudem handelt Gehlen bereits in Der Mensch von Ausdrucksbewegungen als vorsprachlichen, aber bereits „sprachmäßigen“ Bewegungen von Kindern (Vgl. GA 3/1: 228 ff.), für die ebenfalls die bereits angesprochene allgemeine „Sprachmäßigkeit der Bewegungen selbst“ (ebd.: 217) bestimmend ist. Auch hier ist den Instinkten bereits das Geöffnetsein hin auf ihre Vergegenständlichung und Variierung eingeschrieben.
2.1 Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch
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Zu (3): Ablehnung des Triebbegriffs Der Triebbegriff, den Gehlen ablehnt, ist weiter gefasst als der psychoanalytische, den er miteinschließt, und bezieht sich auf unbewusste, invariante Antriebe, die der Vergegenständlichung, Bearbeitung oder Variierung vollständig entzogen sind, und zwar unabhängig davon, ob sie psychologischer oder strikt biologischer Natur sind; sie sind das genaue Gegenteil der menschlichen Grundeigenschaft schlechthin, der Plastizität, als das schlechthin starr Determinierende. Trieb und Instinkt unterscheidet Gehlen nur schwach; so spricht er in seinem Kapitel „Ablehnung der Trieblehren“ von der „unklare[n] Vieldeutigkeit der Begriffe Trieb bzw. Instinkt“ (GA 3/1: 389), wodurch er zu deren Unschärfe beiträgt. Gehlen versammelt einige Beispiele für triebhaftes Verhalten, als deren gemeinsamen Nenner er die „Befriedigung von physischen Minimumbedürfnissen“ (ebd.: 391) wie dem Hunger ausmacht. Insofern bezeichnet der Begriff „Trieb“ eher organismische Bedürfnisse grundsätzlicher und weniger umweltgebundener Art als der stärker auslöser- und damit umweltgebundenere Instinkt. Dem Instinkt gehorcht das Tier, den Trieb befriedigt das Lebewesen, in der Triebbefriedigung eröffnet sich Lebendigem ein wie immer primitiver oder verfeinerter Genuss, d. h. der Trieb hat einen stärker holistischen Charakter, womit korrespondiert, dass die Triebtheorie in der Philosophie „mit Schopenhauer begann und über Freud und Klages hin eine sehr große Ausdehnung gewonnen hat“. (Ebd.: 388) Die Differenz zum Instinkt, die in der holistischeren Verfasstheit des Triebes sichtbar wird, nimmt allerdings im menschlichen Verhalten Züge an, die den Trieb vom Instinkt klar unterscheidbar werden lassen: In einer zweiten Bedeutung nennt die Sprache solche Handlungen oder Affekte triebhaft, welche nicht durch intelligente, sachgemäße Überlegung hindurchgegangen und nicht unter Kontrolle gehalten sind. […] Endlich heißen Handlungen triebhaft, die ‚Jetztbewältigungen‘ sind, im Unterschied von solchen, welche auf Dauerinteressen stehen. (Ebd.: 392)
Was die Triebe in diesem Verständnis mit den Instinkten noch abstrakt vereint, ist ihre Impulshaftigkeit. Was sie von den Instinkten deutlich trennt, ist, dass sie erworbene Reaktionen auf Situationen darstellen, die selbst keine „natürlichen“ sind, da sie in einem längst kulturell und geschichtlich überformten Gesellschaftsleben entstehen und dort auf eine „Reaktionsbasis“ (Scheler) treffen, die von diesem Gesellschaftsleben in Form der Sozialisation, wenn auch in defizitärer, die normativen Anforderungen nicht erfüllender Weise geprägt ist. Triebhaftes Verhalten bezeichnet insofern defizitäres Verhalten; Philosophien, die eine triebhafte Natur des Menschen theoretisch promulgieren, zeichnen diesen in pessimistischer Weise als defizitäres, zur Selbstverfehlung seiner Ansprüche bestimmtes Wesen, welche Wertung auch in Gehlens am allgemeinen Sprachgebrauch orientierter Bestimmung des Triebes präsent ist: „Die Sprache nennt daher Handlungen, Neigungen usw. triebhaft im Gegensatz gegen nichtminimale, gegen bewußt, willensmäßig angeeignete, gegen kon-
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trollierte und geführte und gegen dauerbestimmte.“ (Ebd.) Diese Bestimmung des Triebhaften verleiht vordergründig der Frage Berechtigung, ob Menschen, wenn sie zwar nicht von Instinkten bestimmt werden, womöglich doch von Trieben bestimmt werden. Gehlen formuliert seinen Haupteinwand gegen die Triebtheorie nicht immanent, sondern auf dem Boden seiner philosophischen Anthropologie. Die entscheidenden Konzepte sind die der Plastizität und des Hiatus. Unter Hiatus versteht Gehlen die „Fähigkeit, die Antriebe ‚bei sich zu behalten‘, das einsichtige Verhalten unabhängig von ihnen zu variieren“ (ebd.: 57), anders gesagt: die Fähigkeit, das Reiz-ReaktionsSchema vom Organismus her zu unterbrechen und zu vergegenständlichen bzw. im „Inneren“ einen Damm zu errichten, der den permanenten Fluss unterbricht, der das tierische Dasein kennzeichnet. Die Hiatus stellt Gehlen zufolge die „vitale Basis des Phänomens Seele“ (ebd.) dar. Der Hiatus bildet für die Verhaltensbeobachtung eine Art „Innenrepräsentation“ der Plastizität, die – in dieser Doppelrolle, mit philosophischer Fragwürdigkeit belastet – als Qualität und Ermöglichungsbedingung unseres Antriebs- und Bewegungslebens fungiert. Aufgrund des Hiatus und vor allem der Plastizität folgen auch die elementaren, organisch repräsentierten Triebe […] beim Menschen der allgemeinen Gesetzlichkeit: sie können, selbst absolut, gehemmt werden, oder jederzeit in ihrer Erfüllung aufgeschoben, sie verbinden sich mit anderen Interessen von jedem Grade der Bedingtheit, sind ihren Inhalten nach weitgehend umlenkbar und fügen sich damit in die oben skizzierten allgemeinen Antriebsgesetze ein, die so in der Reihe der Existenzbedingungen des weltoffenen und handelnden Menschen erscheinen. (GA 4: 105)
Es lässt sich durchaus die Rückfrage an Gehlens Darlegungen stellen, ob die Triebe sich diesen Existenzbedingungen des „handelnden Menschen“ einfügen oder ob sie ihnen eingefügt werden, weil sie so verstanden werden müssen, damit der Mensch als handelnder verstanden werden kann. Die Frage gewinnt dadurch an Dringlichkeit, dass Gehlen die „Plastizität und Entdifferenzierung des Antriebslebens“ (GA 3/1: 410), die die Grundlage dieser Variierbarkeit von Besetzungen und Handlungswegen bildet, ausdrücklich mit der „Angelegtheit des menschlichen Antriebslebens auf intelligente Handlungsinteressen und Sachbedürfnisse“ (ebd.) begründet. Die Unverhandelbarkeit dieser Angelegtheit wirft die Frage auf, ob hier nicht die Ergebnisse der „empirischen Philosophie“ eine teleologische Unterfütterung erhalten. Die teleologische Begründungsstruktur und das vordergründig negativ-anthropologische Begriffsdesign beißen sich gegenseitig. Der letzte Aspekt, der jemanden zur negativ-anthropologischen Interpretation Gehlens tendieren lassen kann und dem eine kurze Betrachtung gewidmet werden soll, ist der der Weltoffenheit. Zu (4): Der Begriff der Weltoffenheit Die Weltoffenheit, die Gehlen von Scheler explizit als „negative Tatsache“ (ebd.: 34) übernommen hat, charakterisiert menschliches Dasein auf mehreren Ebenen: Zu-
2.1 Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch
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nächst ist der Mensch weltoffen, weil er die Welt „sich aneignen und durcharbeiten“ (ebd.: 189) muss, und er muss dies tun, weil er weltoffen ist. Sie ist die Disposition dessen, was seinen Umgang mit ihr charakterisiert. Dieser Doppelstatus der Weltoffenheit ist insofern nicht verwunderlich, als Gehlen die Plastizität durch die Weltoffenheit erklärt und beide als durcheinander ermöglicht bzw. als Momente des Strukturgesetzes begreift,³⁴ das sich in der Handlung materialisiert: „Der Ausdruck meint drittens die ‚Weltoffenheit‘ der Antriebe, viertens ihre Ausgesetztheit der Stellungnahme und die Fähigkeit, gehemmt, geführt, über- und untergeordnet zu werden.“ (Ebd.: 416) Was aus der Weltoffenheit entsteht und von Gehlen als humanes Spezifikum angesehen wird, ist ein Innenleben: „Der Ausdruck ‚Inneres‘, Innenleben ist überhaupt ein rein anthropologischer und bezeichnet dasselbe, wie den Tatbestand der Weltoffenheit, wie dieser nämlich von einem weltoffenen Wesen selbst erlebt wird.“ (Ebd.: 302) Die Weltoffenheit ist eine Offenheit zu zwei Welten hin: der objektiven, d. h. der Entstehung der Innenwelt vorausgehenden Welt der Objekte, und der Innenwelt, die zur Objektwelt und sich selbst offen ist, in der das Menschsein seine reflexive Qualität annimmt und von der her der Mensch sich selbst ein Objekt sui generis werden kann. Doch Gehlen verfährt hier terminologisch nicht konsequent, denn an einer anderen Stelle sagt er, dass „die Natur das Innenlebens [sic!] eines Wesens weltoffen machte“ (ebd.: 227), wodurch die Weltoffenheit zur Qualität des Innenlebens erklärt wird und nicht ein Innenleben überhaupt, sondern „lediglich“ ein in der Weltoffenheit sich reflexiv modifizierendes dem Menschen exklusiv zukommt. Doch dieses Innenleben verlässt den Bannkreis der Instrumentalität nicht, wie das Verhältnis zwischen der menschlichen Weltoffenheit und der Sprache zeigt, in der und mittels derer die Weltoffenheit ihren vollen und zugleich erstaunlich armen Reichtum gewinnen kann. Wie gezeigt, spricht Gehlen von der Sprachmäßigkeit menschlicher Umgangsbewegungen, die er auch als kommunikative bezeichnet. Man kann daher sagen: Die Art und Weise, in der die Weltoffenheit (aufgrund der Weltoffenheit) etabliert wird, und die Qualität der etablierten, aber nicht abgeschlossenen Weltoffenheit, die weiterer Kultivierung und Stabilisierung bedarf, ist die Sprachmäßigkeit bereits unseres frühkindlichen Weltverhältnisses. Prima facie konsequent ist es daher, wenn Gehlen sagt, sämtliche „Resultate des menschlichen, vitalen und in seiner eigenen Vollzugsform intelligenten Lebens überhaupt scheint die Sprache nur noch einmal in sich,
Die Zuspitzung, dass die Weltoffenheit nichts anderes die holistische Fassung der Plastizität in Bezug auf ein Weltganzes und eine reflexiv ausgebildete Identität ist, ist nicht abwegig: „Man sieht gleich, daß die Plastizität in diesem Sinne nichts anderes ist, wie die Weltoffenheit, nämlich die Fähigkeit der menschlichen Bedürfnisse, dem Gange der Erfahrungen zu folgen, dem Zwang der Notwendigkeit zu weichen oder den glücklichen Zufall festzuhalten, sich an der Erfahrung zu orientieren oder neu zu orientieren und diese Erfahrungen in sich hineinzubilden, um sie aufzuheben.“ (GA 4: 103) Noch deutlicher an anderer Stelle: „Plastizität und Weltoffenheit erklären sich gegenseitig.“ (Ebd.: 104) Das Woher beider erklärt sich aber weder dadurch noch erfährt es eine Erhellung.
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konzentriert und in höchster Vollendung zu erreichen“. (Ebd.: 281) Dies tut die Sprache bei Gehlen, wie ich andernorts ausführlich gezeigt habe (vgl. Edinger 2019a), durch die Verwendung von Symbolen, deren spezifische Leistung in der Ermöglichung eines „Übersehens im Absehen“ (GA 3/1: 325) von konkreten, raumzeitlich nahen Sachverhalten besteht. Wir können „die Symbolfelder der Wahrnehmung nur deshalb übersehen […], weil die Symbole Andeutungen möglicher Ergiebigkeit sind“ (ebd.); Symbole ersetzen daher nicht bloß Dinge, sondern erlauben auch, Dingfunktionen und -bedeutungen abstraktiv, hinsichts- und intentionsgebunden, zueinander in Beziehung zu setzen, indem „in den Phantasmen der Sprache die Welt anschaulicher und verdichteter Symbole selbst noch einmal symbolisch verfügbar“ (ebd.: 333) wird. Selbst die Existenz von Literatur, Philosophie und Mathematik, d. h. von künstlerischlogischen Sonderformen und -welten des Sprach- und Symbolgebrauchs, irritiert Gehlen nicht; das instrumentell am Handeln orientierte Paradigma wird sogar explizit durchgehalten, wo Gehlen die Mathematik erwähnt (ebd.: 402) und summarisch, fast schon trotzig, sein eigenes Paradigma wieder zu validieren versucht: Aber alles das ändert nichts daran, daß es [das Entlastungssystem Sprache, S. E.] ein ‚nach außen gewendetes System‘ ist, für die Weltbewältigung des handelnden Menschen entstanden und dazu da, dem Handeln die volle Freiheit zu geben, wenn es in sich selbst von einem Begriff zum anderen übergeht, A für B nimmt, neue Erwartungen anknüpft, das Abwesende in das Anwesende flicht und das Feld der Gesichtspunkte unendlich erweitert, unter denen angegriffen werden kann. (Ebd.)
Ein derart instrumentalistisches Verständnis der Sprache wird allerdings der Weltoffenheit nicht gerecht, gerade wenn Gehlen sagt, dass sie, „biologisch gesehen, ein negativer Sachverhalt“ (GA 4: 58) ist. Ein negativer Sachverhalt im ernstzunehmenden Sinne muss mehr als eine höhere intentionale Instrumentalität konstituieren, doch Gehlen verkürzt die Leistungen und Möglichkeiten der Sprache zu Supplementierungen der instrumentell-organismischen Handlung und deutet damit den Ursprung der Sprache gegenüber dem von von ihm gern zitierten Herder³⁵ dadurch um, dass er die Sprache ihrer Potentialität und Logik nach beschneidet und als Resultat ihrer abstraktiven Leistungen einen vom unmittelbaren Handlungsdruck entlasteten Solipsismus erhält:
Für Herder steht außer Frage, dass die Sprache ein weit über individuelle Lebensvollzüge hinausreichendes kulturelles Arsenal und Medium ist, dem man unemphatisch nicht gerecht werden kann: „In diesem Gesichtspunkt wie groß wird die Sprache! Eine Schatzkammer menschlicher Gedanken, wo jeder auf seine Art etwas beitrug! Eine Summe der Wirksamkeit aller menschlichen Seelen.“ (Herder 1985: 801) Diese Seelen sind überdies gerade durch die Sprache mit Gott verbunden: „Der menschliche [Ursprung, S. E.] zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine menschliche Seele ist. Sie bauet sich in diesen Sinn der Vernunft, als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, so fern er menschlich ist.“ (Ebd.: 809)
2.1 Gehlens anthropologische Grundlegung in Der Mensch
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Weil nun in der Sprache nicht nur die unmittelbare Richtung durch das Symbol auf die Sache liegt, sondern weil sie auch fähig ist, diese Richtung in der Schwebe zu lassen und die anderen in ihr gleichfalls angelegte festzuhalten, nämlich die Unmittelbarkeit der Wortbedeutungen zu entlasten und die Bedeutungen der Worte sich ineinander erfüllen zu lassen, also ‚unseren Gedanken selbst zu helfen‘ (Leibniz) – deswegen kann die Sprache diese Richtung bevorzugt einschlagen und das Beisichselbstbleiben des Denkens führen. Dieses ist Erkenntnis: ein je sehr bestimmtes Beisichselbstbleiben festlegen. (GA 3/1: 324)
Die im Geiste Habermas‘ formulierte Diagnose Honneths (1980: 219 f.; 2013: 98 f.), Gehlens Sprachtheorie und philosophische Anthropologie im Ganzen sei weder auf Intersubjektivität angelegt noch fähig, dieselbe angemessen zu verstehen, ist von solchen Ausführungen her nachvollziehbar. Die „Sprachmäßigkeit der Bewegungen selbst“ (GA 3/1: 217), die die sensomotorischen Prozesse und den Symbolgebrauch engführt, ohne die Entstehung der Sprache systematisch in einen größeren Rahmen einzubetten, macht Intersubjektivität als konstitutive Kategorie überflüssig³⁶ durch eine Vorprojektion der Sprache in Umgangsbewegungen, die jenseits aller eigentlichen Kommunikation kommunikative genannt werden. So wie Erkenntnis auf ein „Beisichselbstbleiben“ zusammenschrumpft, wird das Denken selbst aufgefasst als „identisch mit der im Sprachlaut verlaufenden Intention auf die Sache“. (Ebd.: 235) Mit Sprache, Denken und Intention wird auch der Begriff der Vorstellung von Gehlen, womöglich unter dem Einfluss Schopenhauers, im klassisch repräsentationalistischen Sinne verstanden: „Vorstellungen sind entlastete, ent-aktualisierte und intentional gewordene Erinnerungsphantasmen.“ (Ebd.: 297) Und letztlich wird auch die Kommunikation selbst, ein fait social par excellence, auf die instrumentellen Weltbezüge hin verkleinert: „Nur die Kommunikation, das Sichversetzen in die Dinge in dieser besonderen Intention und Aktion bringt es fertig, daß der gehörte Laut vom Ding selbst herzukommen und es auszusprechen scheint; er wird das führende Symbol desselben.“ (Ebd.: 294) Die Konsequenz, mit der Gehlen diese untereinander Dies ist umso erstaunlicher, als Gehlen sich in Der Mensch explizit auf Meads taking the role of the other bezieht, Meads Symboltheorie also nicht in Ignorierung von deren intersubjektivitätstheoretischen Stoßrichtung liest. Vgl. GA 3/1: 194, 242 und 307 f. Gehlen zieht aus seiner Mead-Lektüre keine systematischen Konsequenzen, merkt aber an, dass Mead das Potential seiner eigenen Einsichten nicht auszuloten verstanden habe: „Auch Mead hat die enormen Konsequenzen dieser genialen Einsicht nicht erschöpft.“ (Ebd.: 375) Der Ausdruck „geniale Einsicht“ bezieht sich ironischerweise gerade auf das von Gehlen nicht systematisch durchgearbeitete taking the role of the other, das er nur verbaliter aufgreift, um es seinem Totemismus-Exkurs einzuverleiben, dessen Fluchtpunkt allerdings gerade in der Erklärung der Entstehung des vom Totemismus her ausgebildeten Selbstbewusstseins besteht, das auf ein äußeres Anderes trifft, welches nach dem Modell der ihm gegenüberstehenden Außenwelt gedacht wird: „Ferner muß die Theorie das hocharchaische Alter des Totemismus einrechnen, also eine prähistorische Bewußtseinsstruktur, von der wir mindestens eins mit hoher Wahrscheinlichkeit aussagen können, daß nämlich dieses Bewußtsein überwiegend an der Außenwelt orientiert, d. h. in geringem Grade reflexives Selbstbewußtsein war. An dieser Stelle ist das Sichidentifizieren, d. h. das darstellende Sichverwandeln in ein Tier sehr wörtlich zu nehmen. Ich habe oben schon mehrfach auf die große anthropologische Bedeutung des Fundes von Mead hingewiesen, daß ein ‚Sichversetzen in den anderen‘, die ‚Nachahmung‘, wenn man will, daß Selbstbewußtsein freilegt.“ (Ebd.: 469)
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verwandten Reduktionen systematisch durchführt, macht vor dem Begriff der Weltoffenheit nicht Halt, die ihre Pointe nicht in der Öffnung des Organismus zur Welt hin findet, sondern in der Befreiung vom Druck der Welt durch verfügende Vergegenständlichung, mit Gehlens Kernbegriff: durch Entlastung.
2.2 Gehlens positive Anthropologie 2.2.1 Entlastung als teleologische Denkfigur Oben war die Rede von der Weltoffenheit als Aufgabe und als Errungenschaft, doch die Weltoffenheit hat bei Gehlen normative Konsequenzen, die auf einer weltbildenden Leistung beruhen. Die anthropologisch weltbildende Leistung ist die Entlastung, deren normative und gesellschaftstheoretische Konsequenz die Notwendigkeit von Zucht. Weder die Weltoffenheit noch die Plastizität stehen per se ihrer Indienstnahme durch die Entlastung im Wege, sie sind vielmehr über die Entlastung teleologisch mit Gehlens Institutionenlehre verbunden bzw. ihr eingeschmolzen. Der Übergang von der Weltoffenheit zur die Institutionenlehre vorbereitenden Entlastungsfigur, die über situativ sinnvolles Verhalten sowie prinzipielle Verhaltenskapazitäten weit hinausreicht, findet sich bei Gehlen explizit: „Es ist leicht verständlich, daß die beim Menschen, der ja weltoffen ist, vorhandene Überflutung mit Reizen besondere Entlastungsvorgänge nötig macht.“ (Ebd.: 199) In dem Zusammenhang, dem dieses Zitat entnommen ist, ist von der menschlichen Symbolisierungsfähigkeit die Rede; dass die Aussage jedoch in einer weiteren und grundsätzlichen Bedeutung zu nehmen ist, bleibt mit Blick auf andere Stellen unzweifelhaft: Eine biologische Betrachtung des Menschen besteht also nicht darin, seine Physis mit der des Schimpansen zu vergleichen, sondern besteht in der Beantwortung der Frage: wie ist dieses mit jedem Tier wesentlich unvergleichbare Wesen lebensfähig? Denn schon die Weltoffenheit ist, von daher gesehen, grundsätzlich eine Belastung. (Ebd.: 35)
Entlastungen verschaffen dem Menschen nicht nur Befreiung von konkret zu tragenden Lasten, von Bedrängnissen, Lebenserhaltungskämpfen etc., sondern von der Weltoffenheit selbst, deren produktives Potential Gehlen damit stark beschränkt; τέλος von Entlastung überhaupt ist auch Entlastung von den Zumutungen, die mit der Weltoffenheit einhergehen und sie selbst zu einer Last machen. Mindestens ebenso großes Gewicht wie die Frage danach, wie der Mensch lebensfähig sei, kann dann die Frage annehmen, was ihn denn überhaupt vom Tier so grundlegend unterscheide, wenn die Welt, der gegenüber offen zu sein eine Belastung sei, nichts wesentlich anderes ist als die Umwelt, die als die Last schlechthin gerade eine aus Bedrängnissen gestrickte Zwangsjacke ist, der nicht zu entkommen ist? Die Weltoffenheit widerspricht nicht Gehlens Definition des Menschen als Mängelwesen, sondern sie bildet geradezu den Kern der Mangelhaftigkeit, denn sich entlasten bedeutet: „die Mängel-
2.2 Gehlens positive Anthropologie
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bedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten“. (Ebd.) Die höchststufige Umarbeitung, die der Mensch im Sozialverband vollbringen kann, besteht in der Ausbildung von Institutionen, d. h. zugleich: in der durch Institutionen organisierten Implementierung von Entlastung. Darüber hinaus wird die Plastizität von Gehlen sogar für die Grundlegung der Institutionenlehre dienstbar gemacht, weil (aber auch: obwohl) Plastizität auch gerade eine solche gegenüber dem Institutionalismus einschließen müsste. Die Plastizität ist bei Gehlen vielgestaltig und fundiert mehrere Übergänge: den vom Verhalten zur Handlung (vom Tier zum Menschen), aber auch den von organismisch elementaren zu komplexen kulturellen Leistungen. Doch die Plastizität ist bei Gehlen nicht primär eine Ermöglichungsfigur – als solche wäre sie mit einer negativen Anthropologie kompatibel –, sie ist als Ermöglichungsfigur teleologisch überformt. Gehlen fragt: [W]ie bringt es denn der Mensch angesichts seiner Weltoffenheit und der Instinktreduktion, bei aller potentiell in ihm enthaltenen und unwahrscheinlichen Plastizität und Unstabilität eigentlich zu einem voraussehbaren, regelmäßigen, bei gegebenen Bedingungen denn doch mit einiger Sicherheit provozierbaren Verhalten […]? So fragen, heißt das Problem der Institutionen stellen. (Ebd.: 86)
Hier wird die Plastizität von Gehlen anders situiert, als dies meist der Fall ist, nämlich als die Rückseite der Instabilität und als ein Prinzip, das Beweglichkeit, Erfindungsreichtum und ein Virtuosentum der Anpassung gewährleistet, dessen Stabilisierungsleistungen aber nicht diejenige Stabilität zu gewährleisten vermögen, die Menschen benötigen und die es deshalb erforderlich machen, dass die Plastizität sich selbst hin zur Kristallisation in stabilen Strukturen und Gebilden übersteigt, die Gehlen Institutionen nennt. Die Potenz und die Qualität der Plastizität sind nicht das letzte Wort über sie; ihr ist eine Disjunktion eingeschrieben, die einer Auflösung in höherstufig sedimentierten und insofern nicht frei, sondern nur begrenzt verfügbaren Leistungen bedarf: „Plastizität bedeutet aber: aus einem noch nicht funktionierenden Fächer von Möglichkeit ist durch Selbsttätigkeit, im Umgang mit den Dingen, eine Auswahl herauszuheben und eine variable Führungsordnung aufzubauen.“ (Ebd.: 190) Die Selbsttätigkeit des Menschen wird hier nun, anders als in Der Mensch, gerade nicht mehr individualistisch gedacht; der Schwerpunkt liegt auf der Führungsordnung als solcher, nicht auf deren Variabilität, die aus jener sich ergebenden koordinativen Zwecken untergeordnet ist. Die Institutionen setzen Plastizität voraus, erlösen dieselbe in Gehlens philosophischem Entwurf aber zugleich von der Not der Instabilität, die dem Menschen von der Plastizität aufgenötigt wird, indem sie die Aufhebung der durch die Plastizität evozierten Not durch die Tugend der Entlastung zu ermöglichen. Die Institutionen, als geronnene stabilisierte Entlastung, sind insofern das τέλος der Plastizität.³⁷
Gehlen bietet insofern eine anthropologische Untermauerung von Platons Idiopragie-Lehre. Nicht ein wahl- und ergebnisoffenes, individualistisches „Jedem das Seine“ gilt hier, sondern im Sinne der
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Tiefergehende Aufklärung darüber verschafft Gehlens Begriff der sekundären objektiven Zweckmäßigkeit. Institutionen sind strukturell durchgebildete, planmäßig auf Dauer gestellte und situationsentbundene Entlastungsleistungen von traditionsund sozialverbandsbildender Kraft. Institutionen sind Antworten auf eine „biologische Zweckmäßigkeit“ (ebd.: 199), dergemäß das Handeln zur organisierten Ausbildung einer Führungsidee (ebd.: 467, 474, 479) strebt, die dauerhaft grundlegende Zwecke befriedigen zu können erlaubt. Wie das biologisch zweckmäßige Verhalten in einer konkreten Situation an Bewegungsleistungen gebunden ist, so basieren die Institutionen auf „inkorporierten Führungsideen“ (ebd.: 479), d. h. Gehlen nimmt hier das Handlungskonzept aus seinem anthropologischen Handlungsmodell auf der Ebene der ideativen Vergegenständlichung und zweckmäßigen Implementierung der Handlung als dauerhaft Probleme eines bestimmten Typus zu lösen erlaubenden Entlastungsleistung wieder auf. Da solche Entlastungsleistungen keine genialen Erfindungen eines instrumentellen Bewusstseins sind,³⁸ hebt er hervor, dass Institutionen generell – als Beispiele führt er Tierzucht und Ackerbau an (vgl. ebd.: 475) – sich aus erfolgreichen Praktiken heraus entwickelt haben, die in ihrer anfänglichen Erprobung nicht auf ihre Institutionalisierung hin angelegt waren, weshalb es sich um eine sekundäre und keine primäre Zweckmäßigkeit handelt,³⁹ die der Entwicklung einer Führungsidee zugrunde liege. Doch die „tiefste Zweckmäßigkeit“ führt Gehlen nicht nur zur Institutionenlehre, sondern mit ihr zu einer entscheidenden positivanthropologischen Zuspitzung seiner Anthropologie: Die tiefste Zweckmäßigkeit dieser Struktur ist an dieser Stelle sichtbar: alles dauernde Sicheinstellen des Menschen, das ihn befähigt, Gewohnheiten aufzubauen und über die Veränderlichkeit des Jetzt hinaus Ziele im Auge zu behalten, wächst nur auf durchgezüchteten Hemmungen, und von der anderen Seite her gesehen, ist eben dies der Formierungszwang, der mit der Überschußqualität der Antriebe gegeben ist. (Ebd.: 427)
Der Formierungszwang, der sich in der Führungsidee (als Idee der Führungsidee, nicht als bloß diese oder jene Führungsidee) teleologisch mit der Zweckmäßigkeit verbindet, führt Gehlen wenig später zur Modifikation des Kulturwesens Mensch zum Zuchtwesen Mensch: „Der schon am Anfang des Buches berührte Satz, daß der
teleologisch präformierten funktionalen Eingliederung in das den Vorrang genießende Ganze „Jeder das Seine“. So umstritten die Lehre und der Begriff sind, sofern sie überhaupt bekannt sind, sie wird in der Politeia (Platon 1990: 321 ff. und 351 ff. bzw. 433a – 434a und 441d – 443b) verhandelt, allerdings unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten, die bei Gehlen keine Rolle mehr spielen und an deren Stelle eine Bestimmungserfüllung tritt, wobei die Bestimmung selbst nach dem Modell eines Befehls aufgefasst wird, der zu erfüllen sei. „Das instrumentelle Bewußtsein hat diese Institutionen gerade nicht geschaffen, es ist überhaupt, wie wir gegenwärtig eher ‚durchmachen‘ als wissen, unfähig zur Begründung stabiler und humanisierender Institutionen.“ (Ebd.: 478) Gehlen spricht deshalb auch davon, dass zweckmäßiges Verhalten „rückwärts stabilisiert“ werde in der Ausbildung von Institutionen: „Die ursprünglich keineswegs angestrebte, sondern unerwartete, aber überwältigende objektive Zweckmäßigkeit hat dieses Verhalten rückwärts stabilisiert.“ (Ebd.: 474)
2.2 Gehlens positive Anthropologie
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Mensch ein Zuchtwesen ist, erhält hiermit seine Bestätigung.“ (Ebd.: 429) Doch die Plastizität dieses Zuchtwesens ist nicht mehr die Plastizität im Sinn einer negativen Anthropologie, sondern eine Plastizität, die der Notwendigkeit teleologisch zugeordnet ist, sich einer die Menschen von den Zumutungen einer gefährlichen Freiheit entlastenden Führungsidee und den diese Führungsidee inkorporierenden Institutionen zu unterwerfen. Der Begriff der objektiven Zweckmäßigkeit lässt sich noch weiter vertiefen. Die objektive unterscheidet Gehlen von der subjektiven Zweckmäßigkeit explizit in Abgrenzung von Ansätzen, die „z. B. die Religion auf deren Vorstellungsgehalt“ (ebd.: 465) explanatorisch zurückführen, sie also aus Gemüts- oder Verstandeskräften erklären, die in der geschichtlichen Entwicklung eine konstituierende Kraft angenommen haben dadurch, dass subjektiven Qualitäten selbst eine konstituierende Kraft zugeschrieben wird. Doch der Begriff der objektiven Zweckmäßigkeit reicht wesentlich weiter und tiefer: Wie die Überführung der Plastizität und Weltoffenheit in das Entlastungsdenken und die Institutionenlehre funktioniert, zeigt sich erst, wenn man Gehlens Verschränkung von Anthropologie und Ontologie beachtet. Eine objektive Zweckmäßigkeit kann Gehlen zufolge nicht institutionalisiert werden, wenn nicht kognitiv der Sachverhalt sich ereignet, dass Verhalten zu ideativem Verhalten wird; für dieses ideative Verhalten gibt Gehlen Kriterien an, die kognitive bzw. epistemische Leistungen mit ontologischen Passungen verklammern, denn für die „inneren Kategorien des ideativen Verhaltens“⁴⁰ (ebd.: 477) gilt: Diese Kategorien müssen sich […] mit gewissen potentiellen, übergreifenden Kategorien der organischen und menschlichen Welt decken, müssen sie im Vollzuge ‘treffen’ und ‘realisieren’, ähnlich wie die Kategorien des instrumentellen Denkens denen der anorganischen Natur in hohem Grade angemessen sind. Eben dieses ‘Treffen’ legt sich aus in der überraschenden, als Segnung dieses Verhaltens empfundenen objektiven Zweckmäßigkeit, die nun festzuhalten und auf Dauer zu stellen der wesentliche Inhalt der fundamentalen Institutionen ist, wie wir dies an den Beispielen der Gruppenbefriedung, der Ehe und des Ackerbaus zeigten. (Ebd.)
Die Verklammerung von Anthropologie und Ontologie fasst Gehlen in der Metapher des „Treffens“ zusammen, die der Bestimmung des Verhältnisses der klassischen epistemologische Figur der adaequatio rei et intellectus mit der schlicht pragmatischen des erfolgreichen Verhaltens dient. Der direkte Übergang, den Gehlen in der zitierten Passage von der Verklammerung von Anthropologie und Ontologie zur Institutionenlehre im Sinne der Institutionalisierung der Zweckmäßigkeiten vollzieht, wird an anderer Stelle ebenfalls, und zwar in einer direkten Zusammenführung von Anthropologie und Ontologie mit der Institutionenlehre in den Anthropologie und Ontologie in sich versöhnenden Führungsideen, gemäß der Metapher des Treffens
Solche Kategorien umfassen z. B. Verkörperungsleistungen im strikt körperleiblichen (nicht rollentheoretischen) Sinn, „indirektes Selbstbewußtsein, indirektes Grupppenbewußtsein, Verpflichtung ‚von außen‘, Askese und das ursprünglich schöpferische andere Ich“. (Ebd.)
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gefasst. „Man hält Führungsideen nicht bloße im Kopfe fest, sie müssen, von realen Institutionen reflektiert, in die Grundlagen des Alltagsverhaltens eingegangen sein.“ (Ebd.: 474) Die Institutionen sind hier nicht mehr nur eine aus Verhaltensleistungen gebildete Konsequenz, erst recht kein „Verhaltensaufsatz“, sondern menschliche Leistungen und die organische Welt geraten in den alles andere als arbiträren Führungsideen, welche die Institutionen wiederum verkörpern, zur Versöhnung. Gehlens Versöhnung von Freiheit und Notwendigkeit ist – obgleich eine politische Systemzuordnung, wie Marx sie unter dem Namen des Kommunismus vornimmt, bei Gehlen ausbleibt – nicht weniger teleologisch als die Hegels und Marxens in Sonnemanns Lesart: Die Notwendigkeit der Institutionen ermöglicht die wesentlichen Freiheiten, und alle prä- oder anti-institutionellen Freiheiten sind unter der Maxime einer angestrebten Versöhnung von Freiheit und Notwendigkeit nicht satisfaktionsfähig. Die materiale Teleologie von Gehlens philosophischer Anthropologie gipfelt in der Institutionenlehre, sie findet ihre theoretische Präformierung jedoch bereits in Gehlens Grundfragen bzw. in der Art und Weise, in der Gehlen seine anthropologischen Grundfragen formuliert. Darauf ist hier noch kurz einzugehen, damit der Kreis von philosophischer Grundlegung und Komposition der manifesten philosophischen Lehre sich schließt.
2.2.2 Die teleologische Struktur von Gehlens Grundfragen Gehlens philosophische Anthropologie ist gekennzeichnet durch einen geschlossenen teleologischen Kreislauf, dem sich der glückliche Umstand verdankt, dass voraussetzungsreiche Grundfragen Antworten erhalten, in denen die Voraussetzungen der Grundfragen auf der Ebene der begrifflichen Durchführung der anthropologischen Konzeption als notwendige Elemente der sie in dieser Notwendigkeit bestätigenden Denkbewegung reproduziert und im Sinne der mit ihrer positiven Beantwortung schwanger gehenden Fragestellung bestätigt werden. Der Entdeckung dieses Sachverhalts zuträglich ist durchaus, dass Gehlen grundlegende Fragen offen in teleologischer Form formuliert und in die Fragen stellt, die bereits Antworten enthalten, nach deren teleologischem Grund wiederum gefragt wird. Gehlen fragt in der Einleitung von Der Mensch, nachdem er denselben dadurch bestimmt hat, dass er durch den Symbolgebrauch sein Handeln durch den im Bereich des Lebens exklusiven Luxus der Fähigkeit zur Gewinnung von „Übersicht und zur übergreifenden Verfügung über das, was die Situation gerade enthält“ (ebd.: 53), transformiert habe: „[W]ie muß das Bedürfnis- und Antriebsleben eines solchen Wesens gebaut sein?“ (Ebd.: 54) Seine Antwort lautet: „[E]s wird lebensnotwendig sein, daß die Bedürfnisse und Antriebe eines solchen Wesens in der Richtung der Handlung, der Erkenntnis und der Voraussicht funktionieren“. (Ebd.) Frage und Antwort enthalten eine gemeinsame Voraussetzung: Das Antriebsleben muss weltoffen (plastisch) sein, die Antriebe müssen in Richtung von Handlungen „funktionieren“, die weltoffen (plastisch) sind, sie müssen selbst in der Weise der Weltoffenheit
2.2 Gehlens positive Anthropologie
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(Plastizität) funktionieren. Die Weltoffenheit und Plastizität bilden den Fluchtpunkt der Frage und die Voraussetzung der Antwort gleichermaßen, ihr konzeptionelles Kristallisat und ihre Klammer bilden die „Lebensnotwendigkeit“, deren Bestimmung selbst bereits Gehlens Agenda imprägniert ist, denn die Lebensnotwendigkeit ist hier die von Gehlens Mensch, nicht die des Menschen. Dem entspricht auch die Antwort, die Gehlen in Zur Systematik der Anthropologie auf die Frage, wie „die Zuordnung von Bedürfnisgefühlen, Abhilfebewegungen und Erfüllungsbildern beim Menschen empirisch erfolgt“ (GA 4: 102), gibt: „Wir brauchen dazu nichts anderes vorauszusetzen als die allgemeine Fähigkeit der Einbildungskraft oder Hineinbildungskraft, nur eben eine bis in die Antriebssphäre hineinreichende, oder umgekehrt: die Weltoffenheit auch der menschlichen Antriebe.“ (Ebd.) Veranschaulichen lässt sich dies, wenn man versucht, das Hempel-OppenheimSchema versuchsweise auf Gehlens Begründungsstruktur zu übertragen. In seiner dreigliedrigen Elementarform setzt sich das Schema zusammen aus Antezedensbedingungen (A), Gesetze (G) und Ergebnissen (E); seine elementare Darstellung fällt entsprechend einfach aus:
Antezedensbedingungen Gesetze
A₁, A₂, … A n G₁, G₂, …. Gn
}
Explanans
Ergebnis, Explanandum (E)
Eine notwendige Voraussetzung der logischen Integrität dieses Schemas formuliert Franz von Kutscher folgendermaßen: „Mit der Forderung, das Explanandumereignis sollte später stattfinden als die Antezedensereignisse sind nun auch Begründungszirkel i.w.S. ausgeschlossen: keins dieser Antezedensereignisse läßt sich dann zugleich kausal mithilfe des Explanandumerereignisses erklären.“ (Kutschera 1982: 100) Doch genau das tut Gehlen, weil die Weltoffenheit sowohl Ergebnis seiner Erklärungen ist, als auch als Explanandum bereits in die Antezedensbedingungen Eingang findet als Ermöglichungsgrund des Handelns, das sich gerade durch die Weltoffenheit auszeichnet. Genau genommen findet die Weltoffenheit auf allen Ebenen des Schemas ihren Ort: Sie ermöglicht das Verhalten (A), das sie in einem losen Sinn gesetzmäßig bestimmt (G) und ist Resultat beider Glieder des Explanans. Das zur Erlangung von E (Weltoffenheit als Explanandum) theoretisch Nötige ist in A und G bereits enthalten und schließt beide zusammen; der teleologische Konnex umfasst nicht nur beide Glieder des Explanans, sondern erstreckt sich auf sämtliche Glieder des Schemas, wodurch ein teleologisch geschlossener Kreislauf entsteht. Die teleologische Struktur nimmt dadurch aporetische Züge an, dass in dem Schema weder ein Ort für Qualitäten (wie Weltoffenheit und Plastizität auch welche darstellen) noch ein Ort für nicht gesetzförmige Mittel (wie die Handlung) ist. Eine saubere schematische Auflösung gelingt zudem nicht, weil Gehlens Grundbegriffe mehrere Ebenen durchdringen, doch entscheidend ist letztlich nur, dass alle Ebenen
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Teile eines teleologischen Zirkels sind, der die angesprochenen internen Permutationen gerade ermöglicht und trägt. Diese Teleologie ist keine „immanente Teleologie“, wie sie sich bei Plessner findet und im nächsten Kapitel behandelt wird, sondern eine holistische Teleologie, d. h. Gehlens gesamte philosophische Anthropologie ist von einer positiven Teleologie getragen, die nicht nur den Zusammenhang und die Ordnung der Grundbegriffe trägt, sondern auch die spezifischen Übergänge, so den hier zentralen von der konkreten Anthropologie zur Institutionenlehre, ermöglicht.⁴¹ Dass und wie Plessner hingegen seine immanente Teleologie als eine negative Teleologie konzipiert und, auf ihrer Basis, seine Philosophische Anthropologie als eine negative entwickelt, wird noch im Einzelnen zu zeigen sein.
2.2.3 Die Mündung der anthropologischen Teleologie in den Ordnungskonservatismus der Institutionenlehre Gehlens Institutionenlehre kann hier nicht ausführlich diskutiert werden; vielmehr geht es darum, zu zeigen, wie Gehlens teleologisch organisierte Anthropologie als solche zwanglos in seine Institutionenlehre überführbar ist als ein Zu-Ende-Denken der Anthropologie,⁴² das dieser keine Gewalt antun muss, um zu den theoretischen Koordinaten einer Lehre zu gelangen, die dem „Zuchtwesen“ Menschen die theorieimmanent adäquate politisch-gesellschaftliche Ordnung der Zucht angedeihen lässt. Dadurch wird umso verständlicher, warum Günter Rohrmoser Gehlen als den „wahrscheinlich authentischsten Konservativen des 20. Jahrhunderts“ (Rohrmoser 2006: 321) bezeichnen konnte. Bereits in Der Mensch führt Gehlen den Begriff der Zucht als Grundbegriff der Selbstmodellierung des lebensfähigen Menschen ein: „Selbstzucht, Erziehung, Züchtung als In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben gehört zu den Existenzbedingungen eines nicht festgestellten Wesens.“ (GA 3/1: 30) Selbstzucht ist als individuelles Projekt möglich,⁴³ doch anthropologisch ist das Subjekt der Selbstzucht der
Was gängigerweise als Ideologie bezeichnet wird, nennt Hans Blumenberg auch „Gefälligkeitsphilosophie“. Gehlen dürfte Blumenbergs Polemik unausgesprochen gegolten haben, wo er den Entlastungsbegriff als prototypisches Kernstück eines bestimmten Typus von Gefälligkeitsphilosophie bezeichnet: „Zum Typus der Gefälligkeitsphilosophie gehört nicht nur die Umschmeichelung des schlichten Gemüts gegen Präparate und Artefakte der exakten Experimentation sowie gegen den professionellen Schwulst der Gelehrsamkeit, sondern auch der ganze Komplex von Theorien, deren Annehmlichkeit man auf den Titel der ‚Entlastung‘ bringen kann.“ (Blumenberg 2000: 30) Karl-Siegbert Rehberg weist in einer Fußnote in seinem Vorwort zur 6. Auflage von Moral und Hypermoral darauf hin, dass Gehlen die Absicht hatte, dem Buch den Titel „Der Mensch. Zweiter Teil“ zu geben, vgl. Rehberg 2004a: VII, Fußnote 1. Und Gehlen zufolge nötig, wo jemand sich durch aktive Selbstzucht nicht nur disziplinieren, sondern perfektionieren bzw., um die aristokratische Tendenz von Gehlens Absicht besser zu bezeichnen, „höher- und sich über sich selbst hinausbilden“ will. Die Selbstzucht ist nicht vorrangig ein
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Mensch als kooperativer Stabilisierungsleistungen seiner Lebensbedingungen bedürftiges Gattungswesen, nicht das Individuum; die Selbstzucht des Menschen nimmt daher den Weg über die Institutionen, mittels deren etliche miteinander zusammenhängende Bedürftigkeitsmanifestationen, wie sie in Begriffen wie Zucht, Ordnung, Moral, Erziehung, Sozialorganisation und sozialer Verhaltensregulation gefasst werden können, politisch und gesellschaftlich integriert werden; auch hier schlägt Gehlen bereits in Der Mensch den Bogen von der Anthropologie zur Institutionenlehre, wo er den Begriff des Zuchtwesens bereits näher bestimmt: Diese Bezeichnung umfaßt alles, was man unter Moral verstehen kann, im anthropologischen Aspekt: die Zuchtbedürftigkeit, den Formierungszwang, unter dem ein ‚nicht festgestelltes Tier‘ steht, und von dem Erziehung und Selbstzucht, auch die Prägung durch die Institutionen, in denen die Aufgaben des Lebens bewältigt werden, nur die auffälligsten Stadien sind. (Ebd.: 64)
Die Institutionen bedürfen der menschlichen Plastizität, um gebildet werden zu können – darin sind sie ein humanes Spezifikum –, sie werden von Gehlen aber zugleich hochgeschätzt, weil sie die Plastizität beschränken – eine Beschränkung, die Gehlen nicht als Einschränkung von Freiheit versteht, sondern als eine Deformationsprävention: „Sie [die Institutionen, S. E.] haben angesichts der unwahrscheinlichen Plastizität, Formbarkeit und Versehrbarkeit eines Wesens, das jeder Impuls außerhalb der Bindungen sehr leicht deformiert, eine geradezu fundamentale Bedeutung.“ (Gehlen 2004a: 6) Während in Der Mensch die produktive Leistung der Institutionen von Gehlen exponiert wird, gelangen in seinen späteren Schriften deren Kanalisierungs- und Einhegungsleistungen zu deutlicher Sichtbarkeit, besonders in Gehlens Metapher der Schleuse: „Es ist so, als ob dieses Repertoire der Institutionen wie eine Schleuse wirkte, welche bestimmte Antriebe kanalisiert und andere abdämmt.“ (GA 4: 136) Schleuse und Kanalisierung zeugen davon, dass Institutionen als umfassendes produktives, stabilisierendes, aber auch prohibitives Regulativ dem Individuum keine bestmöglichen Ausgangsbedingungen einer möglichst freien Selbstverwirklichung bieten sollen,⁴⁴ sondern die bestmöglichen Ausgangsbedingungen einer möglichst erfolgreichen Integration in einen nicht auf Selbstverwirklichung der
Privileg, sondern sie erzeugt ein Privileg, nämlich die Zugehörigkeit zur Elite, die Gehlen explizit der Masse im Sinne der axiologischen Privilegierung gegenüberstellt: „Gleichgültig, welche Bildung oder soziale Stellung der einzelne zeigt: hat er Pleonexie, so gehört er zur Masse, während umgekehrt jeder zur Elite zu zählen ist, der Selbstzucht, Selbstkontrolle, Distanz zu sich und irgendeine Vorstellung hat, wie man über sich hinauswächst.“ (GA 6: 90) Freiheit ist für Gehlen daher etwas, was ebenfalls Entlastungen schaffen soll, ohne systemisch Belastungen zu erzeugen; er spricht deshalb nicht von der Freiheit von Entlastung, sondern von der „Entlastung zu beweglicher Freiheit, aber innerhalb begrenzter Gefüge“. (Gehlen 2004b: 92) – So ist es Gehlen bereits in seiner Frühschrift Theorie der Willensfreiheit (1933) darum zu tun, zu zeigen, „dass Freiheit des Willens nur oberflächlich als Beliebigkeit, Willkür und Subjektivität verstanden werden kann, und daß sie in ihrer höchsten Form, als freiwillige Aufgabe der Freiheit, die Notwendigkeit ist.“ (GA 2: 4) Hier zeigt sich bereits klar, wie Hegels berühmtes Diktum sich politisch wenden lässt.
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Einzelnen, sondern Selbsterhaltung und Gedeihen des Ganzen ausgerichteten sozialen Verband,⁴⁵ der sich sowohl als Kultur wie auch als Gesellschaft fassen lässt. Dies bedarf einer Klärung. Was versteht Gehlen empirisch, d. h. bildungssprachlich und nicht unter strukturfunktionalen oder „ontologischen“ Aspekten, unter Institutionen? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Gehlen führt als Beispiele für Institutionen an „die Familie, ein Industriebetrieb, eine Gewerkschaft, ein Staat“ (GA 4: 363), an anderer Stelle spricht er von „Institutionen wie Ehe, Familie, Arbeit, Recht, Wissenschaft“ (Gehlen 2004b: 96), wobei er den Staat in Moral und Hypermoral als die (gemäß Gehlens Verständnis souveräner Nationalstaatlichkeit) alle partikularen Institutionen integrierende „Superinstitution“ gesondert abhandelt. (Vgl. ebd.: 99 ff) Diese Aufzählung wirft Schlaglichter auf die geistige Physiognomie von Gehlens Ansatz und die weitreichende Bedeutung des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft für denselben. Einige der genannten Institutionen treten bereits im Rahmen früher Kultivierungsstadien auf (Familie, Ehe), andere kennzeichnen gerade Gesellschaften, die Luhmann als mo Deshalb denkt Gehlen die Ethik nicht über den Begriff der Moral, sondern über den der Sozialregulation, vgl. Gehlen 2004b: 3 f., 31 f., 51 f. Regulationen können zu verschiedenen Ordnungen des Verhältnisses von Ethik und Politik führen. Das Gegenmodell dessen, womit Gehlen sympathisiert, nennt er den „Bund von Humanitarismus und Eudaimonismus“ (ebd.: 80), innerhalb dessen dem Humanitarismus die Aufgabe zufällt, den „Masseneudaimonismus“ (ebd.: 79) und den „pflegerischtherapeutische[n] Zug in so vielen sozialen Tendenzen der Gegenwart“ (GA 6: 317) regulatorisch zu implementieren. In der „humanitaristische[n] Gesinnungsethik der Intellektuellen“ (GA 7: 260), hingeordnet auf den „abstrakten Weltverkehr“ (ebd.), allerdings durch eine „elargierte Familienethik“ (Gehlen 2004b: 142), passiert in Gehlens Sicht nichts vom Masseneudaimonismus Abweichendes, vielmehr wird dieser in jener nur zum Sprechen gebracht bzw. beredt. Die „Gegen-Ethik“, die Gehlen nicht explizit, sondern nur indirekt formuliert hat, wäre eine „Ethik des Staates“, wie Rohrmoser, selber ein bekennender Konservativer, klar erkannt hat: „Diesen Gegentyp nennt Gehlen eine Ethik der Macht; man könnte von einer Ethik der Institutionen sprechen oder von einer Ethik des Staates. Letztlich geht es Gehlen gar nicht um die Pluralität möglicher Ethosformen, es geht ihm um die in unserer Gegenwart in eine akute Krise gekommene Korrelation, in der die humanitaristische Moral und die Moral der Institutionen stehen müssen.“ (Rohrmoser 1971: 68) Dies bestätigt Gehlen eher indirekt, wo er, seiner Zeit weit voraus und auf aktuelle Debatten vorausgreifend, China Tribut dafür zollt, dass ihm „über viele Jahrhunderte ein fast perfekter Konservativismus“ (GA 6: 417) gelungen sei. Das kann man zunächst auch im Sinne der Immanenz verstehen (perfekt gemäß den eigenen Ansprüchen), doch wenig später wird Gehlen noch deutlicher: „Es ist wunderbar, dass so etwas viele Jahrhunderte gelang, erst die Begegnung mit der modernen europäischen technischen Kultur setzte das System matt.“ (Ebd.) – Dies kann wiederum bezweifelt werden, denn was heute „chinesischer Weg“ genannt werden kann, widerspricht dem, vgl. z. B. Zhang Weiwei 2012 und dessen Konzept des civilizational state, den er vom westlichen nation-state unterscheidet, allerdings nicht im Sinne der starren Entgegensetzung, sondern in dem der integrierenden Unterscheidung: „For me, however, today’s China is already a civilizational state, which amalgamates the nation-state and the civilization-state, and combines the strength of both.“ (Ebd.: 52) Dieses Buch, das nicht nur Gehlens Einschätzung widerspricht, bestätigt aus der Innenperspektive umfassender, was einem klugen Beobachter wie Helmut Schmidt schon vor rund 15 Jahren nicht entgangen ist: „Wohl aber sollten die eigene politische Einsicht und Vernunft ihnen [westlichen Politikern, S. E.] sagen: China wird beim Wiederaufstieg zur Weltmacht seinen eigenen Weg gehen.“ (Schmidt 2006: 314)
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derne, in ihnen sich funktional differenzierende Gesellschaften bezeichnet und treten überdies innerhalb von Luhmanns Ansatz als gesellschaftliche Subsysteme auf (z. B. Wissenschaft, Recht). Darin zeigt sich nicht nur, dass Gehlens Institutionenbegriff sehr weitgefasst ist, sondern darin spricht sich zugleich der systematische Vorrang der Kulturanthropologie vor der Soziologie aus⁴⁶ – einer Kulturanthropologie, in der die philosophische Anthropologie und eine institutionalistische Soziologie mittels einer „anthropo-biologische[n] Rückbindung“ (Gehlen 2004b: 93) verschränkt werden, und zwar nicht abstrakt, sondern in dem, was Gehlen den „kulturanthropologisch entscheidende[n] Zusammenhang von Entlastung und Führung“ (GA 3/1: 159) nennt, der im vorigen Kapitel bereits behandelt worden ist. Insofern ist Kulturanthropologie für Gehlen im strikt logischen Sinn keine empirische Disziplin, die Material aus Anthropologie und Kulturwissenschaft im Hinblick auf mögliche Synthesen zu versammeln habe,⁴⁷ sondern die Weiterentwicklung seiner philosophischen Anthropologie zu einer Theorie der Kultur.⁴⁸ Kultur ist insofern anthropologisch fundamentaler als Gesellschaft und bildet noch deren jeweilige Grundlage; eine Gesellschaft wird von ihrer Kultur bestimmt, weshalb – nicht nur im Sinne Gehlens, sondern auch im Sinne der etablierten Bildungssprache – von einer „Kultur einer Gesellschaft“, nicht aber von der „Gesellschaft einer Kultur“ gesprochen werden kann, weil Gesellschaften primär zu Staaten, nicht zu Kulturen als institutionell und strukturell maßgeblich rahmengebenden Ordnungsgaranten in einem strukturellen Spannungsverhältnis stehen⁴⁹. In Gehlens Perspektive stabilisieren Kulturen Gesellschaften von unten und Gesellschaften sind in dem Maße gesund, wie sie ihre kulturellen Grundlagen produktiv in
Die Soziologie definiert Gehlen noch 1976 in einem kurz vor seinem Tod veröffentlichen Essay mit dem Titel Zur Lage der Soziologie ausdrücklich als „Wissenschaft von den Institutionen“ (GA 6: 623), die jedoch ihr Fundament in der Anthropologie und im institutionentheoretisch gefassten Kulturbegriff findet. Ausführlicher definiert er die Soziologie unter Rückgriff auf den Institutionenbegriff folgendermaßen: „Die Soziologie wäre daher, um die Definition zu erweitern, die Wissenschaft von den Institutionen im Zeitverlauf unter besonderer Berücksichtigung kritischer Zustände.“ (Ebd.: 624) Die Ergebnisse der empirischen Kulturanthropologie hat Gehlen gleichwohl mit großem Interesse verfolgt und aufgegriffen, vgl. GA 4: 147 ff. und 172. Rehberg sagt daher zurecht, dass in der vierten Auflage von Der Mensch (1950) aus der philosophischen Anthropologie im engeren Sinne „eine kulturanthropologisch argumentierende Theorie der Institutionen“ (Rehberg 2004 b: VI) geworden sei. Patrick Wöhrle macht in seinem Buch Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens mit guten Gründen geltend, dass es sich bei der Verklärung der kulturanthropologischen Anlage von Gehlens Anthropologie zu einer als Kulturanthropologie ausgeführten Handlungstheorie (vgl. Gehlen 2004a: 6) um eine „Selbsttäuschung“ und „robinsonadische Mär“ handle (vgl. Wöhrle 2010: 184), die den methodologischen Individualismus von Gehlens anthropologischem Ansatz und die mit diesem einhergehenden Limitationen überblende. Zum Verhältnis von methodologischem Individualismus und Institutionalismus vgl. auch ebd.: 141 f. Selbst wenn innergesellschaftlich kulturelle Konflikte sich Bahn brechen, versuchen die Träger des Konflikts sich staatlicher Institutionen zu bemächtigen, um diesen Konflikt zu ihren Gunsten zu entscheiden. Am Staat führt hier für die gesellschaftlichen Akteure kein Weg vorbei, wenn sie in kulturell bestimmten Konflikten Dominanz erlangen wollen.
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Institutionalisierungsleistungen aufnehmen und verarbeiten. In Anlehnung an das Böckenförde-Diktum könnte man hier sagen: Gesellschaften leben von kulturellen Voraussetzungen, die sie selbst weder hervorbringen noch garantieren können. Den Kulturbegriff kennzeichnen vor allem zwei Aspekte: (1) ein instrumentell-produktiver und (2) ein axiologisch-produktiver. Den instrumentell-produktiven Charakter von Kultur bringt Gehlen in seiner konzisen Definition von Kultur in Der Mensch auf den Begriff: „Kultur soll uns sein: der Inbegriff der vom Menschen tätig, arbeitend bewältigten, veränderten und verwerteten Naturbedingungen, einschließlich der bedingteren, entlasteten Fertigkeiten und Künste, die auf jener Basis erst möglich werden.“ (GA 3/1: 38) Ebenfalls in Der Mensch zeigt sich auch, dass Kultur und Gesellschaft für Gehlen keineswegs durcheinander substituierbar sind, und zwar gerade, weil Kultur weit mehr als das meint, was von ihr in ihrer instrumentellen Fokussierung ausgesagt werden kann: „Jeder Mensch auf jeder Kulturstufe erlebt nun sich, seine Gesellschaft, sein Kulturmilieu und deren Hintergrund, die bestimmte Landschaft als Teile der ‚Welt‘.“ (GA 3/1: 89) Daraus, in welcher Gesellschaft jemand lebt, ergibt sich nicht, auf welcher Kulturstufe er individuell existiert; die Kulturstufe, auf der sich jemand individuell befindet, bestimmt in limitierender Weise, in welchen gesellschaftlichen Kreisen er sich bewegen kann bzw. will. Nicht umsonst spricht Gehlen von „Kultur und Gesittung“ (GA 6: 410) sowie von „Kultur- und Sittengeschichte“ (GA 6: 301), womit er auf Grundlagen von Höherentwicklung im Sinne der kultivierenden Verfeinerung und die produktive Leistung der Kultur in der positiven Anthropologie zielt. Denn in der positiven Anthropologie stabilisiert die Kultur nicht nur die (überlebensfähige und florierende) Gesellschaft, sondern sie muss, um dies tun zu können, sich selbst zugleich stabilisieren, weshalb sie gerade als anthropologisches und normatives Fundament fungieren kann, in dem grundlegende Begriffe wie Entlastung, Führung und Zucht einen gemeinsamen zentralen, systematischen Konvergenzpunkt finden können. Institutionen sind bei Gehlen daher Kultivierungsleistungen, Kultur selbst hingegen Grundlage und Kristallisat aller Institutionalisierungsleistungen und nicht selbst eine Institution. Kultur kann als Begriff mit negativer Funktion gegen einen naturalistischen Reduktionismus⁵⁰ in Anschlag gebracht werden, oder aber, wenn er wie bei Gehlen teleologisch unterfüttert ist, als positiver Begriff konzipiert werden: Kulturentwicklung ist dann die teleologisch unterfütterte Institutionalisierung ihrer aus den menschlichen Naturbedingungen entwickelten Grundformen, die Anthropologie, deren systematische Kernfiguren in einem solchen Kulturbegriff sich kristallisieren, eine positive.
Rohrmoser spricht gar von einem „extremen Antibiologismus“ im Resultat der Gehlen’schen Gesamtphilosophie: „Ich hielte es für ein Mißverständnis, jetzt über die Frage des Biologismus von Gehlen zu diskutieren. Er bedient sich zwar der Argumente der Biologie, aber die Position, die dabei herauskommt, ist eher ein extremer Antibiologismus.“ (Rohrmoser 1996: 182) Auch Wöhrle weist darauf hin, dass Gehlens Bedürfnis-Begriff „eine in hohem Maße kulturalistische Sichtweise sogar auf die vermeintlich ‚biologischste‘ aller Kategorien“ (Wöhrle 2010: 89) zugrunde liege.
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Umgekehrt ist aber die Kultur von der technischen Gesellschaft als von einer bedrohlichen Nivellierungsinstanz bedroht, bzw. sie befindet sich einem prekären Spannungsverhältnis zu dieser: [D]ie technische Gesellschaft nivelliert in bestimmten Hinsichten die Menschen. Es gibt zahlreiche Erscheinungen dieser Art, wie die beschriebenen ‚Emotionshülsen‘, die Bewußtseinsstruktur der Erfahrung zweiter Hand, die allgemeine Neigung zur Bedürfnissteigerung in Hinsicht auf einen hohen Lebensstandard usw. Andererseits gab es wohl noch nie eine so ungeheure Mannigfaltigkeit ausdrucksbereiter und ausdrucksfähiger ‚Psychisierung‘, von individuellen Geschmacks-, Wertungs- und Meinungsvarianten. (GA 4: 227)
Was hier im „Andererseits“ steckt, ist die zerknirschte kulturkritische Anerkennung dessen, was Luhmann später als die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft soziologisch entfaltet. Konkreter spricht Gehlen in dem Essay Mensch trotz Masse. Der Einzelne in der Umwälzung der Gesellschaft (1952) von einer „Tendenz zum Nivellement der Einkommen, Lebensstile und Meinungen“ (ebd.: 224), aber auch zur Nivellierung „sogar der Bildungsmaßstäbe“ (GA 6: 323) und von einer „Schematisierung und Verarmung der Sprache“ (ebd.).⁵¹ In solcher Ambivalenz zeigt sich aber auch, dass in Nivellierung und Differenzierung Entlastung und Belastung sich verschränken; die kulturellen Stabilisierungsformen bieten kein Ruhekissen der berechenbaren Gleichförmigkeit, sondern bieten nur Gegenstabilisierungen an, die die Strapaziosität der modernen Gesellschaft lindern. In einem Abschnitt des Aufsatzes, der die Überschrift „Die ‚strapaziöseste‘ Kultur und Gesellschaft“ trägt, heißt es: „Die moderne, westliche Form der Kultur ist zwar nicht stileinheitlich, aber von staunenswertem Reichtum der Differenziertheit, sie ist die strapaziöseste und anstrengendste Kultur, die je existiert hat.“ (Ebd.) Ihre Strapaziosität spiegelt ihren Differenzierungsgrad wider bzw. die „unerhörte Komplexheit und Farbigkeit der modernen Gesellschaft“ (GA 6: 226), die durch eine „hohe soziale Mobilität, das leichte und schnelle Durcheinanderwürfeln der Menschen, die Uferlosigkeit des Reproduzierbaren in Schrift, Bild und Wort“ (ebd.) und den „Abbruch langer Traditionen“ (ebd.) gekennzeichnet sei. Nur vordergründig resultiert daraus eine lineare Steigerung von Differenzierung, weil diese Differenzierung zu ihrer Rückseite das hat, was Gehlen, an Cournot anschließend, die das posthistoire prägende Kristallisation⁵² nennt, deren Kernmerkmale Nivellierung und Konformismus sind:
Auch wenn diese Formulierungen sich strikt kulturkritisch und soziologisch lesen lassen, sind sie bei Gehlen auf jeden Fall stärker geschichtsphilosophisch unterfüttert als bei Helmut Schelsky, der sie in den 1950er Jahren familien- und bildungssoziologisch entwickelt und auf den Begriff der nivellierten Mittelstandsgesellschaft gebracht hat (vgl. Schelsky 1953 und 1957). Für dieselbe sei kennzeichnend, „daß die Wahrscheinlichkeit fundamentaler Veränderungen in den Prinzipien der Kultur abnimmt, wobei sehr wohl die Zahl und das Tempo oberflächlicher Variationen zunimmt, oder zunehmen kann“ (GA 6: 333).
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Cournot, gestorben 1877, hatte als erster eine Epoche der ‚posthistoire‘ vorausgesehen, hatte die bunte Welt der vergangenen, vorindustriellen Geschichte in Gegensatz gestellt zu einer künftigen rationalisierten Welt der effektiven Verwaltung, des Nivellements und des Konformismus, er sprach von der ‚cristallisation sociale‘, die dem Ende der heroischen und ideologischen Geschichte folgt. (GA 6: 611)
Die Gesellschaft repräsentiert hier das dynamische Prinzip in dem Sinne, dass ihre Errungenschaften sowohl auf anthropologisch fundierten Kulturleistungen basieren als auch deren Substanz angreifen und aushöhlen. Die anthropologische Valenz der Handlungskategorie selbst betrifft dies nicht, „[d]enn alle menschlichen Gesellschaften, so einfach sie sein mögen, kennen eine Gesamtinterpretation der Welt und ihrer eigenen Rolle dieser Welt, die letztlich doch noch auf die Handlung bezogen ist“ (GA 4: 160) – auf die Handlung als Leistung, die in ihrer anthropologischen Fundamentalität die Kategorie der Handlung adelt. Deshalb bestehen Kulturleistungen als Handlungen und Handlungsresultate „aus dem Stoff durchdachter und durchgestalteter Natürlichkeit“ (ebd.). Insofern kann man sagen, dass die Denkfigur des Kreisprozesses, die Gehlen in Der Mensch einführt, seine eigene Denkentwicklung im Ganzen charakterisiert: eine theoretisch von der in Handlungen zu gestaltende, anzueignende und kultivierende Natur über die Kultur zur modernen Gesellschaft zurück zu den anthropologischen Elementen des Gesamtprozesses.⁵³ Die Kulturtheorie ist weder gesellschaftlich noch gesellschaftstheoretisch neutral, weshalb es nicht verwundert, dass Gehlens Kulturtheorie dezidiert aus gesellschaftstheoretischer Perspektive kritisiert worden ist. Die Kritik, die uns hier interessiert, ist eine, mit der sich zugleich ein Kreis schließt, nämlich die Kritik Sonnemanns an dem, was er Gehlens Institutionalismus nennt. Diese Kritik lässt sich entlang des Leitmotivs der bisherigen Analysen, nämlich des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit, als negativ-anthropologische und anti-teleologische Kritik im Namen der Freiheit explizieren.
2.2.4 Sonnemanns negativ-anthropologische Kritik von Gehlens Institutionalismus Bei Sonnemann lassen sich mindestens vier Bedeutungen und Varianten von Institutionalismus ausmachen, die nur kurz benannt werden sollen, bevor die hier relevante Variante des „bewußtgewordenen Institutionalismus, also der Lehre Arnold Gehlens“ (S 3: 182) ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden wird. Sonnemann unterscheidet, synoptisch gesprochen, zwischen
Die Gegenfigur wäre hier die Wende zur Natur, durch die Odo Marquard die Anthropologie charakterisiert und sie in eine Gegenstellung zur Geschichtsphilosophie mit der Vernunft als deren Organon bringt. (Marquard 1992: 90 f.)
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(1) dem deutschen Institutionalismus, in dem eine Geschichtsphilosophie Deutschlands, seiner Ideengeschichte, aber auch seines Nationalcharakters (vgl. S 4: 222 f.) sich vermischen; (2) dem sowjetischen Institutionalismus; (3) dem anthropologischen Institutionalismus im Allgemeinen; und (4) dem bereits angesprochenen, seiner selbst bewusst gewordenen Institutionalismus in Gestalt der Philosophie Arnold Gehlens. Der sowjetische Institutionalismus entbehrt in Sonnemanns Analyse der tückischen Tiefe des deutschen Institutionalismus, da er sich unübersehbar direkt verkörpert in der „sowjet-marxistische[n] Apparatherrschaft“ (S 5: 135) – ein Ausdruck, in dem das vordere Glied der Attribution als Quarantänebehälter des Geists des eigentlichen Marxismus fungiert, der hintergründig dem sowjetischen Zugriff auf ihn entzogen wird. Der sowjetische „Institutionalismus“ ist allerdings eher eine offene Gewaltherrschaft eines Institutionen sich formell bedienenden Apparats als ein Institutionalismus im eigentlichen Sinne. Keinen Institutionalismus macht Sonnemann bei den USA aus, wenngleich er vom „Menschenmanipulismus Amerikas“ (ebd.: 273), also von einer politischen Art des human engineering, als auch von einem bestehenden „Obrigkeitsstaat“ (S 5: 359) spricht, bei denen es sich allerdings um andere, nicht derart in Mentalität und Charakter der Nation sedimentierte Modi von Herrschaft handelt. Sonnemann erteilt im negatorischen Irrealis Askunft darüber, dass seines Erachtens in den USA keine Herrschaft des Institutionalismus statthabe: Wenn der Institutionalismus in Amerika herrschen würde, gäbe es weder den Aufstand öffentlicher Meinung gegen Johnson bis in die Höhenlagen der Macht noch diesen Staatsanwalt, dem der Corpsgeist deutschen Beamtentums, diese zäheste Instinktverschwörung eines unredlichen Institutionalismus mit sich selber, noch in seinen Träumen, ja gerade in ihnen, vermutlich nur widerlich wäre. (S 5: 360)
Nicht nur gibt es für Sonnemann keinen amerikanischen Institutionalismus, es gibt auch keinen französischen oder britischen; Institutionalismus ist Sonnemanns Name für den deutschen Sonderweg, für ein geschichtlich, geschichtsphilosophisch und durch den Nationalcharakter bedingtes Versäumnis, das zugleich Desiderat und historische Aufgabe wäre, nämlich „was es seit Jahrhunderten versäumt, was man zusammenfassen kann in dem Wort ‚die Revolution der Deutschen, so wie es eine Revolution der Franzosen, eine amerikanische, eine britische Revolution gegeben hat“ (S 4: 494), nachzuholen. Die Abgrenzung der deutschen von der amerikanischen und französischen Geschichte insbesondere ist nicht deskriptiver Art; Sonnemann betont wiederholt die Vorbildlichkeit der Amerikanischen und der Französischen Revolution,⁵⁴ deren deutschem Komplement nichts bornierter und politisch banausischer im
Der vorbildliche Westen Sonnemanns liegt insofern noch einmal westlich von Deutschland, das nur ein derivativer Bestandteil desselben ist: „Für die Bewußtseins- und Verhaltenskondition, die als
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Weg stehe als der spezifisch deutsche Institutionalismus,⁵⁵ um den es im Folgenden in seiner allgemeinen und in seiner von Gehlen philosophisch ausformulierten Variante gehen wird. Die Ursprünge des Institutionalismus reichen Sonnemann zufolge bis in die das Barock-Zeitalter kennzeichnende Organisation von Staatlichkeit zurück, mit der zugleich eine tiefgreifende Konfigurierung einer bis ins 20. Jahrhundert reichenden Mentalität durch die Etablierung des spezifisch deutschen Typus des Beamten stattgefunden habe: Der Institutionalismus, die bis heute ungebrochene Herrschaft des jeder ‚Macht‘ willfährigen Beamtentums, der Büros und der Aktentasche, der in seinen Anfängen aus den Staatsorganisationen des Barock stammt, wird unumschränkt mit dem Charakterschwund des sich wieder dehumanisierenden deutschen Bürgertums, dem das politische Rückgrat gebrochen ist, der ökonomische Apparat, der anspruchsvoller und unternehmender wird, um so weniger. (S 5: 226)
Diese Zeilen finden ihren Ort in Sonnemanns Begründung des Scheiterns der deutschen Revolution von 1848 – eines Scheiterns, das nicht (schlicht) in einem individualpsychologischen Unvermögen der involvierten Akteure gründet, sondern dessen Determinanten in den Institutionalismus zurückreichen, der dem Boden angehört, dem das 19. Jahrhundert entsprossen ist. Geistesgeschichtliches Komplement des Luthertums und Faktor des politischen Scheiterns eines um politische Selbstgründung bemühten Deutschlands ist Sonnemann zufolge die „Fortsetzung des Luthertums“ (ebd.) in der und durch die bürgerliche Gesellschaft hindurch. Gerade in der transformatorischen Fortsetzung des Luthertums habe die „die deutsche Klassik – humane Kulturtheorie, nicht Schöpferin humanistischer Praxis – der geschichtlichen Wirklichkeit, statt sie kritisch an ihr zu messen, eine ideale des ‚Innern‘ entgegengesetzt“. (Ebd.) Die Entgegensetzung, die keine grundlegend gesellschaftstransformative und -determinierende Durchdringung zu werden vermag, stützt den Institutionalismus indirekt dadurch, dass sie ihn nicht antastet, indem sie ihr eigenes Reich in einer wirkungslos-antagonistischen Idealität errichtet.
Institutionalismus sich zusammenfaßt, ist es kennzeichnend, daß sie in dem Maße, in dem sie absolut herrscht, ihrer Erkenntnis, ja der Ausbreitung ihrer Kategorie, widersteht; daher ist diese in Deutschland ungebräuchlicher, als wo die Sache selbst schwächer ist, in den Westländern.“ (S 5: 338) Diese Schwäche resultiert aus dem Mangel an Authentizität, an einer „eigenen“ Revolution; das Nachkriegsdeutschland ist für Sonnemann die konkrete Exemplifizierung dessen, dass „von Revolutionen, die man nicht selber gemacht, sondern nur in ihren institutionellen Folgen schließlich mürrisch übernommen hat, sich im Lande so verdrossener Kopisten nicht das Beste durchsetzen wird, sondern das Schlechteste.“ (S 4: 134) „Warum in Deutschland er sich reiner als anderswo auf der Welt manifestiert hat, konnte nur für eine Strecke, nicht restlos, da sich eine Grenze für die Analyse gerade dieses Sachverhalts kaum fände, verdeutlicht werden; in ihrer Weiterführung untersuchte sie den Ordnungsmythus, das magisch-animistische Erbe im Nimbus des Faktischen. Institutionalismus gedeiht an ihm. Seine Identität mit dem deutschen Wesen, die deren Menschheitsecho verabsolutiert, bleibt zu sprengen.“ (S 5: 416)
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Doch die hehre Idealität der Kultur bleibt von der Realität des Institutionalismus nicht verschont, die Bestimmung des Mediums von Kultur, der Sprache, erfolgt auf weitreichende und asymmetrische Weise aus der anderen Richtung, und zwar insbesondere im 20. Jahrhundert; Sonnemann spricht von der „Verapparatung der Sprache“ (S 3: 181) und macht als die Sprache verstümmelnd in Beschlag nehmenden Arm des Institutionalismus die Springer-Presse als publizistisches Kristallisat des institutionalistischen Typus aus: „Der Typus potenziert sich – daher ist er die instituierteste von allen deutschen Institutionen – in Springer.“ (S 5: 425) Eine direkte Linie zieht Sonnemann von Goebbels über die Springer-Presse zu Gehlen mittels des abstrakten Bindeglieds des Primats des Seins über das Bewusstsein, in dem eine blanke Gewaltherrschaft, ein opportunistisch-rückgratlos der Staatsmacht sich um den Hals werfender Konzern und eine anthropologische Institutionenlehre mit ordnungskonservativem Impetus enggeführt werden: Pfiffiger nie wurde vom ‚Primat des Seins über das Bewußtsein‘ gegen das Bewußtsein, dem er sich enthüllte, Gebrauch gemacht, solcher Gebrauch jedenfalls projektiert. Ausführende Organe wurden in Deutschland erst Goebbels, dann die Springer-Presse. Mit Recht gedieh Gehlens Sein unter der verantwortungsethischen Bewußtseinsregie beider. (S 3: 182)
Nicht um die Legitimität von Sonnemanns genealogischer Konstruktion geht es hier, sondern um deren Inhalt und Logik. In einer ersten Annäherung lässt sich hier als elementares Merkmal von Gehlens Institutionalismus in Sonnemanns Analyse ausmachen, dass Sein und Ordnung Komplementärbegriffe sind, die normativ gegenüber den Ausgeburten eines ihnen gegenüber kritisch oder subversiv sich formierenden Bewusstseins privilegiert werden. Ordnung qua Sein konstituiert sich nicht nur im Medium von Institutionalisierungsleistungen, sie ist als Institution ein Wert in sich, demgegenüber die Kontingenz eines nicht eine stabile Ordnung instituierenden, stützenden oder vertiefenden Bewusstseins axiologisch klar untergeordnet ist. Der Institutionalismus bildet das Herzstück der Sabotage von Veränderung durch Kritik, gegen die die negative Anthropologie Sonnemanns konzipiert ist: „Eben an solcher Veränderung treibt die Wirklichkeit, das Monopol, das der Institutionalismus ist, Sabotage.“ (S 5: 330) Auch in seinem physiognomischen Porträt von Gehlens Institutionalismus lehnt Sonnemann sich an Marx, diesmal an dessen Konzept der deutschen Ideologie, an: „Der Institutionalismus Arnold Gehlens, der die noch zu wenig reflektierte Verfallsphase der von Marx entdeckten Deutschen Ideologie ist, hebt mit Grund unter dem Stichwort der Entlastung des Erledigende und Erleichternde der Sache hervor, die er verherrlicht.“ (S 5: 437) Was Sonnemann hier in der Reduktion der Entlastung auf Erledigung und Erleichterung verschweigt, ist die Qualität der Entlastung, die Gehlen vermutlich am wichtigsten war: die Ermöglichung der Verhaltensbildung gemäß und entlang den Leitlinien einer gleichermaßen maieutisch wie disziplinarisch zu verstehenden Ordnung. Sonnemann beschränkt sich allerdings auf den disziplinarischen bzw. dressierenden Aspekt der Entlastung, weshalb er auch sie einem typologisch
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nationalsozialistischen Paradigma zuschlägt; die Entlastung ist dann – analog zur „Verapparatung“ – eine „Vereichmannung“: Beide Arten des Gebrauchs [von Pflichtkult, in Gehlens und in der preußischen Variante, S. E.] sind Entfremdungen der Spontaneität von sich selbst, nicht obwohl sondern weil sie im genauen Gehlenschen Sinn Entlastungen sind; was auch durchaus schon für einen Pflichtkult galt, der noch Eichmann, wie er beschrieb, von der karrierehemmenden Unbequemlichkeit eines eigenen Gewissens entlastete. (S 3: 183)
Die kasuistische Bezugnahme auf Gehlen und das preußische Pflichtethos dient hier der physiognomischen Umwertung und Besetzung des Entlastungsbegriffs (ironisch dadurch, dass Sonnemann die „Entlastung, die erst am Anfang steht, der Menschen von mechanischer Arbeit“ [S 3: 278] als Bedingung der Möglichkeit der Überführung negativer Anthropologie in politische Praxis anführt), dem das Eichmann‘sche Aroma geradezu injiziert wird, wodurch aber auch der produktive Sinn von Entlastung sowohl als bloße Möglichkeit aus dem Blick gerät, als auch in eine Alibigenerierung des ruchlosen Egomanen umgemünzt wird. Jenseits der Polemik, wie Sonnemann sie im Konkreten formuliert, lässt sich der allgemeine Aspekt seiner Kritik an Gehlens Institutionalismus folgendermaßen zusammenfassen: Ordnung als solche wird anthropologisch untermauert und mit einer anthropologischen Dignität ausgestattet – unabhängig vom spezifischen politischen Charakter oder der moralischen Physiognomie dieser Ordnung (in Sachen axiologischer Autarkie trifft Gehlens Ordnungsbegriff sich insofern mit Sonnemanns Revolutionsbegriff).⁵⁶ Gehlens Institutionalismus ist die Rückseite seiner Anthropologie: Der Institutionalismus ist von der Anthropologie her entwickelt worden, die Anthropologie ist als Institutionalismus sozialtheoretisch ausformuliert worden. Gehlen leistet theoretisch allerdings noch einmal, was praktisch schon geleistet worden ist; die philosophische Anthropologie ist der theoretische Reflex dessen, dass der Institutionalismus im und durch den Verlauf der Geschichte bereits anthropologisch geworden ist. Sonnemann sagt ausdrücklich, dass der Institutionalismus „aus Druckzuständen der Gesellschaft stammt, die sich anthropologisiert: als eine zweite Natur in den Menschen verinnerlicht haben“. (S 5: 398) In Bezug auf Gehlen ergibt sich geradezu aus einer simplen argumentativen Arithmetik heraus der Einwand, dass seine Anthropologie, insbesondere sein Entlastungsbegriff, eine zweite Natur in eine erste umzufälschen versuche, neutraler gesprochen: dass sie eine zweite Natur hypostasiere und damit ein Abgeleitetes (historisch und gesellschaftlich Entstandenes) als Natur des Menschen schlechthin ansetze. Sonnemanns Ausführungen werden – nicht als Kritik an Gehlen, sondern als Konzeption des Institutionalismus als solchen – von einem Spannungsverhältnis Gehlen stellt für Sonnemann insofern eine Art von anthropologisierendem Funktionär dar, dessen Konservatismus sich nicht in einem Ethos erschöpft, sondern überdies die Gestalt einer Lehre angenommen hat: „Es ist begreiflich und keineswegs auf Deutschland beschränkt, daß der prototypische Funktionär, da er seine Herrschaft immer konservieren will, es mit dem Konservatismus hält“. (S 5: 89)
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durchzogen, das nicht übergangen werden kann. Der Begriff der zweiten Natur steht bei genauerem Hinsehen in einem nur unzureichend aufklärbaren Verhältnis zur Sprache. Sonnemann sagt: Der Institutionalismus selber beginnt nicht etwa in den Institutionen, sondern in versteinerten Verhaltensstrukturen der Menschen, und übrigens vor allem in der Art und Weise, wie sich – das kann man am Schicksal sowohl marxistischer als auch psychoanalytischer Terminologie nachweisen –, wie sich Begriffshierarchien vor das Recht der Idee, des spontanen Gedankens drängen, wie mit dem, was Adorno ‚Identitätslogik‘ nennt, das Denken vereitelt, verhindert wird. (S 3: 362)
Die „versteinerten Verhaltensstrukturen der Menschen“ sind mit dem Begriff der zweiten Natur kompatibel, nicht aber mit der Aufdeckung der Ursprünge des Institutionalismus im Barock, wenn Sonnemann sich zugleich auf Adornos „Identitätslogik“ beruft, denn diese Identitätslogik setzt an der identifizierenden Struktur von Identitätsurteilen überhaupt als einem Fundamentalmerkmal von Sprache an, nicht an institutionalistisch erklärbaren Verstümmelungen der deutschen Sprache. Dass die identitätslogische Struktur von Sprache überhaupt – nicht umsonst sagt Adorno „Denken heißt identifizieren“ (AGS 6: 17) und entwickelt die negative Dialektik von diesem Ausgangspunkt aus – wiederum auf „versteinerten Verhaltensstrukturen der Menschen“ beruhe, kann Sonnemann schwerlich behaupten wollen. Doch die sprachliche Identitätslogik, die Adorno in der Negativen Dialektik entfaltet, und der geschichtliche, institutionalistisch deformierte Gebrauch der Sprache laufen bei Sonnemann ineinander: „Der Institutionalismus, besonders der deutsche, beginnt nicht in den Institutionen, sondern in einem Gebrauch von der Sprache“ (S 5: 415) – was in seiner geschichtlichen Verortung von dessen Ursprüngen nicht zur Sprache kommt und einer anderen (Sprach- und Sozialgeschichte ineinander überführenden) Art der Untersuchung und Begründung bedürfte. Damit stehen die historisch-soziologischen und das für eine Sprengung des Institutionalismus zu Leistende quer zueinander; den emanzipatorischen Ansatzpunkt negativer Anthropologie macht Sonnemann für seine Gegenwart nicht in den geronnenen Institutionen, sondern in der ihren gesamten mentalen Horizont transportierenden Sprache aus: Das heißt, daß also die Sprengung der institutionalistischen Strukturen nicht erst in den Institutionen, sondern schon in der Auflehnung des einzelnen Menschen beginnt. Der einzelne Mensch, der sich sprachlich verhält, muß sich gegen die Suggestionen seitens solcher oberbegrifflicher Sprachhierarchien wenden, die ihn am Denken hindern. (S 3: 362 f.)
Dies passt wiederum dazu, dass der Institutionalismus sich nicht zuerst im Medium der Institutionen im strikten Sinn zunächst entwickelt und dann die Sprache in Beschlag genommen habe, sondern dass der Institutionalismus der Nachkriegszeit ein Institutionalismus der Sprache und des Denkens ist, auf den zunächst im Medium beider geantwortet werden muss:
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Der Institutionalismus, gegen den sie [die studentische Opposition, S. E.] steht, ohne daß sie ihren Feind seinem Wesen nach schon ausgemacht hätte, so daß erst recht, ja aufs durchsichtigste, sie ihn zunächst in sich selbst nicht erkennt, fängt nicht in den Institutionen, sondern einem begriffshierarchischen Verhältnis zur Sprache an, das nicht erörternd sie sich bewegen läßt, sondern sie administriert. (S 3: 267 f.)
Was sich als Lückenhaftigkeit der historischen Darstellung Sonnemanns ansprechen lässt, ist zugleich deutbar als Aufbrechen einer Verschiebung des Institutionalismus selber in den Sprüngen, die seine Darstellung kennzeichnen: Die mentalistischsprachliche Loslösung des Institutionalismus von seinen Ursprüngen – eine Loslösung eher im Sinne einer gleichzeitigen Tieferlegung und Selbstübersteigung des ursprünglichen Institutionalismus – zeigt an, wo in der Nachkriegszeit anzusetzen wäre: beim Bewusstsein statt beim Sein, um das Sein tief genug fassen zu können, um sodann die Notwendigkeit, für Sonnemann durchaus synonym mit Gehlens Ordnung, im Namen der Freiheit brechen zu können, deren einziges τέλος sie selbst als ihr genuiner Auftrag ist. Die Kontroverse zwischen positiver und negativer Anthropologie findet in der bisherigen Darstellung ihr Leitmotiv im Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit und im Verhältnis dieses Verhältnisses zu teleologischen Denkmotiven. Die Teleologie ist nicht einfach der Notwendigkeit zuzuordnen, weil die Freiheit sich selbst τέλος ist, und in Sonnemanns negativer Anthropologie ist sie dies nicht im tautologischen Sinn, sondern sie ist sich selbst τέλος weil und gerade insofern sie der Humanität als regulativer, dem Bilderverbot verbundener, Idee untersteht. Die Selbstbezüglichkeit der Freiheit ist keine leere, sondern eine Vertiefungen eröffnende; sie wird aber lediglich anthropologiekritisch konzipiert, so dass Sonnemanns negative Anthropologie nicht als Anthropologie auftritt, was zur Folge hat, dass Sonnemann Gehlen keine belastbare negative Anthropologie entgegensetzen kann. Die eigentliche Konzeption Negativer Anthropologie kommt nun mit Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie ins Spiel, die einen Gegenentwurf zu Gehlens Konzept darstellt, ohne als solcher entworfen worden zu sein oder in polemischer Entgegensetzung gegen Gehlen von Plessner in der Nachkriegszeit weiterentwickelt worden zu sein. Eine solche polemische Konfrontation wird hier nicht nachgeholt werden; der Analyse und Herausarbeitung inhaltlicher Unterschiede wird der Vorzug gegeben, um vor allem zu zeigen, warum und inwiefern mit Plessners Philosophischer Anthropologie die erste positive (= explizit als Anthropologie entwickelte) Negative Anthropologie vorliegt, die sowohl als Anthropologie neuen Typs gelesen werden muss als auch als Variante kritischer Theorie gelesen werden kann. Doch zunächst ist eine Frage zu klären, die sich aufdrängt: Warum werden Gehlen und Plessner hier behandelt und warum nicht Scheler? Wo wäre Scheler typologisch zu verorten innerhalb der Gegenüberstellung von positiver und negativer Anthropologie? Ist Plessner die einzige mögliche Gegenfigur zu Gehlen oder wäre Scheler auch als solche denkbar? Warum also Plessner und nicht Plessner und Scheler oder gar Scheler statt Plessner? Auf diese Fragen soll im Folgenden kurz geantwortet werden.
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Exkurs: Warum nicht Scheler? Mit Blick auf die Gesamtanlage der vorliegenden Arbeit könnte die einfachste Antwort auf diese Frage lauten: Weil Schelers und Adornos Philosophien sich nicht als komplementäre denkerische Entwürfe interpretieren lassen, was dem philosophisch hinreichend Gebildeten ohne tiefschürfende Untersuchungen klar sein sollte. Doch die Frage zielt auf das Verhältnis zwischen Scheler und Plessner im Hinblick darauf, wodurch sich eine paradigmatische negative Anthropologie auszeichne. Vordergründig ließe sich gegen Schelers Entwurf einwenden, dass sein Konzept der Person ihr Fundament im Geistbegriff ⁵⁷ fände und dadurch die ideologisch aufgebauschte Identität eines seiner ungebrochenen Selbstmächtigkeit gewissen Akteurs nur philosophisch ausstaffiert werde. Der Geist fungiere als Identitätsprinzip einer Anthropologie klassischen Typs, die eine positiv-anthropologische Reprise anthropologisierter vermögenspsychologischer Lehren sei; hinzu komme noch, dass der metaphysische Unterbau von Schelers solipsistischer Anthropologie diese reaktionär anti-modern geraten lasse, wo doch gerade die Moderne philosophisch zu verarbeiten wäre. Doch nicht solche Erwägungen sind es primär, die in unserem Argumentationszusammenhang gegen Scheler sprechen, sondern grundlegende methodologische Erwägungen, welche die grundsätzliche Anlage und Durchführung von Schelers Philosophieren überhaupt betreffen. Bei Scheler existiert, obgleich sein gesamtes Werk als eine Anthropologie gelesen werden kann, keine ausgearbeitete Anthropologie. In Die Stellung des Menschen im Kosmos bestimmt Scheler zwar die Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie, lenkt aber gerade davon, sich dieser Aufgabe zu stellen, im Anschluss an ihre Benennung ab: Es ist Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie, genau zu zeigen, wie aus der Grundstruktur des Menschseins, wie sie in unseren Ausführungen nur kurz umschrieben wurde, alle spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen: so Sprache, Gewissen, Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstellenden Funktionen der Künste, Mythos, Religion,Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. ⁵⁸ (GW 9: 67, alle Hervorhebungen, S. E.)
So stellt z. B. Wolfhart Henckmann Schelers Anthropologie als eine dar, die ihr Zentrum im Geistbegriff findet: „Die entscheidende anthropologische Differenz tritt erst mit dem Geist in Erscheinung.“ (Henckmann 2009: 53) Der Aufgabe, die Scheler der Philosophischen Anthropologie zuweist, entspricht auch deren Status im Philosophieren überhaupt als Grundlagenwissenschaft aller anderen Wissenschaften: „Die philosophische Anthropologie ist das theoretische Fundament auch für alle Sozial- und Geisteswissenschaften, als Trieblehre auch für die Soziologie, speziell für die Realsoziologie. […] Nicht in einer bloßen Psychologie, sondern in einer philosophischen Anthropologie haben die Wissenschaften vom Menschen ihre wahre Grundlage.“ (GW 12: 21)
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Diese Sätze finden sich nicht am Anfang, sondern am Ende von Die Stellung des Menschen im Kosmos – dem Werk, das angeblich Schelers Philosophische Anthropologie enthält. Sie indizieren etwas, was das Werk im Ganzen belegt: Die Anthropologie wird bei Scheler überall entfaltet, weil Schelers gesamtes Denken sich als Anthropologie und Kosmologie gleichermaßen entfaltet, und gerade deshalb nirgends gemäß dem, was Scheler als Aufgabe der Philosophischen Anthropologie anerkennt, entwickelt. Die Differenz zwischen der Entfaltung einer Anthropologie und der strikten Entwicklung und Ausarbeitung einer philosophischen Anthropologie lässt sich gerade im Hinblick auf Scheler auch fassen als der Unterschied zwischen einer phänomenologisch-physiognomischen Anthropologie, die sich bei Scheler aufweisen lässt und bei ihm mit einer Gesamtphilosophie verschmilzt, und einer phänomenologisch-genetischen Anthropologie, die sich bei Scheler nicht findet und nicht finden soll, wie seine Kritik an Heidegger zeigt.⁵⁹ Die Stellung des Menschen im Kosmos stellt keine Ausnahme dar, denn Scheler benennt nicht nur die Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie, deren Durchführung er dispensiert, er präsentiert uns in dieser Schrift ebenso ein „Stufenreich von ‚Gestalten‘“ (GW 11: 185) des Organischen, von dem er auch in seinen eben zitierten metaphysisch-naturphilosophischen Fragmenten spricht, ohne allerdings eine solche Metaphysik zu entwickeln oder deren Motive, die er anderweitig skizziert, aufzugreifen. Ein anderes Indiz der Fragmentarizität der anthropologischen Motive in Schelers Denken ist, dass der Personbegriff, der im Zentrum von Wesen und Formen der Sympathie steht, in Die Stellung des Menschen im Kosmos nicht in den anthropologischen Entwurf integriert wird, so dass die Begriffe des Menschen und der Person insofern eher nebeneinander herlaufen als in ihrem Verhältnis zueinander ausgearbeitet zu werden. Zwar hebt Scheler die Personalität vom bloßen Menschsein ab (vgl. GW 9: 32 ff., 36, 39, 45, 51, 68), doch die Personalität wird lediglich über das geistige Vermögen der Ideierung entwickelt, die Rolle von Welt und Intersubjektivität bleiben, anders als in Wesen und Formen der Sympathie, nahezu ausgeblendet. Die Ideierung integriert den Platonismus in Anlehnung an Schopenhauers Konzept der Erkenntnis der Ideen in Schelers Anthropologie, um die grundsätzliche epistemische Differenz zwischen Mensch und Tier einerseits und Geist und Intelligenz andererseits zu verdeutlichen, doch das Potential des Konzepts wird nicht anthropologisch ausgelotet.
Über Heideggers Kritik an Schelers Lehre vom übersingulären Geist sagt Scheler: „Daß Heidegger sie nicht annehmen kann – sehen wir wohl. Es liegt daran, daß er Geist und Leben im Menschen nicht ursprünglich und als dessen Wesen, und den ‚Menschen‘ als Wesenheit dieser beiden Wesen annehmen will, sondern sie (Geist und Leben) aus der Einheit der Sorgestruktur erst herleiten will; und da er, bei seiner Ablehnung der Scheidung von Wesen und zufälligem Sosein überhaupt, auch im Menschen nicht scheiden kann zwischen Wesen des Menschen und seinem zufälligen Sosein als Erdbewohner.“ (GW 9: 288 f.) Worin Scheler Heidegger wohl nicht gerecht wird, ist das Heidegger untergeschobene „Herleiten“ des Gegensatzes von Geist und Leben aus der Sorgestruktur des Daseins. Hierbei handelt es sich um eine deduktivistische Verklärung dessen, was Heideggers Existenzialhermeneutik gerade will: Verhaltensweisen und -dispositionen aus Existenzialstrukturen verständlich werden lassen.
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Ideierung ist das phänomenologisch-physiognomische Aktkorrelat der Personalität, welche den Nukleus der anthropologischen Differenz darstellt, doch Schelers physiognomisch-platonische Phänomenologie menschlicher Geistigkeit verortet diese nicht anthropologisch, d. h. sie wird nicht, wie bei Plessner, im Rahmen einer anthropologischen Strukturanalyse entwickelt oder in eine solche eingebettet. Die Ideierung dient vor allem einer doppelten Abgrenzung: nach unten, vom Tier, und nach oben, hin zu Gott. Hier braucht nicht der gesamte Argumentationsgang Schelers rekapituliert zu werden; eine Beschränkung auf die entscheidenden Aspekte der Tier-Mensch-Unterscheidung reichen aus. Scheler entnimmt Wolfgang Köhlers Schimpansenversuchen als valides Ergebnis, dass bei Schimpansen „in einigen Fällen echte Intelligenzhandlungen vorliegen“ (GW 9: 29), genauer gesagt Fälle „praktisch organisch gebundener Intelligenz“. (Ebd.) Diese Einschränkung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die „Triebdynamik im Tiere selbst ist […], die sich hier zu versachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu erweitern beginnt“. (Ebd.) Die Fähigkeit von Schimpansen, Eigenschaften wie Länge und Beweglichkeit von situativ zu Greifwerkzeugen umfunktionierten bloßen Gegenständen wie Stöcken abstraktiv zu erfassen und instrumenteller Dienlichkeit zu unterstellen, fasst Scheler als „Vergegenständlichung der erlebten Triebhandlungskausalität auf die Dinge der Umwelt“. (ebd.: 30) Zudem gesteht Scheler Tieren zu, gemäß dem „Prinzip von ‚Erfolg und Irrtum‘“ (ebd.: 23) agieren, und durch „Übung“ einer „Erwerbung von Gewohnheiten“ (ebd.) fähig zu sein. Mehr noch, Scheler gesteht dem höheren Tier prinzipiell die Fähigkeit zu, von seinem Triebzentrum her, das es (im Gegensatz zur Pflanze) entsprechend dem Maß der Einheitsstruktur seines Nervensystems hat, spontan in seine Triebkonstellation einzugreifen und, bis zu einer gewissen Grenze, nahewinkende Vorteile zu vermeiden, um zeitlich entferntere und nur auf Umwegen zu gewinnende, aber größere Vorteile zu erreichen. (Ebd.: 30)
Kurz gesagt: Tiere sind prinzipiell zu Wahlhandlungen (vgl. ebd.) imstande, d. h. sie sind dazu in der Lage sind, umweltliche Potentiale in einer triebbezogenen Wertigkeit zueinander zu erfassen. Was bleibt dem Menschen noch als Monopol übrig, wenn Intelligenz und Wahlhandlung schon bei Tieren auftreten? Eine triebbezogene Wertigkeit⁶⁰ ist nicht mit Werthaftigkeit zu verwechseln; die Wertigkeit ist – in einer mechanischen Metapher gesprochen – das Gewicht, das durch einen Umweltreiz auf das Triebzentrum einwirkt; welches Verhalten sich daraus ergibt, ist sowohl von der aktuellen Triebdisposition des jeweiligen Organismus als auch von der davon abhängenden Wertigkeit des Umweltreizes abhängig:
Anthropologisch hat Scheler den Begriff nicht ausformuliert, doch eine Fußnote im FormalismusBuch, wo Scheler vom Verhältnis von Individuum und Umwelt handelt und vom „praktischen Milieu mit seinen positiven und negativen Wertigkeiten“ (GW 2: 157, FN 1) spricht, lässt darauf schließen, dass er dem Geiste seiner Anthropologie nicht widerstreitet.
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Beim Tiere – ob hoch oder niedriger organisiert – geht jede Handlung, jede Reaktion, die es vollzieht, auch die ‚intelligente‘, aus von einer physiologischen Zuständigkeit seines Nervensystems, der auf der psychischen Seite Instinkte, Triebimpulse und sinnliche Wahrnehmungen zugeordnet sind. (Ebd.: 32 f.)
Dem entgegenzusetzen wäre unter dem von Scheler nicht verwendeten Stichwort der „Werthaftigkeit“: „Das, was das Tier sicher nicht hat, ist erst jenes Vorziehen zwischen Werten selbst – z. B. das Vorziehen des Nützlichen als Wert vor dem Angenehmen als Wert, unabhängig von den einzelnen praktischen Güterdingen“. (Ebd.: 30) Hier werden nicht mehr nur Eigenschaften von Gegenständen abstraktiv versachlicht und funktionalisiert, hier treten nicht bloß Gegenstände ein in das Reich der „Sachlichkeit“ (ebd.: 32), die Scheler als geistiges Vermögen definiert, für welches sich der Abgrund auftut zwischen Gegenständen und Gegenständlichkeit bzw. „GegenstandSein“: „Gegenstand-Sein ist also die formalste Kategorie der logischen Seite des Geistes.“ (Ebd.: 34) Material entspricht dieser logischen Seite im geistigen Leben der Person, dass das „Verhalten vom puren Sosein eines zum Gegenstand erhobenen Anschauungs- und Vorstellungskomplexes ‚motiviert‘“ (ebd.: 33) werde, wodurch wiederum eine „freie, d. h. vom Personzentrum ausgehende Hemmung des Triebimpulses“ (ebd.) ermöglicht werde. Schlussendlich resultiert daraus eine „Veränderung der Gegenständlichkeit einer Sache“. (Ebd.) In diesem Zusammenhang führt Scheler den Begriff der Weltoffenheit in Die Stellung des Menschen im Kosmos ein. Doch hier wäre mit Scheler über den engeren Rahmen seiner kurzen Schrift hinauszugehen und die Differenz zwischen Wertigkeit und Werthaftigkeit zu vertiefen, denn nicht nur gewinnen Gegenstände eine Gegenständlichkeit, die veränderungsoffen ist, sondern was im Lichte von Gegenständlichkeit sich zeigt, rückt in eine personale „Ideen- und Wertewelt“ (GW 12: 333) ein, die sich selber wieder zum Gegenstand werden kann, wodurch das oben genannte Vorziehen von Werten (auch in ihrer eventuellen Lebensundienlichkeit oder gar schädlichkeit) möglich wird. Der geistige Akt, zu dem alle einzelnen geistig-personalen Akte in einem derivativen Verhältnis stehen, nennt Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos ⁶¹ Ideierung. Die Ideierung ist ein geistiger Akt, der als solcher unweigerlich ein personaler Akt ist. Die Ideierung erwächst nicht aus unserem animalischen Triebleben und ist keine Leistung der Intelligenz, die kein menschliches Spezifikum ist. (Vgl. GW 9: 40) Ihr Kennzeichen besteht darin, im Einzelnen, phänomenal und anschaulich Gegebenen, einen allgemeinen, charakteristischen und deshalb identitätskonstitutiven Sachverhalt zu erkennen: Der Prinz sieht einen Armen, einen Kranken, einen Toten, nachdem er im Palaste des Vaters jahrelang allen negativen Eindrücken ferngehalten ward; er erfaßt aber jene drei zufälligen ‚jetzt-
Der Begriff der Ideierung spielt in Schelers früheren Schriften keine tragende Rolle, obwohl eine wesensphänomenologische Denkungsart den durchgängigen Ariadnefaden von Schelers Gesamtwerk bildet, und wird erst in Die Stellung des Menschen im Kosmos terminologisch kodifiziert
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hier-so-seienden‘ Tatsachen sofort als bloße Beispiele für eine an ihnen erfaßbare essentielle Weltbeschaffenheit.⁶² (Ebd.)
Scheler zieht aus dieser epistemischen Potenz eine, an der zitierten Stelle explizit gegen Freud in Anschlag gebrachte, teleologisch formulierte Konsequenz: „Der Mensch hat die Aufgabe, sein Triebleben zu vergeistigen, zu ideieren, und seinen ursprünglich ohnmächtigen Geist durch rechte Sublimierung kräftig und tätig zu machen.“ (GW 12: 66) Die Ideierung erhält hier ihre konkrete Bestimmung: Der Mensch soll ideieren um der Ideierung des Trieblebens willen. Sie ist keine ungebundene, sondern eine teleologisch erfüllte Potenz im Akt der Ideierung des Trieblebens. Die Ideierung ist somit das, wodurch der Mensch den sein Wesen durchziehenden „Dualismus von Geist und Leben“⁶³ (GW 10: 146) zugunsten des Geistes auflöst. Schelers Anthropologie findet in der Ideierung zur Auflösung dieses strukturell negativen Sachverhalts, der einen negativ-anthropologischen Hiatus zwischen Geist und Leben innerhalb der Person selbst eröffnen könnte, ihr positives τέλος; sie nimmt, gerade auch wegen der axiologischen Dignität der Ideierung, die Gestalt einer positiven Anthropologie an. Ihre Legitimation findet diese positive Anthropologie im phänomenologischen Ansatz, demzufolge der Gegensatz von Geist und Leben keine Projektionsleistung philosophischen Theoretisierens ist, sondern Anschauungsgehalt des Lebens selbst, den wir daher in der Betrachtung des Lebens „antreffen“: „Der Gegensatz, den wir im Menschen antreffen […] ist der Gegensatz zwischen Geist und Leben“. (GW 9: 62) Ebenso „gegeben“ ist „die ontische, ja metaphysische Ursprünglichkeit des Geistes“. (GW 12: 66) Die phänomenologische Methode erlaubt es, diese Ingredienzen einer positiven Anthropologie an der Wirklichkeit abzulesen und zu benennen. Diese Erkenntnis des Geistes bedarf keiner Introspektion, die Scheler im Formalismus-Buch einer grundlegenden Kritik unterzieht, sondern zeigt sich im Verstehen des anderen als solchen und als Person zugleich, die nicht erst durch Rationalisierung (die Introspektion wiederum voraussetzenden), Analogieschluss oder Interpretation zu einer solchen wird, sondern in der Anschauung selbst als geistiges Wesen erscheint: Wesentlich vielmehr ist für das ‚Verstehen‘, daß wir aus einem in der Anschauung mitgegebenen geistigen Zentrum des anderen heraus seine Akte (Rede, Äußerungen, Handlungen) gegenüber
Ein Hinweis auf Ausführungen in Schopenhauers drittem, der Ästhetik geltenden, Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung soll hier nicht ausbleiben; die geistige Wahlverwandtschaft ist zu auffallend: „Sie [die Musik, S. E.] drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübniß, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemüthsruhe aus; sondern DIE Freude, DIE Betrübniß, DEN Schmerz, DAS Entsetzen, DEN Jubel, DIE Lustigkeit, DIE Gemüthsruhe SELBST, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben, ohne alles Beiwerk, also auch ohne die Motive dazu.“ (Schopenhauer 1988a: 345 f.) Vgl. außerdem GW 12: 143 ff. – An anderen Stellen spricht Scheler auch vom „Dualismus von Geist und Drang“, vgl. GW 11: 193.
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uns und in der Umwelt ohne weiteres als intentional auf etwas gerichtet erleben und nachvollziehen. (GW 2: 470)
Eine Vertiefung der phänomenologischen Überlegungen Schelers ist hier weder nötig noch sachdienlich, um weiter zu erhärten, worauf es hier ankam. Eine ausgearbeitete Philosophische Anthropologie⁶⁴ Schelers hätte solche Überlegungen aus den früheren Werken systematisch in die Anthropologie einarbeiten müssen, um dieser eine abgerundete Gestalt zu geben, doch am positiv-anthropologischen Grundriss hätte sich dadurch vermutlich nichts geändert. Soweit ist Schelers Philosophische Anthropologie als eine Phänomenologie des Geistes umrissen, doch die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Natur bzw. Leben bedarf noch einer Untersuchung. In Die Stellung des Menschen im Kosmos führt Scheler den „Gegensatz von Geist und Leben“ (GW 9: 62) als Gegensatz gegen die reduktiv-naturalistische Identifikation von Geist und Leben einerseits und gegen die spiritualistische Überhebung des Geistes über das Leben ins Feld. Der Gegensatz von Geist und Leben ist allerdings eingebettet in die strikte Parallelität beider, die Scheler als Parallelität von psychischen Phänomenen und physiologischen Funktionen anspricht: „Auch die höchsten psychischen Funktionen wie das sog. beziehende Denken entziehen sich einer streng physiologischen Parallelisierung nicht“ (ebd.: 60), weshalb es für Scheler legitim ist, von einem „ontisch einheitlichen Lebensprozeß“ (ebd.) zu reden. Parallelität und Gegensatz scheinen jedoch selbst wiederum eine Parallelität darzustellen, die erklärungsbedürftig ist. Scheler bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die „Energieverteilung zwischen seinem [des Menschen, S. E.] Großhirn und allen sonstigen Organsystemen“ (ebd.: 61), die im Falle des Menschen „eine vollständig andere“ (ebd.) sei als bei Tieren – vollständig anders dadurch, dass „jeder Sonderablauf der Erregungen im Gehirn je die ganze Erregungsstruktur wandelt“. (Ebd.) Daraus ergibt sich logisch im Hinblick auf den Gegensatz von Geist und Leben jedoch nichts, solange man nicht das Großhirn (und das ihm zugeordnete Psychische) selbst mit Qualitäten des Geistes versieht, als dessen Träger es verstanden wird;⁶⁵ sonst bleibt weiterhin nicht mehr als eine Parallelität gegeben. Eine solche Besetzung des Großhirns will Scheler natürlich nicht direkt vornehmen, doch die „Energieverteilung“ bildet seine teleologische Hintertür zum Gegensatz von Geist und Leben, der fortan eher literarisch ausformuliert wird, statt philosophisch begründet zu werden.
Dass Scheler auch seiner eigenen Ansicht nach eine solche nicht entwickelt hat, ist exemplarisch dieser Einschätzung zu entnehmen: „Auch ich bin der Meinung: Weder die ontologische Struktur des ‚Lebens‘, noch die des ‚Geistes‘, noch die der Art ‚personalen Seins‘ ist in der bisherigen Philosophie aufgedeckt.“ (GW 9: 275) Scheler nennt die Großhirnrinde auch ein „Dissoziationsorgan“ und markiert sie damit als den Gegensatz zur Funktionsweise der sonstigen Natur innerhalb der Natur: „Die Großhirnrinde ist wesentlich ein Dissoziationsorgan gegenüber den biologisch einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen – nicht ein Assoziationsorgan.“ (Ebd.: 21)
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Während sachlogisch kein Übergang von der Parallelität zum Gegensatz von Geist und Leben aufgezeigt wird, vollzieht Scheler allerdings einen solchen Übergang auf der Ebene der Darstellung der Parallelität als Gegensatz, sondern entfaltet seine Phänomenologie des Geistes. Intrikate Probleme, die Schelers Geistbegriff umranken, werden in Die Stellung des Menschen im Kosmos umgangen, tauchen aber in seinen nachgelassenen Fragmenten auf, so das Verhältnis zwischen Geist und Leib, das als Kristallisat der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Natur angesehen werden kann. In einem Qualitativer und quantitativer Kraftbegriff überschriebenen Fragment von 1926/27 schreibt Scheler: „Der Geist wirkt auf den Leib überhaupt nicht. Er hält dem vitalpsychischen Strom nur Ideen, Werte, Projekte vor und hemmt resp. enthemmt als Wille Triebimpulse. Erst diese können dann Leibliches, und zwar physiologisches Geschehen beeinflussen.“ (GW 12: 173) Hier bietet sich die Explikation im Vergleich an, denn Scheler steht auch hier wieder Schopenhauer nahe. Wie bei Schopenhauer der Intellekt als „Medium der Motive“⁶⁶ bestimmt wird und ihm auf diese Weise eine indirekte Einwirkung auf den Willen konzediert wird, lässt Scheler den Geist auf die Triebimpulse wirken, indem er paradoxerweise den Geist als etwas anderes als er selbst, nämlich „als Wille“, wirken lässt.⁶⁷ Wo Schopenhauer den Leib jedoch in seiner theoretisch so schwer fassbaren doppelten Eingesenktheit in Physik und Metaphysik fasst, nämlich als „Objektität“ des Willens (vgl. Schopenhauer 1988a: 161),⁶⁸ wodurch Schopenhauer eine phänomenale Parallelität von epistemischen und physischen Vorgängen gelten lassen kann bei gleichzeitiger metaphysischer Identität von Mensch und Natur, lässt Scheler uns in Ermangelung des philosophiehistorisch merkwürdig unausgeschöpft gebliebenen Begriffs der Objektität zurück mit einem „Hemmen“ und „Enthemmen“, das zugleich kein Einwirken sein soll. Wiederum in auffallender Ähnlichkeit zu Schopenhauers Bestimmung des Intellekts sagt Scheler über den Geist, dass er „nicht auf die Triebe selbst, sondern auf die Abwandlung der Die Bestimmung findet sich bei Schopenhauer häufig, insbesondere im zweiten Bald von Die Welt als Wille und Vorstellung, vgl. Schopenhauer 1988c: 185, 204, 241, 255, 274, 334, 438. Diese Begriffsprägung Schopenhauers hält Schnädelbach für überaus wirkmächtig und das gemeinsame Erbe nicht nur Horkheimers und der Philosophischen Anthropologie: „Mit dieser Lehre schafft Schopenhauer eine Gegenmetaphysik gegen den ontologischen Intellektualismus der abendländischen Tradition. Die These vom Werkzeugcharakter der Vernunft im Dienste des Lebens ist seitdem Gemeingut der Epoche. Nietzsches ‚Psychologie‘ und Freuds Psychoanalyse, Heideggers Philosophie der Technik und Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft, aber auch die gesamte Philosophische Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen u. a.) variieren diesen Gedanken ebenso wie die marxistische Tradition, die in einer gewiß nicht zufälligen Terminologie das, was der Idealismus zum Prinzip gemacht hatte, als ‚Überbau‘ des ‚wirklichen Lebensprozesses‘ interpretiert hatte.“ (Schnädelbach 1991: 178) Bei der angegebenen Stelle handelt es sich lediglich um eine besonders pointierte, die Auswahl ist hier gewaltig. Schopenhauer spricht auch an einer Missverständnisse begünstigenden Stelle des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung von der Objektität „meines Willens“ (Schopenhauer 1988a: 155), aber da er sich an dieser Stelle wiederum auf den Leib bezieht, gilt hier der Vorrang der Metaphysik vor der Individualität, da sich in jeglicher Objektität der metaphysische Wille in Objektform individuiert.
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Vorstellungen“ (GW 9: 54) wirke, die wiederum eine Hemmung und Enthemmung, jedoch auf indirekte und vermittelte Weise, „bewirken“ ohne direkte Einwirkung. Die Parallelität von Geistigem und Physischem ist dahingehend zu vertiefen, dass der Geist bei Scheler ausdrücklich nicht mit dem Psychischen gleichzusetzen ist;⁶⁹ der psychophysische Parallelismus wird nicht in einen Geist-Physis-Parallelismus umgewandelt, sondern der Geist bildet ein gegenüber Physischem und Psychischem Drittes. Im oben angeführten Zitat setzt Scheler den Geist ins Verhältnis zum „vitalpsychischen Strom“ (GW 12: 173); das Psychische definiert Scheler als das „Inne-sein von Realem“, d. h.: „Psychisch ist, was auf das Lebenszentrum als Er-lebenszentrum unmittelbar bezogen gegeben, d. h. ‚erlebt‘ ist.“ (Ebd.) Erlebt werden aber gerade keine Ideen, Erlebtes wird im Erleben nicht versachlicht oder vergegenständlicht, es gewinnt darin keine eigene Realität, die über das Phänomenale hinausreicht. Die Zwillingsschwester des Erlebten ist die Empfindung, nicht die Idee. Doch die phänomenologische Unterscheidung von Geist und Psychischem erklärt den Übergang, d. h. hier: das Übergreifen des Lebens auf den Geist qua Versorgung desselben mit Energie und das Übergreifen des Geistes auf das Leben qua Ideen, Vorstellungen und Wille (wobei das Verhältnis zwischen Idee und Wille ungeklärt bleibt), nicht. Der späte Scheler bemüht sich weniger darum, das Verhältnis von Geist und Drang/Leben zureichend zu erhellen und zu erklären; seine Gedanken kreisen stärker um das Verhältnis zwischen Geist und Gott, und zwar in einer manifest kosmologischen Metaphysik, für die der Ursprung der Ideen in Gott im Zentrum des Fokus steht: „Alle Ideen und Werte springen aus der Geistigkeit Gottes – geführt durch Liebe zur ‚Deitas‘ – je nach den Antrieben des Dranges.“⁷⁰ (GW 12: 238) Wird hier die Naturgebundenheit des Menschen noch bedacht, aber auch mit Gott versöhnt, so rückt in den späten Schriften und Fragmenten zunehmend das Verhältnis von Mensch und Gott ins Zentrum auch von Schelers anthropologischem Denken. Diese Öffnung der Anthropologie durch den Geist nach oben, zu Gott hin, soll nun, soweit darin gerade die Anthropologie theologisch entwickelt wird, statt theologisch übersprungen zu werden, etwas genauer beleuchtet werden. Im Verhältnis zu Gott tritt das geistige des Erkennen aus der Natur heraus, indem der Geist mit der Natur bricht; dieses Brechen ist allerdings ein Herausbrechen aus der Natur ohne gänzliches Heraustreten aus ihr; ein Herausbrechen, das sich vollzieht im hereinbrechenden Bewusstwerden dessen, was nicht der individualistischen Hoheitsgewalt eines einsam suchenden Bewusstseins unterworfen wird als Fund gezielter oder diffuser Suchbewegungen, die auf eine Selbstübersteigung gerichtet sind,
In den nachgelassenen Fragmenten sagt Scheler so knapp wie unmissverständlich: „Der Geist ist nichts ‚Psychisches‘.“ (GW 12: 150) In einem Fragment von 1927 schreibt Scheler mehr als klassischer Metaphysiker denn als moderner Anthropologe: „Die Menschwerdung ist der ideal-reale Treffpunkt zweier Bewegungen und Aktionen – eine Bewegung, in der der Drang gipfelt, und eine Bewegung, in der sich der Geist (das Ense a se als Geist) selbst herabläßt, sich einsenkend in das, was als höchster Wellengipfel der Drangwelle ihm (in ihm selbst) entgegengeworfen ist.“ (GW 12: 226)
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sondern das Bewusstsein wird bei Scheler von seinem „Gegenstand“ bestimmt in der Weise, dass es ihn hat, gerade weil und insofern es zugleich von ihm gehabt wird:⁷¹ Der Mensch gewann in dem Augenblicke, da er mit der Natur gebrochen hatte, die formale Gottesidee, die Idee zugleich der positiven Unendlichkeit, als der unendliche Grund der Welt sich nun auch in seinem geistigen Attribut in ihm manifestierte. Er wurde sich der Gottheit bewußt, als die Gottheit in ihm sich ihrer selbst bewußt wurde: Ein Akt, ein Prozeß des ‚Sich-Findens‘ von Gott und Mensch“ (GW 12: 113)
Der Bruch mit der Natur ist kein Heraustreten aus ihren kausalen Banden, der Geist entledigt sich nicht des Gehirns und überfliegt nicht fortan das naturale Sein, sondern bleibt in ihm verwurzelt.⁷² Das „Sich-Finden von Gott und Mensch“ wiederum senkt Gott in ein nicht mehr im Sinne der konventionellen Sozialität zu verstehendes Mitsein ein – in ein Über-sich-hinaus-Mitsein per hiatum, durch das der Mensch im emphatischen Sinn zum Menschen wird, weil er zu und durch Gott er selbst ist. Das SichFinden von Mensch und Gott gründet nämlich nicht in einer Suche, die irgendwann bewusst und planmäßig gestartet wurde, sondern in der gottoffenen Struktur des geistigen Erkennens selbst, in der ihm inhärierenden „Richtung des Erkennens auf die Absolutsphäre oder das Verhältnis zur Absolutsphäre alles möglichen objektiven Seins und die Richtung auf die Wesenssphäre alles objektiven möglichen Seins im Unterschiede zu seiner zufälligen Daseinssphäre“. (GW 5: 98) Damit ist die eine Seite des Sich-Findens benannt, das erst darin sich vollendet, dass „das Urseiende sich also im Menschen erfaßt, weiß und zu sich zurückkehrt“ (GW 12: 213), anders gesagt: „Das Ens a se wird sich seiner erst im Menschen wissend; der menschliche Geist ist die Reflexio des göttlichen Geistes auf sich selbst.“ (GS 11: 261) Diese Darstellung kann den Eindruck erwecken, als wären Philosophie und Metaphysik oder Theologie jedenfalls beim späten Scheler umstandslos dasselbe. Dies ist nicht der Fall, denn die auf Pererius zurückgehende Unterscheidung zwischen metaphysica generalis (Ontologie) und metaphysica specialis (Metaphysik) bleibt auch für Scheler noch verbindlich. Zudem differenziert Scheler die Ontologie intern aus in verschiedene Ontologieformen und -bereiche, so z. B. „formale Ontologie“ (GW 5: 25)
Es hat ihn durch seine Freiheit, aber diese Freiheit ist für Scheler noch – anders als für heutige Ohren – die Freiheit in der Übereinstimmung mit einem von ihr gerade erheischten Gesetz: „Das Schwanken des Triebimpulses ist die Inkubationslauge der menschlichen Freiheit. – Aber Schwanken ist nicht Freiheit. Freiheit: ‚wozu‘ – fordert ein Gesetz.“ (GW 12: 110) „Die Tätigkeit des Geistes, nicht die Geistigkeit (und ihre Gesetzlichkeit) der Tätigkeit ist noch durch die Rindenfunktion des Nachcephalon bedingt. Aber hier entscheidet die Rindenfunktion nur a) die Knüpfung der Akte in potentia an dieses Leibindividuum; b) Ihre Aktuierung durch psychische Energie.“ (GW 12: 171) In der literarisch gefälligeren Variante: „Der Geist ist lahm und kraftlos, wenn er sich nicht aus der natura naturans seine Kräfte holt.“ (GW 12: 114) Die „ursprüngliche Selbstmacht“ des Geistes verwirft Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos als den Irrtum, an dem „überall und immer […] die klassische Theorie“ (GW 9: 50) kranke.
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und „Wesensontologie“⁷³ als Typen, „Ontologie des Geistes“ (GW 10: 396) und „physische Wesensontologie des Menschen“ (GW 12: 17) als Bereichsontologien im eher laxen Sinne des Wortes. Doch der denkerische Fluchtpunkt des späten Scheler ist, bei aller Verbindlichkeit der Differenzierungsmöglichkeiten philosophischer Überlieferung, die Metaphysik, in der sich den obigen Ausführungen gemäß das personale Erkennen im Sinne des „Sich-Findens von Gott und Mensch“ (GW 12: 113) vollendet.Was anhand einer Reihe von Stellen kleinteilig gezeigt werden könnte, lässt sich anhand an einer Stelle verdeutlichen, in der Scheler synoptisch die Fäden zusammenführt und die positive Anthropologie in doppelter Weise zum Abschluss bringt, nämlich (1) in der Realisierung des epistemischen τέλος von Personalität in der Erkenntnis Gottes und (2) im Zu-sich-Kommen Gottes im erkennenden Geist des Menschen: In jeglicher Hinsicht ist also ‚der Mensch‘ ein offenes, d. h. ein gottoffenes, lebens- und weltoffenes System. Er ist nichts in sich Abgeschlossenes ‚substantielles‘ und in keinem Sinne ‚einfach‘. Seine Einheit im ontischen Sinne liegt allein in der Einheit des Weltgrundes selbst und seiner Substantia, die zugleich Subjekt und Objekt, ferner Geist und Drang, Substanz und Subjekt ist. Der Mensch ist ein ‚kleiner Gott‘, und Gott ein ‚großer Mensch‘. (GW 12: 182)
Die positive Anthropologie tritt offen als metaphysische Anthropologie nicht nur zutage, sondern auch auf, da Scheler seine Anthropologie explizit als solche bezeichnet. (Vgl. GW 12: 53) Worin sie von einer negativen Anthropologie sich grundsätzlich unterscheidet, ist nicht die Gottoffenheit, sondern die teleologische Weise ihrer Verankerung in der selbst kosmologisch verorteten und auf Gott hingeordneten Personalität. In dieser positiven Anthropologie ist das Menschsein durch „das transzendente Schicksal des Menschen“ (GW 12: 217) bestimmt, das gleichwohl nicht teleologisch überdeterminiert wird wie in einer Welt, in der Gott der „Gott einer Kinderschule eines moralischen Gymnasiums“ (ebd.: 218) wäre, das allerdings sehr wohl verpflichtenden Charakter hat; Gott ist bei Scheler keine bloße Idee, sei es auch eine regulative Idee, sondern eine Schicksalsmacht qua Verbindlichkeit: ‘Für‘ Gott leben, das kann nur heißen mit ihm, in ihm kämpfen und siegen – was an mir ist – für seine Selbstverwirklichung in Prozesse der Welt. […] Der Mensch als das Wesen in dem und durch das der Urgrund erfaßt und als Gottheit sich verwirklicht; das gibt allen Menschen – wer sie auch seien und wo sie auch wohnen im Kosmos – ein und dasselbe Ziel, für das zu sein wert ist und wert zu leben. (Ebd.: 219)
So unbestimmt und unausgeführt diese Gedankenskizzen, die Schelers Nachlassfragmenten entnommen sind, bleiben, so klar zeigt sich, dass die positive Anthropologie nicht nur teleologisch verfasst ist, sondern auch in der Gottoffenheit der
„Die Wesensontologie des Menschen hat es nur mit solchen Begriffen zu tun, deren Gegenstände echte Wesenheiten, und mit Anschauungen, die Urphänomene sind, nicht aber mit Bestimmtheiten wirklicher Menschen, Lebewesen, Bewußtsein.“ (GW 12: 17)
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Personalität einen Grund von Versöhnung findet. Die Gottoffenheit muss im Sinne der objektiven Phänomenologie verstanden werden und wird missverstanden, wo die subjektive Erkenntnis als gottoffen aufgefasst wird. Für Scheler ist „der Mensch Mikrokosmos, d. h. Einheit aller Wesensregionen des Seienden“ (GW 11: 125), und er ist dies, weil diese Einheit keine poietische Errungenschaft geistiger Tätigkeit ist, denn „die Einheit des Wissens und der Erkenntnis ist nicht – wie Kant lehrte – die Bedingung der Einheit des Seins, sondern seine Folge“. (Ebd.: 126) Nicht nur bestimmt das Sein das Bewusstsein, die Einheit des Bewusstseins gründet in der Einheit des Seins selbst, das wiederum im Sinne des Verhältnisses von Makrokosmos und Mikrokosmos und dieses wiederum anthropo-theologisch⁷⁴ zu verstehen ist: Da der Mensch Mikrokosmos ist, d. h. ‚die Welt im Kleinen‘, da alle Wesensgenerationen des Seins, physikalisches, chemisches, lebendiges, geistiges Sein, sich im Sein des Menschen begegnen und schneiden, darum kann am Menschen auch der oberste Grund der ‚großen Welt‘, des Makrokosmos, studiert werden. Und darum ist das Sein des Menschen als Mikrotheos auch der erste Zugang zu Gott. (GW 9: 83)
Obwohl Schelers Philosophische Anthropologie letztlich Fragment geblieben ist, lässt sie sich klar als positive Anthropologie bestimmen. Synoptisch sind diesem Exkurs vier starke Argumente dafür, Schelers Anthropologie als eine positive aufzufassen, entnehmbar: (1) Der Gegensatz von Geist und Leben wird vom Leben her nur halbherzig ausgeführt, d. h. die Natur wird zwar als Faktor in Anschlag gebracht und biologisches Wissen von Scheler aufgegriffen, aber Scheler entwickelt keine darüber hinausreichende Naturphilosophie des Lebens, in die Geist und Leben genetisch eingebettet oder in der sie voneinander dualistisch abgegrenzt wären. Scheler will den Kuchen haben und ihn essen. Dem dient der Parallelismus, der Konformität mit der Biologie ermöglicht, zugleich aber eine davon unberührte Phänomenologie des Geistes durch dessen Nicht-Reduzierbarkeit auf das Physische und die sowohl irreduzible wie physiologisch unübersetzbare Eigenlogik geistiger Idealität sichert. Insofern ist der Gegensatz ein phänomenologischer, der den „ontisch einheitlichen Lebensprozeß“ (GW 9: 60) nicht antastet, indem eine Zwei-Reiche-Lehre phänomenologisch ausbuchstabiert wird.
Scheler spricht in diesem Zusammenhang von „Metanthropologie und Aktmetaphysik“. (Ebd.) – Dem Begriff „Anthropo-Theologie“ zur Verbreitung verholfen hat, jenseits der Inauguration durch Heidegger, Karl Löwith, der in seiner Schrift Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche die „christliche Anthropo-Theologie“ (Löwith 1986: 4) auf die antike Kosmologie als ideengeschichtliche Epoche folgen lässt. Der Begriff dient Löwith als analytischer Leitfaden der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Hegel. (Vgl. ebd.: 65) Exkludiert wird ausdrücklich Spinoza, weil er eine Disjunktion von Philosophie und Theologie vollziehe: „Die ausgesprochene Absicht des Theologisch-politischen Traktats ist die Trennung der Philosophie von der Theologie des Glaubens.“ (Ebd.: 156)
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(2) Schelers rudimentäre Naturphilosophie erschöpft sich nicht im Parallelismus von Geist und Natur, weil die Parallelität zugleich die Gestalt eines Hiatus annimmt, der im Geist versöhnt wird. Der Hiatus stellt Scheler vor das ungelöste Problem, die wechselseitige Beeinflussung zu bestimmen. Sein Versuch, den Geist über die Vorstellungen als den Triebimpulsen bzw. dem vitalpsychischen Strom proliferierten Materialien einwirken zu lassen auf, welchem vitalpsychischen Strom der Geist seine vitale Energie verdankt, speist den Leser einem selber erklärungsbedürftigen explanans ab. Am Ende steht trotz und aufgrund des behaupteten Gegensatzes von Geist und Leben eine prästabilierte Harmonie beider, die darin gründet, dass der Parallelismus in seiner Grundsätzlichkeit als ein gleichsam sinnhaft (auf den Geist hin) komponierter sich erweist. (3) Scheler ist gleichermaßen positiver wie metaphysischer Anthropologe als Denker der Versöhnung, die Gestalt derselben ist das „Sich-Finden von Mensch und Gott (vgl. GW 12: 113), in dem der Mikrokosmos der menschlichen Personalität und der göttliche Makrokosmos zueinander finden. Die Begründung der Einheit des Wissens aus der Einheit des Seins ist metaphysisch harmonistisch, der Hiatus zwischen Mensch und Gott ist kein dramatischer, denn das Grundverhältnis des Menschen zu Gott ist eines der sich selbst wissenden Geborgenheit. Über das in den obigen Ausführungen bereits Gesagte hinaus lässt sich hierzu sagen, dass Scheler dem „Gott und Welt, Seele und Körper auseinanderreißende[n] protestantische[n] Geist der Neuzeit“ (GW 3: 352) mit einem positiven Entwurf entgegentritt. Bereits in seiner noch während des Ersten Weltkrieges verfassten Schrift Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg (1915/1916) hat Scheler vom „die Neuzeit beherrschenden liberalen Konkurrenzsystem“ (GW 4: 447) gesprochen, dem eine katholische Ethik⁷⁵ entgegenzutreten haben werde, die eine „Bemeisterung dieser [in der Konkurrenz entfalteten, S. E.] Kräfte und der Idee ihrer Unterwerfung unter ein konkretes sittliches Volks- und Gesamtideal“ (ebd.) anstreben solle, um „die atomisierte moderne Gesellschaft wieder zu organisieren, ihr ein dauerndes Haus ihres Lebens zu zimmern“. (Ebd.: 448) Was hier sozialpolitisch im Namen des Katholizismus anvisiert wird, wird vom späten, nicht mehr katholischen, aber von seinen katholischen Jahren noch immer geprägten Scheler als aus der Einheit des Seins geschöpfte positive und metaphysische Anthropologie entworfen. Scheler denkt damit nicht nur strikt gegen die Neuzeit, die sich durch die Amalgamierung „der mechanischen Naturansicht mit der technischen Zivilisation“ (GW 14: 293) auszeichnet, sondern antwortet auf die Neuzeit mit dem Rückgang vor die Neuzeit. Scheler antwortet in der Zwischenkriegszeit noch auf die Situation der Zeit⁷⁶ mit der anthropo-
Zum Verhältnis von katholischer und protestantischer Ethik in Zeiten einer substanziellen konfessionellen Differenz vgl. GW 4.: 447 ff., besonders 449. Diese Zeit hat Jaspers wenige Jahre später in Die geistige Situation der Zeit als eine in Uneinheitlichkeit zerborstene porträtiert, die gerade Synthetisierungsleistungen wie der Scheler‘schen sich verschließe: „Im Wissen wäre im Prinzip eine gemeinsame Situation aller möglich als die universalste Kommunikation, welche am ehesten die geistige Situation des Menschen in einer Zeit einheitlich be-
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logischen Rettung von Gott und Mensch sowie der des Menschen durch Gott im geistigen Leben der menschlichen Person. Romano Guardinis in Das Ende der Neuzeit formulierte Diagnose: „Gott verliert seinen Ort, und mit ihm verliert ihn der Mensch“ (Guardini 1951: 56), lag Scheler offenbar noch fern. (4) Die Versöhnung ist auf einer Metaebene mit einem höheren Grad von Explizitheit und zugleich globaler zu fassen: Die positive Anthropologie Schelers ist nicht nur inhaltlich (bzw. inneranthropologisch) eine Versöhnungsleistung, sondern in ihr findet eine Harmonisierung der Philosophischen Anthropologie mit Schelers persönlicher Weltanschauung statt, die keine primär anthropologische, sondern eine primär metaphysische, auch in den Spätwerken noch theologisch geprägte,⁷⁷ wenn auch philosophisch gewendete,⁷⁸ ist. Nicht umsonst trägt Schelers letzte zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Schrift den Titel Philosophische Weltanschauung (1928) und nicht zufällig sagt Scheler in derselben: „Der Mensch hat nicht die Wahl, sich eine metaphysische Idee und ein metaphysisches Gefühl zu bilden oder nicht zu bilden“. (GW 9: 76) Mehr noch: „Und er besitzt ebensowohl die Fähigkeit, im Kerne seiner Person lebendigen Anteil an dem Grunde der Dinge zu gewinnen“ (ebd.: 77), nämlich im metaphysischen oder Erlösungswissen (vgl. ebd.: 77, besonders prägnant: 114). Eine negative Anthropologie, die, wie die nachfolgend behandelten Ansätze, säkular verfasst ist, kann ein solches Wissen nicht beanspruchen und steht demgemäß vor einer doppelten Abgründigkeit des Menschen, die nicht nur einen kategorischen hiatus zwischen Mensch und Gott kennt, sondern auch einen Abgrund im Menschen, der ihn in sich selbst spaltet. Eine solche negative Anthropologie denkt den Menschen als entsichertes Wesen in entsicherten Zeiten. Nicht zufällig hat Helmuth Plessner
stimmen könnte. Wegen der Diskrepanz der Menschenartung in der Weise des Wissenwollens ist sie aber ausgeschlossen.“ (Jaspers 1979: 25 f.) Dies bringt Wilhelm Mader in seiner Scheler-Biographie treffend auf den Punkt: „So wie er in der katholisierenden Phase den Menschen als eine Bewegung hin auf den personalen Gott versteht und den Beginn der ‚Confessiones‘ des heiligen Augustinus ‚Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir‘ anführen kann, so nimmt er Gott in dieser Spätphase in den Menschen hinein. Eben diese Konsequenz führte in der katholischen Welt zu einer tiefen Enttäuschung über Max Scheler, der ja für einige Jahre die Möglichkeit eröffnet hatte, den Glauben an den personalen Gott in Einklang zu bringen mit philosophischem und naturwissenschaftlichem Wissen.“ (Mader 1980: 119) Wilhelm Weischedel spricht in seiner ausführlichen Analyse des Gottesbegriffs bei Scheler von einer „Gründung der Philosophischen Theologie in der Anthropologie“ (Weischedel 1983: 123), die ohne strikten Gottesbeweis auszukommen versuche (vgl. ebd.: 121) und gemäß der phänomenologischen Ausrichtung seiner Philosophie den Gravitationspunkt des personalen Gottesbezugs – diesen Ausdruck Schelers zitiert auch Weischedel (ebd.: 118), allerdings verkürzt – finde in der „Gotteserfahrung, die jeder Mensch im Grunde seiner Persönlichkeit und im mystischen Kontakt dieses seines geistig-persönlichen Seelengrundes mit der Gottheit unter bestimmten disponierenden Bedingungen und inneren Bereitschaften zu machen vermag“. (GW 5: 21) Weischedel grenzt Schelers „philosophischen Gott“ synoptisch vom christlichen Gott ab: „Der Gott dieser Philosophischen Theologie des späten Scheler ist also nicht der ein für allemal vollendete Geist, als den ihn die christliche Philosophie und Theologie verstehen, sondern eine im Weltgeschehen allererst sich verwirklichende, eine werdende Gottheit.“ (Weischedel 1983: 126)
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2 Arnold Gehlens positive philosophische Anthropologie
(1892– 1975), um dessen Philosophische Anthropologie es im nächsten Teil als um die paradigmatische Negative Anthropologie unter den positiven Anthropologien gehen wird, die Philosophische Anthropologie als Anthropologie in einer Weise entworfen, dass sie auf auf das, was die „reale“ Geschichte der Philosophie geschichtsphilosophisch aufnötigt, philosophisch antwortet, statt durch das Missverhältnis zwischen Gedachtem und Geschichtlichem desavouiert zu werden.
Zweiter Teil: Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie als Negative Anthropologie
3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung 3.1 Einleitung und Bemerkungen zum Diskussionsstand um Plessners Philosophische Anthropologie als Negative Anthropologie Mit Helmuth Plessners Negativer Anthropologie ist hier seine Philosophische Anthropologie im Ganzen gemeint, auch in den Denkfiguren, in denen sie sich soziologisch figuriert. Der Terminus wird hier nicht beschränkt auf sein Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch, das nicht Plessners Philosophische Anthropologie, sondern die Grundlegung derselben enthält, und nicht umsonst im Untertitel eine „Einleitung“ genannt wird. Hier wird unterschieden zwischen der Philosophischen Anthropologie, wie sie von Plessners Gesamtwerk her zu verstehen wäre, und der anthropologischen Grundlegung im engeren Sinne, die sich in den Stufen findet, aber nicht als analytische Deduktionsbasis von später und in bestimmten Auseinandersetzungen entwickelten Motiven bzw.Weiterentwicklungen seiner Philosophischen Anthropologie fungiert. Plessners Philosophische Anthropologie soll hier nicht als Negative Anthropologie dargestellt werden, um sie als solche zu vermarkten. Es soll gezeigt werden, dass Plessners Philosophie, die ihre Grundlegung in den 1920er Jahren erfahren hat, nicht zufällig in den 1930er Jahren als Negative Anthropologie vertieft worden ist, statt aufgegeben worden zu sein; dass bestimmte Modifikationen ihrer eine existentielle Reaktion auf und ein Ringen mit geschichtlichen Unwägbarkeiten in einer mitunter persönlich unwägbaren Situation darstellen, in der das Denken selbst sich als Unwägbarkeit und Wagnis zugleich erfahren muss. Es soll gezeigt werden, dass die Negative Anthropologie nicht entstanden ist, weil ein Genie ein brachliegendes Innovationspotential entdeckt hat, das niemand vor ihm gesehen hat, sondern weil positive Wesensphilosophien überhaupt nach dem Ersten Weltkrieg sich für Plessner als eine nicht bloß methodologische oder epistemologische, sondern als eine praktische und überdies gefährliche, weil ideologisch ausbeutbare und in Dienst nehmbare Aporie erwiesen haben. Zunächst sollen die wenigen Interpretationsansätze diskutiert werden, die Plessners Philosophische Anthropologie überhaupt als Negative Anthropologie aufgefasst haben; dabei soll auch gezeigt werden, inwiefern sie diese als Negative Anthropologie verstanden haben, d. h. auch: in welcher Weise die als Negative Anthropologie aufgefasste Philosophie Plessners zu ihnen spricht. Dabei beschränke ich mich auf genuin philosophische⁷⁹ Interpretationen Plessners, denn der Begriff der
Die literaturwissenschaftliche Verwendungsweise des Begriffs durch Karlheinz Stierle (2004) und ihre kulturwissenschaftliche Adaptation durch Ruth Groh (2004) werden hier ebenso keiner näheren https://doi.org/10.1515/9783110773682-004
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
negativen Anthropologie existiert durchaus auch im systematisch wenig anspruchsvollen Sinne (daher die Kleinschreibung)⁸⁰ in der politischen Ideengeschichte, womit dort Ansätze, die Carl Schmitt unter dem Namen der pessimistischen Anthropologie fasst (Hobbes,⁸¹ Machiavelli⁸²), verhandelt werden. Interpretationen Gehlens etwa müssen hier nicht rekapituliert werden, weil zu Gehlen das dahingehend Wesentliche bereits gesagt worden ist (siehe Kapitel 2). Explizit als negative Anthropologie – aber nicht als Negative – bezeichnen Plessners Ansatz Helmut Berking, Gerhard Gamm und Thomas Rentsch; in Bezug auf die Interpretation Michael Moxters ist festzuhalten, dass er die geistige Wahlverwandtschaft von Plessners Philosophischer Anthropologie mit einer negativen Theologie in mehr als nur oberflächlicher Weise sieht. Helmut Berking hat in seinem für ein kulturwissenschaftliches Publikum konzipierten Kurzporträt der Gesamtphilosophie Plessners den Begriff der negativen Anthropologie verwendet, um den Unterschied zwischen Plessners Ansatz und wesensphilosophischen Anthropologien zu kennzeichnen. Plessner frage nicht, was der Mensch sei, sondern wie der Mensch sei (vgl. Berking 2006: 98). Dieser Frage entspricht die Aufwertung von Lachen und Weinen und der darin entwickelten Verhaltensanalyse gegenüber der deskriptivphänomenologischen Methodik der Stufen, ohne dass Berking die Terminologie und Systematik beider Werke zusammenführte – was im gegebenen Rahmen ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Den Begriff der negativen Anthropologie validiert Berking dadurch, dass er die Signifikanz der unaufhebbaren Doppelsinnigkeit von Ausgleichsleistungen (vgl. ebd.: 99), die sich aus der „als konstitutionell ausgewiesenen
Betrachtung unterzogen wie die Verwendungsweise im Bereich der politischen Ideengeschichte. Helmut Lethen spricht zwar explizit von negativer Anthropologie in Bezug auf Plessner, doch aus literatur- bzw. kulturhistorischer Perspektive, nicht in philosophisch-systematischer Weise. Das zeigt sich besonders darin, dass Lethen den Begriff in einer Nebenordnung verwendet: „Sucht man in der Literatur nach dem Typus, in dem Plessners Duellpersönlichkeit, negative Anthropologie und die Verhaltenslehre der Distanz verschmelzen, so trifft man auf Gestalten sehr unterschiedlicher Provenienz.“ (Lethen 1994: 140) Auch die eher assoziative Verwendung des Begriffs rechtfertigt nicht, Lethens Lesart hier auf ihr systematische Tragfähigkeit hin zu untersuchen: „Plessners Sphäre der Künstlichkeit ist von Anbeginn sowohl von der agonalen Situation der Gesellschaft geprägt, die eine ‚Rüstung‘ als Grundausstattung der menschlichen Sphäre nahelegt, als auch von der Gefahr einer Enthemmung des Trieblebens alarmiert, das der Disziplinierung bedarf. Das bringt seine Theorie in größere Nähe zur negativen Anthropologie des 17. Jahrhunderts.“ (Ebd.: 92) In Analogie zur Groß-/Kleinschreibung von Philosophische Anthropologie, vgl. Krüger 2009: 55, 146. Vgl. Beck/Schlichte 2014: 51; Klein 2011: 242 f.; Lüdemann 2004: 153 f.; Mehring 2018: 23 f.; Noetzel 1999: 125; Moxter 2018: 170, wobei in Moxters Fall nicht übergangen werden darf, dass er Hobbes‘ negative Anthropologie ausdrücklich von genuin philosophischen Typus einer negativen Anthropologie unterscheidet, vgl. ebd.: „In allen Spielarten konservativer Ordnungstheologien verbindet sich die Faszination für die politische Herrschaft mit einer solchen negativen Anthropologie. (Letztere ist – nota bene! – in einem anderen Sinne ‚negativ‘ als die oben in Abs. 2 beschriebenen Typen philosophischer Anthropologien).“ Vgl. Nitschke 2013: 81; Wallat 2017: 89.
3.1 Einleitung und Bemerkungen zum Diskussionsstand
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Differenz zwischen Leib-Sein und Körper-Haben“ (ebd.) ergeben, anführt. Eine systematische Lesart von Plessners Philosophischer Anthropologie als Negative Anthropologie legt Berking jedoch nicht vor. Wesentlich grundlegender fallen die Lesarten Gamms und Rentschs aus, die daher eine ausführlichere Betrachtung erfordern. Gerhard Gamm bezeichnet expressis verbis als negative Anthropologie zwar die Philosophie Adornos⁸³ (worauf noch zurückzukommen sein wird), tut dies allerdings in expliziter Engführung derselben mit Plessners Unergründlichkeitstheorem: „Eine Dialektik, die aufs Nichtidentische, auf die ‚Nicht-Identität des Menschen mit sich‘, abhebt, bedarf notwendig jenes Moments der ‚Unbestimmtheitsrelation des Menschen zu sich‘, von der Plessner spricht.“ (Gamm 2015: 151) Diese Engführung erfolgt nicht zufällig, denn Gamm hat Plessner in früheren Werken bereits als Theoretiker der Unergründlichkeit und der Unbestimmbarkeit des menschlichen Wesens ausführlich bedacht: Der plessner’schen Anthropologie geht es in erster Linie nicht um die Bestimmung oder um die Darstellung einer unwandelbaren Natur des Menschen, sondern darum, dass mit jeder Aussage über seine Natur eine Verantwortung in die theoretischen Bestimmungen eingespielt wird, die dazu aufrufen, die unbestimmbare Mitte des Selbst nicht durch dogmatische, naturalistische oder kulturalistische Bestimmungen zu verschließen. (Gamm 2005: 202)
Plessners Philosophische Anthropologie, die Gamm als „reflexive Anthropologie“ (ebd.: 203) bezeichnet,⁸⁴ wird hier Gamms „Semantik des Unbestimmten“, die im Untertitel von Nicht nichts prominent plaziert wird, einverleibt. Dass Gamm mit Plessner seine Agenda auszuschmücken versucht, wird aus der Begriffswahl ersichtlich, die Plessners anthropologischen Grundimpetus in Verwendung des Bestimmungsbegriffs urteilslogisch statt anthropologisch artikuliert. Was Gamm an der exzentrischen Positionalität (die er gerne, den spezifisch naturphilosophischen Positionalitätsbegriff aussparend, schlicht Exzentrizität⁸⁵ oder gar „Ex-zentrizität“⁸⁶ nennt) und an der Unergründlichkeit interessiert und ihm überdies erlaubt, beide kurzerhand zusammenführen, ist der gemeinsame Nenner der Unabschließbarkeit oder Unmöglichkeit einer abschließenden Bestimmbarkeit. Die Zusammenführung
En passant tut dies neuerdings auch Christian Thies (2018: 169), setzt dabei aber an der Dialektik der Aufklärung und an den Konzepten der Urgeschichte und der Mimesis an, statt die deutlich grundlegenderen Zusammenhänge zu sehen. Sein eigener Hinweis, dass Adorno anthropologisch an die Pariser Manuskripte anknüpfe (ebd.: 158), verpufft daher. Gamm begründet diese Begriffsverwendung nicht eigens, weshalb davon auszugehen ist, dass er den Begriff von Gesa Lindemann übernommen hat, die ihn in Die Grenzen des Sozialen (2002, 19 ff.) von Plessner her ausbuchstabiert hat. Für Lindemann ergibt sich aus ihrer Interpretation Plessners „die Konsequenz, daß Plessners Theorie nicht auf eine Anthropologie zielt, sondern auf eine Theorie des ‚Sozialen‘ physisch existierender Individuen“. (Ebd.: 26) Mit Gamm trifft sie sich darin, mit Plessner eine Agenda zu verfolgen, hinter deren Eigenständigkeit die immanente systematische Strenge in der Auslegung zurücktritt. Vgl. Gamm 2004: 61, 189, 192, 195 f. Vgl. Gamm 1994: 32.
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erfolgt aber nicht immanent, sondern von Gamms Semantik des Unbestimmten her. Dem entspricht, dass es Gamm darum zu tun ist, die Verbindlichkeit des Unergründlichen „transzendentalhermeneutisch zu explizieren“ (Gamm 2005: 212), weil sich darin „die beiden für Plessners Normativitätskonzept zentralen Strukturmomente – Offenheit und Verbindlichkeit – ihre konstitutive Verschränktheit auf exemplarische Weise zeigen“. (Ebd.: 212 f.) Diese „konstitutive Verschränktheit“ ist bei Gamm allerdings keine anthropologische, sondern eine logische. Doch hinsichtlich seiner Intention und Agenda ist Gamm alles anderes als undeutlich: „[D]ie diese Interpretation leitende Idee besteht darin, die Unbestimmtheitsrelation so anzusetzen, dass sie uns darauf verpflichtet, alle jene Bestimmungen zu verwerfen, die den Sinn praktischer Vernunft zu verschließen suchen.“ (Ebd.: 212) Plessners Begriff der Unergründlichkeit bietet sich als Dekoration an, aber Gamm entwickelt seine Semantik des Unbestimmten nicht von einer systematisch-anthropologischen Auffassung derselben her. Thomas Rentschs Verständnis von negativer Anthropologie bewegt sich eher auf Gamms Linie als auf einer genuin anthropologischen. Rentsch beansprucht in Negativität und praktische Vernunft, „eine negative Anthropologie menschlicher Würde und eine Ethik wechselseitiger inter-personaler Unverfügbarkeit (Entzogenheit) entwickelt“ (Rentsch 2000: 12 f.) zu haben. Den Begriff der Negativität verwendet Rentsch in dreifacher Weise: (1) Einmal versteht er darunter die „faktische Negativität, die als anthropologische Fragilität und Endlichkeit, Bedürftigkeit, Mangelhaftigkeit, Leidbedrohtheit, Fehlbarkeit und Sterblichkeit jeden Menschen und die menschliche Kultur insgesamt betrifft“. (Ebd.: 10) (2) Hinzu kommt auf „der zweiten Ebene die praktische Beurteilung des jeweils Negativen als ‚negativ‘, z. B. als moralische Schuld, als gefährdete Sittlichkeit, als konfligierende Interessenlage, aber auch als praktische Einsicht in die Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten“. (Ebd.: 11) (3) Drittens zielt Rentsch auf „die methodische, begriffliche Ebene der alltäglichen und philosophischen Reflexion von Negativität“. (Ebd.) Nur die faktische Negativität betrifft die Anthropologie als solche, die beiden anderen Bedeutungen der Negativität fallen in den Bereich der praktischen Vernunft und der Ethik, weshalb Rentsch sie konsequenterweise weitläufig von Wittgenstein her sprachphilosophisch ausbuchstabiert. Die genuin anthropologische Bedeutung der Negativität wird von Rentsch allerdings nicht anthropologisch expliziert. „Die „Analysen zur Ethik des Alterns“ (ebd.: 22), die Rentsch zufolge „zum Kernbereich einer negativ-anthropologisch reflektierten praktischen Philosophie“ (ebd.) gehören, enthalten nicht wesentlich mehr als eine negativistisch orientierte Sinn- und Bedeutungsanalyse der oben genannten Merkmale anthropologischer Negativität, die als Merkmale konstatiert werden, ohne in eine Anthropologie eingebettet zu werden. Dem ließe sich entgegenhalten, dass Rentsch sehr wohl eine Anthropologie, nämlich eine transzendentale Anthropologie, seinen Analysen zugrunde legt, die er von Heidegger her entwickelt: „Sein und Zeit stellt zunächst das systematisch und methodisch re-
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flektierte Programm einer transzendentalen Anthropologie dar.“ (Ebd.: 33) Doch auch Sein und Zeit wird letztlich unter die Fittiche der Sprachphilosophie genommen, die transzendentale Anthropologie wird von ihrem „Monologismus“, den Rentsch ihr vorhält,⁸⁷ wiederum mittels der Sprachphilosophie befreit; gegen Heideggers Existentialanalyse führt Rentsch ins Feld, was er „Interexistentialanalyse“ (ebd.: 41) nennt und als dessen Pointe er die Anwendung Wittgensteins auf die transzendentalanthropologische Konstitutionstheorie vorbringt: „Diese Analyse stellt die systematische Anwendung des von Ludwig Wittgenstein vorgetragenen, sogenannten Privatsprachenarguments auf die Thematik der Weltkonstitution dar.“ (Ebd.) In dieser Legitimierung der Anthropologie durch die Sprachphilosophie trifft Rentsch sich mit Gamm. Aus ihr erklärt sich auch, weshalb Rentschs Bezugnahmen auf die Klassiker der philosophischen Anthropologie sporadisch und vage bleiben. Plessners „konstitutive Ortlosigkeit“ wird zitiert (Rentsch 2010: 416), aber die Tragfähigkeit von Plessners Ansatz im Ganzen wird nicht evaluiert; umgekehrt wird Gehlen kurzerhand der negativen Anthropologie zugeschlagen, ohne dass dies durch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Gehlens Ansatz motiviert oder legitimiert würde, sondern willkommene Assoziationsfelder, die zentrale Begriffe Gehlens umgeben, geben den Ausschlag.⁸⁸ Welche Kriterien einer negativen Anthropologie lassen sich, ungeachtet dessen, was die diskutierten Ansätze systematisch missen lassen, der bisherigen Diskussion entnehmen? Sowohl Gamm als auch Rentsch philosophieren unter dem Gesetz des linguistic turns, die Sprachphilosophie ist für sie unhintergehbar und verbindlich; bei Rentsch wird selbst die Anthropologie von Wittgenstein her sprachphilosophisch unterfüttert.⁸⁹ Sonnemann hingegen, um den weiten Bogen zurück zu spannen, hat
Diesen Monologismus hält Rentsch sowohl Heidegger als auch Plessner vor; zu Heidegger vgl. ebd.: 20, 35, 38 f.; zu Plessner vgl. ebd.: 13, FN 4. – Rentsch hält Heidegger das eine Mal einen „Kryptocartesianismus“ (ebd.: 19), ein anderes Mal einen „Hypercartesianismus“ (ebd. 39 f.) vor. – Über die in der Tat problematische Frage, wie eine Theorie der Intersubjektivität von Plessner her entwickelt werden könne, hat Matthias Schloßberger (2008) Überlegungen angestellt, die Thiemo Breyer in seinem Buch Verkörperte Empathie (Breyer 2015) auf der Basis neuerer Entwicklungen in der evolutionären Anthropologie und der Kognitionswissenschaft bedeutend vertieft hat. Gerade wenn man Plessners seit Lachen und Weinen entwickelte Verhaltensanalysen systematisch aufnimmt und einen holistischen Zugang zu seinem Gesamtwerk findet, tun sich andere Perspektiven auf als bei einer isolierten Betrachtung des letzten Kapitels der Stufen. „Die Gehlenschen ‚Schlüssel-Kategorien‘ ‚Mängelwesen‘, ‚Antriebsüberschuss‘, ‚Entlastung‘, ‚Handlung‘, ‚Zucht‘ und ‚Reizüberflutung‘ sind ‚existentielle Problemmetaphern, dramatisierende Merkzeichen für die Bedrohtheit des Menschen.‘ Die Basis des existentiellen Zentralmotivs Gehlens bildet in der Rekonstruktion Rehbergs eindeutig ein Komplex von Kategorien einer negativen Anthropologie. Auch Gehlens Ansatz dokumentiert so das Fortwirken der traditionellen Formation negativer Anthropologie in der Moderne.“ (Rentsch 2011: 106) Die kondensierte Form von Rentschs programmatischer Synthesis lautet folgendermaßen: „Der Hintergrund, um dessen angemessene Berücksichtigung für die Sinnkonstitution und um dessen Explikation es geht, ist die endliche (Heidegger) menschliche Lebensform (Wittgenstein). Hier stimme ich Taylor uneingeschränkt zu: Genau diesen Hintergrund zu explizieren, ist das Ziel der Existentialen
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vor dem linguistic turn philosophiert⁹⁰ und seine negative Anthropologie noch in geradezu klassischer Weise erkenntnistheoretisch aufgezogen und reflektiert. Worin bei allen gravierenden Unterschieden Rentsch, Gamm und Sonnemann übereinstimmen, ist die Unmöglichkeit einer Wesenserkenntnis und demzufolge einer legitimen abschließenden Wesensbestimmung des Menschen: „Die Nicht-Festgelegtheit der Wiederholungsmöglichkeit weist als Basisphänomen auf eine negative Anthropologie der Freiheit, die letztlich von der Unbestimmtheit unseres Wesens handelt: von der Unmöglichkeit einer positiven Wesensbestimmung des Menschen.“ (Rentsch 2010: 227) Die Pointe der negativen Anthropologie ist dann gleichsam ein Verbotsschild, weil als negative Anthropologie nur geduldet wird, was der epistemischen Intention einer jeden möglichen Anthropologie, die sich nicht in anti-essentialistischen Unerkennbarkeitsbeschwörungen erschöpft,⁹¹ entgegensteht und sich zugleich durch den offensiven Verzicht auf ein positives anthropologisches Modell auszeichnet. Die Differenz zu Sonnemann ist vernachlässigbar, denn ein lockeres Verhältnis zu einer sprachphilosophisch geläuterten Anthropologie beantwortet nicht die Frage, ob eine negative Anthropologie als Anthropologie im eigentlichen Sinne, d. h. als naturphilosophische Anthropologie, möglich sei. In der gleichen Richtung wie Gamm und Rentsch argumentiert, ebenfalls auf eine negative Anthropologie zielend, Christian Dries in seiner Auseinandersetzung mit Günther Anders. Auch Dries macht als zentrales Merkmal der negativen Anthropologie die Unmöglichkeit einer Wesensbestimmung des Menschen aus: „Was der Mensch schließlich praktisch, historisch aus seiner Unbestimmtheit macht, kann für Anders grundsätzlich nicht mehr Gegenstand einer positiven Wesensbestimmung sein. Die Anderssche Anthropologie ist deshalb eine negative.“ (Dries 2012: 43) Ist man geneigt, diese Stelle so zu interpretieren, dass mit der unmöglichen „positiven Wesensbestimmung“ eine abschließende Wesensbestimmung gemeint ist, so muss man sich schon wenige Zeilen weiter von dieser Lesart verabschieden: „Die Identität des Grammatik, der Ausarbeitung einer transzendentalen Anthropologie in praktischer Absicht sowie der Analysen zum konstitutiven Zusammenhang von Negativität und praktischer Vernunft in meinen späteren Untersuchungen. In den Anschlußarbeiten an die vorliegende Untersuchung habe ich insbesondere die auch von Taylor hervorgehobene Kritik des Monologismus v. a. als Leistung Wittgensteins durch Ausarbeitung einer Interexistentialanalyse kommunikativer Lebensformen produktiv zu nutzen versucht.“ (Rentsch 2003: 40 f.) Der linguistic turn hat zwar in den 1960er Jahren stattgefunden, in denen auch Sonnemanns Negative Anthropologie erschienen ist, doch Sonnemann hat sich dieser paradigmatischen Umstellung der akademischen Philosophie nicht unterworfen. Sonnemann hat die Analytische Philosophie nicht rezipiert und Habermas‘ frühe diskurstheoretische Orientierung in Erkenntnis und Interesse als konformistische Abkehr von der Kritischen Theorie kritisiert und verworfen. Vgl. Sonnemann 1984: 294 ff. und 1989: 69 ff. Die Inklination zu solcher Rhetorik verliert jegliche Verführungskraft, wenn man dank eines systematischen, gleichwohl nicht-essentialistischen Denkens den Anti-Essentialismus hinter sich lassen kann. So hebt z. B. Matthias Jung bei jeder Gelegenheit und Nicht-Gelegenheit den „Anti-Dualismus“ seiner Anthropologie der Artikulation hervor, als garantierte das „Anti“ das „Nicht“. Vgl. Jung 2010: 7, 12 f., 17, 20, um nur bei der Einleitung zu bleiben.
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Menschen besteht nach Anders gerade darin, dass er keine spezifische Identität hat, und die zentrale Wesensbestimmung des Menschen ist sein fundamentaler Mangel an Bestimmbarkeit.“ (Ebd.) Eine weitere Stelle sei angeführt, da sie entscheidende Signalwörter versammelt, bei denen es sich zugleich um Jargonversatzstücke handelt, die über die logischen Probleme der Behauptungen hinaus indizieren, warum von einem solchen Verständnis von negativer Anthropologie kein Weg zu einer Negativen Anthropologie führen kann: „Wie in der Andersschen Anthropologie üblich, ist der Begriff der Pluralität also ein Negativ-Begriff, aus dem keine expliziten Bestimmungen folgen, der umgekehrt vielmehr die Unfestgelegtheit und Kontingenz des Menschen zusätzlich betont.“ (Ebd.: 76) Was soll der Ausdruck „Unfestgelegtheit und Kontingenz des Menschen“ überhaupt besagen? Laut Dries wohl Folgendes: „Anders’ Anthropologie kennt keinen Determinismus. Denn das Naturwesen Mensch ist in seiner kulturellen Entwicklung nicht festgelegt.“ (Ebd.: 126) Dass dies der Fall, belegt aber der flüchtigste Blick in die Kulturgeschichte; weder wird hier um die Entscheidung einer legitimen Streitfrage gerungen (Schelers Wissenssoziologie basiert gerade auf der empirischen Weitverzweigtheit dieser Unfestgelegtheit), noch wird hier eine genuin anthropologische These formuliert, weil es hier um einen empirischen Sachverhalt (Unterschiedlichkeit derKulturentwicklung) geht, der in eine apodiktische generelle Form gebracht wird. Was wird mit all dem, was bisher angeführt worden ist, in Anbetracht eines eher abstrakten, programmatischen Generalnenners erreicht? Im besten Fall ist die negative Anthropologie eine Anthropologie der anthropologischen Unbestimmbarkeit des Wesens des Menschen. Der Zirkel, in den man sich mit einer solchen Programmatik begibt, zeugt dann davon, dass man den Kuchen nicht nur essen und haben (die Bestimmung der Unbestimmbarkeit festhalten), sondern essen, haben und wegwerfen will (denn „Anthropologie“ klingt letztlich doch zu sehr nach Anthropologie). Und bleibt es bei einem solchen theoretischen Generalnenner der Wesensunbestimmbarkeit dabei, dass man Sonnemann, Rentsch, Gamm und Dries eine Linie bilden sehen kann? Wenn das Wesen des Menschen darin besteht, kein Wesen zu haben, oder wenn sein Wesen darin besteht, dass sein Wesen nicht bestimmbar sei, dann ist (neben Gehlen, dessen Zugehörigkeit bereits begründet bestritten worden ist in Kapitel 2) Otto Friedrich Bollnow ebenfalls ein Repräsentant des Denktypus der negativen Anthropologie, denn Bollnow, der sich dabei wesentlich auf Dilthey und Nietzsche (Bollnow 2009: 99 f., 122) stützt, erkennt die „Unfestgelegtheit und Kontingenz des Menschen“ (Dries 2012: 76) ebenfalls an, wenn er die philosophische Anthropologie mit dem methodischen Problem konfrontiert, das heute unter Stichwörtern wie Geschichtlichkeit, Partikularität und Pluralität verhandelt wird: „Es gibt kein festes Wesen des Menschen, das aus den verschiedensten Zeugnissen in einer immer gleichbleibenden Weise erschlossen werden und so als Gegenstand der philosophischen Anthropologie zugrunde gelegt werden könnte, sondern dieses Wesen wandelt sich im Lauf der
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Geschichte.“⁹² (Bollnow 2009: 13) Für die philosophische Anthropologie heißt dies nach Bollnow weder, dass sie unmöglich geworden sei, noch bedeutet es, es mit dem Aussprechen der Unaussprechlichkeit seines Wesens im Wesentlichen getan wäre: In dieser schöpferischen Kraft des Menschen wird also dasjenige positiv bestimmt, was in der Unergründlichkeit nur negativ bezeichnet werden konnte. Sie muß in das methodische Vorgehen einer philosophischen Anthropologie von Anfang an einbezogen werden, wenn dieses zum Ziel führen soll. (Ebd.: 122 f.)
Wenn nun ein Autor, der nicht ohne Grund der Existenzphilosophie zugerechnet wird und sich umstandslos auf Nietzsches Also sprach Zarathustra bezieht, wo er von der Unergründlichkeit des Menschen und der des Lebens im selben Abschnitt handelt, ebenso ein Vertreter einer negativen Anthropologe sein kann wie Ulrich Sonnemann, Günther Anders, Hannah Arendt oder, wie hier noch zu begründen sein wird, Helmuth Plessner (als deren eigentlicher Begründer) und Theodor W. Adorno (im schwachen Sinne), gewinnt die Frage nach Kriterien an Dringlichkeit, die es ermöglichen, eine Negative Anthropologie vom Label einer negativen Anthropologie zu unterscheiden. Entgegen allen bisherigen negativen Anthropologien setze ich als entscheidendes Kriterium einer Negativen Anthropologie an, dass eine Wesensbestimmung des Menschen erfolge, statt dass letztlich bloß ihre Unmöglichkeit behauptet wird (oder verschämt tentative Bestimmungen gegeben werden, deren man sozusagen zu Amtszwecken bedarf). Dem füge ich als Kriterium hinzu, dass diese Wesensbestimmung in der Freilegung von Ermöglichungsstrukturen bestehen muss, die dem menschlichen Leben zugrunde liegen, ohne dass dessen jeweils spezifische Verfasstheit sich daraus ableiten oder deduzieren ließe. Bevor ich dies anhand von Plessners Philosophischer Anthropologie verdeutliche, ist noch ein Exkurs zum logischen Status des Begriff der Bestimmung nötig, dessen Bedeutung Dries in den zitierten Passagen (aber auch Rentsch und Gamm) nicht gerecht wird. Diese Ausführungen richten sich nicht gegen Dries, sondern stellen eine grundsätzliche urteilslogische Warnung dar, die an eine jegliche Negative Anthropologie gerichtet ist, die nicht hinter das Differenzierungsniveau zurückfallen will, das die Unterscheidung zwischen Definition und Bestimmung gebietet.
Gottfried Schüz hat in seinem Buch Lebensganzheit und Wesensoffenheit des Menschen. Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie, einer ausführlichen und konzisen Bollnow-Studie, dargelegt, dass das Wesen des Menschen Bollnow zufolge „auf direktem Wege nicht definitorisch bestimmbar“ (Schüz 2001: 21) sei. Schüz dogmatisiert die anthropologische Negativität allerdings nicht, weil er keineswegs übersieht, dass dieses Wesen „auf indirektem Wege durchaus, wenn auch in einem immer nur vorläufigen Sinne, verstehend erschließbar“ (ebd.: 22) sei. Damit wird das eigentlich spannende Problemfeld begangen, das eine Definition mit Bestimmung in Fixiertheit auf erstere verwechselnde und identifizierende negative Anthropologie gar nicht erst zu Gesicht bekommen kann.
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Exkurs: Bestimmung und Bestimmtheit bei Hegel, Adorno, Luhmann und Plessner Im Folgenden möchte ich Schlaglichter auf verschiedene Weisen der Auffassung der Logik und des Rangs der Tätigkeit begrifflichen Bestimmens werfen, um einerseits die Hegel‘schen Ursprünge des Bestimmungsbegriffs bei Adorno sichtbar zu machen, und andererseits zu zeigen, dass Luhmann als zu diesem Denkhorizont antipodisch sich verhaltender Denker ebenfalls den Bestimmungsbegriff nicht nur nicht verwirft, sondern als unhintergehbar begreift, obwohl er ihn deutlich anders fasst als Hegel und Adorno. Mit einer Skizzierung von Plessners Bestimmungsbegriff wird sowohl die These vertieft, die diesem Exkurs zugrunde liegt, als auch der Rückweg zum Haupttext genommen. Das Verhältnis von begrifflicher Bestimmtheit und objektiver Bestimmtheit der Realität hat Hegel in nach wie vor verbindlicher Weise durchdacht. Weder die Prämissen noch die Resultate von Hegels Philosophie im Ganzen muss man teilen, mit keiner Metaphysik muss man sich einmütig erklären, um Hegels Wissenschaft der Logik dahingehend Entscheidendes zu entnehmen. Im kurzen Rekurs auf Hegel und Adorno soll gezeigt werden, dass die Bestimmung dessen, was der Mensch sei, weder für eine positive noch für eine negative Anthropologie eskamotierbar ist und es darauf ankommt, in welcher Weise bzw. logischen Form diese Bestimmung durchgeführt wird. Anders gesagt: Der Unterschied zwischen einem Wesensagnostizismus und einer Wesensbestimmung ist nicht der zwischen einer negativen und einer positiven Anthropologie, sondern der zwischen überhaupt keiner Anthropologie und der Eröffnung eines genuin anthropologischen Horizonts. Die Rede vom Menschen, die den dem Begriff der Anthropologie inkorporierten λόγος ernstnimmt, darf Hegels Lehre vom Begriff nicht unterbieten, ohne sich ihr deshalb unterwerfen oder sich zu einem Anwendungsfall derselben machen zu müssen oder sollen.
a) Hegel Das Verhältnis von Bestimmung und Bestimmtheit wird von Hegel nicht erst nicht in späteren Partien der Wissenschaft der Logik berührt, sondern die Bestimmtheit, als Qualität verstanden, ist Gegenstand des ersten Abschnitts der „Lehre vom Sein“. Bestimmtheit muss gegeben sein und in Bestimmungen eingeholt werden, damit im Reiche der Logik überhaupt etwas und nicht nichts ist.⁹³ Das zeigt sich an Hegels Ausführungen über das reine, unbestimmte Sein: „Das Sein ist das unbestimmte Unmittelbare; es ist frei von jeder Bestimmtheit gegen das Wesen sowie noch von jeder, die es innerhalb seiner selbst erhalten kann. Dies reflexionslose Sein ist das Sein, wie es unmittelbar in ihm selbst ist.“ (Hegel 1986b: 82) Hegels Pointe in der Das ergibt sich auch aus Hegels Definition der Logik: „Die Logik ist die reine Wissenschaft, d.i. das reine Wissen in dem ganzen Umfange seiner Entwicklung.“ (Hegel 1986a: 67) Entwicklung heißt Übergang von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit und Sichselbstunterscheidung der Bestimmtheit im Prozess der Ausfaltung des Seins als Idee in der Logik.
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logischen Entfaltung des Seins ist, dass es in die Kategorie des Nichts umschlägt, denn „[e]s ist die reine Unbestimmtheit und Leere.“ (Ebd.) Eine strikt wesensagnostizistische negative Anthropologie nimmt sich zwar nicht das reine Sein Hegels zum Vorbild, doch führt sie in der Theorie der Tendenz nach die Unbestimmtheit ein, die nach Hegel das Sein in das Nichts umschlagen lässt. An die Stelle von „Unbestimmtheit oder abstrakte[r] Negation“ (ebd.: 104) tritt in der negativen Anthropologie dann die Unbestimmtheit, die sich aus der abstrakten Negation der Möglichkeit ergibt, genuin wesentliche Ermöglichungsbedingungen des Menschseins nicht-essentialistisch zu erfassen. Der Preis der Unbestimmtheit im starken Sinn ist auch dann hoch, wenn die Leere des menschlichen Wesens keine absolute ist und der Wesenskern des Menschen einer rein unbestimmten qualitas occulta auch nur angeähnelt wird. Den Kern der Kritik dessen, was ich abstrakt-negative Anthropologie nenne, trifft man allerdings erst, wenn man die Lehre vom Sein von der Lehre vom Begriff her in den Blick nimmt. Der Begriff ist Hegel zufolge „in seiner einfachen Beziehung auf sich selbst absolute Bestimmtheit“ (Hegel 1986c: 251), d. h. der Begriff, sofern er rein als Begriff betrachtet wird, ist ungebrochene Bestimmtheit und reine Allgemeinheit. Dies gilt für den Begriff allerdings nur im Zustand seines abstraktiv isolierten ‚Zunächst‘, denn wesentlich wohnt ihm die Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem, als Momenten seines Sichselbstbestimmens, inne; der Begriff als solcher ist daher sowohl „selbst das Allgemeine“ (ebd.: 252), als auch, weil sein Sichselbstbestimmen sein Sichselbstunterscheiden von sich in sich miteinbegreift, „die Negation oder Bestimmtheit, welche sich auf sich bezieht; so ist der Begriff Einzelnes“. (Ebd.) Die Bestimmtheit hat keinen solitären Ort, sie ist nicht im Begriff oder im von ihm unterschiedenen Einzelnen verortet, noch eine bloße Qualität der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem in der Selbstvermittlung des Begriffs. Der Begriff hat vor allem deshalb keinen Ort, weil er eine Relation stiftet und diese selber durchläuft, ohne innerhalb derselben einseitig oder statisch verortbar zu sein; er stiftet „die Einheit des Seins und des Wesens“ (ebd.: 269) und ist daher „die Wahrheit des substantiellen Verhältnisses, in welchem Sein und Wesen ihre erfüllte Selbständigkeit und Bestimmung durcheinander erreichen“. (Ebd.) Der Begriff in seiner leeren Allgemeinheit kann diese Einheit nicht stiften, sondern er kann dies nur, weil es die Natur des Allgemeinen ausmacht, ein objektiv bestimmtes Allgemeines durch sein Anderes hindurch überhaupt zu werden; das Allgemeine selbst ist nichts ErratischStatisches: „Es ist aber gerade die Natur des Allgemeinen, ein solches Einfaches zu sein, welches durch die absolute Negativität den höchsten Unterschied und Bestimmtheit in sich enthält.“ (Ebd.: 275) Seine erste Negation erfährt das Allgemeine nicht durch ein schlechthin Anderes, sondern durch Besonderes, das „in dieser Bestimmtheit wesentlich noch Allgemeines“ (ebd.: 278) und deshalb sein Anderes ist; die Besonderheit ist deshalb noch „Reflexion derselben [der Allgemeinheit, S. E.] in sich“. (Ebd.) Für die zweite Negation gilt dies nicht mehr, weil in ihr „die Bestimmtheit schlechthin nur als Gesetzes oder als Schein ist. Leben, Ich, Geist, absoluter Begriff sind nicht Allgemeine nur als höhere Gattungen, sondern Konkrete“. (Ebd.: 279) Konkret ist etwas nicht dadurch, dass es als anschaubares Ding vor uns steht wie im
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Konkretismus, der kein Erfüllungs- und Differenzverhältnis – erst recht nicht ein Übergehen in Gegensätze als Moment der Selbstentwicklung einer Sache – zwischen einem Konkreten und seinem Begriff denken kann, sondern „Etwas ist ein Konkretes von solchen mannigfaltigen Bestimmungen, die sich gleich beständig und bleibend an ihm zeigen“. (Ebd.: 107) Der konventionellen Art und Weise, Differenz zu konzipieren, widerstreitet Hegels Ineinander der „mannigfaltigen Bestimmungen“ und der simultanen Beständigkeit sowie des bleibenden Charakters des Konkreten. Aber gerade deshalb fällt das Konkrete in seiner mannigfaltigen Bestimmtheit nicht aus der begrifflichen Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem heraus und bildet kein bloß zufälliges Außerhalb derselben. Dies gilt, mit der Anthropologie im Blick, gerade für den Menschen wie für menschliche Individuen, die erst dann aus dieser Dialektik des Einzelnen und Allgemeinen herausfallen können, wenn sie abstrakt als Einzelnes fixiert werden und damit zum individuum ineffabile werden, das gar keiner ontologisch oder begrifflich gehaltvollen Bestimmung fähig ist. Würde der Mensch aus dieser Begrifflichkeit überhaupt konstituierenden Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem heraustreten, so würde er sich nicht aus der essentialistischen Beschlagnahmung durch die Philosophie befreien, sondern bloß aus dem Bereich des überhaupt philosophisch Denkbaren herausfallen. Eine negative Anthropologie, die als ihre tiefsinnigste Pointe die Unbestimmbarkeit des als zu Bestimmenden ihr Anheimgegebenen in die Welt trägt, spricht vom Menschen wie Hegel zufolge die reine Abstraktion vom höchsten Wesen: „[A]uch das höchste Wesen, die reine Abstraktion, hat, wie erinnert, die Bestimmtheit der Unbestimmtheit; eine Bestimmtheit aber ist die Unbestimmtheit, weil sie dem Bestimmten gegenüberstehen soll.“ (Ebd.: 285) Solche Überlegungen bringen eine abstrakt-negative Anthropologie in Verlegenheit: Wenn die Unbestimmtheit einem Bestimmten gegenüberstehen soll, um ein Bestimmtes welcher Art handelt es sich dabei? Und wie ist es bestimmbar, wenn nicht begrifflich, also mittels dessen, aus dem gerade umgekehrt die Unbestimmbarkeit der dem Bestimmten gegenüberstehenden Unbestimmtheit begründet wird? Den Begriff selbst zu depotenzieren, läuft darauf hinaus, alle möglichen einzelnen begrifflichen Leistungen überhaupt zu depotenzieren; den Begriff nur an der Dignität des menschlichen Wesens scheitern zu lassen, bedeutet, über letzteres Vorentscheidungen zu treffen, die einem geradezu metaphysischen Wissen entspringen müssen, das sich zugleich der Darstellbarkeit entzieht; die Analogisierung des Menschen mit dem höchsten Wesen in der negativen Theologie ist dann gerade in der sachlichen Untriftigkeit strukturell triftig. Der Begriff ist Hegel zufolge nicht als leer zu schelten; wo dies geschehe, „wird jene absolute Bestimmtheit desselben verkannt“. (Ebd.: 285) Diese Bestimmtheit verdankt sich dem Wesensmerkmal des Begriffs, dass er „die drei besonderen Bestimmungen, das Allgemeine, das Besondere, das Einzelne“ (ebd.: 298) hat. Das Besondere ist Hegel zufolge „auch Einzelnes“ (ebd.), d. h. es ist in seiner individuellen Bestimmtheit überdies in abstracto Einzelnes, umgekehrt ist kein Einzelnes ein reines Einzelnes als solches, sondern, indem es „das bestimmte Allgemeine ist, ist es ebensosehr ein Besonderes“. (Ebd.) Diese drei besonderen Bestimmungen des Begriffs
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sind nicht voneinander ablösbar, d. h. der Begriff kann nicht nur eine oder zwei der Bestimmungen ohne die dritte realisieren, sondern sie bilden das konstitutionslogische Minimum von Begrifflichkeit, das im begrifflichen Prozess selber realisiert wird. Den leeren Begriff, den Hegel durch den von jedem konkreten Inhalt absehenden abstrakten Begriff des Menschen überhaupt exemplifiziert, zeichne aus, dass „seine Bestimmtheit nicht das Prinzip seiner Unterschiede ist“ (ebd.: 285); umgekehrt macht die Bestimmtheit des Begriffs im eigentlichen Sinne, d. h. des Begriffs, der ein solcher ist und nicht ein künstlich, weil notgedrungen nachträglich von Bestimmungen absehendes Abstraktum, aus, dass er gerade ein Prinzip von Unterschieden enthält und angibt. In dieser Weise ist der Begriff nicht nur das Medium der Philosophie, sondern gerade auch einer jeden philosophischen Anthropologie, denn eine jede Anthropologie als solche muss, will sie den λόγος, den sie im Namen führt, nicht in einer Veralberung und letztlich einer Selbstveralberung abwerfen, ein Prinzip von Unterschieden, z. B. zwischen Mensch und Tier, in philosophisch anspruchsvoller Weise angeben und bestimmen können wollen.
b) Adorno Wer der Ansicht ist, dass bei Hegel keine Begriffslogik ohne die Logik der Metaphysik selbst zu haben sei und dass Adorno mit seiner negativen Dialektik die metaphysische Identität und die logische Einheit des Begriffs sprenge, der wird vermutlich auf die folgende Stelle aus Adornos unter dem Titel Einführung in die Dialektik veröffentlichten Vorlesungen wenig zu entgegnen wissen: Wenn Sie diesen Gedanken der objektiven Bestimmtheit der Realität, der keine gewissermaßen wegzulassende subjektive Zutat ist, eine Sekunde weiterverfolgen, dann können Sie ihn durchaus auch in Zusammenhang bringen mit dem immer gegen Hegel oberflächlich erhobenen Vorwurf des Zwanghaften, des deduktiven Systems. (NL 4/2: 114 f.)
Diese objektive Bestimmtheit der Realität begründet für Adorno nicht lediglich die Möglichkeit, sondern zugleich die Verbindlichkeit der Philosophie, die „eigentlich das Mittel ist, in den Begriffen, im Medium des Begriffs den Zwangscharakter selbst auszudrücken, den die Wirklichkeit in der Tat ausübt“. (Ebd.: 115) Begriff und Bestimmtheit stehen auch hier in keinem Verhältnis der Willkür jeweiliger Signifikation; der Begriff ist für die Philosophie, was das Wasser für den Fisch ist. So sehr Adorno Kategorien wie denen des Zwangs oder des Banns zugetan ist, der Begriff steht für ihn als conditio sine qua non des Philosophierens nicht zur Disposition; so energisch wie die Begrenztheit des Begriffs die Gegenbewegung der negativen Dialektik motiviert, polemisiert Adorno gegen „das Erbärmliche jenes Gezeters über die Zwangsjacke der Begriffe“ (ebd.), deren immanente Bezogenheit auf die objektive Bestimmtheit der Realität für Adorno so wenig außer Frage steht wie die Unerlässlichkeit, das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und begrifflicher Bestimmung als Aufgabe der Philosophie zu begreifen, wenn man überhaupt philosophieren will. Die immanente Tendenz
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des Begriffs auf die Theorie, die nicht mit dem System zu verwechseln ist, affirmiert Adorno ebenso: „Ohne Theorie – und Dialektik in diesem übergreifenden Sinn ist ja geradezu das Vorbild dessen, was man Theorie überhaupt nennen kann – gäbe es überhaupt gar keine Erkenntnis, sondern bloße Feststellungen“ (ebd.: 116) oder Behauptungen, z. B. die einer abstrakt-negativen Anthropologie. Eine abstrakt-negative Anthropologie reproduziert die phänomenologische Aporie, die Adorno in deren Erfassung von Singularitäten diagnostiziert, weil sie das Wesen des Menschen der dem Begriff und seinem Erhellungsvermögen entzogenen Singularität anmisst; so schreibt Adorno über das Problem der Singularität: Die Singularität entgleitet einem Denken, das die Vielheit nicht kennt: die Setzung von ‚Einem‘ als durch seine Einzelheit Bestimmten impliziert bereits ein Mehr. Dies Mehr aber wird von Husserl ins τόδε τι an sich hineinverlegt, als ein der bestimmten Erkenntnis des Individuellen schlechthin Vorausgehendes. Gerade das Zuwenig am reinen τόδε τι, jene Unbestimmtheit, die Hegel im spezifischen Sinn abstrakt zu nennen pflegte, wird zu einem solchen Mehr gemacht, zum Ersatz für das im üblichen Sinn Abstrakte, den Allgemeinbegriff. (AGS 5: 111)
Die oben angesprochene Abstraktheit des reinen Seins bei Hegel kehrt hier in dem wieder, was bei Aristoteles noch die erste Substanz war, allerdings mit der pikanten doppelten Übertreibung, dass das schlechthin dem Begriff entzogene hyperkonkrete Wesen, das Husserl mit Aristoteles das τόδε τι nennt, mit dem Allgemeinen schlechthin, mit der von keiner Negativität der Bestimmtheit berührten Allgemeinheit, im von der anderen Seite her proklamierten „Mangel an jener Bestimmtheit, die es erst zum individuellen macht“ (ebd.: 111 f.), koinzidiert. Adorno legt hier den Finger in die Wunde einer abstrakt-negativen Anthropologie: Ein dem Begriff überhaupt entzogenes Wesen des Menschen, modelliert nach dem in eine scheinhafte Selbstgenügsamkeit hinein zu rettenden τόδε τι, wird genauso wenig verstanden wie eines, dessen Wesen so allgemein bestimmt wird, dass dies keine differentielle Bestimmung des Gegenstands Mensch, kein Prinzip von Unterschieden, mehr zu bestimmen übrig lässt. Adorno bleibt Hegelianer darin, dass er unverbrüchlich am Begriff als der medialen Unhintergehbarkeit der Philosophie festhält, und zwar nicht, weil deren Unhintergehbarkeit abstrakt festgestellt würde oder feststellbar wäre, sondern weil anders die Möglichkeit, objektive Bestimmtheit prinzipiell – nicht abschließend – begrifflich zu artikulieren, zugunsten einer dem Begriff entzogenen qualitas occulta hintertrieben wird. Wird objektive Bestimmtheit nach dem τόδε τι als einer die Konkretionskraft des Begriffs überfordernden Entität modelliert, so wird der Begriff als an eine Entität von solcher Dignität nicht heranreichende Unzulänglichkeit depotenziert, obwohl diese Depotenzierung mittels eines so unzureichenden Instruments gerade nicht gehaltvoll vollzogen werden kann, weil der vorab depotenzierte Begriff nicht nur von jeder Gültigkeit und Sachhaltigkeit abgeschnitten ist, sondern als depotenzierter überdies die Kriterien seiner eigenen Gültigkeit nicht eigenmächtig hervorbringen kann und das Vermögen objektiver Bestimmung durch beschwörende oder drekretartige Bestimmungen ersetzen muss.
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c) Luhmann Im Folgenden möchte ich ein paar Hinweise darauf geben, dass selbst eine negative Anthropologie wie die von Luhmann skizzierte in der Perhorreszierung eines ergründbaren menschlichen Wesens nicht die Logik des Begriffs mitperhorresziert, sondern die Notwendigkeit des möglichst elaborierten Bestimmens dessen, was der Mensch sei, anerkennt, diesen Bestimmungsprozess aber so konzipiert, dass seine strukturelle Unabschließbarkeit das grundlegende Merkmal desselben ist, an dem das Schicksal jeder in diesem Prozess erreichbaren Bestimmung sich ablesen lässt. In Die Moral der Gesellschaft unterscheidet Luhmann explizit zwischen einer positiven und einer negativen Anthropologie. Im Zentrum der positiven Anthropologie der alteuropäischen Tradition stehe der Gedanke, „daß der Mensch in seiner Zwecknatur auf gesellschaftliches Leben angewiesen sei“. (Luhmann 2008: 85) Die gesellschaftliche Verortung der Natur artikuliert bereits deren soziologische Präokkupation, die Tatsache, dass die menschliche Natur als theoretisches Resultat innerhalb der Gesellschaft und gemäß Interessen der Gesellschaft, die die Menschen bestimmen, wie diese auch von jener und jenen her sich bestimmen, gedacht wird. Die negative Anthropologie Luhmanns ist demnach ebenfalls keine Anthropologie im philosophischen, sondern im soziologisch-historischen Sinne;⁹⁴ ihre Negation ist „keine privative, sondern determinierende Negation, daher nicht eine zu vermeidende Wesensverfehlung, sondern historischer Aufbau einer erst human werdenden Gesellschaft“. (Ebd.: 86) Luhmann interessiert weniger der Inhalt oder die Begründungsstruktur negativer Anthropologie als deren sozialkognitive und sozialevolutionäre Funktion, die darin besteht, dass sich in ihr als Denktypus eine revolutionäre Gesellschaft abbilde, „die die Ausdifferenzierung politischer und religiöser Teilsysteme vorantreibt und gesellschaftsweite Teilsysteme für Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung“ (ebd.: 86) auszubilden beginnt. Insofern ist negative Anthropologie nach Luhmann gerade kein innovatives Konzept des 20. Jahrhunderts, sondern ein Wegbereiter für die Ausbildung der modernen Gesellschaft, der sie theoretisch nicht mehr zu bieten mag, wonach diese verlangt, weil „die gesellschaftlichen Verhältnisse im Ausgang vom Menschen her theoretisch nicht zu fassen sind. Die Gesellschaft selbst ist dafür zu komplex geworden, und die in der Gesellschaft durch Ausdifferenzierung der Wissenschaft entstandenen Ansprüche an Theorie sind dafür zu hoch entwickelt.“ (Ebd.: 87) Weder die moderne Gesellschaft noch ihre adäquate Theorie könne aus einer negativen Anthropologie, die gleichwohl nötig war, um sie vorzubereiten,⁹⁵
Sie ist eine solche für Luhmann überdies in dem Sinne, dass sie stratifikatorische Gegebenheiten anthropologisch und damit anthropologisierend reproduziert: „Die Anthropologie gilt allgemein, aber sie wird in der Oberschicht mit besonderer Intensität realisiert.“ (Luhmann 1980: 89) Noch deutlicher heißt es etwas weiter unten: „Aber man darf annehmen, daß die gesamte Anthropologie an der Oberschicht abgelesen und auf sie gemünzt ist.“ (Ebd.: 90) „Zusammenfassend können wir festhalten, daß die theologisch-politisch-rechtliche, mit einem korporativen Gesellschaftsbegriff bestimmte Tradition Alteuropas im Übergang zur Moderne nicht durch einen neuen Gesellschaftsbegriff, sondern zunächst durch Anthropologie ersetzt wird“ (ebd.:
3.1 Einleitung und Bemerkungen zum Diskussionsstand
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begründet werden oder sich selbst aus einer solchen begründen. Die Unbestimmtheit, die z. B. Gamm und Dries als zentrales Kennzeichen der negativen Anthropologie anführen, bildet für Luhmann nicht mehr als eine Kompromissformel des 18. Jahrhunderts: „Die Kompromißformel der ‚Unbestimmtheit‘, die sich um die Mitte des Jahrhunderts durchsetzt, gestützt auf materialistische Theorie, die sich hierin ein Alibi beschafft, und ebenso auf den Kulturvergleich – diese Formel fixiert wiederum eine negationsbedürftige Negativität.“ (Ebd.: 138) Letzteres wird verständlich, wenn man die negative Anthropologie nicht mehr nur als historischen Sachverhalt auffasst, sondern als einen Modus des Beobachtens, der von Luhmann wiederum systemtheoretisch beobachtet und expliziert wird. Kurz: Die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Anthropologie artikuliert auch Typologien des Beobachtens und damit des Verhältnisses zu Bestimmungsleistungen. Bestimmungen sind allgemein unumgänglich, in ihnen vollzieht sich das Beobachten als die Einheit der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung: „Die Operation Beobachtung realisiert mithin die Einheit der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung, das ist ihre Spezialität.“ (Luhmann 1997: 100) Keine Identifikation von etwas als etwas ist möglich ohne Bezeichnung, keine Bezeichnung ist denkbar, die keine unbezeichnete, aber in der Bezeichnung konstituierte und die Bezeichnung selbst mitkonstituierende Rückseite hat; Luhmann spricht dabei von einer Zwei-Seiten-Form der Bezeichnung: „Die Form selbst ist eine Zwei-Seiten-Form und setzt die Simultanpräsenz der beiden Seiten voraus. Eine Seite allein wäre keine Seite, eine Form ohne andere Seite würde sich in den unmarked state wiederauflösen, wäre also nicht zu beobachten.“ (Ebd.: 109) Luhmann sagt zwar, dass die Zwei-SeitenForm eine Simultanpräsenz beider Seiten voraussetze, doch der eigentliche prozessuale Sinn des Ausdrucks Einheit der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung besteht gerade darin, dass die mit der Bezeichnung konstituierte Unterscheidung, die als Unterscheidung für das Beobachten präsent wird, nicht zu einer Einheit im klassischen Sinn gebracht wird, sondern in der Beobachtung als Einheit prozessiert wird; die Einheit ist keine theoretische, sondern eine prozessuale, in Form dieser prozessierten Einheit vollzieht sich das Beobachten als solches. Unbestimmtheit tritt in diesem Beobachtungsprozess, der als solcher auch ein Bezeichnungs- und Bestimmungsprozess ist und sein muss, als in der Beobachtungslogik gründendes Moment dieses Prozesses auf, nicht als Qualität von Gegenständen; weil das Beobachten den Kommunikationsprozess konstituiert und wir in Kommunikation beobachten und beobachtbar beobachten, indem wir kommunizieren, bezieht Luhmann das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit direkt auf das Kommunikationssystem: „Bestimmtheit/Unbestimmtheit ist eine interne Variable des Kommunikationssystems und nicht ein Qualitätsunterschied der Außenwelt.“ (Ebd.: 24) Dass sie das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit nur
216), im Hinblick auf die Moderne wirkmächtig durch eine „Anthropologie der Unruhe, der Begehrlichkeit, der ursprünglich unbestimmten Negativität“. (Ebd.)
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
intern prozessieren, gilt für Beobachtungen, Bezeichnungen, Unterscheidungen und Begriffe,⁹⁶ die allesamt Elemente des Kommunikationssystems bilden.⁹⁷ Unbestimmtheit kann systemtheoretisch gesehen keine Qualität von Objekten, z. B. des Menschen, sein, sondern stellt eine Qualität der Strukturlogik von Kommunikation dar, die in der modernen Gesellschaft nur noch prozessuale Unterscheidungen, aber keine letzten Unterscheidungen mehr kennt. Deshalb ist es entscheidend, nicht zu übersehen, dass Einheit für Luhmann grundsätzlich prozessuale Einheit meint. Unterscheidungen können prinzipiell mit anderen Unterscheidungen konfrontiert werden, in sie können Unterscheidungen eingeführt werden (re-entry), sie können aber auch als Unterscheidungen einer bestimmten Art des Beobachtens identifiziert und von anderen Beobachtungslogiken unterschieden werden, worin die Pointe von Luhmanns Kritik der Dialektik besteht, die gerade die Potentialität des Kommunikationsprozesses durch die objektive Bestimmtheit limitiert. Dialektik setzt Grenzen, wo die Systemtheorie nur beobachtet, wie und welche Grenzen entstehen und aufgehoben werden. Die Unbestimmtheit im prozessualen Sinne ist Unbestimmtheit qua Unabschließbarkeit des permanent einen unmarked space produzierenden Beobachtungsprozesses. Darüber hinaus gebiert der Kommunikationsprozess neben der Unbestimmtheit qua Unabschließbarkeit die strukturelle Unbestimmtheit qua Unauflösbarkeit der Selbstreferenz in letzten Beobachtungen. Selbstreferenz konzipiert Luhmann sowohl historisch als auch strukturell. Historisch tritt sie innerhalb der negativen Anthropologie auf, die Luhmann auch die „Begleitanthropologie der bürgerlichen Revolution“ (Luhmann 1985: 106) nennt, in der die „Figur der Selbstreferenz ein Niveau begrifflicher Generalisierung erreicht, das das der Religion selbst einholt, wenn nicht überbietet“. (Ebd.) Für diese keineswegs bestimmungsfeindliche Anthropologie gilt, dass sie „durch einen Primat des Negativen und durch Selbstreferenz ausgezeichnet ist – also durch Unbestimmtheiten, die ihrerseits auf nähere Bestimmung angewiesen, für sie aber auch zugänglich sind“. (Luhmann 1980: 176) In der modernen Gesellschaft hat die Selbstreferenz sich normalisiert, es kommt nicht mehr primär auf bestimmte Angewiesenheitsverhältnisse an, sondern auf ihre Strukturlogik. Selbstreferenz heißt dann auch Normalisierung der Selbstbeobachtung des Systems, das in dieser Selbstbeobachtung sich selbst nicht durchsichtig wird, sondern strukturelle Unbestimmtheit erzeugt; was Luhmann an der nachfolgenden angeführten Stelle in Bezug auf das Erziehungssystem sagt, gilt für das Kommunikationssystem allgemein:
„Aus allgemeinen erkenntnistheoretischen Gründen gehen wir davon aus, daß jede Beobachtung und Beschreibung eine Unterscheidung zugrunde legen muß. Um etwas bezeichnen (intendieren, thematisieren) zu können, muß sie es erst einmal unterscheiden können. Unterscheidet sie etwas von allem anderen, bezeichnet sie Objekte. Unterscheidet sie dagegen etwas von bestimmten (und nicht von anderen) Gegenbegriffen, bezeichnet sie Begriffe.“ (Luhmann 1995: 26) „Insofern ist Beobachtung immer (und auch dann, wenn dies nicht mitbeobachtet wird) Operation eines beobachtenden Systems. Sie kann nicht als singulares Ereignis stattfinden; oder genauer: wenn solche Ereignisse stattfinden, sind sie nicht als Beobachtungen beobachtbar.“ (Luhmann 1997: 100)
3.1 Einleitung und Bemerkungen zum Diskussionsstand
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Da das System sowohl operativ geschlossen als auch selbstreferentiell operiert, erzeugt es eine interne strukturelle Unbestimmtheit und einen Überschuß an Beobachtungsmöglichkeiten psychischer Systeme, die schon bei wenigen Teilnehmern nicht mehr integriert, geschweige denn durch soziale Operationen, also durch Kommunikationen kontrolliert werden. (Luhmann 2002: 104)
Auch beobachtungslogisch tritt strukturelle Unbestimmtheit nicht nur auf, sondern wird durch Beobachtungen erzeugt und zugleich dadurch gesteigert, dass der Beobachter sich selbst nicht unmittelbar beobachten kann, sondern nur sein Beobachten, indem er die Einheit der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung prozessiert, also zur Beobachtung von Beobachtung eine Beobachtung erzeugt: Der Beobachter selbst und sein Beobachten bleiben unbeobachtet, und es ist auch nicht nötig, daß der Beobachter sich selbst von dem unterscheidet, was er beobachtet. Das ändert sich aber, wenn es zur Beobachtung zweiter Ordnung kommt, sei es durch denselben, sei es durch einen anderen Beobachter. Dann wird bezeichnet, daß die Beobachtung als Beobachtung stattfindet, daß sie eine Unterscheidung benutzen muß und gegebenenfalls: welche Unterscheidung. Damit stößt der Beobachter zweiter Ordnung auch auf die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung. (Luhmann 1997: 102)
Selbstbeobachtung bedeutet dann nicht die Erzeugung von Selbsttransparenz, auch nicht der Durchsichtigmachung der Beobachtung durch den Beobachter selbst, für dessen Beobachtungen gilt, was für ihn selbst gilt: dass sie nur in Beobachtungen zugänglich werden. Wo er sich selbst durchschauen will, erzeugt er einen unmarked space, er zerteilt notgedrungen noch die Beobachtung, die idealiter ungeteilt das Unteilbare erfassen soll.⁹⁸ Selbstreferenz bedeutet grundsätzlich, durch Bestimmung strukturell Unbestimmtheit zu erzeugen und erzeugen zu müssen. Doch weder die historisch-soziologische Unbestimmtheit dessen, was Luhmann als negative Anthropologie bezeichnet, noch die beobachtungslogische strukturelle Unbestimmtheit zielen auf eine Wesensunbestimmtheit, sondern auf eine prozessuale Unbestimmtheit, d. h. auf Unbestimmtheit als Moment wie als Resultat von Beobachtungs- und Kommunikationsprozessen, die Unbestimmtheit durch Bestimmung und Bestimmtheit erzeugen. Auch Luhmanns Beobachtungslogik kennt also den Skeptizismus einer abstrakt-negativen Anthropologie nicht, die Bestimmung und Analyse, letztlich Anthropologie, durch eine apodiktische Unbestimmtheitsrhetorik ersetzt.
In Luhmanns Worten: „Für das Beobachten zweiter Ordnung wird mithin die Unbeobachtbarkeit des Beobachtens erster Ordnung beobachtbar – aber nur unter der Bedingung, daß nun der Beobachter zweiter Ordnung als Beobachter erster Ordnung seinerseits sein Beobachten und sich als Beobachter nicht beobachten kann.“ (Ebd.: 102)
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d) Plessner Anders als Luhmann hat Plessner die sprachliche Bestimmung nicht als selbstreferentiellen Prozess aufgefasst, sondern im Rahmen der Logik des Organismus-WeltVerhältnisses. Der Operationalismus der Sprache ist bei Plessner daher eher pragmatischer Art, zugleich aber spielt das Prinzip der Adäquation zwischen Begriff und Anschauung eine tragende Rolle. Insofern lässt sich sagen, dass in Plessners sprachphilosophischen Überlegungen seine naturphilosophische Orientierung und seine Kantische Prägung ineinandergreifen. Plessner hat den linguistic turn wahrgenommen und 1966 mit seinem Essay Das gegenwärtige Interesse der Philosophie an der Sprache darauf reagiert, ohne allerdings die Sprachphilosophie als Herausforderung seiner Philosophischen Anthropologie anzusehen. Der Grund dafür mag darin zu finden sein, dass die sprachanalytische Philosophie seiner Ansicht nach nichts Neues zu bieten hatte: „Eine gerade Linie von Locke über Hume zur Wiener Schule und ihren letzten Vertretern läßt sich in der linguistic analysis ziehen.“ (PGS 9: 387) Doch wichtiger als seine Bewertung der sprachanalytischen Philosophie ist die geistige Wahlverwandtschaft zwischen der Sprachanalyse und der Phänomenologie, die Plessner artikuliert: Linguistic analysis und Phänomenologie glauben beide an ein Naturrecht der Sprache. Beide wollen es in seiner Reinheit wiederherstellen. Die analytische Schule durch Befreiung von den vexatorischen Effekten eines unkontrollierten Sprachgebrauches und Abbau aller daraus entstandenen Philosophien idealistischer, materialistischer usw. Version. (Ebd.: 389)
Plessners Bezugspunkt in dieser Passage ist Heidegger, doch dieser spezifische Bezug verdeckt leicht das Eigenrecht des Ausdrucks „Phänomenologie“ in dieser Passage sowie Plessners phänomenologische Wurzeln. Ein „Naturrecht der Sprache“ als solches bestreitet Plessner nämlich nicht, und dieser Ausdruck zielt im Effekt auf nicht weniger als einen Begriffsrealismus, ohne dass Plessner mit einem solchen zugleich einen epistemologischen naiven Realismus einführen müsste. Das „Naturrecht der Sprache“ ist gerade nicht autochthon, denn gemäß dem Wortsinn des Ausdrucks „Phänomenologie“ leitet es sich von der Anschauung bzw. von der Anerkennung der Legitimität der Anschauung als Quelle von Erkenntnis her. Worin Plessner sich von Heidegger sowie von der orthodoxen Phänomenologie im Festhalten an der Phänomenologie unterscheidet, ist die Verquickung des Naturrechts der Sprache mit der Pflicht, über die Sprache hinaus zu einer ursprünglichen Wahrheit zu gelangen: „Die phänomenologische Schule glaubt zwar an keine Gesundung, aber auch sie will den Schutt der Sprache wegräumen und zu den verdeckten Anfängen zurück.“ (Ebd.) Wogegen Plessner sich richtet, sind Sprachverklärung (Heidegger) und Sprachverarmung (Sprachanalyse),⁹⁹ nicht das Naturrecht der Sprache, sofern damit ein Analogon
„Die Fixierung auf die Sprache als das Haus des Seins – ein Erbe der phänomenologischen Methode insofern, als sie durch die Bedeutung der Worte an die Sache selbst kommen will – ist das
3.1 Einleitung und Bemerkungen zum Diskussionsstand
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der „Umweltintentionalität des Leibes“ (PGS 7: 122) gemeint ist, das In-sich-selbst-aufetwas-gerichtet-sein der Sprache. Auf direktem Wege lässt sich bei Plessner wenig ausmachen, was sich als sprachphilosophisch im engeren Sinn bezeichnet lässt; die meisten seiner Ausführungen zur Sprache sind sprachanthropologischer Art und gelten der Sprache als Ausdrucks- oder Kommunikationswerkzeug, ihrer Situiertheit und Rolle im sozialen Leben und der Lebensführung. Dennoch finden sich bei Plessner Passagen, die die obige indirekte Lesart stützen. In den Stufen heißt es: Sie [die Anschauung, S. E.] mutet also dem reell artfweisbaren Phänomenbestand zu viel zu, indem sie ihn als das anspricht, was er (‚in Wahrheit‘) noch nicht ist. Vom Standpunkt einer Adäquation zwischen begrifflich-cognitiver und anschaulicher Bestimmtheit mag das unhaltbar sein, vielleicht hatte auch Hegel Unrecht, daß er gegen dieses statische Adäquationsprinzip und für das dynamische Partei nahm. Deskriptiv aber sah er richtig. (SOM: 88)
Ob statisch oder dynamisch – das Prinzip der Adäquation zwischen Begriff und Anschauung wird von Plessner nicht in Frage gestellt. Die Bestimmtheit des Begriffs wird damit strikt an die Anschauung gebunden, ohne dass der Begriff dieselbe bloß bebilderte. Dieser Unterschied begründet den zwischen der syntagmatischen Sprache und ihren nur künstlich isolierbaren Elementen: „Nicht alle Elemente der Sprache präzisieren syntagmatisch. Worte meinen, indem sie als Namen benennen oder als Begriffe bedeuten.“ (PGS 3: 168) Doch Worte bedeuten gerade deshalb, weil sie in einem syntagmatischen Gefüge mehr tun als nur benennen. Die syntagmatische Sprache tut gerade, wozu ihre Elemente als solche nicht in der Lage sind; sie „sagt aus und stellt dar. Sie ist also immer auf Sachverhalte bezogen, denen Worte und Wortverbindungen zugeordnet sind.“ (PGS 8: 173) Diese Sachverhalte sind keine sprachlich abgebildeten Anschauungen, doch die Sprache bleibt teleologisch auf sie verwiesen; die Sprache unterscheidet Plessner insofern von einem rein symbolischen oder logischen¹⁰⁰ Zeichensystem. Plessner fasst dieses unaufhebbare Verwiesensein der Sprache auf die Sphäre der Anschauung im Begriff der Intention. Die Intention der Sprache auf Anschauung ist zu unterscheiden von der inneren Beziehung zwischen dem Zeichen als solchem und der Anschauung: „Soweit Sprache Bedeutungen anzeigt, kann es eine innere Beziehung zwischen der Natur des Zei-
ontologische Gegenstück zur Liquidationstechnik aller metaphysischen Fragen mit Hilfe der Linguistic Analysis.“ (PGS 8: 246) „Ihre Zusammengehörigkeit aber zu einem Syntagma verhindert es, daß beide Reihen beziehungslos nebeneinanderliegen und von den ewigen Formen der Logik zu den zeitlichen Formen der Grammatik keine Brücke führt. Auf diese Art vermeidet die Analyse eine Verabsolutierung der Sprache durch ihre Unterstellung unter logische Normen ebenso wie eine Relativierung des Denkens durch seine Unterordnung unter grammatische Regeln und linguistische Gesetze. Die einheitlich ursprüngliche, syntagmatische Gliederung des Bedeutens bedingt jene von W. v. Humboldt zum Zentrum des Sprachgeistes gemachte innere Sprachform, von der Denkweise, Anschauungsweise und Ausdrucksweise gleichmäßig abhängen und ganz durchdrungen sind.“ (PGS 3: 168)
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
chens und dem, was es bezeichnet, nicht geben; denn das Zeichen muß in seiner Funktion absolut indifferent sein.“ (PGS 3: 244) Natur und Funktion des Zeichens sind vom zeichenvermittelten Ausdruck zu unterscheiden, der erst dann als indifferent erscheinen kann, wenn man ihn künstlich aus dem pragmatischen Strom des Lebens isoliert. Wenn Plessner das Adäquationsprinzip nicht verwirft, dann tut er dies nicht, weil die Adäquation eine am Reißbrett vorgenommene Abbildung von direkt beobachtbaren Umgebungssachverhalten wäre, sondern weil sie vielmehr das pragmatische Äquivalent der Erfüllung der objektiv-phänomenologisch verstandenen Intention im Sprachgebrauch darstellt: Realisierung und Erfüllung einer Intention heißt Brechung ihres Strahls in einem ihr fremden Medium. Daß sie daran nicht zerbricht, obwohl die Ablenkung zum voraus nicht bekannt ist und nicht errechnet werden kann, zeigt sie als der Wirklichkeit gewachsen. Eine Sprache – könnte nichts sagen. Die Brechbarkeit der Intentionen als Bedingung ihrer Erfüllbarkeit, diese ihre Elastizität ist es, welche der Grund ihrer Differenzierung in verschiedene Sprachen, ihrer Selektion in individuelle Typen ist, gibt die Gewähr für ihre Wirklichkeitskraft und mögliche Wirklichkeitstreue. (SOM: 340 f.)
Das Verhältnis von Intention und Medium lässt sich ohne die Adäquation nicht verstehen, weil die Adäquation deren jeweilige Nicht-Selbstgenügsamkeit und Wirklichkeitsbezogenheit prinzipiell artikuliert. Die Intention bricht sich im Medium, sie wandert nicht in dieses ein, um dort ihre Abbildung zu finden; Sprache als Medium ist nicht operativ geschlossen, sie kann also nach Plessner nicht als autopoietischer und operativ geschlossener Zeichenprozess konzipiert werden. Die Wirklichkeit fungiert in dem angeführten Zitat als Äquivalent der weiter oben angeführten „anschaulichen Bestimmtheit“ (vgl. SOM: 88), sie ist in der Sprache pragmatisch präsent, weshalb die Sprache sich „als der Wirklichkeit gewachsen“ (Ebd.: 341) erweisen kann, aber auch soll, und wo sie das tut, koinzidieren die Bestimmung im Ausdruck und die adäquate Bestimmtheit des Ausdrucks. Dass die Adäquation eher pragmatischer als deskriptiver Art ist, zeigt sich an anderer Stelle: „Sprache überträgt, schiebt sich an Stelle von etwas, ist das repräsentierende Zwischenmedium in dem labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und Welt.“ (PGS 8: 177) Nichts bringt den pragmatischen Charakter der Adäquation von Kognition und Wirklichkeit klarer zum Ausdruck als Plessners metaphorische Gleichsetzung der Sprache mit „Hand und Auge in einem“. (Ebd.) Die Adäquation ist keine kognitivistische, gleichwohl sie kognitiv erfüllt sein muss, damit ihre Formung von Welt den objektiven Möglichkeiten derselben entspricht. Plessners Sprachverständnis ist ein prinzipiell pragmatisches, aber kein rein pragmatisches, weil die Sprache der Wirklichkeit kognitiv verpflichtet bleibt und diese Verpflichtung weder in einem deskriptivistischen Instrumentalismus von Zeichen und Wirklichkeit noch in einem die Autarkie des Mediums ausrufenden Vulgärkonstruktivismus übersprungen wird. Plessners Sprachverständnis unterscheidet sich markant von dem Hegels, Adornos und Luhmanns durch die pragmatische Ausrichtung, hält aber auch an der Bestimmung als quintessentieller Tätigkeit des Sprachgebrauchs fest und verankert
3.2 Der zeitgeschichtliche Rahmen von Plessners Denken
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diese qua Prinzip der Adäquation von Begriff und Anschauung in einem Verständnis von Bestimmtheit, das dieses Prinzip wiederum trägt.
3.2 Der zeitgeschichtliche Rahmen von Plessners Denken Plessners Philosophische Anthropologie ist weder vom Himmel gefallen, noch stellt sie als Anthropologie eine singuläre Antwort auf die Fragen ihrer Zeit dar. Über Plessners Hinweis hinaus, dass jede Zeit ihr erlösendes Wort finde und die seinige im Begriff des Lebens den Kristallisationspunkt ihrer denkerischen Anstrengungen finde – eine Aussage, die Heideggers wie Plessners Stufen des Organischen 1928 erschienenes Werk Sein und Zeit praktisch über Nacht zu Makulatur hat werden lassen¹⁰¹ –, lassen sich diskursive Konstellationsmomente benennen, die das direkte systematische Umfeld von Plessners Denken bestimmen. Max Schelers im letzten Kapitel thematisierte Anthropologie war keineswegs der einzige anthropologische Entwurf der 1920er Jahre, wie er auch nicht der elaborierteste war. Hedwig Conrad-Martius, Schülerin Husserls und mit Scheler wie mit Plessner bekannt, hat bereits 1921, also noch vor Scheler (vgl. Fischer 2008: 23), mit ihren Metaphysischen Gesprächen systematische Schritte in Richtung einer Philosophischen Anthropologie vollzogen – ohne eine solche jemals entwickelt und ausformuliert zu haben.¹⁰² Edith Stein, die mit Plessner zeitweise eng privat verkehrte,¹⁰³ hat unter dem Einfluss von Conrad-Martius, Scheler, Heidegger und Thomas von Aquin Anfang der 1930er Jahre eine Philosophische Anthropologie ausgearbeitet (vgl. Edinger 2017), die in der Philosophie bis heute wenig Beachtung gefunden hat. Scheler war die öffentlichkeitswirksamste Figur in der Formierungsphase der Philosophischen Anthropologie, aber nicht die einzige treibende Kraft. Doch Plessners Bezugspunkte in den Stufen bilden nicht Scheler, Conrad-Martius oder Stein, auch nicht primär Neukantianer wie Heinrich Rickert oder Wilhelm Windelband, sondern vor allem Oswald Spengler, Henri Bergson und Hans Driesch. Während dies im Falle Bergsons und Driesch direkt naheliegt, ist Spengler ein verzwickterer Fall, da er noch die Suprematie des Kulturbegriffs, die auch zur Zeit des Ersten Weltkriegs das damals einflussreiche Schrifttum beherrschte (vgl. Flasch
Plessners häufig zitierter Satz aus seiner biographischen Selbstdarstellung, „Heideggers Wirkung überstrahlte alles“ (PGS 9: 302), ist auf den den Anfang der Stufen anzuwenden, wo es heißt: „Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort. Die Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts kulminiert in dem Begriff der Vernunft, die des neunzehnten im Begriff der Entwicklung, die gegenwärtige im Begriff des Lebens.“ (SOM: 3) Der Lebensbegriff ist kurz darauf vom Seinsbegriff verdrängt worden, worauf Plessner noch kurz vor seinem Tod antwortet, indem er den Lebensbegriff noch einmal explizit gegen Heidegger in Anschlag bringt. Vgl. PGS 8: 388 ff. Vgl. dazu ausführlicher, auch zum Verhältnis von Conrad-Martius zu Edith Stein und Plessner im Bezug auf die Philosophische Anthropologie Edinger 2017. Vgl. Stein 2002: 253 f.
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2000), repräsentiert, tradiert und vertieft hat. Heinrich Rickert verortet Spengler zwar nicht im Zentrum der Lebensphilosophie, ordnet ihn ihr allerdings als Denker zu, der von ihren Tendenzen und von der selben ideologischen Schubkraft erfasst worden ist. (vgl. Rickert 1920: 18 und 32) Rickerts Einschätzung ist insoweit philologisch untermauerbar, als Spengler in Der Untergang des Abendlandes die Welt selbst wie auch die Hochkulturen¹⁰⁴ und die Künste¹⁰⁵ explizit als Organismen versteht. Die Auffassung der „Welt als Organismus“ (Spengler 2003: 35) fundiert Spenglers gesamte Methode in ihrer physiognomischen Ausprägung. Spengler stützt sich dabei grundlegend auf Goethe zur Verklammerung der Organismusmetapher mit dem strikt anti-mechanistischen Geschichtsbegriff, demzufolge Geschichte ein Organismus und gerade kein System sei: „Ich erinnere an Goethe. Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird.“ (Ebd.) Bereits Goethe habe durch seinen gleichermaßen physiognomischen wie divinatorischen Blick¹⁰⁶ das Vorbild der Geschichtsforschung gegeben – nach Spengler die Mittel zur Ausformulierung einer solchen –, obwohl der Goethe‘sche Blick gerade eine intransitive Individualität bleiben muss, auch wenn diese physiognomisch porträtierbar sein mag: Jede Zeile, die er als Naturforscher schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, ‚geprägte Form, die lebend sich entwickelt‘, vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen,Vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie – das waren seine Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. (Ebd.)
Der Begriff der „Mittel der Geschichtsforschung“ ändert sich damit in einer aristokratischen, den nüchternen und emsigen Arbeiter aus derselben exkludierenden Weise, da der von Spengler geforderte Blick „über die Anlagen des Systematikers weit hinausgehend das Auge eines Künstlers“ (Spengler 2003: 208) voraussetzt. Spengler vollzieht von Goethe her eine mimetische Spiegelung von Geschichte und Geschichtsbild, die beide als Organismen aufgefasst werden; das Geschichtsbild ist ein Organismus, der dem realgeschichtlichen Organismus eine physiognomisch-bildhafte Widerspiegelung verleiht: Der Organismus eines reinen Geschichtsbildes, wie es die Person Plotins, Dantes und Brunos war, wird angeschaut, innerlich erlebt, als Gestalt und Sinnbild aufgefaßt, zuletzt in dichterischen und
Zur Abgrenzung der Hochkulturen, die Organismen bilden, von den primitiven Kulturen, die eine chaotische Vorstufe derselben darstellen, vgl. Spengler 2003: 596. „Wir haben endlich Künste als Organismen erkannt, die in dem größeren Organismus einer Kultur ihre bestimmte Stellung einnehmen, geboren werden, reifen, altem und für immer sterben.“ (Spengler 2003: 361) Spengler kennzeichnet zwar seine Methode zwar durchweg als physiognomische, vermeidet aber den Begriff des Divinatorischen vollständig, womöglich aus seiner Abneigung gegen die Frühromantik heraus.
3.2 Der zeitgeschichtliche Rahmen von Plessners Denken
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künstlerischen Konzeptionen weitergegeben. Goethes ‚lebendige Natur‘ ist ein historisches Weltbild. (Ebd.: 75)
Was Spengler über Geschichte sagt, gilt genauso für Hochkulturen, die ebenfalls als Organismen aufgefasst werden: „Hohe Kultur ist das Wachstum eines einzigen ungeheuren Organismus, der nicht nur Sitte, Mythos, Technik und Kunst, sondern auch die ihm einverleibten Völker und Stände zu Trägern einer einheitlichen Formensprache mit einheitlicher Geschichte macht.“ (Spengler 2003: 596) Die Organismusmetapher wird von Spengler konsequent zu Ende gedacht, d. h. die Kulturen zeichnen sich nicht nur durch Wachstum aus, sondern das Wachstum ist das Reifen von Vergänglichem im Sinne der Sterblichkeit; sie entwickeln sich und altern, indem sie dies tun. Was für die Künste als Organismen im selber organismisch verstandenen Biotop der Kultur gilt, gilt transitiv und mutatis mutandis auch für die Hochkulturen selbst: Sie bilden den ontogenetischen Vitalzyklus ab, sie wachsen, reifen, altern und sterben: „Wir haben endlich Künste als Organismen erkannt, die in den größten Organismus einer Kultur ihre bestimmte Stellung einnehmen, geboren werden, reifen, altern und für immer sterben.“ (Spengler 2003: 361) Spengler behält den zum Jahrhundertbeginn äußerst wirkmächtigen Kulturbegriff bei und synthetisiert kulturphilosophische mit lebensphilosophischen Tendenzen. Cassirers Unterscheidung zwischen Substanz- und Funktionsbegriff, wie dieser sie 1910 in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (Cassirer 1990) entfaltet, dürfte Spengler – eine explizite Bezugnahme auf Cassirer fehlt an den Stellen, die dies nahelegen – bekannt gewesen sein, und er greift sie auf, indem er sie, typologisch gesprochen, gemäß der Unterscheidung zwischen intuitiver Substanzerkenntnis und analytischer Funktionserkenntnis durchführt. Spenglers „Morphologie der Weltgeschichte“ leistet etwas Entscheidendes nicht, was Plessner in den Stufen als Desiderat einer Wissenschaft formuliert, „welche die Erfahrung des Menschen von sich, so wie er lebt und sein Leben geschichtlich verzeichnet, sich und der Nachwelt zum Gedächtnis, begreift“ (SOM: 27): Sie enthält keine Philosophie des Menschen als Person, die Plessner zufolge nur als Philosophische Anthropologie durchführbar sei; daher „bleibt sie Geschichtsphilosophie oder Kulturphilosophie“ (ebd.), unfähig, „Dinge, die verschiedenen Erfahrungsstellungen zugeordnet sind, […] von Einer Erfahrungsstellung aus übersehen zu können“. (Ebd.: 28) Einen gewichtigen Schritt in diese Richtung unternimmt Henri Bergson. Was Bergson mit Spengler über alle Unterschiede hinweg eint und was in Bezug auf Plessner wichtig ist, ist, dass sein Philosophieren nicht aus der systematischen Aneignung der Phänomenologie hervorgegangen ist. Bergson war mit der Phänomenologie nicht vertraut, seine philosophische Ausrichtung ergibt sich aus der Konfrontation mit dem mechanistischen Rationalismus im Allgemeinen, nicht aus der Auseinandersetzung mit einzelnen philosophischen Ansätzen; er antwortet primär auf einen wissenschaftlich unterfütterten Zeitgeist und nur sekundär auf diese oder jene Position. Eine der Positionen, auf die er in einer geradezu exemplarischen Art
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antwortet, ist die Kants, weshalb Bergsons Kantkritik kurz skizziert werden soll, um zu zeigen, wie Plessners Transformation der Phänomenologie auf Bergsons Lösungsversuch der Idealismus- und Realismus-Problematik antwortet. In Bergsons Perspektive ist Kants Philosophie bereits eine Variante dessen, was man heute Analytische Philosophie nennen würde. Kant setzt Bergson zufolge die analytische Zergliederbarkeit des zu Analysierenden bereits als Prinzip der Analyse voraus, wodurch er das movens analytischer Aktivität überspringt. Bergson zufolge handelt es sich bei diesem movens um eine Quelle, die dem einfachen Akt der Analyse nicht vorausgeht und nicht innerhalb der Erkenntnis vor die analytische Erkenntnis zurückgeht, um einen ihrem Paradigma entsprechenden kognitiven Ursprung zu benennen, sondern um einen Akt, der alle Akte von Erkenntnis selbst noch trägt und in ihnen pulsiert: „Aber der einfache Akt, der die Analyse in Bewegung gebracht hat und sich hinter der Analyse verbirgt, fließt aus einer ganz anderen Fähigkeit als der des Analysierens. Der Definition nach ist es die Intuition.“ (Bergson 1993: 208) Die Bergson‘sche Intuition steht jenseits der Erkenntnis im Kantischen Sinne, und zwar auf zwei Seiten jenseits derselben: vor der Erkenntnis als ihre toto genere verschiedene Antriebsquelle¹⁰⁷ und jenseits der Erkenntnis als das, was die Kantische Erkenntnis nicht fassen kann, da sie die Erkenntnis idealistisch einhegt und in dieser Einhegung als System von Relationen auffasst. Der Kantische Idealismus hat in Bergsons Analyse einen doppelten Boden: Der Idealismus ist zwar ein solcher, doch ihm eingelagert ist ein Realismus, und zwar einer, der über Kants Begriff ‚empirischer Realität‘ von Erscheinungen hinausgeht. In lapidarer Kürze gibt Bergson die folgende Skizze der Grundlinien von Kants Erkenntnistheorie: [D]er menschliche Geist soll seine Form einer ungeordneten ‚sinnlichen Mannigfaltigkeit‘ aufprägen, die, man weiß nicht woher, kommt; die Ordnung, die wir in den Dingen finden, würde also nur von uns in sie hineingelegt werden, sodaß also die Wissenschaft gerechtfertigt wäre, aber nur um den Preis ihrer Relativität im Hinblick auf unser Erkenntnisvermögen. (Bergson 1993: 82)
Mit der „Relativität“ der Welt „im Hinblick auf unser Erkenntnisvermögen“ wird das entscheidende Problem benannt, an dem Bergson in seiner Kritik an Kant ansetzt. Die Relativität der Erkenntnis begründet den Idealismus, Relativität ist das Produkt der Vermittlung der Welt in der Erkenntnis als der Sphäre der Idealität. Bergson verwendet verschiedene Begriffe wie ‚Geist‘, ‚Vernunft‘, ‚Bewusstsein‘ und ‚Intellekt‘ in seiner Kant-Kritik in einer Weise, die einen Kant-Forscher schwerlich wird befriedigen kön Weil Bergson die Sphäre des engeren Erkentnnisbegriffs sprengt, kann er gegen Idealismus und Realismus klassischer Prägung gleichermaßen gerichtet sagen, diese hielten „die elementaren Geistesvorgänge,Wahrnehmung und Gedächtnis, für Vorgänge der reinen Erkenntnis“ (Bergson 1908: 239), das Entscheidende dabei verkennend: „Nun man kann zweifellos ein teilnahmloses Gedächtnis und eine teilnahmlose Wahrnehmung als eine ideale Grenze gelten lassen, aber in Wirklichkeit sind Wahrnehmung und Gedächtnis auf die Handlung gerichtet, und diese Handlung ist es, welche der Körper vorbereitet.“ (Ebd.: 240)
3.2 Der zeitgeschichtliche Rahmen von Plessners Denken
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nen, doch gemeint ist in allen Fällen, dass der Immanenzbereich von Erkenntnis im operativ-kognitiven Sinne einerseits mit dem Immanenzbereich von Idealität koinzidiert und dass andererseits für ihr wie auch immer genanntes Organ gilt, was Bergson zufolge eine Kantische Bestimmung des Intellekts darstellt, nämlich „vorzüglich ein Vermögen der Stiftung von Beziehungen“ (Bergson 1912: 360) zu sein. Damit ist die Idealität ein Ganzes von Relationen, das selbst wiederum in Relation zu einem ihr letztlich unzugänglichen, aber ihre immanente Gegenständlichkeit bestimmenden Außerhalb steht. Bergson zufolge ergibt sich für das Verhältnis des Geistes zur Welt unter den Voraussetzungen des Idealismus (und des Realismus gleichermaßen) folgendes: „1. zwischen den verschiedenen Qualitäten gibt es nichts Gemeinsames; 2. es ist auch nichts Gemeinsames zwischen der Ausdehnung und der reinen Qualität.“ (Bergson 1908: 223) Die idealistische Aporie ist ein Problem mangelnder Gemeinsamkeit, denn dieses Problem wäre als gelöst zu betrachten (außer man stellt geradezu metaphysische Identitätsanforderungen), wenn ein Übergang zwischen der idealistischen Immanenz und der transzendenten Wirklichkeit intelligibel wäre, doch gerade in dieser Unmöglichkeit des Übergangs besteht für Bergson die Aporie des Kantischen Denkens. Wo ein Übergang nötig wäre, erfolgt lediglich eine Brechung, die zugleich eine Überformung darstellt: „Nur daß diese Materie [der Wahrnehmung, S. E.] in allem, was an ihr verständlich ist, unser Werk bleibt: von der Realität an sich wissen wir nichts und werden wir nie etwas wissen, da wir sie nur in ihrer Brechung durch die Formen unseres Wahrnehmungsvermögens ergreifen.“ (Bergson 1912: 209) An einer anderen Stelle macht Bergson explizit „in dem Übergange von der Sinnlichkeit zum Verstande“ (Bergson 1908: 239) die grundlegende Aporie des „Kantischen Idealismus“ (ebd.) aus. Doch nicht nur das Problem des Übergangs bleibt ein ungelöstes, Kants Terminologie selbst erzeugt nach Bergson ein entscheidendes Problem: Sinnlichkeit und Wahrnehmungsvermögen sind Momente von Erfahrung (ihr subjektiver Widerpart der Schematismus des Verstandes und die Erfahrung logifizierende Rationalität), aber weder mit Erfahrung selbst gleichzusetzen noch ein mögliches konzeptionelles Substitut derselben. In Bergsons Kant-Kritik taucht das Problem der Erfahrung gar nicht als ein Problem Kants auf. Für Kant im Speziellen gilt daher, was Bergson gegen die klassische Metaphysik allgemein formuliert: Sie gab vor, die Erfahrung zu überschreiten, in Wirklichkeit setzte sie nur an die Stelle der lebendigen und vollen Erfahrung, die einer wachsenden Vertiefung fähig ist, einen festen, trockenen, entleerten Extrakt, ein System allgemeiner abstrakter Ideen, die aus dieser selben Erfahrung oder vielmehr aus ihren oberflächlichsten Schichten abstrahiert worden waren. (Bergson 1993: 28)
Das Problem lässt sich nur lösen, „indem man durch eine willkürliche Hypothese irgend eine prästabilierte Harmonie zwischen den Dingen und dem Geiste, oder wenigstens, um mit Kant zu reden, zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand annimmt“ (Bergson 1908: 13). Das Resultat wäre das, was Bergson einen „Kantschen Realismus“ (Ebd.: 43) nennt, dessen Aporie wiederum darin besteht, die Sinnlichkeit als in die Sphäre der Idealität gleichsam mit einem Zauberschlag gelangtes factum
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
brutum akzeptieren zu müssen: „Zieht man den Kantschen Realismus vor, so findet man zwischen dem Ding an sich, d. h. dem Wirklichen, und der sinnlichen Mannigfaltigkeit, aus der sich unsere Erkenntnis aufbaut, keine begreifliche Beziehung, keinerlei gemeinsamen Maßstab.“ (Bergson 1908: 243) Plessner hat Bergson aufmerksam gelesen und war sich dessen bewusst, dass Idealismus und Realismus in allen ihren Varianten von den Aporien des Übergangs zwischen Idealem und Realem und von deren Inkommensurabilität in der Erkenntnis umstellt waren. Plessners frühe Kant-Prägung ist durch Bergson in der Weise verändert worden, dass an die Stelle des Erkenntnisbegriffs, der Kant mit Husserl als gemeinsames denkerisches Gravitationszentrum verbindet, der Erfahrungsbegriff getreten ist, dem gerecht zu werden – entgegen einer landläufigen Intuition, die Erkenntnis für objektiver als Erfahrung zu halten geneigt sein dürfte – von Plessner eine methodische Transformation der Phänomenologie in eine objektive Phänomenologie verlangt hat.¹⁰⁸ Doch Plessner musste auch gegenüber Bergson eine methodische Eigenständigkeit erlangen, da Bergson einerseits den Begriff der Intuition immer noch an den des Bewusstseins bindet,¹⁰⁹ nur eben nicht an ein Bewusstsein, welches das der reinen Intelligenz ist, und andererseits die Gattung der Metaphysik bloß erweitert um eine „Metaphysik, die an die Intuition appelliert“ (Bergson 1993: 97). An einer Analyse der Erfahrung setzt Plessner ebenfalls in lebensphilosophischer Absicht an, allerdings um als Grundlage seiner Strukturanalyse personaler Erfahrung zunächst eine negative „Ontologie des Organischen“ (PGS 5: 227) zu entwickeln, womit ich in anderer Weise das bezeichne, woraus sich, so Plessner, eine neue Lebensphilosophie zu entwickeln beginnt; eine Lebensphilosophie freilich nicht intuitionistischer und nicht erfahrungsfeindlicher Art, die unter dem Aspekt der Geisteswissenschaften und der Geschichte eine vollkommene Revolution der Begriffe vom Dasein in allen seinen Sphären erzwingt und dadurch den Weg weist, den Menschen als geistig-sittliche und als natürliche Existenz auf Grund einer Erfahrungsstellung zu begreifen. (SOM: 14)
Die methodische Grundlage dieser negativen Ontologie des Organischen und damit der Strukturanalyse personaler Erfahrung bildet Plessners objektive Transformation der Phänomenologie. Eine ausführliche Analyse dieser Transformation findet sich in meinem Buch Das Politische in der Ontologie der Person (Edinger 2017); im Folgenden wird kurz und weitaus weniger technisch umrissen, in welcher Weise Plessners phänomenologischer Ansatz seine negative Ontologie des Organischen fundiert.
Vgl. Edinger 2017: 213 ff. und 244 ff. „Intuition bedeutet also zunächst Bewußtsein, aber ein unmittelbares Bewußtsein, eine direkte Schau, die sich kaum von dem gesehenen Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Berührung und sogar Koinzidenz ist. Es ist zudem ein erweitertes Bewußtsein, das gleichsam die Schranken des Unterbewußten vorübergehend durchbricht und in rascher Folge von Erhellung und wiederkehrendem Dunkel uns dieses Unterbewußte inne werden läßt.“ (Bergson 1993: 44)
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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3.3 Plessners phänomenologische Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen 3.3.1 Die Grundlegung in Die Deutung des mimischen Ausdrucks Was kennzeichnet Plessners eine Erfahrungsstellung gegenüber anderen Perspektivierungen von Wirklichkeit? Plessner unterscheidet verschiedene Arten von einander dichotomisch gegenüberstehenden Erfahrungsstellungen, deren Aporien sein Ansatz vermeiden soll. Dabei handelt es sich zum Einen um die „Dualität der Erfahrungsstellungen, wie sie in beiden großen Disziplinen der Natur- und der Geisteswissenschaft zur Geltung“ (SOM: 13) gelangen, zum Anderen um die erkenntnistheoretischen Erfahrungsstellungen empiristischer und aprioristischer Positionen, die mit dem Idealismus und Realismus das Grundproblem teilen, dass sie „Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand“ (ebd.: 22) als einander gegenüberstehende erratische Blöcke konzipieren, die sie nicht in einer übergreifenden Perspektive zu betrachten vermögen, obwohl beide „demselben Leben der einen menschlichen Sphäre“ (ebd.) angehören. Plessners Kritik dieser Positionen bedarf hier keiner Rekapitulation, stattdessen möchte ich das Wesentliche von Plessners eigenem positivem Ansatz verständlich zu machen. Bereits in seiner mit Buytendijk verfassten Frühschrift Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925) befreit Plessner die Phänomenologie von ihrer idealistischen Erbschaft, deren Husserl Zeit seines Lebens nicht Herr zu werden vermochte, nämlich der Subjekt-Objekt-Spaltung, die oben als Gegenüberstellung von „Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand“ (SOM: 13) angesprochen worden ist. Statt einen Begriff oder eine begrifflich reifizierte Sphäre wie die der Subjektivität oder eine stipulierte Relation wie die von Subjekt und Objekt als Prinzip oder Ausgangspunkt anzusetzen, um sich von da aus um die Lösung der Probleme zu bemühen, die mit diesen Setzungen geschaffen werden, bemüht Plessner sich um eine diese Trennungen unterlaufende Deutung der Anschauung des mimischen Ausdrucks. Die Deutung der Anschauung ist keine Interpretation im inhaltlichen Sinne, sondern worum es Plessner geht, ist, zu zeigen, wie, d. h. von welchen Strukturbedingungen her, wir anschauen, was wir anschauen. Es geht, anders gesagt darum, des Anschauens selbst ansichtig zu werden, darum also, das Sehen der Anschauung strukturanalytisch zu entfalten. Die Analyse Plessners ist daher nur dem anschaulich Sehenden selbst verständlich, die Philosophie kann hier nur zeigen, doch das Zeigen bleibt abhängig vom Sehen des Sehenden, der Plessners Zeigen zu folgen verstehen muss; jemandem etwas zeigen beinhaltet nie, ihn sehen machen oder für ihn sehen können, sondern allenfalls im maieutischen Sinne: ihn sehen lassen, ihm zum Sehen verhelfen. Es geht also auch nicht um das, was Heidegger „sich zeigen von etwas als etwas“ (Heidegger 1967: 29) nennt, erst recht nicht im Verhältnis zu darin sich Verbergendem: „Dieses Sichzeigende (Phänomen im echten ursprünglichen Sinne) ist zugleich ‚Erscheinung‘ als meldende Ausstrahlung von etwas, was sich in der Erscheinung verbirgt.“ (Ebd.: 30) Worum es Plessner geht, ist: zeigen, welche Er-
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möglichungsstruktur des Anschauens im Anschauen des Anschauens selbst sichtbar gemacht werden kann. In der Deutung des mimischen Ausdrucks entfaltet Plessner in Weiterführung des Ansatzes von Scheler als zentrales Merkmal dieses Anschauens dessen psychophysische Indifferenz. Bei Scheler sind das Verhalten von Personen, deren geistige Akte und die Scheidung von Individuum und Umwelt gegen die Unterscheidung von psychischem Innerem und physischem Äußerem indifferent, nicht allerdings das Ausdrucksverstehen, und zwar deshalb nicht, weil Scheler die Frage nach dem Verstehen ‚des anderen Ichs‘ nicht systematisch gestellt hat; die Weiterentwicklung seines Ansatzes im Hinblick darauf durch Plessner und Buytendijk hat er im Vorwort zu Wesen und Formen der Sympathie explizit gewürdigt.¹¹⁰ Für Plessner besteht die weiterzuentwickelnde Leistung Schelers darin, „einen Weg gewiesen [zu haben], wie die verständnistheoretische Lösung zu erarbeiten ist, indem er das eigene und das fremde Seelische in prinzipiell gleicher Weise für zugänglich erklärt“. (PGS 7: 119) Die Kategorie des Ausdrucksverstehens existiert nämlich bei Scheler nicht (Scheler hat sie auch nicht nach der Lektüre von Plessners Schrift aufgegriffen und ihr Potenzial demgemäß nicht erkannt), sie bildet den Schlüssel zu Plessners Transformation der Phänomenologie. Plessner formuliert drei Verstehensleistungen, die zu vollbringen und in einer Theorie des Ausdrucksverstehen zu konservieren bzw. zu artikulieren sind: Drei Einsichten müssen erfüllt sein, damit das Problem gelöst werden kann: 1. die Gewißheit der Du-Form und der Du-Realität ist gleichursprünglich mit, weil gegensinnig zu der Gewißheit der Ich-Form, der Ichheit und der Ich-Realität; 2. die Leibhaftigkeit ist nicht nur die Seins-, weil Auffassungsweise des eigenen Körpers durch den sich erlebenden Menschen, sondern der Seinsund Auffassungsmodus der Körper in der Schicht des Verhaltens oder das psychophysisch indifferente ‚Schema‘, wonach Körperbilder von Subjekten füreinander und miteinander erst möglich sind; 3. die Schicht des Verhaltens ist eine Sphäre gegensinnig aufeinander bezogener, subjekt-objektiv, bildhaft-sinnhaft, psychophysisch indifferenter Gestaltcharaktere, in denen das Benehmen sich abspielt. (PGS 7: 125)
Diese Passage bedarf mehrerer Erläuterungen gemäß den einzelnen Punkten: (1) Die Gleichursprünglichkeit von Ich und Du meint keine Unmöglichkeit des Missverstehens von Ausdrucksverhalten, auch keine Deutungsunbedürftigkeit von Ausdrucksverhalten, sondern die Überflüssigkeit von Analogieschlüssen in der gelebten Situation, um des Anderen als eines ausdruckshaft existierenden ebensolchen ‚Anderen‘¹¹¹ gewahr zu werden. Ebenso untersteht das Ausdrucksverstehen in der
„Was die erkenntnistheoretische Frage der Erfassung und Annahme fremdseelischer Wirklichkeit betrifft, hat die beachtenswerte Abhandlung von H. Plessner und F.J.J. Buytendijk ‚Die Deutung des mimischen Ausdrucks, ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs‘ auf dem hier Dargebotenen instruktiv weitergebaut.“ (GW 7: 16) Plessner führt hier zwei, wenngleich sehr eindeutige, Beispiele aus dem tierischen Ausdrucksverhalten an, dessen Verständlichkeit unserem Ausdrucksverstehen nicht „exterritorial“ ist: „Daß die
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gelebten Situation nicht der künstlichen Nachträglichkeit einer scholastischen Theorie, die im Nachhinein und damit von außen ein primäres Ich in die gelebte Situation projiziert, das danach und von da aus das Verhalten eines Du als Wesen hinter einer kryptischen Fassade erschließt. Das Ausdrucksverstehen der scholastischen Theorie – darauf will Plessner hinaus – erzeugt ein in die gelebte Situation projiziertes Duplikat, das dem gelebten Ausdrucksverstehen nicht gerecht wird und dieses nicht einzuholen vermag. (2) Zur Leibhaftigkeit als Seins- und Auffassungsmodus: Plessner wendet sich gegen die „Bildertheorie“ des Verhaltens (und damit gegen Klages, vgl. PGS 7: 108 f.), die hinter den Bildern der Anschauung das Wesen des Ausdrucks oder die Seele sucht. Statt Ausdrucksgestalten als Bilder aufzufassen, die von Dahinterliegendem künden, geht Plessner vom Ausdrucksbild des Verhaltens selbst aus. Der entscheidende Satz lautet hier: „Im Ausdrucksbild erscheint der Sinn, und das Phänomen, die Gestalt wird selbst transparent, indem wir ihn verstehen.“ (Ebd.: 91) Das Auszudrückende liegt nicht jenseits oder „hinter“ dem Leib, sondern zeigt sich am Leib selbst und erscheint deshalb in ihm; die Annahme eines Dahinter ist überflüssig und macht das schlechthin Sichtbare vielmehr unsichtbar, indem es das Verstehen auf etwas umlenkt, was das Verständnis bestenfalls im refizierenden Sinne verdoppeln könnte. Das Ausdrucksbild selbst gibt die gesuchte Bedeutung; dass diese sich am Leib zeigt, heißt auch: Es zeigt sich nicht ein Ding, das wir als Leib erkennen und an dem wir danach weitere Eigenschaften ablesen oder von dem her wir zu einem Jenseits desselben vordringen; mit dem Leib als Ausdrucksbild ist gegeben, was an ihm erscheint (und was weder als sein jenseits des Ausdrucksbildes liegendes Wesen, noch als nachträglich erst zu deutende Entität im lebendigen Sinne verstehend gegeben sein kann). (3) Die „Schicht des Verhaltens“, von der Plessner im obigen Zitat spricht, ist die erscheinungshafte und präe-reflexive Präsenz der als solche unmittelbar sich gebenden Ausdrucksbilder der lebendigen Interaktion, nicht eine Museumsgalerie von interpretierungsbedürftigen Körperbildern. Wir deuten Ausdrucksbilder und Verhalten (letzteres ist globaler als erstere) in der Situation und damit die Situation selbst; wir deuten nicht die Situation, die wir analytisch in selber wiederum analytisch zu zerlegende Elemente (in Personen, diese wiederum Körper und Geist) zerlegen, solange nicht die Spezifik einer sehr ungewöhnlichen Situation dieses Heraustreten aus dem primären Ausdrucksverstehen verlangt.
Katze mir davonläuft, läßt sich auch objektiv in bloßen Bewegungen darstellen: daß sie mich ängstlich flieht, ist mir überdies in diesen Bewegungen als einheitlicher Charakter mitgegeben. Daß der Hund an mir emporspringt, ist objektiv konstatierbar; daß er mich freudig begrüßt, ist mir in seinem Gebaren als Richtungsform deutlich.“ (Ebd.: 82) Der springende Punkt der Gleichursprünglichkeit wäre hier: Weder muss die Speziesdifferenz durch rationale Reflexion und kontemplative Betrachtung erschlossen werden, noch muss der Ausdruckscharakter des Verhaltens überhaupt erschlossen werden, sondern er zeigt sich in einer Situation, die er als solche mitkonstituiert, noch bevor sie reflexiv oder theoretisch vergegenständlicht werden kann.
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
In den Stufen vertieft Plessner dieses Anschauen des Anschauens strukturanalytisch anhand der von Plessner nicht explizit gestellten, aber dezidiert beantworteten Frage: Welche Strukturmomente dieses Anschauens sind von diesem her, und das heißt: an diesem selbst aufweisbar? Hat die Deutung des mimischen Ausdrucks noch den phänomenologischen Zugang zur Sphäre der Intersubjektivität vom Ausdrucksverstehen her eröffnet, so geben die Stufen im Geiste der Deutung eine Strukturanalyse des lebendigen Dinges als negative Ontologie des Organischen, die in den späteren Kapiteln der Stufen gemäß den verschiedenen Lebendigkeitscharakteren, die Pflanze, Tier und Mensch darstellen, erschlossen werden. Im Folgenden geht es um die negativ-ontologischen Grundfiguren von Plessners Negativer Anthropologie.
3.3.2 Doppelaspektivität, Mitte und Grenze als Grundkategorien des Lebendigen Was sich in der phänomenologischen Betrachtung des Organischen zeigt, ist Plessner zufolge ein Ding, das in der Anschauung drei Momente aufweist: (i) den Doppelaspekt von Innen und Außen und (ii) eine unräumliche, aber raumhafte Mitte, die das Woher und Wohin der Aspekte bildet, die (iii) als Richtungsgegensätze statt als Entitäten auftreten. Richtungsgegensätze wie Physisches und Psychisches sind keine Momente im analytischen Sinne, die einen Eintrag in einer Liste vollständiger Merkmale verdienen, sondern unselbständige (weil sie Aspekte des jeweils anderen sind, die nicht rein als solche gegeben sein können im Sinne des gegen den anderen Aspekt isolierten Erscheinens) und selbstständige (in ihrer Identifizierbarkeit als irreduzibles Moment, das nicht verschwinden kann, ohne dass das Ganze, dessen Aspekt es ist, verschwände), anschauliche (als solche) und anschauungskonstitutive (als Qualitäten eines Ganzen) Momente zugleich. Für diese Simultaneität, in der Innen (als Psychisches) und Außen (als Physisches) als richtungsgegensätzliche und nicht ineinander überführbare Eigenschaften¹¹² auftreten, gilt das Primat der Unselbständigkeit, da sie nicht nur Aspekte voneinander, sondern als solche Aspekte eines Anderen (Dritten) sind, an dem sie erscheinen. In ihrer Unselbständigkeit gilt für sie, wie Haucke sagt: „Jeder Aspekt ist aufgrund seiner Einseitigkeit der Ergänzung durch andere Aspekte bedürftig.“ (Haucke 2000: 122) Darüber hinaus gilt auch, wie wiederum Haucke es auf den Punkt bringt, „dass sie Aspekte von etwas sind, was selbst kein Aspekt ist und nicht zu erscheinen vermag“. (Ebd.: 128) Dieses Andere fasst Plessner als die unräumliche, raumhafte Mitte, die sich auch bezeichnen lässt als das Woher, Wohin und erscheinungsmäßige Woran des Doppelaspekts. Anders gesagt: Es gibt keinen an-
„Als Körperding steht das Lebewesen im Doppelaspekt ineinander nicht überführbarer Richtungsgegensätze nach Innen (substantialer Kern) und nach Außen (Mantel der eigenschaftstragenden Seiten).“ (SOM: 128)
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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schaulich gegebenen Doppelaspekt als solchen, sondern nur einen Doppelaspekt einer Entität, die im Doppelaspekt (vgl. SOM: 70, 80, 89, 128, 160) erscheint.¹¹³ Psychisches und Physisches erscheinen am lebendigen Körper, der im Doppelaspekt erscheint und nicht jenseits des Doppelaspekts aspektlos erscheinen könnte, so wie auch der Doppelaspekt nicht ohne sein Woran, dessen Doppelaspekt er ist, erscheinen könnte. Dieses Woran nennt Plessner Mitte – eine Mitte nicht im geometrischen Sinn als bestimmbarer Mittelpunkt eines Dinges, sondern als dingkonstituierender Charakter: Als räumliches Gebilde hat jedes Ding seine bestimmten Abmessungen an einem bestimmten Ort, anschaulich gesprochen, es hat Konturen, eine aufweisbare Peripherie, eine aufweisbare Mitte. Auf das Zentrum und die Seiten im räumlichen Sinne kann man den Finger legen. Auf Zentrum und Seiten als dingkonstituierende Charaktere kann man das aber nicht. (Ebd.: 83 f.)
Während mit dem Doppelaspekt die Differenz von Physischem und Psychischem ontologisch neutralisiert und als richtungsgegensätzlicher Eigenschaftscharakter des lebendigen Dinges in der Anschauung aufgewiesen wird, wodurch er einen prinzipiellen Halt an der Hermeneutik des verdinglichenden Alltagsdualismus der Seinsbereiche findet, ist die unräumliche und raumhafte Mitte als dingkonstituierender Charakter nur im strikten Rückgang auf die psychophysische Indifferenz verständlich zu machen: Sie tritt anschaulich am lebendigen Ding selbst auf, das uns anschaulich als lebendiges begegnet (im Unterschied zur musealen Betrachtung vom Schreibtisch aus, die alles gegen seine genuine Erscheinungsweise künstlich neutralisieren kann); sie ist ein konstitutives Moment der Anschauungsqualität des Lebendigen als solchen, das jedoch selbst nicht als Moment oder in Momenten anschaulich gegeben ist, ohne das aber ein Ding in der Anschauung nicht als Lebendiges auftreten kann. Deshalb ist die dingkonstitutierende Mitte nicht nur das Woran des Erscheinens des Doppelaspekts, sondern auch sein Woher: Die Aspekte erscheinen an etwas, das in ihnen erscheint; sie können nicht ihr eigenes Woher und Woran bilden, sondern erscheinen an dem Ding, dessen Aspekte sie sind. Das mag sehr scholastisch klingen, weshalb die Verzahnung der Analysen in den Stufen mit der Deutung des mimischen Ausdrucks sinnvoll ist: Die dingkonstituierende Mitte der Anschauung macht den Unterschied zwischen dem leeren, sprachlich aber formulierbaren „etwas freut sich“ und „eine Person freut sich“; sie macht das Ausdrucksbild erst zu einem solchen im eigentlichen Sinne, da das anonyme Etwas einer nicht in situativem Verhalten zum Ausdruck gelangenden Freude nicht anschaulich erfüllbar ist. In ihrer Neutralität gegen den Richtungsgegensatz von Physischem und Psychischem ist sie das Unsichtbare, welches das Sichtbare als es selbst unmittelbar sichtbar macht und damit die zwanglose Ersichtlichkeit des Lebendigkeitscharakters in der gelebten Situation gewährt. Plessner nennt die Mitte deshalb auch die „kernhafte Mitte“ (ebd.: 85) des lebendigen
Insofern lässt sich gerade nicht sagen, dass, wie Stascha Rohmer behauptet, Plessner den „Begriff der Grenze“ aus dem Doppelaspekt ableite, vgl. Rohmer 2016: 235.
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
Dinges – kernhaft deshalb, weil sie als undinglicher Träger auftritt, der Psychischem und Physischem ihre transgressive, im lebendigen Verhalten unmittelbar erscheinende „Umweltintentionalität“ (vgl. PGS 7: 80 und 122) verleiht, die sie von bloß dinglichen Eigenschaften unterscheidet, die auch an Plastinaten abgelesen werden könnten. Weil die Mitte keine geometrische ist, weil sie nicht gesehen, nicht auf sie gezeigt und sie nicht berührt werden kann, bedarf Plessner Metaphern wie der des Kerns, um ihr begrifflich beizukommen. Als Begriff gleicht der Begriff der Mitte in einem zentralen Aspekt dem der Bewegung, um in rein erklärungsheuristischer Absicht aus dem Aristotelischen Inventar zu schöpfen: Wie die Bewegung ist die Mitte nicht sichtbar, sondern nur, dass sich etwas bewegt (Aristoteles) oder als Lebendiges in der Anschauung auftritt (Plessner). Dennoch ist der Begriff der Bewegung leichter begreifbar, weil lebendige Körper sich bewegen, während sie (sich) nicht „mitten“. Beide Kategorien, Bewegung und Mitte, können nicht selbst sinnlich gegeben sein, aber beide Begriffe verhelfen auf je unterschiedliche Weise – der Bewegungsbegriff im Sinne einer analytischen Realitätskategorie, Plessners Mitte im Sinne einer phänomenologischen Wirklichkeitskategorie (vgl. dazu Edinger 2017, Kap. 4.6.3.) – der Erfassung anschaulich gegebener Vorgänge zum Ausdruck. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass Plessners „Mitte“ am Lebendigen selbst die anschaulich aufweisbaren Strukturmomente elaboriert, die am sich Bewegenden nicht aktual wahrgenommen, d. h. gesehen werden müssen, aber an ihm wahrnehmbar (aber nicht sichtbar) sein müssen, damit es als sich Bewegendes sich zeigen kann. Lebendige Körper sind in der Anschauung nicht gegeben als unverständlich in Ortsveränderungen begriffenes Etwas, dem durch Analogieschluss die Eigenschaft, sich selbst zu bewegen, zugeschrieben werden kann, sondern sie sind der Anschauung gegeben als sich Bewegendes, das als solches entweder ausdruckshaft ist (wie bei Menschen oder höheren Tieren) oder dessen Bewegung zumindest einen direkt wahrnehmbaren, an ihm sich zeigenden Richtungsdrang (z. B. bei Insekten) zeigt, der nicht erschlossen zu werden braucht. Was von selbst fliegt, wird anders wahrgenommen als das Blatt, das vom Baum fällt. Doppelaspekt und Mitte bilden keinen eigenständigen und unabhängigen Strukturzusammenhang, d. h. sie sind nicht verstehbar, solange man sie nicht vertieft in die Lebendigkeit einbettet und die Struktur der Lebendigkeitsmomente nicht ganzheitlich betrachtet. Die Mitte der Anschauung ist nicht isolierbar gegenüber ihrer Eigenschaft, eine Mitte des Verhaltensvollzugs zu sein, eine reale, gegen den Richtungsgegensatz von Physischem und Psychischem neutrale Mitte oder eine vom lebendigen Körper realisierte Grenze: „Insofern die richtungsneutrale Zone selbst kein Gebiet einnehmen darf, welches die Ausschließlichkeit des Richtungsgegensatzes an dem betreffenden Gebilde aufhöbe und neben das Außen und Innen ein real aufweisbares Zwischen setzte, ist sie Grenze.“ (SOM: 100) Ihre vollständige Bestimmung erfährt die Mitte erst in ihrer doppelten Bestimmung als Mitte der Anschauung und als reale, gleichwohl nicht-räumliche Grenze. In der Entfaltung dieses unaufhebbaren Doppelcharakters der Mitte greifen die phänomenologische Analyse des Erscheinens
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von Lebendigem als solchem und die komplementäre „strukturfunktionale“ (HansPeter Krüger) Vertiefung dieser Analyse ineinander; die wirkliche ¹¹⁴ Grenze der Anschauung wird als verwirklichte Grenze des lebendigen Verhaltens aufgewiesen. Im Folgenden soll eine Bestimmung des Begriffs der Mitte als Grenze gegeben werden, von der her die negative Ontologie des Organischen ihre eigentliche Entfaltungsmöglichkeit erhält.
3.3.3 Die Mitte als Grenze oder: Lebendigsein als Grenzverwirklichung und Grenzübergang Die Mitte als Grenze ist die Materialisierung dessen, was oben das Woher genannt worden ist, allerdings eine Materialisierung ohne materielles oder dingliches Substrat. Die Mitte als Grenze existiert nicht in der Form einer räumlichen Begrenzung, sie ist nicht „nur das virtuelle Zwischen dem Körper und den anstoßenden Medien, das, Worin er anfängt (aufhört), insofern ein Anderes in ihm aufhört (anfängt)“ (SOM: 103), sondern die Grenze existiert maßgeblich im Modus ihrer Verwirklichung, d. h. als „Grenzverwirklichung“. (SOM: 138 und 145) Sie hat insofern statischen und dynamischen Charakter zugleich,¹¹⁵ ihr eignet sowohl ein „Moment des Übergehens“ (ebd.: 133) als auch das „Moment des Stehens“ (ebd.) des lebendigen Körpers in die Umwelt; dem Übergehen entspricht als phänomenale Qualität, was Plessner das „Über ihm hinaus“ nennt, dem Stehen das „in ihm hinein“. (Vgl. ebd.: 127 ff. und 183) Diesem doppelten Richtungscharakter der Grenzverwirklichung entspricht nicht das Modell eines autonom handelnden Körpers, sondern eines Körpers, der sein Grenzverhältnis als Grenzübergang ¹¹⁶ realisiert, denn der Begriff des Übergangs akzentuiert stärker als der der Verwirklichung die organische Struktur der Umweltintentionalität, wie sie dem Körper im nicht nachträglichen, sondern konstitutiven Verhältnis zu einer Umwelt bzw. einem Medium zukommt. Wenn ein Körper, so Plessner, „außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft hat, dann ist die Begrenzung zugleich Raumgrenze und Aspektgrenze und gewinnt der Kontur unbeschadet seines Gestaltcharakters den Wert der Ganzheitsform“. (Ebd.:
Zur grundlegenden Bedeutung des Wirklichkeitsbegriffs in Plessners Philosophischer Anthropologie siehe Edinger 2017. „Insofern verlangt Positionalität im Unterschied zu den die Doppelsinnigkeit der Grenze dynamisch realisierenden Bestimmungen Übergehen – Werden – Prozeß – Entwicklung sinnentsprechend auch eine statische Realisierung.“ (Ebd.: 155) Den Begriff des Grenzübergangs verwendet Plessner bereits in seinem Frühwerk Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft aus dem Jahr 1920, wo er gemäß der Kantischen Systematik als Organ des Grenzübergangs und dessen Realisierung die Spontaneität benennt: „Das Verhältnis an der Spontaneität, nämlich das Moment des Übergehens im Aktus des Bestimmens eines Willens, ist als Verhältnis eines Grenzüberganges, mithin als Differential der subjektiven Realität identifizierbar, da es selbst für sich (als eine irgendwie fertige Größe) weder bestimmt zu werden braucht noch bestimmt werden kann.“ (PGS 2: 92 f.)
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
103) Die Ganzheitsform ist wiederum nur phänomenologisch erschaubar, sie ist nicht analytisch zu gewinnen aus seiner Verhaltensanalyse des Organismus, d. h. die Mitte der Anschauung und die Mitte als Grenzrealisierung müssen in auflöslicher Einheit des Verhaltens gegeben sein, anders gesagt: Als grenzrealisierend wird anschaulich erfasst, was nicht als geometrischer, sondern als vitaler Körper erscheint und erscheinend sich verhält. Plessner unterscheidet zwischen darstellbaren und erschaubaren Gehalten.¹¹⁷ Erschaubare Gehalte sind z. B. gerade solche, die sich von sich aus als Lebendige zeigen, ohne dass bloßen Gestalten die Lebendigkeit, wenn sie sich nicht zeigt, durch Darstellungen andemonstrierbar wäre. Ganzheit ist eine Gestalt, der ein Richtungssinn anschaulich eignet und sich nicht bloß an einem lokalisierbaren Ort befindet, sondern einen situativ eingebetteten Ort einnimmt. Die spezifische Ganzheitsform (bzw. Ganzheitsgestalt, um die Differenz hervorzuheben) Organismus nimmt diesen Ort ein, weil Organismus und Umwelt nicht gegeneinander separierbar sind, sondern selber eine übergreifende Einheit bilden, die Plessner Lebenskreis nennt und in der dem Organismus ein positionaler Charakter zukommt. Der positionale Charakter der lebendigen Ganzheitsform ist das holistische Pendant der Mitte als Grenzübergang, in ihm konvergieren das die Mitte als Grenze kennzeichnende „Über ihm hinaus“ und „In ihm hinein“ als Momente der Realisierung der inneren Einheit des Organismus in sich, die als Übergang nur bestehen kann in seinem Stehen nicht nur im Lebenskreis, sondern indem er, in sich stehend, in den Lebenskreis hineinsteht: „Zum positionalen Charakter gehört, daß das Ding über ihm hinaus, in ihm hinein ist.“ (Ebd.: 132) Diese Bestimmung ist zu ergänzen um einen doppelten Antagonismus: im Organismus selbst und seiner antagonistischen „Selbstvermittlung zur Einheit“ (ebd.: 193), und im Verhältnis zur Umwelt bzw. zum Umgebungsfeld oder „Positionsfeld“. (Ebd.: 192) Die Betonung liegt hier auf dem „zu“ bzw. dem Zueinander in der Gegensinnigkeit, darauf also, dass „Organismus und Umgebungsfeld […] beide gegensinnig zueinander stehen“. (Ebd.: 157, Hervorhebung, S. E.] In komprimierter Fassung ergibt sich daraus die folgende Grundkonstellation, die im Folgenden analytisch einzuholen ist: „Kraft seiner Positionalität allein, nach der das lebendige Ding in ihm hinein – über ihm hinaus (gesetzt) ist, zerfällt es in ihm selber in zwei gegensinnige Prozesse und gliedert sich durch sie als selbständige Einheit in die Welt der Körperdinge ein.“ (Ebd.: 199)
3.3.4 Ausgleich als negativ-ontologischer Grundbegriff von Plessners Philosophischer Anthropologie Um das Verhältnis zwischen Positionalität und der Selbstvermittlung zur Einheit einzuholen, ist im Folgenden Plessners „Ontologie des Ausgleichs“ (vgl. Edinger 2017: 335 ff., 355 ff.) zu skizzieren, die wiederum die Grundlage und den Integrationsrahmen
Vgl. SOM: 119 f., 128.
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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seiner zentralen negativ-ontologischen anthropologischen Grundfiguren bildet: (1) der Selbstvermittlung des Organismus zur Einheit gemäß dem negativ-teleologischen Antagonismus von Mitte (Zentrum) und Organen, (2) der harmonischen Äquipotentialität, (3) der seienden Möglichkeit, die ontologisch im Modus des Sich-vorwegseinszu existiert. Die Ontologie des Ausgleichs fungiert dabei als der gemeinsame Boden dieser negativ-ontologischen Grundfiguren. In Plessners Stufen ist „Ausgleich“ eine ontologische Kategorie, die in einem vierfachen Sinn bei Plessner vorkommt.Wesentlich ausführlicher und technischer, als es hier nötig ist, habe ich den Begriff des Ausgleichs bei Plessner, auch über die Stufen hinaus, in meinem Buch Das Politische in der Ontologie der Person analysiert (Vgl. Edinger 2017: 339 ff.). Wichtig ist im Rahmen der hier entfalteten Argumentation, dass „Ausgleich“ der alle Details des Prozesses integrativ umfassende Name der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit im Medium des Antagonismus von Mitte und Organen ist. Diese Selbstvermittlung bildet das Kernstück von Plessners negativer Ontologie des Organischen. Plessner spricht vom Organismus als „Mitte und Peripherie in Einem“ (SOM: 203), in der konkreten Funktionsanalyse ist die Rede von dem Verhältnis zwischen der Mitte, die organisationstheoretisch als Zentrum gefasst wird, und den Organen, durch die der lebendige Körper zum Positionsfeld geöffnet ist: Zum Ganzen gehört schon das Gegenüber einer Einheit für sich und einer Einheit in der Mannigfaltigkeit der Teile, welches zum Ganzen vermittelt wird. Der Antagonismus soll Organisationsprinzip des Ganzen sein. Also ist er die Einheitsform der gesamten Mannigfaltigkeit.Wird diese aber in zwei gegensinnig zueinander stehende Zonen getrennt, so geht der organisatorische Sinn dieses Gegeneinanders nur dann nicht verloren, wenn auch ein Zentrum da ist, das dieses Gegeneinander technisch aufrecht hält. (Ebd.: 228)
Was Plessner hier Zentrum nennt, ist oben als Mitte und Grenzübergang angesprochen worden. Worum es im Folgenden gehen wird, ist die „Einheit der Mannigfaltigkeit der Teile“, von der im angeführten Zitat die Rede ist, denn das ebenfalls angesprochene Gegensinnig-zueinander-stehen basiert auf einem doppelten Ausgleichsverhältnis: (1) dem „wechselseitige[n] Ausgleich zwischen Lebewesen und Medium“ (ebd.: 192), der im bereits angesprochenen Verhältnis von Organismus und Positionsfeld stattfindet, und dem (2) Ausgleich im Sinne antagonistischen Selbstvermittlung zur Einheit, die sich aufgrund des Gegensinnig-zueinander-stehens nicht vom Ausgleichsverhältnis von Organismus und Positionsfeld isolieren lässt. Dieser Ausgleich der antagonistischen Selbstvermittlung, den der lebendige Körper zu finden hat, ist der „Ausgleich zwischen der rein physischen Aufgeschlossenheit des Körpers gegenüber dem Medium und der im Wesen der echten Begrenztheit liegenden Abgeschlossenheit“. (Ebd.: 227) Das vermittelnde Glied bilden hier die Organe, durch die der lebendige Körper zum und gegen das Positionsfeld zugleich gestellt ist. Mit dem prekären, gleichwohl eine Gestalt der Ontologie des Ausgleichs bildenden Antagonismus von Mitte und Organen entwickelt Plessner seine Theorie des Organischen als negative Ontologie des Organischen, weil und indem er sie zugleich als immanente Teleologie entwickelt.
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
3.3.5 Figuren der Negativen Ontologie des Organischen I: Der Antagonismus von Mitte und Organen und die immanent teleologische Selbstvermittlung zur Ganzheit Aufgrund ihrer Doppelrolle bzw. ihrer doppelten Funktion, den Organismus gegensinnig zum Positionsfeld hin zu öffnen und dieses damit für ihn zu eröffnen – der Organismus ist insofern offen gegen das Positionsfeld (vgl. Edinger 2017: 273) –, und ihrer Zugehörigkeit zum Organismus als geschlossener Einheit, spricht Plessner von einer übergreifenden Einheit der Selbstvermittlung des Organismus „in ihm hinein“ und „über ihm hinaus“, die er mit Uexküll als Funktionskreis bezeichnet: „In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen. Offen sind die Organe gegenüber dem Positionsfeld.“ (SOM.: 192) In den Organen verkörpert sich die Simultaneität der „organbedingten Aufgeschlossenheit gegenüber dem Medium“ (ebd.: 192; gemäß dem Gegensinnig-zueinander-Stehen zugleich: gegen) und die „Abgeschlossenheit als physischer Körper“ (ebd.: 218) gegen (gemäß Gegensinnig-zueinander-stehen zugleich: zum) das Positionsfeld. Der Vorrang innerhalb dieser unauflöslichen Doppelheit kommt dabei dem „Zwang zur Aufgeschlossenheit als Organismus“ (ebd.) zu; ohne die Realisierung dieser Aufgeschlossenheit wäre die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit als Selbstproduktion der Lebensbedingungen nicht möglich. Der lebendige Körper würde sonst als bloßes Ding existieren, doch gerade als solches kann er nicht leben. In der gelebten Aufgeschlossenheit agiert der Organismus von der Mitte her hin zur Peripherie, als dreifache Einheit: „Er ist in ihm selber doppelt, aber in dieser Verdoppelung einheitlich: Einheit für sich (Kern, Subjekt des Habens), Einheit in der Mannigfaltigkeit der Teile (Wirkeinheit, Gestalt, übersummenhafte Gesamtfunktion, Objekt des Habens), Einheit in jedem Teil (harmonisch äquipotentielles System).“ (Ebd.: 187) Als in den Lebenskreis eingepasste dreifache Einheit existiert er in einer übergreifenden Einheitlichkeit mit dem Positionsfeld, er ist in den Lebenskreis eingepasst in seiner Selbständigkeit insofern, „als seine Organe diesem Ganzen streng eingepaßt sind und das Ganze also mit nichts kommen kann, worauf der Organismus nicht antworten könnte“. (Ebd.: 193) Solche Formulierungen suggerieren einer vordergründigen Lektüre, Plessner würde übermäßig harmonistisch denken, als wäre der „Ausgleich zwischen Lebewesen und Medium“ (ebd.: 192) ein metaphysisches Geschenk ohne Verfallsdatum. Doch die oben zitierte Stelle, in der Plessners vom Eingepasstsein des Organismus in das Positionsfeld spricht, ist eingebettet in eine die Formulierung eines existentiellen Desiderats: Plessner zufolge „muß der Organismus Teil eines umfassenden Ganzen werden“ (ebd.: 193; Hervorhebung, S. E.); er muss dies, weil ihm nur die Bedingungen, dies zu tun, qua Eingepasstsein gegeben sind, nicht aber das, was der Organismus erst in der Anpassung noch leisten muss; insofern ist die Einheit, obgleich sie eine dreifache ist, eine gebrochene und antagonistische Einheit. In der Anpassung ist der Organismus gerade nicht reines „Subjekt des Habens“, sondern als selbständige Einheit zugleich „Objekt des Habens“ dadurch, dass die
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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Organe auf das Positionsfeld hingeordnet sind, in dem, zu dem und gegen das der Organismus gestellt ist. In den „wechselseitigen Ausgleichsformen des Stoff- und Energiekreislaufs und der morphologisch-funktionellen Eingespieltheit von Organismus und Umgebung“ (ebd.: 192) kommt der Organismus deshalb nicht zur Ruhe, sondern zu seinen spezifischen Möglichkeiten im Geflecht seiner Aufgaben, die er existentiell zu bewältigen hat. Der Ausgleich zwischen Organismus und Umwelt ist deshalb, vom Organismus her gesehen, der „Ausgleich einer Unfertigkeit“. (Ebd.: 142) Oben war die Rede von der organisationstheoretischen Fassung der Mitte als Zentrum. Plessner führt den Begriff der Organisation explizit ein, um die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit zu bestimmen: „Unter Organisation versteht man, nach einem Wort Uexkülls, den Zusammenschluß verschiedenartiger Elemente nach einheitlichem Plan zu gemeinsamer Wirkung.“ (Ebd.: 170) Organisation ist der konkrete Name der Ontologie des Ausgleichs, sofern mit dieser die antagonistische Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit angesprochen wird. Diese Organisation untersteht einer inneren Teleologie: Wenn diese Definition streng deskriptiv genommen wird, so ist realiter der einheitliche Plan nicht zuerst da und dann erfolgt nach ihm der Zusammenschluß der Elemente, sondern in idealem Zugleich wird Mannigfaltigkeit und Einheitlichkeit in Einem wirklich. Organisation ist die Daseinsweise des lebendigen Körpers, der sich differenzieren muß und in und mit der Differenzierung jene innere Teleologie herausbringt, nach der er zugleich geformt und funktionierend erscheint. (Ebd.)
Die innere Teleologie und die Gleichzeitigkeit erklären sich auseinander: Wäre der einheitliche Plan zuerst da, wäre die Teleologie eine aus diesem Plan heraus sich entfaltende und in dieser Entfaltung sich manifestierende metaphysische Setzung; als solche wäre sie aber nicht in einer phänomenologischen Funktions- bzw. Organisationsanalyse entwickelbar, ohne dass diese jene weitere Ebene enthalten müsste. Doch was Plessner „Formidee“ (vgl. ebd.: 152 und 216) oder „Ordnungstypus“¹¹⁸ nennt, manifestiert sich in der Ganzheit selbst, nicht diese sich durch eine transzendente Formidee etwa. Gefragt wird nicht nach dem Woher der Formidee, sondern gezeigt wird, welche die Gestalt sie annimmt (ironischerweise: die der Ganzheit, die mehr als Gestalt ist); entscheidend ist auch hier wieder die auf die Deutung des mimischen Ausdrucks zurückgehende phänomenologische Differenz zwischen „am“ (am Erscheinenden selbst sich zeigend) und „als“¹¹⁹ (am Erscheinenden als einer Manifestation eines nicht Erscheinenden). Um eine zufällige Einheit kann es sich wiederum auch nicht handeln, weil eine derart konsequente und konsequent zielführende Einheitlichkeit, wie sie nötig ist, damit ein Organismus überhaupt nur einen Tag lang Vgl. ebd.: 120, das Verhältnis von Formidee und Ordnungstypus bestimmend vgl. Edinger 2017: 279 f. In Die Deutung des mimischen Ausdrucks sinnkonform als die zwischen „am“ und „im“ Doppelaspekt gefasst: „Im Ausdrucksbild erscheint der Sinn, und das Phänomen, die Gestalt wird selbst transparent, indem wir ihn verstehen.“ (PGS 7: 91)
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überleben kann, wiederum einer prästabilierten Harmonie bedürfte; der Zufall würde hier gleichsam aus seiner schier uneinsehbaren Nichtplausibilität heraus die Metaphysik erzwingen. Wenn Plessner sagt, dass der Organismus die „innere Teleologie herausbringt“ (SOM: 170), sagt er nicht, dass diese eine nachträgliche Konsequenz der Selbstorganisation des Organismus wäre, die in konklusiver Nachträglichkeit in Begriffe gegossen wird, sondern dass in Begriffen erfasst wird, gemäß welchen phänomenologisch gewinnbaren Strukturbedingungen der lebendige Organismus die Selbstorganisation vollzieht. Die innere Teleologie beschränkt sich daher nicht auf den Organismus selbst als Entität per se, sondern auf den Organismus als auf seine Umgebung teleologisch hingeordneten und deshalb in sie eingepassten. Die Doppelstellung der Organe, Medium der internen Selbstvermittlung des Organismus in sich und damit zugleich Medium des Verhältnisses der Selbstvermittlung des Organismus mit der Umgebung im Gegensinnig-zueinander-gestelltsein gegen dieselbe zu sein, eröffnet den teleologischen Horizont der Stufen: „Unter welchen Bedingungen ist der Zweck seiner selbst Mittel seiner selbst? Konkret gefaßt: wie ist es dem physischen Organismus möglich, ein Mittel seiner selbst zu sein, ohne damit seine immanente teleologische Selbstgenügsamkeit preiszugeben? Die Lösung zeigt der Begriff des Organs.“ (Ebd.: 189 f.) Weil in den Organen der Organismus zugleich Subjekt und Objekt des Habens ist, Habendes und in diesem Haben selbst solches ist, das von einem außerhalb seiner liegenden zugleich gehabt wird (ohne von ihm aufgezehrt zu werden, solange es erfolgreich zu leben vermag),¹²⁰ kann Plessner sagen, dass „der wechselseitige Ausgleich zwischen Lebewesen und Medium an sich schon besteht“ (ebd.: 192, Hervorhebung, S. E.), gleichwohl er eine prekäre Aufgabe bleibt, in deren Bewältigung oder Nichtbewältigung sich das Schicksal des Organismus entscheidet. Die immanente Teleologie ist vor allem in dem Sinne keine metaphysische, als sie keinen Urgrund und keine Formidee enthält, die eine Versöhnungsfigur darstellte. Auch wenn der Organismus in die Umwelt eingepasst und in seiner Organisation auf sie hingeordnet ist, tritt er damit keineswegs aus dem Bereich der Kreatürlichkeit hinaus, noch wird diese Kreatürlichkeit metaphysisch geborgen. Die „teleologische Selbstgenügsamkeit“ (SOM: 190) des Organismus wird gerade nicht harmonistisch gedacht, sondern mit ihr wird das Minimum an Ausstattung gemeint, das nötig ist, um in den Kampf des Daseins eintreten zu können. Sowohl die Notwendigkeit der Anpassung als auch, und vor allem, die Nicht-Identität des Organismus mit sich selbst in der Selbstvermittlung zur Ganzheit, sein Mangel an Autarkie – „er ist eben Teil, ergänzungsbedürftig, seine Autarkie ist dahin“ (ebd.: 193) – machen es unumgänglich, die immanente Teleologie als strukturell negative zu kennzeichnen, und gerade als eine solche ist sie die fundamentale Grundfigur einer negativen Ontologie des Organischen.
Vgl. Edinger 2017: 275 f. und 285 ff.
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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3.3.6 Figuren der negativen Ontologie des Organischen II: Seiende Möglichkeit Die zweite grundlegende Figur, die Plessners negative Ontologie des Organischen trägt, ist die der seienden Möglichkeit. Seiende Möglichkeit ist der lebendige Organismus nicht, weil ihm empirisch Möglichkeiten zukommen, sondern weil das Möglichkeit-sein bereits ein phänomenal aufweisbares Merkmal seiner Erscheinungsweise ist. Seiende Möglichkeit ist alles, was als Lebendiges sich zeigt, aber nicht alles Lebendige ist solche in derselben Weise des Erscheinens. Während ich andernorts den Begriff humanspezifisch entfaltet habe (Edinger 2017), umreiße ich ihn hier in seiner generellen Bedeutung als ontologische Grundfigur. Hier greifen wiederum die Mitte der Anschauung und die Mitte als Zentrum ineinander. In einer vordergründig dem bisher Ausgeführten widersprechenden Passage sagt Plessner: „Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.“ (Ebd.: 162) Die „Inexistenz der Mitte“ ist nicht ihre anschauliche Inexistenz, hier wird nicht der phänomenologische Ansatz revidiert, sondern ihre fixierbare Substantialität, wie sie in der Zuordnung eines ihren Begriff explanatorisch erschöpfenden dinglichen Substrats bestünde (z. B. des Gehirns),¹²¹ ist inexistent. Real ist die Mitte als Zentrum und Grenzübergang, als das Über-ihm-hinaus des Körpers, das in dessen Anschauung an ihm als Konstituens seiner anschaulichen Aktualität auftritt; real ist die Mitte zugleich vor allem als das, was wirklichkeitsbestimmend¹²² für die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit ist. Diese Selbstvermittlung findet in der Zeit und damit als zeitlicher Prozess statt, doch sie tritt auf an einem lebendigen Körper, der als solcher nicht in der Zeitlichkeit aufgeht, also nicht bloß ein Ding in der Zeit ist, sondern der selber von zeithafter Natur ist; er ist nicht zeithaft aufgrund der Zeitlichkeit und in einer Derivationsform derselben, sondern er ist „zeithaft aus seinem eigenen Wesen heraus“. (SOM: 177) Unter Zeithaftigkeit versteht Plessner einerseits die Zeithaftigkeit der Mitte selbst (vgl. ebd.: 243 f., 270, 295) aber auch – und hierum geht es im Folgenden – das Vorwegsein des lebendigen Körpers, das ich in Edinger 2017 (306, 310 f., 384 f.) genauer bestimmt habe als das Sich-vorwegsein-zu, und zwar deshalb, weil Plessners Vorwegsein weder ein leeres noch ein unbestimmtes Vorwegsein ist, sondern ein Vorwegsein des Organismus, der seine Selbstvermittlung zur Ganzheit „über ihm hinaus“, zum Positionsfeld hin und – bzw. vor allem gemäß seiner Formidee – auf einen lebendigen und fortwährende Lebendigkeit ermöglichenden Zustand hin vollzieht. In diesem „zu“, einem „zu-sich-selbst“, das durch das „zu“ im Sinne des Zum-Positionsfeld-hin, das als zu bewältigendes Hindurch ihm aufgegeben ist, ist er selbst der teleologische Bezugspunkt seiner Entwicklung und als solcher für diese bestimmend, obgleich er sich im
„Im Zentrum, sei es Nervennetz oder Gehirn, steckt nicht die raumzeithafte Mitte der Positionalität.“ (SOM: 244) Zum Verhältnis von Realität und Wirklichkeit bei Plessner vgl. Edinger 2017: 244 ff.
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
„Ausgleich einer Unfertigkeit“ (die zugleich in der „Unfertigkeit“ eines jeden erreichbaren Ausgleichs gründet) nicht von einem vorauslaufend präsenten späteren Sosein her gegeben ist, das gleichsam lebensplanwirtschaftlich nur noch zu realisieren wäre. Die Selbstvermittlung zur Ganzheit ist, wenig überraschend, ein Prozess, der Organismus daher, da diese nicht pausieren kann, jederzeit „notwendigerweise im Prozeß begriffen“. (Ebd.: 135) In diesem Prozess entstehen keine zufälligen Resultate, die als jeweilige Aktualität auftreten, sondern der Organismus hat, gemäß der immanenten Teleologie, „‘sich‘ zum Resultat“ (ebd.: 140) aufgrund der Formidee, die er im Modus des Vorwegseins verkörpert: „Die Formidee als das dem im Prozeß begriffenen Ding Vorwegseiende nimmt notgedrungen die Charakter der Zweckursache an, als deren motivierte Wirkung die Entwicklung des Dinges zutage tritt.“ (Ebd.: 143) Dieser Satz könnte das Missverständnis evozieren, der Organismus hätte sich zum Resultat, weil er sich bereits als Resultat habe, das nur noch nicht qua Realisierung in die gegenwärtige Wirklichkeit „eingerückt“ wäre. Dann wäre der Zweck ein metaphysischer und die Zweckursache eine in der Zukunft liegende Realursache, während Plessner auf eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (Kant) zielt, wodurch er den Zweck als real qua Richtungs-, nicht qua definiter Zustandsbestimmtheit auffasst. Wäre der Zweck als determinierbarer Sollzustand real, so würde Plessner mit dem Begriff der Zweckursache die Zeithaftigkeit verzeitlichen und das Vorwegseiende wäre ein späterer Zustand innerhalb der Zeitlichkeit, kein ontologisches Strukturmoment. Was Plessner hier als Zweckursache anspricht, ist einerseits die Formidee, andererseits das, was er die „Zukunftsfundiertheit“ (ebd.: 177) des lebendigen Seins nennt. Zukunftsfundiertheit und Vorwegsein sind zwei ontologische, das ontische Faktum der innerhalb der Wirklichkeit stattfindenden Selbstvermittlung zur Ganzheit fundierende, Strukturmomente der Potentialität von Lebendigem, das deshalb seiende Möglichkeit ist: „Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.“ (Ebd.: 173) Die seiende Möglichkeit ist als Möglichkeit Wirklichkeit (in ihrem jeweiligen empirischen Zustand) und als Wirklichkeit Möglichkeit im Sich-vorwegsein-zu, das fundamental durch das Gegensinnig-zueinandergestelltsein gekennzeichnet ist, weshalb der Organismus in der Selbstvermittlung zur Ganzheit sich zum Resultat hat, indem er sich zum sich selbst entfremdeten Mittel im praktischen Umgang mit den Anforderungen des Positionsfeldes hat. Die Darlegung der immanenten, ontologischen Potentialität des Organismus als seiender Möglichkeit gibt Plessner mit dem von Driesch geprägten Begriff der harmonischen Äquipotentialität.
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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3.3.7 Figuren der negativen Ontologie des Organischen III: Harmonische Äquipotentialität Driesch hat den Begriff der harmonischen Äquipotentialität geprägt,¹²³ um den „Gegensatz von Vitalismus und Mechanismus“ (SOM: 163) zugunsten des ersteren zu entscheiden, indem er versuchte, mittels seiner die Ermöglichungsbedingungen von Regulationsphänomen und Regenerationsphänomene zu erklären. Driesch hat dabei, so Plessner, die „Entelechie als Naturfaktor“ verstanden und der harmonischen Äquipotentialität die Doppelrolle einer Ermöglichungsbedingung und einer Ursache verliehen. Plessner hingegen versteht die harmonische Äquipotentialität im gleichermaßen ontologischen wie strukturfunktionalen Sinn als „Entelechie als Seinsmodus“: An Stelle der Entelechie als Naturfaktor tritt Entelechie als Seinsmodus entsprechend jener Grenzbedingung, die sich selbst noch verstehen läßt, obzwar für sie keine physikalische Charakterisierung (‚Erklärung‘) gegeben werden kann. Jene Grenzbedingung, welche die relative Eigenkausalität mit dem Phänomen der Autonomie des lebendigen Systems in Einklang bringt, aus der schließlich die Entelechialität selbst begreiflich und notwendig wird. (Ebd.: 146)
Die harmonische Äquipotentialität ist damit bei Plessner kein Kausalfaktor, sie verursacht nichts, sondern sie kann lediglich verstanden werden als ein Modus, in dem die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit sich vollzieht. Innerhalb dieser Selbstvermittlung zur Ganzheit ist auf der prozessual-organismischen Ebene eine Einheit von Mitte und Peripherie herzustellen – eine Einheit, die der Organismus als Potenz bereits ist, sofern er eine Aktualität ist, die Potenzen zu realisieren hat, um sich selbst zu erhalten. Im Hinblick auf die harmonische Äquipotentialität gilt für den Organismus als seiende Möglichkeit ontologisch der Vorrang der Zukunftsfundiertheit vor der Zeithaftigkeit, denn in der Zukunftsfundiertheit ist die Gestalt von Zeithaftigkeit die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit; dadurch ist „in jedem Element des lebendigen Raumdinges und zugleich gegenüber jedem Element die Einheit als Vermögen vertreten“. (Ebd.: 162) Harmonische Äquipotentialität ist somit der Name der ontologischen Grundlage von produktiven Ausgleichsleistungen (Regulation, Regeneration) innerhalb einer übergreifenden Ontologie des Ausgleichs. Doch ontologisch gilt hier zugleich, dass die Identität des Organismus, verstanden als Aktualität seiner Selbstvermittlung, in die Nicht-Identität mit sich selbst eingelassen ist (im Vermittlung notwendig machenden „Über ihm hinaus“, vgl. SOM: 129 ff.), jedoch als Einheit – d. h. als seiende Möglichkeit, die als solche Aktualität und Potentialität zugleich ist unter dem Vorrang der Potentialität¹²⁴ –, Stellvertretung des Ganzen
Für eine deutlich ausführlichere Darlegung siehe Edinger 2017: 281 ff. Auch hier kann wiederum für die vertiefte Darlegung nur verwiesen werden auf Edinger 2017: 291 ff., vor allem S. 299 f.
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in seinen Teilen ist¹²⁵ und daher wiederum innerhalb der Identität des existierenden Organismus auf dessen zukünftige Identität (als virtuelles Als der Aktualität) hin verfasst ist: „Als harmonisch äquipotent ist der Organismus eben nur der wirklichen Möglichkeit nach Einheit für sich und Einheit in der Mannigfaltigkeit. Er ist es noch nicht der wirklichen Aktualität nach als dieses Ding mit Haut und Haaren.“ (Ebd.: 187) Der „wirklichen Möglichkeit nach“ kann der lebendige Körper nur Einheit sein als seiende Möglichkeit im ontologischen Sinne; als solcher ist der Potentialitätsmodus, den Plessner harmonische Äquipotentialität nennt, „ein Nichtsein, das […] die Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm hat“. (Ebd.: 172) Der ontologische Kreis schließt sich hier, denn Plessner entfaltet hier die Bedingungen, aufgrund deren der Organismus als seiende Möglichkeit die Entelechie¹²⁶ zu seinem Seinsmodus hat. Dem ontologischen und strukturfunktionalen Charakter der harmonischen Äquipotentialität entspricht, dass sie bei Plessner wie bei Driesch in verschiedenartiger Weise philosophisch auf darauf antwortet, „daß die Potentialität der Elemente und ihrer in verschiedenen Mannigfaltigkeitsstufen hegenden Verbindungen (Zellen, Gewebe, Organe) in ihrer Potentialqualität der erschaubaren, nicht der darstellbaren Seinsschicht des Körpers angehört“. (SOM: 163) Die harmonische Äquipotentialität suggeriert, dass die Nicht-Identität des Organismus mit sich selbst (und zu sich selbst hin) schlussendlich in einer versöhnenden Identität aufgeht, nämlich in der jeweils aktualisierten Selbstvermittlung. Doch nicht nur ist die Selbstvermittlung innerhalb des Lebensprozesses nicht abschließbar (höchstens durch dessen Ende), sondern sie erschöpft sich auch nicht in der harmonischen Äquipotentialität, die ein Spezialfall der Selbstvermittlung ist, die ihren Ausgang von einer Unabgeschlossenheit (Nicht-Identität) nimmt, um zu einer neuen Unabgeschlossenheit (Nicht-Identität) zu gelangen. Die Selbstvermittlung wird von Plessner unter dem Gesichtspunkt der harmonischen Äquipotentialität von einer organisationstheoretischen „reinen“ Immanenzlogik her betrachtet, nicht in ihrem (dem Organismus Anpassungsleistungen trotz seines Eingepasstseins abverlangenden) Eingelassensein in jene von Plessner „Lebenskreis“ genannte Ganzheit, die Organismus und Positionsfeld bilden, und dessen Kernstück gerade die Doppelstellung der Organe ist und damit die Interaktion von Organismus und Positionsfeld. In dieser holistischen Perspektive reicht die Negativität als ontologisches Charakteristikum deutlich über die Zukunftsfundiertheit und Zeithaftigkeit hinaus. Für beide Fälle gilt in unterschiedlicher Akzentuierung, dass das lebendige Sein als seiende Möglichkeit nur leben kann im Modus der Nicht-Identität mit sich selbst; Negativität begründet hier keinen Mangel, sondern ist ein zentrales Moment der Entelechie als Seinsmodus und der immanenten Teleologie, anhand deren Plessner etwas logisch Prinzipielles auf ontologischer Ebene am Organischen durchdekliniert: dass Einheit nur durch Nicht „Das Ganze des lebendigen Körpers ist unmittelbar selbst in seinen Teilen potentiell vorhanden. Diese seine Form der Vertretung heißt das harmonisch äquipotentielle System.“ (SOM.: 168) Vgl. Edinger 2017: 288 ff., zur daselbst aufgegriffenen wörtlichen Begriffsbedeutung von Entelechie außerdem Picht 1992: 40.
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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Identität bzw. Negativität hindurch herstellbar und, im Falle des Lebendigen, lebbar ist.
3.3.8 Die seiende Möglichkeit als menschliche Person oder die Abbildung der Negativen Ontologie in der Negativen Anthropologie der Personalität Um Plessners Anspruch, „den Menschen als geistig-sittliche und als natürliche Existenz auf Grund einer Erfahrungsstellung zu begreifen“ (SOM: 14), gerecht zu werden, habe ich hier seine Philosophische Anthropologie als eine Gesamttheorie¹²⁷ skizziert (und in Edinger 2017 ausführlich expliziert), deren Naturphilosophie und Sozialphilosophie integrierende Grundfigur die der seienden Möglichkeit ist. Deren Grundstruktur wurde in den vorangegangenen Abschnitt 3.3 in mehreren Figuren einer negativen Ontologie des Organischen entfaltet. Nun ist zur menschlichen Person als speziellem Fall einer seienden Möglichkeit überzugehen. Die menschliche Person ist in meiner Lesart von ihrer organischen Grundstruktur her als Person genauso seiende Möglichkeit wie als Lebewesen, das im Positionalitätsmodus der exzentrischen Positionalität existiert. Die exzentrische Positionalität spezifiziert dabei das Verhältnis von Organismus und Positionsfeld in Bezug auf das lebendige Sein, das seiende Möglichkeit als menschliche Person ist. Doch die exzentrische Positionalität hat eine wesentlich genauere Fassung erfordert, als Plessner sie uns mit seinen Schriften hinterlassen hat. Hier bietet es sich an, Hans-Peter Krügers Unterscheidung zwischen Exzentrierung und Rezentrierung – keine „Selbst“-exzentrierung oder rezentrierung, sondern eine „Exzentrierung und Rezentrierung der Verhaltenspotentiale“ (Krüger 2019: 8) – aufzunehmen, die eine pragmatische Übersetzung der abstrakten Positionalitätskategorie in sie inhaltlich erfüllende organismische Leistungen bietet. Indem Krüger in dieser Unterscheidung die zentrische Organisationsform ernstnimmt und die exzentrische Positionalität pragmatisch an sie rückbindet, macht er sichtbar, dass Plessner sich in seiner Philosophischen Anthropologie durchweg an den Ermöglichungsbedingungen menschlicher Verhaltensbildung abarbeitet. Krüger hat die Exzentrierungs- und Rezentrierungdynamik anhand von Plessners von ihm selbst nicht terminologisch kodifizierter Unterscheidung von Leibsein und Körperhaben entfaltet;
Dieser Ansatz unterscheidet sich darin grundlegend von der verbreiteten Lesart, die Philosophische Anthropologie und die Sozialphilosophie als systematisch aufeinander zu beziehende Stränge, statt als systematisch miteinander verschränkte Aspekte ein und desselben Ansatzes zu interpretieren. Exemplarisch für eine Lektüre Plessners, die sich von der distinkten Identität seiner einzelnen Werke und dem Denken in philosophischen Disziplinen beeindrucken lässt, hat Gerhard Arlt mit Anthropologie und Politik. Ein Schlüssel zum Werk Helmuth Plessners (Arlt 1996) vorgelegt. Demgegenüber habe ich versucht, einen im naturphilosophischen Ansatz selbst liegenden Schlüssel zu diesem Zusammenhang zu geben, der nicht der nachträglichen Gegenüberstellung oder Verbindung einer in sich kompartimentalisierten Theorie bedarf.
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
Plessner selbst spricht in Lachen und Weinen im Fall gelingender Ausgleichsleistungen von Leibsein und Körperhaben in Unterbietung seiner eigenen Systematik davon, dass es sich dabei „um den Ausgleich zwischen Körpersein und Körperhaben in jeweils verschiedenen Situationen handelt“. (PGS 7: 241) Gegenüber Krüger habe ich in Edinger 2017 das Verhältnis von Leibsein und Körperhaben dahingehend „tiefergelegt“, dass ich dessen ontologisch-medialen Doppelcharakter exponiert habe: Was Plessner die Doppelaspektivität von Innen und Außen nennt, wird in den Ausdrücken „Leibsein“ und „Körperhaben“ in subtilen Akzentuierungen mit einer Akt-Potenz-Ontologie verschmolzen. Im Leibsein wird der Körper als Körper der menschlichen Person angesprochen, die ihn „bewohnt“, die dieser Körper nicht in der Weise eines Dinges ist, sondern selbst dieser Körper unmittelbar ist; er ist dieser Leib nicht nach dem Modell der Empfindung, wodurch dieser ihm als sein eigenes Außen in doppelter Weise gegeben sein müsste, sondern er ist dieser Leib selbst in der Weise eines nicht distanzierbaren Selbstseins, er fühlt ihn nicht bloß, er fühlt ausschließlich durch ihn und unaufhebbar in ihm (wenn auch nicht durchweg sich in ihm heimisch). Im Körperhaben ist der Mensch nicht weniger Leib, aber er ist es modal anders, so wenn er in eine Distanz (z. B. der Unzufriedenheit mit sich, gerade durch ihn) gerät, sei es im weitgehenden Kontrollverlust der Sucht, im Rausch, im ungespielten Lachen und Weinen (vgl. Krüger 1999: 153 ff.), aber auch in Erwägungen, den Leib zu manipulieren, was erforderlich macht, ihn als Körper zu behandeln (und ihn im dazu nötigen Maße „haben“ zu können). Im Leibsein ist der Körper als solcher real, im Körperhaben, einem Den-Körper-haben wie auch ein VomKörper-als-Leib-gehabt-werden, ist es der Leib als solcher. Die Verschmelzung dieser Doppelaspektivität von Leibsein und Körperhaben mit der Akt-Potenz-Ontologie ergibt sich durch die Auffassung von Akt und Potenz als ontologische Strukturmomente: Potentialität der Aktualität des Leibseins beispielsweise ist dessen Nicht-Identität mit sich selbst in der Einheit mit dem Körper, der den Leib zugleich virtuell hat, indem er konstitutives Differenzmoment des Leibseins selbst ist. Aktualität der Potentialität des Körperhabens wiederum ist die Nicht-Identität des Körperhabens mit sich selbst, wenn es sich z. B. im ungespielten, eruptiven Lachen am Leibsein als seinem konstitutiven Differenzmoment insofern bricht, als das Leibsein zugleich als „Instrument“ und Medium der Wiedereinhegung fungiert. Die Ontologie des Ausgleichs bildet den Rahmen der wechselseitigen Beschränkung von Aktualitäten und Potentialitäten verschiedener Weise aneinander und durcheinander. (Vgl. Edinger 2017: 299 f.) Als ontologische Strukturmomente verstanden sind Akt und Potenz das Mehr und Andere des Anderen, jeweils ein Mehr sich selbst gegenüber, insofern sie als solche über sich hinaus zum anderen hin (in der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit) sind, und als das Andere des Anderen (in der Realisierung der Einheit von Subjekt und Objekt des Habens, wie es sich am Beispiel von Leibsein und Körperhaben als medialer Realisierung der Doppelaspektivität aufzeigen lässt) ein Mehr gegenüber diesem, das durch sein Anderes wiederum ein Mehr-als-es-selbst ist. Weil Leibsein und Körperhaben unhintergehbar im Sinne der theoretischen Unübergehbarkeit und praktischen Unübersteigbarkeit sind – weder können wir überhaupt außerhalb ihrer
3.3 Plessners Grundlegung der negativen Ontologie des Organischen
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sein, noch können wir außerhalb ihrer Personen sein –, sind sie, wie die Sprache,¹²⁸ Medien der Personalisierung. Doch ein letzter Schritt ist zu gehen, um Plessners Ontologie des Organischen mit seiner Rollentheorie und deren zentralem Konzept des privat-öffentlichen Doppelgängertums engzuführen (vgl. Edinger 2017, Kap. X). Was auf der Ebene der Darstellung einen Übergang zur Rollentheorie darstellt, ist der Logik der Theorie gemäß nicht mehr als die konsequente Entfaltung der immanenten Bedeutung des Verhältnisses von Leibsein und Körperhaben. Wenn Plessner in den Stufen von Innen und Außen nicht nur als von Aspekten, sondern auch als von Richtungsgegensätzen spricht, dann handelt es sich dabei um Sinnrichtungen (vgl. Edinger 2017: 351 ff.), die sich im Leibsein und Körperhaben als die Sinnrichtungen des Öffentlichen (repräsentiert im Körperaspekt) und des Privaten (repräsentiert im Leibaspekt) zeigen. Verdinglicht werden diese Sinnrichtungen, wenn sie zu Reichen hypostasiert werden, als könnte der Leib einseitig das Private repräsentieren oder verkörpern, als wäre noch das unmittelbarste Leibsein der vermittelten Unmittelbarkeit und damit des Codiertwerdens durch dieselbe im soziokulturellen Prozess ent- oder überhoben. Das privat-öffentliche Doppelgängertum realisiert sich im Medium der Körperleiblichkeit (vgl. Edinger 2017: 346 ff.), prozessual im unabschließbaren Ausgleich von Leibsein und Körperhaben, d. h. es realisiert deren jeweilige Doppelaspektivität gemäß dem Grundsatz, dass die Aspekte Aspekte voneinander sind. Weder lässt die Bedeutung von Privatem und Öffentlichem sich jeweils isoliert erlernen, noch lässt sie sich isoliert realisieren. Weder muss die Differenz von Öffentlichen und Privatem jenseits unserer körperleiblichen Verfasstheit in einer „reinen“ soziokulturellen Nachträglichkeit erlernt werden, weil das privat-öffentliche Doppelgängertum im anthropologischen Strukturbestand unserer Existenz seine Wurzeln findet,¹²⁹ noch ist es mit dem privat-öffentlichen Doppelgängertum selbst schon voll ausgebildet und in „unmittelbarer“ Selbstverständlichkeit gegeben. Die Pointe des privat-öffentlichen Doppelgängertums liegt nicht allein darin, dass dieses eine negative Ontologie der Potenzialität (nämlich
Die Sprache habe ich in Das Politische in der Ontologie der Person als „mediale Materialisierung der exzentrischen Positionalität“ (Edinger 2017: 366) und als gleichberechtigtes Medium in einer medialen Gesamtstruktur der Personalisierung neben Leibsein und Körperhaben expliziert, vgl. ebd.: 366 ff. „Nur der Mensch erscheint als Doppelgänger, nach außen in der Figur seiner Rolle und nach innen, privat, als er selbst. Sein Doppelgängertum kann der Mensch nicht aufheben, ohne seine Menschenhaftigkeit zu negieren. […] Am anderen wird der Mensch seiner habhaft. Diesen anderen trifft er auf dem Umweg über die Rolle, genau wie der andere ihn. Immer vermittelt das Rollenspiel als Gelenk den zwischenmenschlichen Kontakt, soweit er sozial relevant ist und dem Austausch von Leistungen dient.“ (PGS 10: 224) – Er dient dem Austausch wie dem Ausgleich von Leistungen und bedarf selbst dazu Ausgleichsleistungen. Der Mensch, der am anderen seiner habhaft wird, wird seiner selbst jenseits der Rollenhaftigkeit von dieser her habhaft. Die Transzendierung der Rollentheorie muss durch sie hindurchgehen, es gibt keine personale Unverlierbarkeit vor und außerhalb ihrer.
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das Realsein der Mitte als Potenz und als Personalität)¹³⁰ realisiert und zugleich diese Realisierung zur zu bewältigenden Aufgabe hat, sondern auch darin, dass die Ontologie des Ausgleichs, die Plessners Ontologie des Organischen strukturell prägt, sowohl strukturell-ontologisch als auch normativ die menschliche Personalisierung bestimmt. In dieser gedrängten Rekapitulation der wichtigsten Resultate aus Edinger 2017 zeigt sich, dass die Negative Ontologie des Organischen, die von Plessner selbst schlicht als „Ontologie des Organischen“ (PGS 5: 227) entfaltet worden ist, und das privat-öffentliche Doppelgängertum zwei Aspekte einer Theorie, wenngleich auf zwei verschiedenen Ebenen – der naturphilosophischen Grundlegung und der sozialontologischen Ausformulierung – darstellen. Das Verhältnis ist also gerade kein kausales in dem Sinne, dass das Organische die kausale Grundlage der kulturellen Realisierung wäre. Beides, Organisches wie Soziokulturelles, sind ein- und dasselbe in verschiedenen Ausprägungsformen. Die Selbstvermittlung zur Ganzheit im personalen Sinne entfaltet die Doppelaspektivität als reflexiv gewordenen Hiatus (in sich reflexiv qua Differenz und reflexiv als Gesamtstruktur), weshalb die seiende Möglichkeit, welche die menschliche Person ist, Akt und Potenz als Einheit ist, die zugleich in Akt und Potenz zerfällt, indem sie in diesem Zerfallen Selbstentzweiung der Einheit im Prozess ihrer Realisierung, nämlich in der Selbstvermittlung zur Einheit, ist. Akt und Potenz verhalten sich also nicht zueinander wie Disposition und Realisierung, sondern bilden vorgelagerte Strukturmomente des Verhältnisses von Disposition und Realisierung, die für empirische Verhaltensanalysen eine nützliche Unterscheidung darstellen. Um eine dezidiert Negative Anthropologie handelt es sich meiner Lesart zufolge, weil das Verhältnis von Leibsein und Körperhaben ein in sich konstitutionell negativ differenziertes ist: Leib und Körper sind weder ineinander übersetzbar oder umsetzbar, noch durcheinander substituierbar, ihre Seinsweisen sind praktische Verhältnisse, die sich aneinander begrenzen, brechen und durcheinander ergänzen und bilden. Überdies bedarf dieses Verhältnis des medialen Anderen der Sprache, um seine eigene Potentialität zu entfalten. Umgekehrt wächst der Sprache von der gelingenden Verschränkung und misslingenden Verschränkung von Leibsein und Körperhaben eine Kraft und Potentialität von Lebendigkeit zu, die sie aus sich selbst heraus nicht generieren kann, durch die sie aber zu der Sprache wird, in der wir und durch die wir als Personen leben (und uns zu solchen entwickeln und bilden). Keine Verkörperungsweise von Personalität – darum handelt es sich bei sozialen Rollen –, ist erlernbar ohne die Sprache, keine Sprache ist umgekehrt erlernbar, ohne vor- und nichtsprachlich präformierte Sinngehalte und „Kannqualitäten“ transformativ zu bewältigen, die wiederum ihrer eigenen Potentialität nach zu bearbeiten sind. Die
„Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.“ (SOM: 162)
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Ausgleichsbedürftigkeit macht vor so eigenständigen wie aufeinander angewiesenen medialen Modi der Personalisierung nicht Halt. Damit ist sehr komprimiert umrissen worden, wie die ontologische Grundlegung der Philosophischen Anthropologie Plessners und die Rollentheorie als ein Strukturzusammenhang (gemäß der einen Erfahrungsstellung) entwickelt worden sind. Hier ist eine doppelte Negativität unaufhebbar ontologisch und rollentheoretisch verschränkt: Wie der Ausgleich in keine finale Versöhnung überführbar ist, sondern strukturell eine prozessual zu „meisternde“ Nicht-Identität im Sinne der Unmöglichkeit des Zur-Identität-mit-sich-selbst-bringens meint, so ist die Rolle ein eigenständiges Objektives (im emphatischen Sinn: ihr kommt eine Objektivität sui generis zu), die sowohl eine unaufhebbare Differenz zwischen der Person und sich selbst statuiert, als auch medial an Leibsein und Körperhaben (neben der Sprache) als Medium gebunden ist, das nur in Ausgleichsleistungen zu gestalten ist, ohne dass ein finaler Ausgleich möglich wäre, den schon die Negative Ontologie des Organischen im finalen Sinne als strukturelle Unmöglichkeit elaboriert. Sofern man sich auf diesen Zusammenhang beschränkt, könnte man Plessners Negative Anthropologie als eine Realisierungsfigur dessen auffassen, was Kant „Schulphilosophie“ nannte. Nimmt man die Grenzen der Gemeinschaft und vor allem Macht und menschliche Natur in die Betrachtung von Plessners Philosophischer Anthropologie mit auf, so wird man ihrer gewahr als eines denkerischen Einsatzes im Sturm der Geschichte: Die Negative Anthropologie ist nicht mehr bloße Lehre oder Theorie, sondern die systematische Essenz eines Ringens mit dem Gewicht, mit dem die Geschichte auf dem Denken lastet und es dazu herausfordert, als Organ einer bedrängten Existenz auf die Bedrängnisse zu antworten. Darum geht es im folgenden Kapitel.
3.4 Negative Anthropologie im Sturm der Geschichte: Die Grenzen der Gemeinschaft und Macht und menschliche Natur Was in der Überschrift dieses Kapitels „Sturm der Geschichte“ genannt wird, nämlich die ins Mark der Gesellschaft reichende Destabilisierung der zugleich gesellschaftlich militarisierten Weimarer Republik, in der die Nazis bereits im Aufstieg begriffen waren und Politik mit Notverordnungspolitik zusammenzufallen im Begriff war, hat eine indirekte systematische Bewandtnis für Plessners Negative Anthropologie. Denn im „Sturm der Geschichte“ wird die Philosophische Anthropologie nicht aufgegeben und opportunistisch von einer geschichtlichen Anthropologie von kampfparteiischem Gepräge abgelöst, sondern sie wird als eine solche geschichtliche Anthropologie durchgeführt in Übereinstimmung mit den theoretischen Resultaten aus den Stufen. Damit wird Entscheidendes über die Stufen gesagt, nämlich, dass Plessner in ihnen keine akademische Philosophie oder Schulphilosophie formuliert hat, die sozusagen geschichtlich „von außen“ revidiert werden kann, sondern eine Fundamentalphilosophie, die motivisch und terminologisch variierbar ist, ohne sich dabei untreu werden zu müssen.
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Die Grenzen der Gemeinschaft (1924) hat Plessner verfasst, bevor er seiner Philosophischen Anthropologie in den Stufen des Organischen (1928) ihre Grundlegung gegeben hat. Insofern ist die folgende Frage legitim: Ist eine solche Anthropologie dann überhaupt zum Zeitpunkt der Abfassung der Grenzen überhaupt vorhanden gewesen, oder handelt es sich um eine Projektion der Stufen in die Grenzschrift, wenn man diese als Element von Plessners Negativer Anthropologie darstellt? Die Antwort darauf kann nur die Analyse der Grenzschrift selbst geben. Bedarf diese Analyse interpretatorischer anthropologischer Winkelzüge, so firmiert sie zugleich als ihr eigener Ankläger; lässt eine Negative Anthropologie sich als Regie führende Systematik aufzeigen, so spricht nichts dagegen, die Grenzen der Gemeinschaft als erstes Dokument von Plessners Negativer Anthropologie zu lesen.
3.4.1 Die Grenzen der Gemeinschaft: Der anthropologische Aufstand gegen den einseitigen Totalismus der Gemeinschaftsideologie 3.4.1.1 Ethos der Gemeinschaft vs. Ethos der Gesellschaft Plessners Grenzen der Gemeinschaft sind nicht nur deshalb keine akademische oder universitätsphilosophische Schrift, weil die Gepflogenheit des Zitierens und wohltemperierten Argumentierens hinter einer pamphletartigen Polemik zurücktritt; der Anlass der Schrift selber ist kein akademischer, sondern ein politischer, gesellschaftlicher und praktisch-ideologischer. Plessner erwähnt am Anfang seines Vorworts die Gemeinschaftsideologie vorbereitende Denker wie Ferdinand Tönnies, Max Scheler und andere, adressiert jedoch als eigentlichen Träger dieser Ideologie die „vorwärtsdrängenden Kräfte der Jugend“. (PGS 5: 11) und deren Gemeinschaftskult sowie den Kommunismus und die national-völkische Bewegung (vgl. ebd.: 49). Die Abstraktheit der Bestimmung hat ihre Gründe, denn die Alternative Gemeinschaft vs. Gesellschaft ist für Plessner eine von Gesinnungen, deren Träger sich nicht ohne weiteres dingfest machen lassen: Hier aber steht Gesinnung gegen Gesinnung. Ihre Träger sind soziologisch kaum einfach faßbar. Sie fallen nicht in bestimmte Schichten, Berufe, Gruppen. Der Machthaber ist nicht ohne weiteres schon der Starke in unserem Sinne, der wirtschaftlich Schwache umgekehrt nicht unbedingt schwacher Gemeinschaftsapostel. (Ebd.: 32)
Solche typologische Gegenüberstellungen erfordern nicht primär eine soziologische, sondern vor allem eine physiognomische Analyse und eine solche gibt Plessner dem Leser. Dennoch weist Plessner darauf hin, dass der Gemeinschaftsgedanke „besonders im Bewußtsein des Proletariats, schwächer im bürgerlichen Bewußtsein“ (ebd.: 11) wirke und „die geborene Weltanschauung der Ungeduldigen, soziologisch: der unteren Klassen, biologisch: der Jugend“ (ebd.: 14) sei. Generell „entfaltet das Idol der Gemeinschaft seine Anziehungskraft auf die Schwachen dieser Welt“. (Ebd.: 29)
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Gemeinschaft im von Plessner kritisierten Sinne ist keine soziale Realität und keine soziologische Kategorie mehr, sondern eine messianische Anrufungsfigur und Projektionsfläche entfesselter Bedürfnisse nach Bindung und Geborgenheit, die nicht einem reflektierten Gemeinschaftsgedanken sich verschreiben, sondern in eine Gemeinschaftsgesinnung sich umsetzen. Eine Gesinnung, die durch keine Reflexion begrenzt wird, zu sich selbst und vom ihr Erstrebten nicht in Distanz treten kann, die daher eine Vermittlung des Erstrebten mit dem Realen im Hinblick auf eine reale Möglichkeit jenseits der Selbstverabsolutierung nicht zu erreichen vermag, vollzieht den salto mortale in den Radikalismus und „Radikalismus heißt Dualismus“. (Ebd.:14) Dualismus ist hier keine harmlose theoretische Unterscheidung, sondern eine existentielle Entgegensetzung, die gemäß dem Radikalismus nicht vermittelnde Gestaltung, sondern die „Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee, die entweder rational oder irrational, aber in jedem Sinne unendlich ist, Vernichtung der Schranken, die ihrem vollkommenen Ausdruck gezogen sind, um ihrer Materialität, Ungeistigkeit, Unlebendigkeit willen“ (ebd.: 17 f.) erfordert. Dem Radikalismus nach außen hin, in der Gewaltbereitschaft, entspricht ein Radikalismus nach innen hin, in der fanatisch-erlösungssüchtigen Unterwerfung; nicht ist Gemeinschaft ein Idol, sondern sie hat auch ihre eigenen Idole, die „Gebundenheit aus gemeinsamer Quelle des Blutes“ (ebd.: 44) und das Führertum bzw. Herrentum: „Echtes Herrentum schafft Gemeinschaft, gedeiht nur in ihr, denn echte Gemeinschaft braucht den Herrn und Meister, ohne den sie zerfallen müßte“ (ebd.: 43); die Idolatrie der Gemeinschaft bringt „ein emotional getragenes Führertum hervor“. (Ebd.) Die Selbstverabsolutierung bedarf zur Steigerung ihrer Kräfte im Kampf gegen die feindliche Welt einer Maximierung ihres inneren Dichtegrads, den sie durch die Selbstabschließung erreicht und steigert, deren positives ideologisches Korrelat die „seelische Unmittelbarkeit und Echtheit“ (ebd.: 74) sowie das „Ethos der absoluten Rückhaltlosigkeit“ (ebd.: 58) im Verhältnis der Gemeinschaftsmitglieder unter- und zueinander darstellen. Dem setzt Plessner das Gesellschaftsethos entgegen. Das Ethos der Gesellschaft bedarf zu seiner Realisierung der „Sphäre der Öffentlichkeit“ (ebd.: 133), die Plessner unter dem „Gesichtspunkt eines Hygienesystems der Seele“ (ebd.) betrachtet – eines Hygienesystems, das der Sicherung von nicht weniger dienen soll als der menschlichen Würde, für die konstitutiv ist, sich nicht in ausgleichslos bleibenden Exaltationen der Seele zu verlieren.¹³¹ Solche Übersteigerungen, in denen der „Ausgleich des Lebens“ (PGS 5: 40) nicht gelingt, schlagen nach Plessner jemanden mit Lächerlich-
Würde ist für Plessner ein Maßbegriff, sie ist nicht möglich, wo keine Mitte und Vermittlung gefunden wird zwischen dem individuellen Wollen, dem menschlich und individuell sinnvoll Möglichen und der durch das gesellschaftliche Hygienesystem vorgegebenen adäquaten Temperiertheit im Streben: „Würde betrifft stets das Ganze der Person, den Einklang ihres Inneren und Äußeren, und bezeichnet jene ideale Verfassung, nach der die Menschen streben, die aber nur wenigen verliehen ist. Je höher der Mensch hinaus will, um so schwerer erreicht er dieses Ideal, denn mit der Vereinseitigung, der Konzentration auf große Themen reißt er die Kluft zwischen sich und seinen Ambitionen auf.“ (Ebd.: 75 f.)
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keit. Lächerlich gerät die Person, wo die Seele der nackten Eindeutigkeit sich geradezu in einer (anscheinenden, temporären oder, im Falle des Idioten, dem Anschein nach grundsätzlichen) Verhältnislosigkeit gegenüber der Ausgleichsbedürftigkeit überlässt. Das „Risiko der Lächerlichkeit“ (ebd.: 70) gründet in er Struktur der Seele, ihrer Angewiesenheit auf Umwege im Selbstausdruck: „Alles Psychische braucht diesen Umweg, um zu sich zu gelangen, es gewinnt sich nur, indem es sich verliert.“ (Ebd.: 91) Lächerlichkeit im Ausdrucksverhalten ist das unbedachte Wagnis der Nacktheit oder die unbemerkt nackte Selbstexposition: „Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will, es mag die Inbrunst, die ganze Not unmittelbaren Getriebenseins hinter ihm stehen, trägt, indem es sich hervorwagt und erscheint, das Risiko der Lächerlichkeit.“ (Ebd.: 70) Der Vermeidung der Lächerlichkeit dient nicht nur das Bewusstsein des Einzelnen, das in den Dienst der Ausdrucks- und Verhaltensgestaltung tritt, sondern das kulturelle und gesellschaftliche System und Inventar von Gestaltungsmöglichkeiten, das Plessner Zeremoniell nennt: „Zeremoniell bewegt sich in äußeren Formen, die gemeinhin vergehen. Es stiftet Regeln und Gebräuche, treibt auf diese Art auch wohl manches Bleibende, doch ohne sonderliche Absicht, hervor.“ (Ebd.: 90) Das Zeremoniell erschöpft sich nicht, wie der Wortsinn suggeriert, im zeremoniellen Akt, sondern es ist selbst ein Ethos und repräsentiert Gesellschaft als Ethos, nicht als bloße partikulare Faktizität innerhalb derselben.¹³² Auf das Zeremoniell stößt Plessner bei seiner Suche nach einem „Theorem der wahrhaften Stärke, eine[r] Idee, welche die Gesellschaft, das Ethos einer Gesellschaft trägt und verteidigt“. (Ebd.: 34) Den „Zwang zur Verteidigung des Zeremoniells“ (ebd.: 87) nennt Plessner auch den „Zwang zur Form“ (ebd.: 72), in dem Anthropologie und Kulturtheorie sich verschränken, denn dieser Zwang zur Form kann, gerade der immanenten Logik von Plessners Grenzschrift nach, nicht in konkreter oder grundsätzlicher Kulturunabhängigkeit betrachtet und aufgedeckt werden, weshalb es heißt: „Für den Abendländer ergibt sich also neuer Zwang zur Verteidigung des Zeremoniells aus Gründen einer Hygiene der Seele.“ (Ebd.: 87; Hervorhebung, S. E.)
3.4.1.2 Vom Ethos der Gesellschaft zur Ethos der Öffentlichkeit Die Sphäre und das Medium gleichermaßen, in dem die Gesellschaft ihrem Ethos Gestalt verleiht, ist die oben angesprochene Sphäre der Öffentlichkeit. Bilden Gemeinschaft und Gesellschaft Gegensätze, so bilden Individuum und Öffentlichkeit
Auch dieses Ethos ist wiederum kein freischwebendes, sondern mit einem anderen Ethos verwoben, nämlich dem der Grazie, worin sich zeigt, dass Plessner mit dem Ethos der Gesellschaft gerade nicht auf ein Korsett zielt, sondern – gut klassisch – auf eine Schule der Eleganz und Verfeinerung: „Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konvention, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen.“ (Ebd.: 80)
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wechselseitig an- und durcheinander sich formende Grundeinheiten der Gesellschaft, deren Verhältnis Plessner in den Grenzen nicht systematisch entwickelt. Dass es sich beim Verhältnis zwischen Individuum und Öffentlichkeit nicht nur um ein fundamentales, sondern auch um eines handelt, dessen Relata sich wechselseitig konstituieren, zeigen seine Ausführungen zum Ethos der Öffentlichkeit. Das Ethos der Öffentlichkeit nimmt Plessner affirmativ gegen das Ethos der Gemeinschaft auf, wenn er von den „vom Geist der Öffentlichkeit geforderte[n] Verkehrsmittel[n]“ (ebd.: 101) spricht oder „das vom Geist der Öffentlichkeit diktierte Benehmen“ (ebd.: 102) thematisiert. Im Ethos der Öffentlichkeit fungiert dieses als „negative Grenze“ (ebd.: 53) des Gemeinschaftsethos wie des real existierenden Gemeinschaftstypus, ohne dass die Öffentlichkeit in diesem Sinne eine Einbahnstraße der Befehlserteilung gegenüber dem Individuum bildete und von diesem gänzlich unbeeinflusst bliebe. Der Geist der Öffentlichkeit fungiert dabei, gerade als Geist, als Organ „idealer Vertretbarkeit“.¹³³ (Ebd: 56) Zwar „scheitert der Geist, der immer organisch, systematisch und eindeutig“ (ebd.) ist, Plessner zufolge „an der undurchdringlichen Zweideutigkeit der Situationen“ (ebd.), doch die durch den „eindeutigen“ Geist gewährte ideale Vertretbarkeit ist lebenswichtig für die Gesellschaft, da sie gerade die Individualität sichert, die in der idealen Vertretbarkeit, gerade in ihrer regulativen Rolle als Maß und Norm gebende Idealität, einen (sehr realen) Schutz vor der schlechten konkretistischen Vordergründigkeit findet: „Unangreifbarkeit der Individualität wird mit stellvertretender Bedeutung erkauft. Stellvertretende Bedeutung setzt gleichbleibende Abstände zwischen die Individuen und wirkt als Form kompensatorisch einer Entwertung des Menschen in der Erscheinung entgegen.“ (Ebd.: 84) Die Unangreifbarkeit der konkreten Individualität (oder haecceitas) wird durch die Unangreifbarkeit der allgemeinen oder kategorialen Individualität (oder quidditas) gesichert, d. h. die Individualität des jeweiligen Individuums erhält Schutz und gewinnt ihre Unverlierbarkeit für dasselbe überhaupt erst dadurch, dass Individualität als solche und nicht nur oder erst diese oder jene singuläre Individualität geschützt wird.Wer nicht bereit ist, die eigene Individualität unter den Schutz von Individualität als solcher, d. h. unter dem Vorrang der letzteren zu stellen, behauptet nicht heroisch das Selbst gegen die Entfremdung, sondern entscheidet sich, vor die „Wahl zwischen Selbstverzicht und Politik“ (ebd.: 129) gestellt, für den Selbstverzicht. Die Politik hingegen anerkennt nicht nur die empirischen, sondern auch die transzendentalen, für die Spielbarkeit des gesellschaftlichen Spiels unerlässlichen (und unerlässlich zu sichernden) Bedingungen des „Spiel[s] der gegenseitigen Distanz“ (ebd.), das für
Hier wird bereits der Geistbegriff aus den Stufen antezipiert, wo Plessner sagt, dass Geist „nur die mit der exzentrischen Positionsform des Menschen gegebene Sphäre ist“ (SOM: 305). In dieser formalen Bedeutung ist der Geist das Organ ebenfalls formalisierten Mitwelt, die sich durch Vertretbarkeit statt Singularität auszeichnet: „Als reines Ich oder Wir steht das einzelne Individuum in der Mitwelt. Sie umgibt den Einzelnen nicht nur wie die Umwelt, sie erfüllt ihn nicht nur wie die Innenwelt, sondern sie steht durch ihn hindurch, er ist sie. Er ist die Menschheit, d. h. er als Einzelner ist absolut vertretbar und ersetzbar.“ (Ebd.: 343)
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Plessner deshalb so wichtig ist, „weil Individuen nicht überall durch Liebe und Überzeugungen verbunden sind“ (ebd.) (und sein können und deshalb gar nicht erst sein können sollen). Die ideale Vertretbarkeit der Individualität beschränkt sich nicht auf die Individuen, sondern gilt für alle Individualisierungsleistungen, also auch für Verhaltensweisen und -formen; sie ist also nicht nur die Grundlage rechtsförmiger Abstraktionen, sondern auch der Auffassung des Generischen am Individuellen. Plessner nennt diesen Vorgang, der das Recht mit dem Zeremoniell verbindet, Irrealisierung:¹³⁴ „Alle übersehbaren konstanten Beziehungen einheitlich irrealisiert, ohne doch einer Uniformierung und vor allem einer Nivellierung damit schon unterworfen zu sein, werden zusammengefaßt in der Idee des Zeremoniells.“ (Ebd.: 85) Sie werden in ihrer singulären Konkretheit zugunsten eines sie ihrer bloß konkret-empirischen Hinfälligkeit enthebenden Zeremoniells „irrealisiert“, d. h. die Irrealisierung ihrer und damit auch des Individuums erfolgt von einer den Geist der Öffentlichkeit konfigurierenden verbindlichen Idealität aus, der eine regulative Kraft zukommt, in deren praktischer Anerkennung das Individuum zur Person sich erhebt. Trotz dieser Irrealisierungslogik ist das Ethos der Öffentlichkeit alles andere als starr, denn nur weil es den Wert von Formalisierungen erkennt und in sinnvoller Weise implementiert, ist die Öffentlichkeit als durch Individuen konstituierte und von ihnen beseelte auch ein Lebendiges und als solches formbar – anders könnte Plessner auch nicht von einem „Geist der Öffentlichkeit“ (ebd.: 101) sprechen. Durch die Öffentlichkeit bestimmt sich zugleich, was gegenüber ihrem bestehenden Inventar an Individualisierungsmöglichkeiten als abweichend sich zeigt oder inszeniert, und diese Abweichung kann in modifizierender Weise auf die Öffentlichkeit zurückwirken: Zwingt die Öffentlichkeit den Menschen zu einer bestimmten Physiognomie, gewährt sie ihm den (im Idealfalle begnadeter Produktivität endgültigen) Ausgleich innerer Spannung durch den Stempel einer geistigen Funktion, so wirkt diese Beziehung ihrerseits auf das wirksame Ganze zurück und gibt der Öffentlichkeit damit innere Struktur und äußere Form. (Ebd.: 95)
Die Öffentlichkeit im Sinne des Ethos ist kein Herrschaftssystem, sondern eine normative Kraft, die sich durch eine inhärente, aber nicht starre und blinde Verbindlichkeit auszeichnet. Das Individuum kann modifikatorisch auf das Ethos zurückwirken, es kann es aber nicht schlicht ignorieren, weil seinem Handeln sonst der Resonanzkörper fehlt, der ihm überhaupt erst Sinn und Verständlichkeit verleiht. Zugleich wird das Ethos nicht vom Individuum modifiziert, wenn dieses modifikatorisch auf das Ethos zurückwirkt, sondern das Ethos verändert sich in der Auseinandersetzung mit dem Individuum. Der Chemismus einer Veränderung durch einen
Eine andere Variante von Irrealisierung, die Plessner explizit anspricht, ist die „Irrealisierung der Person zum Träger einer gesellschaftlichen Funktion“. (Ebd.: 90) Noch grundsätzlicher vermittelt die Irrealisierung das Individuum mit der Rollenhaftigkeit: „ Was aber ist der Sinn des Spieles, wenn nicht die Irrealisierung des natürlichen Menschen zur Trägerschaft irgendeiner Bedeutung, irgendeiner Rolle?“ (Ebd.: 94)
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Influx samt seiner ihm zugrundeliegenden Kausalitätsvorstellung geht an der dialektischen Dynamik der Öffentlichkeit vorbei. Diese dialektische Dynamik der Öffentlichkeit macht erforderlich, die „Logik der Öffentlichkeit“ zu vertiefen zu einer „Anthropo-Logik“ der Öffentlichkeit: Die Logik der Öffentlichkeit ist bei Plessner eine strukturell-anthropologische, der ihr entsprechende Öffentlichkeitsbegriff ein anthropologischer Öffentlichkeitsbegriff.
3.4.1.3 Vom Ethos der Öffentlichkeit zur Anthropo-Logik der Öffentlichkeit Im Übergang von der Sphäre der Öffentlichkeit zur Logik der Öffentlichkeit ist der Rückgang auf die Zweideutigkeit der Seele unerlässlich, weil Plessner hier bereits in der Grenzschrift das privat-öffentliche Doppelgängertums antezipiert. Was Plessner in den Stufen als Ontologie des Ausgleichs präsentiert, firmiert in den Grenzen der Gemeinschaft noch in begrifflicher Inkonsequenz unter dem Namen der „ontologischen Zweideutigkeit“ (ebd.: 63) der Seele, an anderer Stelle unter dem der „ontischen Zweideutigkeit des Psychischen“. (Ebd.: 92) Nachträglich auflösen lässt diese Inkonsequenz sich nicht, aber dass Plessner überhaupt von einer ontologischen Zweideutigkeit spricht, zeigt, dass er sich denkerisch bereits auf dem Weg zur einer Philosophischen Anthropologie befand und den Fundamentalstatus der Konstitution der Seele nicht unterschätzt hat. Die „Logik der Öffentlichkeit“ (Ebd.: 103) ist demzufolge keine Logik eines empirischen Bereichs, sondern diese Logik korrespondiert intim mit der strukturellen Ausgleichsbedürftigkeit des seelischen „Antagonismus von Kraft und Erscheinung“ (ebd.: 72), den Plessner an anderer Stelle präzisierend den „Antagonismus der Kräfte, die zur Geltung und zur Verhüllung den Menschen treiben“ (ebd.: 64), nennt. Dieser Antagonismus ist nicht empirischer Natur, sondern nur seine Entfaltung ist es, er selbst ist ein dem Menschen unverfügbares¹³⁵ Element der „dialektischen Dynamik des Psychischen“ (ebd.: 66), die sich darin manifestiert, dass das Psychische zwischen einer ihm inhärierenden doppelten Tendenz, nämlich „zwischen einer Zeige- und Offenbarungstendenz und einer Scham- und Verhüllungstendenz hin und her gezogen“ (ebd.: 74) wird. Diese Offenbarungstendenz ist keine (bewusstseins‐)intentionale Tendenz, sie ist dem Psychischen als einer über es verfügenden Kontroll-, Inzeptionsoder Hemmungsinstanz entzogen; es handelt sich um eine Tendenz, die der Körperleiblichkeit des Menschen selber innewohnt, um die in der Form einer Tendenz gefasste „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus“ (SOM: 323), wie es in den Stufen später heißt. Diese Ausdrücklichkeit wird in den Grenzen der Gemeinschaft vom Imperativ ihrer Gestaltung her betrachtet, weshalb Plessner die Notwendigkeit, die Ausdrücklichkeit in korrektiver Weise dem „Zwang zur Form“ (PGS 5: 72) zu unterwerfen, her-
„Den Antagonismen von Scham und Eitelkeit, Naivität und Reflexion, Realität und Illusion, die ihm keine Ruhe des Lebens, keine eindeutige Richtung lassen, weil sie nicht in seine Gewalt gegeben sind, muß er entfliehen, um eine Position vor anderen wie vor sich zu gewinnen.“ (Ebd.: 79)
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ausstellt, wobei er bereits das später erst ausformulierte Konzept von Leibsein und Körperhaben klar antezipiert: „Wohl ist der menschliche Körper Leib, d. h. Ausdruck von Seele, er verhüllt insofern nicht, prägt vielmehr das Unsichtbare in Gesicht, Haltung, Figur und Gesten praktisch um.“ (PGS 5: 74) Die Verhüllungsfunktion von Kleidung etwa reicht also schon weit über eine biologische Schutzfunktion hinaus und ist bereits ein Moment der Teilnahme am Sinn- und Bedeutungsreservoir einer Gesellschaft; die Kleidung ist nicht bloße Bedeckung, sondern Gestaltung (einer nicht semantisch neutralen Gestalt des Körperleibs, dem Haltung und Bewegungsfigur unaustilgbar eigen sind), nicht Funktionselement, sondern Bedeutungsträger. Sie sagt etwas über jemanden aus, der unweigerlich durch seine Bekleidung etwas (über sich) aussagt. Die „dialektische Dynamik des Psychischen“ (ebd.: 68) setzt also schon am Körperleib selbst an, an Bewegungs- und Kleidungsweisen, sie und ihr Verhältnis zur Logik der Öffentlichkeit erschöpfen sich darin allerdings noch nicht. Anders gesagt: Die dialektische Dynamik des Psychischen mobilisiert bereits keimhaft, was Plessner erst Jahrzehnte später das privat-öffentliche Doppelgängertum nennen wird. Insofern ist die Logik der Öffentlichkeit eine Anthropo-Logik derselben. Doch die dialektische Dynamik des Psychischen wird in der Grenzschrift nicht vom Körperleib her gewonnen und auch nicht an ihm exemplifiziert, sondern sie wird von Plessner deutlich grundsätzlicher gefasst als personalitätskonstitutive Einheit der Differenz von Sein und Werden, und zwar als seiende Möglichkeit.¹³⁶ Wie schon in seiner Klages-Kritik in der Deutung des mimischen Ausdrucks versteht Plessner das Verhältnis von Seele und Ausdruck auch in den Grenzen nicht metaphysisch, als wäre das Ausdrücklichwerden der Psyche nicht mehr „als bloßer Strom oder Gerinnen der Strömung zu fester Gestaltung. Sie ist Werden und Sein in einem, weil sie zugleich die Genesis von beiden ist.“ (Ebd.: 62) Die Genesis von beiden ist sie gerade in dem Maß, in dem sie in keinem ihrer Momente aufgeht aufgeht, Differenz und Drittes gegenüber beiden ist, d. h. das Ausdrücklichwerden des Psychischen ist keine Emanation desselben, in der sich selbst zur in sich abgeschlossenen Fixierung brächte, sondern sie ist erscheinendes Sein im Übergang, in Differenz zu sich selbst und in vorlaufender, struktureller Nicht-Identität mit ihrem werdenden Selbst und deshalb, wie es in den Stufen später heißt, als Potenz real. Diese Potenz selbst ist kein Besitz des Individuums, sondern Seinsqualität (als „Kannqualität“, SOM: 172) des Individuums als sozial verfasstem, das deshalb nur rollenhaft existieren kann: „Kann der Mensch es nicht wagen, einfach und offen das
Die Verbindung zwischen der „ewigen Potentialität“, von der Plessner in den Grenzen (vgl. ebd.: 59) spricht, und der seienden Möglichkeit, hat Kai Haucke in seinem Aufsatz „Plessners Kritik der radikalen Gemeinschaftsideologie und die Grenzen des deutschen Idealismus“ (Haucke 2002: X.) explizit angesprochen, ohne allerdings den Begriff der seienden Möglichkeit über den engen Geltungsbereich des Lebendigen zu erheben: „Ewige Potentialität, oder wie es später in den Stufen heißt: seiende Möglichkeit, wird für Plessner zu dem ontologischen Prinzip, mit dem sich Lebendiges fassen läßt. Und mit dieser ontologischen Umstellung wird ein weiterer Unterschied zwischen den idealistischen Systemphilosophen und Plessner deutlich.“ (Haucke 2002: 117)
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zu sein, was er ist, so bleibt ihm nur der Weg, etwas zu sein und in einer Rolle zu erscheinen.“ (PGS 5: 82) Die soziale Rolle, die hier bereits ontologische Dignität genießt und nicht den Status eines kontingenten Dekorums innehat, verleiht dem sozialen Sein des Menschen eine klare (Selbst‐)Ansichtigkeit und eine relative Festigkeit, zugleich aber den Anschein der Abgeschlossenheit und des Konvergierens von Individuum und Rolle, weshalb wiederum gilt: „Jedes Zusammenleben trägt den Keim des Aneinandervorbeilebens in sich, weil die Seelen mehr sind als was sie wirklich sind.“ (Ebd.: 59) Die grundlegende Aporie des Sozialen, die in der Zweideutigkeit der Seele wurzelt und gleichsam deren Übersetzung qua Entfaltung¹³⁷ ins Soziale darstellt, besteht darin, dass „seelisches Leben, kaum zu seelischem Sein abgesetzt und der Beurteilung klar und deutlich geworden, in den unendlichen Quellgrund seiner selbst wieder zurückgenommen wird“, anders gesagt: „In der Definition gewinnt es Gestalt, büßt aber an Möglichkeit ein.“ (Ebd.: 65) Notwendigkeit der rollenhaften Partizipation an der Gesellschaft und Aporie der unfreiwilligen Selbstfixierung durch prinzipiell fixierende Rollen wurzeln in der ontologischen Zweideutigkeit des Psychischen, die wiederum das Psychische antagonistisch befeuert: „Der doppeldeutige Charakter des Psychischen drängt zur Fixierung hin und zugleich von der Fixierung fort.“ (Ebd.: 63) Damit formuliert Plessner keine Kalamität, sondern eine anthropologisch bedingte sozialstrukturelle Herausforderung, die nach ihrer Gestaltung verlangt, nicht nach der Erlösung von ihr. Das größte Problem sind nicht die Qualen und Kämpfe einer dem Gesellschaftlichen und der Öffentlichkeit ausgesetzten Individuation, sondern der Versuch, die ontologische Zweideutigkeit im gemeinschaftlichen Eindeutigkeits- und Intimitätskultus stillzustellen. Ungleich wichtiger als die schiere Vergeblichkeit, dem Zeremoniell in die Gemeinschaft zu entfliehen, die ihrer anti-gesellschaftlichen Haltung zum Trotz noch darin gründet, dass „der einzelne in die Gemeinschaft nach einem bestimmten Zeremoniell aufgenommen“ (ebd.: 45) wird, ist die individuationsmaieutische Potenz des gesellschaftlichen Ethos, das dem Individuum dazu verhelfen soll, Person zu werden, indem es sich die ontologische Zweideutigkeit der Seele individuativ produktiv aneignet; Plessner nennt diese Aneignung eine aktive Selbsteinbeziehung in das Gesellschaftsleben: Indem ein Zeremoniell feste Regeln für das Verhalten des einzelnen bedeutet und alle individuellen Unterschiede aus seinen Kreisen verbannt, gewissermaßen eine Umprägung der Persönlichkeit in statischer Richtung vornimmt und das flüchtige Dasein zu bleibenden Symbolen verzaubert, in die Zeit den Nimbus der Dauer bringt, macht es sich selbst ohnmächtig, den Wechsel der Kräfte, die andauernden Machtverschiebungen in den Bereich der Irrealisierung einzubeziehen. Diese Einbeziehung ist jedoch gefordert. (Ebd.: 87)
In einer geschraubten Kunstsprache müsste man strenggenommen von einer „Übersetzung-Entfaltung“ sprechen, weil es sich bei beiden um einen Prozess in seiner doppelten Gestalt handelt: Die Übersetzung ist nicht anders zu leisten als in die Sprache hinein, die sozial eine Entfaltung darstellt; die Entfaltung selbst übersetzt, wo sie sich ereignet, strikt die Sprache bzw. das Sprachgeschehen der Seele.
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
Die Logik der Öffentlichkeit betrifft hier die Seele gleichermaßen wie den Körperleib, der als Eigenes gegen Fremdes, als Eigenes durch Fremdes und manchmal auch als Fremdes durch Fremdes erfahren wird. Das Eigene durch die Fremdheit hindurch zum Eigenen zu machen heißt, durch Irrealisierungsleistungen hindurch zu einer in sich plurivalenten Realität zu gelangen. Die Fremdheit nicht als Katastrophe für das Eigene zu erfahren heißt, durch Anderes hindurch und damit in auferlegter Abstandnahme von sich selbst wieder zu sich selbst und zu einer reiferen Abständigkeit gegen ein „durchgearbeitetes“ Anderes zu gelangen. In Plessners Negativer Anthropologie gilt der Vorrang der Zweideutigkeit, die Bejahung der Prekarität des in der Vorläufigkeit seines Ausdrucksverhaltens sich selbst verfehlenden Psychischen, das von den Rollen, deren es bedarf, selbst wiederum Gestaltungsmöglichkeiten erhält und zugleich durch die Rolleneinnahme (letztlich und produktiv) verfehlt wird. Praktisch bedeutet Negative Anthropologie hier: Bejahung der antagonistischen Selbstvermittlung des Individuums zur Person als antagonistische; in den Grenzen: als gemäß der dialektischen Dynamik des Psychischen ontologisch zweideutige Selbstvermittlung. Die produktive Funktion der Rollenhaftigkeit der Existenz besteht nicht in der Fixierung des Psychischen, sondern in der Schutzfunktion¹³⁸ und der Gewinnung von Gestaltungsmöglichkeiten, die an die Logik der Öffentlichkeit gebunden sind – der Öffentlichkeit als Sphäre und der Öffentlichkeit als der anthropo-logischen Struktur der Selbstvermittlung des Individuums zur Person.
3.5 Macht und menschliche Natur: Die Geburt der Geschichtlichkeit im und aus dem Sturm der Geschichte Bei Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931) handelt es sich um eine Schrift, die innerhalb von Plessners Werk einen eigenwilligen Status einnimmt. Theoretisch wird darin weder mit den Grenzen der Gemeinschaft noch mit den Stufen gebrochen, doch über weite Strecken (vom Schluss abgesehen) handelt es sich dabei um eine Schrift, die nicht zwingend darauf schließen lässt, dass es sich bei ihr um den Autor von Die Stufen des Organischen und der Mensch handelt; zudem knüpft Plessner an die Schrift später so gut wie nicht an und erwähnt diese in der Reihe Fachschriften zur Politik und staatsbürgerlichen Erziehung erschienene Schrift in seiner biographischen Selbstdarstellung nur in einer Fußnote eines kurzen Absatzes. (Vgl. PGS 10: 323) Dabei enthält, wie im Folgenden
„Wie aber, wenn das psychische Leben die vielleicht widervernünftigen, doch von der Natur erzwungenen Formen des sozialen Verhaltens (die nicht eher zu überwinden sind, als bis die Natur selbst überwunden ist) von sich aus gutheißen und veredeln kann, weil es sie braucht? Wie dann, wenn die Psyche Gewaltmittel als Schutzmittel der Distanz und Verhaltenheit,Vornehmheit und Künstlichkeit zu ihrer Entwicklung braucht, weil sie durch allzu große Nähe, durch restlose Aufrichtigkeit und Unverhülltheit leidet und Schaden nimmt?“ (Ebd.: 132)
3.5 Macht und menschliche Natur
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gezeigt werden soll, Macht und menschliche Natur eine entschiedene lebensphilosophische Ausformulierung von Plessners Negativer Anthropologie. Plessners Argumentationsgang kann hier nicht in seiner verwinkelten und teilweise sprunghaften Darlegung gefolgt werden, noch können sämtliche Abzweigungen, die der Autor nimmt, beachtet werden. Was im gesamten Kapitel 3.9. konzentriert und zielstrebig unternommen werden soll, ist (1) eine Analyse der Auffächerung des Anthropologiebegriffs in mehrere, wiederum intern differenzierte Anthropologiebegriffe, (2) eine Bestimmung von Plessners im Untertitel plazierten, aber in der Schrift selbst nicht aufgegriffenen Begriff der „Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“, um in dessen Analyse eine Bestimmung des Verhältnisses von geschichtlicher Weltansicht und geschichtlichem – gelebten und zu lebendem – Leben zu erschließen, die zeigen soll, dass Plessner in Macht und menschliche Natur keinem (musealisierenden) Relativismus das Wort redet, sondern eine Aneignung der Geschichtlichkeit im Hinblick auf die zu lebende und zu gestaltende Geschichte im Visier hat.
3.5.1 Die diversen Bedeutungen von „Anthropologie“ Im Folgenden werde ich werde drei Bedeutungen von „Anthropologie“ innerhalb von Macht und menschliche Natur diskutieren, um mich vom einfach Benennbaren und Darstellbaren zur Geschichtlichkeit als dem Epizentrum der Schrift vorzuarbeiten.
(1) Die apriorische Anthropologie Wie das substitutive „oder“ in Plessners Ausdruck „apriorische Anthropologie oder Existentialanalyse“ (PGS 5: 158) indiziert, bezeichnet Plessner als apriorische Anthropologie schlicht Heideggers Existential- oder Daseinsanalyse. Fraglich ist allerdings, ob Plessners Einwand, dass die Existentialanalyse „durch die methodische Anweisung das Eigentliche des Daseins als die Daseinheit (Menschheit) präsentiert, die allererst den Menschen zum Menschen macht“ (ebd.), wodurch „die Menschheit im Menschen zum Wesen des Menschen“ (ebd.) werde, den Kern von Heideggers Philosophie trifft. Dieses Wesen des Menschen ist allerdings Plessner zufolge eine apriorische im Sinne einer generalisierten Ich-Projektion:¹³⁹ „Fraglich muß eine Analyse des Wesens Mensch, die so angesetzt ist wie die Heideggersche, in der einheimischen Region dessen, was ich je selbst bin, anfangen.“ (Ebd.: 157) Doch dieses Anfangen nimmt Plessner zum Anlass, (denkerisches) Anfangen und (theoretischen) Ansatz miteinander gleichzusetzen, wodurch Heideggers Philosophie als im Ansatz
„Im Enderfolg kommt mit der apriorischen Anthropologie so oder so eine Verabsolutierung bestimmter menschlicher Möglichkeiten heraus.“ (Ebd.: 159)
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auf fatale, weil das Denken „ethnozentrisch“¹⁴⁰ einengende, Weise selbstbezüglich bzw. selbstbefangen dargestellt wird. Plessner fragt, der „Stationen der Sorge, des Seins zum Tode, der Angst“ (ebd.) eingedenk, mit dem Blick auf „andere Auslegungsformen der Existenz“ (ebd.): „Sind diese anderen Auslegungsformen nicht mit der eigenen nicht nur gleich möglich, als ‚transzendental zufällige‘ Formen der Verfallenheit, sondern auch gleichberechtigt?“ (Ebd.) Ja, aber lässt sich diese Frage nicht so ausnahmslos wie gegen jeden Inhalt indifferent an jeden Ansatz richten? Was hier prima facie sich als Flapsigkeit darstellen könnte, berührt ein zentrales Problem von Macht und menschliche Natur, das in den weiteren Abschnitten aufgenommen werden wird: Wo verläuft die Grenze zwischen der geschichtlichen Weltansicht und dem historistischen Relativismus, den Plessner gerade angreift? Vollzieht in diesem Einwand gegen Heidegger die geschichtliche Relativierung nicht den salto mortale in einen leeren Apriorismus des Immer-auch-anders-sein-könnens? Darauf werde ich weiter unten zurückkommen.
(2) Die politische Anthropologie Den Begriff der politischen Anthropologie verwendet Plessner in drei Bedeutungen: Erstens kann politische Anthropologie sich auf eine historisch bestehende politische Anthropologie beziehen, wie Ludwig Woltmann (1903) sie in seinem Buch Politische Anthropologie. Eine Untersuchung über den Einfluss der Descendenztheorie auf die Lehre von der politischen Entwicklung der Völker ausgeführt hat. Plessner kommentiert dieses Buch kurz und knapp: „Gegen eine ihrer empirischen Grenzen bewußte Sozialanthropologie richten sich diese Ausführungen natürlich nicht.“ (PGS 5: 144, FN 3) In dem Zusammenhang dürfte interessant sein, dass Woltmann in der Einleitung die folgende programmatische Vorgabe formuliert: Die biologische Geschichte der Menschenrassen ist die wirkliche und grundlegende Geschichte der Staaten. Statt ihrer machte man bisher fast allein die Entwicklung der politischen Einrichtungen und Ideen in einseitigster Weise zum Gegenstand historischer Untersuchungen, während man darüber die realen Menschen selbst, die leibhaftigen Rassen, Familien und Individuen als organische Erzeuger und Träger der politischen und geistigen Geschichte gänzlich vergaß. (Woltmann 1903: 1)
Wogegen richten sich Plessners Bedenken dann? Gegen die folgende politische Anthropologie: Mit politischer Anthropologie kann zweitens gemeint sein eine Anthropologie, die letztlich eine Philosophie ist, da Plessner in ihrem Falle davon spricht, „daß die Philosophie von einem gesicherten Bestande an Erkenntnissen sich aus der Politik als einem bisher von ihr vielleicht zu sehr vernachlässigten ‚Gebiet‘ zuwendete,
In der weiten Bedeutung von „ethnozentrisch“ wird dieser Begriff von Richard Rorty affirmativ aufgenommen im Sinne einer unausweichlichen horizonthaften Prägung, mit der offensiv und produktiv umzugehen sei, vgl. Rorty 1991a u. b und Rorty 1982: 173.
3.5 Macht und menschliche Natur
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dann wäre politische Anthropologie eine reine Anwendungsfrage“. (Ebd.: 140) Es ist fraglich, ob eine solche politische Anthropologie überhaupt noch im strengen Sinne als eine solche angesehen werden könnte, da sie ihre vermeintlichen Erkenntnisse gar nicht selbst, weder philosophisch noch anthropologisch, entwickeln, sondern fertig aus einem ihr letztlich fremden Gebiet beziehen oder sie von der Politik – mit Günther Anders gesprochen – sich liefern lassen würde. Letztlich ist sie in dieser Bedeutung Gegenstand einer Ideologienlehre oder -kritik. (Vgl. ebd.: 145 f.) Die dritte Bedeutung von politischer Anthropologie, mit der Plessner sich befasst, führt ins Zentrum von Macht und menschliche Natur. In diesem Verständnis ist die politische Anthropologie direkt auf die Politik selbst verwiesen, sie ist „dann primär kein Gebiet, sondern der Zustand des menschlichen Lebens“ (ebd: 201), von dem her die „Blickrichtung auf den Menschen als Macht und Können“ (ebd.) zielt. Wie die politische Anthropologie in diesem Sinne kein Gebiet mehr ist, so ist sie aber auch kein Gesetz- oder wenigstens Direktivengeber, denn der Mensch als Macht und Können ist gerade der lebendige Mensch, wobei Lebendigkeit keine abstrakte Qualität, sondern ein Eingebettetsein in die Dynamik des Lebens meint, die als solche vom Menschen angenommen und als Aufgabe genommen wird, in deren Licht er sich selbst zur Aufgabe wird. Um dieser Aufgabe aber im vollen Umfang gerecht zu werden, muss er den „Horizont, in dem der Mensch die Sinnbezüge seiner selbst und der Welt, das gesamte Apriori seines Sagens und Tuns gewinnt“ (ebd.: 201), reflektierend übernehmen. Die politische Anthropologie tritt damit in die philosophische Anthropologie ein, denn das, wovon Plessner hier spricht, leistet die philosophische Anthropologie, aber sie kann es nicht als Unternehmung mit theoretischem Selbstzweck leisten, denn sie kann nicht aus dem Leben aussteigen, sondern muss von diesem her zu ihm zurückdenken: „Damit ist ein Zusammenhang zwischen dem Wesen des Menschlichen und Politischen ausgesprochen, der seine Rechtfertigung aus dem philosophischen Charakter der Wesensbestimmung empfängt. Er ruht auf dem Prinzip der Unergründlichkeit oder der offenen Immanenz.“ (Ebd.: 201 f.) Damit bestätigt Plessner, was er im ersten Satz von Macht und menschliche Natur sagt, nämlich dass die „oberste Frage der politischen Anthropologie: wie weit gehört Politik – der Kampf um Macht […] zum Wesen des Menschen, […] nur von philosophischem, nicht von politischem Interesse“ (ebd.: 140) zu sein scheine. Wenn Plessner sagt, dass die philosophische Anthropologie nur als politische möglich sei (vgl. ebd.: 201), so gilt umgekehrt für die politische Anthropologie, dass sie entweder in die Lebensphilosophie eingeht und in ihr aufgeht oder disziplinäre Territorialansprüche samt Fachidentität beanspruchen muss, was wiederum bedeuten würde, dem Anspruch der Lebensphilosophie nicht mehr genügen zu können und innerhalb des Lebens zu einer über dessen Unergründlichkeit verfügenden wollenden Kraft werden zu wollen.
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(3) Die philosophische Anthropologie Die philosophische¹⁴¹ Anthropologie in ihrer oben bereits angesprochenen Bedeutung ist die genuin philosophische Anthropologie, die Plessner – gleich der „gebietsförmigen“ oder disziplinären politischen Philosophie – von der philosophischen Anthropologie als philosophischem Gebiet strikt abgrenzt: Es gibt nicht die allgemeine philosophische Anthropologie mit verschiedenen Anwendungsgebieten des Politischen, Religiösen usw.; es gibt ebensowenig über der Anthropologie die Philosophie, die sich nach einzelnen Anwendungsgebieten, unter die z. B. auch der Mensch und die Geschichte gehören, auffächern ließe. (Ebd.: 202)
Dementsprechend bestimmt Plessner die genuine philosophische Anthropologie von der Art und Weise her, wie sie auf den Menschen begreifend zugeht: [B]egreifen wir ihn als Schöpfer, […] dann bahnen wir im Blick auf diese in der Linie geschichtlicher Weltauffassung liegende Möglichkeit den Weg zur universalen Wesenslehre des Menschen oder der philosophischen Anthropologie. Ihre fundamentale Schwierigkeit stellt sich sofort als eine doppelte in der Fassung ihres Gegenstandes, des ‚Wesens‘ von ‚Mensch‘, und ihres Vorgehens auf diesen Gegenstand hin dar. (Ebd.: 151)
Der im letzten Satz genannten fundamentalen Schwierigkeit kann die philosophische Anthropologie nur als Philosophie gewachsen sein, genauer: als Lebensphilosophie. Die Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht wird nicht unter dem Namen der philosophischen Anthropologie entwickelt, sondern unter dem der Lebensphilosophie, gleichwohl aber als philosophische Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. Doch Plessner behält nicht einfach den missverständlichen, weil bereits durch Scheler besetzten Begriff der philosophischen Anthropologie bei, sondern entwickelt im expliziten Anschluss an Dilthey die genannte Anthropologie, die er als die „neue Anthropologie“ bezeichnet: „Mit ihm [Dilthey, S. E.] beginnt die neue Anthropologie. Und nur von ihm aus läßt sich die Idee des Menschen, da sie der geschichtlichen Perspektive verhaftet bleibt, so exponieren, wie es dem Sinn der Politik entspricht.“ (Ebd.: 165) Obwohl Plessner den Ausdruck „neue Anthropologie“ verwendet und in Macht und menschliche Natur mit der philosophischen Anthropologie im Sinne einer (dem Typus der apriorischen Anthropologie zuzuordnenden) Wesenslehre nichts zu tun haben will, behält er den Begriff der philosophischen Anthropologie zugleich bei. Was hier der Form nach ein Widerspruch ist, ist bei Plessner der Sache nach eine Doppelbödigkeit, denn am Ende von Macht und menschliche Natur greift er seinen eigenen Ansatz aus den Stufen explizit unter dem Namen der „philosophischen Anthropologie“ auf und führt damit den vorher teilweise distanziert, teilweise im Sinne einer der
Ich folge hier, anders als in den sonstigen Teilen, Plessners Schreibweise in Macht und menschliche Natur, um immanente Missverständnisse zu vermeiden, obgleich anderweitig Missverständnisse dadurch evoziert werden könnten.
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Naturphilosophie gegenüber anscheinend indifferenten „Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ verwendeten Begriff der philosophischen Anthropologie gleichsam durch die Hintertür wieder ein. Diese Wiedereinführung des Terminus „philosophische Anthropologie“ am Ende von Macht und menschliche Natur hat zwei Gründe für sich: Erstens steht die exzentrische Positionalität als systematische Zentralfigur¹⁴² der Stufen zur Systematik von Macht und menschliche Natur nicht im Widerspruch; darauf wird noch näher einzugehen sein. Zweitens haben Entstehungsbedingungen von Macht und menschliche Natur – der Zeitdruck und der begrenzte zur Verfügung stehende Raum – keine systematische Zusammenführung der Perspektiven erlaubt, wodurch der Rückgriff auf die Stufen am Ende der Schrift mit einer auffälligen Abruptheit erfolgt, dazu noch in einem Abschnitt, der mit „Gebundenheit an ein Volk“ überschrieben ist. Die Naturphilosophie wird in diesem Abschnitt durch den Rekurs auf den Körper mit dem Volk parallelisiert; Körper und Volk repräsentieren hier zwei Weisen der „Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst“. (Ebd.: 231) Was naturphilosophisch allzu triftig ist und hervorgehoben zu werden verdient als Aufzeigen der Kompatibilität des naturphilosophischen mit dem geschichtlichen Ansatz bei Plessner, ist im Falle des „Volks“ eher als publizistisches Manöver zu verstehen, mit dem die philosophische Anthropologie der Stufen nicht weitergesponnen und vertieft, sondern verlassen wird. Mit dem Volksbegriff wird die Mitwelt, wie Plessner sie in den Stufen einführt, einerseits – jedenfalls nach deren Logik – überdeterminiert gegenüber der Gesellschaft, andererseits geschieht diese Überdeterminierung der Semantik von „Volk“ im Sinne der Gemeinschaft, nicht im Sinne der Gesellschaft oder der Öffentlichkeit. Die Volkhaftigkeit, wie Plessner sie einführt, ließe sich innerhalb seiner lebensphilosophischen Systematik prinzipiell nur dann in Anschlag bringen, wenn er das Verhältnis zwischen dem Verbindlichnehmen der Unergründlichkeit und dem Verhältnis des Menschen zu den Überlieferungen, in denen er steht und in die gestellt seine Individuierung und Personalisierung sich vollzieht, anders bestimmen würde, nämlich zugunsten der Verbindlichkeit der Überlieferung und ihrem Vorrang vor der Unergründlichkeit. Dann wäre es um die Negative Anthropologie jedoch geschehen. Wie die Negative Anthropologie allerdings von Plessner bis auf den Volksbegriff konsequent und in Übereinstimmung mit seiner naturphilosophischen Grundlegung und der Negativen Ontologie des Organischen und vor allem der des Ausgleichs ausgeführt wird, ist Thema der folgenden Überlegungen.
Ebensowenig tut es das Konzept der seienden Möglichkeit, wie ich es in Edinger 2017 umrissen habe, um die exzentrische Positionalität ontologisch „tieferzulegen“.
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3.5.2 Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht als Lebensphilosophie. Zum Verhältnis von Leben, Geschichte und der Geschichtlichkeit des geschichtlichen Lebens Plessner führt zwar Dilthey als Inaugurator der „neuen Anthropologie“ an (ebd.: 165), doch Plessners These über Dilthey, dass „nur von ihm aus […] die Idee des Menschen“ (ebd.) sich so exponieren lasse, „wie es dem Sinn der Politik entspricht“ (ebd.), erweist Macht und menschliche Natur selbst als falsch. Dilthey verkörpert geradezu mustergültig einen Geistestypus, den Plessner zu überwinden versucht, nämlich den Typus des überlieferungstreuen Denkens. Von Dilthey wird zwar gerne der Satz: „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit“, (Dilthey 1990: XVIII) zitiert, doch darüber verliert man gerne aus dem Auge, dass Dilthey noch auf der selben Seite die Überlieferung als für denjenigen verbindlich erklärt, der den dem traditionellen Subjekt entgegengesetzten ganzen Menschen verstehen wolle: „Die Methode des folgenden Versuchs ist daher diese: jeden Bestandteil des gegenwärtigen, abstrakten, wissenschaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menschennatur, wie Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen und suche ihren Zusammenhang.“ (Ebd.) Die Erfahrung wird also bereits „im Ansatz“, wie Plessner gerne sagt, durch Philologie und Geschichtsstudium als gleichberechtigte Erkenntnisquellen ergänzt. Zudem sieht Dilthey in „Anthropologie und Psychologie die Grundlage aller Erkenntnis des geschichtlichen Lebens“ (ebd.: 32), wenngleich nicht die Grundlage einer erschöpfenden und abschließenden Erkenntnis, aber das ist auch nicht erforderlich, um mit der Systematik von Macht und menschliche Natur grundlegend in Konflikt zu geraten. Ein solches Denken kennt Perspektive, aber nicht das, was Plessner die „Universalität des Blicks“ (PGS 5: 185) nennt und den Nukleus der geschichtlichen Weltansicht bildet, der Plessners „philosophische Anthropologie“ verpflichtet ist: In dem Verzicht auf die Vormachtstellung des eigenen Wert- und Kategoriensystems gibt sich der europäische Geist den Horizont auf die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und ihrer Weltaspekte als einer offenen, unbegrenzten, durch keinen ‚Weltgeist‘ planvoll gebundenen Mannigfaltigkeit frei. Diese Universalität des Blickes verlangt die Rücknahme der Verabsolutierung auch ihres Weltaspekts. Spät errungen, wird die geschichtliche Relativierung sich zuletzt ihrer eigenen Relativität bewußt und lernt sie, nach einer Periode historistischer Verzweiflung, nunmehr ruhig als die Bedingung einer echten Objektivität begreifen. (Ebd.)
Der universale Blick ist keine artifiziell universalisierte Perspektive, die als solche nämlich per se partikular ist. Plessner bricht hier mit der phänomenologischen Metaphorik, in der Charakteristika wie die Seitenhaftigkeit von Gegenständen und Protentionen existieren, zugunsten der reichen und mehrdeutigen Metaphorik des Blicks. Die Universalität des Blicks bricht sich an der Fragmenthaftigkeit der Perspektive, die den konkreten Blick, der an sein Blickfeld gebunden bleibt, mitbestimmt. Die Per-
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spektive kann negativ determinieren, was in den Blick bzw. gerade nicht in den Blick geraten kann, während der Blick als solcher von Zurüstungen frei ist. Der Ausdruck „Universalität des Blickes“ ist paradox, aber nicht, wie es für den Ausdruck „Universalität der Perspektive“ gelten würde, per se sinnlos. Wo Plessner am Begriff der Perspektive festhalten will, bleibt ihm nur übrig, das Sich-vorweg-sein im Sinne der konstitutionslogischen Infiltrierung der Zentrizität der Perspektive mit der Exzentrizität auf diese Zentrizität der Perspektive anzuwenden: „Innerhalb ihrer Perspektive steht Lebensphilosophie außerhalb ihrer Perspektive.“ (Ebd.: 222) Die Variierbarkeit der Inblicknahmen (Blicken im Sinne der intentio recta) und Hinblicknahmen (Blicken im Sinne der intentio obliqua) erlaubt, an der „Universalität des Blickes“ festzuhalten, ohne wie im Fall der Perspektive des Paradoxons eines Innerhalb-Außerhalbs zu bedürfen, das gerade entzeitlicht und „strukturalisiert“, was gemäß der konventionellen Historizität (nicht der Geschichtlichkeit) gerade im reflexiven Nacheinander der Inblicknahmen zu leisten wäre. Der Blick verschmilzt nicht mit dem Anblick, d. h. mit dem, was sich ihm im Blicken-auf zeigt. „Im Blick haben“ heißt nicht „Sehen“; auf das Blicken und die (Art der) In-Hinblicknahme lässt sich wiederum ein Blick richten, sie lässt sich in den Blick bekommen.¹⁴³ Der Blick kann sich insofern, anders als das Sehen, das sich selbst nicht sehen kann, selbst nachträglich in den Blick nehmen. Die Art der Hinblicknahme, um den Bogen zur Begrifflichkeit der Grenzen der Gemeinschaft zu spannen, ist selber ein Moment des Wahrnehmens, genauer: eines Ethos des Wahrnehmens, das sowohl die Geschichte als auch die Geschichtlichkeit der Inblicknahme der Geschichte von der geschichtlich aufgefassten Lebendigkeit her eröffnet. Doch welcher Art ist dann die im obigen Zitat angesprochene „geschichtliche Relativierung“ (PGS 5: 185), die Plessner nicht als Resultat einer aufgeklärten Subjektivierung darstellt, sondern als „Bedingung einer echten Objektivität“? (Ebd.) Die Pointe besteht hier in der Reflexivität der Universalität des Blickes, denn, um es noch einmal ausdrücklich zitieren, es wird die „geschichtliche Relativierung sich zuletzt ihrer eigenen Relativität bewußt“ (ebd., Hervorhebung, S. E.), nicht der Relativität des Seienden oder des Seins. Die geschichtliche Relativierung erschöpft sich keineswegs in einer abschließenden geschichtlichen Verortung oder Situierung von Gegenständen oder Fragen, die von einem Außerhalb der Geschichte in dieselbe eingerückt würden, denn die geschichtliche Relativierung ist selbst ein innergeschichtlicher Akt und teilt mit anderem innergeschichtlichem genuin Geschichtlichem die Qualität des Lebendigseins.¹⁴⁴ Die Innergeschichtlichkeit der Relativierung selbst verlangt deren Begrenzung an dem, was diese Relativierung vollzieht (und dessen Existenz eine ge-
Nicht umsonst heißt es „in Blick bekommen“, statt „in den Blick bekommen“, denn dann wäre uns nur der Anblick von strikt Gegenständlichem gegeben. Dass eine Geschichte des Planeten geschrieben werden kann, macht diesen noch nicht zu einer genuin geschichtlichen Instanz oder einem geschichtlichen Akteur; er kennt Veränderungen, aber kein Schicksal, und wenn an ihm sich vollziehende Veränderungen schicksalhafter (statt bloß tödlicher) Art sind, sind sie schicksalhaft ausschließlich für in der Weise der Geschichtlichkeit Lebendiges.
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schichtliche sein kann) und sich darin und im Wissen um das prinzipielle Können solcher Relativierung „als Macht und Können“ (ebd.: 201) erfährt. Die Relativierung entmächtigt den Menschen nicht, sie schlägt ihn aber auch nicht mit Austauschbarkeit, noch nivelliert sie ihn, sondern ihm wächst in der Entdeckung seiner Geschichtsbedingungen […] unvorhersehbare Macht zu, mit der er über sein bisheriges Geschichtsniveau sich erheben wird. Solange er an dieser Konzeption seines Wesens als Macht festhält, hat er Macht und gibt es Entwicklung. Aber das Kriterium, mit ihr das Wesen des Menschen schlechthin getroffen zu haben, bleibt der Geschichte immanent und bleibt selbst eine offene Frage. (Ebd.: 190)
Die „offene Frage“ ist nicht das Problem, das einer Lösung bedarf, sondern die Aufgabe, die einer praktischen und für sie einstehenden Übernahme bedarf, wofür sie erst in ihrer Offenheit angenommen und bejaht werden muss. Sie ist nicht die Aporie, in die die geschichtliche Weltansicht hineinstolpert, sondern gerade die wesentliche Errungenschaft der geschichtlichen Weltansicht. Diese zielt daher und insofern auf ein „sich aus dem Leben her auf das Leben hin“ Verstehen (ebd.: 221). Plessner ist hier mit ihm gegen ihn selbst zu präzisieren: auf ein aus dem gelebten Leben auf das zu lebende Leben hin Verstehen. Dieses Verstehen hat gleichermaßen epistemisch wie epistemologisch zu seiner Voraussetzung das Prinzip der offenen Immanenz, das keine willkürliche Setzung ist, sondern ein Prinzip, das vom Wissen um die Relativierbarkeit geschichtlicher Positioniertheit getragen ist und die Erkenntnis von Geschichte und damit die Selbsterkenntnis des Menschen „als Macht und Können“ (ebd.: 201) in der Geschichte gerade für die genuinen Lebendigkeitspotenziale des Menschen als eine solche Macht und ein solches Können offenhalten soll: „Es ist in doppeltem Sinne eine offene Immanenz. Die Vergangenheit, die uns in allem als verborgene oder bewußte Herkunft durchdringt und in dem Rahmen der Tradition umfangen hält, öffnet sich in das noch zu lebende Leben der Gegenwart hinein.“ (Ebd.: 187) Dieses zu lebende Leben wird aus der geschichtlichen Weltansicht heraus im Bewusstsein zukünftiger Geschichtlichkeit (vgl. Krüger 2009: 139 ff.) gelebt: „In der Fassung seiner selber als Macht faßt der Mensch sich als geschichtsbedingend und nicht nur als durch die Geschichte bedingt.“ (PGS 5: 190) Die Gegenwart wird nicht historistisch zum bloßen temporären Produkt des geschichtlichen Verlaufs depotenziert, die Zukunft nicht pseudo-historistisch und prophetistisch „deduziert“. Die Vergangenheit wird nicht zu einer richterlichen Instanz überhöht, deren die Gegenwart aufschließenden und das Verhalten in ihr anleitenden Urteilssprüche nur noch stumm und passiv vernommen zu werden bräuchten in einer Suspendierung der Lebendigkeit, die den Menschen erst – und durch die er sich erst – in die Geschichte hineinstellt – im Unterschied zum Befehlsempfänger, der die Geschichte als ein richtendes Schicksal begreift, das er gar nicht begreift, weil er nicht begreift, dass er selbst sie dazu macht.
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Das Prinzip der offenen Immanenz anzuerkennen heißt Plessner zufolge zugleich, die Unergründlichkeit des Menschen ¹⁴⁵ verbindlich zu nehmen. Damit wird nicht einem historischen Agnostizismus das Wort geredet, sondern dem Eintreten in die in freier Übernahme angeeignete Geschichtlichkeit. Plessner spricht deshalb von der „freien Annahme der Verbindlichkeit ihres Prinzips, das Anweisung auf den lebendigen Vollzug durch lebendige Menschen gibt.“ (Ebd.: 183) In diesem lebendigen Vollzug ist die Geschichte keine tote Vergangenheit, sondern gelebtes Leben ist in ihr präsent als tragende Macht: „Das sich von der Geschichte getragen Wissen, das sich aus der Geschichte geworden Wissen vermittelt damit die Einsicht in ihre Ursprungsmächtigkeit.“ (Ebd.: 182) Doch die Ursprungsmächtigkeit der Geschichte findet das Prinzip ihrer Brechung gerade in dem Schicksal, das die Geschichte mit jeder Interpretation teilt und das in einer grundsätzlichen „Abhängigkeit vom Leben in ihrer möglichen Abbaubarkeit auf das Leben“ ebd.: 206) besteht. Das Leben selbst und die Geschichte sind Mächte, die im Verhältnis zu einer Macht stehen, die ihnen nicht stumm unterworfen ist: der Mensch, der „als Macht und Können“ (ebd.: 201) die „Unergründlichkeit seiner selbst“¹⁴⁶ im Verhältnis zur Geschichte gerade dadurch verbindlich nehmen kann, dass er „eine um ihre Selbstmächtigkeit wissende Haltung des auf die Bodenlosigkeit des Wirklichen gewagten Wissens“ (ebd.: 214) einnehmen kann. Damit wird ein zentrales Problem der Hermeneutik berührt, nämlich das Verhältnis der Verbindlichkeit von Tradition und Überlieferung im Sinne ihrer Unhintergehbarkeit bzw. Unumgehbarkeit zu dem, was Plessner die Bodenlosigkeit nennt, die er an einer Stelle, wo er von der Tradition handelt, auch als „Wagnis der Bodenlosigkeit“ bezeichnet: „Die Achtung vor der Tradition – nicht eine leere Attitüde, sondern das in der Wesensfrage vollzogene Zurücktreten vor der Geschichte – bezeugt sich in dem Wagnis der Bodenlosigkeit für die Bestimmung.“ (Ebd.: 212) Hier zeigt sich, dass die Herausarbeitung der Einsicht in die Relativierbarkeit der Geschichte wie auch deren faktische Relativierung, wo sie stattfindet, nicht auf eine Legitimation des Relativismus hinauslaufen soll, sondern auf die Möglichkeit, das Relativierte oder als relativierbar Erkannte frei zu übernehmen und in dieser Übernahme gerade die Un-
Plessner bezieht sich dabei explizit auf Georg Misch, der das Prinzip der Unergründlichkeit erstmals formuliert hat, wenngleich mit anderer Stoßrichtung als Plessner, nämlich gegen Rationalismus und Logizismus gerichtet, nicht um der Freilegung der Geschichtlichkeit des Lebens willen formuliert: „Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen stellt sich gegen die traditionelle Beschränkung des Logischen auf das verstandesmäßig Durchsichtige, wie ja herkömmlicherweise die Logik grade als Verstandeswissenschaft, als der Mathematik vergleichbares Musterbild der reinen Verstandeswissenschaft gilt. Wenn die Logik so auf die Grundlegung des verstandesmäßig durchsichtigen Wissens beschränkt wird, muß natürlich das Wissen vom Unergründlichen außerhalb der Logik verbleiben als ein ἁρρητον, ineffabile, intraduisible en mots. Demgegenüber besagt jenes Prinzip, daß wir die Gedankenmäßigkeit nicht isolieren dürfen, sondern grade das Verhältnis von Gedankenmäßigkeit und Unergründlichkeit als grundlegend für die Theorie des Wissens herausstellen müssen.“ (Misch 1994: 110 f.) „Die Unergründlichkeit seiner selbst ist das um des Ernstes seiner Aufgaben willen verbindliche Prinzip seines Lebens und seines Lebensverständnisses.“ (PGS 5: 161)
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ergründlichkeit auf sich zu nehmen, statt sie in aufgesetzter und dogmatischer Scheinverbindlichkeit an die Ketten einer zum propositionalen Wissen degradierten Geschichte zu legen: Eine Haltung, die an einer Geltungsbereich der Machtfrage bestimmten Tradition des vom Griechentum und Christentum, von Humanismus und Reformation Geschaffenen orientiert ist und die Werte der Selbständigkeit, der erkämpften Einsicht, der Entwicklung zu immer höherer Souveränität über das Dasein, der Bereitschaft, immer auch wieder von vorn anzufangen, in freier Übernahme für verbindlich erklärt. (Ebd.: 218 f.)
Plessner argumentiert keineswegs als prinzipieller Gegner von Tradition und Überlieferung, sondern als Gegner der ideologischen Funktionalisierung der Überlieferung oder der bequemlichkeitsgeleiteten und – kontrapunktisch in Bezug auf Gehlen gesprochen – entlastenden Überlieferung statt der freien Übernahme der Überlieferung. Die entlastende Überlieferung verstellt demjenigen, der sich ihr blind unterwirft, ihn selbst und damit auch die Möglichkeit, die Überlieferung, die er nur noch stumm und dumpf fortsetzen kann, sowohl zu relativieren als auch zu übernehmen. Die Überlieferung gerät dann zum „Leitfaden der Überlieferung“ (ebd.: 205), genau genommen zum Gängelband; im Fall der Philosophie stellt sie die Festlegungsgrundlage dar, welche die „Universalität des Blickes“ unterminiert, weil die Überlieferung dazu verführt, sich bereits im Ansatz des noch zu vollziehenden Philosophierens auf manifeste Bestände geronnener und dadurch tradierbarer Philosophie festzulegen, während die Universalität des Blicks (als Gestalt des Prinzips der offenen Immanenz) gerade eine Festlegungsabstinenz von der Art des Auswählens qua Tradierung bereitstehender Positionen fordert: „Nach Maßgabe dieser Universalität ist es ihr [der Lebensphilosophie, S. E.] verwehrt, im Ansatz sich auf etwas festzulegen, das selbst ein Streitobjekt der Philosophie bildet.“ (Ebd.: 213) Plessner zufolge bedarf allerdings gerade das „Aufsteigen zu den wahren Anfängen der Philosophie […] eines ständigen Vergegenwärtigens und Verstehens des Lebensrahmens, von dem aus und zu dem hin sie eine geschichtliche Macht bedeutet“. (Ebd.: 203) Dieser Lebensrahmen ist der geschichtliche Ort, von dem aus die freie Übernahme der Überlieferung als einer Möglichkeit, sich als geschichtliche Macht selbst wiederum geschichtlich zu bestimmen, allein möglich ist. In dieser freien Übernahme „wissen wir um die Gebundenheit dieses auf die Bodenlosigkeit des Seienden gewagten Wissens an eine bestimmte Haltung in und zum Leben“. (Ebd.: 218) Eine geschichtliche Weltansicht ist nur dann zu erringen, wenn die vergegenwärtigende Variante des Sich-Verhaltens zur Geschichte eine reale Möglichkeit ist, d. h. wenn ein um sich selbst als Macht und Können wissendes personales Leben die Geschichte aneignet im Lichte des Wissens um ihre prinzipielle Relativierbarkeit, ohne dabei zu vergessen, dass auch eine „Durchrelativierung seiner geistigen Welt“ (ebd.: 163) es nicht davon entbindet, „das Wirkliche gerade in seiner Relativierbarkeit als trotzdem Wirkliches sein zu lassen“ (ebd.), wodurch die Relativierung nicht einen fatalistischen Relativismus legitimiert, sondern die „Vergangenheit, die uns in allem als verborgene oder bewußte Herkunft durchdringt und in dem Rahmen der Tradition
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umfangen hält, […] sich in das noch zu lebende Leben der Gegenwart hinein“ (ebd.: 187) öffnet. Das Verhältnis zwischen der geschichtlichen Weltansicht und dem zu lebenden Leben verlangt eine genauere Bestimmung, die der folgende Abschnitt entfalten soll.
3.5.3 Verklammerung der geschichtlichen Weltansicht mit der Lebensphilosophie: Der Begriff der Lebensführung Plessner verhandelt hier auf der Ebene des Problems der Geschichte ein Grundproblem, das in den Grenzen der Gemeinschaft bereits im Zentrum seiner Überlegungen stand, nämlich die Spannung zwischen Fixierung und Bestimmung. Der Fixierung im geschichtlichen Sinne entspricht der „Gebrauch des Überliefertseins als eines Leitfadens zur Bestimmung des Wesens“. (Ebd.: 212) In der fixierenden (und selbst auf die Überlieferung fixierten und deshalb verstellenden) Übernahme der Überlieferung findet gerade das Gegenteil der Relativierung statt, nämlich ein „Rekurs auf ein Absolutes“. (Ebd.: 163) Die Relativierung, die Plessner vorschwebt, zielt nicht auf die illusionäre Scheinerzeugung einer tabula rasa innerhalb der Geschichte und im Verhältnis zu ihr, d. h. auf ein Aussteigen aus der Geschichtlichkeit innerhalb der Geschichte, denn das Innerhalb-ihrer-außerhalb-ihrer-Stehen schließt gerade diese Möglichkeit aus und Plessner sagt explizit, dass es „keine indifferente Wesensbetrachtung des Menschen gibt, die sich nicht schon im Ansatz ihrer Frage für eine bestimmt Auffassung entschieden hätte“. (Ebd.: 221) Maßgeblich ist allerdings die Weise des Sich-Entscheidens: Entscheidet man sich im eigentliche Sinne, d. h. vollzieht man die freie Übernahme einer geschichtlichen Möglichkeit im Angesicht der Geschichtlichkeit, d. h. im Bewusstsein des Gespanntseins zwischen ein gelebtes und ein noch zu lebendes Leben? Das würde bedeuten, „trotz und in der Partikularität die universal verbindliche Position des nur in ihr wahrhaft und eigentlich Mensch-Seins behaupten“. (Ebd.) Oder steht man passiv in einer Überlieferung, deren stummer und blinder Durchgangspunkt man ist? Dann steht zwischen dem Menschen und der Aneignung der Geschichte die selbstverschuldete Unmündigkeit, die ihm die Geschichtlichkeit der Geschichte verdeckt, indem geronnene und dargereichte Geschichte ihm die Aneignung abnimmt; Plessner spricht hier von der „dumpfen Verlorenheit an irgendeine ungeprüfte Tradition und einseitig fixierte[n] Stellung zu Welt und Leben“. (Ebd.: 188) Das Verhältnis von Unterwerfung unter die Überlieferung qua Fixierung und Übernahme der Überlieferung qua Selbstbestimmung ist genauer zu fassen, da es in das Zentrum der Lebensphilosophie hineinreicht. Plessner lehnt auch in Macht und menschliche Natur Fixierungen prinzipiell ab und setzt ihnen statt des Zeremoniells – wie in den Grenzen der Gemeinschaft – die Lebensführung ¹⁴⁷ entgegen: „Nun ent-
Vordergründig könnte es aussehen, als wären Zeremoniell und Lebensführung Gegensätze und
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spricht es dem Dasein, sich in irgendeiner Auslegung zu fixieren. Der Mensch lebt nur, indem er sein Leben irgendwie führt.“ (Ebd.: 205) Die Lebensführung ist gespannt zwischen das gelebte und das zu lebende Leben, sie antwortet auf beides und bestimmt letzteres von ersterem her. Aufgrund dieses Könnens, von der Geschichte her sich selbst zu bestimmen, statt nur von ihr bestimmt zu werden, tritt die Geschichte in die Geschichtlichkeit ein, indem sie in den Horizont der Lebensführung eintritt. Die Lebensführung schafft Tatsachen und stiftet Horizonte, ist darin allerdings nicht fixierend, sondern bestimmend. Der Unterschied zwischen der Fixierung und der (Selbst‐)Bestimmung besteht darin, dass letztere das Verhältnis zwischen Leben und Geschichte im Horizont der Geschichtlichkeit offen, d. h. lebendig hält. Die Bestimmung ist gekennzeichnet durch eine potentiell revisionistische und darin zugleich entwerfende Art der Reflexivität; mit ihr „ist nichts anderes vollzogen, als was die Existenz ja schon vollzieht, um ihr Leben führen zu können: eine Auslegung neben möglichen anderen.“ (Ebd.: 206) Plessner hat diese begriffliche Unterscheidung zwischen Fixierung und Bestimmung leider nicht systematisch getroffen, wie eine zentrale Stelle zeigt, an der er sagt, dass die „leitende Konzeption der Existenz selbst schon Deutung und Auslegung eines Unfixierten und immer nur wieder in der Führung der Existenz zur Fixierung Kommenden ist“. (Ebd.) Dabei versteht Plessner das logische wie praktische Resultat von Bestimmung, nämlich Bestimmtheit, gerade in einer der Fixierung prinzipiell widerstreitenden Weise: Das Können, das Mächtige sind nur Ausdrücke für die Unbestimmtheit, in der das Zurechnungssubjekt der Geschichte im Sinne eines lebensmäßigen, in der offenen Immanenz der verschränkten Perspektiven von Vergangenheit und Zukunft sich haltenden Denkens seine Bestimmtheit [Herv., S. E.] jeweils anders und immer neu erringt. (Ebd.: 196)
Doch Bestimmung meint noch viel mehr für Plessner, denn Selbstbestimmung besteht für ihn im Unterschied zum Kantischen Begriff derselben, darin, dass „die Entscheidung über das Wesen des Menschen […] nur in seiner Geschichte als eine ständig neu erwirkte Entscheidung“ (ebd.: 187) vollzogen werden kann, wodurch „die für eine Gegenwart zu erringende immer auf eine schon getroffene Entscheidung freigegeben [ist]: entweder hält sie an ihr fest oder sie ringt sich von ihr los.“ (Ebd.) Die Selbstbestimmung nimmt vergangene Entscheidungen als geschichtliche Selbstentäußerungen des Lebens ernst im Hinblick auf das zu lebende Leben und die zu treffenden Entscheidungen, in denen es sich selbst Gestalt und Geschichte (in der freien Überals würde das Zeremoniell einen Kollektivismus und die Lebensführung einen Individualismus repräsentieren. Dann müsste es sich so darstellen, dass die Lebensführung als individualistisches „Prinzip“ dem Zeremoniell, dessen Formbasiertheit gerade Formentsprechung verlangt, strikt entgegengesetzt ist. Die alle Gegensätzlichkeit aufhebende, tragende Gemeinsamkeit ist hier, dass sowohl die Lebensführung als auch das Zeremoniell ihren Sinnfluchtpunkt in der Ausbildung und Kultivierung von Personalität finden; das Zeremoniell ist selbst Medium dieser Kultivierung und insofern kein Prinzip der Subordination, das die Autonomie der Lebensführung bedroht und das Individuum bloß funktional in die Gesellschaft eingliedern will.
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nahme von Geschichte) gibt. Selbstbestimmung vollzieht sich also gerade im Medium von Entscheidungen, die keine Fixierungen sind, sondern die Gestaltung der Lebensführung im Wissen um deren Geschichtlichkeit, d. h. um deren konstitutives Eingelassensein in Geschichte, die in die die Unergründlichkeit verbindlich nehmende Selbstbestimmung übernommen und retrospektiv wie proaktiv gemacht wird und gemacht werden muss. Sie vollzieht sich allerdings in einer Gegenwart, die keine im Sinne der formalen Zeitlichkeit oder der empirischen Chronometrie, sondern eine durch die Vergangenheit bestimmte und in der Gegenwart von dieser her in der Lebensführung zu übernehmende und (notwendig auch über sich hinaus) zu erfüllende ist, weshalb Plessner sagt, dass die Vergangenheit sich in das noch zu lebende Leben der Gegenwart hinein öffne: Die Vergangenheit, die uns in allem als verborgene oder bewußte Herkunft durchdringt und in dem Rahmen der Tradition umfangen hält, öffnet sich in das noch zu lebende Leben der Gegenwart hinein. Und die Gegenwart, die uns in einem anderen Sinne aus dem Woraufhin unserer Lebensführung umfangen hält, öffnet sich in das hinein, was wir faktisch schon sind, weil wir durch unsere Vergangenheit so geworden sind. (Ebd.: 187)
Die Lebensführung ist in diesem Verständnis die Aufgabe einer von der Vergangenheit her nicht formal bestimmten, sondern einer lebendig erfüllten Gegenwart, die wiederum als das „Woraufhin unserer Lebensführung“ keine stets bloß Vergangenheit werdende Nichtigkeit ist wie z. B. bei Schopenhauer,¹⁴⁸ sondern eher der Ort, an dem die Vergangenheit (qua gelebtes Leben) und die Zukunft (qua zu lebendes Leben) sich derart treffen, dass gegenwärtiges Leben vom gelebten Leben in die zu erfüllende Zukunft (qua zukünftiges geschichtliches Leben) über sich hinaus in sie hineinlebt, weshalb Plessner vom „zu lebende[n] Leben der Gegenwart“ überhaupt erst reden kann. Das „zu lebende Leben der Gegenwart“ (Hervorhebung, S. E.) kann es nur für eine Lebensform geben, deren lebendiger Gegenwärtigkeitsmodus ein Sich-vorwegsein (vgl. Kapitel Kapitel 3.3.6.) ist, sonst wäre das zu lebende Leben das der Zukunft. In freier Analyse lässt sich das bisher Gesagte zusammenfassen, indem zwei grundsätzliche Begriffe bei Plessner klarer unterschieden werden, als Plessner dies selbst in seiner hektisch entstandenen und gedrängten Schrift tut: (1) Die Weltansicht als solche im naiv gelebten Leben. (2) Die Weltansicht als geschichtliche, mit der die Geschichtlichkeit der Weltansicht selbst und die grundlegende Differenz zwischen formaler und materialer bzw. substantialer Geschichtlichkeit entsteht.
Ohne Sinn für etwas wie eine geschichtliche Weltansicht sagt Schopenhauer über die Situation des Menschen: „Die Gegenwart aber wird beständig unter seinen Händen zur Vergangenheit: die Zukunft ist ganz ungewiß und immer kurz. So ist sein Daseyn, schon von der formellen Seite allein betrachtet, ein stetes Hinstürzen der Gegenwart in die todte Vergangenheit, ein stetes Sterben.“ (Schopenhauer 1988a: 406)
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Zu (1): Die Weltansicht des naiv gelebten Lebens bildet das pragmatische Pendant dessen, was in der Erkenntnistheorie „naiver Realismus“ genannt wird. Sie ist oben bereits angesprochen worden als Gestalt der „dumpfen Verlorenheit an irgendeine ungeprüfte Tradition und einseitig fixierte Stellung zu Welt und Leben“. (PGS 5: 188) In ihr findet keine freie Übernahme des eigenen Lebens als geschichtliches statt, sondern das Leben verläuft transzendenzlos innergeschichtlich. Das Leben wird nicht übernommen, „man“ ist vom Leben „benommen“ und nimmt es so hin. Die Innergeschichtlichkeit mag zum Bewusstsein gebracht werden können, sie bildet sich aber nicht zu einem Bewusstsein der Geschichtlichkeit fort. Dies lässt sich verdeutlichen durch die interne und fundamentale Differenzierung der Geschichtlichkeit, ohne die sich Macht und menschliche Natur nicht verstehen und umgekehrt nur schwerwiegend missverstehen lässt. Zu (2): Das Reden von Geschichtlichkeit erfreut sich in der Philosophie und einigen angrenzenden Disziplinen einer Beliebtheit, die zu einer Inflationierung und Sinnentleerung des Begriffs geführt hat. Die Verwendung des Begriffs erzeugt eine Legitimitätsbeweislast. Um Leerformeln zu vermeiden, muss das eigene Verständnis von Geschichtlichkeit gegen die übliche, in (1) angesprochene taken-for-granted-„Geschichtlichkeit“ abgegrenzt werden. In der taken-for-granted-Geschichtlichkeit ist trivialerweise alles geschichtlich, und zwar in derselben Weise, in der im banausischen Alltagsverständnis der Relativitätstheorie alles relativ ist. Für die Geschichtlichkeit gilt, dass nicht ihr Dass zu behaupten ist, sondern ihr Wie und dessen Bedeutung aufzuzeigen ist, sonst ist die durchschnittliche Geschichtlichkeit so hohl und irrelevant wie die durchschnittliche Relativität.¹⁴⁹ Plessner spricht, wie gezeigt, an den zentralen Stellen von Macht und menschliche Natur von der Relativierung in der Form von „auf“ und „gegen“,¹⁵⁰ ebenso ist die Geschichtlichkeit bei ihm keine leere Geschichtlichkeit von allem, sondern eine von einer formalen Geschichtlichkeit zu unterscheidende erfüllte oder materiale Geschichtlichkeit, die wiederum die Grundlage der geschichtlichen Weltansicht bildet. Das soll nun erläutert werden. Die (überaus weit verbreitete) formale Geschichtlichkeit, d. h. das abstrakte Bewusstsein der Innergeschichtlichkeit des Innergeschichtlichen, entspricht der von Russell verspotteten abstrakten und leerlaufenden Relativitätsbehauptung. Die formale Geschichtlichkeit will nichts Geschichtliches freilegen und keinen Verstehenshorizont für geschichtlich (zu) lebendes Leben freilegen wie Plessner, dem es darum geht, dass der Mensch in der Erkenntnis der Geschichtlichkeit sich selbst als ge-
Russell hat über die „Alles ist relativ“-Bots treffend gesagt: „A certain type of superior person is fond of asserting that ‘everything is relative’. This is, of course, nonsense, because, if everything were relative, there would be nothing for it to be relative to.“ (Russell 2009: 9) Vgl. PGS 5: 149, 159, 186, 193, 218, 224.
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schichtliche Möglichkeit entdeckt ¹⁵¹ und gewinnt, sondern sie ist weder von einem Gedanken getragen, noch ermöglicht sie die Ausbildung eines Gedankens, weil sie selbst gar nicht der Geschichte, sondern einem alle Unterschiede nihilistisch einebnenden Historismus entwachsen ist.¹⁵² Sie realisiert keine „Universalität des Blickes“, auf die Plessner hinauswill, sondern fingiert eine Totalität des Blickes, der aber nichts sieht, weil sein Innerhalb die Leerformeln sind, in denen er vor sich hin dümpelt. Die formale Geschichtlichkeit gibt sich emanzipatorisch und kritisch, ist aber selber nur eine abstrakte Negation der Naivität eines „vor-geschichtlichen“ Bewusstseins, von dem sie sich lediglich dadurch unterscheidet, dass sie eine nicht im Ansatz gedachte Innergeschichtlichkeit des Innergeschichtlichen relativistisch überspannt. Die Geschichte der formalen Geschichtlichkeit hat kein Gewicht, Unterschiede machen in ihr keinen Unterschied und werden dadurch virtualisiert, alles ist gleichwertig und der Wert wie das Gewicht von allem für eine geschichtlich reflektierte Lebensführung gleich null. In der substantialen oder materialen Geschichtlichkeit, um die es Plessner geht, ist die Innergeschichtlichkeit kein Faktum, aus dem sich für Individuen oder Völker etwas ableiten ließe, sondern eine Macht, welcher der Einzelne in der Übernahme seiner selbst als Macht und Können in der Geschichte stellen muss. Erst wo Innergeschichtliches im Horizont von Geschichtlichkeit, d. h. von in der Lebensführung bewusst und existentiell Übernommenem und/oder aktiv nicht Übernommenem, gesehen und als Aufgabe angenommen wird, entsteht die Geschichtlichkeit im anspruchsvollen Sinne. Die Relationalität (nicht: Relativität) ist hier reflexiv und zirkulär: Die Geschichte wird vom Menschen auf den Menschen hin relativiert, der Mensch relativiert sich durch die Geschichte, jedoch nicht historistisch, sondern die Relativierung auf ihn selbst enthält schon ein nicht-determiniertes τέλος¹⁵³, eine Intentionalität auf das ihn konstituierende Woraufhin. Die wahrlich geschichtliche Geschichte, in deren lebensphilosophischer Reflexion der Mensch sich als Macht und Können in ihr und im Verhältnis zu ihr als Möglichkeit entdeckt, lässt sich nicht durch die formale Geschichtlichkeit entschärfen; die geschichtliche, d. h. die vitale Geschichte sedimentiert sich nicht in einem subjektiven Bewusstsein, sondern erhält das Gewicht von Objektivem: „Ihre [der Lebensphilosophie, S. E.] Immanenz überwindet gerade den historischen Relativismus in eine das Wissen zur Objektivität freigebende „Das sich von der Geschichte getragen Wissen, das sich aus der Geschichte geworden Wissen vermittelt damit die Einsicht in ihre Ursprungsmächtigkeit. In der Anerkennung der Verbindlichkeit des Unergründlichen wird also der zeitliche Hervorgang des Un- und Überzeitlichen, des Geistes, entdeckt oder die geistige Welt, das Jenseits des vergänglichen Menschen, als sein eigenes Jenseits ihm zurückgegeben.“ (Ebd.: 182) „In der Freigabe auf den Horizont der Geschichte verzichtet Philosophie nicht historistisch auf die Möglichkeit, den Sachen selbst sich gegenüberzustellen, denn dies ist die falsche Geschichtsperspektive aus der in ihrer Objektivität schon verabsolutierten Vergangenheit“. (Ebd.: 185) Hier gilt in Übertragung der negativen Ontologie des Organischen auf die lebensphilosophische Erkenntnis, die erstere sowohl voraussetzt als auch reflektiert: „Das Erkennen als dieser Prozeß ist nie so weit wie das Leben und immer weiter als das Leben.“ (Ebd.: 219)
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Denkhaltung, welche mit seiner notwendigen Relativität auf Standorte den ‚Raum‘ oder das Medium der Standorte offen läßt.“ (Ebd.: 223) Weil die Geschichte als solche (nicht die innergeschichtlichen Ereignisse und deren chronologisch erfassbarer Ablauf) nur vom Menschen her überhaupt existiert, relativiert der Mensch sich in Konfrontation mit der Geschichte auf sich selbst, indem er sich von ihr in sie hinein (in der Selbstbestimmung als geschichtliche Macht) und aus dieser heraus (in der Selbstbestimmung aus seinem geschichtlichen Woher) gewinnt. Die Pointe von Plessners Relativierung ist nicht Subjektivierung oder ein Relativismus, sondern die Aneignung von Objektivität angesichts der Notwendigkeit, sich als „Macht zur Objektivität“ zu gewinnen; den Übergang vom Begriff der Wirklichkeit zu dem der „Wirklichkeit der Geschichte“ vollzieht Plessner daher fließend: Der Wirklichkeit ist ein für allemal, solange der Mensch an sich als Mensch, d. h. ursprunggebender Macht zur Objektivität festhält, ihr Schrecken genommen. Auch die Wirklichkeit der Geschichte darf für diese Selbstauffassung nicht mehr bedeuten als erfahrbare Wirklichkeit, deren Aufschlüsse von der am Prinzip der Unergründlichkeit gebildeten Zuwendung des Menschen zu ihr abhängen; des Menschen, der um die geschichtliche Gewordenheit dieses geschichtsaufschließenden Prinzips, um sich als gewordenen Ursprung weiß. (Ebd.: 163)
Die Geschichte ist dann vermittels der als Macht und Können ihr sich stellenden und sie konstituierenden Menschen eine um sich selbst als solche wissende Geschichte, die um die Geschichtlichkeit der die Geschichte bestimmenden Verhältnisse und Konstellationen weiß. Plessner sagt, Rickert hätte die „Geschichte auf Kosten ihrer Geschichtlichkeit, d. h. ihrer grundsätzlichen Wandelbarkeit und Lebendigkeit gerettet“. (Ebd.: 169 f.) Die Geschichtlichkeit ist allerdings erst dann rettbar, wenn die Wandelbarkeit und die Lebendigkeit als strikter Konnex verstanden werden, d. h. wenn die Wandelbarkeit nicht ohne den Lebendigkeitsbezug abstrakt konstatierbar ist und die Lebendigkeit auf ihre Lebendigkeitsquellen, um diese als solche wissend und von ihnen her sich verstehend, bezogen bleibt. Dann gibt es nur noch Relativierungen auf und gegen, keine Relativierungen mehr „an sich“, dafür aber geschichtliche Objektivität: „Spät errungen, wird die geschichtliche Relativierung sich zuletzt ihrer eigenen Relativität bewußt und lernt sie, nach einer Periode historistischer Verzweiflung, nunmehr ruhig als die Bedingung einer echten Objektivität begreifen.“ (Ebd.: 185) Dann ist Geschichtlichkeit die Qualität der Aneignung der Geschichte in das von ihr her sich aneignende und entwerfende Leben hinein, das dessen inne wird, dass es durch ein Woher, einen identitär keineswegs neutralen, aktuellen geschichtlichen Ort und ein Woraufhin¹⁵⁴ (im Unterschied zum leichter deterministisch missverstehbaren
„Was von der Vergangenheit her gesehen die letzte Auswirkung scheint, die gelebte Gegenwart, die aber eigentlich schon Vergangenheit, nur in ihrer Nähe noch gegenwärtige Vergangenheit ist, gibt sich in ihrer Unmittelbarkeit erst aus dem unergründlichen Woraufhin unserer Entscheidungen, also nur durch einen Umbruch der Blickstellung zu sehen und zu verstehen.“ (Ebd.: 183) – Darin unterscheidet Plessner sich fundamental von Heidegger: An die Stelle der „ontologische[n] Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins“ (Heidegger 1967: 234) tritt das Woraufhin der Lebensführung, die sich
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„Wohin“) konstituiert ist, ohne dass in Bezug auf eines dieser drei Momente eine Selbstverständlichkeit möglich wäre oder sie im Modus der Selbstverständlichkeit gegeben sein könnten. Damit wird der Horizont der Geschichtlichkeit auf der nächsten Stufe, der Stufe der Geschichtlichkeit einer geschichtlichen Weltansicht, eröffnet. Aufgrund dieses Könnens, von der Geschichte her sich selbst zu bestimmen, statt nur von ihr bestimmt zu werden, tritt die Geschichte in die Geschichtlichkeit ein, indem sie in den Horizont der Lebensführung eintritt. Hier ist darüber hinaus zu sagen: Der Horizont der Lebensführung muss selbst wiederum aus der Geschichtlichkeit der Geschichte heraus die damit als offene Frage aufgegebene Geschichte selbst denken und im Medium von durchgängig von allen drei Momenten der Geschichtlichkeit geprägten Entscheidungen sich gestalten. Dann, so Plessner, bringt man die Geschichte nicht um das „ursprüngliche Gewicht von Entscheidungen über das Wesen des Menschen“ (Ebd.: 163); dann erst „nimmt man der Geschichte den Charakter einer bloßen Empirie“ (ebd.), und dann erst gibt es überhaupt die Geschichte als lebendiges und zu beantwortendes Woher für ein sich im Woraufhin seiner offenen Zukunft geschichtlich „als Macht und Können“ (ebd.: 201) wissendes und sein Leben führen müssendes personales Leben; dann erst öffnet Vergangenheit „sich in das noch zu lebende Leben der Gegenwart hinein“. (Ebd.: 187) Erst und ausschließlich für diese Art der lebendigen Geschichte ist Geschichtlichkeit konstitutiv. Und einzig in der sich selbst geschichtlich, d. h. „als Macht und Können“ (ebd.), verstehenden Reflexion auf die nicht nur wandelbare, sondern auch in ihrer Lebendigkeit lebendig aufgefasste Geschichte kann eine geschichtliche Weltansicht ausgebildet werden. Damit sind die anspruchsvollen Bedingungen dessen aufgeführt, was Plessner die „geschichtliche Weltansicht“ nennt. Dabei war etwas anzusprechen und im Ansprechen letztlich nur anzudeuten, was einer näheren Betrachtung verlangt, nämlich das Verhältnis von Eigenem und Fremdem, das sich nicht übergehen lässt, wenn man der
um so „eigentlicher“ gerade dann versteht, wenn sie sich nicht aus der „eigensten, ausgezeichneten Möglichkeit im Vorlaufen in den Tod“ (ebd.: 384) zu verstehen versucht. Löwith hat eine Darstellung von Heideggers Denken von Sinn gegeben, die eine klare Abgrenzung Heideggers von Plessner erlaubt: „Der Tod ist somit das weltliche eschaton des in der Welt existierenden endlichen Daseins. Er ist die ‚oberste Autorität‘, welche in Sein und Zeit alle Explikationen leitet. Demgemäß ist auch ‚Sinn‘ ein durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturiertes ‚woraufhin‘ des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird. (Löwith 1983: 258) Bei Plessner aber ist der Sinn gerade kein ἔσχατον, sondern der Sinn ist die Bedeutung des vom gelebten Woher geprägten Woraufhin für die Lebensführung – für die Lebensführung selbst und, mit der Möglichkeit sowohl einer Übereinstimmung als auch einer Gebrochenheit, für den bewusst die Lebensführung gestaltenden wollenden Menschen – , deren Bedeutung eingelassen ist in die Überlieferung, mit der umzugehen eine offene Aufgabe ist. Holt Heidegger das ἔσχατον noch in die Struktur des Daseins hinein, so ist Plessners Lebensführung sich selbst genug; der Tod interessiert sie insofern nicht, als er keine ihrer Möglichkeiten ist. Diese Säkularisierung der Geschichtsphilosophie erwächst nicht einem Nihilismus, sondern einer Skepsis, in der Plessner und Löwith sich wiederum treffen, so wenig Plessners Geschichtsphilosophie sich Löwiths gleichwohl triftiger Definition der Geschichtsphilosophie im klassischen Sinn sich fügt.
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„Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ nicht die Anthropologie austreiben will.¹⁵⁵
3.5.4 Eigenes und Fremdes: Die Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht Ein weiterer zentraler Aspekt der Lebensführung und gerade der Lebensführung in der freien Übernahme eines bestimmten Entwurfs ist die temporär überblendbare, aber nicht eskamotierbare grundlegende Agonalität der Selbstbestimmung. Plessner bringt die Freund-Feind-Relation nicht erst am Ende von Macht und menschliche Natur und nicht bloß aus Gründen publizistischer Konformität auf, wie gerne behauptet oder wenigstens insinuiert wird.¹⁵⁶ Dass (Selbst‐)Bestimmung grundlegend auch darin besteht, sich selbst darin gegen Andere und Anderes zu behaupten, kommt schon in grundlegender Weise offen zur Sprache, wo Schmitt noch gar nicht thematisch wird: Lebensmäßiges, natürliches Denken in den Blickstellungen eines Lebens, das der Vergangenheit fortdauernd entwächst und vor einer unbekannten, Weissagung und Voraussicht heischenden Zukunft steht, in der Offenheit des Lebens denkend über dieser Offenheit sinnend verweilen und sie als die elementare Situation ansetzen – dies wäre die dem Menschen gemäße und ursprüngliche Betrachtung seiner selbst auf sein Wesen hin. In ihr findet er sich primär bedrängt, gegen ein Fremdes sein Eigenes sichernd. ¹⁵⁷ (Ebd.: 196, Hervorhebung, S. E.)
Diese Stelle wird hier nicht angeführt, um Plessner mit Schmitt engzuführen, denn dazu wäre viel mehr nötig als eine so grundlegende und Plessner mit unzähligen anderen Denkern assoziierbar erscheinen lassende Ansicht;¹⁵⁸ ebenso wenig soll
Wie es die Adepten der formalen Geschichtlichkeit gemeinhin wollen, denn für sie bleibt nicht mehr zu sagen, als dass alle Anthropologie geschichtlich sei. So behauptet Axel Honneth, „daß Plessner allein dort der Lehre Schmitts nahe rückt, wo er sich selber sehr fremd geworden ist; das anthropologische Kernstück seiner Theorie sperrt sich gegen den Gebrauch, den er von ihr an jenem fatalen Ende seines Aufsatzes macht.“ (Honneth 2014: 176 f.) Umso offener bleibt dann, wie man dann mit Plessners nicht weniger grundsätzlicher Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem umgeht, die sich bei Plessner gegen eine liberalistisch-pluralistische Auflösung sperrt und mit der Auffassung des Menschen als Macht und Können umso besser verträgt. Wer darin einen merkwürdigen Ausrutscher Plessners sieht, sei auf die folgende Stelle verwiesen, an der Plessner sich auf Dilthey statt auf Schmitt bezieht: „Dann gilt der Diltheysche Satz, daß der Mensch das, was er ist, nur durch die Geschichte erfahren könne, auch im praktischen Sinne. Eine andere Garantie dafür, daß sich einander heterogene Kulturen auf einer gemeinsamen Basis der Menschlichkeit begegnen können, gibt es nicht und darf es nicht geben, wenn das Leben und Tun der Menschen den Sinn haben soll – den Sinn der Geschichte – diese Basis immer neu zu erobern, um ihrer sicher zu sein; wenn Geschichte mehr sein soll als eine große Maskerade der Zufälligkeiten, hinter der sich das eine unbewegliche Antlitz der Menschheit verbirgt. An dieser Unsicherheit hat der Mensch sein Lebenselement; ihm entringt er im Kampfe (d. h. gegen das Fremde) seinen eigenen Lebenssinn.“ (Ebd.: 191) Prinzipiell wäre Plessner dann ein Geistesverwandter nicht nur all jener, die Schmitt in Der Begriff des Politischen als pessimistische Anthropologen anführt (vgl. Schmitt 1932: 52), sondern all jener, die
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damit die Frage aufgeworfen werden, „wie jenes Unternehmen einer philosophischen Anthropologie, das Plessner in seinen Schriften auf den Weg gebracht hat, in seinen politischen Konsequenzen zu bewerten ist“? (Honneth 2014: 169) Was diese Stelle jedoch klar zeigt, ist, dass Plessner Geschichte nicht als Spielplatz, akademisches Exerzitium oder als runden Tisch verstanden hat, sondern, was in Anbetracht seines Lebens in einer gesellschaftlich militarisierten Weimarer Republik nicht überraschen sollte, als existentiellen Ernst der Selbstbehauptung und Selbstgewinnung in gefährdeter Lage. In dieser Lage ging es darum, sowohl Ideologien abzuwehren und sich darin Überliefertem nicht blind zu unterwerfen, als auch darum, sich nicht ideologisch mitschleifen zu lassen von jenen, die die Geschichte als Horizont des eigenen Seins und Handelns verdecken und damit die Geschichtlichkeit zu verdecken und entschärfen versuchen. Mit dem Begriff der Lebensführung erinnert Plessner daran, dass Geschichte und Leben dem Menschen, als Macht und Können verstanden, als Aufgabe zufallen und Horizonte bilden, von denen her beide zugleich angeeignet werden müssen unter der Asymmetrie, dass die Geschichte auf das Leben, nicht aber das Leben auf die Geschichte abbaubar ist; dass also Geschichte, wo Geschichtlichkeit real und keine Phrase ist, nicht eine Schicksalsmacht ist, worauf die Menschen bloß treiben wie auf einem Fluss. Entmusealisiert und auf den Horizont der Lebensführung bezogen heißt Geschichtlichkeit dann: über die bisherige Geschichte im Lichte der Geschichtlichkeit und im Hinblick auf vom Menschen als Macht und Können zu gestaltende zukünftige Geschichte nachzudenken und sich von der Geschichte her und auf Geschichte hin in der Gegenwart existentiell als Macht und Können zu positionieren und zu behaupten. Es geht also nicht nur um das Eigene im Verhältnis zum Fremden, es geht nicht weniger um das Eigene als solches, d. h. als genuin Eigenes, zu dem es gemacht werden muss. Die Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht findet in der Lebensführung einen oft missverstandenen Fluchtpunkt, denn die Lebensführung ist in die Geschichte eingesenkt und von ihr umfangen als grundsätzlich politischer in dem Sinne, „daß das Politische […] eine alle menschliche Beziehungen durchdringende Weite behauptet“. (PGS 5: 194) Was hier unter dem Namen der „freien Übernahme“ der Geschichte verhandelt wurde, ist deren Eingesenktsein in das Politische, das nicht aus der Struktur des Lebens folgt, sondern der Name der Struktur des menschlichen und personalen Lebens ist, sofern darin Eigenes und Fremdes sich ausformen. Eigenes und Fremdes sind nicht Freund und Feind, weil sowohl Freund als auch Feind logisch (und ontologisch) außerhalb des Eigenen liegen. Freund und Feind sind unterschiedlich codiertes Fremdes; der Freund ist Fremdes innerhalb „unserer Vertrautheitssphären“ (ebd.: 232), der Feind außerhalb derselben, doch Freund und Feind sind nicht mit uns identisch und fallen deshalb nicht unmittelbar in die Sphäre unserer
überhaupt politisch einen starken Ordnungsbegriff bejahen, weil sie zwischen der Freiheit im Ganzen und der möglichst unbeschränkten Freiheit für die Einzelnen unterscheiden, letztere für eine Gefährdung ersterer haltend.
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Identität. In der freien Übernahme der Geschichte ist die Vertrautheitssphäre eine weitere, weil die Identität ein größeres, gemeinschaftliches Eigenes umfassen kann, doch auch dann ist der Versuch einer Übersetzung Plessners in Schmitt so unsinnig wie unnötig, und er ist unnötig, weil Plessner den Leser keineswegs darüber im Unklaren lässt, was mit dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem im geschichtlichen Sinne im Hinblick auf den Menschen als Macht und Können gemeint ist, nämlich die „Sicherung und Mehrung der eigenen Macht durch Einengung bzw. Vernichtung des fremden Machtbereichs“. (Ebd.: 194) Auch das ist Aufgabe der Lebensführung im Bewusstsein ihrer Geschichtlichkeit. Ein Missverständnis muss hier noch abgewehrt werden. Wenn Plessner von Relativierung spricht, meint er nichts, was auch nur im geringsten in Richtung einer Selbstaufgabe oder Minderung der Selbstbehauptung gegen Fremdes weist. Z. B. sagt Plessner: „Der für ‚unseren‘ Aspekt sie alle umfassende Raum der Natur relativiert sich auf unser abendländisches Menschentum und gibt die Möglichkeit anderer Naturen frei.“ (Ebd.: 149) Relativiert „sich auf unser abendländisches Menschentum“ heißt nicht: relativiert das abendländische Menschentum, und die Freilegung der Möglichkeit „anderer Naturen“ ist gegen einen geschichtsphilosophischen Eurozentrismus gerichtet. Es geht vielmehr grundsätzlich um die „Relativierung aller außerzeitlichen Sinnsphären einer Kultur auf den Menschen als ihre Quelle im Horizont der Geschichte“ (ebd.: 149); eine westliche Metaphysik z. B. wird dann auf einen westlichen Denkhorizont und Lebensgrund als nicht mehr außerzeitliche Sinnquelle ihrer Formulierung zurückführbar und kann sowohl im relativierenden als auch im sie für die Übernahme freigebenden Sinn einen geschichtlichen Ort erhalten. An anderer Stelle sagt Plessner: „Die vom Abendland errungene Weite des Blicks erfordert die Relativierung der eigenen Position gegen die anderen Positionen.“ (Ebd.: 159) Der Ausdruck der Relativierung „gegen andere Positionen“ sollte Relativisten stutzig machen und tatsächlich geht es hier nicht um eine Selbstverkleinerung, sondern darum, dass Plessner „in der Gleichmöglichkeit des Verstehens und Ausdeutens anderer Positionen die Gefahr der Uniformierung des Fremden nach eigenem Wesensschnitt vermeiden will“ (ebd.), d. h. es geht gerade um die Universalisierung der Geschichtlichkeit gemäß der Universalität des Blickes und um die Vermeidung ideologischer Fallen,¹⁵⁹ die die Möglichkeit, welche das eigene Sein verkörpert und
Wogegen Plessner sich richtet, ist ein europäischer Kolonialismus, gerade weil derselbe auf der Basis von Fortschrittsideologien operiert hat, die fadenscheinige historische Legitimität auf der Basis eines metaphysisch überhöhten Geschichtsbildes generieren. Sein späterer Essay Zum gegenwärtigen Stand der Frage nach der Objektivität historischer Erkenntnis gibt darüber näher Aufschluss: „Die Durchnationalisierung der europäischen, die Emanzipation der außereuropäischen, z. T. noch im Kolonialaspekt stehenden Staatenwelt vollzog sich als ‚geschichtlich notwendiger‘ Vorgang; denn die Tat verlangt nach Rechtfertigung wie das Wunschbild, das aus verlorenen Möglichkeiten aufsteigt, nach der Tat. Gerade die werdenden Machtzentren, die jungen Nationalstaaten und die internationale Arbeiterbewegung, suchten in historischer Notwendigkeit ihr Recht auf Dasein und Zukunft und zwangen so aufs Neue die Geschichtsschreibung in den Dienst der Politik.“ (PGS 9: 155)
3.5 Macht und menschliche Natur
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realisiert, für die einzige oder eine außer- bzw. übergeschichtlich legitimierte hält. Das Resultat einer solchen Universalisierung ist, dass prinzipiell (nicht empirisch) gleichberechtigte Möglichkeiten des Menschseins als geschichtliche Mächte sich begegnen können. Was für diese Begegnung die geschichtliche Relativierung bedeutet, ist, dass dem Menschen „die Durchrelativierung seiner geistigen Welt den Rekurs auf ein Absolutes wissensmäßig abgeschnitten hat“. (Ebd.: 163) Dadurch ermangelt er eines ihm verbürgten „absoluten Standpunkts, Prinzips oder Fundaments“ (ebd.: 182), aber gerade daraus wächst ihm sowohl die Aufgabe wie auch die Möglichkeit zu, sich geschichtliche Überlieferung im anspruchsvollen Sinne zu eigen zu machen und sowohl dadurch als auch in der Auseinandersetzung damit sein Eigenes und darin sich zu bestimmen, wodurch er sich selbst als Macht und Können in der Geschichte bestimmt – ohne ein Ende der Geschichte.¹⁶⁰ Abschließend sei darauf hingewiesen, worauf Plessner zielt, wenn er von dem „Verzicht auf die Vormachtstellung des eigenen Wert- und Kategoriensystems“ (ebd.: 185) spricht. Besonders im Blick hat Plessner dabei Fortschrittsideologien, die sich der „Vorstellung eines einlinigen Fortschritts“ (ebd.: 161) verschreiben, der den Blick der Historiker, Soziologen und Psychologen von vornherein auf das Abendland des 18., 19. und 20. Jahrhunderts fixiert hielt, als ob ihre Zivilisation, da sie rationale Geschichtserkenntnis und Sozialforschung in Freiheit gesetzt hatte, das letzte und höchste Stadium der Menschheit repräsentiere. (Ebd.)
Was solchen Fortschrittsvorstellungen wiederum zugrunde liegt und den Nukleus von Plessners Kritik bildet, ist das, was er gegen Scheler gerichtet „Europäismus“ (ebd.: 150) nennt. Seine Kritik richtet sich zwar in Macht und menschliche Natur explizit gegen Schelers Wissenssoziologie – eine Kritik, die Scheler vermutlich nicht teilen würde, wenn man von seiner Kritik an Comte ausgeht, dessen soziologischer Konzeption er entgegensetzen möchte ein neues, völlig anders gestaltetes Bild der Entwicklung, in welchem das, was Comte als die Grundrichtung der Entwicklung menschlichen Wissens erschienen ist, nur als eine partikulare, in manchen Hinsichten sogar rückläufige Nebenrichtung des westeuropäischen Denkens auf einem kleinen Kurvenstück der welt-geschichtlichen Wissensbewegung erscheint. (GW 2: 10)
Auch Schelers negative Maxime, ein ernstzunehmender wissenssoziologischer Ansatz dürfe nicht „einem ebenso billigen ‚Europäismus‘ oder sonst einem Standpunkte verfallen, der, nur nach Maßgabe einer Kultur aufgerichtet, diesen ‚Standort‘ für allmenschlich und allhistorisch gültig hält“ (ebd.: 26), beeindruckt Plessner nicht. Das dürfte Schelers eigenen früheren Schriften – Europa und der Krieg ist 1915 erschienen,
“ Es gibt so betrachtet kein Ende der Geschichte, sondern eine aus der Zukunft offen strukturierte Frage nach dem Menschen, deren Beantwortung dem Menschen ‚überantwortet‘ bleibt.“ (Krüger 2019: 435)
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
Die Wissensformen der Gesellschaft 1926 – geschuldet sein, in denen er den Europäismus offen affirmiert im expliziten Rekurs auf sein Buch Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg. ¹⁶¹ So sehr Scheler der Intention nach später den Europäismus hinter sich lassen möchte, Plessner dürfte Schelers Ankündigung skeptisch gestimmt haben, wonach das in dem Buch entwickelte Grundgesetz der zeitlich und nach Epochen der Kultur wechselnden Arten des Zusammenspiels der geistig-ideenhaften und der triebhaft-realen Determinations- und Wirkfaktoren des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens […] in der ihrem Abschluß entgegengehenden ‚Anthropologie‘ des Verfassers […] eine noch tiefere Fundierung erhalten (GW 2: 11)
werde. Plessners Skepsis gegenüber Schelers Selbstrevision wird umso verständlicher in Anbetracht dessen, dass Scheler seine Wissenssoziologie durch seine Anthropologie zu fundieren beabsichtigt. Plessners Scheler-Kritik¹⁶² kann hier nicht in der Ausführlichkeit verfolgt werden, die eine Entscheidung über die Legitimität von Schelers Revision des Europäismus zulässt. Die Wissenssoziologie in Schelers Sinne anthropologisch zu fundieren, unterminiert gerade das, worauf Plessner zielt, nämlich den „Hervorgang der überzeitlichen Werte und Kategorien aus dem Leben“ (ebd.) zu verstehen, statt aus einer bestimmten Konzeption des Menschseins. Was Plessner als Europäismus bezeichnet, ist die geistige Grundlage nicht nur der Fortschrittsideologien selbst, sondern noch der geistig ebenfalls im Europäismus wurzelnden Kritik dieser Ideologien. Dem setzt Plessner die Lebensphilosophie entgegen, d. h. die Auffassung des Lebens als im Medium geschichtlicher Entscheidungen zu führendes Leben – ein Leben, das der Mensch „als Schöpfer“ (ebd.: 151) führen, statt es als „durch Rasse und spezifisches Volkstum“ (ebd.) bedingter Repräsentant derselben
„Die Überwindung des ganz leer gewordenen Kosmopolitismus – sein letzter Rest findet sich nur mehr bei einigen ästhetischen Schleckern, die aus allen Kulturen die ihnen zusagenden Rosinen herauspicken – wie des Internationalismus als Folge nur gemeinsamen Druckes, gemeinsamen Hasses, die nur opponieren, nicht aber leisten und reagieren wollen – kann nur ein neuer positiver Europäismus sein,Wort und Sache in dem Sinne genommen, wie ich sie in meinem Buche ‚Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg‘ genauer umschrieben habe. Der ‚gute Europäer‘ muß in diesem Kriege als ein neuer Geistestypus des Menschen, den er längst faktisch darstellt, auch zum Bewußtsein seiner Einheit kommen. In der bunten Menagerie der Völker, die in diesem Kriege sich kurzerhand kennen lernen, wird er sein eigentümliches Wesen am schärfsten gewahren lernen. […] Im Europäismus allein – nicht im ‚Nationalen‘, nicht im ‚Internationalen‘, nicht im ‚Kosmopolitischen‘ – können sich geistige Führerschaft und Demokratie treffen und ihren Kampfspeer gemeinsam gegen das Grundübel wenden, das die Anarchie Europas verschuldet hat: Gegen den ‚kapitalistischen Geist‘.“ (GW 4: 255 f.) Vgl. auch Schelers Essay Internationalismus oder Europäismus?, wo die Antwort eindeutig ausfällt: „Der Hauptgedanke in diesen Ausführungen, der unsere volle Zustimmung verdient, ist die Zurückweisung der unser Denken noch immer beherrschenden Begriffsgegensätze ‚Nationalismus‘ und ‚Internationalismus‘ (bzw. ‚Kosmopolitismus‘, ‚Humanismus‘) und die positive Rechtfertigung des Begriffes ‚Europäismus‘.“ (GW 4: 600) „Als ob mit dieser Korrektur eine Position bezogen wäre, die man nicht als Europäismus entlarven könnte!“ (PGS 5: 150)
3.6 Negative Anthropologie zwischen logischer und ontologischer Unergründlichkeit
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reproduzieren zu müssen. Welcher Entwurf oder welche aneignende und deshalb schöpferische Übernahme von Tradition am Ende dabei herauskommt, bleibt Sache der Geschichte und des geschichtlich zu lebenden Lebens, d. h. gemäß den obigen Ausführungen: Sache der jeweiligen Gegenwart, nicht der Zukunft. So wenig wie Plessner ein Ende der Geschichte kennt, so wenig kennt er einen blinden Imperativ, kulturrevisionistisch mit aller bisherigen Geschichte um des Bruches willen und ohne die Potentialität einer produktiven Aneignung überlieferter Gehalte zu brechen.
3.6 Negative Anthropologie zwischen logischer und ontologischer Unergründlichkeit. Synoptische Überlegungen zur Negativen Anthropologie Plessners Macht und menschliche Natur verkompliziert Plessners Negative Anthropologie, da sich um die Schrift eine Kontroverse rankt, in der sich zwei Grundpositionen gegenüberstehen: Zum einen lässt sich Macht und menschliche Natur als eigenständiger philosophischer Entwurf Plessners lesen, der nicht durch die Stufen fundiert wird und einen Vorrang der Kulturphilosophie¹⁶³ vor der Naturphilosophie, der menschlichselbstbestimmten Praxis vor der philosophischen Theorie begründet. Paradigmatisch kann man hier die Lesarten Volker Schürmanns und Hans-Peter Krügers¹⁶⁴ einander
Zum Begriff – nicht zum Vorrang – der Kulturphilosophie in diesem Zusammenhang vgl. Mitscherlich 2008: 264 ff. Im Wesentlichen auf der Linie Krügers ist meine eigene aus Das Politische in der Ontologie der Person (Edinger 2017) zu situieren. In der Mitte zwischen beiden ist Olivia Mitscherlichs Lesart zu situieren, der die Annahme zugrunde liegt, „daß es sich bei Plessners Natur- und Geschichtsphilosophie um einen philosophischen Ansatz handelt“ (Mitscherlich 2008: 16), weshalb es „keinen Bruch zwischen den ‚Stufen‘ und ‚Macht und menschliche Natur‘“ (ebd.) gebe. Die Glaubwürdigkeit dieser Annahme wird allerdings dadurch erschüttert, dass Mitscherlich behauptet, „daß sowohl die gedoppelt vertikal-horizontale Anlage der Lebensphilosophie als auch die von den ‚Stufen‘ vermittelten Einsichten die anthropologische Fundierung unmöglich machen“ (ebd.: 253) und dass Plessner mit Macht und menschliche Natur „die Konsequenz aus dieser Unstimmigkeit“ (ebd.) ziehe. Plessners bereits angesprochenes „Vergessen“ von Macht und menschliche Natur und seine spätere vielfache Zitierung der exzentrischen Positionalität – nicht nur, aber gerade in seiner Selbstdarstellung – deuten darauf hin, dass Plessner, wollte man ihm eine Entscheidung über den Primat seiner Werke abringen, Macht und menschliche Natur insoweit gelten lassen würde, als die Stufen dadurch nicht revidiert werden. Dass beide nicht gegeneinander auszuspielen seien, behauptet Mitscherlich ja auch, wo sie an der Einheit von Plessners Ansatz festhält, die sie zugleich perhorresziert, indem sie behauptet, die Resultate der Stufen entzögen dem Werk seine eigene systematische Grundlage. Dass Mitscherlich die Einheit von Plessners Ansatz nicht gelten lässt, zeigt sich an mehreren Stellen klar, besonders schlagend hier: „Indem Plessner die exzentrische Positionalität derart als Grundschicht menschlicher Wirklichkeit festsetzt, ist in seinem Denken für eine gleichursprüngliche geschichtsphilosophische Achse kein Platz mehr.“ (Ebd.: 356 f.) Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht (Edinger 2017), dass die Einheit von Plessners Ansatz gerade darin besteht, dass das Verhältnis von Grundlegung (Stufen) und thematischer Durchdeklinierung (Macht und menschlicher Natur) sich unterlaufen lässt, indem
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
gegenüberstellen, die unterschiedliche Akzentuierungen bieten, ohne in eine Frontstellung zueinander zu geraten. Volker Schürmann setzt sich in vielen seiner Texte mit der „eigentümliche[n] Verschränkung der beiden Prinzipien der Exzentrizität und der Unergründlichkeit“ (Schürmann 1997: 165) bei Plessner auseinander. Auffällig ist dabei bereits, dass Schürmann von Exzentrizität als „Prinzip“ spricht, statt von der exzentrischen Positionalität als Kategorie zu sprechen. In ähnlicher Weise globalisiert Schürmann den Begriff des Doppelaspekts, wenn er bei Plessner einen „Doppelaspekt von Natur und Kultur“ (ebd.: 148) ausmacht. Wenn das Verhältnis von Natur und Kultur in der Weise mit dem Doppelaspekt analogisiert und die exzentrische Positionalität zum Prinzip der Exzentrizität verklärt wird, verwundert es nicht, dass die Unergründlichkeit und die Exzentrizität füreinander Ermöglichungsgründe darstellen können.¹⁶⁵ Wiederum in einer auffälligen Umbenennung der „Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ zu einer „geschichtlichen Anthropologie“ sagt Schürmann: „[F]ür eine geschichtliche Anthropologie ist die Frage des Primats von Naturphilosophie und Anthropologie aus positiven Gründen nicht entscheidbar.“ (Ebd.: 166) Schürmanns Buch Die Unergründlichkeit des Lebens gibt Aufschluss darüber, inwiefern es sich bei Plessners Anthropologie im doppelten – sowohl intern reflexiven wie geschichtsphilosophischen – Sinne um eine „geschichtliche Anthropologie“ handelt, insofern nämlich, als der „Topos der Unergründlichkeit ein Kind der politischen Moderne“¹⁶⁶ (Schürmann 2011: 24) ist. Schürmanns Verständnis der politischen Moderne wiederum ist ein anderes als ein formales: „Er [der Topos der Unergründlichkeit, S. E.] ist an die politische Moderne, an die Zeitrechnung nach den Menschenrechtserklärungen gebunden, denn er setzt voraus und postuliert, dass der Mensch ein freies Wesen ist“. (Ebd.) Damit wird Plessner nicht einfach nur historisch, sondern auch normativ in der
man Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie konsequent von der Ontologie her als einen Ansatz entwickelt, statt nur von der Einheit des Ansatzes auszugehen. So gesehen will Mitscherlich sich in der Mitte plazieren, tendiert aber deutlich zu Schürmanns Lesart. „Das Prinzip der Unergründlichkeit ist der Ermöglichungsgrund des Prinzips der Exzentrizität dann, wenn letzteres nicht zu einer Identifizierung der ontologischen Bestimmung mit des Wassein des Menschen und damit zu einem theoretischen Kulturimperialismus führen soll; das Prinzip der Exzentrizität ist Ermöglichungsgrund des Prinzips der Unergründlichkeit dann, wenn letzteres nicht zu einem negativen Grenzbegriff und damit zu einem Kulturrelativismus führen soll.“ (Schürmann 1997: 165) Schürmann befürchtet offensichtlich nicht, mit dieser Formulierung möglicherweise von der Geschichte vermintes Gelände zu betreten. Diese Andeutung gilt der düsteren Tatsache, dass Europäer keine Unergründlichkeit mehr verbindlich nehmen müssen, um „die Suprematiestellung gegen andere Kulturen“ (PGS 5: 161) aufzugeben, weil die Geschichte selbst die „Relativierung“ Europas und des Westens im Ganzen in Regie genommen hat. Die Natur von Fußnoten gibt darüber Aufschluss, dass diese Frage hier nicht einmal zufriedenstellend formuliert werden kann, doch die Redlichkeit gebietet es, solche Begriffe nicht mehr fraglos hinzunehmen, wo das „Ende der europäischen Neuzeit“ bereits mit guten Gründen diagnostiziert worden ist. Vgl. Kondylis 2006: 160; außerdem: Kondylis 1991, 1992 und 2001.
3.6 Negative Anthropologie zwischen logischer und ontologischer Unergründlichkeit
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politischen Moderne¹⁶⁷ verortet, in der Schürmann sich selbst sieht. Anders gesagt: Plessner wird zum Zeitgenossen und Mitstreiter Schürmanns, weil die Moderne in sich hinreichend entdifferenziert wird, was wiederum heißt: Plessners Unergründlichkeitsfigur wird nicht nur verbindlich genommen, sondern ihr wird die Verbindlichkeit eines Anhypothetons zugesprochen, die Plessner in ein ungeschichtliches Verhältnis zu sich selbst setzt, denn Macht und menschliche Natur ernstnehmen hieße gerade, die Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht der Geschichte selbst in einer ungewissen Weise auszusetzen, d. h. sich zu Plessner selbst in ein geschichtliches Verhältnis zu setzen und Macht und menschliche Natur insofern auf sich selbst anzuwenden. Über das Resultat solchen Verhaltens lässt sich dann präskriptiv nichts aussagen, doch das Problem stellt sich für Schürmann aufgrund der verbindlichen und wohlergründeten Kontinuität der politischen Moderne nicht.¹⁶⁸ Hans-Peter Krüger hebt demgegenüber in seinem Buch Homo absconditus. Helmuth Plessner im Vergleich hervor, „dass Plessner am Primat der Naturphilosophie über die Geschichtsphilosophie in seiner Philosophischen Anthropologie festhält“. (Krüger 2019: 446) Krügers These lässt sich dadurch erhärten, dass Plessner die exzentrische Positionalität auch in seinen späteren Schriften nie aufgegeben und selbst in Macht und menschliche Natur seine Anthropologie nicht relativiert hat. Doch Krüger führt die Begriffe der Unergründlichkeit und des homo absconditus in einer Weise eng, die eine direkte Übersetzbarkeit beider ineinander suggeriert: „In dieser geschichtlichen Verschränkungsdynamik eines exzentrischen Bruches mit der leiblichen Konzentrik zwischen Organismus und Umwelt besteht die anthropologische Konstante. Plessner nennt sie die Unergründlichkeit des Menschen, kurz: den homo absconditus.“ (Ebd.: 622) Diese Engführung findet sich bereits bei Plessner expressis verbis: „Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaft ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft.“ (PGS 8: 134) In seinem Homo absconditus betitelten Essay porträtiert Plessner die Kategorie dezidiert als naturphilosophische Kategorie: „Als ein in der Welt ausgesetztes Wesen ist der Mensch sich verborgen – homo absconditus. Dieser ursprünglich dem unergründlichen Wesen Gottes zugesprochene Begriff trifft die Natur des Menschen.“ (PGS 8: 365) Indem Krüger den Primat der Naturphilosophie zu-
Man kann es auch so sagen: Die politische Moderne ist bei Schürmann gerade das Unhinterfragbare, das seine Gültigkeit zirkulär aus dieser Unhinterfragbarkeit bezieht, die in einem Spannungsverhältnis zur Unergründlichkeit steht. Was hier ausgebreitet wird, ist im Wesentlichen eine andere Fassung dessen, was Guido Tamponi gegen Schürmann treffend ins Feld geführt hat: „Man könnte noch weitergehen und fragen, ob nicht eine liberal-pluralistische Unergründlichkeitsdoktrin gerade zu einer Negativ-Ergründetheit geführt hat, die zur anthropologischen Grundlage des die kulturellen Differenzen unterwandernden globalen Transfermarkts geworden ist. Es gibt in diesem Sinne keinen direkten Weg zurück zu Plessner.“ (Tamponi 2012: 355)
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3 Helmuth Plessners Negative Anthropologie: Grundlegung und Kampferprobung
meist¹⁶⁹ nicht verwässert und ihn auch nicht nach dem Plessners Systematik ohnehin äußerlichen Schema von Fundament und Ableitung auffasst, vermeidet er die Schwierigkeiten, in die Schürmann und vor allem Mitscherlich dadurch geraten, dass sie der naturphilosophischen Grundlegung Plessners mit einer prinzipiell, aber nicht im konkreten Fall Plessners nachvollziehbaren „anti-fundamentalistischen“ Skepsis begegnen. Im Grundsätzlichen auf der Linie Krügers bewegt sich meine eigene PlessnerLesart. Worin meine Lesart sich auch von der Krügers noch unterscheidet, ist, dass sie gleichsam einen Pakt mit dem Teufel der Ontologie schließt, um ontologisch zu begründen, was sich gerade nur anti-ontologisch begründen ließe. Plessners Negative Anthropologie von seiner Negativen Ontologie des Organischen her begreifen heißt nicht, den Anti-Fundamentalismus fundamentalistisch zu legitimieren, denn jenseits von Fundamentalismus und Anti-Fundamentalismus existiert noch, was man NichtFundamentalismus nennen könnte und worauf mein Versuch zielt, mit Plessners phänomenologischem Ansatz der einen Erfahrungsstellung (vgl. SOM: 14) in einer Weise ernstzumachen, dass es sich dadurch erübrigt, Plessners Werk in verschiedene Teilphilosophien zu zerlegen. Die Begriffe der Ontologie des Ausgleichs und die gleichermaßen spezifikationsoffene wie bedürftige Universalisierung der Kategorie der seienden Möglichkeit erlauben es, die Negative Anthropologie Plessners strukturell sowohl naturphilosophisch als auch ontologisch auszuformulieren, ohne der Geschichte einen „allerletzten Wahrheitsgrund“ (Mitscherlich 2007: 58) überzustülpen, weil die Kategorie, in welcher die strikt naturphilosophische und die personale Ausgleichsbedürftigkeit ineinanderlaufen, die der Lebensführung ist, mit der Plessner auch Natur und Geschichte in Macht und menschliche Natur zusammenschließt. Dieses Zusammenschließen ist zu im Folgenden kurz zu rekapitulieren, um das Porträt von Plessners Negativer Anthropologie abzurunden. Mehrere Kategorien von Plessners Naturphilosophie können gleichermaßen als Kategorien seiner Theorie der menschlichen Personalisierung im Rollenspiel verwendet werden, vor allem die der seienden Möglichkeit, die der immanenten Teleologie und die des Ausgleichs, wobei Plessner gerade mittels der Kategorie des Ausgleichs die Negative Ontologie des Organischen und die Lebensführung stärker als mittels jeder anderen Kaegorie zusammenschließt. Bereits in den Stufen sagt Plessner, der Mensch habe „das Leben zu führen, welches er lebt“ (SOM: 310), doch erst in Macht und menschliche Natur gewinnt der Begriff der Lebensführung den Status eines terminus technicus, und zwar insbesondere dadurch, dass die Lebensführung in den
Krüger wird inkonsequent, wo er vom „geschichtsphilosophischen Prinzip der Unergründlichkeit“ spricht, als wäre es als solches das leitende Prinzip von Plessners Gesamtwerk: „Ich hatte demgegenüber von Anfang an das Gesamtwerk Plessners unter dem geschichtsphilosophischen Prinzip der Unergründlichkeit, d. h. gemäß der Öffnung der Frage in die Zukunft des Ganzen personalen Lebens, rekonstruiert, was sich mit dem Primat einer Philosophie der offenen Fraglichkeit personalen Lebens in der gebrochenen und daher geistoffenen Natur bestens verträgt.“ (Krüger 2017: 241 f.)
3.6 Negative Anthropologie zwischen logischer und ontologischer Unergründlichkeit
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Horizont des „sich aus dem Leben her auf das Leben hin“ Verstehens (PGS 5: 221) gestellt wird, das ich präzisiert habe als ein „aus dem gelebten Leben auf das zu lebende Leben hin Verstehen“ (vgl. Kapitel 3.9.2.). Die Lebensführung in diesem vertieften Sinn tritt nicht aus dem naturphilosophischen Horizont heraus; um den philologischen Beleg dieser systematischen Tatsache zu finden, muss man gar nicht über Macht und menschliche Natur hinausschauen, denn Plessner wird daselbst hinreichend deutlich: Exzentrische Position als Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst ist die offene Einheit der Verschränkung des hermeneutischen in den ontisch-ontologischen Aspekt: der Möglichkeit, den Menschen zu verstehen, und der Möglichkeit, ihn zu erklären, ohne die Grenzen der Verständlichkeit mit den Grenzen der Erklärbarkeit zur Deckung bringen zu können; ist als Sein Leben, trägt das Leben, und doch emanzipiert sich das Leben von ihm, vom Vorhandensein und beharrt in der unergründlichen Aufschließbarkeit seines Kündens und Deutens. (PGS 5: 231)
Bei Plessner lassen sich mehrere Durchgegebenheiten ausmachen. Nicht nur ist die menschliche Person auf die Natur als das Andere ihrer selbst hin durchgegeben, sie ist auch auf die Geschichte als ein für sie konstitutives Anderes (nicht ihr Anderes) durchgegeben. Diese doppelte Durchgegebenheit hat ihren Grund darin, dass die Person als solche weder mit der Natur noch mit der Geschichte (noch mit ihrer eigenen Geschichte) identisch ist. Diese doppelte Nicht-Identität mit Sphären, die für sie in verschiedener Weise und in verschiedenen Unmittelbarkeitsgraden konstitutiv sind, begründet ihre doppelte Durchgegebenheit in Sphären hinein, die einander selbst gegenseitig begrenzen und durchdringen. Was die Natur hier von der Geschichte unterscheidet, ist, dass menschliche Personalität eine spezifische Gestalt der Materialisierung der Natur, genauer: eine spezifische Gestalt der Materialisierung des Lebendigen als seiender Möglichkeit ist. Doch dem Hiatus, als Person nicht mit einem der Aspekt derselben, d. h. nicht mit Psychischem oder Physischem als den Konstituentien der Doppelaspektivität zusammenfallen zu können, steht die Möglichkeit der Versöhnung, d. h. eines finalen Ausgleichs, nicht offen. Den anthropologischen Personalisierungsrahmen, den das Existieren in diesem konstitutiven Hiatus kennzeichnet, der sich im in Leibsein und Körperhaben anthropologisch und sozialpragmatisch differenzierenden Körperleib regelrecht verkörpert, nennt Plessner das privat-öffentliche Doppelgängertum (siehe Kap. 3.7), mit dem weitere Durchgegebenheiten sich auftun. Der Körperleib ist kein sinn-neutrales Medium, denn der Leib ist irreduzibel unser eigener und privater Leib, als solcher aber zugleich ein öffentlich sichtbarer und bedeutender Körper; der öffentliche und erfahrungswissenschaftlich objektivierbare Körper ist als solcher auch dem ihn „Bewohnenden“ in intransitiver Weise zugänglicher Leib. Wie Leibsein und Körperhaben ein unauflösbares Ineinander bilden, sind die verkörperten Sinnrichtungen des Privaten und Öffentlichen zueinander durchgegeben. Dadurch, dass die Personalisierung im privat-öffentlichen Doppelgängertum nicht kontingent, sondern medial sprachvermittelt stattfindet, die Sprache also kein Hinzukommendes, sondern selbst ein Medium der Personalisierung und der Aneignung wie der Gestaltung von Leibsein
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und Körperhaben bildet, ist das privat-öffentliche Doppelgängertum nicht nur nicht sinn-neutral, sondern gleichermaßen konstitutionell wie genetisch in Sprache als Medium seiner Konstitution eingebettet; zugleich brechen die Sprache einerseits sowie Leibsein und Körperhaben andererseits sich aneinander, weil die Irreduzibilität und Spezifik von Medien direkte Übersetzungen verunmöglicht.¹⁷⁰ Was die Person körperleiblich ausdrücken kann (in expressiver Performanz), kann sie ebenfalls sprachlich auszudrücken versuchen (in syntagmatischer Artikulation), ohne dass die körperleibliche Expressivität sich in die Sprache magisch introjizieren ließe. Die Durchgegebenheit, die mit der Sprache sich auftut, ist die reflexiv-konstitutive des privat-öffentlichen Doppelgängertums und dessen medialer Ausformung im Leibsein und Körperhaben in das Reich des semantischen Sinns hinein; umgekehrt erlangt im privat-öffentlichen Doppelgängertum die Sprache eine spezifische, sie reflexiv formende Durchgegebenheit in das Leibsein und Körperhaben als Medium des privatöffentlichen Doppelgängertums hinein. Und beide Durchgegebenheiten sind in das soziale und geschichtliche gelebte Leben hinein und von diesem her ineinander durchgegeben. Diese Durchgegebenheit, die mit dem privat-öffentlichen Doppelgängertum sich auftut, ist die der Person in den (generalisierten intersubjektiven) Anderen oder ins Soziale als Moment seiner eigenen Personalisierung, in der es keineswegs aufgeht, sondern die es trägt. Globaler gesprochen ist damit die Natur ins Soziale und in die Geschichte und vermittels der Durchgegebenheit ins Eine zugleich ins Andere durchgegeben, wobei diese Durchgegebenheiten auf die Gegebenheit der Natur für sie selbst zurückwirkten. Diese Brechungen sind durch und durch negativer und eröffnender Art zugleich: Die Negative Anthropologie Plessners ist eine der Potenzierung von Potentialität, weil Natur, Geschichte und Soziales sich nicht wie Wände gegenseitig begrenzen, sondern in der Durchgegebenheit zueinander gerade höherstufige Ausgleichsleistungen verlangen, durch die Lebendigkeitspotentiale gesteigert statt vermindert werden. Um diese Zusammenschau erneut werkgeschichtlich zu situieren: Die „Durchgegebenheit in das Andere seiner selbst im Kern des Selbst“ (PGS 5: 231) verbindet Macht und menschliche Natur nicht nur retrospektiv mit den Stufen, sondern auch prospektiv mit Lachen und Weinen, wo Plessner die Philosophische Anthropologie zu einer Theorie des personalen Verhaltens und dessen Grenzen weiterentwickelt. Dabei knüpft Plessner expressis verbis zwar nicht an Macht und menschliche Natur an, bricht aber auch nicht mit der Schrift, die fortan in seinem Werk in essentia keine Erwähnung mehr findet, während Plessners spätere Schriften zum größten Teil aus Aufsätzen bestehen (mit der Ausnahme von Die Frage nach der conditio humana, worin Plessner den in Lachen und Weinen entwickelten Rahmen rollentheoretisch weiterentwickelt). Der achte Band der Gesammelten Schriften trägt zurecht den Titel Conditio humana, weil der Band eine ganze Reihe von Aufsätzen versammelt, die tatsächlich Variationen
Vgl. Edinger 2017: 368 ff. und Krüger 2001: 118 ff.
3.6 Negative Anthropologie zwischen logischer und ontologischer Unergründlichkeit
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eines Themas bilden, was sich auch über das Verhältnis von Band 7 und Band 8 zueinander, Ausdruck und menschliche Natur und Conditio humana, sagen lässt. Nach 1945 hat Plessner seinen anthropologischen Errungenschaften eine konzise essayistische Form gegeben und sie mit rollentheoretischen Überlegungen verknüpft. Die Errungenschaft von Lachen und Weinen ist die Unterscheidung zwischen dem Leibsein und Körperhaben, deren konsequente systematische Kodifizierung erst Hans-Peter Krüger (Krüger 1999 & 2001) durchgeführt hat. Die entscheidende theoretische Errungenschaft, die Plessner in Die Frage nach der conditio humana präsentiert, ist das privat-öffentliche Doppelgängertum. Beide Unterscheidungen sind eröffnender und strukturanalytischer Art, d. h. sie geben Ermöglichungsstrukturen beobachtbarer Verhaltensweisen von deren Bildungsvoraussetzungen und Begrenzungen her an. Beide sind zugleich naturphilosophischer Art, d. h. sie exponieren natürliche Grundstrukturen der Personalisierung, ohne durch naturalistische Reduktionen die exzentrische Positionalität auf statische naturale Determinanten zurückzustutzen. Beide bilden keinen Verrat an der Geschichtlichkeit und überspringen sie nicht, noch übersehen sie diese in anthropologischer Selbstgenügsamkeit. Wo Plessner später von der Geschichtlichkeit handelt, tut er dies innerhalb eines anthropologischen Rahmens – und doch in gänzlicher und unausgesprochener Übereinstimmung mit Macht und menschliche Natur, die hier expliziert wurde (Kap. 3.9). In diesem anthropologischen Rahmen kommt es nicht zur abstrakten Gegenüberstellung von Natur und Geschichte, sondern von Person und Geschichte, und erst im Verhältnis der personalen Lebensführung zur Geschichte entsteht Geschichtlichkeit, wie Plessner in Über einige Motive der philosophischen Anthropologie (1958) klar zum Ausdruck bringt: Die personale Zone darf aber nicht einfach als die oberste Schicht im Bau der menschlichen Natur, sozusagen als das Dachgeschoß des etagenreichen Hauses angesehen werden, sondern sie prägt es von Grund aus und im Wandel der Geschichte immer wieder anders. Insofern ist der Mensch als Kern und Träger seiner Schichtenfülle dieser immer noch überlegen, ihr gewissermaßen entzogen und begrenzt sie in seiner Geschichtlichkeit. (PGS 8: 125)
Hier wird in unzeitgemäßer Weise das Nötigste gesagt: Personalität macht den Unterschied zwischen Geschichtlichkeit und Innergeschichtlichkeit aus; wer zwischen beiden nicht fundamental zu unterscheiden versteht, der sagt über seinen eigenen Personalitätsstatus Ungutes aus. Die Geschichtlichkeit ist nicht das so abstrakte wie nichtssagende Kennzeichen von Geschichte, veränderlich zu sein, sondern die Geschichtlichkeit desjenigen, der innergeschichtlich als Person zur Geschichte in einem genuin personalen Verhältnis steht. Die Geschichte von „seiner Geschichtlichkeit“ (ebd.) her begrenzende Person koinzidiert weder mit der Natur noch mit der Geschichte noch mit sich selbst als einer beider enthobenen „reinen“ Innerlichkeit und Unverlierbarkeit. Zugleich darf die generische Redeweise, die Plessner von der menschlichen Person als solcher reden lässt, nicht darüber hinwegtäuschen, dass das darin angesprochene Typologische menschlicher Personalität immer noch einer In-
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stanziierung bedarf, um reale Eigenschaft, statt bloße, wenn auch wesentliche, Potentialität zu sein. Der Geschichtlichkeit stellt Plessner die bloß formale und wissenschaftliche Geschichtlichkeit, letztere als Variante der ersteren, gegenüber. Die wissenschaftliche Geschichtlichkeit ist das Resultat der Geschichtsschreibung, die „nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten um der Wahrheit willen, aus reiner Neugier an dem, was wirklich war, […] aus allen ihren früheren Funktionen befreit und gegen sie womöglich abgeschirmt, ein spätes Kunstprodukt“ (PGS 8: 215) ist. Doch die Geschichtlichkeit der Geschichtsschreibung versündigt sich nicht an der Geschichte und an der Gegenwart, wie die formale Geschichtlichkeit es tut, die, den dogmatischen Gestus leerer und geistig anämischer Relativierung als Ausweis ihrer Aufgeklärtheit missverstehend, zu allem das gleiche und zu nichts etwas zu sagen hat (vgl. Kap. 3.9.2): „Mit der Relativierung der Maßstäbe, Werte, Ideale zerfällt sie und hinterläßt als Rückstand eine ebenso verhängnisvolle als formale Bestimmung menschlichen Wesens: seine Geschichtlichkeit. Dies kann alles besagen, für sich selbst besagt sie nichts.“ (PGS 9: 270; Hervorhebung, S. E.) Damit wird auf zweierlei Weise, positiv durch die Relativierung der Geschichtlichkeit auf die Personalität und negativ durch die Verwerfung einer bloß formalen Geschichtlichkeit, allzu deutlich, was bereits in Bezug auf Macht und menschliche Natur gesagt worden ist: Geschichtlichkeit im eigentlichen Sinne ist wesentlich eine Qualität des personalen Verhältnisses zur Geschichte – als solcher und in konkreter Gestalt zugleich –, das Personen geschichtlich in ihrer Lebensführung auf sich nehmen.¹⁷¹ Die formale Geschichtlichkeit ist eine Gratis-Geschichtlichkeit, die aus dem leeren Apriori, dass jede Gegenwart zur aus einer späteren Gegenwart betrachtbaren Vergangenheit wird, mehr mit dem Rechenschieber der chronometrischen Differenzierung als mit distinguierender Urteilskraft ein so abstraktes wie notwendiges Nacheinander von Veränderlichem und Vergänglichem als
Hier läuft auch Odo Maquards Gegenüberstellung von Anthropologie und Geschichtsphilosophie endgültig ins Leere (ob sie dies nicht bereits bei Scheler tut, ist auch diskutierungswürdig). Weder treten beide bei Plessner als „Gegenteil“ (Marquard 1992: 13) voneinander auf, noch wäre hier ein „Doppelabschied“ (ebd.: 28) möglich, der nicht alle systematischen Gehalte überhaupt verwüsten würde. Die hier ausgeführten Überlegungen zu Plessner sollten klarmachen, dass spätestens an seiner Philosophie die trivialisierende Homogenisierung anthropologischer Ansätze abprallt. Darauf hat bereits Schnädelbach gegen Marquard hingewiesen (vgl. Schnädelbach 1991: 272). Marc Rölli hingegen schließt entschieden an Marquard (und Foucault) an (vgl. Rölli 2011: 10), vor allem an dessen These, dass die Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre für alle weitere Theorieentwicklung verbindliche Gestalt angenommen habe, vgl. Marquard 1992: 125 und 129 ff. Die „Naturphilosophie des Menschen“, die Marquard im frühen 19. Jahrhundert explizit ausmacht (ebd.: 129), rückt bei Rölli ins Zentrum der gesamten Argumentation, die Marquards Thesen wiederholt und materialreicher entfaltet: „Unter Verwendung eines begriffsgeschichtlichen Verfahrens möchte ich zeigen, dass die philosophische Anthropologie, sei es als systematischer Denkansatz oder als eine Disziplin unter anderen, primär eine Angelegenheit des langen 19. Jahrhunderts darstellt. Zeitlich in der Folge der Französischen Revolution konstituiert und konsolidiert sich die philosophische Anthropologie als Naturphilosophie des Menschen.“ (Rölli 2011: 15)
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geschichtliches Prinzip herauspresst.¹⁷² In Bezug auf die formale und wissenschaftliche Geschichtlichkeit gilt, was Plessner über die Heideggersche sagt: Sie ist „eine zu nichts verpflichtende Struktur der Geschichtlichkeit, die jedes Gewicht, weil jeden wirklichen geschichtlichen Gehalt verloren hat“. (Ebd.: 279) Was mit dem Verlust des geschichtlichen Gehalts einhergeht, ist der Gewinn von Folgenlosigkeit, die wiederum die Liebhaber der formalen Geschichtlichkeit dazu animiert, sich nur umso mehr eifriger mit solchem zu einem Wissen verklärten Bescheidwissen¹⁷³ zu schmücken. Plessners Kritik der formalen Geschichtlichkeit verhält sich spiegelbildlich zur Kritik der Hypostasierung von Geschichte in Macht und menschliche Natur, sie ist nur leichter übersehbar, weil Plessner in der Nachkriegszeit in vergleichsweise ruhigen Verhältnissen gelebt und geschrieben hat. Während die formale Geschichtlichkeit jederzeit für eine Pseudo-Kritik jeglicher Anthropologie im Namen eines leeren Immer-auch-anders-sein-könnens herbeigepfiffen werden kann, hält Plessner der Geschichtlichkeit die Treue und mit ihr der Philosophischen Anthropologie. Die Antwort auf die Frage „Immer noch Philosophische Anthropologie?“ fällt nicht wieder (nach einem Bruch in Macht und menschliche Natur), sondern immer noch positiv aus.
3.7 Jenseits von Freiheit und Notwendigkeit. Die Teleologie als Anti-Teleologie Abschließend ist Plessner im Verhältnis zu den ausführlich diskutierten Ansätzen Sonnemanns und Gehlens zu betrachten. Dabei geht es um die Stellung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit im Denken Plessners, d. h. um eine Relation, die bei Gehlen und Sonnemann in verschiedener Weise teleologisch – bei Sonnemann normativ-teleologisch, bei Gehlen im starken Sinne ideologisch, weil verdeckt, aber mit klarer politischer Schlagseite teleologisch – bestimmt worden ist und bei Plessner in eine explizite immanente Teleologie eingebettet ist, die eine Analyse von Strukturbedingungen menschlicher Personalität und damit auch menschlicher Freiheit gibt, dabei aber dezidiert weder politische Grundhaltungen noch grundsätzliche Weichenstellungen in ihre anthropologisch-ontologische Grundlegung hineinschleust (dass Plessners Denken sich im Ganzen als „liberal“ kennzeichnen lässt, widerspricht dem nicht und macht die anthropologische Grundlegung noch nicht zu einer liberalen).
Nicht umsonst stellt Plessner den historistischen Verzicht auf die „Möglichkeit, den Sachen selbst sich gegenüberzustellen“ (PGS 5: 185), das keineswegs registrierende, sondern die gelebte und zu lebende Geschichte in die Sphäre der Entscheidung stellende Vergegenwärtigen als Bedingung der Möglichkeit von dezidiert praktischer und politischer Freiheit gegenüber: „Vergegenwärtigen ist aber gerade das, was in der Geschichte der Kulturen ihren Sachbezug, ihren Weltbezug, ihre innere Freiheit und darum ihre ewige Umprägbarkeit oder Offenheit bis in die fernsten Fernen theoretisch und praktisch-politisch möglich macht.“ (Ebd.) Vgl. AGS 3: 235 ff.
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Während für Sonnemann die Freiheit etwas durch Kritik – auch vor der Anthropologie – zu Rettendes ist, hat für Gehlen die Notwendigkeit der Ordnung den teleologischen Vorrang vor einer Freiheit, die als Restselbstbestimmtheit innerhalb des politisch-gesellschaftlichen Ordnungsgefüges übrigbleibt. Plessner hingegen bricht aus dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im Sinne eines Bedingungsverhältnisses sowie aus dem theoretischen Rahmen der dritten Kantischen Antinomie aus. Freiheit und Notwendigkeit werden selbst in den „radikale[n] Doppelaspekt zwischen der (bewußt gegebenen oder unbewußt wirksamen) Seele und dem Vollzug im Erlebnis, zwischen Notwendigkeit, Zwang, Gesetz, geschehender Existenz und Freiheit, Spontaneität, Impuls vollziehender Existenz“ (SOM: 299) eingerückt. Innerhalb des Doppelaspekts treten sie zunächst auf als Aspekte des erscheinenden Dings der Anschauung, als spezifische Gestalt der lebendigen Spontaneität, nicht als exklusives Merkmal menschlichen Freiheit. Die „Spontaneität des Lebendigen […] dokumentiert sich in der Anschauung als Freiheit gegen die Form unter der Form“. (Ebd.: 126) Die Formel „Freiheit gegen die Form unter der Form“ begründet für Plessner den Unterschied zwischen dem „Tendenzcharakter“ des Lebendigen (vgl. ebd.: 125) und einer bloßen Zuständlichkeit, die einen mechanistischen Zugang und prinzipiell eine Berechnung späterer Zustände aus früheren erlaubte. Freiheit im Sinne der Spontaneität tritt explizit innerhalb von Plessners Negativer Ontologie des Organischen bereits auf als die Qualität der Spontaneität dessen, was Lebendiges und nicht bloß Ding ist. Freiheit in diesem Sinn wird nicht aus Verhalten erschlossen, sondern zeigt sich am Lebendigen und damit an solchem, das in der Anschauung als Lebendiges auftritt; die Freiheit ist die Rückseite der Lebendigkeit und lässt sich weder herbei- noch wegdeduzieren, weil sie als Anschauungsqualität im konstitutiven Sinne vorgängig gegenüber näheren Bestimmungen ist. Für Freiheit und Notwendigkeit gilt bei Plessner, was auch für theoretische und praktische Bestimmungen gilt (ohne dass damit eine strikte Strukturanalogie beider Relationen behauptet werden soll): Sie bestimmen einander, ohne dass eine monodirektionale Determination existierte, sie sind selber Momente derjenigen personalen Vermittlung, die Plessner Ausgleich nennt und vom lebendigen Organismus wie von der Person und von letzterer als hochstufiger organismischer Spezifikation zu leisten ist. Der „Ausgleich“ bildet hier das praktische τέλος des Sich-Verhaltens zur Freiheit in der Freiheit. Ein fertiges Bild des so und so zu leistenden Ausgleichs ist nach Maßgabe von Freiheit und Geschichtlichkeit gerade nicht zu geben. Es gibt nicht den Ausgleich, sondern eine Vielzahl von Ausgleichsleistungen, die sich wiederum durch verschiedene spezifische Einbettungen auszeichnen. Die immanente Teleologie, die Plessners Ontologie des Ausgleichs in prinzipieller Weise, d. h. auf ihren verschiedenen Stufen, fundiert, determiniert nicht ihre Ergebnisse und ist insofern als Teleologie resultativ un-teleologisch; gegenüber ideologisch geprägten (Dienstleistungs‐)Teleologien, die bestellte Ergebnisse liefern sollen, ist sie anti-teleologisch als immanente Teleologie. Die immanente Teleologie ist eine doppelte, die Teleologie des organischen wie die des personalen Lebens; für diese doppelte Teleologie gilt, dass ihre Ebenen zueinander durchgegeben sind. Die „Freiheit gegen die Form unter der Form“ (ebd.: 126)
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verlangt keine Abdikation von Teleologie, sondern artikuliert gerade die organisatorische Selbstreferentialität einer Teleologie, deren substantieller Kern die Selbstvermittlung statt des Geschehens bildet. Die immanente Teleologie des Organischen gestaltet sich im Menschen vermittels der exzentrischen Positionalität in personaler Weise. Bereits in den Stufen findet der Übergang vom bloßen Verhalten in und zu einer Umwelt zur Lebensführung in einer personal konstituierten Welt statt: „Der Mensch lebt also nur, wenn er ein Leben führt. So bricht ihm immer wieder unter den Händen das Leben seiner eigenen Existenz in Natur und Geist, in Gebundenheit und Freiheit, in Sein und Sollen auseinander.“¹⁷⁴ (Ebd.: 316 f.) Die spätere Spezifikation der Mitwelt durch das privat-öffentliche Doppelgängertum vertieft deutlich, was Plessner in den Stufen noch abstrakt die „Macht im Modus des Sollens“ (ebd.: 317) nennt, der die exzentrische Struktur des menschlichen Weltbezugs erst entspreche. Die Macht im Modus des Sollens „ist der spezifische Appell an die Freiheit als das Stehen im Zentrum der Positionalität und das Movens für den geistigen Menschen, für das Glied einer Mitwelt“. (Ebd.) Indem Plessner die Freiheit als Eigenschaft des menschlichen Positionalitätsmodus bestimmt, kann die Freiheit weder aus ihr erst hervorgehen, noch steht sie zur Disposition für Analysen, die die exzentrische Positionalität reduktionistisch unterminieren wollen. Freiheit ist keine epiphänomenale Eigenschaft, auch kein Vermögen im psychologischen oder metaphysischen Sinne, sondern ein Verhältnis, das Personen innerhalb der exzentrischen Positionalität zur exzentrischen Positionalität einnehmen können, nämlich das Verhältnis der Distanzierung: „Leidenschaftlicher Freiheitswille z. B. besitzt im Verhältnis zur Freiheit keine Freiheit, keine Distanz wie die Vernunftleidenschaft im Verhältnis zur Vernunft der Vernunft unzugänglich ist.“ (PGS 8: 71) Distanz benennt hier strukturell, was Vernunft inhaltlich benennt, ohne dass letztere in ersterer aufginge; Vernunft muss nicht nur Distanzierung zustandebringen und folgt nicht bereits aus ihr, zudem ist Vernunft keine mehr, wo sie sich z. B. ihres identifikatorischen Potentials begibt. Als Gewinnen von Distanz realisiert sich das Stehen im Zentrum der Positionalität, und aus der Distanz ergibt sich eine andere Blickweite, ohne dass das die Distanz die zur Natur im Sinne eines Heraustretens aus ihr bedeutete. Unter Vernunft versteht Plessner kein abstraktes theoretisches Vermögen, sondern eine praktische Vernunft, auf die jede theoretische Vernunftleistung im Modus der Verbindlichkeit bezogen bleibt. Deshalb ist für Plessner die Frage irrelevant, „ob und wie der Kausalgesetzen unterworfene Mensch gegen ihre Determination seine Freiheit behauptet“. (PGS 8: 43) Ihm geht es um das „Menschsein als solches und um das Recht zugleich seiner theoretischen Abgrenzung und praktischen Verbindlichkeit, Eine solche Reihung kann leicht Missverständnisse erwecken, z. B. das, Geist und Freiheit wären durcheinander substituierbar, als wäre Freiheit nicht gerade geistig zu gestalten und Geist als „mit der eigentümlichen Positionsform [des Menschen, S. E.] geschaffene und bestehende Sphäre […] macht daher keine Realität aus“ (ebd.: 303), sondern konstituiert lediglich die Sphäre, innerhalb welcher die Realität der Freiheit verwirklicht werden muss.
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um die Frage, was es bedeutet und wie es möglich ist: ein Mensch zu sein“. (Ebd.) Diese Realisierung des Menschseins obliegt nicht dem Menschen als Gattungswesen, sondern dem Menschen als Person. Die Person wiederum steht nicht im Spannungsverhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im Sinne der Fraglichkeit der Freiheit,¹⁷⁵ sondern im Sinne der Freiheit als notwendiger Verbindlichkeit der Zurechnung. Personalität bedeutet dann auch: Theoretische Bestimmungen sind nicht der Verbindlichkeit gegenüber der praktischen Vernunft entzogen, sondern diese bildet gerade ihr Woher und Woraufhin. Die theoretische Bestimmung ist nicht das, was uns im technischen Sinne praktische Folgebestimmungen auferlegt oder diktiert, sondern praktische Verbindlichkeiten erschafft, aber selbst innerhalb einer Sphäre praktischer Verbindlichkeiten verortet ist, anders gesagt: Die theoretische Bestimmung erwächst selber aus praktischen Verbindlichkeiten und ihr wachsen praktische Verbindlichkeiten zu: „Für jede theoretische Bestimmung unseres Wesens haben wir zu zahlen, sie ist ein Vorgriff auf die Praxis, von ihr hängt ab, was aus uns wird. So wie der Mensch sich sieht, wird er; darin besteht seine Freiheit, an der er festzuhalten hat, um ein Mensch zu sein.“¹⁷⁶ (PGS 8: 116) Diese Wahrung der Freiheit ist keine Errungenschaft passiver Abwehr, sondern praktischer Einsicht. Die exzentrische Positionalität ist die strukturell-anthropologische Ermöglichungsbedingung dieser praktisch den Menschen auf sich selbst als geschichtliche Möglichkeit verpflichtenden Freiheit, Personalität ist ihre holistische praktische Gestalt, praktische Vernunft ist ihr Medium und das Vermögen, worin dessen Selbstverstehen sich nach oben hin abschließt und nach unten hin begrenzt: Der Mensch „bleibt sich auch mit der raffiniertesten Psychologie ein unauflösliches Rätsel. Diese Grenze ist ihm gezogen, aber nur durch seine eigene Vernunft und nur insofern, als er um ihre letztlich praktische Bestimmung weiß.“ (PGS 8: 131 f.)
Plessner unterscheidet in Die Einheit der Sinne zwischen dem „Dass“ und dem „Wie“ der Möglichkeit; das „ Dass“ der Personalität ist auf das „Wie“ hin zu befragen, nicht auf das „Ob“ hin, weil der Kantischen Realität der praktischen Vernunft bei Plessner die Realität der Personalität entspricht: „Die Kritik fragt immer nach dem Wie der Möglichkeit; das Daß der Möglichkeit muß für sich feststehen und darf nicht womöglich erst aus dem Wie irgendwie bewiesen sein wollen. Daß die Naturwissenschaft möglich ist, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen. Die Tat ist insofern auch für sie entscheidend, so wie, daß es reine praktische Vernunft (mit kantischen Worten) gibt, keiner Kritik bedarf; denn sie beweist ihrer Begriffe Realität durch die Tat. Hier kann man gar nicht mehr nach dem Wie der Möglichkeit fragen.“ (PGS 3: 143 f.) Ebenso zeigt sich die Personalität, die bei Plessner selbst durch praktische Vernunft maßgeblich sich auszeichnet, in ihrer Aktuierung als Freiheit, die keines Beweises mehr bedarf, sondern einer Hermeneutik, die Plessner weitläufig entwickelt. Wie sehr Plessner darin als Kantianer und Fichteaner sich präsentiert, zeigt seine Selbstdarstellung, in der er diese Bezüge expliziert: „Eine Freiheit zur Vernunft unterstreicht nur das, worin Fichte mit Kant übereinstimmt: Den Primat der praktischen Vernunft im Verhältnis zur theoretischen. Der Mensch ist deshalb in Fichtes Sinne als das moralische Subjekt verstanden, das wählen kann: Eine Philosophie nach dem Prinzip der Autonomie oder der Heteronomie. Aber in solchem Verstande ist der Mensch nicht mehr eine Angelegenheit des Systems, sondern das System eine Angelegenheit des Menschen geworden.“ (PGS 10: 312)
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Von der Vernunft nicht als bloßem Vermögen, sondern als Medium spricht Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft, wo er „im Medium der Vernunft […] das verbindende Element der Menschheit“ (PGS 5: 50) ausmacht. Diese Vernunft ist nicht nur keine individuelle mehr, sie ist dezidiert grundsätzlich keine ihrer Natur nach individuelle,¹⁷⁷ gleichwohl aber eine inviduierbare bzw. individuativ aktuierbare; sie ist eine ausgezeichnete Möglichkeit der seienden Möglichkeit der menschlichen Person als solcher – und nicht, wie die exzentrische Positionalität, die Positionsform des Personalität generell fundierenden Organismus –, und sie ist, wo sie individuell realisiert wird, die höchste Form personaler Spontaneität. Die Verwandtschaft der lebendigen Spontaneität mit der praktischen Vernunft, in der Plessners Kantische Wurzeln noch einmal durchschlagen, ohne dass seine Philosophische Anthropologie das Kantische Erbe je explizit entfaltet hätte, hat Plessner in einer autobiographischen Betrachtung en passant und doch explizit angesprochen: „[D]ie Verbindung von Spontaneitätstheorie im Lehrstück der transzendentalen Einheit der Apperzeption mit dem vom Primat der praktischen Vernunft war mir in meiner ungenügenden Kenntnis von Kant noch nicht deutlich geworden“. (PGS 9: 353) Diese Aussage bezieht sich auf Plessners Zeit in Göttingen 1914/15, seine Kant-Schrift stammt aus dem Jahr 1920, die „genügende“ Kant-Kenntnis steht also auch horizonthaft im Hintergrund der Entwicklung von Plessners Philosophischer Anthropologie. Daraus folgt nicht, dass die Spontaneität des Lebendigen aus den Stufen umstandslos von Kant her gelesen werden kann, aber durchaus, dass die spezifisch personale Spontaneität Kantisches Gepräge trägt, auch wenn dies nur vage und silouettenhaft sichtbar wird. Vernunft realisiert die Potentiale der geistigen Konstitution entwickelter Personalität sowohl individuell als auch im Sinne der überindividuellen Teilhabe an der Vernunft als solcher, die anthropologisch fundiert ist, aber als eine solche μέθεξις über eine direkte Realisierung eines anthropologischen Strukturpotentials hinausreicht. Die Freiheit hat einen doppelten anthropologischen Boden: die exzentrische Positionalität und die Vernunft: „Die Fähigkeit zur Selbstordnung im Wege planender Steuerung heißt Vernunft, die man mit gutem Recht als ein Monopol des Menschen ansieht.“ (PAP: 193) Sie ist, was im technisch anmutenden Ausdruck der planenden Steuerung nicht adäquat artikuliert wird, nötig, um die Geschichtlichkeit praktisch annehmen und realisieren zu können: in der Freiheit der personalen Lebensführung wie in der vernünftigen Sicherung ihrer Grundlagen gegenüber die Geschichte annektieren wollenden theoretischen Bestimmungen. Darin trifft Plessner sich im Grundsätzlichen mit Sonnemann, so sehr beide im Einzelnen quer zueinander stehen,
Von der Vernunft als einem Vermögen individueller Personen sagt Plessner: „Von der Vernunft können nur wenige Gebrauch machen, aber seinem Herzen will doch ein jeder, auch der einfachste Mann, folgen.“ (PGS 5: 12) Dieser Satz widerspricht Plessners Anthropologie nicht im geringsten, weil er gar nicht auf der Ebene der Anthropologie liegt, die weder ausschließlich dem numerisch Universellen, noch primär dem Häufigen, sondern wesentlichen Möglichkeiten verpflichtet ist. Die Vernunft als wesentliche Möglichkeit des Menschen als Mensch wird von der empirischen Vernunftlosigkeit der Masse nicht berührt.
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aber nicht mit Gehlen. Doch Plessners Negative Anthropologie ist eine von innerhalb einer Negativen Ontologie des Organischen positiv aufweisbaren Ermöglichungsbedingungen; die Leistung einer Vernunft, vermöge deren Personalität der Bedingungen der Möglichkeit ihrer Freiheit und Würde inne wird, schließt bei Plessner ein Denken ab, das sich nicht mehr auf den Namen der Philosophischen Anthropologie reduzieren lässt, dieselbe aber unumstößlich voraussetzt. Die praktische Vernunft ist kein Vermögen, das die Philosophische Anthropologie immanent vollenden würde – diese Lesart schießt über das, was Plessner uns an die Hand gibt, hinaus –, aber doch immerhin im Sinne der oben zitierten Formulierung aus den Grenzen der Gemeinschaft ein Medium, in dem Personalität ihrer Freiheit Würde zu verleihen vermag mit rückwirkenden Effekten auf die Gestalt und Kraft der Freiheit der Person selbst.
4 Adorno: Negative Anthropologie zwischen Marxismus, Psychoanalyse und negativer Dialektik Die Philosophische Anthropologie Plessners und die Philosophie Adornos, die hier nicht auf das Konzept der negativen Dialektik reduziert werden soll, scheinen vordergründig miteinander gänzlich inkompatibel zu sein. Die Sachlage stellt sich jedoch vor allem solange so dar, wie man Adornos Veto gegen eine jegliche Anthropologie einseitig gegenüber der in der Dialektik der Aufklärung noch als einzulösendes Desiderat in Aussicht gestellten „dialektische[n] Anthropologie“ (AGS 3: 17) privilegiert und die Bedeutung der Psychoanalyse in Adornos gesamtem Denken grundlegend unterschätzt. Um das Desiderat einer dialektischen Anthropologie in Treue zur Konzeption der negativen Dialektik produktiv aufzunehmen, ohne sich dem apodiktischen Anthropologie-Verdikt Adornos blind anzuschließen, ist es nötig, einerseits Adornos soziologische Adaptation der Psychoanalyse genauer in den Blick zu nehmen und sie andererseits mit Adornos Analyse der Subjekt-Objekt-Dialektik als Erbe des deutschen Idealismus systematisch zusammenzuführen. Darum geht es im folgenden Teil.
4.1 Kritik von Adornos Anthropologie-Kritik „Daß nicht sich sagen läßt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie sondern ein Veto gegen jegliche.“ (AGS 6: 130) Nur allzu oft und gerne wird dieses Veto Adornos zitiert, doch dessen logische Unzulänglichkeit wird weniger gerne thematisiert. Adornos Veto ist de facto eine Prohibition, gerade auch einer ‚negativen‘ Anthropologie, die aber nur Sinn ergibt unter der Voraussetzung, dass alle Möglichkeiten philosophisch-anthropologischen Philosophierens erstens empirisch bereits erschöpft sind, zweitens Adorno vorliegen und drittens zutreffend und sachkundig von ihm beurteilt worden sind. Ohne Prüfung der philosophischen Gründe, die sich für dieses apodiktische Veto geltend machen lassen, bleibt es dem Verdacht eines fragwürdigen präskriptiven Apriorismus des Rechthabens ausgesetzt. Der erste Einwand ist besonders triftig, weil Adorno mit seinem Veto „gegen jegliche“ Anthropologie, das nicht jede bisherige, sondern jede mögliche Anthropologie meint, weil sich nicht sagen lasse, was der Mensch sei, einen illegitimen Induktionsschluss vollzieht. Damit betätigt sich gerade der größte Repräsentant immanenter Kritik als Prophet, der jegliche Anthropologie und damit den ganzen Möglichkeitsraum philosophischer Anthropologien kategorisch mit einem Veto abkanzelt, das erst in der elaborierten Auseinandersetzung mit faktisch existierenden Anthropologien jeweils zu gewinnen und dann zu validieren wäre. Adornos Induktivismus schwebt freilich nicht im luftleeren Raum, sondern wurzelt in der Prägung von Adornos anthropologischem Vorhttps://doi.org/10.1515/9783110773682-005
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verständnis, für das Max Scheler Modell gestanden hat. Noch in der Negativen Dialektik vollzieht Adorno in seiner Heidegger-Kritik eine reductio ad Scheler: „Die Rudimente materialer Ontologie bei Heidegger sind zeitlich; Gewordenes und Vergängliches wie zuvor bei Scheler.“ (AGS 6: 114) Der Rückgang auf Adornos Scheler-Kritik und, weil Adorno wenig Material im Einzelnen präsentiert, auf Scheler selbst, hätte deshalb auch am Anfang einer jeden Rekonstruktion von Adornos Heidegger-Kritik zu stehen. Scheler war bereits Anlass und Gegenstand von Max Horkheimers Aufsatz Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935; Horkheimer 1988), denn Plessners Stufen waren Horkheimer nicht bekannt und Gehlens Der Mensch noch nicht geschrieben; auf Heidegger, der sich im Kreise des Instituts für Sozialforschung für eine anthropologische Lektüre angeboten hätte,¹⁷⁸ geht Horkheimer nicht ein. Scheler galten auch kritische Überlegungen in Adornos Frühwerk, vor allem in Die Idee der Naturgeschichte (1932), wo Adorno dessen anti-subjektivistischen Werteapriorismus kritisiert. Scheler habe sich der „Zweiheit von Natur und Geschichte“ (AGS 1: 349) zu entwinden versucht, indem er als Wert an sich ins Sein projiziert habe, was „aus einer andern Sachsphäre“ (ebd.: 348) stamme, nämlich „von Seiendem hergenommen“. (Ebd.) Die Geschichte wird dann von der Geschichtslosigkeit her in Beschlag genommen, die innerhalb ersterer aus der Verdinglichung von konkretem Seiendem und dessen epistemischen Intentionen in Gestalt einer „ontologischen Umwendung“ erwächst: „Wenn diese Umwendung der Frage nach dem Sein geschehen ist, verschwindet die eine Ausgangsintention der ursprünglichen ontologischen Umwendung, nämlich die einer Wendung in Geschichtslosigkeit.“ (Ebd.) Damit ist Adornos spätere Ontologie-Kritik bereits vorgezeichnet: Ontologisierung und Verdinglichung sind zwei Varianten des Überspringens zu leistender Vermittlung, und alle Ontologie resultiert aus Ontologisierungen, die zugleich die Geschichte um sich selbst bringende Verdinglichungen sind. In einer Ontologisierung wird die Vermittlung zwischen Seiendem und Sein von selbstbezüglichem Seiendem geschluckt, das die Geschichte in der entleerten Gestalt der Geschichtlichkeit in dieser Selbstbezüglichkeit aufgehen lässt: „[D]as Seiende wird sich selbst zum Sinn, und anstelle einer geschichtsjenseitigen Begründung des Seins tritt der Entwurf des Seins als Geschichtlichkeit. Damit ist die Problemlage verschoben. Zunächst verschwindet scheinbar die Problematik zwischen Ontologie und Historismus.“ (Ebd.: 349) Ihr Verschwinden ist ihr Unsichtbarwerden, das sich daraus ergibt, dass bei Scheler „materiale Ontologie […] als willkürliche Verabsolutierung innergeschichtlicher Tatsachen, die vielleicht sogar zu ideologischen Zwecken den Rang ewiger und allgemeingültiger Werte erhalten sollten“ (ebd.), eine weitreichende definitorische Machtfülle erhält, jedoch diese dem subjektiven und als solcher nicht thematisch werdenden Akt der „Verabsolutierung“ verdankt. Nicht nur die Scheler’sche Wertphilosophie schöpft aus dieser scheinhaften
Bei Adorno findet sich diese Lesart und Konfundierung von Heidegger mit Scheler und Gehlen explizit, vgl. NL 4/2: 268.
4.1 Kritik von Adornos Anthropologie-Kritik
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Definitionsmacht, sondern die materiale Ontologie reicht direkt in die Theorie der Personalität hinein, anders gesagt: Die substantielle Einheit der Person und die Substanz von Personalität, die Scheler gegen den ethischen Formalismus Kants in Anschlag bringt, verdankt sich einer ontologischen Reifikation. Damit ist am Modell Schelers nicht nur Adornos Kritik der über die Geschichte in sie verdünnender und einverleibender Weise sich erhebenden Ontologie in ihren Grundzügen vorentworfen, sondern auch sein Veto gegen eine jegliche Anthropologie, das von der Fehleinschätzung herrührt, dass eine Anthropologie nichts anderes tun könne, als Schelers ontologische „Ursünde“ zu wiederholen.¹⁷⁹ Das lässt sich an den Einzelheiten von Adornos Kritik der Geschichtlichkeit zeigen, die nicht philologisch, sondern typologisch entfaltet wird, deren Hintergrund ebenfalls Scheler, aber auch (und bereits) Heidegger bildet, weil der Text aus dem Jahr 1932 stammt, also vier Jahre nach dem Tod Schelers und zur Zeit von Heideggers größter Strahlkraft entstanden ist. In Schelers Formalismus-Buch sind die sittlichen Werte nicht selber geschichtlicher Natur, sondern ihre Realisierung ist geschichtlicher Natur: So wenig also die sittlichen Werte aus der positiven Geschichte und ihren Güterwelten abstrahiert werden können, so ist doch die ‚Geschichtlichkeit‘ ihrer Erfassung (und der Erkenntnis ihrer Rangordnung und Vorzugsgesetze) ihnen selbst ebenso wesentlich wie die Geschichtlichkeit ihrer Realisierung oder ihre Realisierung an einer möglichen ‚Geschichte‘. (GW 2: 485)
Wären die sittlichen Werte selbst und nicht nur ihre Erfassung geschichtlicher Natur, so wären sie subjektiver Natur, d. h. kontingenter Entwurf des jeweils zufällig geschichtlich Auftretenden und dessen Belieben anheimgestellt. Dann wären sie auch in der Generationenfolge jeweils nur ein bar jeder objektiven Verbindlichkeit tradiertes Angebot und ihre „Realisierung“ die gelebte und jederzeit widerrufbare Annahme dieses Angebots, die eine Entscheidung markiert, aber keine Tatsachenerkenntnis. Scheler zufolge sind jedoch Werte generell „Tatsachen, zugehörig zu einer bestimmten Erfahrungsart“ (ebd.: 195), und die Generationen erkennen dieselben, indem sie geschichtliche Verkörperungen von Erfahrungsarten sind, in denen die Erkenntnis tatsächlicher Werte gelebt wird. Die Generationenfolge bildet geschichtlich etwas Übergeschichtliches ab, nämlich die „Wesensfolge der sittlichen Werte“: Nicht also nur die Fülle und Mannigfaltigkeit der sittlichen Werte von Individuen, Völkern und Nationen, sondern auch die […] Mannigfaltigkeit und Fülle der historisch wechselnden Moralen und Kultursysteme ist daher eine Wesensfolge der sittlichen Wesenswerte und der ihnen entsprechenden Aufgaben. (Ebd.)
Auch die Entstehung des ontologischen Bedürfnisses, das Adorno in der Negativen Dialektik ausführlich kritisiert, führt er dezidiert auf Scheler und dessen Formalismus-Buch zurück, vgl. NL 4/7: 146.
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4 Adorno: Negative Anthropologie
Die Objektivität der Werte verbündet sich hier bereits mit einer Kulturmorphologie sittlicher Werte, die sich geschichtlich entfaltet, das Prinzip ihrer geschichtlichen Entfaltung allerdings den Werten verdankt, die wiederum von Personen erkannt und realisiert werden, auf deren Gesinnung es ankommt.¹⁸⁰ Die Gesinnung liegt Scheler zufolge „sicher eine Stufe tiefer als die Absicht“. (Ebd.: 128) Kants und Schopenhauers Unterscheidung zwischen empirischen und intelligiblem Charakter kehrt bei Scheler wieder in der Unterscheidung zwischen der Absicht als dem Reich der empirischen Motive und der Gesinnung als dem Komplement des intelligiblen Charakters. Zwar ist die Gesinnung nicht grundsätzlich invariant und durchaus variierungsfähig, aber sie variiert „primär und unabhängig von allen Absichtsbildungen“ (ebd.: 132) und bildet das praktische Apriori derselben insofern, als „in ihr eine Richtung auf bestimmte positive oder negative Werte bereits klar gegeben ist“. (Ebd.: 128) Gesinnung und Werte liegen einerseits auf ein- und derselben Ebene und werden klar von Absichten und Zwecken andererseits unterschieden, denn „Werte sind nicht von Zwecken abhängig oder von Zwecken abstrahiert“. (Ebd.: 61) Doch weder die Gesinnung noch die Werte noch beide im Miteinander können bereits das Fundament einer materialen Wertethik geben. Die Vereinigungsinstanz von Gesinnung und Werten bildet die Person, die „im Grunde gar nichts anderes sei als das jeweilige logische Subjekt einer vernünftigen, d. h. jenen idealen Gesetzen folgenden Aktbetätigung“. (Ebd.: 370) Mit dieser Bestimmung wird zunächst nur gesagt, dass die Person das nicht eskamotierbare Zurechnungssubjekt sittlicher Akte sei, doch Scheler bestimmt sie dezidiert auch als nicht bloß logisches Subjekt, als die Instanz materialer Erfüllung und der Gewährung einer faktischen Sinneinheit, die „dem Ich gegenüber etwas von einer Totalität hat, die sich selbst genügt“ (ebd.: 389): Jede Welt aber ist gleichzeitig eine konkrete Welt nur und nur als die Welt einer Person. Welche Gegenstandsbereiche wie immer scheiden mögen, Gegenstände der Innenwelt, der Außenwelt, Leiblichkeit […], die Bereiche der idealen Gegenstände, die Bereiche der Werte, so haben sie doch alle nur eine abstrakte Gegenständlichkeit. (Ebd.: 392)
Die Werte sind nicht nur ideale Gegenstände, sondern als solche Tatsachen, die allerdings von der Realität als nicht nur logischem Subjekt, sondern als Instanziierungssubjekt die Person als „die konkrete, selbst wesenhafte Seinseinheit von Akten verschiedenartigen Wesens“ (ebd.: 382) betreffen. Doch Person und Welt bilden keine Dyade derart, dass die Welt das schöpferische Produkt der Person wäre. Für das Verständnis von Schelers Philosophie ist entscheidend, das Verhältnis von Person und Welt als triadisches aufzufassen, denn das weltliche Sosein der Person als solcher ist von der „absolut objektiven Rangordnung der Werte“ (ebd.: 113) her zu verstehen, die
Für Personen dieser Art, d. h. für endliche Personen als Realisierungsinstanzen sittlicher Werte gilt, dass sie zugleich „Einzelperson und Glied einer Gesamtperson“ (ebd.: 522) sind, weshalb die angesprochene Kulturmorphologie ihre Instanziierung durch eine Gesamtperson anderer Art erfährt.
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„nur durch geistige Akte erfaßbar [ist], die nicht selbst wieder vital bedingt sind“ (ebd.), mehr noch: Alle möglichen Werte aber sind ‚fundiert‘ auf den Wert eines unendlichen persönlichen Geistes und der vor ihm stehenden ‚Welt der Werte‘. Die Werte erfassenden Akte sind selbst nur die absolut objektiven Werte erfassend, sofern sie ‚in ihm vollzogen werden, und die Werde nur absolute Werte, sofern sie in diesem Reiche erscheinen. (Ebd.)
Von dieser notwendig knapp bleiben müssenden Skizze Schelers her lässt Adornos Kritik sich genauer verstehen. Die Geschichtlichkeit ist bei Scheler nicht konzipiert als das reflexiv konstitutive Eintreten-der-Person-in-die-Geschichte, in dem die Werte sich herausbilden und ihre Gestalt erhalten, sondern Geschichtlichkeit benennt die Geschichte einerseits nur noch als „kontingente“ empirische Tatsächlichkeit und andererseits kategorisch als transzendentale Voraussetzung der Realisierung der Werte durch Personen und Gesamtpersonen, die zugleich Wertesysteme verkörpern. In der Geschichte lässt sich dann in realisierter Variante finden, was sich im Bereich der Idealität schon hat (oder hätte) finden lassen, und die historische Kontingenz muss durch die prinzipielle Variierungsfähigkeit von Gesinnungen wieder eingefangen werden; prinzipiell sind aber nur aprioristisch fundierte Abbildungen von idealen und geschichtlichen Tatsachen aufeinander möglich. Für Adorno zeigt sich daran gerade Schelers Scheitern an der historischen Kontingenz: „Das Problem der historischen Kontingenz ist von der Kategorie der Geschichtlichkeit her nicht zu meistern.“ (AGS 1: 350) Was Adorno Schelers materiale Ontologie nennt, ist im Wesentlichen die jegliche subjektkonstitutive Funktion von Vermittlungen leugnende und damit das „radikal geschichtliche Denken“ (AGS 1: 349) fliehende Hypostasierung des Subjekts in einem salto mortale der „eigentliche[n] Ausgangsintention dieser ontologischen Fragestellung“ (ebd.: 346) Schelers. Was Scheler Person nennt, bezeichnet in Adornos Kritik keine distinkte Entität, sondern eine Überhöhung des Subjekts – getarnt als „Überwindung des subjektivistischen Standpunkts“ (ebd.) –, deren Zweck darin besteht, das Subjekt der Subjekt-Objekt-Dialektik zu überheben. In der Vorlesung Ontologie und Dialektik hat Adorno einen entscheidenden Hinweis zur genealogischen Bedeutung dieses Überspringens der Subjekt-Objekt-Dialektik gegeben: Scheler habe „den Begriff eines Ansichseins auch inhaltlicher geistiger Momente als erster eingeführt […], der dann schließlich in dem Seinsbegriff terminierte“. (NL 4/7: 53) Adorno springt hier selber von Scheler zu Heidegger, was insofern zweifelhaft ist, als die Überhöhung geistiger Momente zu einem Ansichsein bei Scheler gerade über den Personbegriff läuft, den Heidegger aufgegeben hat, und eine ontologische Hypostasierung von Werten bedeutet, die in Sein und Zeit radikal kritisiert wird. Die Scheler-Kritik selbst trifft sich allerdings mit der obigen Skizze von Schelers Personbegriff und lässt sich durch den Hinweis weiter erhärten, dass Scheler die Person (als wesenhafte und ideale Akteinheit) als die wesensnotwendige Existenzform des Geistes bezeichnet: „Viel-
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mehr ist Person die wesensnotwendige und einzige Existenzform des Geistes, sofern es sich um konkreten Geist handelt.“ (GW 2: 389) Nach Adorno scheitert Schelers „Versuch der Gewinnung einer Seinsordnung als Erfahrung“ (AGS 1: 348) daran, daß die als gründend und sinnhaft anerkannten Faktoren, wie etwa bei Scheler, aus einer andern Sachsphäre bereits stammen, gar nicht selbst Möglichkeiten in dem Sein sind, sondern von Seiendem hergenommen sind und damit der Fragwürdigkeit des Seienden inhärieren. (Ebd.)
Dadurch, so Adorno, „wird die ganze Frage nach Sein problematisch innerhalb der Phänomenologie“ (ebd.). Adorno führt dies nicht weiter aus, aber da er von einer „Seinsordnung als Erfahrung“ als Desiderat spricht, bietet es sich an, im Erfahrungsbegriff auch die Probleme von Schelers methodischem Vorgehen zu suchen, denn Scheler formuliert im Formalismus-Buch den Grundsatz: „Jede Art von Erkenntnis wurzelt in Erfahrung“ (GW 2: 173), differenziert aber anschließend zwischen etlichen Erfahrungsarten (induktive, natürliche, immanente etc.). Die für Scheler verbindliche Erfahrungsweise ist die phänomenologische: „In einer demnächst erscheinenden größeren Arbeit will ich versuchen, eine materiale Wertethik auf der breitesten Basis phänomenologischer Erfahrung zu entwickeln.“ (Ebd.: 29) Der phänomenologischen Erfahrung allein erschließen sich Gegenstände nicht als Symbole oder Abbilder von unzugänglichen Urbildern, sondern als sie selbst: „Die phänomenologische Erfahrung aber ist diejenige, in der die jeweilige Gesamtheit dieser Zeichen, Anweisungen, Bestimmungsarten ihre letzte Erfüllung findet. Sie allein gibt das Rot ‚selbst‘.“ (Ebd.: 70) In ihr – nicht: für sie, denn damit würde die Subjekt-ObjektSpaltung bereits vollzogen, die gerade die natürliche Erfahrung kennzeichnet – gibt es „keine Trennung mehr von ‚Vermeintem‘ und ‚Gegebenem‘“ (ebd.); es handelt sich also um eine Erfahrung, „in der nichts gemeint wird, was nicht gegeben wäre, und nichts gegeben ist außer dem Gemeinten. In der Deckung von ‚Gemeintem‘ und ‚Gegebenem‘ wird uns der Gehalt der phänomenologischen Erfahrung allein kund.“ (Ebd.) Doch gerade diese Deckung ist problematisch, weil ein unter der Hand ideativer Erfahrungsmodus und das in diesem Modus Erfahrene verschmolzen werden, wodurch die in der phänomenologischen Erfahrung gegebene Seinsordnung zur als Erfahrung gegebenen Seinsordnung wird. Damit verdoppelt sich die Erfahrung: sie ist das Medium, in dem die Seinsordnung in phänomenologischer Weise auftritt, und zugleich die ideative Erfahrung dieser in ihrem Ansichsein sich zeigenden Seinsordnung. Die Erfahrung übersteigt sich bei Scheler selbst hin zum späteren Geistbegriff in Die Stellung des Menschen im Kosmos, anders kann sie nicht eine „Seinsordnung als Erfahrung“ geben. Doch genau eine solche Erfahrung ist für Adorno aporetisch, sie bleibt auf halbem Wege stehen, indem sie die Vermittlungslogik des geschichtlichen Denkens ontologisierend überspringt. Solche Erfahrung ist für Adorno gerade die Verstellung von Erfahrung durch partikulare Erfahrung ontologisierende Setzungen; das Meiden der dialektischen Vermittlung nennt Adorno noch im Husserl-Buch, wo er Scheler en passant und eher zwischen den Zeilen kritisiert, den Hass gegen Vermitt-
4.1 Kritik von Adornos Anthropologie-Kritik
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lung: „Im Haß gegen die Vermittlung muß ihr Seinsbegriff noch das Seiende ontologisieren.“ (AGS 5: 43) Für Scheler gilt aufgrund von Adornos oben angeführten Ausführungen zum Ansichsein schon, was Adorno in Bezug auf Heidegger einwendet, nämlich dass die „am Dasein beobachteten Seinsqualitäten dadurch, daß sie vom Seienden weggenommen, transponiert werden in das Bereich der Ontologie und zur ontologischen Bestimmung werden“. (Ebd.: 351) Dieses Seiende, von dem sie weggenommen werden, und das die Anthropologie bei Scheler und nur bei Scheler – nicht bei Husserl und Heidegger, die Adorno ebenfalls ausführlich kritisiert – mit der Ontologie verklammert, ist nicht ausschließlich, aber auch und wesentlich die Person als Organ, Instanziierungssubjekt, Zurechnungssubjekt und geistige Akteinheit der Erfahrung. Aber gerade darin zeigt sich ein weiteres Problem von Adornos generalisierter Anthropologie-Kritik. An Schelers Ansatz, den er eher beiläufig als im eigentlichen Sinne immanent kritisiert hat, hat Adorno sein Verständnis von philosophischer Anthropologie ausgebildet, um von diesem spezifischen Verständnis her „jegliche Anthropologie“ (AGS 6: 134) zu verwerfen. Was man unter den „anthropologischen Ontologien von heutzutage, sie mögen von Scheler, Heidegger oder Gehlen sein“ (NL 4/2: 268), sich im Einzelnen vorstellen soll oder worin eine „anthropologische Ontologie“ von einer philosophischen Anthropologie sich unterscheide, sagt Adorno dem Leser nicht. Nachvollziehbar ist Adornos Kritik der Geschichtlichkeit, so wie er sie von Scheler her kennt. Prinzipiell nachvollziehbar sind, systematisch von Adorno her gedacht, seine Bedenken gegenüber Schelers Transformation der Phänomenologie und des Erfahrungsbegriffs in dessen Formalismus-Buch. Nicht nachvollziehbar ist jenseits der sachlich unbegründeten, nicht anders als prophetisch und insofern gerade nicht begründbaren Illegitimitätsdiagnose, die Adornos Veto indirekt zugrunde liegt, dass er Schelers Personbegriff nicht einmal analytisch zu bewältigen versucht hat und nicht gesehen hat, dass Schelers Person nicht mit Heideggers Dasein oder Gehlens Mensch gleichzusetzen ist. Dabei fällt auch auf, dass Adorno nicht darauf gekommen ist, sich die Frage zu stellen, ob Scheler nicht im Personbegriff auch legitimerweise etwas gesehen hat, was sich im Subjektbegriff und der Subjekt-Objekt-Dialektik nicht erfassen lässt – jedenfalls nicht, solange man nicht davon ausgeht, dass der Personbegriff sich auf den Subjektbegriff reduzieren lässt. Selbst da, wo Adorno auf Die Stellung des Menschen im Kosmos anspielt, gerät der Personbegriff nicht in den Blick, da dort nur noch eine zugleich abgemagerte und aufgeblähte „Metaphysik des Dranges übrig“ (AGS 1: 329) geblieben sei. Im weiteren Verlauf der Überlegungen zu Adorno wird sich seine widerspenstige Haltung zum Personbegriff auch als limitierender Faktor in der Entfaltung der anthropologischen Motive seines Denkens erweisen. Doch zunächst ist zu zeigen, worin diese Gehalte überhaupt bestehen. Dafür ist zunächst Adornos Adaptation der Psychoanalyse und die Verquickung derselben mit der aus der klassisch neuzeitlichen, aber in Adornos Fall speziell aus deutschen Philosophie im Besonderen übernommenen Subjekt-Objekt-Relation zu elaborieren.
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4.2 Zwischen Psychoanalyse und Deutschem Idealismus: Die positiven Grundlagen einer negativen Anthropologie bei Adorno Wie auf die Philosophie Plessners so kann auch auf die Adornos nicht zugegriffen werden wie auf ein als solches greifbares Ganzes. Anders als im Falle Plessners entwickelt Adorno seine Philosophie nicht methodisch kleinschrittig, sondern bringt Grundmotive konstellativ in eine Bewegung, innerhalb welcher andere Motive spontan und teils systematisch, teils unsystematisch aufgegriffen werden. Erkennt man an, dass Adorno sich einer solchen Darstellungs- und Entwicklungsweise seiner Gedanken befleißigt, so sieht man sich schnell vor eine Aporie und eine Tugend gestellt, die zwei Seiten einer Medaille darstellen: Die berühmte Unreferierbarkeit ernstzunehmender Philosophie (vgl. AGS 6: 44) ist nicht nur eine grundsätzliche, sondern wird im Fall Adornos durch die Physiognomie seines auch noch in der Negativen Dialektik ¹⁸¹ essayistischen Denkens potenziert. Im Folgenden soll Adornos Philosophie dennoch stufenweise rekonstruiert werden, d. h. ein Verständnis ihrer im Ganzen bestimmt die Stufenfolge und die einzelnen Schritte, ohne dass dieses Verständnis in seiner Entwicklung bereits artikulierbar wäre. Insofern wird hier, unbekümmert um Suggestionen, die indirekte Verbote darstellen oder zumindest als solche verstanden werden können, mit Adorno analytisch im Blick auf den systematisch-konzeptionellen Aufbau seiner philosophischen Gedankenbewegung verfahren. Durch dieses Vorgehen werden theoretische Probleme in den Blick geraten, die nicht durch Changieren zwischen verschiedenen Sprachspielen kaschiert oder trotz systematischer Inkohärenzen bagatellisiert werden können, indem sie als scholastische Einwände, die auf einem trivialen Begriff von Widersprüchlichkeit basierten, abgetan werden.
4.3 Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse 4.3.1 Die Fundamentalität der Subjekt-Objekt-Relation als Subjekt-Objekt-Dialektik Der Begriff der Adaptation wirft die Frage nach dem Woher derselben auf. Adornos Denkweg startet nicht mit der Psychoanalyse, um von dort aus auf die Pfade der Philosophie geraten, sondern Adorno adaptiert die Psychoanalyse philosophisch, d. h. von einer Philosophie und deren Voraussetzungen her sowie innerhalb eines philosophischen Rahmens. Gemäß Adornos systematischer Systemverweigerung findet diese Adaptation nicht in Form einer Integration ein philosophisches System statt, was außerdem den guten Grund für sich hat, dass die psychoanalytische und die
Anders gesagt: Die Negative Dialektik ähnelt den Minima Moralia in Darstellung und Gedankenentwicklung deutlich stärker als Hegels Wissenschaft der Logik.
4.3 Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse
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philosophische Terminologie, deren Adorno sich bedient, samt ihrer ihnen zugrundeliegenden theoretischen Bestände nicht bruchlos aufeinander abbildbar sind. Als Ansatzpunkt fungiert hier die Subjekt-Objekt-Dialektik, weil diese von Adorno durchgehend als fundamentaler Bezugsrahmen beibehalten worden ist, in den auch die Psychoanalyse von ihm integriert wird. In seiner Vorlesung Erkenntnistheorie sagt Adorno, „daß eigentlich der Gegenstand der Erkenntnistheorie überhaupt das Problem von Subjekt und Objekt sei“.¹⁸² (NL 4/1: 194) Das Problem von Subjekt und Objekt behandelt Adorno nicht systematisch als das der Subjekt-Objekt-Relation, in der Subjekt und Objekt einander gegenüberstehen, sondern als Subjekt-Objekt-Dialektik, innerhalb derer die „beiden Momente Subjekt und Objekt“ (ebd.: 195) in eine dialektische Dynamik eingelassen sind, die ein entitäres Verständnis beider und ihres Verhältnisses zueinander verbietet. In der entitären Auffassung gerät die Subjekt-Objekt-Relation unweigerlich zu dem Grundproblem der vor-Hegelschen Metaphysik¹⁸³ und ist für diese „das metaphysische Problem schlechterdings“. (Ebd.: 194) In der dialektischen Auffassung von Subjekt und Objekt als von Momenten hingegen verlieren diese ihren erratischen und monolithischen Charakter; über keines von beiden lässt sich reden, ohne über das jeweils andere zu reden, weil jedes Sein¹⁸⁴ als solches ein Über-sich-hinaus-Sein ist, ein Seindurch-Anderes und ein In-Anderes-hinein, nicht im Sinne der Transzendenz oder des bloßen Mangels an Selbstgenügsamkeit, sondern im strikt konstitutiven Sinne. Darüber, wie wichtig der konstitutive Sinn der Subjekt-Objekt-Relation für Adorno ist, gibt nicht nur die Negative Dialektik Aufschluss, sondern auch die Tatsache, dass Adorno überdies einen Essay mit dem Titel Zu Subjekt und Objekt verfasst hat. Adorno geht davon aus, dass „jener Vorrang des Subjekts, den die übliche Erkenntnistheorie beinhaltet, eigentlich gar nicht mehr einzusehen“ (NL 4/1: 204) sei, weil „alle Bestimmungen des Subjekts vom Objekt her zu vollziehen“ (ebd.) seien. Die Verbindlichkeit des Objekts gründet nicht in dessen höherer Dignität, sondern darin, dass das Subjekt in der Selbstreflexion auch im drastischsten Versuch, alles Objektive aus der Reflexion oder Erkenntnis auszuscheiden, immer noch zuletzt seiner selbst als eines selber Objekthaften innewerden muss. Mit Descartes stimmt Adorno noch überein,
Für Herbert Schnädelbach, einst Doktorand bei Adorno, ist das Subjekt-Objekt-Problem „der erkenntnistheoretische Gemeinplatz schlechthin – sogar noch bei Adorno“. (Schnädelbach 2004: 210) Albrecht Wellmer hat sich in der Frage, ob Adornos Festhalten an der Subjekt-Objekt-Relation gute Gründe haben könnte, wesentlich vorsichtiger gezeigt, genau genommen hat er aber die Frage immerhin gelten lassen. Vgl. Wellmer 1985: 34. Es handelt sich Adorno zufolge um das Problem, dass die Metaphysik „ihre ganze Geschichte hindurch begleitet hat und das sie etwa auch in der Kantischen Kritik an der Metaphysik, wie sie ihm vor Augen stand, nämlich in der Gestalt der Leibnizisch-Wolffischen Schule, betroffen hat: daß nämlich Denken, das in seiner Bedingtheit nur ausreichen soll, auch Bedingtes zu erkennen, sich aufwirft zum Organ oder gar zu dem Ursprung von Unbedingtem“. (NL 4/14: 18) Hier zeigt sich eine prinzipielle und doch vage Parallele zu Plessner, der den Organismus zwar nicht als gegen das Medium strikt abgeschlossenen Klotz auffasst, aber auch nicht als flüssiges Moment einer ihn umgreifenden Dialektik.
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wenn er sagt: „Einzig durch Subjektivität hindurch ist der Vorrang des Objekts zu erreichen“ (NL 4/7: 335 f.), doch er erweitert das Cartesische Szenario, in dem das Subjekt der Meditationen sich als Subjekt nicht wegmeditieren kann, darum, dass das Subjekt in derselben sich als Subjekt zuletzt noch als Etwas und damit, wenn nicht als „manifestes“ Objekt, so doch als irreduzibel Objekthaftes denken muss: „Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein.“ (AGS 6: 184) Dabei bezieht Adorno sich explizit und kontrapunktisch auf die idealistische Konstitutionstheorie des Subjekts: Es [das Subjekt, S. E.] ist selber Objekt insofern, als das ‚gibt‘, das die idealistische Konstitutionslehre impliziert – es muß Subjekt geben, damit es irgend etwas konstituieren kann –, seinerseits der Sphäre von Faktizität entlehnt ward. Der Begriff dessen, was es gibt, meint nichts anderes als der des Daseienden, und als Daseiendes fällt Subjekt vorweg unter Objekt. (AGS 10/2: 754)
In dieser Umwertung Hegels – „Das Hegelsche Subjekt-Objekt ist Subjekt“ (AGS 6: 261) heißt es in den Drei Studien zu Hegel – kommt es zur unfreiwilligen Koinzidenz der Idealismus-Kritik mit dem, was bei Husserl „formale Ontologie“ heißt. Das Subjekt, das als solches kategorial „vorweg unter Objekt“ (AGS 10/2: 754) fällt, nimmt die Qualität der abstraktesten Bestimmung von Objektivität Husserls formaler Ontologie an, die des „Etwas überhaupt“. Husserl zufolge soll „in der formalisierenden Verallgemeinerung […] jedes Individuum zum Etwas überhaupt entleert werden“ (Husserl 1992: 220), zudem wendet Husserl gegen Aristoteles ein: „Ihm fehlte die formale Ontologie und somit auch die Erkenntnis, daß sie an sich der realen vorangehe.“ (Ebd.: 84) Doch gerade weder um eine Entleerung noch um eine Grundlegung geht es Adorno, der den Vorrang des Objekts allerdings nicht von seinem formalen konstitutionslogischen Sinn komplett reinigen kann und es in der oben zitierten Passage auch nicht versucht. Adornos Intention ist allerdings eine eindeutig materiale, keine formale; der Vorrang des Objekts unterminiert nicht nur die Machtfülle des Subjekts, die Descartes zu erlangen versucht, indem er das Denknotwendige (ich denke, dass ich bin) mit dem Realnotwendigen (ich bin, weil ich nicht denken kann, nicht zu sein) koinzidieren lässt.¹⁸⁵ Adorno verfährt demgegenüber in der Tat sowohl materialistisch als auch noch analytischer als Descartes: Das Sein ist Moment der Realnotwendigkeit des das Sein wiederum darstellenden Denkens selbst, das Subjekt wird seiner selbst als Objekt und damit als Subjekt-Objekt inne, indem es sich selbst denkt. Bei Adorno gibt es keinen Sprung, der einen der Pole apodiktisch begründen würde, wie es bei Descartes der vom Erkenntnisgrund zum Seinsgrund tut; vielmehr geht es Adorno um ein Seiner-selbst-Innewerden des Subjekts als Subjekt-Objekt, das nicht die Form einer Begründung oder transzendentalen Konstitution annimmt, sondern die tran-
Schopenhauer nennt dies die Identifikation von Erkenntnisgrund und Seinsgrund, vgl. Schopenhauer 1988d: 22 f.
4.3 Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse
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szendentale Realität von Subjektivität, durch Objektivität vermittelt zu sein, kodifiziert. Aber Adorno kann den Vorrang des Objekts nicht sichern, ohne reflexive Formalisierung und fortschreitende Vermittlung ineinandergreifen zu lassen. Dass der Vorrang auch des als Moment verstandenen Objekts gerade nicht die uneinnehmbare Bastion gegen jegliche Ontologie darstellt, die so wenig wie jegliche Anthropologie satisfaktionsfähig sein darf, spürt Adorno, wo er sagt, auch die negative Dialektik „hat insofern ein ontologisches Moment, wie Ontologie dem Subjekt die bündig konstitutive Rolle aberkennt“. (NL 4/7: 335) Jedoch vergisst Adorno nicht, darauf hinzuweisen, „daß keine wie immer geartete Interpretation aus ihr [der Subjekt-Objekt-Polarität, S. E.] eine Ontologie herauszubuchstabieren vermöchte“. (AGS 6: 74) Wie im Falle des Vetos gegen eine jegliche Anthropologie gibt uns Adorno hier jedoch nicht mehr als eine bloße Versicherung an die Hand. Gegen die ironische Koinzidenz des Vorrangs des Objekts mit der Formalisierung des Subjekts, die eine Dialektik, die sich als materialistische versteht, ad absurdum führt, spricht, dass Adorno den Vorrang des Objekts sehr wohl auch im Sinne eines manifesten dialektischen Materialismus ausbuchstabiert – mit einem umgekehrten ironischen Kippen, nämlich in geradlinigen Marxismus. Der Vorrang des Objekts meint dann im Wesentlichen das, was Marx und Engels in der Deutschen Ideologie mit dem Bestimmtwerden des Bewusstseins durch das Leben meinen: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“ (MEW 3: 27) Auf den Vorrang des Subjekts, der nach Adorno „die übliche Erkenntnistheorie“ (NL 4/1: 218) kennzeichne, antwortet er mit einem Marxismus avant la lettre, ohne allerdings diesen erkenntnistheoretisch zu verdünnen, denn mit der Bezugnahme auf Marx vollzieht Adorno eine „Wendung ins Ontologische“, wie Schnädelbach (1983: 71) treffend feststellt. Die Wendung ins Ontologische ist nötig, um das Objekt adäquat in Stellung zu bringen gegenüber einem Subjekt, das Adorno auch gerne mittels einer Raubtiermetaphorik porträtiert: „Subjekt verschlingt Objekt, indem es vergißt, wie sehr es selber Objekt ist.“¹⁸⁶ So wenig das „wie sehr“ die Metaphorisierung auf den Boden strikter Logik zurückholt, so klar ist nötig, was Adorno rhetorisch tut: das Objekt der formalen Ontologie material so aufzuwerten, dass der Gefräßigkeit des Subjekts Einhalt geboten werden kann. Die nicht eskamotierbare Objekthaftigkeit noch des Subjekts selbst zum ontologischen Panzer gegen die Aufhebung in bloße oder – von ihrer ironischen Rückseite her gesehen – absolute Subjektivität zu machen, ist Adornos paradoxe Lösung des Problems. Die Lösung ist nicht dialektisch im Sinne der harmonistischen Vermittlung, sondern im Sinne der dialektischen Umschläge, die sich innerhalb von Adornos theoretischer Intentionalität gegen dieselbe gemäß ihrer eigenen ontologischen Intentionalität verselbständigen. Weil Adorno sich dem Harmonismus der artifiziellen
Dementsprechend ist in der Negativen Dialektik der nach dem System strebende Geist der „Geist gewordene Bauch“. (AGS 6: 34)
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Ausbalancierung der Momente Subjekt und Objekt ebenso wie dem „Subjekt-ObjektDualismus“ (NL 4/7: 334) Cartesischer Observanz verweigert, gewinnt die den Momenten inhärierende „Intention auf Nichtidentität“ (ebd.) – in der Theorie als „Nötigung zur Intention auf Nichtidentität“ (ebd.) sich geltend machend – eine explosive Potenz, die sich nicht durch Verfügungen stillstellen lässt. Die so unmögliche wie aporetische Stillstellung kennzeichnet gerade den Idealismus und dessen Hybris; darauf antwortet Adorno mit dem Vorrang des Objekts nicht im Namen der Umwertung der idealistischen Wertehierarchie, sondern in dem der Vermittlung: „Vorrang des Objekts bedeutet nicht dessen Priorität; sondern die fortschreitende qualitative Unterscheidung der Vermittlung in sich.“ (Ebd.: 334 f.) Vermittlung in sich heißt hier auch: Vermittlung durch einen konstitutiven Gegensatz hindurch, welche Vermittlung dadurch möglich ist, dass der Gegensatz als solcher zugleich konstitutives Moment ist und kein antagonistisches Gegenüber. Dem verdankt sich aber auch die Geschlossenheit des dialektischen Rahmens, der durch die Auffassung von Subjekt und Objekt als Momenten erlaubt, dialektische Umschlagsbewegungen gerade deshalb rigoros auszubuchstabieren, weil die Momente als solche nicht aus der Dialektik und deren Logik herausfallen, anders gesagt: weil Differenz als konstitutive qua Vermittlung auch eine eingehegte bleibt.¹⁸⁷
4.3.2 Von der Subjekt-Objekt-Dialektik zum Subjekt-Objekt und Naturbegriff: Empfindung, Leiden, Eingedenken, Versöhnung als Begriffsreihe der Überführung des Marx‘schen Naturbegriffs in Soziologie Christoph Ziermann weist darauf hin, dass der Ausdruck „Subjekt-Objekt“, der einen Leitfaden von Adornos Hegel-Interpretation bildet, bei Hegel selbst nicht in vergleichbarer Weise ein organisatorisches Zentrum seines Denkens bildet: „Der Ausdruck ‚Subjekt-Objekt‘ spielt bei Hegel jedoch keineswegs eine so zentrale Rolle, wie es der Hinweis Adornos zu verstehen gibt. In der ‚Wissenschaft der Logik‘ wird er überhaupt nur einmal und auch nur (unter Bezug auf Schelling) zitatweise angeführt.“ (Ziermann 2010: 357, Anmerkung 37) Damit ist noch längst nichts negativ über Adornos Hegel-Lesart ausgesagt; worum es hier geht, ist, was dies über Adornos eigene Philosophie verrät. Dies wiederum wird erst verständlich, wenn man Adornos Marx-Rezeption, vor allem der erst 1931 entdeckten und 1932 veröffentlichten Ökono-
Hieran setzen differenzphilosophische Kritiken an der Dialektik generell an. Den Prototypus der differenztheoretischen Dialektik-Kritik gibt Gilles Deleuze, von dem her sich der Einwand formulieren ließe, dass die Vermittlung das organisatorische Zentrum des dialektischen Kreises bilde, wie Deleuze ihn bestimmt: „Es gibt zwar einen dialektischen Kreis, aber dieser unendliche Kreis besitzt überall nur ein einziges Zentrum, das alle anderen Kreise, alle anderen momentanen Zentren in sich festhält. Die Reprisen oder Wiederholungen der Dialektik drücken nur die Konservierung des Ganzen, aller Gestalten und aller Momente, in einem gigantischen Gedächtnis aus. Die unendliche Repräsentation ist konservierendes Gedächtnis.“ (Deleuze 1992: 80)
4.3 Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse
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misch-philosophischen Manuskripte, in den Blick nimmt, die systematisch nicht weniger grundlegend ist als der Einfluss von Lukács auf Adorno,¹⁸⁸ da die dort von Marx formulierte nicht-naturalistische Naturalisierung des Subjekts gerade die Integration von Begriffen wie denen der Empfindung, des Leidens und des Eingedenkens der Natur im Subjekt ermöglicht, die Adorno anstreben wird, ohne wie Lukács den Vorrang des Subjekts messianisch zu reproduzieren, indem dieser das Proletariat zum Subjekt der Befreiung von der falschen (kapitalistischen) und zur wahren (menschlich-freien) Geschichte macht. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte bestimmen Adornos Auffassung des Subjekt-Objekts grundlegend, ihre Rezeption fundiert sowohl Adornos materialistische Fassung des Vorrang des Objekts als auch, vermittels dieser, indirekt Adornos negative Anthropologie.¹⁸⁹ Marx handelt in dem Abschnitt „Die entfremdete Arbeit“ vom Menschen als Arbeiter: „Der Arbeiter kann nichts schaffen ohne die Natur, ohne die sinnliche Außenwelt. Sie ist der Stoff, an welchem sich seine Arbeit verwirklicht, in dem welchem sie tätig ist, aus welchem und mittelst welchem sie produziert.“ (MEW 40: 512) Soweit handelt es sich um einen konventionellen Naturbegriff und um die Natur als das, worin wir uns befinden und was wir als etwas Bearbeitbares und zur Aneignung uns dienlich Machendes vorfinden. Die Natur in diesem Sinne gibt dem Arbeiter das Material der Werkzeugherstellung. Doch die Natur kann auch als verzehrbare und als Nahrungsmittel in den Dienst des unmittelbaren Überlebens stellbare Natur auftreten, d. h. als einverleibbare Natur, durch die der Arbeiter seine Subsistenzerhaltung sichern kann: Wie aber die Natur [die] Lebensmittel der Arbeit darbietet, in dem Sinn, daß die Arbeit nicht leben kann ohne Gegenstände, an denen sie ausgeübt wird, so bietet sie andererseits auch d[ie] Lebensmittel in dem engern Sinn dar, nämlich d[ie] Mittel der physischen Subsistenz des Arbeiters selbst. (Ebd.: 512 f.)
Prinzipiell gesehen hat dies Ute Guzzoni, die Verbindungslinien zwischen den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten und Denkmotiven bei Adorno aufzeigt, vgl. Guzzoni 2003: 86 f. und Guzzoni 1981: 174 ff., besonders 178 f. Einen anderen negativ-anthropologischen Weg zu Adorno im Ausgang von dessen philosophischen Prägungen könnte man theoretisch auch von Hegel aus gehen; ohne bei Adorno und dem hier verfolgten Gedankengang ankommen zu wollen, tut dies Thomas Khurana in Das Leben der Freiheit, wo Khurana Hegel in praktischer Orientierung als einen Philosophen liest, dessen Naturbegriff seine Identitätsphilosophie von innen heraus übersteigt, so dass der Geist auf die Lebensführung als praktische Aufgabe verwiesen bleibt: „Indem Hegel die Bedeutung des Lebens für die Genesis, Form und Wirklichkeit der Freiheit des Geistes aufweist, kommt es nicht einfach zu einer Ineinssetzung von Geist und Leben. Hegel zeigt vielmehr, dass der Geist seinen Ursprung, seine Materie und seine Form an einer lebendigen Natur gewinnen muss, die ihm zugleich unangemessen bleibt. Der Geist kann darum nicht aufhören, das Leben zu überschreiten, das er führt.“ (Khurana 2017: 9) Dezidiert und systematisch hat zuletzt Simon Schüz Hegels Anthropologie als eine negative interpretiert und einer weiteren Diskussion von Hegels Anthropologie grundsätzliche Impulse verliehen, vgl. Schüz (2021).
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4 Adorno: Negative Anthropologie
Natur kann also direkt, im Verzehr von Nahrungsmitteln, wie auch indirekt, in der instrumentellen Indienstnahme zur Herstellung von Werkzeugen, die wiederum indirekt der Optimierung der Aggregierung von Nahrungsmitteln dienen kann, verstanden werden. Im indirekten Verständnis gilt, dass die indirekten Konsequenzen der instrumentellen Naturaneignung sich potenzieren und weitere Möglichkeiten höherstufiger indirekter Naturbearbeitung ermöglichen können. Ist dies der Fall, so entstehen eher früher als später auf Arbeitsteilung angewiesene Möglichkeiten der Arbeitsorganisation. Natur wird dann nicht mehr vorrangig unmittelbar zum Zwecke der Subsistenzsicherung konsumiert, wodurch sie „[a]ufhört, ein seiner Arbeit angehöriger Gegenstand, ein Lebensmittel seiner Arbeit zu sein“ (ebd.: 513); vielmehr wird sie zum Bearbeitungsgegenstand, dessen Bearbeitung sich allerdings dadurch vollzieht, dass der Arbeiter seine eigene Lebenskraft konsumiert und selbst, metaphorisch gesprochen, zum Lebensmittel des Arbeitsprozesses wird. Im Arbeitsprozess und in der Tätigkeit des Arbeiters ist Natur immer im doppelten Sinne bestimmende und von diesem Prozess bestimmt werdende Kraft: „Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben.“ (Ebd.: 516) Dieser doppelte Naturbegriff, in dem Natur Organon, Mittel und Selbstzweck (genauer: reflexiver Zweck) ist, bildet die Grundlage nicht nur diverser wirkmächtiger Theoreme Marxens, sondern des Reflexivwerdens des Vorrangs des Objekts für das Subjekt, das seiner als Subjekt-Objekt und als solches seiner selbst als Natur im doppelten Sinne inne wird. Entfremdung besteht dann darin, dass der konstitutive Vorrang des Objekts zur Präokkupation des Subjekts durch sein Objektmoment, seine instrumentelle Objektifizierbarkeit im Arbeitsprozess pervertiert wird. Marx zufolge wird in der entfremdeten Arbeit dem Menschen „die Natur entfremdet“ (ebd.), wodurch „seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit“ (ebd.) ihm zu einem Fremden gerät. Gemäß dem doppelten Naturbegriff ist die Entfremdung der Lebenstätigkeit zugleich eine Selbstentfremdung, weil „das Gattungsleben und das individuelle Leben“ (ebd.) zwei Seiten einer Medaille sind. Sie lassen sich unterscheiden, aber nicht trennen; die Unterscheidbarkeit gewährt den analytischen Zugriff auf ihre Verschränktheit, die Untrennbarkeit fundiert das Problem, das eine Lösung erheischt. Das Gattungsleben ist das energetische Substrat des Arbeitsprozesses und das instrumentelle Soll im Sinne der Subsistenzsicherung; Entfremdung heißt, dass es sonst nichts ist und in seinem Verbrauchtwerden als energetisches Substrat vom individuellen Leben abgeschnitten wird, das zur bloßen Regeneration der Arbeitskraft verkommt. In der Entfremdung wird Marxens grundsätzliche Definition der Arbeit ausgehöhlt: „Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffnen Welt anschaut.“ (Ebd.: 517) Die entfremdete Arbeit hingegen „entreißt“ (ebd.) dem Arbeiter „sein Gattungsleben“ (ebd.), so dass dieses selbst „ihm zum Mittel wird“. (Ebd.) Den fatalen Endzustand dieses Prozesses in seiner potenzierten Form nennt Marx „die
4.3 Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse
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Entfremdung des Menschen von dem Menschen“. (Ebd.) Diese Entfremdung vollzieht sich gemäß dem doppelten Naturbegriff in einer doppelten Form von Herrschaft: der Herrschaft des Menschen über die Natur (und die natürlichen Dinge) und in der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Adorno rückt beide Formen der Herrschaft gemäß dem Begriff des Subjekt-Objekts in eine Perspektive, nämlich die der Naturbeherrschung, d. h. der „der Kontrolle der außer- und der innermenschlichen Natur.“ (NL 4/13: 21) Weil die Naturbeherrschung als vom Subjekt-Objekt über sich selbst verhängte Herrschaft Individuum, Gattungsleben und Arbeitsprozess zusammenschließt,¹⁹⁰ handelt es sich um eine genuin soziologische Kategorie, d. h. die Ausbuchstabierung der Subjekt-Objekt-Dialektik vom Naturbegriff her führt bereits in Adornos Soziologie. Naturbeherrschung meint auch mehr als die aus der bloßen Sukzession einzelner Herrschaftsakte sich ergebende Ausweitung von Herrschaft; der soziologische Nukleus der Kategorie ist nicht das Faktum oder Resultat von Naturbeherrschung, sondern die „Rationalität der Naturbeherrschung“ (NL 4/13: 21), die Herrschaft einer instrumentellen Rationalität, die gegenüber ihren sogenannten Materialien – seien das nun Materialien der Natur, seien es Menschen, die beherrscht werden, oder sei es schließlich das eigene Innere, das dieser Rationalität unterworfen wird –, die in einer subsumierenden, klassifizierenden, unterordnenden und auch abschneidenden Weise dem Material gegenüber sich verhält. (Ebd.: 21 f.)
Wenn dieses Material der Mensch ist und derselbe sich die Logik zur Herrschaft über sich selbst im Dienste dessen, was über ihn herrscht, aneignet, kommt es zu dem, was in der Psychoanalyse Repression heißt. Die Soziologie ist hier untrennbar mit der Psychologie verbunden und die Entfaltung des Zusammenhangs beider bleibt abstrakt, wenn man die dialektische Naturhaftigkeit des Subjekt-Objekts übergeht. Der hier maßgebliche Grundgedanke, der Marx im Hinblick auf Adorno zu entnehmen ist und sich bis in dessen Verschränkung von Soziologie und Psychologie hinein widerspiegelt, lautet auf eine Formel gebracht: Das Subjekt als Natur eignet sich Natur durch Arbeit und sich selbst damit reflexiv als Natur an; der Vorrang des Objekts manifestiert sich in der Aneignung Marxens durch Adorno als irrevokable und nicht eskamotierbare Naturhaftigkeit des Subjekts, in Analogie zur Objekthaftigkeit innerhalb der hegelianisch transformierten Subjekt-Objekt-Dialektik. Auch wenn Adorno sich vom Entfremdungsbegriff, gerade auch, weil er zu seiner Zeit modisch zu werden begann, teilweise distanzierte,¹⁹¹ so ist dieser Begriff funda Konzise gegen Spengler gerichtet fasst Adorno diesen Zusammenhang in wenige Worte: „Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, wie sie die Tendenz der Naturbeherrschung hervorbringt, die sich dann, in der Beherrschung von Menschen durch andere Menschen fortsetzt, tritt im ‚Untergang des Abendlandes‘ nicht ins Blickfeld.“ (AGS 10/1: 65) In der Ästhetischen Theorie geht Adorno explizit auf Distanz zur Verwässerung des für sämtliche soziologischen Subdisziplinen gebrauchsfertig zugerichteten Entfremdungsbegriffs: „Die unabsehbare Tragweite alles Dissonanten für die neue Kunst seit Baudelaire und dem Tristan – wahrhaft eine Variante der Moderne – rührt daher, daß darin das immanente Kräftespiel des Kunstwerks mit der parallel
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mental für das Verständnis der Konsequenzen der praktisch-instrumentellen Beschlagnahmung des Vorrangs des Objekts, weil nur durch ihn das vom Naturbegriff her verstandene Subjekt-Objekt überhaupt erst systematisch mit dem „Eingedenken“ der Natur im Subjekt, der Empfindung und dem Leiden in Verbindung gebracht werden kann. Diese zentralen denkerischen Motive Adornos, die allzu gerne bemüht werden, hängen systematisch in der Luft, wenn man die naturphilosophische Transformation der Subjekt-Objekt-Dialektik im Anschluss an Marx übergeht; zugleich zeigt sich in ihnen die negative Anthropologie Adornos nicht nur von ihrer theoretischen, sondern auch von ihrer normativen Seite: Die Naturhaftigkeit des SubjektObjekts ist keine bloß konstitutionslogische mehr, sondern zugleich auch eine moralisch-teleologische. Ein Begriff wie der moralisch-anthropologische Zwitterbegriff der Vertierung, den Adorno öfter verwendet, hängt an dieser Verschränkung von Konstitutionslogik und Normativität im Ausgang vom doppelten Naturbegriff. Das Somatische, die Empfindung, das Leiden sprengen die logische Identität des Subjekts bzw. den „logischen Absolutismus“ (vgl. AGS 5: 73 f.), den Adorno Husserl vorhält, und sie tun dies, um dem material verstandenen Vorrang des Objekts in einer humanen Weise zu entsprechen. Zunächst zum Eingedenken der Natur im Subjekt und zum Leiden. Der Ausdruck „Eingedenken der Natur im Subjekt“ zielt nicht auf einen Naturfaktor im Subjekt, nicht auf Natur als abstraktes Moment, sondern gerade auf die leidensfähige, vulnerable, ihrer selbst Sorge tragende müssende Naturhaftigkeit des Subjekts, das Marx zumeist Mensch, aber wahlweise auch Subjekt,¹⁹² (MEW 40: 513, 537, 545, 572 f.) und Person (ebd.: 530) nennt und das Adorno zumeist Subjekt, aber an zentralen Stellen auch manchmal Mensch nennt, dasselbe in anderer Akzentuierung meinend. Das Eingedenken der Natur im Subjekt ist bei Adorno weder sentimentaler noch maieutischer, sondern kontemplativer¹⁹³ Art. Es geht dabei um das praktisch
zu seiner Autonomie an Macht über das Subjekt ansteigenden auswendigen Realität konvergiert. Die Dissonanz bringt von innen her dem Kunstwerk zu, was die Vulgärsoziologie dessen gesellschaftliche Entfremdung nennt.“ (AGS 7: 29 f.) Gerade deshalb ist umgekehrt die Überbietung ästhetisch notwendig, um die laxe Konformität approbierter Ausdrucksweisen aufzubrechen; dann wird nicht nur die anämische Konventionalität pseudo-kritischer Kunst und Ästhetik aufgebrochen, sondern auch Entfremdung real sichtbar gemacht: „Bei exemplarischen Künstlern der Epoche wie Schönberg, Klee, Picasso finden das expressiv mimetische Moment und das konstruktive sich in gleicher Intensität, und zwar nicht in der schlechten Mitte des Übergangs sondern nach den Extremen hin: beides aber ist inhaltlich zugleich, Ausdruck die Negativität des Leidens, Konstruktion der Versuch, dem Leiden an der Entfremdung standzuhalten, indem sie überboten wird im Horizont ungeschmälerter und darum nicht länger gewalttätiger Rationalität.“ (Ebd.: 381) Das Subjekt-Objekt greift Marx in seiner Hegel-Kritik explizit als „mystisches Subjekt-Objekt“ im Namen des „wirklichen Menschen“ an, MEW 40: 584. Dabei geht es um die Art der Kontemplation, die Martin Seel bei Adorno ausmacht, also um „ein Verhalten, in dem es um ästhetische Wahrnehmung, theoretisches Erkennen und praktische Anerkennung gleichermaßen geht“. (Seel 2004: 13 f.)
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relevante Gewahren dessen, wovon das Subjekt bzw. der Mensch in der Entfremdung sich abschneidet, indem er sein Bewusstsein von seiner Natur abschneidet: In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar. (AGS 3: 73)
Wenn Adorno von der „Urgeschichte der Subjektivität“ spricht, ist dies nicht historisch zu verstehen, sondern es entspricht gerade Marxens anthropologisch keineswegs neutraler Analyse des Arbeitsprozesses, in dem die Entfremdung bereits mit der Arbeitsteilung einsetzt, in der das Bewusstsein der Produzenten von ihren Produkten abgeschnitten und die unselbständige Eingliederung in den Arbeitsprozess für den Arbeiter zu einem Zweck wird, dessen eigene, von außen gesteuerte Zweckhaftigkeit ihm nicht einsichtig ist. An die Stelle des Bewusstseins seiner selbst als Natur tritt dann der dieser entfremdete Einsatz ihrer im Arbeitsprozess. Liest man Marx und in seinem Gefolge Adorno nicht vom so abstrakten wie dürftigen „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“-Philosophem, sondern von Marxens Texten her, so zeigt sich, dass mit dem Bewusstsein seiner selbst als Natur dem Menschen nicht das Sein entgleitet, sondern sein Leben unter ein Grundgesetz der Heteronomie gerät. Eingedenken der Natur im Subjekt wäre dann das Bewusstsein davon, dass das Subjekt-Objekt nicht zum bloßen Objekt werden, der Vorrang des Objekts nicht im normativ-praktischen Sinne entarten darf. Die Kontemplation nimmt hier, wenngleich im Angesicht von gesellschaftlicher Ohnmacht, einen praktisch korrektiven Sinn an: „Besinnung des Menschen auf sich selbst als Natur wäre zugleich die kritische Reflexion des selbsterhaltenden Prinzips; richtiges Leben wohl eines, das nicht ‚auf die je erreichte Existenz‘ sich versteift“ (AGS 6: 519), wie Adorno gegen Heidegger in einer Kritik ausführt, die die im theoretisch Grundsätzlichen mit der Plessners an Heidegger übereinstimmt (vgl. PGS 8: 388 f.), gleichwohl normativ über letztere hinausgeht. Doch das Eingedenken der Natur im Subjekt zielt nur formelhaft auf etwas, das sich wesentlich genauer fassen lässt, wenn man den Zusammenhang zwischen Leiden und Empfindung und dessen systematische Rolle bei Adorno in den Blick nimmt. Leiden ist für Adorno ein intrinsisch normatives Faktum und deshalb ein Phänomen, in dessen Behandlung die negativ-anthropologische Konstitutionslogik normativ in Anschlag gebracht wird – auch explizit gegen die Identitätsphilosophie, die ihren höchsten Ausdruck Adorno zufolge in Hegels den Vorrang des Subjekts inthronisierenden Subjekt-Objekts findet: Aber in ihr [Humes Theorie der Impressionen, S. E.] zittert ein letztes Mal das somatische Moment erkenntnistheoretisch nach, bis es vollends ausgetrieben wird. In der Erkenntnis überlebt es als deren Unruhe, die sie in Bewegung bringt und in ihrem Fortgang unbesänftigt sich reproduziert; unglückliches Bewußtsein ist keine verblendete Eitelkeit des Geistes sondern ihm inhärent, die einzige authentische Würde, die er in der Trennung vom Leib empfing. Sie erinnert ihn, negativ, an seinen leibhaften Aspekt; allein daß er dessen fähig ist, verleiht ihm irgend Hoffnung. Die
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kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte. (AGS 6: 203)
Das Leiden ist bei Adorno ein außerphilosophischer und lebensweltlicher „Einwand“ gegen die Identitätsphilosophie, der aus der sinnlosen Inhumanität des Leidens eine philosophische Verbindlichkeit bezieht und als das von der Identitätsphilosophie Übergangene und Ausgeblendete oder zumindest Marginalisierte qua Existenz eine Anklage gegen dieselbe darstellt. Doch Adorno benennt das Leiden nicht nur abstrakt, sondern benennt auch Medium und Substrat des Leidens, den Leib, dessen eigentliche philosophische Entdeckung wohl erst auf Schopenhauer zu datieren ist.¹⁹⁴ Das unglückliche Bewusstsein ist nicht Bewusstsein des Leidens in dem Sinne, dass Leid von einem Bewusstsein erkannt würde, sondern dass Leid selbst das Bewusstsein bestimme im Modus des In-es-Hineinragens,¹⁹⁵ in unglücklichem Bewusstsein selbst regen sich Unglück und Leiden, ohne in ihm entstanden zu sein oder bloß innerhalb seiner Sphäre zu existieren. Adorno nennt Schmerz und Negativität den „Motor des dialektischen Gedankens“ (ebd.), die Unvollständigkeit der Identitätsphilosophie ist keine logische, sondern Ausdruck einer Blindheit, die für Adorno umso mehr Lüge ist, als sie auch Blindheit gegen sich selbst und ihre besten Kraftquellen ist.¹⁹⁶ Der Erkenntnistheorie steht es insofern nicht frei, Somatisches als Desiderat zu akzeptieren oder nicht; stellt sie sich ihm nicht, so verstümmelt sie Erkenntnis vorab, deren Theorie dann selber eine verstümmelte oder, wo sie direkt oder indirekt apologetische Funktionen übernimmt, Ideologie ist. Leiden ist eine Kategorie Adornos, die keine der klassischen Erkenntnistheorie oder Identitätsphilosophie ist (und eine derart philosophisch tragende Rolle sonst nur bei Schopenhauer spielt), doch eine andere Kategorie der theoretischen Philosophie stiftet den Zusammenhang zwischen dem Begriff des Leidens und des Somatischen einerseits und der Erkenntnis andererseits: der Begriff der Empfindung, der nicht zufällig das deutsche Äquivalent der Hume‘schen impressions ist, an die Adorno gegen alle spätere Erkenntnistheorie erinnert. Die Empfindung spielt eine entscheidende Rolle innerhalb der Subjekt-ObjektRelation, denn Adorno stellt heraus, dass sie, die „crux aller Erkenntnistheorie“ (AGS 6: 193), diese Relation schon bei Kant und Husserl sprengt, ohne dass daraus von deren Seite adäquate theoretische Konsequenzen gezogen worden wären. In der Ne So auch bei Stephan Grätzel (1989). „Die vermeintlichen Grundtatsachen des Bewußtseins sind ein anderes als bloß solche. In der Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches in sie hinein.“ (AGS 6: 202) Klar wird dies in der Ästhetik und daselbst wiederum am bereits angesprochenen Begriff der Dissonanz: „Jede Dissonanz ist gewissermaßen ein Stück Eingedenken des Leidens, dem die Naturbeherrschung, dem überhaupt schließlich eine herrschaftliche Gesellschaft die Natur aussetzt, und nur in Gestalt dieses Leidens, nur in Gestalt der Sehnsucht – und Dissonanz ist ja immer wesentlich Sehnsucht und Leiden –, nur darin findet die unterdrückte Natur überhaupt ihre Stimme. Und deshalb haftet an der Dissonanz nicht nur dieses Moment des Ausdrucks der Negativität, dieses Leidens, sondern immer zugleich auch das Glück, der Natur ihre Stimme zu geben, etwas nicht Erfaßtes zu finden“. (NL 4/3: 66)
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gativen Dialektik formuliert Adorno eine mehrsträngige Kant-Kritik; seine Kritik der Erkenntnistheorie Kants am Leitfaden des Empfindungsbegriffs fällt kursorisch aus, was daran liegen dürfte, dass seine Husserl-Kritik am Leitfaden des Empfindungsbegriff umso ausführlicher ausgefallen ist und beide Ansätze für Adorno das gleiche erkenntnistheoretische Paradigma repräsentieren. Im Hinblick auf Kant hat Adorno dabei den Zirkel im Blick, der sich daraus ergebe, dass die Empfindung als materiales constituens von konkreter Erkenntnis dem transzendentalen Subjekt als dem constituens schlechthin von Materie bereits die Empirie als Konstitutionsprinzip unterschiebe, die durch die transzendentale Konstitutionstheorie die Begründung ihrer Möglichkeit, also der Möglichkeit dessen, was ihr als konstitutiv unabweisbar aufgegeben ist, erhalten solle.¹⁹⁷ Die Vereitelung einer sauberen Trennung von Form und Materie analogisiert Adorno mit dem Verhältnis von Begriff (Pendant der Form) und Nichtbegrifflichem (Pendant der Materie als der Empfindung): „Das Nichtbegriffliche, dem Begriff unabdingbar, desavouiert dessen Ansichsein und verändert ihn. Der Begriff des Nichtbegrifflichen kann nicht bei sich, der Erkenntnistheorie verweilen; zur Sachhaltigkeit der Philosophie nötigt diese.“ (AGS 6. 141) Die Grundlage bzw. das Modell dieser Analogisierung des Nichtbegrifflichen mit der Empfindung bildet Kants Unterscheidung zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen. Was Adorno anhand von Begriff und Nichtbegrifflichem nur andeutungsweise entfaltet, wird aus der Dialektik verständlich durch den Begriff des Moments. Stehen Subjekt und Objekt einander nicht mehr gegenüber, sondern bilden Momente voneinander, so reicht das jeweils eine bereits in die Konstitution des anderen hinein. Die Kant-Kritik wird gerade nicht immanent formuliert, sondern in sie wird die negative Dialektik samt der Subjekt-Objekt-Dialektik hineingetragen. Deshalb kann Adorno die Empfindung letztlich nur abstrakt dem somatischen Moment zuordnen, von der er sie nicht trennen kann, deren Verhältnis zueinander er aber ebenfalls nicht bestimmt: „Keine Empfindung ohne somatisches Moment.“ (AGS 6: 194) Die Abstraktheit des Zusammenhangs verdankt sich dessen begriffslogischer Konfiguration; die Momente sind ununterscheidbar von begriffslogischen Zwängen, wodurch unentscheidbar gerät, ob die dialektischen Momente eher der Phänomenologie oder der Logik nahestehen: „Die sprachliche Tönung von Worten wie sinnlich, sensuell, ja schon von Empfindung verrät, wie wenig die damit designierten Sachverhalte sind, als was die Erkenntnistheorie sie abhandelt, pure Momente von Erkenntnis.“ (Ebd.) Nicht die Erkenntnistheorie per se tut dies, sondern Adornos Übersetzung von Erkenntnistheorie in die Sprache der Dialektik. Gerade dadurch aber verträgt sich seine Kritik der Erkenntnistheorie wiederum mit seiner Aufwertung des Somatischen als des bereits angesprochenen natürlichen Substrats des Leidens: „Irreduzibel ist das somatische „Soll indessen die Form, das transzendentale Subjekt, um zu funktionieren, also gültig zu urteilen, streng der Empfindung bedürfen, so wäre es, quasi ontologisch, nicht nur an der reinen Apperzeption sondern ebenso an deren Gegenpol, an seiner Materie, befestigt. Das müßte die gesamte Lehre von der subjektiven Konstitution zerrütten, auf welche ja, Kant zufolge, die Materie nicht zurückführbar ist.“ (AGS 6: 141)
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Moment als das nicht rein cognitive an der Erkenntnis. […] Daß die cognitiven Leistungen des Erkenntnissubjekts dem eigenen Sinn nach somatisch sind, affiziert nicht nur das Fundierungsverhältnis von Subjekt und Objekt sondern die Dignität des Körperlichen.“ (Ebd.) Affiziert wird dieses Fundierungsverhältnis nicht im Sinne der Umkehrung, sondern im Sinne des Einklagens dessen, was in der klassischen Erkenntnistheorie mit dem Vorrang des Subjekts und der Blindheit gegenüber dem Somatischen unsichtbar gehalten wird. Der Vorrang des Objekts geht über den Naturbegriff und den Begriff des Somatischen den weiten negativ-anthropologischen Weg einer Rehabilitierung der Empfindung gegenüber der Erkenntnis, die eine kognitivistisch verstandene zu nennen keineswegs bedeutet, tautologisch zu reden. Von Adornos Husserl-Kritik her ist dies zu vertiefen, da Adorno hier wesentlich ausführlicher auf den Empfindungsbegriff eingeht. Wie Kant hat auch Husserl keine Antwort auf die Empfindungsproblematik, sie sprengt den „logischen Absolutismus“, der das Kantische Problem, Form und Materie, Begriff und Nichtbegriffliches, miteinander zu vermitteln, in einer Neuauflage darbietet: „Der logische Absolutismus hebt sich selbst auf: indem Husserl die Begriffe von ihrer ‚Einsichtigkeit‘ dispensiert, werden sie notwendig zu ‚äußeren Operationsformen‘ und ihre absolute Geltung für Sachen zu einem Zufälligen.“ (AGS 5: 73) Das logische Problem des logischen Absolutismus besteht Adorno darin, dass Husserl der Intentionalität „erkenntnistheoretisch die Zentralstelle zuweist“ (ebd.: 113) und sie im Sinne der Abschottung „starr nach beiden Seiten“ (ebd.: 101) abgrenze: „von der Empfindung“ (ebd.) und „vom Ding.“ (Ebd.) Damit komme es zu einer Aussperrung der Empfindung aus Husserls Analysen, da diese nur berücksichtigen können, was in das Wahrnehmungsparadigma passt und allem übrigen dieses Paradigma notgedrungen überstülpen müssen: Wohlweislich aber geht Husserls Analyse nicht hinunter auf die Empfindung, sondern hält inne bei der Wahrnehmung als einem Bewußtsein von ‚etwas‘, von einem Gegenständlichen, während die Empfindung bei ihm eigentlich nur im Hinblick auf die Wahrnehmung, als ihr hyletischer Kern eingeführt ist. (Ebd.: 112 f.)
Der hyletische Kern als ein nicht-gegenständliches Etwas ist letztlich ein EtwasNichts, dessen Ort irgendwo und nirgendwo ist. Husserl redet dementsprechend auch nicht von Empfindungen in concreto – damit würde nämlich die aus phänomenologischer Sicht verbrannte Erde des (grundlegend empiristischen) Sensualismus betreten werden –, sondern zumeist von Empfindungsdaten. Husserls Ideen geben ein schlagendes Beispiel: Im Erlebnis der Wahrnehmung dieses weißen Papieres, näher in ihrer auf die Qualität Weiße des Papieres bezogenen Komponente, finden wir durch passende Blickwendung das Empfindungsdatum Weiß vor. Dieses Weiß ist etwas dem Wesen der konkreten Wahrnehmung unabtrennbar Zugehöriges, und zugehörig als reelles konkretes Bestandstück. (Husserl 1976: 175)
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Das „Empfindungsdatum“ wird hier von der eigentlichen Empfindungsqualität bereinigt, übrig bleibt allein das Weiß als Vorkommnis der Wahrnehmung. Der hyletische Kern der Wahrnehmung ist selber Teil der Wahrnehmung, so als wäre das Ding an sich selber Erscheinendes. Adorno erweist sich gegenüber Husserl phänomenologisch stringenter als dieser selber; die Empfindung ist ihm nicht ein Datum der Wahrnehmung, sondern ein Wissen von Wirklichkeit: Röte – ‚Rotheit‘ – ist Farbe, nicht Empfindungsdatum, und das Bewußtsein von Farbe verlangt Reflexion und hat nicht an der Impression sein Genügen. Husserl verwechselt das Meinen der Röte hier und jetzt mit dem Wissen von der Röte, dessen jenes Meinen notwendig bedarf. (AGS 5: 108 f.)
Was Adorno mit dem Meinen meint, ist die Intention des Begriffs auf die Sache, seine ihm selber inhärierende Sachintention; in der Negativen Dialektik spricht Adorno von der „Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken“. (AGS 6: 164) Die Intention geht auf den hyletischen Kern, den die Intentionalitätslehre Husserls sowohl der Wahrnehmung einverleibt als auch aus dieser ausschließt. Husserl weiß nicht, wohin mit der Empfindung: Sie ist weder dem Noetischen, noch dem Noematischen bruchlos zuzuschlagen,¹⁹⁸ dem Sensualismus soll auf keinen Fall ein Einfallstor geboten werden, die Intentionalität bildet ebenfalls keinen brauchbaren Auffangbehälter. Indem die Empfindung letztlich der Wahrnehmung untergeschoben wird, ergibt sich eine Überstrapazierung des Wahrnehmungsbegriffs, die allerdings die Wahrnehmung gerade umso unnachgiebiger von ihrer Erfüllung, der Erfüllung ihrer Intention, abschneidet: Das Ungereimte daran ist, daß Wahrnehmung zwar, als Bewußtsein von etwas, zu den intentionalen Akten rechnet, aber dabei eines neuen Moments, eben der Erfüllung, bedarf, die doch nach Husserls Theorie von nichts anderem geleistet werden kann als von der Wahrnehmung selber. (Ebd.: 154)
Die Wahrnehmung kann nicht die Empfindung wahrnehmen, die Empfindung kann nicht an die Stelle der Wahrnehmung treten, weil sie der Intentionalität im kognitiven bzw. logischen Sinne ermangelt. Wenn alles Gewahren der Wahrnehmung zufällt, kann die Empfindung nicht Qualität der Wahrnehmung sein, ohne als diese Qualität wiederum Gegenstand der Wahrnehmung sein zu müssen. In der Empfindung, die nur Wahrnehmung der Empfindung sein könnte, würde die Wahrnehmung dann zugleich wahrnehmen und empfinden, wobei unklar bliebe, warum sie zweierlei tut, wenn sie letztlich nur wahrnimmt. Doch als Qualität der Wahrnehmung konzipiert Husserl die Empfindung konsequenterweise nicht, sondern er versucht sie aus der Phänomenologie abzudrängen, wodurch die Empfindung nicht erhellt, sondern invisibilisiert und
Dieses Problem ist auch innerhalb der phänomenologischen Diskussion klar gesehen und von Roman Ingarden hellsichtig auf den Punkt gebracht worden, vgl. Ingarden 1998: 419 ff.
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unter abstrakten Oberbegriffen wie Wahrnehmung und Intentionalität begraben wird; Adorno hält Husserl vor, dass „der Primat der Intentionalität tendenziell den Empfindungsbegriff weggeräumt hat“. (Ebd.) Damit scheidet Adorno zufolge die Möglichkeit aus, dass die Wahrnehmung, und seien es nur spezifische Modi von Wahrnehmung, ihre Erfüllung in der Empfindung finden können: „Die Erfüllung der Wahrnehmung als einer Intention würde vom Sinn dieser Intention und nicht von der Empfindung vollbracht.“ (Ebd.: 155) Doch mit dem hyletischen Kern der Wahrnehmung ernstmachen heißt für Adorno, den Wahrnehmungsbegriff vom Empfindungsbegriff her daran zu messen, inwieweit er seiner immanenten Intention Genüge zu leisten vermag. Adorno lässt sich vom Sensualismus-Verbot nicht schrecken. Hier kommt der bereits zitierte Satz Adornos wieder ins Spiel, dessen Gewicht nicht zu unterschätzen ist: „Keine Empfindung ohne somatisches Moment.“ (AGS 6: 193) Nicht nur eine Exorzierung der Empfindung aus der Phänomenologie will Adorno Husserl nicht durchgehen lassen, sondern die Empfindung bringt im konstitutionslogischen Sinne ins Spiel, was die Phänomenologie als bloßes Faktum der natürlichen Einstellung betrachtet: das Somatische; konkreter: die Sinnesorgane: Zurechnung ist dabei ein vager Ausdruck für die unauflösliche Einheit von Organ und sinnlicher ὕλη. Das Zugeständnis solcher Einheit liefe aber auf nichts Geringeres hinaus, als daß die Empfindung, nach Husserls Doktrin unmittelbarer irreduktibler Tatbestand des transzendentalen ego, gar nicht isoliert werden kann von den Sinnesorganen. Sie wäre phänomenal verschmolzen mit einem als Tatsache des Bewußtseins nicht Ausdrückbaren: das Constituens wäre so abhängig vom Constitutum wie dieses von jenem. (AGS 5: 149, FN)
Diese Einwände Adornos basieren auf der gänzlichen Nichtanerkennung der Eigenständigkeit von Husserls Elementaranalyse, die auch darin zum Ausdruck kommt, dass Adorno zufolge die „beiden gleichermaßen problematischen Begriffe Wahrnehmung und Empfindung […] überhaupt nur innerhalb“ (ebd.: 161) einer solchen gelten könnten. Das transzendentale Ego wird in die naturphilosophische SubjektObjekt-Dialektik einberufen, wo den Sinnesorganen selber von Adorno ein transzendentallogischer Status in Bezug auf das Ego konzediert wird. Innerhalb des dialektischen Schemas Adornos gilt, dass kein Ego existieren könne, welches die Sphäre der Objektivität als selber Objekthaftes aus sich selber hervorbringen oder begründen müsse; es müsste – um ihre wechselseitige Abhängigkeit bei Adorno metaphorisch zu illustrieren – die Unmöglichkeit vollbringen, das zu stemmen, worauf es selber steht; schlichter: sein eigenes constituens konstituieren. Doch diese Kritik verfährt, anders als die Kritik des Wahrnehmungsbegriffs, nicht immanent, das negativ-dialektische Subjekt-Objekt wird hier gegen die den phänomenologischen Entwurf in Anschlag gebracht und fungiert dabei überdies erkenntnisnormativ als verbindliches Modell oder evolutionäres τέλος philosophischer Theoriebildung. Doch wie geht Adorno innerhalb seines eigenen dialektischen Modells mit der Empfindung als Explanandum um?
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Hier gilt der Grundsatz: „Die Insistenz auf der Vermitteltheit eines jeglichen Unmittelbaren ist das Modell dialektischen Denkens schlechthin“ (ebd.: 160); dementsprechend gilt es, begrifflich der „Einsicht in das subjektiv Vermittelte der Empfindung“ (ebd.: 161) Genüge zu leisten, nicht die Empfindung als reine Unmittelbarkeit anzusetzen und sie in einer Hypostasierung der Vermittlung zu entziehen. Was außerhalb der Vermittlung steht, steht außerhalb der Subjekt-Objekt-Dialektik und damit, noch grundlegender, außerhalb der Subjekt-Objekt-Relation überhaupt; es wäre weder Moment eines der beiden Relata, noch Moment oder Element der Vermittlung von Subjekt und Objekt und damit dem philosophischen Zugriff Adornos überhaupt entzogen. Die Empfindung ist auch bei Adorno nicht leichthin zu „verorten“. Sie ist nicht objektiv, weil sie z. B. als Farbempfindung selbst kein Objekt, sondern eine Qualität des Objekts gibt, für die allerdings gilt, was bei Schopenhauer den transzendentalen Idealismus legitimiert: dass das Subjekt sich hier als das epistemische Organ der Existenz dieser Qualität nicht wegdenken lässt. Weit davon entfernt, einen Vorrang des Subjekts deswegen zu begründen, ist die Empfindung ein Phänomen, dem lediglich „Subjekthaftigkeit“¹⁹⁹ inhäriert, um die subjektive Vermitteltheit Adornos im konstitutionslogischen Sinn zu übersetzen. Doch ist die Empfindung eine Qualität des Subjekts, von dessen Wahrnehmung oder schlicht ein Subjektives? Eine Stelle bei Adorno gibt hier Aufschluss: „An der bloßen Empfindung aber hat die Dialektik darum keinerlei materialistischen Boden, weil Empfindung trotz ihres somatischen Wesens gegenüber der vollen Realität durch die Reduktion auf subjektive Immanenz ganz verdünnt ist.“ (Ebd.: 160) Die Vermitteltheit der Empfindung durch die Sinnesorgane entzieht die Empfindung dem Subjektpol wie dem Objektpol, da sie, als somatisch Instanziierte, objekthaft ist, zugleich aber als Qualität die Sinnlichkeit konstituiert; sie hat einen subjektiv-objektiven Doppelcharakter und fällt in keine der beiden Sphären, sondern stellt ein ihnen gegenüber Drittes dar, indem sie weder in der subjektiven Immanenz aufgeht noch als materiales Substrat der Aktivität der Sinnesorgane figuriert. Die Empfindung ist ein Objektives, das der Unterscheidung von Erkennendem und Erkanntem sich nicht fügt: In ihr wird erkannt, sie wird erkannt, durch sie wird erkannt. Die Empfindung ist durch die subjektive Immanenz verdünnt und durch das somatische Moment zugleich übers Subjekt hinaus, wobei „hinaus“ heißt: mit dessen es fundierenden Kraftquellen verbunden. Empfindungen existieren nur, wo Sinnesorgane und Sinnlichkeit eine aktive Konstitutionseinheit bilden, d. h. innerhalb dieser Aktivität, aber nicht innerhalb eines der Konstitutionselemente dieser Aktivität. Insofern wäre die Empfindung der phänomenologisch relevanteste Sachverhalt, den die Phänomenologie Husserls gerade loszuwerden versuchte. Was Adorno mit dem Vermittlungsbegriff allerdings verdeckt, ist, dass die Empfindung sich mittels der Subjekt-Objekt-Relation ebenso wenig fassen lässt wie mittels
„Die Vermittlung der Empfindung im Subjekt ist alles eher als rein ontologisch; das Subjekt, ohne welches von Empfindung nicht die Rede sein kann, ist, damit es zur Empfindung fähig sei, selber schon mundan.“ (Ebd.)
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Husserls Wahrnehmungsparadigma. Doch wie soll Adorno die Aporien der Erkenntnistheorien Kants und Husserls überwinden, wenn er mit der Subjekt-Objekt-Relation, auch noch in ihrer dialektischen Transformation, deren theoretischen Rahmen übernimmt? Adorno reagiert auf Husserls statische Dichotomie mit einem dialektischen Sowohl-als-auch, das seine Materialisierung in dem Momenten findet, die als solche „über sich hinaus“ sind. Doch das Sowohl-als-auch dynamisiert den problematischen Rahmen nur im Innern, es sprengt ihn nicht, auch wenn Adorno die NichtStillstellbarkeit dialektischen Changierens als eine solche Sprengung verstanden wissen mag. Die Empfindung bildet, auch als klassischer Topos der Psychologie, ein passendes Präludium der Probleme, die sich mit Adornos Adaptation der Psychoanalyse ergeben. Denn diese, so ist im Folgenden zu zeigen, lässt sich nicht nur der SubjektObjekt-Dialektik nicht nahtlos einfügen, sondern steht quer zu ihr und nötigt Adorno auf, das essayistische Prinzip gleichsam systematisch anzuwenden, d. h. sich je nach den Erfordernissen der Situation des am besten passenden Sprachspiels zu bedienen.
4.3.3 Adornos theoretisch inkonsequente Adaptation der Psychoanalyse. Das Subjekt-Objekt- und das Ich-Welt-Verhältnis Bisher war die Betrachtung an den philosophischen Grundlagen von Adornos Denken orientiert, deren Grundfigur das Subjekt-Objekt bildet. Doch die Subjekt-Objekt-Dialektik ist nur ein Grundpfeiler der Philosophie Adornos, ein zweiter ist die Psychoanalyse und das systematische Verhältnis beider bleibt, so die hier entfaltete These, bei Adorno ungeklärt. Je nach Situation bemüht Adorno die klassisch-philosophische oder eben die psychologische Terminologie, teilweise findet ein fliegender Sprachspielwechsel im Übergang vom einen zum nächsten Satz statt.²⁰⁰ Das Verhältnis zwischen Subjekt und Individuum handelt Adorno ab, das zwischen dem Subjekt und dem Ich der Psychologie hingegen nicht, kurz: Subjekt ist keine Kategorie der Psychoanalyse. Das Ichmodell Freuds ist kein Subjektmodell, sondern ein psychodynamisches Konfliktmodell, mittels dessen Personen analysiert und therapiert werden. Welche Komplikationen sich daraus ergeben, ist im Folgenden zu zeigen. Dabei soll
Um nur zwei schlagende Beispiele dieser grundsätzlichen Verflechtung zu geben: „Was irgend man von der Genese des Charakters weiß, ist mit der Behauptung eines solchen Akts moralischer Urzeugung unvereinbar. Das Ich, das bei Kant ihn vollziehen soll, ist kein Unmittelbares, sondern selber auch ein Vermitteltes, Entsprungenes, in psychoanalytischen Termini: von der diffusen LibidoEnergie Abgezweigtes.“ (AGS 6: 268) Ebenso hier: „Eher ist die Möglichkeit metaphysischer Erfahrung verschwistert der von der Freiheit, und ihrer ist erst das entfaltete Subjekt fähig, das die heilsam angepriesenen Bindungen zerrissen hat. Der dumpf in gesellschaftlich sanktionierter Anschauung vorgeblich seliger Zeiten Befangene dagegen ist dem positivistischen Tatsachengläubigen verwandt. Das Ich muß geschichtlich erstarkt sein, um über die Unmittelbarkeit des Realitätsprinzips hinaus die Idee dessen zu konzipieren, was mehr ist als das Seiende.“ (Ebd.: 389)
4.3 Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse
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das Verhältnis von Philosophie und Psychoanalyse bei Adorno analytisch aufgeschlüsselt werden in einer Reihe von begrifflichen Unterscheidungen, nämlich zwischen Einzelwesen, Individuum, Subjekt und Ich.
4.3.3.1 Grenzen des Subjektbegriffs I: Einzelwesen, Subjekt und Individuum Dass Subjekt und Individuum und Individuum und Einzelwesen wiederum nicht dasselbe seien, wird durch das trübe Ineinander des alltäglichen und durchschnittlichen Sprachgebrauchs seiner intuitiven Einsehbarkeit beraubt; die Alltagssprache führt auf fatale Weise vor, dass und in welchem Maße Intuitionen geschichtlichen Prägungen unterliegen. Der Begriff des Einzelwesens ist indifferent gegenüber dem Unterschied von Kind und Erwachsenem, sogar gegenüber dem zwischen Mensch und Tier, und vor allem gegenüber Entwicklungsniveaus innerhalb sowohl der Spezies als auch von Mitgliedern der Gesellschaft, die durch diese Entwicklungsniveaus (hindurch) zu denen werden, die sie sind. Letzteres ist so unegalitaristisch wie es klingt und unleugbares Faktum sowie elementarer Bestand der philosophischen Ideengeschichte, wie das Beispiel des Begriffs des Individuums zeigt. In der Alltagssprache mögen Einzelwesen Subjekte sein, in der philosophischen Begriffssprache wäre eine solche Gleichsetzung verquer. Nicht einmal Individuen im eigentlichen Sinne sind die Einzelwesen rein als solche in ihrem versprengten Erscheinen hier und da: Das biologische Einzelwesen ist ja noch nicht Individuum, sondern der Begriff des Individuums ist ein Reflexionsbegriff. Ich will damit sagen, der Mensch wird Individuum nicht dadurch, daß er auf die Welt kommt, sondern dadurch, daß das Einzelwesen seinem eigenen Bewußtsein nach sich als ein von der amorphen Gattung Unterschiedenes weiß und sich selbst in Gegensatz zu der Gattung setzt, und erst indem es sich dieses Gegensatzes bewußt wird, indem es diesen Gegensatz austrägt, eigentlich dann zu einem bewußten Gesellschaftswesen wird. (NL 5/1: 142)
Die Natalität richtet hier noch nicht viel aus; nicht sie begründet die Individualität des Individuums, sondern dessen Individuation, die wiederum ein reflexiver Prozess insofern ist, als das Individuum zum Individuum in Absetzung von und Prägung durch die Gesellschaft wird. Das bloße biologische Einzelwesen hingegen, das als solches nicht einmal ein menschliches zu sein braucht, ist indifferent gegenüber der Bedeutungssphäre der Individualität; der Säugling ist bereits eines, ohne dass er Individuum wäre. Individuum ist niemand als reines Diesda (τόδε τί); Individuum sein heißt, Individuum geworden zu sein und Individuum werden heißt gerade, im Sozialisationsprozess ein Verhältnis zur Gesellschaft selbst einzunehmen, d. h. in der praktischen Realisierung des differentiellen semantischen Sinns von Individualität auch gegen sie gestellt zu sein, ohne dass dieses Gegen-sie-gestellt-sein aversiver Natur sein müsste. Gesellschaft muss sich im Individuum brechen, das Bewusstsein des Individuums als Bewusstsein seiner in der Gesellschaft muss an dieser sich formen und brechen. Adorno sagt daher,
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daß Individualität eine Reflexionskategorie ist; das heißt, daß wir von Individualität im prägnanten Sinn nur insoweit reden können, wie die je einzelnen Subjekte, indem sie sich ihrer Einzelheit und Einzigkeit bewußt werden, in einen bestimmten Gegensatz zu der Gesamtheit treten und erst in dem Bewußtsein dieses Gegensatzes sich als das je Einzelne, als das Besondere überhaupt bestimmen. (NL 4/13: 104)
Wenn Individualität also bereits konstitutionslogisch ein gesellschaftlich Vermitteltes ist, ist sie als solche nicht indifferent gegenüber dieser und jener Gesellschaft in ihrer konkreten Ausprägung, mehr noch: Sie ist das Produkt einer spezifischen historischen Gesellschaftsform, die als solche selbst wiederum ein historisch Entstandenes (und insofern Vermitteltes) ist. Deshalb macht Adorno als die „ersten Individuen im spezifischen Sinne, von denen wir wissen, […] etwa Petrarca oder Montaigne oder die Gestalt des Hamlet“ (ebd.: 143; Hervorhebung, S. E.) aus. Diese geschichtsphilosophische Linie von Adornos Argumentation muss an anderer Stelle weiterverfolgt werden; worauf es hier ankommt, ist die Verzahnung des geschichtlich und gesellschaftlich bestimmten Begriffs des Individuums mit der Psychologie. Kaum weniger zentral als Adornos Diktum „Denken heißt identifizieren“ (AGS 6: 17) ist der folgende Satz, mit dem Adorno einem jeden Verstehen von Individualität und Individuation als von jener nicht abtrennbaren Genesis den Weg weist: „Weil herrschende Objektivität den Individuen objektiv inadäquat ist, realisiert sie sich einzig durch die Individuen hindurch, psychologisch.“ (AGS 6: 345) Damit ist klar, dass eine umfassende Analyse der Subjekt-Objekt-Dialektik auch diese in ihrer psychologischen Vermitteltheit betrachten und dabei elaborieren muss, wie drei Begriffe sich zueinander verhalten: (1) der des Subjekts, das mit der SubjektObjekt-Relation gesetzt ist und dessen fundamentale Rolle bereits klar geworden ist; (2) der des Individuums, dessen Individuation im Ineinander von Geschichte und Gesellschaft stattfindet, das zugleich aber weder der Subjekt-Objekt-Dialektik noch der Psychologie entzogen ist; und (3) der des Ichs, der sowohl ein Grundbegriff der Philosophie wie der Psychologie ist und im Folgenden eingeführt wird, wobei der Analyse die These vorausgeschickt wird, dass das Ich das Individuum, erkenntnistheoretisch und psychologisch gefasst, meint.
4.3.3.2 Vom Bewusstsein zum Ich und von der Erkenntnistheorie zur Psychoanalyse Adorno spricht den Ursprung der Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum bei Fichte an, verweilt aber nicht weiter bei Fichte (AGS 6: 289), sondern bleibt bei seinen primären Bezugspunkten Kant und Hegel. Fichtes Unterscheidung erkennt er demnach wieder in der „Kantische[n] zwischen dem Ich als Substrat der empirischen Psychologie und dem transzendentalen Ich denke“. (Ebd.: 262) Doch Kant ist Adorno zufolge innerhalb des theoretischen Rahmens, den er seiner Philosophie gegeben hat, zu einem Oszillieren zwischen Transzendentalem und Empirischem bzw. Form und Materie gezwungen:
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Kant muß nämlich immer irgendwie, in irgendeiner Weise von den sogenannten psychologischen Zusammenhangsformen, also mit anderen Worten von der Einheit meiner Erlebnisse, von den Erlebnissen einer Person in der Zeit ausgehen, muß aber auf der anderen Seite immer wieder sagen: Ich meine eigentlich gar nicht das empirische Ich, ich meine nicht das bloß faktische Ich, sondern ich meine etwas ganz anderes, nämlich das reine Prinzip des Denkens, das Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleitet.²⁰¹ (NL 4/1: 269)
Was hier noch „das empirische Ich“ genannt wird, ist das Bewusstsein dessen, was Adorno „das empirische einzelmenschliche Individuum“ (NL 4/1: 105) nennt und in Bezug auf das er, darin noch mit der „traditionellen Erkenntnistheorie“ (ebd.) übereinstimmend, entschieden festhält, „daß in der Tat das Subjekt der Erkenntnis nicht ohne weiteres“ (ebd.) mit diesem Individuum identisch sei. Das philosophische Subjekt der Erkenntnis verirrt sich bei Kant nicht aus Gründen logischer Unzulänglichkeit in die Psychologie, sondern das Oszillieren hat einen sachlichen Grund²⁰² und lässt sich nicht vermeiden, will Adornos Dialektik nicht die Abgehobenheit der traditionellen Erkenntnistheorie, ihre Hypostasierung des Subjekts (vgl. ebd.: 105 f.), reproduzieren bzw. in dialektischem Gewand prolongieren. Weil alle Objektivität durch die Individuen hindurch sich psychologisch vollziehe, wird das Verhältnis zwischen Psychologie und Philosophie zu einem theoretischen Desiderat von fundamentaler Bedeutung. Adorno sprengt in der Analyse dieses Verhältnisses die Bewusstseinsphilosophie mittels der Psychoanalyse im Ausgang vom Verhältnis zwischen Ich und Bewusstsein. Nach Adorno ist „im gesamten Bereich der traditionellen Erkenntnistheorie eigentlich die Pointe […], daß die Einheit des Gegenstandes unserer Erkenntnis und schließlich die Einheit der Rationalität überhaupt ihren Ursprung hat in der Einheit des Bewußtseins“. (Ebd.: 125) Mit der Einheit des Bewusstseins meint Adorno nicht die des transzendentalen, sondern die „Einheit des individuellen, des persönlichen Bewußtseins“ (ebd.: 126); damit wird dieser keineswegs per se so zu verstehende Begriff bereits der Tendenz nach von Adorno psychologisiert und von einem „Bewusstsein überhaupt“ abgegrenzt. Die Abgrenzung nimmt nicht die Gestalt einer Gegenüberstellung an, sondern das Bewusstsein überhaupt stellt Adorno zufolge das verdünnte Resultat einer Abstraktion vom psychologischen Bewusstsein dar: Ich habe Ihnen bereits einiges über die großen Schwierigkeiten gesagt, die darin bestehen, von diesem Ich, das ja offensichtlich nach dem Modell des empirischen, psychologischen Ich ge-
Im Jargon der Eigentlichkeit drückt Adorno sich spezifischer aus: „Was in der Selbsterhaltung sich behauptet, das Ich, wird durch diese zugleich konstituiert, seine Identität durch sein Nichtidentisches. Das zittert noch in der äußersten idealistischen Sublimierung nach, der Kantischen Deduktion der Kategorien, wo die Momente, in denen die Bewußtseinsidentität sich darstellt, und die Einheit des Bewußtseins, die aus jenen sich fügt, entgegen der deduktiven Absicht reziprok einander bedingen, insofern diese und nicht andere Momente schlechthin gegeben seien.“ (AGS 6: 503) In der Erkenntnistheorie-Vorlesung sagt Adorno deshalb, „daß zwar Psychologie und Erkenntnistheorie nicht auseinanderfallen, daß sie aber auf der anderen Seite eine Reihe von Problemen teilen; daß man sie also nicht einfach so voneinanderreißen kann“. (Ebd.: 109 f.)
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wonnen ist, zu einem Begriff des Ich schlechthin, des Bewußtseins überhaupt, wie es bei Kant dann später heißt, zu gelangen. (Ebd.)
Mit der Behauptung, dass das Bewusstsein überhaupt am „Modell des empirischen, psychologischen Ich“ gewonnen sei, hat Adorno den Kantischen Primat umgekehrt: Das Ich der Psychologie ist die maßgebliche Instanz gegenüber dem Ich der Bewusstseinsphilosophie, nicht erst im Hinblick auf die Psyche im Ganzen, sondern schon im Hinblick auf den Bewusstseinsbegriff. Erst unter der Voraussetzung der Primatumkehrung zugunsten des psychologischen Ich ist es überhaupt erst möglich, Bewusstsein und Ich derart engzuführen, wie Adorno dies tut; das Ich ist schlechthin kein Ich schlechthin mehr. Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn Adorno später in seiner Vorlesung sagt, dass die Erkenntnistheorie „soweit sie die Gegenstände der Erkenntnis aufgebaut hat auf Tatsachen des Bewußtseins, eben damit eine Bewußtseinspsychologie [ist], das heißt, sie denkt die Gegenstände, die unmittelbaren Gegebenheiten unseres Bewußtseins stets eben als bewußte Tatsachen“. (Ebd.: 142 f.) Damit ist die Einheit des Bewusstseins nicht mehr die Einheit des Bewusstseins überhaupt, das außerdem als Bewusstsein von Tatsachen auftritt, sondern die Einheit des Bewusstseins konstituiert sich nur durch die Tatsachen des Bewusstseins. Die Einheit des Bewusstseins ist dann untrennbar verbunden mit der „Identität des persönlichen Bewußtseins“ (NL 4/2: 97), denn nur durch dieses „kommt so etwas wie Einheit der Welt, Einheit der Erfahrung, Identität, schließlich auch logische Identität bei Kant überhaupt zustande“ (ebd.). Doch Adorno generalisiert und fundamentalisiert seine Ausführungen weiter und legt einen Konflikt zwischen der Erkenntnistheorie überhaupt und der Psychologie offen, in dessen Ausformulierung sich zeigt, dass der Vorrang des Objekts in der Repräsentation des Objektmoments durch den psychologischen gegenüber dem klassischen philosophischen Bewusstseinsbegriff verkleidet seine Wiederkehr feiert. In drei Schritten, die ihre Abbildung in drei aufeinander folgenden Sätzen erfahren, entfaltet Adorno den Vorrang des Objekts via negationis, durch den Aufweis der Aporie, die sich ergibt, wenn man ihn verhindern versucht. Der erste Satz lautet: Die Erkenntnistheorie bedient sich eines psychologischen Modells, also des einzelmenschlichen Bewußtseins, das dadurch zusammengehalten wird, daß jeweils alle seine Erlebnisse entweder aktuell oder potentiell als Erlebnisse dieses Bewußtseins und nicht irgendeines anderen gegeben sind. (Ebd.: 127)
Hier wird der reale genetische Ausgangspunkt der Theoriebildung benannt. Indem das Bewusstsein als einzelmenschliches benannt wird, wird es in der Lebenspraxis verortet, statt abstrakt als das freischwebende Erkenntnisorgan benannt zu werden, dessen Porträt die Analyse am Ende zu geben versucht. Der zweite Satz lautet: Dann aber wird von diesem individuellen Bewußtsein abstrahiert, weil es ja ein bloß Zufälliges, an Raum und Zeit gebundenes sein soll, von dem irgendwelche Bedingungen, die notwendig und
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allgemein sind, für unsere Erkenntnis gar nicht geschlossen werden können. (Ebd., Hervorhebung S. E.]
Die Abstraktion vom einzelmenschlichen Bewusstsein erfolgt kalkuliert, obwohl Adorno zugleich die Abstraktion grundsätzlich angreift, indem er ihr bestreitet, dass sie an Einzelnem Allgemeines sinnvoll abzulesen imstande sei und als Verfahren der indirekten Erkenntnisgewinnung in Frage kommen könne (d. h. Ergebnisse zeitigen könnte, die umgekehrt in der Erkenntnis von Einzelnem wiederum aufschließend wirken könnten), womit sich die Frage stellt, ob er damit nicht Begriffsbildung überhaupt depotenziert, die auf Abstraktion verwiesen ist. Der dritte Satz lautet: Zugleich aber wird dann diesem allgemeinen Bewußtsein, das jene Individuation in Raum und Zeit, die diese Einheit eigentlich erst vermittelt, gar nicht mehr besitzt, doch zugeschrieben, daß es eine solche Einheit, eine solche synthetische Einheit eben darstellt, durch die so etwas wie einheitliche Erkenntnis zustande kommt. (Ebd., Hervorhebung S. E.)
Hier wird der Angriff auf die Abstraktion als solche wieder abgeschwächt und gezielt darauf geführt, dass die Abstraktion eine solche sein und ihr zugleich doch die Qualitäten von Empirischem zukommen sollen. Das allgemeine Bewusstsein ist gerade von dem abgeschnitten, was es synthetisieren könnte; das einzige, was ihm zu synthetisieren bliebe, wäre es selbst, doch dann wäre diese Synthetisierung als Vermittlung gleichermaßen eine Selbstvermittlung wie eine Selbstkonstitution. Dem allgemeinen Bewusstsein wird alles Empirische geraubt und zugleich die Würde des alles Empirische königlich Synthetisierenden verliehen. Was sich hier vollziehe, sei „der Übergang von der Psychologie zur Erkenntnistheorie“ (ebd.), mit ihm konstituiert sich die Aporie. Worum es Adorno aber geht, ist, den Vorrang des Objekts auch in der Erkenntnistheorie durchzuführen, statt in der Aporie des allgemeinen Bewusstseins zu stranden. Das bedeutet für Adorno aber gerade, in der Theorie den gleichermaßen axiologischen wie theoretischen Übergang von der Erkenntnistheorie zur Psychologie hinsichtlich des strukturellen Vorrangs des Objekts zu vollziehen. Dieser Übergang zur Psychologie und die Implementierung des Vorrangs des Objekts besteht darin, dass der für die Erkenntnistheorie zentrale „Aspekt des Wissens von möglicher Gegenständlichkeit“ (ebd.: 70) nicht von der Struktur des Subjekts her, sondern „mit der Richtung auf das Objekt hin“ (ebd.) durchgeführt werde. Die „Richtung auf das Objekt hin“ meint hier in der Übertragung der Figur des Subjekt-Objekts auf das Bewusstsein die Sprengung des Bewusstseins von innen her, d. h. die Betrachtung des Bewusstseins, insofern es als Bewusstsein gerade nicht autonom, sondern bereits strukturell durch Nicht-Identität konstituiert ist. Diese Nicht-Identität manifestiert sich in doppelter und interferierender Weise: durch die Grenzen des Bewusstseins und dadurch, dass es selbst Funktion des Ich ist. Der angesprochene „Aspekt des Wissens von möglicher Gegenständlichkeit“ (ebd.: 70) muss dann im Ansatz miteinbeziehen, dass kein autonomes Bewusstsein auf eine fertige Gegenständlichkeit trifft, sondern „daß in diesem strukturierten Gegenstand [des
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Bewusstseins, S. E.] immer sowohl selber auch ein bereits strukturiertes Gegenständliches ist, nie bloß das, was unser Bewußtsein davon behauptet“. (Ebd.: 139, Hervorhebung S. E.) Dieses „nie bloß das“ betrifft sowohl den Gegenstand in seiner Objektivität, seine restlose Unauflösbarkeit im Bewusstsein, aber auch das Bewusstsein als Funktion des Ichs, d. h. die Tatsache, dass Einbettung hier auch Imprägnierung meint. Hier gilt nach Adorno fundamental, dass „dieses mit sich selbst identische feste Ich“ (ebd: 133) der klassischen Bewusstseinstheorie „ebenso auch ein Bedingtes, daß es ebenso auch Entsprungenes ist“. (Ebd.) Dieses Bedingtsein muss letztlich soziologisch und psychologisch²⁰³ durchexerziert werden, doch hier kommt es zunächst auf Folgendes an: den Vorrang der Psychoanalyse vor der Transzendentalphilosophie, denn für Adorno ist gerade die „dynamische Psychologie […] Ausdruck dessen, nämlich der Beweis dafür, daß wir gar nicht so weiteres mit unser selber identisch sind“. (Ebd.: 128) Doch Vorrang heißt auch hier nicht Gegenüberstellung, sondern die Bewusstseinsphilosophie mittels der Psychodynamik von innen heraus über sich selbst hinauszutreiben. Das Bindeglied zwischen dem klassischen Bewusstsein und der Psychodynamik ist das Ich; der Umstand, dass der Ichbegriff schon bei Kant und im Deutschen Idealismus seine philosophische Reinheit eingebüßt hat, ist kein zufälliger. Indem er das Bewusstsein als Funktion des Ich veranschlagt, kann Adorno zeigen, dass Identität als solche bereits das Signatur von Nicht-Identität trägt, weil in Wirklichkeit dieses Ich sich psychodynamisch aus einander entgegengesetzten Kräften, also aus den Kräften des Unbewußten, des nicht bewußten oder des verdrängten Triebes und andererseits dem Ich, also den nach außen gewandten und zugleich in sich selbst reflektierten, vollständig gegenwärtigen Momenten zusammensetzt; und diese Komplexität, um nicht zu sagen: dieser antagonistische Charakter, den das Ich in sich selbst besitzt, dieser Charakter führt eben dazu, daß wir von einer Einheit in einem strengen Sinn nicht reden können. (Ebd.: 150)
Die Psychodynamik wird hier vermittels des antagonistischen Charakters eingeführt, dessen Freilegung ermöglicht, die Nicht-Identität als konstitutives Merkmal der nur noch scheinhaften Identität des Bewußtseins sichtbar zu machen. Was diese Passage nicht enthält, ist der Blick auf mehrere Ebenen von Adornos Denken: Die Psychodynamik wird hier als negativ-anthropologisches Prinzip gegen die transzendentale Konstitutionslehre des Subjekts in Anschlag gebracht. Doch die Zweistelligkeit der Subjekt-Objekt-Dialektik ermöglicht es nicht, systematisch kohärent zu fassen, was Adorno hier den Leser nicht wissen lässt, weil er den Zusammenhang der verschiedenen Sprachspiele, derer er sich bedient, nicht offenlegt: So wie der er Vorrang des Objekts innerhalb der Subjekt-Objekt-Dialektik nur über die Aneignung von Marxens Naturbegriff zu verstehen ist, wodurch im SubjektObjekt das Subjekt negativ-dialektisch auf Natur als sein Konstitutionsmoment hin überstiegen wird, so wird hier der Vorrang des Objekts ebenfalls prinzipiell naturphilosophisch ausbuchstabiert, indem die Natur durch die Psychodynamik ihre
Vgl. AGS 6: 345 und Kapitel 4.3.3.1.
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Konkretion erfährt. Die Dekonstruktion der logischen Identität des Subjekts wird in Konkordanz mit dem naturphilosophisch verstandenen Vorrang des Objekts vertieft. Ausformulieren lässt diese Vertiefung sich allerdings nicht mehr innerhalb der SubjektObjekt-Relation selbst, weshalb das Ich als der psychodynamische Grundbegriff Freuds von Adorno übernommen wird. Die theoretische Stoßrichtung bleibt die gleiche, das Sprachspiel hingegen muss sich ändern, denn das dreistellige Ichmodell Freuds ist weder mit der zweistelligen Subjekt-Objekt-Relation synchronisierbar, noch sind beide bruchlos ineinander übersetzbar oder überführbar. Die Subjekt-Objekt-Dialektik muss nicht aufgegeben werden und wird von Adorno alles andere als aufgegeben, aber sie erlaubt nicht, den im obigen Zitat angesprochenen „antagonistischen Charakter“ (ebd.) zu erfassen, der sowohl das Subjekt wie das Ich, allerdings auf unterschiedliche, weil durch unterschiedliche Bezugspunkte und Sinnhorizonte hin ausgerichtete, Weise kennzeichnet. Der Grundimpetus des Übergangs zu Freud wird von Adorno noch typologisch mit Hegel gegen Kant ausformuliert, obwohl Freud gerade das Hegelsche Subjekt mittels der Psychodynamik pulverisiert: „Dem fügt Hegel ein Unkantisches hinzu: daß wir, indem wir den Block, die Grenze begrifflich fassen, die der Subjektivität gesetzt ist; indem wir diese als ‚bloße‘ Subjektivität durchschauen, bereits über die Grenze hinaus seien.“ (AGS 6: 255) Doch über die Grenze der Subjektivität zum Objekt hinaus zu sein, ermöglicht noch nicht, den Charakter des Verhältnisses von Subjekt und Objekt als antagonistischen zu fassen und diesem Antagonismus wiederum den Ort zu geben, der historisch-gesellschaftlich das Individuum wäre, dessen psychologische Verfasstheit wiederum der Psychodynamik bedarf, um über die Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum als der empirischen Realisierungsform der transzendentalen Subjektivität hinauszugehen.²⁰⁴ Doch die Brücke zum Subjekt wird nicht gänzlich abgebrochen: Vermittlungsfigur des Subjekts und des Ichs bleibt das Bewusstsein; in der negativen Dialektik mit ihrem negativ-anthropologischen Gepräge bezieht dieses Bewusstsein seine Kraftquellen und findet seinen Fluchtpunkt in dem, was nicht „das Andere“, sondern sein Anderes ist: philosophisch gesprochen in der Natur, psychodynamisch gesprochen in der Libido. Das Verhältnis zwischen der Subjekt-ObjektRelation und Adornos Inkorporierung der Psychoanalyse in dieses philosophische Grundgerüst bedarf einer genaueren Betrachtung eines entscheidenden blinden Flecks, den der Personbegriff darstellt.
„Das erkennende Subjekt ist eben durch diese besondere Beziehung auf den einen Leib, der ihm,außer derselben betrachtet, nur eine Vorstellung gleich allen übrigen ist, Individuum.Die Beziehung aber, vermöge welcher das erkennende Subjekt Individuum ist, ist ebendeshalb nur zwischen ihm und einer einzigen unter allen seinen Vorstellungen, daher es nur dieser einzigen nicht bloß als einer Vorstellung, sondern zugleich in ganz anderer Art, nämlich als eines Willens, sich bewußt ist.“ (Schopenhauer 1988a: 155) Das Individuum ist die Realisierung der Form des Subjekts in der Erscheinung, es realisiert das transzendentale Gerüst der Subjektivität im gelebten Leben und tritt damit, gebunden an die transzendentalen Formen des Subjekts, in die Geschichte und Gesellschaft ein, die Schopenhauer theoretisch wenig, Adorno dafür umso mehr interessiert haben.
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4.3.3.3 Von Subjekt und Objekt zu Ich und Libido und zurück Das Verhältnis Adornos zur Psychoanalyse ist, obwohl Adorno die Verbindlichkeit der Errungenschaften Freuds hervorgehoben hat, stets ambivalent geblieben. Adorno kritisiert zwar den Individualismus der Psychoanalyse (vgl. VSP: 83), der mit dem gesellschaftlichen konform geht, ebenso wie das, was er ihren „Positivismus“ nennt (NL 4/15: 191), aber ein „überraschend dialektisches Motiv“ (ebd.), das auch ein negativ-anthropologisches ist, stellt den Ansatzpunkt seiner Aneignung der Psychoanalyse dar und zugleich das Motiv, das zwar nicht die Ideologie des Individualismus aufhebt, aber ihre systematischen Grenzen sprengt. Solche Sprengung resultiert aus einem gleichermaßen dialektischen wie ontologischen²⁰⁵ Strukturmerkmal der Individuation selbst: Sie finden hier, wenn ich mir diesen Exkurs gestatten darf, in einer so durchaus positivistisch konzipierten Lehre, wie es die Freudsche Psychoanalyse gewesen ist, ein überraschend dialektisches Motiv […]. Das dialektische Motiv ist das, daß Freud, und zwar genuin, einfach durch die Arbeit an seinem eigenen Material, die Entdeckung gemacht hat, daß je tiefer man in die Phänomene der Individuation der Menschen sich versenkt, je rückhaltloser man das Individuum in seiner Geschlossenheit und Dynamik begreift, um so mehr sich dem nähert im Individuum selbst, was eigentlich nicht Individuum ist. (NL 4/15: 192 f.)
Über die immanente Selbsttranszendierung des Individuums gibt nur das psychoanalytische Ichmodell Aufschluss, weil nur dieses erlaubt, die Subjekt-Objekt-Dialektik auf der Ebene des Individuums adäquat zu spezifizieren. Dies ist wiederum nur der Fall, wenn man gegen revisionistische und soziologistische Verwässerungen der Psychoanalyse dezidiert an dem festhält, was Adorno „die radikale Psychoanalyse“ (AGS 8: 27) nennt, die dialektisch die Individualität von innen heraus über sich selbst hinaustreibt, „indem sie sich auf die Libido als ein Vorgesellschaftliches richtet“ (ebd.), in der negativ-anthropologischen Subjekt-Objekt-Dialektik gesprochen: auf Natur bzw. auf die Natur im Individuum. Die Libido fungiert hier als die psychologische Konkretion des Naturbegriffs und dabei als mehr als nur Natur in abstracto, sondern auch als Moment der Ich-Dynamik wie als Kraftquelle des Individuums. Sie ist kein schlechthin Anderes im Ich, sondern das Andere des Ich als sein Anderes und deshalb als auch sein Eigenes, Kraftquelle und als solche zugleich der Motor eines jeglichen psychodynamischen Konfliktgeschehens. In der Libido gelangen Natur, Psyche und Gesellschaft motivisch zur Verschränkung bzw. sie bilden, an der Rhetorik der Negativen Dialektik angelehnt, eine dialektische Komplexion, deren Gravitationszentrum die Libido als gerade nicht mehr nur individuell verstandene bildet. Die Zusammenführung der verschiedenen Momente im Sinne von theoretischen Motiven zeigt sich darin, dass, indem die Psy-
Den ontologischen Status behauptet Adorno ausdrücklich: „Insofern möchte negative Dialektik auch vollbringen, was die positive, idealistische schon meinte. Sie hat insofern ein ontologisches Moment, wie Ontologie dem Subjekt die bündig konstitutive Rolle aberkennt.“ (NL 4/7: 335)
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choanalyse sich auf die so verstandene Libido richtet, sie „phylogenetisch wie ontogenetisch jene Punkte erreicht, wo das gesellschaftliche Prinzip der Herrschaft mit dem psychologischen der Triebunterdrückung koinzidiert“. (Ebd.) Der Ort dieser Koinzidenz bleibt das Individuum, das ontogenetisch eine Sozialisation durchläuft auf der Grundlage ihres Bestimmtwerdens durch die Libido als einer vorgesellschaftlichen und insofern natürlichen Antriebsquelle. Die Psychodynamik des Ichs erstreckt sich vom vorgesellschaftlichen Natürlich-Triebhaften über die Ich-Psychodynamik der Motivvermittlung bis in die gesellschaftliche Identität und Prägung des Individuums hinein. Wendet man wiederum die Subjekt-Objekt-Dialektik gemäß dem Vorrang des Objekts unter Beachtung von Adornos Affirmation der radikalen bzw. strengen Psychoanalyse (vgl. AGS 8: 52) darauf an, so zeigt sich, wie fundamental tendenziell idealistische, konstruktivistische oder kulturalistische Ansätze Adorno schon im Grundsätzlichen nicht begreifen und verfehlen. Hier ist ein entscheidender weiter Bogen zu spannen, denn die hier angesprochene Triebunterdrückung ist ebenfalls keine im Sinne der unproblematischen Abschaltung oder rationalen Kontrollierung eines hauchzarten Impulses, sondern die psychodynamische Variante dessen, was bereits als Naturbeherrschung angesprochen worden ist. Die „Rationalität der Naturbeherrschung, der Kontrolle der außer- und innermenschlichen Natur“ (NL 4/13: 21), ist hier in fünf verschiedene Aspekte aufzufächern. Die Natur ist dabei im Hinblick auf das Verhältnis von Natur, Herrschaft und IchDynamik genauer darzustellen. (1) Naturbeherrschung kann zunächst meinen die Beherrschung der äußeren Natur als Emanzipation von der äußeren Natur in ihrer fundamentalen Bedrohlichkeit, z. B. im Rahmen der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft – und in dem Prozess wiederum als Natur im Marx‘schen Sinne, die der Mensch in der Arbeit und der arbeitsteiligen Differenzierung²⁰⁶ der Gesellschaft zähmt und sich aneignet. Adorno thematisiert diesen Sachverhalt in der Negativen Dialektik unter dem Namen der „falschen Versöhnung“ (AGS 6: 246) und garniert diesen Ausdruck in einer Fußnote mit einem langen Engels-Zitat, das die im ersten Satz dieses Punktes gegebene Darstellung untermauert. (Vgl. ebd.) Das Spätprodukt dieses Prozesses nennt Adorno die „Emanzipation des bürgerlichen Ichs“ (ebd.: 190), in welchem Ausdruck nicht primär das Bürgertum als historischer Akteur adressiert wird, sondern das Ich, das historisch als bürgerliches sich ausbildet, indem es die Ich-Dynamik derart kanalisiert und organisiert, dass die Gestalt des spezifischen historischen Individualtypus „Bürger“ entstehen kann. Eine spezifische Art und Weise der Naturbeherrschung ist
Adorno polemisiert zwar gegen den Ausdruck „arbeitsteilige Gesellschaft“ und stößt sich daran, dass er weitaus weniger spezifisch sei als der Ausdruck „kapitalistische Gesellschaft“ (vgl. GS 8: 198), doch der Vorteil des seiner Abstraktheit wegen gescholtenen Begriffs besteht darin, dass Arbeitsteilung ein Merkmal der Organisation von Arbeit überhaupt ist, noch bevor kapitalistische oder moderne Gesellschaften sich herausgebildet haben. Das Marx‘sche Urszenario der frühesten Arbeitsteilung überhaupt bedarf nämlich bereits im Grundsatz der organisierten Triebunterdrückung und Energiekanalisierung, deren systemische Exzessivierung der Kapitalismus letztlich darstellt.
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hier mit der Psychodynamik der Individuation von einer bestimmten typologischen Physiognomie verschmolzen. (2) Dieser Prozess vollzieht sich nicht als rein gesellschaftlich-individueller und im Hinblick auf die individuelle Dimension als psychodynamischer, sondern, weit darüber hinausreichend, als Prozess der Herausbildung der Technik und ihrer Implementierung als den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess maßgeblich bestimmende und später steuernde Kraft. Es kommt hier also auch zur Naturbeherrschung im Sinne der Beherrschung der außermenschlichen Natur mittels dessen, was nicht Natur ist, sondern Technik. Diese bewertet Adorno markant ambivalent: „Man weiß auch, wie sehr die libidinöse Besetzung der Technik heute das Verhalten Regredierter ist, aber ohne ihre Regressionen würden schwerlich die technischen Erfindungen gemacht, die einmal Hunger und sinnloses Leiden aus der Welt vertreiben mögen.“ (AGS 8: 67 f.) (3) Der Regression voraus, wenngleich bereits ihr Prinzip in sich enthaltend und auf sie hinweisend, geht die Beherrschung der Technik mittels der Vernunft zugunsten der Natur und als Natur. Bei aller Kritik am Fortschrittsbegriff bezweifelt Adorno nicht, dass der Übergang „vom Mangel zur Abwehr von Seuchen und Hungersnot und zur Verbesserung der Lebensbedingungen insgesamt“ (AGS 10: 622) stattgefunden habe. Dieser Prozess, für den eine Disziplinierung der Triebregungen im Sinne der funktionalen Eingliederung vonnöten ist, ist von Anbeginn und unauflöslich ambivalent, d. h. Repression ist nicht erst seine Folge, sondern noch nicht pathologisch sich sedimentierendes disziplinatorisches Element desselben. Deshalb und weil Arbeit „ein verlängerter Arm, Lebensmittel bereitzustellen, das verselbständigte und freilich dann seinem Wissen von sich selbst entfremde Prinzip der Naturbeherrschung“ (AGS 6: 269) verkörpere, hat bereits Marx in seiner Affirmation der arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft und des Fortschrittsbegriffs „das Programm der Naturbeherrschung, ein Urbürgerliches, unterschrieben“. (AGS 6: 242) (4) Die Repression findet statt in der Beherrschung der Vernunft und der Natur/ des Lebens mittels der Technik zuungunsten der Natur/des Lebens,²⁰⁷ sofern das
Der Schrägstrich zwischen Natur und Leben ist dadurch gerechtfertigt, dass in einer genuin marxistischen Verwurzelung des Denkens dem Verständnis von Leben das seiner natürlichen Grundlagen nicht ausgetrieben werden kann, was erst der Fall ist, wenn eine allgemeine Wohlstandslage sogar den geistigen Sehnerv konfiguriert. Wer das Eingedenken der Natur im Subjekt vom gelebten und zu lebenden Leben abschneidet, behält nur eine sentimentale Naturromantik eines im Luftschloss seiner fahlen Blödsinnigkeit sich bespiegelnden ätherischen Subjekts zurück. Aus einer vom Leben abstrahierenden sentimentalen Naturromantik lässt sich weder erklären noch verstehen, warum Adorno diese Natur überhaupt interessiert oder überhaupt interessieren sollte. Auch die Pointe der Versöhnung wird damit hinfällig. Unleugbar wird dies, wenn man sich Adornos Kritik eines mit dem Kapitalismus im Grundsatz einverstandenen Sozialismus ansieht; in dieser Kritik heißt es: „[E]s gibt nicht wenige Sozialisten, die eigentlich auch unter dieser Vorstellung stehen, daß Sozialismus soviel sei wie die Beseitigung von faux frais, von vermeidbaren Unkosten, also einfach die Vermeidung von Reibungskoeffizienten im Sinn eines glatten Verlaufs der ungeheuren Produktionsmaschinerie des Kapitalismus, ohne daß das Verhältnis der lebendigen Menschen zu dieser Produktionsmaschinerie
4.3 Adornos philosophische Adaptation der Psychoanalyse
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Verständnis desselben das seiner natürlichen Grundlagen entschieden beinhaltet. Repression meint dabei nicht despotische Willkürherrschaft, sondern das, was „je nach dem Stand der Technik, zur Erhaltung der Gesamtgesellschaft erfordert war“ (AGS 10/1: 21), sie ist deshalb eine gesellschaftliche, die als solche von den Individuen psychodynamisch noch einmal im Sinne der Synchronisierung der Organisation des individuellen Lebens mit dem Arbeitsleben zu leisten ist. Hier überwältigt die nicht mehr beherrschbare Technik unter verselbständigten Entfaltungsgesetzen ihrer immanenten Potentialität ihren Schöpfer, dessen Versuch, die Natur zu beherrschen, in die Ohnmacht seiner selbst als Natur gegenüber der Technik als einer erratischen Quasi-Natur umschlägt, denn der Begriff der Technik selber enthält in sich unabdingbar das Moment der Naturbeherrschung, und sobald dieser Begriff der Technik als ein naturbeherrschender unmittelbar, unreflektiert auf die Menschen angelegt wird, wird eigentlich der Begriff der Herrschaft von der Natur auf die Menschen ebenso direkt übertragen. (NL 4/15: 226)
Die Dialektik der Naturbeherrschung ist damit aber noch nicht vollendet, sondern nur die Entgleisung und Verselbständigung von Naturbeherrschung in ihrer Grundstruktur skizziert. Die Binnendifferenzierung dieser Eskalation verdient eine besondere Akzentuierung. (5) Die Naturbeherrschung im Sinne der Beherrschung der inneren Natur verselbständigt sich und potenziert sich, indem sie normative Kraft und den Status eines gesellschaftlich approbierten Ideals annimmt, d. h. Repression ist nicht nur ein Element der Disziplinierung zugunsten der Eingliederung in den gesellschaftlichen Prozess, sondern ein Instrument gesellschaftlicher Herrschaft im doppelten Sinne der Naturbeherrschung und als solches zugleich ein positives Faktum, das als psychodynamische Realität sowohl manipulativ als auch therapeutisch bearbeitet oder expressiv inszeniert wird. Hier realisiert sich für die Adorno eine Einheit, in der die verschiedenen Akzentuierungen von Naturbeherrschung ein schwarzes Einerlei zusammenfließen: Nicht aber ist darum die Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitterten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von Naturbeherrschung,
dabei eigentlich in die Reflexion überhaupt hereintreten würde.“ (NL 4/15: 225 f.) Wo die Lebendigkeit der Menschen im Dienst der produktionstechnischen Optimierung übergangen und dies von der Soziologie nicht geahndet wird, degeneriert für Adorno die Soziologie zu einer „Kontrollinstanz im Sinn des technokratischen Ideals, die sich aber nun verlängert über die bloß äußerliche Einrichtung des Produktionsapparats in das Zusammenleben der Menschen hinein und schließlich bis ins Bewußte und ins Unbewußte der Menschen selber hinein.“ (Ebd.: 226) Hier zeigt sich, was sich theoretisch anordnen lässt, als Zusammenhangskette: Die gesellschaftlich implementierte Naturbeherrschung reicht ins Individuum und die psychodynamischen Grundlagen der Individuation und damit wiederum in Natur selbst hinein. Im Lebensbegriff wird dieser Zusammenhang holistisch konserviert, die Natürlichkeit des Lebens und das existentielle Desiderat, es leben zu müssen, unauflöslich in einem Zusammenhang und als ein Zusammenhang gesehen.
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4 Adorno: Negative Anthropologie
fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich die über inwendige Natur. (AGS 6: 314)
Die Herrschaft über die inwendige Natur vertieft die Herrschaft über den Menschen noch einmal und lässt Repression in einer genuin psychodynamischen Weise thematisch werden, weil hier die Repression als inwendiger Prozess und die „eigentliche“ Entdeckung der Psyche durch die Psychoanalyse sich erst begegnen. Dessen psychodynamische Ausbuchstabierung kann hier weder rekonstruktiv noch weiterführend in Angriff genommen werden. Festzuhalten ist hier, dass mit der inwendigen Natur zum konzeptionellen Abschluss kommt, was mit der Subjekt-Objekt-Dialektik eröffnet und durch den Begriff der Individualität und dessen Vertiefung durch die Psychodynamik vertieft worden ist: Der Vorrang des Objekts tritt in der Subjekt-ObjektDialektik als das Naturmoment auf und kehrt in der psychodynamischen Vertiefung derselben anhand des Ichmodells als Libido wieder: „Das Ich, das ihn [den Akt moralischer Überzeugung, S. E.] bei Kant vollziehen soll, ist kein Unmittelbares sondern selber auch ein Vermitteltes, Entsprungenes, in psychoanalytischen Termini: von der diffusen Libido-Energie Abgezweigtes.“ (AGS 6: 268) Das Eingedenken der Natur im Subjekt als richtige statt als falsche Versöhnung wäre die Befreiung der Libido von dem, was sie in Beschlag nimmt, zugunsten ihrer freien Entwicklung. So hartnäckig Adorno das Bilderverbot in Bezug auf die Versöhnung bemüht, sie ließe sich bilderlos, aber psychodynamisch definieren als das Ungültigwerden der folgenden, von Adorno im Anschluss an Freud grundgesetzlich formulierten Einsicht: „Nicht mehr auszulöschen ist die Einsicht der Psychoanalyse, daß die zivilisatorischen Mechanismen der Repression die Libido in antizivilisatorische Aggression verwandeln.“ (Ebd.: 330) Dasselbe umgekehrt ausgedrückt: Versöhnung wäre das Verschwinden der zivilisatorischen Mechanismen der Repression mitsamt der aus ihr hervorgehenden antizivilisatorischen Aggression. Die negativ-anthropologischen Grundlagen von Adornos Theorie, wie sie hier skizziert wurden, blieben davon unberührt; der antagonistische Charakter sowohl des Subjekts als auch das Ich würde in einer solchen Utopie lediglich gesellschaftlich und zivilisatorisch aus dem Bannkreis der Repression heraustreten. Ein letzter Punkt ist in der Analyse Adornos noch zu thematisieren. In der Reihe der Grundbegriffe Subjekt, Individuum, Ich fehlt derjenige Begriff, der bei Plessner im Zentrum steht, nämlich der Personbegriff. Im Folgenden soll gezeigt werden, warum dieser Begriff bei Adorno keine Rolle spielt und dass deshalb seine negative Anthropologie, so klar ihre Grundlagen als vorhanden und systematisch vielfältig in Anschlag gebracht sich haben aufzeigen lassen, letztlich eine halbierte bleibt.
4.4 Personalität als kritische Leerstelle bei Adorno Die philosophische und die psychodynamische Sprache vermischen sich in Adornos Gesamtwerk in Form eines Changierens. So sagen Adorno/Horkheimer in der Dialektik
4.4 Personalität als kritische Leerstelle bei Adorno
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der Aufklärung, dass der „ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression“ (AGS 3: 230) werde. Diese Vermischung von Anthropologie, Subjekt-Objekt-Relation und Psychodynamik ist keine unkontrollierte, die Negative Dialektik gibt die Spezifizierung des Ausdrucks dort, wo Adorno sagt: „An dieser Emanzipation, nicht an der unersättlichen Repression des Subjekts hängt Objektivität heute. Die Übermacht des Objektivierten in den Subjekten, die sie daran hindert, Subjekte zu werden, verhindert ebenso die Erkenntnis des Objektiven“. (AGS 6: 173) Damit wird nicht gesagt, dass Erkenntnis des Objektiven nur möglich wäre in einer Welt, in der das Hegelsche Subjekt-Objekt als Subjekt ein legitimes Konzept wäre, sondern dass das Objektmoment in der Subjektkonstitution nicht dieses repressiv in Beschlag nehmen darf, indem objektiviertes Äußeres es auf dem psychodynamischem Weg von innen her besetzt, wenn ein Zugang zu sich selbst und damit auch Erkenntnis von Objektivem (als Eigenem, Äußerem und Anderem) möglich sein soll. Dennoch ist diese Vermischung symptomatisch: Obwohl Adorno sich des Unterschieds zwischen (psychologischem) Ich, (erkennendem) Subjekt und (historisch-gesellschaftlich existierendem) Individuum bewusst ist, wird zum Referenzobjekt des Subjekt-Objekts der Repression der Mensch erklärt. Daran zeigt sich, dass die Anthropologie bei Adorno tiefer verwurzelt ist, als man gemeinhin wahrhaben will, denn „Mensch“ ist die gegenüber dem „Individuum“ fundamentalere Kategorie; Subjekt-Objekt der Repression waren die Menschen auch schon als solche, bevor sie Individuen im neuzeitlichen Sinne wurden. Wenn Adorno vom Menschen als dem Subjekt-Objekt der Repression spricht, wird sowohl über den Vorrang des Objekts als der Natur die Libido im psychodynamischen Ichmodell fundamentalisiert, als auch eine genuin anthropologische Zurechnungskategorie gewählt, als welche Subjekt, Ich und Individuum nicht fungieren können; Anthropologisches klingt auch an, wo Adorno von der „libidinösen Energie des Gattungswesens“ (AGS 6: 186) als der genetischen Grundlage des Bewusstseins spricht. Von Marx und Adornos Marx-Aneignung her gesehen meint der Mensch als solcher aber, zwar nicht kategorisch, so doch tendenziell – und gerade von der „uralte[n] und stets als Besitz neu erworbene[n] Vertiertheit der Menschen“ (ebd.: 341) her gesehen – eher das Gattungswesen als die Person im emphatischen Sinn,²⁰⁸ die innerhalb der psychodynamisch-gesellschaftlichen Sphäre von Individuum und Ich die holistisch höherstufige Zurechnungskategorie wäre, während der „Mensch“ gerade dafür nicht in Frage kommt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das eigentliche Zurechnungssubjekt dessen, was Adorno an der obigen Stelle „Mensch“ nennt und was an einigen Stellen als theoretisches Desiderat und klaffende Lücke seines Philosophierens sich aufweisen lässt, die Kategorie der Person ist.
„Der Mensch“ im emphatischen Sinn des Begriffs ist für Adorno lediglich die „Komplementärideologie zur universalen Entmenschlichung“ (NL 4/6: 250), d. h. die ideologische Verklärung der Vertiertheit proportional zu ihrem Fortgeschrittensein.
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4 Adorno: Negative Anthropologie
Adorno hat jedoch für diese Kategorie keinerlei Sinn und dies geht auf seine Haltung gegenüber Schelers Personalismus und vor allem gegenüber Heidegger zurück (vgl. Kap. 4.1.). Der Ausdruck „Neo-Ontologien der Person“ (AGS 6: 273) spielt auf das von Scheler maßgeblich geprägte philosophische Klima an, dessen Ambivalenz darin bestehe, dass einerseits der „Rekurs auf die Person als ethischen Grund“ (ebd.) programmatische Geltung erlange, zugleich aber die Person als das säkular-innerweltliche Absolute inthronisiert werde, das vom Vorfaschismus als ideologisches Vehikel entdeckt wird: Im Vorfaschismus haben Personalismus und Bildungsgeschwätz auf der Plattform von Irrationalität nicht schlecht sich miteinander vertragen. Person, als Absolutes, negiert die Allgemeinheit, die aus ihr herausgelesen werden soll, und schafft der Willkür ihren fadenscheinigen Rechtstitel. (Ebd.)
Es verwundert daher nicht, wenn Adorno den Personbegriff ideologiekritisch angreift und im Ganzen verwirft: „Das ideologische Unwesen der Person ist immanent kritisierbar. Das Substantielle, das nach jener Ideologie der Person ihre Würde verleiht, existiert nicht.“ (Ebd.: 274) Diese Zerschmetterung des Personbegriffs bei Adorno ist die Ausweitung der Ideologiekritik aus dem Jargon der Eigentlichkeit auf einen philosophischen Grundbegriff, der wesentlich älter ist als das, was Adorno angreift und als das, in dessen Namen er ihn angreift. Dass hier ein Stellvertreterkrieg geführt wird, wird aus Adornos Doppeldiagnose bezüglich Sein und Zeit und des Personalismus klar: „Sein und Zeit wirkte als Manifest des Personalismus.“ (Ebd.: 275) Damit wird alle Existenzphilosophie dem Personalismus zugeschlagen und die Spezifik seiner theologischen (und juristischen) Verwurzelung sowohl übergangen als auch verkannt. Außerdem ergibt sich aus der Ideologie des Personalismus kein „ideologische[s] Unwesen der Person“ (AGS 6: 274), als wäre ein Festhalten am Personbegriff per se personalistisch oder eines am Personalismus. Adornos Kritik am Personbegriff erschöpft sich darin nicht, sein Kant-Kapitel in der Negativen Dialektik enthält ebenfalls eine weitreichende Kritik desselben. Eine extrem komprimierte Zusammenfassung findet Adornos Kant-Kritik, soweit sie den Personbegriff betrifft, in dieser Passage: Im transzendentalen Subjekt, der als objektiv sich auslegenden reinen Vernunft, geistert der Vorrang des Objekts, ohne den, als Moment, auch die Kantischen objektivierenden Leistungen des Subjekts nicht wären. Sein Begriff von Subjektivität hat apersonale Züge. Sogar die Personalität des Subjekts, diesem das Unmittelbare, Nächste, Gewisseste, ist ein Vermitteltes. (AGS 6: 272)
Die Vermittlung hat sich als eine doppelte erwiesen: die durch die Gesellschaft im Individuum und die psychodynamische im Ich (siehe Kap. 4.3). Dass Adorno von der „Personalität des Subjekts“ spricht, lässt sich daraus erklären, dass der klassische Subjektbegriff bei Kant bereits eine Bestimmung erhält, die ihn sprengt; warum Adorno dies nicht ernstnimmt und nicht anerkennt, dass die Personalität des Subjekts
4.4 Personalität als kritische Leerstelle bei Adorno
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nach Kant als die Personalität der Person aufzufassen wäre, bleibt allerdings unklar. Zudem spricht Kant nicht von Personalität, sondern von Person und Persönlichkeit, unter letzterer „die Freiheit und Unabhängigkeit vom ganzen Mechanism der Natur“ (KpV: 210) verstehend, während die Person „als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist“. (Ebd.) Adorno trägt hier also die Sprache des 20. Jahrhunderts rückwirkend in Kant hinein, um Kants Subjektbegriff zu kritisieren und die oben erwähnten „apersonale[n] Züge“ (AGS 6: 272) – zurecht – in ihm auszumachen. Die apersonalen Züge sind die Rückseite des intelligiblen Wesens der Persönlichkeit; in der Behauptung desselben ist Kant für Adorno der Vorläufer der ideologischen Personalität: „Die Einheit der Person ist der Ort der Lehre vom Intelligiblen“ (AGS 6: 288), und das Intelligible die ideologische Errichtung einer Bastion gegen jegliches Vermitteltsein der Personalität durch die Gesellschaft wie durch die libidinös fundierte Ich-Dynamik. Im Überspringen solchen Vermitteltseins erst lässt sich „Moral als die Einheit der Person nach dem abstrakten Vernunftgesetz“ (AGS 6: 237) begründen, wodurch „Kants Sittenlehre […] der Totalität des Subjekts die Vorherrschaft über die Momente zu[spreche], an denen allein sie ihr Leben hat“. (Ebd.) So treffend der Ausdruck „Totalität des Subjekts“ gewählt ist, um zu porträtieren, was als Vernunftwesen an einer intelligiblen Ordnung partizipiert und dem Unterworfensein unter die Natur entzogen wird, so klar verletzt Adorno das Prinzip immanenter Kritik, indem er den Begriff des Moments hier verwendet. Von der Kantischen Logik her sind die Momente, durch die Adorno Kant über sich selbst hinaustreiben will, gar keine Momente der intelligiblen Ordnung. Wichtiger ist hier aber, dass Adorno Personalität gegen Kant gerade weder gemäß dem „Mechanism der ganzen Natur“ (KpV: 210) noch gemäß der Intelligibilität versteht, sondern materialistisch und insofern inhaltlich, indem er Personalität als eine Qualität versteht, die sich nicht im klassischen Subjekt unterbringen lässt. Allerdings weiß Adorno nicht, wohin mit der Personalität. Kant hat mit der Intelligibilität der Person die ideologische Kontaminierung des Personbegriffs vorbereitet, die Scheler und Heidegger in seinen Augen unheilvoll vollendet haben.²⁰⁹ Umso mehr sticht ins Auge, dass Adorno Personalität gegen Heidegger verteidigt, dem er vorhält, Dasein wesentlich als derpersonalisierte²¹⁰ Subjektivität aufzufassen und die Person damit um das zu bringen, was sich ihr de jure nicht exstirpieren lasse: „Das Wesen von Subjektivität als Dasein, thematisch in ‚Sein und Zeit‘, gleicht dem, was von der Person übrigbleibt, wenn sie nicht mehr Person ist.“ (Ebd.) Doch was ist sie, wenn sie noch Person im vollgültigen Sinne des Wortes ist? Die Kantische Person fällt aus Adornos Möglichkeitsrahmen, so dass das einzige, was ihm übrigbleibt, nicht mehr Person ist als das, was er als verdünnten Rest derselben bei Heidegger ausmacht, und zweitens überhaupt nicht Person im bildungssprachlichen Sinn des Wortes: „Das Auch Sonnemann hat diese Linie gesehen und explizit angesprochen: „Indessen deuten implicite Adornos Bestimmungen die Deutsche Ideologie schon bei Kant an“ (Sonnemann 1984: 302). An anderer Stelle: „Daß fürs Subjekt apersonale Ausdrücke wie Dasein und Existenz gewählt werden, indiziert das sprachlich.“ (AGS 6: 275)
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4 Adorno: Negative Anthropologie
dem allgemeinbegrifflichen Umfang der Person Kommensurable, ihr individuelles Bewußtsein, ist immer auch Schein, verflochten in jene transsubjektive Objektivität, die nach idealistischer wie ontologischer Lehre im reinen Subjekt fundiert sein soll.“²¹¹ (Ebd.) An anderer Stelle nennt Adorno die Einheit der Person das „Äquivalent der erkenntnistheoretischen Einheit des Selbstbewußtseins“. (AGS 6: 287) Mit dieser Bestimmung gibt Adorno Personalität im anspruchsvollen und keineswegs metaphysischen oder personalistischen Sinne auf. Es ist hier nicht nötig, in der Geschichte des Personbegriffs weiter zurückgehen als bis auf das Allgemeine Preußische Landrecht (ALR) von 1794, das Kant bestens vertraut war und das in Hegels Rechtsphilosophie gleichsam seine philosophische Kodifikation erhält. Karl Heinz Ilting analysiert die Differenz zwischen Selbstbewusstsein und Personalität bei Hegel treffend; er hebt hervor, dass „sich das Selbstbewußtsein auf der Stufe, die Hegel als Grundlage des abstrakten Rechts beschreibt, von dieser ‚Beschränktheit und Gültigkeit‘ [des natürlichen Willens, S. E.] befreit“ (Ilting 1982: 231), dass aber gerade dieses Selbstbewusstsein noch keine Personalität zu begründen imstande sei: Ein in diesem Sinne ‚abstraktes und zwar freies Ich‘ verdient nicht ‚Person‘ genannt zu werden; denn es ist noch nicht dazu übergegangen, als Bedingung der Verwirklichung seines Anspruchs auf Unabhängigkeit die Anerkennung des Anspruchs anderer auf eben dieselbe Unabhängigkeit zu begreifen. (Ebd.)
Iltings Ausführungen, die sich vornehmlich auf die Paragraphen 33 – 35 von Hegels Rechtsphilosophie beziehen, exponieren die entscheidende Differenz, die Adorno zum Verschwinden bringt, wo er das individuelle Selbstbewusstsein als das der Person Kommensurable ins Feld führt. Person ist kein Subjekt, sondern ein Zurechnungssubjekt, das Ansprüche erheben und sich gegen Ansprüche behaupten können muss.Was Ilting im obigen Zitat treffend erfasst, ist, dass die Person nicht schlicht ein positiver Bestand, dessen Vorhandensein sich eben empirisch aufweisen lässt oder nicht, sondern eine Institution der bürgerlichen Gesellschaft ist und als solche gerade die Rechtsperson fundiert und trägt. Mit der Rechtskategorie der Personalität wird eine personale Potentialität, die nicht jedem vollgültig zukommen und von ihm realisiert werden können muss, gesellschaftlich institutionalisiert. Dass Adorno in seinen Werken eine Fundamentalkritik der bürgerlichen Gesellschaft eloquent formuliert, rechtfertigt nicht ohne weiteres die Perhorreszierung des Begriffs bzw. Konzepts,²¹² die
Ebenso kennt Adorno „die individuelle Person“ (AGS 5: 149), welcher Ausdruck mit einem anspruchsvollen Personbegriff prinzipiell kompatibel ist, was von dem Ausdruck „raumzeitliche Person“ (ebd.: 264) nicht gesagt werden kann, weil darin lediglich das bloße, personalitätslose Einzelwesen als Person angesprochen wird. Im Paragraphen 182 erinnert Hegel eindrücklich daran, wer als Substrat der Dialektik des Allgemeinen und Besonderen in der bürgerlichen Gesellschaft fungiert: „Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, – aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede durch die andere und zugleich
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Adorno allerdings vollzieht, indem er in Bezug auf diesen Begriff einerseits lediglich Kant, Scheler und Heidegger explizite Bezugsgrößen in Betracht kommen und andererseits die Begriffsreihe von Subjekt, Individuum und Ich beim Individuum als der höchststufigen Entität abbrechen lässt.²¹³ Dieses Abbrechen ist zugleich das Abbrechen von Adornos Philosophie, sofern man sie als negative Anthropologie interpretieren will, d. h. die negativ-anthropologischen Motive, die sich als wichtig haben erweisen lassen, gehen nicht in ein Konzept der Personalität ein, das voll ausgebildete Individualität als ein Moment seiner selbst begreift. Die Rechtswissenschaft war keine der Disziplinen, mit denen Adorno sich eingehender befasst hat, mehr noch: Er hat den Sinn des juridischen Begriffs der Person in gewisser Hinsicht nicht verstanden.²¹⁴ Für Adorno sind die „juristischen Definitionen […] durchaus von einer ähnlichen Beschaffenheit wie die Weberschen Idealtypen“ (NL 4/15: 202), er interpretiert dies aber so, als würde die Jurisprudenz grobschlächtig „mit Begriffssystemen oder Begriffszusammenhängen […] operieren, als ob sie eine gewisse Selbständigkeit hätten gegenüber dem Material, auf das sie angewandt werden“. (Ebd.: 203) In Bezug auf den Personbegriff ist zu sagen: Die Jurisprudenz tut dies, aber darin liegt nicht ihre ideologische Verblendung, sondern ihre Humanität;²¹⁵ sie implementiert mittels der Ausrichtung ihres modus procedendi an
schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt.“ (Hegel 1989: 339) Hegel unterscheidet explizit zwischen den „Individuen der Menge“, die erst dadurch, dass sie „das Extrem der für sich wissenden und wollenden Einzelheit und das Extrem der das Substantielle wissenden und wollen Allgemeinheit in sich enthalten […] sowohl als Privat- wie als substantielle Personen wirklich sind“. (Ebd.: 411) Solches Nichtverstehen lässt sich nicht mehr negativ-dialektisch entschärfen, die hier auftretenden Verluste lassen sich durch kein Eingedenken der Natur im Subjekt mehr aufwiegen. Es handelt sich bei Adornos Verhältnislosigkeit zur Rechtswissenschaft um ein Verhältnis der Verhältnislosigkeit, nicht aber um eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi 2005: 43), es geht hier um keine „Trennung oder Separierung von etwas, das eigentlich zusammengehört, den Bezugsverlust zwischen Größen, die dennoch in einem Verhältnis zueinander stehen“ (ebd.), sondern um einen Mangel an Verständnis – letztlich gegenüber den entscheidenden Leistungen der institutionalisierten Praxis der Rechtspflege und ihrer wissenschaftlichen Kodifikation und Reflexion, aber auch gegenüber der Hegelschen Rechtsphilosophie als (kontributiver) geistiger Wegbereiterin der bürgerlichen Gesellschaft spezifisch bundesrepublikanischer Prägung. In solchem Nichtverstehen wird Adorno unfreiwillig zum Komplizen derjenigen, die glauben, die identitätspolitische Unterwanderung eines strikt sachvermittelten Rechtssystems könnte zu einer Emanzipation oder zur Verteidigung Einzelner gegen ein „unwahres Ganzes“ führen. Die Alternative zu dem, was Adorno fremd ist, heißt politische Justiz, und die bedarf keines Nationalsozialismus und keiner „Nazis“ (das ist eine unter bildungsfernen Adepten von Wikipedia Studies verbreitete optische Täuschung), sie muss nur die Identitätsblindheit der Justiz politisch unterminieren. Auf Kirchheimers (1993) Politische Justiz kann kaum zu oft verwiesen werden. Das hat auch Sibylle Tönnies klar gesehen und überdies daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass es darauf ankomme, sich von Adorno „zu befreien und zu dem Vernünftigen und Normalen zurückzufinden: zu der Bejahung des rechts als notwendigem und nützlichem Regulator des gesellschaftlichen Zusammenlebens, zu der Bejahung der Idee der abstrakten Gleichheit als der Voraussetzung von Demokratie und Humanität“. (Tönnies 1996: 17)
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4 Adorno: Negative Anthropologie
der verbindlichen Referenzgröße „Person“ das Gebot, jeden als Person und das Verbot, irgendwen als weniger vor dem Gesetz zu behandeln.²¹⁶ Auch ideologiekritisch sollte der Personbegriff sich eigentlich angeboten haben: Er ermöglicht es, die Fallhöhe zu vermessen und die Selbstunterbietung der Gesellschaft von ihren im Personkonzept artikulierten und konservierten Ansprüchen her zu kritisieren. Zudem benennt Personalität schlicht eine reale und deshalb anthropologische Möglichkeit, sie ist – das hier entscheidend – für eine Anthropologie verbindlich, die den Menschen in seiner spezifischen Potentialität begreifen will. Von der Pflanze zum Gattungswesen Mensch im Durchgang durch Unterscheidungen zu marschieren, reicht dafür nicht aus; das Individuum als „der Mensch“ der Neuzeit und der bürgerlichen Gesellschaft kann ebenso nicht der Endpunkt sein, denn sonst bricht die Vermittlung noch des Individuums und der Individualität nach oben hin ab, bevor die Rechtskategorie erreicht wird, mittels deren Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft mehr als nur Individuen zu sein beanspruchen können. Bei Adorno bricht diese Vermittlung ab, bei Plessner tut sie dies nicht. Bevor dieser Unterschied im nächsten Kapitel den Leitfaden einer synoptischen Gegenüberstellung der Negativen Anthropologien Plessners und Adornos²¹⁷ bildet, ist Adornos Verhältnis zu Sonnemann einer kurzen Betrachtung zu unterziehen, u. a. auch, weil Sonnemann den Personbegriff gänzlich anders bewertet als Adorno, ohne dadurch einen Weg zur Anthropologie zu finden, weil diese sich zwischen ihn und den Personbegriff stellt.
4.5 Adorno im Verhältnis zu Sonnemann Sonnemann macht, wie Adorno, den Ursprung des Personbegriffs in seiner deutschen modernen Fassung bei Scheler aus: „Das ganze Problem des Verhältnisses von Leben und Geist, Mensch als Organismus und Mensch als Person, wurde zuerst von Scheler erläutert, der, Freud nicht unähnlich, einen tiefsitzenden, wahrlich unversöhnlichen Antagonismus zwischen den zweien geltend macht.“ (S 2: 123) Die Ironie dieser Passage besteht darin, dass Sonnemann Scheler als Vorläufer von Freud anführt und ihm die Antezipation gerade desjenigen Antagonismus als theoretische Errungenschaft
Adorno gesteht den blinden Fleck ein: „Für mich selber hat eigentlich die Schwierigkeit, überhaupt jemals – ja ganz schlicht gesagt – juristisches Denken zu verstehen, immer an dieser Stelle bestanden, daß hier die Begriffssysteme, in einem sehr handgreiflichen Sinn thesei, gemacht, ausgedacht sind, sich an die Stelle der realen Verhältnisse und der realen Bedingungen der Entscheidungen gesetzt haben.“ (NL 4/15: 203) Dies ist einigermaßen verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Adorno auch dies gesagt hat: „Wer wie ich einmal erlebt hat, wie die Welt aussieht, wenn – sei es auch in der Sphäre der Legalität – dieses Moment der formalen Gleichheit einfach zugunsten von als apriorisch behaupteten inhaltlichen Bestimmungen vernachlässigt wird, der wird am eigenen Leib, sozusagen, oder wenigstens an der eigenen Angst spüren, welches unendlich Humane in diesem Begriff des Formalen auch enthalten ist.“ (NL 4/13: 351) Da auch hier der Begriff im paradigmatischen Sinne gemeint ist, verzichte ich hier auf die sonstige Binnendifferenzierung.
4.5 Adorno im Verhältnis zu Sonnemann
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konzediert, der für Adorno das Wesentliche Freuds und seiner radikalen Psychoanalyse darstellt (vgl. Kap. 4.3.3.3.), mit der doppelt ironischen Pointe, dass Sonnemann gerade dieses Festhalten Adornos an Freud als Schibboleth „authentischer Kritischer Theorie“ (S 3: 531 und Kap. 1.1.) gegen Habermas exponiert. Noch skurriler werden die Verschlingungen, wenn man in Betracht bezieht, dass Adorno umgekehrt pejorativ von Schelers „Metaphysik des Dranges“ (AGS 1: 329 und Kap. 4.1.) spricht und Scheler damit eher als Ausläufer Schopenhauer‘scher Denkfiguren denn als legitimen Vorläufer der Freud‘schen Psychodynamik darstellt. Aber auch anderweitig finden Adorno und Sonnemann, was den Personbegriff angeht, überhaupt nicht zueinander. Sonnemann spricht von „Freuds Person-Modell“ (Sonnemann 1984: 304) und vom „psychoanalytischen Bild der menschlichen Person“ (S 2: 153). So sehr er damit Freud eher gerecht wird als Adorno mit der Vermeidung des Personbegriffs zugunsten der Begriffe von Ich, Individuum oder Subjekt, so deutlich wurzelt Sonnemanns Begriffsverwendung in einem gänzlich anderen Verständnis von Psychologie und Psychotherapie, das Sonnemann an Ludwig Binswanger²¹⁸ gewonnen und entwickelt und später andeutungsweise an Alfred Lorenzer²¹⁹ weiterentwickelt hat. Weder Binswanger noch Lorenzer spielen eine Rolle bei Adorno; letzterer kann es aufgrund seiner erst nach dem Tod Adornos einsetzenden Wirksamkeit auch nicht. Dass Freud dem Personbegriff in Sonnemanns Augen nicht gerecht wird, zeigt nicht nur die oben (vgl. Kap. 1.1.4.) abgehandelte Psychoanalyse-Kritik Sonnemanns, die auch eine des psychoanalytischen Objektivismus ist, sondern auch die Gleichsetzung von Freuds Es mit Schopenhauers Willen, die wiederum gegen ein „Person-Modell“ bei Freud spricht, weil die übrigen Instanzen der Personalität dann – gemäß der panthelistischen Logik Schopenhauers – bloße Objektität des Es sein müssten. Das „Person-Modell“ (Sonnemann 1984: 304) Freuds ist gemäß der Negativen Anthropologie auch das Modell einer aus abstraktiven Spaltungen gewonnenen Aufteilung. Die Fallstricke des Objektivismus vermieden zu haben, rechnet Sonnemann Alfred Lorenzer und dessen „Umdeutung der Psychoanalyse aus einer Psychologie in eine Interaktionstheorie“ (S 3: 439) hoch an. Lorenzers Interaktionstheorie habe damit ein Doppeltes geleistet: Sie habe, das sei ein „entschiedener Durchbruch“ (S 3: 444), (1) das Problem zwischen Individuum und Gesellschaft gelöst, „an dem die Verständigung zwischen ‚Tiefenpsychologie‘ und ‚realdialektischer‘ Sozialtheorie bisher scheiterte“ (S 3: 439), und
Generell ist dort, wo Sonnemann sich mit Binswanger befasst, der Personbegriff praktisch omnipräsent, was u. a. daran liegt, dass Binswanger seinen Zentralbegriff des Weltentwurfs explizit als „Weltentwurf der Person“ (S 2: 477) begreift und die Daseinsanalyse als Begegnung von Personen, statt als asymmetrische Arzt-Patient-Relation konzipiert. Die Begegnung muss eine zwischen Personen sein, weil „Person“ das Zurechnungssubjekt des Handelns ist; die Alternative dazu wäre gerade der Objektivismus.Vgl. S 2: 431 f. In der Negativen Anthropologie ist Sonnemanns Verhältnis zu Binswanger zwar immer noch von Wohlwollen geprägt, doch nun stellt er heraus, dass auch Binswanger den Fallstricken des Objektivismus in seinem Anti-Objektivismus nicht gänzlich entgangen sei, vgl. S 3: 111 f. Vgl. Monade und Polis (1972) in S 1: 421 ff.
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4 Adorno: Negative Anthropologie
zwar durch die „Aufdeckung der vermittelnden Einheit, die Arbeit und Interaktion vor allem in der Produktion von Symbolen haben“ (S 3: 444); sie habe (2) in Gestalt „einer Revision der eigentlichen psychoanalytischen Theorie“ (S 2: 541) erstmals eine Theorie, ganz entgegen ihrem ursprünglichen technologischen Entwurf, durch Alfred Lorenzer auf die Praxis gegründet, die ihr angeblich bloß folgt: auf das, was der Analytiker tut, sofern sein Tun, jene Praxis, seinerseits ein beständiger interaktiver Prozeß von Entfernung und Annäherung ist, eine Selbstvermittlung von Theorie (ebd.).
Sonnemann schließt sich Lorenzer nicht vorbehaltlos an, wie z. B. aus der Kritik an dessen „Beschränkung seines Sozialisationsmodells auf die Familie“ (S 3: 440) hervorgeht, doch Lorenzers Modell der Psychoanalyse ist für Sonnemann das Verbindliche: Eine psychoanalytische Weiterentwicklung der Kritischen Theorie hat sich seiner Einschätzung zufolge an Lorenzer kritisch abzuarbeiten, nicht an Freud. Sonnemann unterscheidet sich noch einer doppelten Hinsicht von Adorno, bei der ebenfalls der Personbegriff eine tragende Rolle spielt. Die in Teil 1 dieses Buches skizzierte Negative Anthropologie ist als Erkenntnistheorie eine Theorie des spontanen und freien Erkennens im Zustand der Aufmerksamkeit. Das Subjekt dieser Erkenntnis ist nicht das philosophische Subjekt, sondern die Person; das Subjekt hingegen ist bereits ein Spaltungsprodukt, kein der Aufmerksamkeit in der Kathexis sich Darbietendes: „Indem aber die Selbstobjektivierung, die ja Selbstbeobachtung ist, die Person in einen Subjekt-, einen Objektpol spaltet, vernichtet sie diese Einheit“²²⁰ (S 3: 318). Die Person wird hier vom Subjekt klar unterschieden als die Zurechnungsinstanz des vollen, aufmerksamen In-der-Welt-seins als eines Der-Welt-zugewandt-seins. Die Subjekt-Objekt-Unterscheidung kann Plausibilität nur für den haben, der aus diesem Weltverhältnis herausgetreten ist und nicht mehr in es hineingelangt, der über keine lebendige Erinnerung an ein lebendiges Weltverhältnis verfügt und deshalb die Weltspaltung annehmen und tradieren muss als ein Resultat einer vermeintlich authentischen Welt- und Selbstbeobachtung. Hier ist nicht weiter auszubreiten, was in Teil 1 ausführlich dargelegt worden ist und was Sonnemann den „erkenntnistheoretischen Aspekt des Verhältnisses zwischen Person und Welt“ (S 3: 426) nennt. Die Person steht damit im Zentrum der Erkenntnistheorie der Negativen Anthropologie, die als solche ein Generalangriff auf jegliche Anthropologie ist. Von Sonnemanns oben zitiertem Verweis auf Scheler her kann dies irritierend wirken. Verständlich wird es, wenn man erkennt, dass Sonnemann dabei dem Phänomenologen Scheler noch in der Erkenntnistheorie der Negativen Anthropologie, deren systematisches Gravitationszentrum phänomenologisch codierte Begriffe wie die der Aufmerksamkeit und der Kathexis bilden, gegen den Ontologen und Anthropologen Scheler unausgesprochen die Treue hält, ohne sich im Einzelnen Schelerscher Bestände zu bedienen. Deshalb kann Sonnemann gegen alle ideengeschichtliche Plausibilität Personalität als schlechthin jeglicher Anthropologie Entgegengesetztes Hier auch bereits in Kapitel 1.1.1. zitiert.
4.5 Adorno im Verhältnis zu Sonnemann
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begreifen. Über „Wissenschaft, die mit dem Menschen befaßt ist“ (S 2: 581), sagt Sonnemann daher: Wissenschaft, die mit dem Menschen befaßt ist – und mit der Welt des Menschen in ihrer Unmittelbarkeit und Authentizität –, ist in ihre ‚Gegenstände‘ mit tausend Fasern selbst verstrickt und verschlungen; sie kann aus der Not dieser Bindungen gar nicht heraus, kann aus der Not nur sehr gut eine Tugend machen. Sie kann das darum, weil eben dieses Machen keines ist; weil das Personale, das Wesen, hier der Schlüssel zum Sachbereich ist; weil jede anthropologisch-wissenschaftliche Bestimmung, auch eine diesen Schlüssel explizit verleugnende, doch implizit und faktisch ihn immer insofern schon anerkannt hat, als sie nachweisbar eben Antwort (eine mehr oder weniger verständige) auf die Verständlichkeit des Persönlichen ist. (Ebd.)
Die Kalamität, welche die Uneinholbarkeit des spontan-aufmerksamen Weltverhältnisses darstellt, hält Sonnemann jeglicher Anthropologie vor und schließt dabei die Möglichkeit aus, dass diese in der Elaborierung der Ermöglichungsstrukturen solchen Weltverhältnisses anders vorgehen könne als die klassische Erkenntnistheorie, die im Medium der Subjekt-Objekt-Relation und ihrer Weltspaltung operiert. Dass eine Anthropologie sich mit Sonnemann einverstanden erklären könne, wenn es darum geht, das Personale als das Wesen und den „Schlüssel zum Sachbereich“ (ebd.) ihrer eigenen Reflexion anzuerkennen, scheint für Sonnemann, dem Denkmöglichkeiten Freiheitsbeweise sind, eine Denkunmöglichkeit zu sein. Sonnemann akzeptiert die Personalität als wesentliche Qualität und als zu lebende wie lebendige Voraussetzung der Kathexis und damit des nicht-verdinglichenden Weltzugangs, aber er verwirft sie in seiner Aversion gegen den Institutionalismus auch da als Institution, wo er sich unter dem rhetorischen Deckmantel der Anerkennung ihrer Substantialität auf sie als Institution beziehen muss, wenn das Band zwischen der Substantialität der Person und ihrer Existenz als juridisches Zurechnungssubjekt nicht zerschnitten werden soll. Wie gesagt, wurzelt Sonnemanns Sympathie für den Personbegriff vor allem in seiner Auseinandersetzung mit Binswanger und dessen Daseinsanalyse. Es zeugt auch nicht von einem connaisseurhaften Ästhetizismus, sondern von der Auffassung von Personalität als regulatives Ideal, wenn Sonnemann den Begriff der Bildung von ihr her emphatisch bestimmt.²²¹ Aber auch in seinem sympathetischen Porträt des Existentialismus in Existence and Therapy rekurriert Sonnemann nicht auf den Einzelnen, den Menschen etc., sondern gerade auf die Person: „Existentialistisch, bei Kierkegaard, ist, wie er den modernen ‚Ziffernmenschen‘, das abstrakte Individuum moderner Gesellschaftslehren, an die Wahrheit seines Existierens als Person gemahnt“. (S 2: 165) Hier wird Sonnemanns Verteidigung des Personbegriffs aporetisch,
„Eine Reflexion auf den ursprünglichen Sinn des Wortes Bildung, das jetzt mit den Vollzugs- und Konsumptionsmaterialien der Bildung, dem Faktenwissen und seiner Benützung für technische Meisterung des privaten Alltags synonymisiert ist, während es in Wahrheit die innere Formung der Person: ihrer Selbstbestimmung, ihres Charakters und Geistes, ihrer sozialen Potenz meint: also der Vernunft, des Gewissens, des Erkenntnisdrangs, des Geschmacks und des Urteils, schafft darüber schnell Klarheit, und die Geschichte bestätigt es“. (S 5: 166)
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4 Adorno: Negative Anthropologie
denn indem er die Person dem Existentialismus als apologetisches Reservat konzediert, aber der bürgerlichen Gesellschaft nur das Individuum übriglässt, verstellt er sich den Zugang zur Auffassung gerade dieser Personalität als Institution. Für Sonnemann ist der Institutionelle der schlechthin a- und anti-personale Typus,²²² das Institutionelle damit damit hinreichende Bedingung der Unmöglichkeit von Personalität. Dabei übersieht Sonnemann, dass Personalität als Institution gerade nötig ist, um Personalität als Substanz gegen „den Institutionellen“ schützen zu können; für Sonnemann undenkbar sind humane Instituierungsleistungen, die den totalitären Institutionalismus abwehren. Damit geht aber die Substantialität von Person auf indirektem Wege ein fatales Bündnis mit der Bereitschaft zur Ohnmacht gegenüber der Beschlagnahmung der Person durch einen totalitären Staat ein. Sonnemann liefert sich unter teilweise umgekehrten Vorzeichen dem gleichen Problem aus, dem auch Adorno sich ausliefert: Während Adorno sich den Zugang zum Personbegriff durch Scheler und Heidegger verstellt, verstellt Sonnemann ihn sich durch Gehlen als dem Repräsentanten des institutionalistischen wie des anthropologischen Denktypus (vgl. vor allem S 3: 331 f.); Sonnemann verstellt sich damit letztlich den ansonsten affirmierten Personbegriff ebenso wie die Denkmöglichkeit, dass es tatsächlich eine negative Anthropologie, statt nur eine so genannte Negation von Anthropologie überhaupt geben könne. Sowohl Sonnemann als auch Adorno verstellen sich aber dabei letztlich ironischerweise den Zugang zum von ihnen intensiv studierten Hegel und dessen Entfaltung der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, die als solche die Grundlage eines demokratischen Rechtsstaates und nicht, unabhängig von etwaigen totalitären Tendenzen, die eines totalitären Staates ist. In Sonnemanns Fall wird der Irrtum dadurch verständlich, dass für ihn nur eine genuin politische Revolution eine Nation gründen kann und keine bürgerliche Gesellschaft, so dass die Nachkriegsversion einer bürgerlichen Gesellschaft, da ihre Grundlagen keine revolutionär gelegten sind, nur das Elend gedanken- und gründungsloser, letztlich zu Degeneration verdammter Heteronomie darstellen kann (vgl. Kapitel 2.2.4.). Wie die Referentialisierung von Person ohne deren Absicherung als Institution ins Leere läuft, zeigt eine Stelle bei Sonnemann: „Am genauesten bezeichnet, wären die letztern [die noch ungeahnten, aber weckbaren Möglichkeiten der Menschen, S. E.] einfach solche einer Menschwerdung des gewöhnlichen Bundesbürgers: die Person, die den Begriff einer solchen erfüllt, würde von der gesellschaftlichen Ausnahme
Der Institutionelle ist im Wesentlichen die Verlängerung eines seiner Struktur und Anlage nach blind inhumanen, technokratischen Apparats in die Persönlichkeits- und Verhaltensstruktur von Menschen hinein, die dessen ausdrückliche und unausdrückliche Imperative (sowie seine geistige Physiognomie im Ganzen) internalisieren, repräsentieren und durch ihr Verhalten konsolidieren. Das, was der Institutionelle verhindert, ist Ungehorsam als Mittel zur Emanzipation: „Die Einübung des Ungehorsams ist darum die Angelegenheit aller. Ihre Alternative ist die Hühnerhypnose und was immer ihr in einer Geflügelexistenz folgt. Zum Apparat gehört mehr als die gesellschaftliche Sichtbarkeit seiner Betriebe, es gehört dazu ein Menschentyps, dessen Gedanken er bis in die Träume verbiegt.“ (S 5: 140)
4.5 Adorno im Verhältnis zu Sonnemann
231
erstmals in Deutschland zur Regel.“ (S 5: 71) Zur Regel können sie aber nicht werden, wenn nicht ein regulatives Ideal davon, was es heißt, eine Person zu sein, dieser Regel vorausliegt; als dieses regulative Ideal fasst Sonnemann, wie oben gezeigt, Person aber gerade dort auf, wo er sie substantiell (nicht substantialistisch) begreift. Sonnemann beansprucht hier aber eine Autonomie der Person, ihre sichere und sie absichernde Verwurzeltheit in nicht mehr als in ihr selbst, die der Unterscheidung zwischen Staat (als Komplement der Institution) und Recht (als Komplement der Person) in Kondylis‘ höchst lesenswerter Schmitt-Kritik entspricht; dort heißt es: Wenn wir annehmen, wir könnten Staat und Recht vollkommen voneinander trennen und es wäre eine Staatsordnung vorstellbar, die zwar keine Rechtsordnung, wohl aber eine juristisch klar und deutlich erfaßbare Größe bilden würde – wenn wir also annehmen, ein Staat im permanenten Ausnahmezustand sei juristisch denkbar –, dann müßte auch die juristische Ausarbeitung einer Verfassung und eines Verfassungsrechts auf der Basis der Ausnahme und nicht der Regel bzw. der Norm möglich sein. (Kondylis 1995: 334)
Wie wir diesen Ausnahmezustand nicht klar und verständlich regulativ fassen können, ohne ihn juridisch zu kodifizieren und zu erfassen, so können wir uns keine Person(alität) als Regelfall vorstellen ohne das Regelwerk, das die Bedingungen der Möglichkeit der Person, die als regulatives Ideal dienen könnte, sichert.²²³ Mit dem Böckenförde-Diktum ist es hier nicht getan, eine Absicherung muss auch von der anderen Seite her erfolgen: Wir brauchen ein Vorverständnis, an dem und dem her wir ein Verständnis gewinnen können, das wir juridisch implementieren, aber wir können unser Vorverständnis, aus dem heraus wir leben und leben wollen, nicht sichern, auf Dauer stellen und gesellschaftlich lebbar verständlich machen ohne seine Kodifizierung. Überspitzt gesagt bedeutet die Blindheit gegenüber der Notwendigkeit juridischer Kodifizierung, das schlechthin nicht Private einer geteilten kulturellen Identität (um den Begriff des Vorverständnisses hier holistischer und adäquater zu fassen) nach dem Modell einer Privatsprache aufzufassen und es als unantastbare Innerlichkeit gegen krude Apparathaftigkeit verteidigen zu wollen. Für eine derartige Institutionalisierung von Personalität und die Überführung des Hermeneutischen ins Institutionelle, hat Sonnemann aufgrund seiner unrechts- und totalisierungsfixierten Definition des Institutionalismus keinen Sinn. Der Personbegriff wird damit in seiner anspruchsvollsten Auffassung – jedenfalls im Rahmen dieser Studie – der Philosophischen Anthropologie Plessners überlassen. Um dessen Verhältnis zu Adorno geht es im folgenden Teil.
Kondylis fügt ausdrücklich hinzu: „Ich halte ein solches Projekt für nicht realisierbar“ (ebd.).
5 Negative Anthropologie als Logik des Zerfalls (Adorno) und als Logik der Personalisierung (Plessner) 5.1 Adorno: Zum Spannungsverhältnis zwischen der Logik des Zerfalls und der Negativen Anthropologie Joseph F. Schmucker hat den Ausdruck „Logik des Zerfalls“, den Adorno selbst verwendet (AGS 6: 149), in den Titel seiner Adorno-Monographie übernommen (Schmucker 1977). Schmucker macht eine Reihe von Zerfallserscheinungen aus, deren nur einige benannt werden sollen: Die Klassen sind „objektiv zerfallen“ (ebd: 58), Bildung und Kultur (vgl. ebd.: 92) sind es, Subjekt des Zerfallens ist das Subjekt selbst (vgl. ebd.: 101 und 108), die traditionelle Kultur (vgl. ebd.: 108) und letztlich sogar die Bedingungen der Möglichkeit eines nicht in sich zerfallenen Subjekts, nämlich dessen Konstitutions- bzw. Vermittlungsmomente von Allgemeinem und Besonderem, sind zerfallen: „Die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem wird auf der fortgeschrittensten Stufe der bürgerlich-abendländischen Zivilisation sistiert in der Identität des Zerfalls von beidem.“ (Ebd.: 81) Am Ende sieht er nichts, was von Adorno zurückzubehalten wäre, und erblickt in Adornos Werk eines, das unter den Bedingungen seiner eigenen (eingestandenen und entfalteten) Unmöglichkeit entstanden sei: Das Chaotische und Paradoxe an der Adornoschen Theorie insgesamt ist dadurch bedingt, daß sie nach ihren eigenen Kriterien gar nicht hätte geschrieben werden dürfen. Das bürgerliche Individuum, das sie voraussetzt und an das sie sich wendet, ist, wie sie selbst ausgeführt hat, schon längst nicht mehr. (Ebd.: 145)
Dabei übersieht Schmucker nicht nur, dass Adorno sich zwar, was die bildungssoziologischen Voraussetzungen der Lektüre seiner Schriften an das verblichene bürgerliche Subjekt, seinem Versöhnungsbegehren nach aber gerade an die Geschundenen der Gesellschaft wendet. Mit geschichtsphilosophisch begründeter Unfreiwilligkeit wiederholt Adorno, was Nietzsche offen tut: ein Buch für alle und keinen schreiben. Wichtiger allerdings als diese von Schmucker angesprochene Aporie ist im Hinblick auf die Logik des Zerfalls diejenige, dass Adorno einen Zerfall diagnostiziert und episch ausbreitet, der kein Ende kennt. Das Ende des Subjekts wird bereits in der Dialektik der Aufklärung verkündet (vgl. AGS 3: 73), nach 1945 setzt sich dann der Zerfall in demokratischer Maskierung fort, wovon etliche Schriften Adornos künden, denn der Ton ändert sich nach 1945 in überschaubarem Maß. Wenn unter so unterschiedlichen Bedingungen der gänzliche Zerfall des Subjekts stattfindet, der bereits in einem auch in akademischen Kreisen übermäßig verbreiteten Phänomen wie dem der
https://doi.org/10.1515/9783110773682-006
5.1 Zerfalls- vs. Personalisierungslogik
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Halbbildung nur noch eine „Selbsterhaltung ohne Selbst“²²⁴ (AGS 8: 115) als potentialitätslose Möglichkeit offenlässt, dann ist klar, dass dieser Zerfall samt seiner Rhetorik sich von keinem realhistorischen Ende abhängig machen will, d. h. auch: die Geschichte als Kriterium seiner Wahrheit oder Falschheit rundheraus verwirft.²²⁵ Es ist bezeichnend, dass Adornos Zerfallsdiagnose am Subjektbegriff ansetzt. Nicht zur Person wird das Individuum bei Adorno, sondern zum Subjekt, welches dabei wiederum zur anthropologischen Kategorie wird: „Zum Subjekt wird das Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewußtseins sich objektiviert, in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Erfahrungen: Tieren dürfte beides versagt sein.“ (AGS 6: 56) Gerade diese Einheit, sofern sie nur nicht die Einheit des individuellen oder des Bewusstseins überhaupt (des Bewusstseins des Subjekts) meint, ist die Einheit der Person, was Adorno weiß, auch wenn manche oben zitierte Stelle darauf hindeutet, dass Adorno Personalität in Individualität (und diese in ihrem formalen Substrat, welches das Subjekt ist) aufgehen lässt: „Der Freudsche Satz, daß ‚alle unsere Erlebnisse einen Sinn haben‘, d. h. daß alles innerhalb eines in sich geschlossenen, durch die Einheit der Person definierten Zusammenhanges stehen, von dem aus sie sich konstituieren, macht jedes Individuum zu einer kleinen Autarkie“. (Adorno 2016: 261) Statt diesen Gedanken weiterzudenken, erhebt Adorno das Individuum zum zentralen Ansatzpunkt seiner Zerfallsdiagnosen, weil Zerfall vor allem auch Zerfall von Differenz bedeutet; für die Formulierung dieses spezifischen Zerfalls bietet die Kategorie des Individuums sich an, weil der Personbegriff als solcher sich nicht um die Differenz zwischen den Individuen kümmert, solange diese Personen sind: Im Zeitalter seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich aus und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen sich auslegte. Angesichts der totalitären Einigkeit, welche die Ausmerzung der Differenz unmittelbar als Sinn ausschreit, mag temporär etwas sogar von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des Individuellen sich zusammengezogen haben.²²⁶ (AGS 4: 16)
Damit bezeichnet Adorno das, was der Halbgebildete betreibe (vgl. AGS 8:115). Dem eigentlichen Wortlaut entspricht es allerdings eher dem Dasein des Muselmanns bei Agamben. Ein Paradoxon der Zerfallsrhetorik ist, dass Adorno zugleich zugestimmt werden und die Bezeichnung durch die Kontextualisierung als völlig überzogen angesehen werden kann. Strukturell findet dramatischer Zerfall statt, wo phänomenologisch äußerst Verschiedenartiges sich zeigen mag. Das liegt wiederum daran, was Adorno aus der Geschichte zum Königskriterium erhebt. Ist der Zerfall mit dem Kapitalismus verschwistert, so bleibt er das ewigwährende Motiv der Existenz des Kapitalismus selbst, dann gilt: Solange der Kapitalismus existiert, so lange findet Zerfall statt; solange die Logik des Kapitalismus an Zugkraft gewinnt, so lange intensiviert sich der Zerfall. Aber wann existiert der Kapitalismus ohne das Subjekt, das seinetwegen im Zerfall begriffen ist? Wie lange muss es nach seinem Zerfall weiter zerfallen, bis es nicht mehr etwas, sondern wahrlich nur noch nichts ist? Vgl. auch AGS 6: 192.
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5 Negative Anthropologie (Adorno und Plessner)
Zumeist und als grundlegende Referenzkategorie des Zerfalls verwendet Adorno allerdings den Subjektbegriff. So spricht er vom „Zerfall des Subjekts in konvulsivische Augenblicke“ (ebd.: 271), von dessen historischem Zerfall (vgl. ebd.: 275), von der „Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen“ (AGS 8: 98), seine Essays über Kafka und Beckett sind die Sublimierung solcher Denkfiguren zu literarischen Porträts. Als eine Art systematisches Gravitationszentrum solcher Denkfiguren darf der bereits angeführte Ausdruck „Subjekt-Objekt der Repression“ (AGS 3: 230) aus der Dialektik der Aufklärung angesehen werden, denn die Repression benennt das gesellschaftliche und psychodynamische Ausschlagen des Vorrangs des Objekts im Sinne der doppelten Kannibalisierung des Subjekts: (1) vom Objektmoment als einem psychodynamischen Moment her, das im theoretisch durchgebildeten Sinne die „Nichtidentität des Subjekts mit sich“ (AGS 6: 294) zeitigt; (2) vom Objekt im schlichten Sinne des gesellschaftlichen Außen, das nicht selber Moment des Subjekts ist, d. h. der Repression in jeder Form, die keine psychodynamischer Art ist. Die in Kapitel 4.3 ausführlich erörterte Denkfigur des Subjekt-Objekts ermöglicht den Einfall der Zerfallslogik in die Konstitutionslogik des Subjekts selbst, denn wenn die höchste Kategorie, die de facto nur die allgemeinste ist, die des Subjekts unter dem Vorrang des Objekts ist, dann lässt der Zerfall sich daraus begründen, dass das objektive Moment des Subjekts selbst zu einer das Subjekt verschlingenden Totalität sich auswächst und das Subjekt kannibalisiert. Allerdings muss dazu die Dialektik der Momente Subjekt und Objekt ebenso wie die von Allgemeinem und Besonderem, die in Schmuckers Augen bei Adorno unter die Räder gekommen ist, beibehalten werden. Keine Zerfallsdiagnose ohne Formulierbarkeit der Diagnose. Zudem gliche eine Repression, die das Subjekt eliminierte, einem Parasiten, der seinen Wirt tötet: Wo vom Subjekt nicht mehr gesprochen werden kann, verflüchtigt sich auch dessen Repression. Die negative Anthropologie Adornos kann deshalb die Zerfallslogik nur als Zerfallsrhetorik entfalten und das spricht gerade für sie, weil daraus ersehen werden kann, dass ihre systematische Grundlage dieser Rhetorik widersteht. Oder, mit Adornos zentralem Topos gegen seine Rhetorik gesprochen: Die negative Anthropologie Adornos führt über den Naturbegriff gerade die Nicht-Identität in die Zerfallslogik ein, weil diese sich an dem bricht, was sie nicht zum Verschwinden bringen kann; die Repression der Libido schafft diese nicht ab, die Unterdrückung von Natur schafft Natur nicht ab, sondern diese kehrt als Unterdrückte im Menschen gegen die Unterdrückung expressiv wieder. Gerade die Codierung von Natur als Libido, Somatisches und Substrat des menschlichen Leidens eröffnet die Möglichkeit, Natur als Prinzip einer Utopie der Versöhnung prinzipiell imaginieren und dem Leiden einen systematischen Ort in Adornos Philosophie zu geben. Vor allem aber kann sie die logische Identität des Subjekts, wie sie bei Kant und Husserl vorherrscht, mittels des Natur- und Empfindungsbegriffs von innen her sprengen, wenngleich sie dazu der psychoanalytisch durchgeführten Entpurifzierung der Philosophie bedarf. Diese Entpurifizierung ist nicht als solche ein Problem, sondern deshalb, weil sie die negative Anthropologie als Fremdkörper innerhalb der philosophischen Systematik, in die sie eingeschleust wird, mitkonstituiert.
5.1 Zerfalls- vs. Personalisierungslogik
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Bei Adorno ist, anders als bei Plessner, Natur nicht primär Natur im biologischen Sinn. Wie die biologische Natur zur Natur des Subjekts gehört, so ist die Natur im Subjekt nicht mehr diese biologische Natur in unverwandelter Gestalt, sondern zweite Natur. Sie ist Natur als von Geschichte und Gesellschaft in Beschlag genommene und dieses In-Beschlag-genommen-sein dringt in die Poren dieser Natur selbst ein, deren Verwandlung aber nicht ihre Auflösung ist, denn in der avancierten Erkenntnis „wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste“²²⁷ (AGS 11: 29)²²⁸. Geschichte und Gesellschaft nennt Adorno, damit eine „gemäßigte Absolutheit“ benennend, auch Bann und Ideologie: „Bann und Ideologie sind dasselbe.“ (AGS 6: 342) Die Ideologie durchdringt das Subjekt, sie beschlagnahmt die Psychodynamik empirisch mittels der Kulturindustrie und wirkt dadurch wie ein Bann; sie erzeugt dabei die falsche Identität von Subjekt und Objekt bzw. die Inversion des Hegelschen Subjekt-Objekts unter dem repressiven Bann von Ideologie: „Mit der Gesellschaft ist die Ideologie derart fortgeschritten, daß sie nicht mehr zum gesellschaftlich notwendigen Schein und damit zur wie immer brüchigen Selbständigkeit sich ausbildet, sondern nur noch als Kitt: falsche Identität von Subjekt und Objekt.“ (AGS 6: 341 f.) Adorno präsentiert dem Leser damit nicht sein letztes Wort, sondern die Herausforderung, auf die das Projekt der Ideologiekritik zu antworten versucht. Diese wiederum bringt die hier dargestellte negative Anthropologie Adornos kritisch gegen Bann und Ideologie in Anschlag. Weil Ideologiekritik nötig und möglich erscheint und die negative Anthropologie ihre Grundlage bildet, ist die Absolutheit eine „gemäßigte“. Wo expressis verbis von der „Herrschaft des Menschen über sich selbst“ (AGS 3: 73) als der „Vernichtung des Subjekts“ (ebd.) die Rede ist, geht es logisch, ontologisch und anthropologisch um dessen Deformation. Nicht nur Hegel wird von Adorno umgekehrt, sondern auch Kant: Nicht, wie durch die Form des Subjekts Erfahrung möglich ist, ist Adornos Sache; sondern wie Erfahrung das Subjekt bis in seine Konstitution hinein deformiert: „Die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt, wesentlich Deformation.“ (AGS 10/2: 752)
Das geht in Philip Hoghs (2015) sprachphilosophischer Lesart Adornos verloren, weil Hogh die zweite Natur über die Sprache bestimmt, wodurch es zwar möglich ist, Adorno in sprachphilosophische Debatten einzubringen, was aber auch erforderlich macht, die soziologischen Motive Adornos sprachphilosophisch umzucodieren: „In einem ersten Schritt untersuche ich das Verhältnis von Sprach- und Subjektgenese, die ich schließlich in einem Begriff der Sprache als zweite Natur verknüpft sehe.“ (Ebd.: 17) Wozu diese Fokussierung auf die Sprache Hogh verführt, zeigt sich da, wo er die Vermittlung von Subjekt und Objekt zur Kommunikation zwischen beiden verklärt: „Statt vom Schrecken erfüllt zu sein, wäre der Name hier der Ort der gelingenden Kommunikation von Subjekt und Objekt und somit Ausdruck der Versöhnung.“ (Ebd.: 75) Hier ist mehr Habermas als Adorno in Adorno zu finden. Das vollständige Zitat lautet: „Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste“ (ebd.) und widerspricht der selektiven Zitierung nur, wenn man das Band zwischen der Philosophie und dem Essay als Form zerschneiden will, was darauf hinausliefe, Adornos Philosophie von innen her zu zersetzen und zu fragmentieren.
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5 Negative Anthropologie (Adorno und Plessner)
Anders als Adorno hält Plessner Kant die Treue; ihm geht es um die konstitutionslogisch-anthropologische Genesis der Person in einer derart detaillierten Weise, dass die Bedingungen der Möglichkeit von Personalität, die eliminiert würden müssten, um Personalität zu eliminieren, klar angebbar sind. Im Folgenden geht es um die Logik von Plessners Negativer Anthropologie und darum, wie diese Verfallsdiagnosen Grenzen setzt, indem sie ihr Kriterien vorgibt.
5.2 Plessners Logik der Personalisierung Plessners Negative Anthropologie gibt keine Logik der Deformation, sondern Bedingungen der Möglichkeit und der Formation und realen Entwicklung von Personalität (Personalisierung). Ontologische Grundlage der Personalisierung im grundsätzlichen Sinne ist die Ontologie des Ausgleichs; die diese spezifizierende sozialontologische Grundlage der Personalisierung im engeren Sinne ist das privat-öffentliche Doppelgängertum, wie es im Spiel von Leibsein und Körperhaben und in der Sprache sich medial entfaltet und Gestalt annimmt. Das transzendentallogische Komplement der Ontologie des Ausgleichs im Hinblick auf das gelebte Leben von Personen und in der Personalisierung begriffenen Menschen ist das privat-öffentliche Doppelgängertum, in dem Leibsein und Körperhaben sowohl strukturelle Voraussetzung als auch zu gestaltende mediale Realität sind. Unaufhebbar von Anfang an im Körperleib existierend, sind wir uns zugleich gegeben (im Leib) und nicht-gegeben (im Körper, sofern er z. B. von außen beurteilt wird) und können uns doch gegeben sein (z. B. indem wir über bestimmte Situationstypen des Beurteiltwerdens Souveränität erlangen). Aber auch der Leib kann z. B. im Fall der Krankheit für uns Körper sein, d. h. schwer erträgliche Last, der wir durch medikamentöse Behandlung zur Wiedererlangung des Zustandes verhelfen, worin wir wieder ungestört wir selbst sein können; der in der Behandlung angestrebte Zustand des Körpers macht ihn für uns zu etwas Bewohnbarem, er ist uns dann im geradezu dualistisch vom Körper unterschiedenen Erfahrungsmodus²²⁹ der Leiblichkeit gegeben. Was statthat, wenn wir uns mit anderen Augen sehen, ist eine Verdoppelung; diese ist keine kontingente psychologische Möglichkeit, sondern anthropologisch mit der exzentrischen Positionalität gegeben: Sein Doppelgängertum kann der Mensch nicht aufheben, ohne seine Menschenhaftigkeit zu negieren. Er kann in ihm keine Verdoppelung beklagen und sie gegen das Ideal des ursprünglichen Einsseins ausspielen, denn eins sein kann ich nur mit etwas, mit jemandem, und wäre es sogar mit mir. Am anderen wird der Mensch seiner habhaft.
Dass ein „gefühlter Dualismus“ aus der Widerwilligkeit gegenüber Kranksein hervorgehen kann, berechtigt nicht zum ontologischen Dualismus. Auch im Muskelversagen infolge der Anstrengung, die gerade auf dieses abzielt, verselbständigt der Körper sich, allerdings im leiblichen Genuss der gewollten und gezielt evozierten Erschöpfung.
5.2 Plessners Logik der Personalisierung
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Die Verdoppelung darf nicht nach einer konkretistisch reduzierten Spiegelmetapher verstanden werden, das Doppelgängertum ist an keinen faktischen Doppelgänger gebunden. Im Doppelgängertum sieht nicht dieser oder jene Einzelne sich als dieser oder jener Einzelne doppelt. Denn der Einzelne sieht sich als Person von dem her, was nicht er selbst ist, selbst wenn er sich von sich selbst her zu sehen versucht, denn dazu bedarf er des durch das Doppelgängertum vermittelten Bildes von sich selbst. Selbst da, wo er sich im Spiegel sieht, sieht er nicht einfach sich, sondern, indem er sich sieht, zugleich dieses Sehen selbst, d. h. er sieht mit sich zugleich jemanden, weil er weiß, wie man jemanden sieht und deshalb einen solchen Jemand konkret simulieren kann; das Man und das nicht mehr wahrnehmungspsychologisch reduzierbare Sehen sind im Sehen seiner selbst formativ präsent. Die Verdoppelung ist möglich durch die exzentrische Positionalität und die mit ihr gegebenen Möglichkeit, sich in der Selbstdistanz zu objektivieren. Plessners spätere Schriften – seit Die Frage nach der conditio humana – , elaborieren das „Woher“ dieser Selbstvergegenständlichung, das nicht nach dem Reflexionsmodell des seiner selbst innewerdenden oder sich selbst betrachtenden Subjekts zu denken ist. Die exzentrische Positionalität ist eine objektive Negativität struktureller und naturphilosophisch-ontologischer Art, weil sie als Positionstypus ein strukturell negatives Weltverhältnis desjenigen Organismus, der als menschliche Person lebt, ermöglicht. Zugleich eröffnet sie auf einer höheren Ebene das Verhältnis zu einer objektiven Negativität struktureller und naturphilosophisch-sozialontologischer Art, indem die Anthropologie auf eine Realität hin geöffnet wird, die eben nicht bloß ein Begriff oder ein Konzept, sondern eine Realität und ein Medium der Entfaltung des privat-öffentlichen Doppelgängertums ist, nämlich die Realität der sozialen Rolle: „So stützt sich der funktionelle doch auf den anthropologischen Rollenbegriff, der das Verhältnis des Rollenträgers zu seiner Rolle im Auge hat und damit das Doppelgängertum des privaten und öffentlichen Menschen als seine Voraussetzung festhält.“ (PGS 10: 232; Hervorhebung, S. E.) Die Rolle meint hier nicht diese oder jene Rolle, sondern – darin besteht der anthropologische im Unterschied zu einem bloß soziologischen Sinn – Rolle als konkrete Objektivation der „Struktur elementarer Rollenhaftigkeit“ (PGS 8: 199). Rolle im Sinne der Rollenhaftigkeit ließe sich auch bezeichnen als ein mediales Strukturgefüge ohne Zentrum und diese Zentrumslosigkeit einer eigenständigen Medialität, mit der die Personalität in ihrer negativ-ontologischen Struktur sich zu vermitteln hat, vertieft Plessners Negative Anthropologie noch einmal entscheidend als negative. Das Verhältnis des Rollenträgers als Person „zu seiner Rolle“ als Rolle ist deshalb auch nicht die eines Subjekts zu sich selbst, sondern zu einem Dritten, das weder ich (als Subjekt) noch ein Anderer (als Objekt oder konkretes Gegenüber) bin, sondern etwas, worin ich mich selbst personalisiere, was ich mir aneigne, worin und wodurch ich mich von mir unterscheide – im Umgang mit anderen, mit denen ich mich identifizieren und von denen ich mich unterscheiden können muss, um mich selber bestimmen zu können (was auch für die Anderen gilt, die, wie ich, in diesem Prozess auf die der Subjekt-Objekt-Unterscheidung enthobene Realität der Rolle verwiesen sind). Entscheidend ist deshalb: Seine Rolle, zu der der
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5 Negative Anthropologie (Adorno und Plessner)
Mensch in einem Verhältnis steht, welches er wiederum als Person reflexiv konstituieren muss, ist zugleich nicht seine, denn sie ist als Rolle per se ein Objektives gegenüber der Aneignung durch ihn. Zu sagen, dass er als Subjekt im Verhältnis zur Rolle als Transsubjektivem stünde, hieße nur, nichts durch zu wenig zu ersetzen, denn die Frage, wie das Verhältnis zur Rolle einerseits und diese überhaupt als solche sich ausgebildet hat, findet in dieser Subjekt-Objekt-Terminologie keinen Grund einer befriedigenden Antwort;²³⁰ mehr noch, gerade die Subjekt-Objekt-Dyade erlegt Adorno die Quadratur des Zirkels auf, den Versuch, das Ungenügen an der Dualität innerhalb ihrer selbst zu überwinden bei gleichzeitiger Unübersetzbarkeit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in pragmatische Verhältnisse wie die Organismus-UmweltRelation, ohne diese wiederum überstrapazieren und den Personbegriff im Organismus unterbringen zu müssen. Trivialerweise existiert die menschliche Person auch als Organismus, aber mit der untrivialen Besonderheit, bereits auf dieser Ebene ihrer Existenz mehrfach in struktureller Negativität verwurzelt zu sein: Die im vorigen Teil skizzierte Ontologie des Ausgleichs (Kap. 3.3..4– 3.3.7; Edinger 2017: 335 ff.) stellt den Organismus in ein Umweltverhältnis, das sich aufgrund der exzentrischen Positionalität als personales und als solches als Welt- und Selbstverhältnis zusätzlich auskristallisiert. Im personalen Ausgleich findet nicht nur die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit im Kontakt mit der Umwelt statt, sondern in der Selbstvermittlung bricht das personale Selbst von der Welt her und auf Welt hin auf. Der entscheidende Unterschied zu Adorno besteht darin, dass die Person als Subjekt des ontologisch fundierten Ausgleichs nicht im gelebten Ausgleichsgeschehen durch anonyme Mächte „durchgestrichen“ werden kann; auch das Scheitern der Person an den Verhalten den Grenzen ist personales Scheitern, die Person scheitert, wie nur eine Person scheitern kann (z. B. im ungespielten Lachen und Weinen).Vor allem aber kann die Personalität der Person nicht dergestalt angetastet werden, dass sie dadurch gleichsam „verschwinden“ oder Das gilt nicht nur für das Verhältnis zur Rolle oder Rollenhaftigkeit, sondern bereits für das Verhältnis von Subjekt und Leib als constituens seiner selbst. Was es heißt, dass ein Lebewesen von klein auf in einem Leib steckt, den andere oft vor allem als Körper sehen, beobachten und erfahren, darüber gibt die These, der Leib sei als Subjekt auch Objekt, keine Auskunft. Das Subjekt mag als Subjekt Objekt sein, aber der Leib ist kein abstraktes Konstitutionsmoment, sondern als Körperleib ein konkretes Medium, in dem die Bedeutungssphären von Subjektivität und Objektivität sich dadurch konstituieren, dass eine Person als eine der zweistelligen Relation von Subjekt und Objekt übergeordnete Einheit sich selbst als Leib und damit nicht als stummes Fühlen, sondern als in der Durchgegebenheit auf Anderes konstituierte Bedeutungssphäre gegeben ist. Die Person kann sich in ihrer leiblichen Verfasstheit selbst als solche erfahren und zugleich von einer anderen Gegebenheitsweise (Körper) her denken bzw. verstehen, jedoch als mehr und anderes als ein Objekt, das Moment eines Subjekts ist. Die Dualität von Subjekt und Objekt lässt sich auch im Begriff des Subjekt-Objekts nicht in die konkrete Doppelseitigkeit des Körperleibs übersetzen, die wiederum nur ein (nicht: das) mediales Worin der Personalisierung benennt. Das Subjekt-Objekt hat keinen medialen Sinn und ist nicht mit Medien wie der Sprache verschränkt; es ist kein konkretes individuatives Medium und kein sozialer Bedeutungsträger, nicht Medium von Expressivität, auf die sprachlicher Sinn sich vermöge seiner medialen Logik in der Verschränktheit der medialen Logiken bezieht.
5.2 Plessners Logik der Personalisierung
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eliminiert werden kann oder dass ihre Ermöglichungsbedingungen durch einen fatalistisch-geschichtsphilosophisch verstandenen Bann unterminierbar wären. Wären die Ermöglichungsbedingungen antastbar, so wäre dies Zeugnis eines invertierten negativen Kantianismus und eine Entfaltung der Bedingungen der Unmöglichkeit dessen, was als möglich erwiesen werden soll. Zugleich würde dieser invertierte negative Kantianismus nur in einer Übertreibung (wie Schmucker sie in der „Logik des Zerfalls“ ausmacht) durchgespielt werden können: Weil dem Anschein nach im Modus des gänzlichen Zerfallens eskamotierbar sein können soll, was bei solchem Eskamotieren als (nicht nur) dieses Instanziierendes in Anspruch genommen werden muss, nämlich Personalität, sollen die Bedingungen der Möglichkeit derselben selber geschichtliche sein statt geschichtliche Gestalt fundierende; auf die Eigenständigkeit strukturfunktionaler²³¹ Ermöglichungsbedingungen gegenüber Geschichtlichem würde reagiert, indem beide im Geschichtlichen aufgelöst würden und damit im defätistischen Sog gerade nicht mehr miteinander vermittelt, sondern beide im Schlund der Geschichte verschwinden würden. Plessners methodologischer Individualismus, der tatsächlich ein methodologischer und kein verkappter axiologischer ist, bewahrt die Negative Anthropologie davor, selber der Negation ihrer Grundlagen anheimzufallen. Woran Plessner wie ansetzt, lässt sich nicht geschichtsfatalistisch eskamotieren. Die negativ-anthropologischen Bedingungen der Personalisierung immunisieren nicht die Person gegen Geschichte und Gesellschaft, sie sind als solche gegenüber Geschichte und Gesellschaft indifferent; ihre Ausgestaltung und vor allem die konkreten Ausgestaltungsmöglichkeiten hingegen sind dies keineswegs. Der äußerste Gegenbegriff zu Plessners Personalitätskonzept ist Giorgio Agambens Muselmann (vgl. Agamben 2003: 36 ff.), doch das Porträt, das Agamben mit dem Muselmann gibt, ist keines von Depersonalisierung, sondern von Entmenschlichung überhaupt.²³² Der Muselmann ist das Bild dieses Zustandes, nicht mehr Mensch und nicht nicht Mensch, eine inkorporierte zuständliche Potentialität der nurmehr noch organischen Grundlage von Personalität. In einigen seiner Formulierungen rückt der negative invertierte Kantianismus Adornos ihn eher in die Nähe Agambens als in die Plessners. Nicht nur die ontologische Fundierung des methodologischen Individualismus ist hier entscheidend, sondern auch die Mehrfältigkeit struktureller Negativität: (1) Als Konstituens der Struktur des personalen Organischen in Form der humanspezifischen Gestalt der Ontologie des Ausgleichs; (2) in der exzentrischen Positionalität als einem Positionalitätstypus, in dem das Organismus-Umwelt-Verhältnis in ein OrganismusUmwelt-Welt-Verhältnis transformiert wird, das sich selbst prinzipiell gegenständlich verfügbar ist; (3) in der „Struktur elementarer Rollenhaftigkeit“ (PGS 8: 199) des privatöffentlichen Doppelgängertums, in dem die Ontologie des Ausgleichs in einer klar
Vgl. Krüger 2009: 14; Krüger 2019: 180, 579 und 607. „Der Muselmann […] ist der Wächter an der Schwelle einer Ethik, einer Lebensform, die dort beginnt, wo die Würde endet.“ (Ebd.: 60)
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gefassten negativen, d. h. versöhnungslosen Struktur medialer Verschränkungen gefasst wird, (4) in der aus der anthropologischen Rollenhaftigkeit erwachsenden Selbständigkeit der Rolle als einer semantisch codierten Realität, die als unbegrifflichkonzeptueller Kompass in der Entwicklung, Aneignung und dem Verstehen von Rollen horizonthaft präsent ist. Was Adorno „Nichtidentität mit sich selbst“ (AGS 6: 150) nennt, ist von Plessner her sowohl ontologisch wie sozialphilosophisch in der Personalisierung im Einzelnen ausbuchstabierbar. Den umfangreichsten, zweibändigen Versuch, das phänomenale Spektrum zwischen Lachen und Weinen darzustellen, hat Hans-Peter Krüger unternommen (Krüger 1999 & 2001; siehe auch Edinger 2017). Um aber noch einen gewichtigen Hinweis in der Abgrenzung Plessners von Adorno zu geben: Bei Adorno existiert, wie in Kap. 4 gezeigt, keine holistische Terminologie, die es erlaubt, eine Subjekt, Individuum und Ich übersteigende Sinneinheit zu erfassen, und auch zwischen diesen Begriffen changiert Adorno durchweg, weil der Integrationsbegriff, der gerade der Personbegriff sein könnte, bei ihm fehlt. Der Pluralismus der Sprachspiele, die Adorno virtuos handhabt, verdeckt den Mangel an systematischer Integration. Der Philosoph Adorno spricht vom Subjekt, der Psychoanalytiker Adorno vom Ich, der Soziologe Adorno vom Individuum. Jedes dieser Sprachspiele und alle zusammengenommen können gespielt werden, ohne dass Personalität als Realität aufscheinen muss, obwohl sie der letztendliche Bezugspunkt dieser Sprachspiele ist. Hätte es auch einen Rechtswissenschaftler Adorno gegeben, er hätte sehen müssen, dass Humanität nicht ohne das Zurechnungssubjekt der Person und die Gesellschaft, die sie nicht nur als Faktum, sondern als Institution anerkennt,²³³ auskommen kann²³⁴ – egal, wie sehr der Natur im Subjekt eingedacht wird.²³⁵ Insofern lässt sich auch sagen: Adorno hat die
Wäre dies der Fall gewesen, hätte Habermas sein drittes Defizit der Kritischen Theorie nicht zurecht so formulieren können: „Für mich sehr relevant geworden ist der dritte Punkt: auf der Ebene der politischen Theorie haben die alten Frankfurter die bürgerliche Demokratie nie so recht ernst genommen.“ (Habermas 1985: 172) Und/oder sie haben ihre geistigen Grundlagen nie so recht verstanden. Hier trifft Oskar Negt ins Schwarze: „Nicht die sogenannten höheren Kulturwerte waren es, die das Oppositionspotential gegen die räuberischen Praktiken des Kapitals bündelten, sondern ebenjene zu Institutionen geronnenen politischen Freiheitsrechte, deren Substanz sich nie darin erschöpfte, dem Kapital die ihm entsprechende Herrschaftsordnung zu sichern. Nicht nur für das Kapital lassen sie sich gebrauchen, sondern auch gegen seine hemmungslose Praxis.“ (Negt 2016: 134) Nimmt man den nächsten Satz Negts noch mit in die kritische Rückfrage auf, kann man die Frage aufwerfen, ob Adorno für die juristische Dimension emanzipatorischer Bewegungen auch deshalb blind war, weil er an genuin politischen Widerstandsformen eher desinteressiert war; die Blindheit wäre dann eine für die Elemente eines Junktims: „Die in den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnungen entstandenen Arbeiterbewegungen haben deshalb nicht darauf verzichten können, diese politische Freiheitsrechte und die ihnen entsprechenden institutionellen Garantien für den eigenen Kampf in Anspruch zu nehmen.“ (Ebd.: 134 f.) Vermutlich resultiert daraus die Einvernehmlichkeit im gegenseitigen Nichtverstehen, von der der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm auf humorvollere Weise autobiographisch Zeugnis ablegt: „Natürlich war ich in Frankfurt bei Horkheimer und Adorno. Horkheimers Vorlesung über die Idee der
5.2 Plessners Logik der Personalisierung
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Ambivalenz der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu Ende gedacht, denn er sieht zwar das Individuum und die Verselbständigung des Kapitalismus, nicht aber die Person,²³⁶ die sowohl die Rechtsordnung begründet und trägt, aber als Ansprüche gegenüber der Ordnung im Ganzen qua Verkörperung begründende Instanz eine normative Sicherheitsabsperrung der bürgerlichen Gesellschaft gegen ihre eigene Unterminierung darstellt. Dass diese Sicherheitsvorkehrungen auf dem Papier existieren und die gesellschaftliche Praxis ihrer spotten kann, spricht noch nicht gegen die juridische Kodifikation des normativen Horizonts der bürgerlichen Gesellschaft als solcher. Anders als Adorno unterscheidet Plessner grundsätzlich zwischen Personalität und Individualität: „Personalität und Individualität bezeichnen Positionscharaktere im Verhältnis zum eigenen Körper und damit zur Umgebung“ (PGS 8: 302 f.), d. h. sie verkörpern den Unterschied zwischen exzentrischer und zentrischer Positionalität. Als Biologe hat Plessner ein anderes, weniger emphatisches Verständnis von Individualität, das sich nicht grundsätzlich auf durch eine mehr oder weniger ausgebildete Individualität sich auszeichnende Menschen bezieht; Tiere sind für ihn „Individuen ohne Personalität“. (Ebd.: 298) Plessner führt aus, dass „Personalität Öffnung nach innen heißt, Individualität aber ihrer ermangelt“ (ebd.: 299); Öffnung nach innen heißt auch Eröffnung eines Innen und interne Differenzierung des Innen gemäß verschiedenen Aspekten (Leib/Körper, Privates/Öffentliches) in vermittelnder Gestelltheit gegen ein Außen. Personen hören nicht auf, Individuen zu sein, doch sie sind Individuen, „die dank ihrer Personalität sich als Individuen gegenübertreten“. (Ebd.: 305) Personen sind es auch, die innerhalb der Geschichte in die Geschichtlichkeit als solche einzutreten vermögen, die ein „notwendig-mögliches ‚Zu sich Durch- und Aufbrechen‘ (Bewußtwerden und Übernehmen des eigenen Schicksals) zur je eigenen Personalität“ (PGS 5: 156 f.) zu leben und reflexiv als mögliche Notwendigkeit auf sich zu nehmen vermögen. Die hier umrissenen Unterschiede ergeben sich natürlich nicht daraus, dass Plessners Philosophie „besser“ als die Adornos wäre, sondern maßgeblich daraus, dass Plessners Negative Anthropologie im emphatischen Sinn eine Anthropologie ist, während im Gravitationszentrum von Adornos Denken – in der Subjekt-Objekt-Dialektik und im psychodynamischen Ich-Begriff – negativ-anthropologische Motive verwurzelt sind, aber vor allem als Korrektive eines der Natur sich überhoben wähnenden Idealismus und als romantischer Fluchtpunkt einer unerreichbaren Versöh-
Freiheit hat mir viel vermittelt. Adorno verstand ich nicht. Streckenweise unterhielt ich mich einfach damit zu prüfen, ob er seine Schachtelsätze korrekt zu Ende brachte. Er tat es.“ (Grimm 2017: 41) Ironischerweise erweist Adorno sich in diesem Verfehlen des Niveaus, auf dem Hegel die bürgerliche Gesellschaft konzipiert, zugleich als Hegelianer, wenn man von Hegels Geschichtsphilosophie her denkt, in der Individuen als Aktionseinheiten der Geschichte angesetzt werden und nicht Personen: „Dieser partikuläre Inhalt ist so eins mit dem Willen des Menschen, daß er die ganze Bestimmtheit desselben ausmacht und untrennbar von ihm ist; er ist dadurch das, was er ist. Denn das Individuum ist ein solches, das da ist, nicht Mensch überhaupt, denn der existiert nicht, sondern ein bestimmter.“ (Hegel 1986a: 38)
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nung in Anschlag gebracht werden. Adornos negativ-anthropologische Denkmotive sind, wie gezeigt, gewichtig und haben eine organisierende Kraft in seinem Denken, allerdings als Motor einer ohnmächtigen normativen Teleologie der Versöhnung, die machtlos-sehnsüchtig einer in Gestalt von Bann und Ideologie verkörperten übermächtigen deterministischen Teleologie als eine negative Gegenteleologie²³⁷ gegenübersteht und der der Glaube an ihre eigene Realisierbarkeit fehlt. Plessners innere Teleologie ist organisierendes zentrales Element seiner Negativen Anthropologie, nicht negativ-anthropologisches Moment einer melancholischen Philosophie der Freiheit im Angesicht einer entfesselten Naturbeherrschung. Worauf Adorno mit der Versöhnung zielt, findet in Plessners Ausgleich kein spiegelbildliches Komplement. Worin Plessner und Adorno jedoch grundlegend und deutlich weitreichender übereinstimmen, ist die fundamentale Rolle der Natur innerhalb einer negativ-anthropologischen Konstitutionslogik: Adorno fasst dabei die Natur sowohl als Vermittlungsbegriff als auch als Konstitutionsmoment (und damit als mehr als ein bloßes Element einer dialektischen Faktorenanalyse, das bei der Erstellung eines abgerundeten Bildes von Adornos Philosophie beachtet werden sollte) auf, das sich nicht übergehen lässt, ohne dass Adornos Idealismus-Kritik und seiner Aneignung der Psychoanalyse nicht der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Plessners naturphilosophische Grundlegung seiner Philosophischen Anthropologie erlaubt es, dieselbe auf die Formel zu bringen: Der Mensch ist sich selbst verstehende Natur, d. h. Natur, die sich selbst als menschliche Natur nur realisieren kann, wenn sie in der Distanzierung ihrer selbst ansichtig wird. Diese Gemeinsamkeit wird leicht dadurch verdeckt, dass Plessner der Unergründlichkeit des nicht in der nur scheinbar tautologischen „Identität mit sich selbst“ aufgehenden Menschen eine pragmatische Bestimmung verleiht, während Adorno Natur zwar als Fundament (im Sinne des nicht eskamotierbaren dialektischen Moments), als solches aber zugleich als unterdrückte und zu befreiende Natur begreift, ohne dass diese Befreiung auf eine (Lebens‐)Gestaltung beschränkbar und damit für einen pragmatischen Horizont systematisch zu öffnen wäre. Plessner und Adorno konvergieren nicht nur in wesentlichen kritischen Grundmotiven, die die systematischen Grundlagen ihrer Philosophie berühren, sondern darüber hinaus in Grundmotiven ihres Philosophierens, wo es um zeitdiagnostische und geschichtsphilosophische Fragen geht. Diese Übereinstimmungen werden in den folgenden beiden Kapiteln unter dem Namen der negativ-anthropologischen Konvergenzen behandelt. Es handelt sich erstens um die negativ-anthropologische Kon-
Vgl. auch Kapitel 6. – Die Ohnmachtsproblematik bei Adorno ist die Rückseite einer unfreiwilligen Anerkennungsleistung, nämlich die der vollendeten Totalisierung rationaler Zweckmäßigkeit, die bei Adorno in übermächtige Unvernunft umschlägt. An die Stelle der Vernunft als Subjekt bei Blumenberg tritt bei Adorno die Unvernunft als dialektische Resultante eines entgleisten Fortschrittsprozesses. In der folgenden Passage Blumenbergs ließe sich von Adorno her „Vernunft“ durch „Unvernunft“ substituieren: „Die Vernunft als Subjekt der Geschichte ist nur eine Metapher dafür, daß Fortschritte zum Fortschritt integriert werden können, weil sie einem homogenen Kriterium unterliegen, nämlich dem der rationalen Zweckmäßigkeit.“ (Blumenberg 2015: 263)
5.2 Plessners Logik der Personalisierung
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vergenz geschichtsphilosophischer Art, d. h. um die geschichtsphilosophische und kritische Gleichsinnigkeit von Plessners Denkfigur der Unergründlichkeit und Adornos Denkfigur der Nicht-Identität. Es handelt sich überdies zweitens um negativ-anthropologische Konvergenzen in Plessners und Adornos Kritik der Moderne.
Dritter Teil: Plessner und Adorno im Vergleich
6 Negativ-anthropologische Konvergenzen geschichtsphilosophischer Art: Unergründlichkeit (Plessner) und Nicht-Identität (Adorno) 6.1 Hegel und Marx als komparative Bezugspunkte 6.1.1 Hegel Der Eigenname Hegel ist hier typologisch zu verstehen, gemeint ist damit der Typus idealistischer Geschichtsphilosophie, d. h. eines Denkens der Geschichte auf der Basis einer ideell geschlossenen Struktur, die nicht notwendig vollständig ideell komponiert sein muss, solange ihr Gesamtgefüge ideell geschlossen im Sinne der Verstehbarkeit als ideales Gebilde von apodiktischer Gültigkeit ist. Den Kritiken Plessners und Adorno sei im Folgenden eine sehr knappe Skizze der wesentlichen und exemplarischen Gehalte Hegels vorangestellt, wobei der Vorrang des Typologischen vorm Philologischen (zu dem zum Beispiel die sogenannte Hegel-Forschung oder einer immanente Kritik von Details seines Geschichtsschemas gehören würde) hier federführend ist. Hegel führt einen weltgeschichtlichen Vernunftglauben als Voraussetzung an, mit der die Philosophie an die Weltgeschichte herantrete: „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.“ (Hegel 1986a: 20) Zugleich aber gibt er als Desiderat der Erforschung der Weltgeschichte aus, dies an ihrem Material zu erweisen: „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen“. (Ebd.: 22) Die Vernünftigkeit der Geschichte zu erweisen, steht als methodische Maxime neben einem empiristischen Verfahren als Vorgabe: „Die Geschichte aber haben wir zu nehmen, wie sie ist; wir haben historisch, empirisch zu verfahren,“ (ebd.) auch, um nicht „apriorische Erdichtungen in der Geschichte“ (ebd.: 22) an die Stelle immanenter Analysen setzen zu müssen. Eine Merkwürdigkeit von Hegels empirischem Verfahren sind die Entdeckungen, die er bei dessen Anwendung macht. Er entdeckt den Werkzeugcharakter der historischen Individuen, der darin besteht, dass „jene Lebendigkeiten der Individuen und Völker […] zugleich die Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren sind“. (Ebd.: 40) Das Lebendige ist dabei allerdings kein stummes Werkzeug, sondern Subjekt, in dessen Subjektivität eine sie transzendierende und nicht im Sinne des subjektiven Bewusstseins gegebene Vernünftigkeit sich manifestiert: So wäre die Frage: welches ist das Material, in welchem der vernünftige Endzweck ausgeführt wird? Es ist zunächst das Subjekt wiederum selbst, die Bedürfnisse des Menschen, die Subjekhttps://doi.org/10.1515/9783110773682-007
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6 Negativ-anthropologische Konvergenzen
tivität überhaupt. Im menschlichen Wissen und Wollen, als im Material, kommt das Vernünftige zu seiner Existenz. (Ebd.: 55)
Das Vernünftige kommt sowohl zur Existenz, wie es auch von der Vernunft des Philosophen als Vernünftiges erkannt wird: „Denn die Philosophie will den Inhalt, die Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen. Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes.“ (Ebd.: 53) Erkenntnis und Apologetik²³⁸ vermischen sich auf fragwürdige Weise, denn wenn das Vernünftige, das die Geschichte ist, auch noch das Göttliche ist, wieso ist dann überhaupt eine Rechtfertigung nötig und eine Erklärung nicht voll und ganz ausreichend? Die Rechtfertigungsbedürftigkeit hat ihren Grund wohl darin, dass „Zwecke, Grundsätze usf. […] in unseren Gedanken […], aber noch nicht in der Wirklichkeit“ (ebd.: 36) seien und dass deshalb zu ihnen das menschliche Handeln als Verwirklichungsinstanz hinzutreten müsse: „Es muß ein zweites Moment für die Wirklichkeit hinzukommen, und dies ist die Betätigung, Verwirklichung, und deren Prinzip ist der Wille, die Tätigkeit des Menschen überhaupt.“ (Ebd.) Gottes Weisheit und das dem Menschen in seiner historischen und menschheitlichen Bedeutung undurchsichtige Handeln führt Hegel im Begriff des absoluten und vernünftigen Endzwecks zusammen: Die Wahrheit nun, daß eine, und zwar die göttliche Vorsehung den Begebenheiten der Welt vorstehe, entspricht dem angegebenen Prinzipe, denn die göttliche Vorsehung ist die Weisheit nach unendlicher Macht, welche ihre Zwecke, d.i. den absoluten, vernünftigen Endzweck der Welt verwirklicht; die Vernunft ist das ganz frei sich bestimmende Denken. (Ebd.: 25)
Die Darlegung der Realisierung des vernünftigen Endzwecks fällt wohl auch deshalb apologetisch aus, weil Hegel das sinnlose Leid in der Geschichte mittels einer metaphysischen Kosmetik zum Verschwinden zu bringen müssen glaubt; genaugenommen ist das Leid nicht sinnlos, sondern die Leidenden der Geschichte sind die Opfer der Vernunft und empfangen, indem sie in ihren Dienst treten, deren Abglanz: „Dieser Endzweck ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden.“ (Ebd.: 33) Hegel spricht hier von einem doppelten Prozess, dem der Realgeschichte und dem der Einsicht in die Notwendigkeit der Realgeschichte als einer Entwicklung zum Bewusstsein der Freiheit: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ (Ebd.: 32)
So sagt Hegel auch: „Das Recht des Weltgeistes geht über alle besonderen Berechtigungen“ (ebd.: 54) und seine Betrachtung sei „eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes“. (Ebd.: 28) Die Theorie wiederholt hier, was im Staatsleben als legitimatorischer Standard sich zu entwickeln beginnt: „[D]ie verschiedenen Rechte müssen sich legitimieren als auf vernünftigen Grundsätzen beruhend. So kommt die Freiheit des Geistes erst zur Realität.“ (Ebd.: 417)
6.1 Hegel und Marx als komparative Bezugspunkte
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Hegels Geschichtsphilosophie ist eine der Erkenntnis der Notwendigkeit, der Vernünftigkeit und eine Rechtfertigung Gottes, aber keine Geschichtsphilosophie, die Vorhersagen über die Geschichte erlaubt. Zwar ist der Gang der Geschichte „ein notwendiger, so in ihm jedesmal die bestimmte Verfassung eintreten muß, die nicht Sache der Wahl, sondern nur diejenige ist, welche gerade dem Geiste des Volkes angemessen ist“ (ebd.: 65), aber das jeweilige Volk selbst ist im weltgeschichtlichen Konzept Hegels „nur ein Individuum“ (ebd.: 73) und als solches nur Moment innerhalb des Stufengangs des göttlichen Prozesses der Selbstentfaltung des Geistes: „Denn die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes in seinen höchsten Gestalten dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich erlangt.“ (Ebd.) Die Erkenntnis von dessen Notwendigkeit ist eine nachträgliche, der Prozess selbst bestimmt von der List der Vernunft. Gott ist unberechenbar und unerkennbar,Vernunft als für uns Verstehbares könnte prinzipiell berechenbar sein, in der List der Vernunft allerdings tritt die Vernunft unter die Regie einer Geistigkeit, die wir zwar nachträglich verstehen, aber nicht als Deduktionsbasis für Vorhersagen des Geschichtsverlaufs nehmen können. Das ändert sich bei Marx, wo die wissenschaftliche Methode die List der Vernunft überwindet und die Geschichte ins Reich menschlicher Vorhersagen holt.
6.1.2 Marx Was für Hegel die Empirie darstellt, ist für Marx idealistisch in Beschlag genommener Firlefanz, der die historisch realiter maßgebende Realität verdunkelt, indem er sie konzeptionell nicht in Betracht zieht. Hegels Philosophie nennt Marx „idealistische Geschichtsanschauung“ (MEW 3: 38), der er seine materialistische Geschichtsauffassung gegenüberstellt, die statt luftig konstruierter Geschichtsstadien die maßgeblichen facta bruta, die „wirkliche Basis aller Geschichte“ (ebd.: 39), theoretisch adäquat veranschlage: Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als ‚Substanz‘ und ‚Wesen des Menschen‘ vorgestellt, was sie apotheosiert und bekämpft haben. (Ebd.: 38)
Hegels geschichtsphilosophische Theodizee heißt bei Marx Apotheose, die etwas scheinrechtfertigt, was weder als Ermöglichungsbedingung in den Produktionsprozess eingeht, noch resultativ aus demselben emaniert. Über alle Umwertungen hinweg teilt Marx mit Hegel allerdings die Ansicht, „daß die ostensiblen und auch die wirklich tätigen Beweggründe der geschichtlich handelnden Menschen keineswegs die letzten Ursachen der geschichtlichen Ereignisse sind, daß hinter diesen Beweggründen andre bewegende Mächte stehn, die es zu erforschen gilt“. (MEW 21: 298) In der Marx‘schen Geschichtsauffassung werden diese Mächte anvisiert, indem Marx versucht,
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6 Negativ-anthropologische Konvergenzen
den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen. (MEW 3: 37)
Um die „ganze Geschichte“ ging es auch Hegel, doch Marx geht es um mehr als die Rechtfertigung der Geschichte, ihm geht es um die Erklärung der bisherigen Geschichte im Dienste der Rechtfertigung der zukünftigen Geschichte, in deren Zentrum die Umwälzung aller bisherigen Geschichte durch die kommunistische Revolution stehen werde. Die Rechtfertigung, die Marx anstrebt, ist keine ethische, sondern selber geschichtsphilosophischer Art, denn die Notwendigkeit wird von ihm aus ökonomischen Gründen als geschichtliche und geschichtsphilosophische Notwendigkeit deduziert. Das Diktum, dass eine Grenze zu erkennen bereits bedeute, über diese Grenze hinaus zu sein, entwickelt Marx geschichtsphilosophisch in der Analyse der notwendigen Grenzen des gemäß ehernen Gesetzen der Notwendigkeit sich entfaltenden Produktionsprozesses. Wichtiger als die ökonomischen Einzelheiten, in denen Marxens Theorie hier nicht dargestellt werden kann, ist die prinzipielle historische Determinante, die es Marx ermöglicht, die Notwendigkeit der kommunistischen Revolution zu behaupten, nämlich dass die „bürgerlichen Produktionsverhältnisse […] die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses […] im Sinn […] eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus“ sind und dass „die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte […] zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus“ (MEW 13: 9) schaffen. Diese Lösung besteht nicht in der Reform des Lohnsystems, sondern in dessen Abschaffung (vgl. MEW 16: 152), darin, dass die „kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst aufhebt“. (MEW 3: 69 f.) Der gewichtige Unterschied zwischen Hegel und Marx besteht zunächst darin, dass Marx der bisherigen Geschichte ihr Ende voraussagt und dies daraus begründet, dass ein identifizierbares Kollektiv innerhalb dieser Geschichte als Akteur dieser Umwälzung fungieren wird und muss. Worin Marx mit Hegel allerdings übereinstimmt, ist der Idealismus; es handelt sich bei Marxens Geschichtstheorie um einen Idealismus mit materialistischer Begründung, aber die Geschichtsauffassung als solche ist als Theorie ein ideelles Gefüge. Dass ökonomische Analyse, Legitimation der Revolution und Prophetie bei Marx zu einer explosiven Synthese gelangen, zwingt allerdings dazu, die Differenz zwischen Hegel und Marx nicht zu verharmlosen, denn von Marx her dürfen Revolutionäre sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen. Sowohl gegen die Hegel‘sche als auch die Marx‘sche Geschichtstheorie wenden Plessner und Adorno sich grundlegend auf der Basis der Denkfiguren der Unergründlichkeit und der Nicht-Identität.
6.2 Plessner: Kritik der Geschichtsphilosophie im Namen der Geschichtlichkeit
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6.2 Plessner: Kritik der Geschichtsphilosophie im Namen der Geschichtlichkeit Die positiven Grundlagen von Plessners Kritik deterministischer Geschichtsphilosophien sind in Kapitel 3 ausführlich dargelegt worden und bedürfen hier keiner umfassenden Rekapitulation. Worum es hier geht, ist, wie Plessner diese Grundlagen gegen den idealistischen Typus geschichtsphilosophischen Denkens im Namen und zugunsten der Bewahrung der Unergründlichkeit negativ-anthropologisch in Anschlag bringt. In Kapitel 3 ist gezeigt worden, dass Macht und menschliche Natur keineswegs ein der naturphilosophischen Grundlegung in den Stufen enthobenes Werk und kein eigenständiger, den philosophischen Rahmen, den Plessner selbst entworfen hat, sprengender Wurf ist.²³⁹ Konsequenterweise soll auch hier wieder der Ausgang von den Stufen genommen werden, in denen Plessner den Anspruch formuliert, „den ganzen Umkreis der Existenz und der mit dem persönlicher Leben in selber Höhe liegenden, zu ihm in Wesenskorrelation stehenden Natur miteinzubegreifen. Tut sie [die Wissenschaft vom Menschen als Person, S. E.] das nicht, bleibt sie Geschichtsphilosophie oder Kulturphilosophie“. (SOM: 27) So klar dem zu entnehmen ist, dass eine Geschichtsphilosophie für Plessner durch die Blindheit gegenüber der für ihn unhintergehbaren Naturphilosophie gekennzeichnet ist, so dunkel bleibt die Passage darüber hinaus und erfährt in den Stufen keine weitere Elaborierung. Plessners Spengler-Kritik in den Stufen gibt Aufschluss darüber, warum Kultur- und Geschichtsphilosophie für ihn zwei Varianten ein- und desselben Fehler sind: In der „Preisgabe des Gedankens einer durch alle Kulturen hindurchgehenden Menschheitsentwicklung“ (SOM: 11) erzeugt die Kultur den prinzipiell gleichen Zirkel wie die Geschichtsphilosophie: Kultur und Geschichte aus sich selbst hervorgehen lassen und erklären zu müssen. Die Zirkularität ist ein Problem, der Relativismus gegenüber der Empirie ein anderes. Plessner streift in seinen kritischen Ausführungen, die lediglich Präludien der Eröffnung seines naturphilosophischen Zugangs bilden, nur, was in Macht und menschliche Natur dann seine Grundlegung findet – und zwar in der Verschränkung des Begriffs der Lebensführung, der bereits in den Stufen eine zentrale Rolle spielt, mit der Entfaltung des Konzepts der Geschichtlichkeit. Was beide miteinander verbindet, ist die Unergründlichkeit. Den Begriff der Unergründlichkeit verwendet Plessner in mehreren Bedeutungen: Er spricht von der „Unergründlichkeit des Menschen“ (PGS 5: 161), von der „Unergründlichkeit der geistigen Welt“, (ebd.: 181) von der „Unergründlichkeit des Lebens und der Welt“ (ebd.: 202), öfter aber auch schlicht und ohne genitivische Anbindung
Nicht zu vergessen ist, dass Plessner bereits in den Grenzen der Gemeinschaft die Unergründlichkeit der Seele aus ihrer ontisch-ontologischen Zweideutigkeit begründet. Zur Unergründlichkeit konkret vgl. PGS 5: 64.
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6 Negativ-anthropologische Konvergenzen
von „dem Unergründlichen“.²⁴⁰ Die grammatikalischen Unterschiede sind nicht irrelevant; Unergründlichkeit des Menschen z. B. und „das Unergründliche“ sind nicht gleichzusetzen, weil im ersten Fall eine Eigenschaft und Qualität einer spezifischen Entität benannt wird, im zweiten hingegen eine Entität ohne jede Spezifikation ihres Wer-Seins in ihrem Was-Sein ausschließlich als Unergründliches bezeichnet wird. Damit soll nicht die Applizierbarkeit des Begriffs auf den Menschen angegriffen oder dieser dem Ausdruck als dessen Fluchtpunkt ausgetrieben werden, aber der Nexus zwischen Mensch und Leben und damit zwischen dem geschichtlich Lebenden und dessen naturphilosophischen Lebensgrundlagen soll hier stärker exponiert werden, als dies bei einer selbstgenügsam immanenten Lektüre von Macht und menschliche Natur naheliegen mag. Was dann, gerade im Rückgang auf die naturphilosophische Verwurzeltheit der Lebensführung, in den Blick geraten kann, ist der eminent pragmatische Sinn des Ausdrucks Unergründlichkeit. Wenn Plessner von der „Unergründlichkeit des Menschen“ und von der „Unergründlichkeit des Lebens“ spricht, ist das keine Fahrigkeit, sondern Index des Präsenzgrades der Naturphilosophie in der Reflexion der geschichtlichen Welt. Der Unterschied, an dem diese Verbindung sich erhärten lässt, ist der zwischen Relativierung und restloser Relativierung. Weder Relativierung noch restlose Relativierung legen die Unergründlichkeit des Menschen offen, sondern beide erfolgen von ihr her; sie ist deren Woher und Wohin zugleich und muss es sein, sonst müsste eine Relativierung denkbar sein, die zugleich eine Erhellung und Ergründung der Unergründlichkeit sein müsste. Die Gefahr der restlosen Relativierung droht dort, wo der Möglichkeitssinn geschichtlichen Handelns in einen historistischen und deshalb gerade ungeschichtlichen abstrakten Indifferentismus kippt: In der Fassung seiner selbst als Macht faßt der Mensch sich als geschichtsbedingend und nicht nur als durch die Geschichte bedingt. Die Gefahr der restlosen Relativierung, die mit dieser Freigabe des Blickes heraufbeschworen ist, wird in der gleichen Blickstellung dadurch wieder gebannt. (Ebd.: 190)
In der restlosen Relativierung ist die Geschichtlichkeit kein movens und kein vitales Woher und Worin des aktuellen Lebens; sie kann in ein Erklärungsschema gebracht werden, aber gerade ein solches ist nicht „geschichtsbedingend“; mit der Geschichtlichkeit verliert auch die Geschichte ihre Lebendigkeit. Die Geschichte selbst wird in einem Schema historischer Determination wie in einer Säure aufgelöst; das Schema eröffnet und erschließt nichts, weil es demjenigen, dem es an die Hand gegeben wird, nur ein Manual (s)eines Gewordenseins gibt, das in weiteres, abstraktrelatives Geworden-sein-werden eingebettet ist. Das Schema historischer Determina-
„In der freien Anerkennung der Verbindlichkeit des Unergründlichen eröffnet sich die Möglichkeit, so etwas wie die geistige Welt und Geschichte, als eine nie ausschöpfbare und doch faßliche, d. h. immer neu zu sehende, weil beständig sich in anderem Sinne erneuernde Lebenswirklichkeit in den Blick zu bekommen.“ (Ebd.: 181 f.) Vgl. ebd.: 182, 184, 217 und 229.
6.2 Plessner: Kritik der Geschichtsphilosophie im Namen der Geschichtlichkeit
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tion enthält die Neigung zur Illusion, der Tropfen des Flusses könnte den Lauf des Flusses überschauen; aber selbst wenn dies möglich wäre, würde dies nichts an daran ändern, dass er nur Element eines Dahinfließens ist. Anders als in der Geschichtsphilosophie Marxens kennt die restlose Relativierung keinen Appellcharakter; niemand wird durch sie zu etwas aufgerufen, sondern im Gegenteil wird alles mit Indifferenz geschlagen, weil als Maximum übrigbleibt, ein Puzzleteil künftiger Relativierungen durch den Historisten zu sein. Die Relativierung, die Plessner im Sinn hat, wo er vom „Prinzip der Relativierung aller außerzeitlichen Sinnsphären einer Kultur auf den Menschen als ihre Quelle im Horizont der Geschichte“ (ebd.: 149) spricht, ist keine sedierende oder registrierende, sie erhält vielmehr von der Unergründlichkeit Sinn und Antrieb. Der Mensch, auf den die Geschichte relativiert wird, ist, zwischen ein gelebtes und noch zu lebendes Leben gespannt, selbst die Instanz der Relativierung. Die Unergründlichkeit ist keine qualitas occulta des Menschen, denn sie erwächst aus diesem Gespanntsein und findet in demselben seinen Sinnfluchtpunkt. Die Lebenssituation des Menschen, die Situation eines prekär und lebendig in der Geschichte stehenden Wesens, gleicht insofern der zentrischen Positionalität als dem Woher und Wohin aller Exzentrierungsleistungen. Wenn Plessner in Macht und menschliche Natur davon spricht, dass der Mensch sich „als Macht und Können“ (ebd.: 201) zu begreifen habe, adressiert er ihn als die Lebensform, die das Gespanntsein zwischen das gelebte und das zu lebende Leben im Bewusstsein der Möglichkeit der Übernahme von Geschichte als Gewordensein und als zu Machendes bzw. Gestaltendes übernehmen muss. Der Mensch als Macht und Können ist aber kein historisch oder geschichtsphilosophisch vorgezeichnetes Kollektiv; er ist nicht „das Proletariat“, und selbst wenn ein solches sich als authentischer historischer Akteur herausbilden sollte, kann dies nicht auf das Rezept von Marx hin erfolgen, sondern nur – wie Sonnemann hervorheben würde – spontan: „Für Marx vollzieht sie [die Menschwerdung Gottes, S. E.] sich als ökonomische Revolution durch Eingliederung des einzelnen in das geschichtlich Allgemeine seiner Zeit, die Klasse, und dort, wo sie unverdeckt als Klasse zum Vorschein gekommen ist: im Proletariat.“ (PGS 6: 125) In der marxistischen Geschichtsphilosophie findet keine Relativierung statt, sondern eine Uniformierung und Indienstnahme; nicht öffnet die Vergangenheit „in dem Rahmen der Tradition umfangen […] sich in das noch zu lebende Leben der Gegenwart hinein“ (PGS 5: 187), sondern sie wird innerhalb der Geschichtsphilosophie in die Verwirklichung einer Idee hineingestoßen,²⁴¹ bezüglich deren jenseits abstrakter Erwägungen über die gleichermaßen antagonistische wie aporetische Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaftsform, wie sie sich in Marxens Analyse darstellt, nicht klar ist, ob sie sich verwirklichen lässt. Die marxistische Geschichtsphilosophie selbst bedarf allerdings in Plessners Denken gerade einer Relativierung, Darin bricht Marx in Plessners Augen entscheidend mit Hegel: „Während für Marx, der ja nicht ein materialistisches Gegenstück zu Hegel, also eine Philosophie geben wollte, die letzte Versöhnung im Element der Revolution, d. h. der ökonomischen Praxis gelingt, insofern als dieses Element gar nicht mehr wie bei Hegel der Geist spekulativ und als Prinzip gemeint ist.“ (PGS 10: 63)
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aus der ersichtlich würde, dass die Marx‘sche Revolution selbst nur die Realisierung einer bestimmten Möglichkeit darstellen würde, über die erst dann im eigentlichen Sinne geschichtlich entschieden werden kann. Was Plessners Unergründlichkeitstheorem gerade offenlegen soll, ist, dass die Relativierung aller Ideen und Ideologien auf den Menschen hin bedeutet, die Wirklichkeit geschichtlicher Möglichkeiten als mögliche Wirklichkeit und wirkliche Möglichkeit zu begreifen. Der Marx‘sche Historismus, als welcher sein Messianismus ebenfalls auftritt, wird von Plessner explizit der Unergründlichkeit als dem verbindlichen Prinzip der genuin geschichtlichen Welt entgegengesetzt: Seine [des Historismus, S. E.] angebliche Notwendigkeit und die Unvermeidlichkeit aller der mit ihm gegebenen Relativismen (wie erwähnen hier nur den historischen Materialismus von Marx und Engels) beruht auf dieser Vernachlässigung der Verankerung der geschichtlichen Welt in der freien Annahme der Verbindlichkeit ihres Prinzips, das Anweisung auf den lebendigen Vollzug durch lebendige Menschen gibt. (PGS 5: 183)
Diese Anweisung ist keine Anweisung auf eine kommunistische Revolution oder die Verwirklichung einer philosophischen Idee, sondern die Anweisung auf das „sich aus dem Leben auf das Leben hin“ (ebd.: 221) Verstehen, darauf, das Gespanntsein zwischen ein gelebtes und noch zu lebendes Leben frei, d. h. geschichtlich, zu übernehmen. Die kommunistische Revolution gibt sich in ihrem Messianismus das Ansehen, die einzige Möglichkeit zu sein, wenn der Kapitalismus sich – eine weitere Prophezeiung – als Unmöglichkeit, weil als Untragbarkeit erwiesen haben werde; wo der Mensch einer Möglichkeit verfällt, ist er sich selbst nicht mehr als Möglichkeit der freien Selbstübernahme gegeben: „Nur wenn und weil wir nicht wissen, wessen der Mensch noch fähig ist, hat es einen Sinn, das leidvolle Leben auf dieser Erde zu bestehen.“ (Ebd.: 161) Die Marx‘sche Theorie gibt uns ein „Wissen“ unserer wesentlichen und letztlich einzigen Möglichkeiten, das dem „Wissen“ darum, dass das „Wissen“ um die Verbindlichkeit der Unergründlichkeit als Wissen um uns als Macht und Können unaufgebbar ist, wo Geschichtlichkeit statt nur Geschichte als gesetzmäßiger Fortgang in der Zeit möglich sein soll, diametral entgegengesetzt ist. Sie gibt es historistisch, das Verstehen des Lebens aus dem Leben her und auf es hin erlangt durch dieses „Wissen“ aber keinerlei Wissen. Ähnlich verhält es sich mit Hegel, in bezug auf dessen Begriff des Weltgeistes Plessner sagt: In dem Verzicht auf die Vormachtstellung des eigenen Wert- und Kategoriensystems gibt sich der europäische Geist den Horizont auf die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und ihrer Weltaspekte als einer offenen, unbegrenzten, durch keinen ‚Weltgeist‘ planvoll gebundenen Mannigfaltigkeit frei. (Ebd.: 164)
Dass Hegels Weltgeist Europäer ist, steht dem Verzicht auf die Vormachtstellung von Wertesystemen nicht stärker entgegen als die Form der Hegelschen Geschichtsphilosophie selbst, die ihrer Anlage nach einen Endpunkt in der Gegenwart finden muss,
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in dem sie sich gleichermaßen dialektisch wie teleologisch erfüllt. Wäre Hegel dazu in der Lage gewesen, Verzicht im Einzelnen zu üben, sein Verzicht wäre dennoch kein „schöpferischer“ im Sinne Plessners gewesen (vgl. PGS 5: 182 und 201), weil der Weltgeist aufgrund seiner immanenten Strukturgesetzlichkeit eine automatische Platzanweisung, wenn auch nur formaler Art, für alles in sie Eingehende bereithält: „Jede Setzung und Perspektive hat an ihr notwendig, d. h. aus der Wesensnatur des Mediums oder Kontinuums des Geistes bereits garantiert, ihr Gegenteil und führt deshalb von selbst zum Umschlag in ihr Gegenteil.“ (Ebd.: 223) Die logische Struktur des Mediums Geist kann nur deshalb ein solches Übergewicht gegenüber der Realität haben, weil es sich nicht vor ihr bewähren, sich nicht auf ihre Unwägbarkeit einlassen und sich derselben letztlich nicht ausliefern muss. In Anlehnung an Deweys Begriff von der „spectator theory of knowledge“ (Dewey 1929: 26) kann man hier von einer Zuschauertheorie der Geschichte sprechen, in der Hegel connaisseurhaft „im künstlichen Medium des Begriffs oder des Geistes alle Möglichkeiten als Wirklichkeiten durchprobiert, statt als Mensch die Härte und zugleich die Brüchigkeit der Realität bis zur Verzweiflung zu erleiden“. (PGS 6: 192) Die Wirklichkeiten aber, die Hegel „durchprobiert“, sind wesentlich Wirklichkeiten der Theorie, ideale Wirklichkeiten also, und hören nicht auf, solche zu sein, wenn sie empirisch unterfüttert werden, solange nicht die historische Realität das dialektische Schema prinzipiell auch brechen kann. In Hegels historischer Wirklichkeit wird die historische Wirklichkeit entwirklicht, der Mensch vom Schöpfer der Geschichte zu einer Marionette: „Für Hegel, aber auch für Marx ist der einzelne eine Marionette des weltgeschichtlichen Prozesses.“ (PAP: 335) Dem angesprochenen Gesetztsein jeder Perspektive innerhalb eines Gefüges, in dem sie Moment einer sie als solches schluckenden dialektischen Bewegung ist, setzt Plessner die Ambivalenz der lebensphilosophische Perspektive entgegen: „Innerhalb seiner Perspektive außerhalb seiner stehen ist als die Position des Menschen, wie sie die hermeneutische Lebensphilosophie zeigt und selber zum Prinzip ihres Zeigens hat, keine dialektische Wahrheit und überhaupt kein Widerspruch.“ (PGS 5: 223 f.) Die paradoxe Gleichzeitigkeit des Innerhalb-Außerhalb aktualisiert hier die exzentrische Positionalität, ohne dass Plessner sie erwähnte. Innerhalb seiner Perspektive steht der Mensch in der zentrischen Positionalität, außerhalb seiner Perspektive steht er, indem er diese Perspektive zum Gegenstand einer Perspektivierung macht. Doch mit dieser Dualität ist es nicht getan, weil das Außerhalb konstitutiv ins Innerhalb zurückwirkt: Innerhalb seiner Perspektive steht der Mensch als geschichtliches und nicht bloß organisches Wesen, indem er im Leben steht, dieses Leben führend und führen wollend. Auf der geschichtlichen Stufe innerhalb außerhalb seiner Perspektive steht der Mensch, sofern er dieses gelebte Leben auf noch zu lebendes Leben hin, von Geschichte im Verhältnis zu seiner Geschichte auf eine seine und den Gesichtskreis der Privatheit übersteigende Geschichte hin denkt, entwirft und übernimmt. Der Konvergenzpunkt von Innerhalb und Außerhalb ist das Eingebettetsein in die elementaren Lebendigkeitsstrukturen der Stufen, d. h. die Unergründlichkeit der Geschichte ist das Innerhalb-Außerhalb des selber unergründlichen Lebens als des Innerhalb-Au-
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ßerhalbs, das von der exzentrischen Positionalität her geschichtlich lebt. Das Innerhalb-Außerhalb verbietet dann gerade das Hegel‘sche Schema, weil es jedes Verständnis von Geschichte verbietet, in dem Ideen (Geist, List der Vernunft) sich historisch manifestieren und in der Gestalt einer Manifestation zum Abschluss kommen. Wo dies der Fall ist, wird Geschichte musealisiert oder, wie Plessner treffend gegen Hegel sagt: „Preußens Staat und Hegels Philosophie sind die tatsächlich erreichten äußersten Möglichkeiten des in Gott sich findenden Menschen, des im Menschen sich findenden Gottes. Dem Leben bleibt nur eines: Erinnerung.“ (PGS 6: 123) Umgekehrt bedeutet das Innerhalb-Außerhalb, dass von der Geschichte her keine aus ihr gesetzmäßig sich ergebende zukünftige Geschichte deduzierbar ist; es gibt keine geschlossene Zukunft, über die uns die List der Vernunft fintenreich im Unklaren lässt dahingehend, welches Stadium oder welche Idee wir von ihr aus gesehen marionettenhaft werden ausgeführt haben. Hegels Manifestation steht der restlosen Relativierung deutlich näher als Plessners Relativierung, deren Fluchtpunkt die Unergründlichkeit des lebendigen Verhältnisses von reflexiv Lebendigem zur Geschichte als einer zu übernehmenden Möglichkeit retrospektiver und prospektiver Art ist. Deshalb gibt Plessner als Vorgabe aus, Hegels Relativierung auf die dialektische Logik des Weltgeistes selber auf die Unergründlichkeit des genuin geschichtlichen Lebens zu relativieren: Hegel wirklich über sich hinausführen, geht nur, wenn man die bei ihm unlösliche Verbindung einer durchgängigen Relativierung der Bewußseinslagen in der Geschichte mit einer durchgehenden Basierung der Geschichte auf den Geist bzw. die Idee löst und diese Basierung selbst geschichtlich nimmt. (PGS 10: 43)
Diese „Basierung“ kann nur vom Menschen als Macht und Können vollzogen werden. Als Macht und Können wiederum ist der Mensch niemand, der sich selbst als Manifestation oder Ausfluss – von Plessner her gesehen ist eine Unterscheidung hier müßig – eines Weltgeistes sehen kann, weil solches Sehen ihm gerade das Sich-selbst-sehen als Macht und Können in der Geschichte verstellen würde. Das Sehen wäre dann bereits abkünftig von einem Wegsehen bzw. davon, von einem theoretisch verdinglichten Außen her zu schauen und demgemäß zu sehen. Während im Falle Hegels die Selbstanleinung an eine Idee legitimatorisch-retrospektiver Art wäre, wäre sie es im Falle Marxens in prophetisch-prospektiver Art. Marxisten sind von Plessners Unergründlichkeitstheorem her gesehen geschichtsphilosophische gambler mit Tunnelblick. Was Hegel und Marx nicht vermögen und worin Plessners Unergründlichkeitstheorem seinen Impetus findet, ist die Öffnung des Menschen zur Geschichte und damit die Eröffnung der Geschichte – darauf zielt das „Prinzip der offenen Immanenz“ und die geschichtsbewusste und geschichtsbedingende Übernahme des Gespanntseins zwischen gelebtes und noch zu lebendes Leben – im Namen dessen, „wessen der Mensch fähig ist“. (PGS 5: 161) Wessen er allerdings fähig ist, erfährt er nur in „der freien Anerkennung der Verbindlichkeit des Unergründlichen“ (ebd.: 181), da nur in ihr „sich die Möglichkeit, so etwas wie geistige Welt und Geschichte, als eine nie
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ausschöpfbare und doch faßliche, d. h. immer neu zu sehende, weil beständig sich in anderem Sinne erneuernde Lebenswirklichkeit in den Blick zu bekommen“ (ebd.: 181 f.), eröffnet.
6.3 Adorno: Brechung des Weltgeistes an der „Dialektik im Besonderen“ Adornos ausführlichste und ergiebigste Ausführungen zur Geschichtsphilosophie verteilen sich vornehmlich auf zwei Schriften, auf die Negative Dialektik und die Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/1965). In besagter Vorlesung adressiert Adorno dezidiert die „Problematik der Hegelschen Geschichtsphilosophie“ (NL 4/13: 148) als das Problem der Simultaneität von Dialektik und Platonismus bei Hegel. Adornos Ausführungen bleiben zu vage, um das Problem als das des Verhältnisses von Vermittlung (Dialektik) und μέθεξις (Platonismus) adäquat entfalten; stattdessen behandelt er es von der dialektischen Terminologie her als das Problem des Verhältnisses von „hindurch“ (Dialektik) und „darüber“ (Platonismus). Der Weltgeist bildet sich, so zitiert Adorno Hegel, „durch das Verhältnis der besonderen Volksgeister hindurch“ (NL 4/13: 148; aus Hegel 1989: 88); problematisch an dem Zitat ist, dass Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, denen es entnommen ist, nicht vom Weltgeist, sondern vom Staat spricht, was als erstes Indiz dafür zu sehen ist, dass Adorno jede höherstufige – und als solche niedrigstufigere Identitäten bestimmende – Objektivität bei Hegel in den Weltgeist auslaufen lässt. Höherstufigkeit ist hier auch der entscheidende Anhaltspunkt, denn Adorno zufolge wird die strikte Immanenz der Dialektik bei Hegel dadurch gesprengt, dass durch den Weltgeist „umfangslogisch ein höherer Allgemeinheitsgrad angegeben wird“ (NL 4/13: 148) gegenüber dem, worin und als was er Gestalt annehme. Darin drückt sich der Platonismus aus: Im Hindurch verschmilzt das Darüber nicht mit dem Substrat des Hindurch, die Manifestation ist keine, die den Spalt zwischen dem Darüber, der Idee bzw. dem Allgemeinen, und der Gestalt, dem Besonderen, schließt. Die „Identifikation mit dem Allgemeinen“ (ebd.: 66), die Adorno Hegel im Hinblick auf das Besondere vorwirft, findet im strengen Sinne nicht statt, sondern es gibt allenfalls eine metaphysische Schein-Identität mit klarem Bestimmungsvorrang des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen,²⁴² wodurch andererseits die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem bei Hegel nicht das werden kann, was Adorno als Gegenentwurf vor-
Diesen Bestimmungsvorrang nennt Adorno „Vorherrschaft“ und die Dialektik, durchaus zurecht, eine „angebliche“: „Wenn man von Idealismus bei Hegel trotz allem reden kann, dann liegt das nicht nur an metaphysisch-logischen Voraussetzungen wie etwa der des absoluten Subjekts, der absoluten Identität allein, sondern es liegt auch in diesem Moment drin, daß das Allgemeine, das ja gegenüber dem Besonderen immer Begriff, immer Idee ist, bei ihm die Vorherrschaft gewinnt vor dem Besonderen; daß es trotz der angeblichen Dialektik von Allgemeinem und Besonderem das wahrhaft Seiende sein soll.“ (NL 4/13: 63)
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schwebt, nämlich eine Dialektik im Besonderen: „Wenn Hegel die Doktrin von der Identität des Allgemeinen und Besonderen zu einer Dialektik im Besonderen selber weitergetrieben hätte, wäre dem Besonderen, das ja ihm zufolge das vermittelt Allgemeine ist, soviel Recht zuteil geworden wie jenem.“ (AGS 6: 323) Die Dialektik im Besonderen stellt den Versuch dar, Hegel mittels Benjamins Allegorie-Begriff in einer negativen Dialektik zu begegnen, die dem Besonderen sein Recht zuteil werden lässt, indem sie es als dialektisches Bild auffasst, ohne diesen Begriff oft zu verwenden. Explizit sagt Adorno über Benjamins dialektische Bilder, diese „sollten geschichtsphilosophisch die Phantasmagorie des neunzehnten Jahrhunderts als Figur der Hölle enträtseln“. (AGS 10/1: 249) Weit mehr noch als Benjamins dialektisches Bild wird Hegels Weltgeist von Adorno eigenwillig anverwandelt, denn für Adorno ist, „was bei Hegel als der Gang des Weltgeistes erscheint, viel eher der Gang einer furchtbaren Verstrickung, einer Art von Höllenmaschine“. (NL 4/13: 165) Die Dialektik im Besonderen entdeckt den Weltgeist als Höllenmaschine, in die das Besondere gerät, indem es vom Allgemeinen gleichermaßen bestimmt wie gerädert wird. Damit eröffnet sich für Adorno die Möglichkeit, den Stand von Geschichte und Weltgeist aneinander abzulesen, wobei der Weltgeist zugleich als Ursache der Geschichte fungiert, wie diese Ausdruck von jenem ist. Eine Stelle in den Minima Moralia lässt dieses Verfahren in seiner Fragwürdigkeit zutage treten: Hätte Hegels Geschichtsphilosophie diese Zeit eingeschlossen, so hätten Hitlers Robotbomben, neben dem frühen Tod Alexanders und ähnlichen Bildern, ihre Stelle gefunden unter den ausgewählten empirischen Tatsachen, in denen der Stand des Weltgeists unmittelbar symbolisch sich ausdrückt. (AGS 4: 61)
Methodisch kontrollierbar ist dieses Verfahren nicht mehr; was die „empirisch ausgewählte Tatsache“ zu mehr als einer ausgewählten macht, bleibt eher – und das ist nicht polemisch gemeint – der divinatorischen Kongenialität des Anderen (als Leser oder Gesprächspartner, in der Fortführung des Denkstils als Autor) überlassen. Dass Adorno den Tod Alexanders als Bild bezeichnet, verrät, wie hier im Benjaminschen Geist mit Hegelschen Begriffen so frei wie vom Horror des Weltlaufs gebannt umgegangen wird. Wo vom „Stand des Weltgeists“ die Rede ist, ist die Empirie dessen Ausdruck oder Manifestation. Zugleich lässt Adorno den Weltgeist vom Weltlauf bestimmt werden: „Was irrational ist am Begriff des Weltgeistes, entlehnte er der Irrationalität des Weltlaufs.“ (AGS 6: 299) Auf den Begriffsnominalismus antwortet Adorno hier mittels einer mimetischen Begriffsmetaphysik: Die Mimesis des Begriffs an das ihm zugleich nicht Einverleibbare ist die Antwort auf ein Problem, für das es keine Lösung gibt. Jenseits des strukturell Problematischen sagt Adorno damit: Die Vorherrschaft des Weltgeistes ist keine ungebrochene, aber wie der Weltgeist vom Weltlauf qualitativ bestimmt werden kann, bleibt unklar, müsste dieser doch ontologisch das Höhere gegenüber dem Weltgeist darstellen. Die Mehrdeutigkeit ist nicht klar auflösbar. Adornos These, Hegel „will immer alles zugleich haben“ (NL 4/13: 148)
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trifft auf ihn selbst ebenfalls zu, und wenn nicht zugleich, dann in freier Variation je nach Bedarf. Die Inkonsequenzen rühren daher, dass Hegel und Benjamin nicht ohne weiteres ineinander übersetzbar sind. Das Hegel-Kapitel in der Negativen Dialektik trägt den Titel „Weltgeist und Naturgeschichte“, das Motiv der Naturgeschichte ist im Frühwerk Adornos bereits intim mit Benjamin verknüpft und von seinem Allegorie-Begriff her entwickelt worden: Die naturgeschichtlichen Fragestellungen sind nicht als generelle Strukturen möglich, sondern nur als Deutung der konkreten Geschichte. Benjamin geht davon aus, daß die Allegorie kein Verhältnis von bloßen sekundären Zufälligkeiten ist. […] Das Thema des Allegorischen ist schlechterdings die Geschichte. (AGS 1: 358)
Die Frage, ob Adorno im Rückgriff auf Benjamin nicht seinerseits tut, was er Benjamin vorhält, nämlich undialektisch zu verfahren, ist nicht leichthin von der Hand zu weisen. Die Höllenmaschine und die (hinsichtlich ihres Vermittlungsniveaus zweifelhafte) Ablesung des Stands des Weltgeistes an Hitlers Waffenarsenal mag noch so viel objektiv Wahres artikulieren, im besten Fall ist sie divinatorischer, im schlechtesten subjektiver Art. Darüber muss hier keine Entscheidung getroffen werden. Was hier allerdings keineswegs übersehen werden darf, ist, wie Adorno das Eingedenken der Natur im Subjekt variiert: als negativ-anthropologisches Eingedenken des Besonderen, des vom Vorrang des Objekts in der Gestalt des Naturmoments geprägten Subjekt-Objekts, in der Geschichte. Nicht-Identität ist nicht nur ein logisches Prinzip negativer Dialektik, sondern innerhalb derselben ein entscheidendes Konstitutionsmoment des Besonderen, das Adorno durch einen diese Konstitutionslogik überschreitenden normativen Schritt um das Prinzip des Eintretens für das Besondere und gegen den Weltgeist und dessen „Aufspreizung der totalen Immanenz ins Wesenhafte“ (AGS 6: 300) erweitert. Äquivalent der Natur im Individuum ist im Weltgeist das Einzelne, das Prinzip seiner Nicht-Identität mit sich selbst und der Einspruch gegen seine Unvernunft, die zugleich sein Sein als Unvernunft ist, wie Adorno in der Umwertung der herrschenden Vernunft zur Unvernunft sagt: „Nicht erst heute ist die Vernunft des Weltgeists gegenüber der potentiellen, dem Gesamtinteresse der sich vereinenden Einzelsubjekte, von dem er differiert, die Unvernunft.“ (Ebd.: 311) Adorno antwortet auf Hegel also nicht mit einer Kritik von Geschichtsphilosophie überhaupt oder mit einer immanenten Kritik der Teleologie der Hegelschen Geschichtsphilosophie, sondern mit einer negativen Gegenteleologie, die im Namen des Besonderen auftritt und das Eingedenken der Natur im Subjekt sich zu ihrer Aufgabe macht. Dialektik im Besonderen heißt hier ein Doppeltes, ein Logisches wie ein letztlich Diagnostisch-Divinatorisches. Beides lässt sich nicht trennen, denn Adornos Kritik der Logizität des Weltgeistes benennt Falschheit als undialektischen Vorrang des Allgemeinen von der normativen Privilegierung des Besonderen vor einem gewaltsamgrausamen Allgemeinen her: „Nur ist diese Logizität des Allgemeinen in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, index falsi. So wenig wie Freiheit, Individualität,
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all das, was Hegel mit dem Allgemeinen in Identität setzt, ist auch jene Identität.“ (AGS 6: 311) Hegels Einheit sei nicht logische „Einheit innerhalb der Mannigfaltigkeit […] sondern Einheit über etwas“. (Ebd.) Die „Einheit über etwas“ artikuliert auf andere Weise, was oben als Verfehlen der strengen Dialektik durch Hegel angesprochen worden ist, und sie artikuliert ebenfalls das Gewaltsame des Weltgeistes, doch sie benennt darüber hinaus auch das Prinzip falscher Einheit, d. h. der psychodynamischen Introjektion und Ich-Okkupation durch fremde und verhärtete Objektivität im Sinne des Sich-Modelns gemäß dem, was vom Weltgeist in der Doppelgestalt von Bann und objektivem Geist sich identitätsbildend in den Menschen ablagert: „Nach wie vor stehen die Menschen, die Einzelsubjekte unter einem Bann. Er ist die subjektive Gestalt des Weltgeistes, die dessen Primat über den auswendigen Lebensprozeß inwendig verstärkt.“ (Ebd.: 337) Der Lebensprozess, von dem Adorno hier spricht, ist nicht nur der gesamtgesellschaftliche, sondern auch der des jeweiligen besonderen Lebendigen selbst. Wird dieser Prozess vom Weltgeist in Beschlag genommen, so wird ihm dessen Prinzip der Einheitsstiftung aufoktroyiert, das falsche Leben gedeiht unter dem Gesetz der falschen Einheitsbildung, in der sich der Bann ins Subjekt hinein verlängert und eine „falsche“ subjektive Gestalt hervorbringt. Im mahnenden Eingedenken der Natur im Subjekt nennt Adorno die Implementierung falscher Einheit „Vertierung“; das die unter der Einheitsstiftung des Weltgeistes ihm gemäß sich Modelnde ist das auf „Selbsterhaltung ohne Selbst“ (AGS 8: 115) fixierte Vertierende: „Das Vertierte selbsterhaltender Vernunft treibt den Geist der Gattung aus, die ihn anbetet.“ (AGS 6: 341) In der durch Regression um den Geist gebrachten Gattung wird der Weltgeist als Fatum und dämonische Kraft anthropologisch wider die Intention negativer Anthropologie. Er wird dämonisch als Daimonion der Entwicklung der falschen Identität unter einem falschen Einheitsgesetz, und zwar gerade dadurch, daß die Menschen ihre eigenen, ihre je eigenen individuellen Interessen verfolgen, sie zu Exponenten, zu Vollstreckern ebenjener Objektivität werden, die, in dem sie dann in jedem Augenblick bereit ist, auch gegen ihre Interessen sich zu wenden, dann gerade auch zu dem über sie hinweg sich Durchsetzenden wird. (NL 4/13: 41)
Der Punkt, an dem dies geschieht, ist kein individuativ später, denn alle Individuation steht bei Adorno unter dem Gesetz der falschen Einheit, die verschiedene Namen trägt: Bann, Ideologie, Kapitalismus. Der Theorie Adornos zufolge ist der Punkt, an dem dies geschieht, der Anfangspunkt der Individuation, und in der Theorie selbst ist er „der Punkt, an dem die Hegelsche Geschichtsphilosophie ebenso mit der klassischen Nationalökonomie zusammenhängt, wie dieser ebenfalls mit Marx zusammenhängt.“ (Ebd.) Die zweite Linie von Adornos Geschichtsphilosophie läuft demgemäß über die Auseinandersetzung mit Marx. Der Weltgeist ist als Bann zugleich fait social. An einer Stelle spricht Adorno von „den kollektiven Mächten, die in der gegenwärtigen Welt den Weltgeist usurpieren“. (AGS 8: 455) Was der oben entfalteten Logik nach inkonsistent ist, weil die determinierende Kraft des Ganzen damit instrumentalisiert und vor den Karren von darin
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auftretenden Akteuren, denen sonst eher ein Marionettenstatus zukommt, gespannt wird, führt auf die Ökonomie und mit ihr auf das, was Adorno gleichermaßen soziologisch wie geschichtsphilosophisch als die Bewegungsgesetze der Gesellschaft bzw. als „Bewegungsgesetze der kapitalistischen Welt“ (NL 4/15: 104) thematisiert. Marxens Kapital wird von Adorno als valide Analyse des Bewegungsgesetzes der Gesellschaft anerkannt: „Real aber ist die Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der bewußtlosen Gesellschaft, wie es das ‚Kapital‘ von seiner Analyse der Warenform bis zur Zusammenbruchstheorie in einer Phänomenologie des Widergeistes verfolgt.“ (AGS 6: 349) Zum quasi-naturgesetzlichen Widergeist wird Hegels Weltgeist in seiner Transformation zum Tauschprinzip, dem ökonomischen Pendant des idealistischen Identitätsprinzips, welches das transzendentale Subjekt als ein solches des Kapitalismus annektiert: Die Allgemeinheit des transzendentalen Subjekts aber ist die des Funktionszusammenhangs der Gesellschaft, eines Ganzen, das aus den Einzelspontaneitäten und -qualitäten zusammenschießt, diese wiederum durchs nivellierende Tauschprinzip begrenzt und virtuell, als ohnmächtig vom Ganzen abhängig, ausschaltet. Die universale Herrschaft des Tauschwerts über die Menschen, die den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt, relegiert jenes Allgemeinheitsprinzip, das behauptet, es stifte die Vorherrschaft des Subjekts, zur Unwahrheit. (Ebd.: 180)
Nivellierend ist das Tauschprinzip, weil unter dem Diktat seiner Logik „nichts um seiner selbst willen, sondern alles nur, insoweit es Tauschwert besitzt“ (NL 4/7: 224), Wert hat; die Quantifzierbarkeit der Werte, die dem Tauschprinzip unterstehen, gewährt das gegenüber jeder konkreten Arbeit indifferente und abstrakte Medium Geld. Marx hat mit seiner Analyse des Kapitalismus offengelegt, wie mit der Transformation des Weltgeistes zum Tauschprinzip die operativen Grundlagen der „universale[n] Herrschaft des Tauschwerts“ (AGS 6: 180) sich ausbilden konnten. Wenn Adorno diese Herrschaft zur Unwahrheit erklärt, wiederholt er in der Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Logik, wie er sie von Marx her formuliert, was er in Bezug auf Hegels Weltgeist sagt. Dass im Tauschwert der Weltgeist in seiner vollendet nivellierenden Gestalt wiederkehrt, zeigen Formulierungen wie die folgende: Der Tauschwert, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung dieses Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität. (Ebd.: 149)
Der Weltgeist und der Tauschwert sind sinistre Zwillinge, beide Manifestationen von Unwahrheit, gegenüber beiden ist für das Recht des Besonderen einzutreten. Dementsprechend treten der Hegels Weltgeist und Marxens Tauschprinzip in Adornos Theorie als funktional identisch bzw. als funktional durcheinander substituierbare Identitätsprinzipien auf. Hat Adorno Hegel noch vorgehalten, die Dialektik um sich selbst gebracht zu haben, so ist dieser Einwand in seiner Marx-Lesart überflüssig:
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Indem der Weltgeist in Gestalt des Tauschprinzips – genau genommen wäre es ein Tauschwertprinzip – eine konkret wirksame und ökonomisch prinzipiell zugängliche Gestalt annimmt, erhält das Allgemeine bzw. Hegels Idee ein diabolisches Antlitz, denn in der Auseinandersetzung mit Marx offenbart sich die Ohnmacht negativer Dialektik an Formulierungen wie dieser: „Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde.“ (AGS 6: 150) Ein Satz wie: „In einer richtigen Gesellschaft jedoch würde der Tausch nicht nur abgeschafft sondern erfüllt: keinem würde der Ertrag seiner Arbeit verkürzt“ (ebd.: 291), nimmt sich in Anbetracht der Realität des heutigen Kapitalismus fast wie ein Kalenderspruch aus, weil die NichtIdentität hier lediglich in eine regulative Maxime utopischen Denkens übersetzt wird. Was Adorno geschichtsphilosophisch hinterlässt, ist vor allem eine triftige HegelKritik, weil Adorno in dieser, wenn auch nur sehr kursorisch, entscheidende Punkte thematisiert, vor allem Hegels Changieren zwischen strikter Dialektik und Platonismus. Bei Marx jedoch entdeckt Adorno lediglich den Weltgeist als ein total gewordenes Allgemeines, das mit dem Tauschprinzip gleichgesetzt wird und das Prinzip der Nicht-Identität als bloße dialektische Denkmöglichkeit zurücklässt. Gegen das „allgemeine Bewegungsgesetz der kapitalistischen Welt“ (NL 4/15: 104) in Anschlag gebracht, scheitert Nicht-Identität geschichtsphilosophisch, wie sie es auch logisch muss: „Dadurch ist die negative Dialektik, als in ihrem Ausgang, gebunden an die obersten Kategorien von Identitätsphilosophie. Insofern bleibt auch sie falsch, identitätslogisch, selber das, wogegen sie gedacht wird.“ (Ebd.: 150) Geschichtsphilosophisch bedeutet ihr Scheitern aber keine Aporie, sondern reale Ohnmacht; von ihr kündet Adornos Denkfigur der Nicht-Identität auch geschichtsphilosophisch dadurch, dass die Höllenmaschine mit dem Indikativ und die Versöhnung mit dem Konjunktiv verschwistert ist. Doch was ihr nicht zu nehmen ist, ist – wenn man sie beim Wort nimmt und dieses vom geistigen Impetus her begreift – ihr Status als normatives Prinzip des denkerischen Widerstands gegen die Erzeugung von Identität durch Nivellierung. Dass Nicht-Identität nicht geschichtsphilosophisch in ein philosophisches Programm übersetzbar ist, heißt nicht, dass sie nicht eine grundlegende Kritik der Hegel‘schen Geschichtsphilosophie und der Überhöhung der Kapitalismusanalyse Marxens zu einer solchen darstellte.
6.4 Synopsis Adornos Geschichtsphilosophie, die die idealistische in ihrer ohnmächtigen Dialektik im Besonderen unter normativem Einspruch invertiert, führt eindrucksvoll vor Augen, wie gedacht werden muss, wenn Unergründlichkeit durch „Negativ-Ergründetheit“ (Tamponi 2012: 355) undenkbar geworden ist. Die Negativ-Ergründetheit koinzidiert bei Adorno mit der Beschlagnahmung der Gesellschaft durch das sie bestimmende Allgemeine und durch die Herrschaft des Tauschprinzips als Materialisierung dieses bestimmenden Allgemeinen. Ist das Allgemeine eine diabolische Übermacht gegen-
6.4 Synopsis
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über dem Besonderen und dessen durch Marx vollendeter Spielballcharakter bei Hegel schon präformiert, so ist die Grundposition eines Denkens von Nicht-Identität die einer Ohnmacht, die sich allerdings immer noch utopisch affirmieren muss, wenn sie Plessners Unergründlichkeitsprinzip kritischer Zahmheit zeihen will. Dass Unergründlichkeit als Prinzip einer realen Möglichkeit, eines Lebens aus einem unergründlichen Lebensgrund, affirmiert wird, ist eine Obszönität für ein Denken, das den Weltgeist als Tauschprinzip und Höllenmaschine zugleich auffasst. Zugleich aber heißt an der Nicht-Identität als Prinzip festzuhalten, zu Ende denken, an der Unergründlichkeit festzuhalten, um philosophieren und nicht nur eine philosophisch elaborierte Grabrede auf zu Rettendes halten zu können. Die programmatische Maxime des Bruchs mit der idealistischen Philosophie hieße, wider die falsche Einheit von Weltgeist und Tauschwert denken – im Sinne und im Namen dessen, was unter die Räder beider gerät, solange deren Macht ungebrochen bleibt. Zugleich heißt das, die „Einheit von Geist und Natur“ (AGS 10/1: 103), wie sie „von der idealistischen Spekulation als die oberste Versöhnung konzipiert worden ist“ (ebd.), mit sich selbst gegen die idealistische Versöhnung zu versöhnen, was praktisch bedeutet: sich selbst gegen diese fabrizierte und verwaltete Einheit unidealistisch, aber ideell gesättigt zu „entwerfen“. Plessners gegenüber Adorno konträre Grundvoraussetzung in Macht und menschliche Natur lässt sich einfach formulieren: Es gibt Geschichte und in ihr kann menschliche Personalität sich als solche und somit genuin geschichtlich verwirklichen. Die Existenz von Geschichte und von Personalität sind nicht in der Weise interdependent wie bei Adorno, denn die Personalität erhält bei Plessner in den Stufen ihre anthropologische Explikation, d. h. die Geschichte kann Personen die Personalisierung erschweren, aber sie kann keine invertierte Kantische Bedingung der Möglichkeit als der Unmöglichkeit von Personalität sein, und sie kann dies nicht sein, weil die Geschichtsphilosophie bei Plessner nicht der direkte Niederschlag des Fatums der Geschichte auf der Basis einer Logik sein kann, die Identität als logisches-grammatisches Prinzip aufnimmt, um es auf die Geschichte auszudehnen. Wäre letzteres nicht der Fall, so wäre Nicht-Identität zwar logisch an Identität gebunden, aber nicht dazu verdammt, sich resignativ mit dem Leiden unter dem Bann von Identität in konjunktivisch formulierte Utopien²⁴³ zu flüchten. Was im vorigen Teil angesprochen wurde, zeigt sich in der Geschichtsphilosophie auf andere Weise: Wo Personalität anthropologisch anhand konkreter Ermöglichungsstrukturen wie der des privat-öffentlichen Doppelgängertums ausformuliert wird, wird ein Strukturminimum angegeben, von dem her Personalisierung auch in Adornos Welt noch verstanden werden kann, die realhistorisch auch die Plessners war. Mehr noch: Plessner und Adorno waren in der Nachkriegszeit privat befreundet²⁴⁴ und doch war die geteilte historische Welt beider philosophisch eine ungeteilte, nicht zuletzt deshalb, weil die negativ-
Dem ist besonders Bartonek (2011) nachgegangen, vor allem ebd.: 230 ff. Vgl. Monika Plessner 1995: 47 ff.
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6 Negativ-anthropologische Konvergenzen
anthropologischen Motive Adornos – das Eingedenken der Natur im Subjekt, die Libido, das Somatische als leibhafter Aspekt von Identität und Substrat des Leidens – mehr die zerstörerischen Auswirkungen der Übermacht des Allgemeinen zu akzentuieren erlauben als die Explikation derjenigen Strukturen (privat-öffentliches Doppelgängertum, Spiel von Leibsein und Körperhaben) und anthropologischen Grundlagen (Ontologie des Ausgleichs) der Personalisierung, die Plessners Konzept der Person im ersten Fall rückwirkend legitimieren und im letzteren Fall vorlaufend fundieren. Bei prinzipiell geteiltem negativistischem Impetus gegenüber der dumpfen Tatsächlichkeit von Geschichte und geschichtsphilosophischen Legitimationen oder Überhöhungen derselben führt bei Plessner das „Hegel über sich hinausführen“ (PGS 10: 43) auf das Verhältnis von Personalität und Geschichtlichkeit und auf die Verteidigung der Lebendigkeitsquellen der Person in der Geschichte; bei Adorno führt es auf die kapitalistische Höllenmaschine und die ohnmächtige Solidarität mit den ohnmächtigen, in ihrer Kreatürlichkeit gesehenen Menschen unterm Bann der naturbeherrschenden Geschichte. Hier soll nicht der naheliegende Eindruck erweckt werden, Plessner und Adorno verkörperten die klassische Gegenüberstellung von Optimismus und Pessimismus, und das nicht nur, weil Adorno selbst den Pessimismus als – wenn auch grummeligen – Kompromiss mit dem unwahren Ganzen verworfen hat.²⁴⁵ Plessners Schriften aus der Nachkriegszeit sind in einem anderen Ton gehalten als Macht und menschliche Natur und keineswegs frei von unlarmoyant und klaglos formulierten düsteren Diagnosen. Zwar existiert bei Plessner keine „Höllenmaschine“, aber ebensowenig belügt Plessner sich darüber, wohin die Reise bereits zu seiner Zeit ging. So ist die Rede vom „hirnlosen Infantilismus“ (PGS 10: 118) in der vaterlos gewordenen Gesellschaft, dem „Konkretismus der deutschen Nachkriegsjugend“ (ebd.), von der abwärtsevolutionären Substitution des Gebildeten durch den ungebildeten Könner,²⁴⁶ von der „der modernen Massendemokratie inhärente[n] Gefahr, in totalitäre Systeme mit manipulierter Elitebildung“ (ebd.: 142) abzugleiten und dementsprechend, statt von der Aufgeklärtheit der Nachkriegsdeutschen, von der „ständigen Verführung zum totalitären Staat“ (PGS 10: 118), von der Unterwerfung des Planeten unter die Bedürfnisse eines bestimmten Zivilisationstypus (Vgl. ebd.: 107) und von der „zunehmenden Organisation und Bürokratisierung“ (PGS 8: 112) mit der Folge, „daß die soziale Planung „Pessimismus als Generalthese, Pessimismus, der, sofern er die Totalität lehrt, impliziert, alles sei von Grund auf schlecht, wie schon bei Schopenhauer, hat die Tendenz, dem einzelnen real Schlechten in der Welt zu Hilfe zu kommen, indem es sagen kann, die Versuche, das Ganze zu ändern, seien doch vergebens.“ (NL 4/13: 15 f.) Ironischer- und treffenderweise finden sich diese von den seitdem vergangenen Jahrzehnten „überbewahrheiteten“ Ausführungen in dem Aufsatz Über Elite und Eltenbildung: „Der ungebildete Könner, der Funktionär seines Fachs, der reine Spezialist schiebt sich in den Vordergrund. Er, das legitime Produkt der zur Fachschule werdenden Universität in einer sich immer stärker auffächernden Gesellschaft und ihrem auf Sicherung der Massen bedachten Wohlfahrtsstaat, ist oft nur noch ein gelehrter Barbar, der schon von Hause aus nichts mehr mitbringt und dem auch das Studium generale die fehlende Kinderstube nicht ersetzen kann.“ (PGS 10: 145)
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in den industriell fortschrittlichsten Ländern zur Hauptsache nur noch von Zweckmäßigkeitserwägungen abhängt“. (Ebd.) Bei Plessner gehen solche Beobachtungen jedoch nicht ins normative Fundament des philosophischen Ansatzes ein, sie durchdringen nicht die Grundbegriffe seines Denkens, aber gutmütiges und unkritisches Einverstandensein kennzeichnet Plessners Haltung ebensowenig.
7 Negativ-anthropologische Konvergenzen in Plessners und Adorno Kritik der Moderne 7.1 Vorbemerkungen Mit Arbeiten zum Begriff der Moderne lassen sich mittlerweile ganze Bibliotheken füllen. Ohne all zu große investigative Mühe lässt sich ad hoc unterscheiden zwischen politischer, gesellschaftlicher, soziologischer, ästhetischer, philosophischer Moderne; man kann auch von einer historischen Moderne im allgemeinen Sinne sprechen und die Frage nach deren Verhältnis zu einer geschichtsphilosophischen Moderne aufwerfen. Die Möglichkeiten sind zahlreich, die Definitionen von Moderne noch viel zahlreicher. Im Durchgang durch so viel Material wie möglich lässt sich allerdings immanent nichts gewinnen. Das bestmögliche Resultat wäre ein Begriff von Moderne, der über den Denkwelten Plessners und Adorno schwebt und als ein ihnen fremden Drittes zu ihnen in Beziehung gesetzt werden müsste, ohne aus ihnen erwachsen zu sein. Hier wird umgekehrt von dem ausgegangen, was sich bei Plessner und Adorno ausmachen lässt, nämlich ihr Verständnis von Moderne. Dabei wird wiederum abgesehen von der „ästhetischen Moderne“, die zwar für eine Analyse von Adornos Denken im Ganzen von Bedeutung ist, aber die in diesem Buch verfolgten Linien nicht berührt und zudem bei Plessner keine das Gepräge seiner Philosophie bestimmende Kraft besitzt. Stattdessen geht es hier um zwei Begriffe der Moderne, nämlich um die (1) historisch-gesellschaftliche bzw. politische Moderne, zu denen beide Philosophen bedeutende Beiträge formuliert haben, was im Fall Adornos wenig wahrgenommen wird in der Fixierung auf seine Ästhetik; und um die (2) wissenschaftliche Moderne im weitesten Sinn, die Plessner konkret durch die Biologie bestimmt, während für Adorno die Psychoanalyse und die politische Ökonomie eine Schlüsselfunktion für eine Auffassung der wissenschaftlichen Moderne besitzen, so umstritten sie in dieser Funktion auch sein mögen.
7.2 Adorno: Die „Entgeistung“ der Moderne in ihrer kapitalistischen Totalisierung und Geist als kritisches Differenzprinzip Hier ist der gegenüber dem vorigen Kapitel umgekehrte Weg zu nehmen, weil Adornos Verständnis der Moderne und seine philosophische Positionierung innerhalb ihrer von Plessner in seinem späten Aufsatz Adornos Negative Dialektik explizit thematisiert und kritisiert wird, wodurch Plessner sich selbst zum geeigneten Ausgangspunkt dieses Vergleichsaspekts macht. Das Verhältnis der Herausbildung der modernen Nationen und des Hochkapitalismus steht bei Adorno im Zentrum seiner Überlegungen. Innerhalb der gesellhttps://doi.org/10.1515/9783110773682-008
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schaftlichen Moderne bildet sich zudem auch Personalität im modernen Sinne heraus, wie Hegel sie in der Rechtsphilosophie abhandelt, ohne dass dieser Sachverhalt seitens Adorno die nötige Beachtung fände. Adorno nimmt stattdessen die Geschichtsphilosophie Hegels zum Ausgangspunkt und denkt sie in der Betrachtung des Verhältnisses der modernen Nationalität und des Hochkapitalismus mit Marx weiter. Nationen und damit moderne Gesellschaften sind mit dem „politischen Sieg des Bürgertums über den Absolutismus“ (NL 4/13: 157), d. h. in der Konstitution des Bürgertums als historischer Akteur in der politischen Emanzipation von der Feudalherrschaft entstanden: „Es hat die Nation sich überall entfaltet im Kampf gegen die welthistorische, aber durch die Basis des familialen Zusammenhangs eben doch auch noch wesentlich naturale Feudalmacht.“ (Ebd.: 154) Die Emanzipation des Bürgertums war kein rein politischer Akt, sondern die Grundlage der Organisation der Gesellschaft gemäß der bürgerlichen Vorstellung davon, wie wirtschaftliche Freiheit organisiert zu werden habe; die Nation war ihre spezifische Organisationsform: Die Nation ist, kann man sagen, die spezifisch bürgerliche Organisationsform der Gesellschaft; sie ist eine Organisationsform, insofern sie selber ein historisch Entsprungenes innerhalb bestimmter, sei es geographischer, sei es linguistischer, sei es anderer Einheiten ist, das nicht einfach da ist, sondern sich selber durchsetzt in geschichtlichen Kämpfen. (Ebd.: 153)
Sie ist ein „historisch Entsprungenes“, das sich zwar „gegen die Naturalverbände durchsetzt“ (ebd.) und der dadurch eine „außerordentlich progressive Funktion“ (ebd.: 156) in der modernen Geschichte zukommt, insbesondere dadurch, dass durch die Nation „eine Art von allgemeiner Rechtssicherheit – etwa die des Geleitzschutzes und ähnlicher Dinge – überhaupt geschaffen worden ist“ (ebd.: 156). Die Naturalverbände werden zwar überwunden, aber sie verschwinden damit nicht, erst recht verlieren sie ihre identitätsstiftende Kraft nicht. Am Anfang der Nation steht deshalb zugleich eine „Urtäuschung, die im Begriff der Nation liegt“ (ebd.: 154), nämlich die Täuschung, fortwährend das zu konservieren, was in ihr als Organisationsprinzip gerade nicht mehr wirksam ist. Die Urtäuschung ist nötig als der Schein, eine bruchlose Integration der Naturalverbände zu gewährleisten und diese im modernen Organisationsformat Nation unversehrt zu konservieren, d. h. „sich selber so zu geben, als ob sie ein solcher Naturalzusammenhang wäre“ (ebd.). Diese Urtäuschung ist somit keine Misslichkeit, die der Nation intentionslos zufällt, sondern eine produktive Illusion, aus der ihre Integrationskraft sich speist. Hegel hat Adorno zufolge das Verhältnis des Naturalzusammenhangs mit der modernen Organisation der Gesellschaft im Format der Nation im Verhältnis von Volksgeist und Nation reflektiert und damit an der Ideologie der Nation mitgewoben,²⁴⁷ und dies vor allem dadurch, dass er die Nation vom Volksgeist her verstanden hat. Volksgeister sind kein bloßes Substrat der Nation bei Hegel, sondern deren Urtümliches und Substanz zugleich, die sich in Sitte, Brauch, Kultur und der Familie „Hegel hat an der Vergötzung der Nation mit seiner Geschichtsphilosophie Anteil.“ (Ebd.: 150)
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verkörpern. Ihnen kommt bei Hegel eine Unverlierbarkeit suggerierende Eigenständigkeit zu und damit das, was Adorno in Abgrenzung von Hegel „das Überholte ihrer vorgeblichen Substantialität“ (AGS 6: 333) nennt. Das Fortwesen des Überholten, das sich darin zeigt, dass ideologische Leistungen innerhalb einer Nation in der stärkenden Rückwirkung auf diese im Ganzen „als Leistungen des kollektiven Unbewussten“ (NL 4/13: 155) selbst verstanden werden, enthält die reale Möglichkeit der Heimsuchung: „Die unterdrückte Natur wird in Gestalt des Nationbegriffs mobilisiert im Interesse fortschreitender Naturbeherrschung, fortschreitender Rationalität, und ist als Regressionsphänomen, also als Rückgriff auf ein bereits Überholtes, ebenso vergiftet wie durch ihre Unwahrheit“ (ebd.: 155 f.), d. h. durch ihre Urtäuschung wie durch deren identitätskonstitutive Funktion, die sich von ihrer Existenz selbst, einer unaufhebbaren Existenz-im-Modus-von, nicht trennen lässt. Hier bricht eine bemerkenswerte Ambivalenz bei Adorno durch, ist das Unterdrückte doch zugleich das Rückständige, demgegenüber die „außerordentliche progressive Funktion“ (ebd.: 156) ins Feld geführt wird. Unterdrückte Natur ist hier Prinzip der Regression, deren Wirksamwerden gerade nicht zu erhoffen ist, obwohl umgekehrt deren „Unwirksamhaltung“, ihre unschädliche Konservierung, gerade dem Fortschreiten von Naturbeherrschung in die Hände spielt. Die Entwicklung der Nation schreitet fort auf einem schmalen Pfad zwischen der Scylla des Nationalismus und der Charybdis der entfesselten Naturbeherrschung: Die moderne Welt […] schließt einen Kompromiß mit den unterdrückten und wieder heraufkommenden naturalen Verbänden – worin schon die Wildheit und Aggressivität der bloßen Nationalverbände liegt: verstümmelte Natur wird durch Unterdrückung mit Nation zusammengebracht. Dies Verstümmelte enthüllt sich im Nationalismus bis heute. (Ebd.: 151)
Bereits die Analyse des Phänomens Nation als Medium der Herausbildung der modernen Welt bedarf der Heranziehung psychoanalytischer und marxistischer Kategorien. Die Nation ist die Organisationsform der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der Regression; sie implementiert die Naturbeherrschung, indem sie das Volk als Träger kollektiv-libidinöser und regressiver Regungen und den institutionellen Rahmen der Wirtschaft durch die angesprochene „Rechtssicherheit“ aufeinander einstellt. Was sie ermöglicht, um Adornos zentralen Anknüpfungspunkt bei Marx hier einzubringen, ist die „rationale Organisation nach dem Tauschprinzip von größeren Bevölkerungskomplexen“ (ebd: 156). Tauschprinzip und Naturbeherrschung sind hier wie in der Geschichtsphilosophie innig verwoben als Konstitutionsmomente gesellschaftlicher Modernisierung. Dass die Nation das Identitätsprinzip der naturalen Verbände nicht aufgibt, macht sie allerdings zu einem Zwitterungetüm aus rationaler Organisation und durch Verdrängung verstümmelter Natur. In ihrem Zentrum nistet aufgrund der ideologischen Funktion der Naturhaftigkeit von Nationalität ein eklatantes Missverhältnis von Regressivität und Progressivität: „Gegen die Konstruktion einer radikal durchgeführten Tauschgesellschaft stellen Nation und Volksgeist ein anachronistisches Moment dar.“ (NL 4/13: 152)
7.2 Adorno: Die „Entgeistung“ der Moderne
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Die Moderne ist Adorno zufolge aus der Nation geboren worden,²⁴⁸ doch sie entwächst dieser unaufhaltsam. Was in den Nationen sich entwickelt, dem sehen die Nationen sich im Laufe der Zeit machtlos gegenübergestellt, nämlich der gerade in den USA um sich greifenden und das gesellschaftliche Ganze okkupierenden „Vormacht der industriellen Produktion“ (ebd.: 160). In der Entwicklung der modernen Nation reflektiert sich die Entwicklung des Kapitalismus. In einem Brief an Walter Benjamin aus dem Jahr 1935, dessen Gegenstand Benjamins Buch Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus (Benjamin 1991) ist, spricht Adorno von „den Marktgesetzen des frühen Hochkapitalismus als der Moderne im strikten Sinn“. (Adorno/Benjamin 1995: 123) Der Hochkapitalismus, dem auch in Plessners Betrachtung der Moderne eine tragende Rolle zukommt, bildet das Prinzip der Übersteigung der Nation, die dessen organisatorische Grundlagen gelegt und gesichert hat; er bildet auch das Prinzip dessen, dass „die ‚Einheit‘ der Moderne seitdem eben im Warencharakter liegt“ (ebd.: 143). Im Hochkapitalismus und bei Baudelaire als dessen dichterischem Seismograph tritt die Kategorie des Neuen ihren Siegeszug an; noch in der Ästhetischen Theorie ist ein Abschnitt, in dem Adorno die Verbindung der Kategorie mit dem Hochkapitalismus explizit anspricht (AGS 7: 36), mit der Überschrift „Geschichtsphilosophie des Neuen“ (ebd.: 37) versehen. Der Hochkapitalismus ist der „Ort“ des verheißungsvoll-chimärischen Kündens vom Neuen schlechthin wie auch der Gegenstand der Marx‘schen Analysen: „Die Welt, gegen die Kierkegaard das Christliche hielt […] ist die hochkapitalistische Gesellschaft, wie gleichzeitig […] Marx sie analysierte.“ (AGS 2: 256) Der Kapitalismus hat sich zwar in der Moderne gewandelt gemeinsam mit der Organisation der modernen Gesellschaft im Ganzen, doch die Grundprinzipien, die Adorno von Marx übernimmt, bleiben davon unberührt. Adorno liest den Kapitalismus 100 Jahre nach Marx strikt von Marx her und am Leitfaden des metaökonomischen bzw. entgrenzten und fundamentalisierten Tauschprinzips. Dennoch macht Adorno verschiedene Ausprägungen des Kapitalismus aus. In seinen Aufzeichnungen von 1941 spricht er vom „Monopol- und Staatskapitalismus“ (Adorno 2016: 261). Generell spricht Adorno öfter, wo er von einem diktatorisch angeleinten Kapitalismus spricht, von „Staatskapitalismus“,²⁴⁹ dabei einen Begriff Friedrich Pollocks (1982) entlehnend, den dieser in seiner Analyse der nationalsozialistischen Transformation des Kapitalismus geprägt hat. Die USA bezeichnet Adorno, trotz der obigen Verquickung beider Begriffe, als das „Land des Monopol-
Es ist übrigens bemerkenswert, dass der Zusammenhang zwischen Nationalstaatlichkeit und gesellschaftlicher Moderne in Sörensens und Bohmanns Kritische Theorie der Politik (2019) keine Rolle spielt, hätte sich doch angeboten, Gehalten einer politischen Theorie bei Adorno nachzuspüren. Als einziger in diese Richtung nachgefragt zu haben, scheint mir Thorben Päthe (2017), allerdings orientiert am Begriff des deutschen Geistes und am Kulturbegriff, nicht am politischen Konzept der Nation. NL 4/15: 56; GS 10/1: 100; GS 9/11: 362 und 364; Adorno 2016: 261.
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kapitalismus“²⁵⁰ (NL 5/1: 163). Eine klare Abgrenzung von Marx vollzieht Adorno unter Beibehaltung von dessen theoretischen Grundlagen mit dem Begriff des Spätkapitalismus, dessen Adorno und Horkheimer sich in der Dialektik der Aufklärung erstmals bedienen.²⁵¹ Der Spätkapitalismus tritt in einer zentralen Hinsicht als Antipode des Hochkapitalismus auf: An die Stelle des Neuen tritt die Immergleichheit als Signum der Kulturindustrie.²⁵² In seinem Vortrag Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (1968) beantwortet Adorno die im Titel gestellte Frage erwartbarerweise mit einem Sowohl-als-auch, dem zufolge „die gegenwärtige Gesellschaft durchaus Industriegesellschaft […] nach dem Stand ihrer Produktivkräfte“ (AGS 8: 361), aber „Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen“ (ebd.) ist. Auch hier betont Adorno allerdings wieder die Gültigkeit der Grundergebnisse von Marx: „Stets noch sind die Menschen, was sie nach der Marxischen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie“ (ebd.). Den Hochkapitalismus und den Spätkapitalismus eint noch die ungebrochene Regentschaft des Tauschprinzips.²⁵³ Worin Adorno mit dem Konzept des Spätkapitalismus von Marx abrückt, sind die Ablehnung der Revolutionstheorie und des Zusammenbruchsdeterminismus Marxens. Adorno erkennt an, dass der Kapitalismus sich als widerstandsfähiger erwiesen hat, als Marx sich vorstellen konnte. Zudem hat gerade die Kulturindustrie es ermöglicht, über Arbeiter nicht nur während der Arbeitszeit zu verfügen, sondern auch in der sogenannten Freizeit deren Bedürfnisse in Beschlag zu nehmen und sie dadurch stillzustellen: „Über alles zur Zeit von Marx Absehbare hinaus sind die Bedürfnisse, die es potentiell längst waren, vollends zu Funktionen des Produktionsapparates geworden, nicht umgekehrt. Sie werden total gesteuert.“ (Ebd.) Das Proletariat hat seine revolutionäre Funktion verloren, indem es selbst zu einem beliebig manipulierbaren Funktionselement eines Unterhaltungsapparates wird.²⁵⁴ In Adornos Begriff der Moderne laufen wiederum Hegel und Marx ineinander.Was zur obigen Analyse von Adornos Geschichtsphilosophie entscheidend hinzutritt, ist Die USA sind für Adorno das Land des Monopol-, aber nicht des Staatskapitalismus, dieser Begriff bleibt Diktaturen bei Adorno vorbehalten. „Das Existieren im Spätkapitalismus ist ein dauernder Initiationsritus. Jeder muß zeigen, daß er sich ohne Rest mit der Macht identifiziert, von der er geschlagen wird. Das liegt im Prinzip der Synkope des Jazz, der das Stolpern zugleich verhöhnt und zur Norm erhebt.“ (AGS 3: 176) Vgl. ebd.: 156, 183, 190 und 332. – Die Immergleichheit ist aber auch die des Amüsements, das gerade eine neuartige Selbsterhaltungsfunktion des Spätkapitalismus ist. Die Immergleichheit dessen, was den Arbeitern, auch den späteren Arbeitnehmern, als Amusement zum Konsum hingeworfen wird, schlägt die regenerative Zeit mit Harmlosigkeit und verlängert den Bann in die Regeneration hinein vermöge ihrer Dumpfheit: „Amusement ist die Verlängerung der Arbeiter unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein.“ (AGS 3: 158) „Alles ist Eins. Die Totalität der Vermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprinzips, produziert zweite trügerische Unmittelbarkeit.“ (AGS 8: 369) „Allzu optimistisch war die Erwartung von Marx, geschichtlich sei ein Primat der Produktivkräfte gewiß, der notwendig die Produktionsverhältnisse sprenge. Insofern blieb Marx, der geschworene Feind des deutschen Idealismus, dessen affirmativer Geschichtskonstruktion treu.“ (Ebd.: 363)
7.2 Adorno: Die „Entgeistung“ der Moderne
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der Begriff der Nation und dessen Funktion in der Entwicklung der Moderne. Die defätistische Revision von Marx behält von diesem Grundelemente der Logik des Kapitalismus wie das Tauschprinzip und das Profitmotiv zurück, erkennt den total gewordenen Vorrang der Produktionsverhältnisse vor den Produktivkräften an, und zwar nicht als Merkmal des Kapitalismus, sondern des Zeitalters: „Signatur des Zeitalters ist die Präponderanz der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte, welche doch längst der Verhältnisse spotten.“ (Ebd.: 363) Adorno zufolge werde dabei Marxens Satz, „daß auch die Theorie zur realen Gewalt wird, sobald sie die Massen ergreift, […] eklatant vom Weltlauf auf den Kopf gestellt“ (ebd.: 364). Zurückzufragen wäre hier, ob das Bild vom Auf-den-Kopf-stellen nicht gerade suggeriert, es wäre ein Aufwand nötig, der jedoch gerade dadurch überflüssig geworden sei, dass keine Theorie mehr, sofern dies überhaupt je anders als nur tagträumerisch möglich erschien, Massen zu ergreifen imstande sei. Aber gerade diese Revision von Marx wirft die Frage auf, was Adorno zur Moderne noch kritisch zu sagen hat bzw. zu sagen weiß. Hier ist ein Rekurs auf den Essay Die auferstandene Kultur (1949) nötig, weil Adorno darin die Überholtheit der Nation sowohl deskriptiv wie normativ konzediert und eine Doppelkritik von Nation und vom Unterstelltsein der Welt unter das Tauschprinzip formuliert – und, indem er seine Kritik konjunktivisch-utopisch formuliert, deren Ohnmächtigkeit zugleich vor Augen führt. Adorno geht in diesem Text von der politischen Unmündigkeit eines aus Kriegstrümmern langsam und mühsam sich aufrichtenden Deutschlands aus: „Politischanthropologisch scheint mit für den Zustand des Geistes hier die Ahnung davon bestimmend, daß Deutschland aufgehört hat, politisches Subjekt in jenem nationalstaatlichen Sinne zu sein, wie er für die letzten 150 Jahre maßgebend war.“ (AGS 20/2: 463) Das gilt für Deutschland in besonderem Maße, aber gilt es nur für Deutschland? Nein, denn Adorno diagnostiziert in Bezug auf die Nation als gesellschaftliches Organisationsprinzip grundsätzlich eine „organisatorische Unzulänglichkeit gegenüber dem Stand der Produktivkräfte“. (NL 4/13: 156) Die deutsche Situation im Besonderen nimmt Adorno in Die auferstandene Kultur zum Anlass, konjunktivisch eine Utopie zu entwerfen, in der es möglich wäre, „den nationalstaatlich definierten Begriff des politischen Subjekts hinter sich zu lassen“ (ebd.: 464). Conditio sine qua non solcher Überhebung über die Nationalstaatlichkeit wäre, „den Gedanken ans Drankommen und die Teilhabe an der Macht als veraltet [zu] durchschauen“ (ebd.). Dann wäre das Desiderat der Beseitigung der Landesgrenzen einlösbar: „Ich muß kaum hervorheben, daß ich dabei nicht an die bloße Beseitigung der europäischen Landesgrenzen denke, so sehr die auch an der Zeit ist.“ (Ebd.) Dass diese Beseitigung nicht nur im geschichtsphilosophischen oder schlicht wirtschaftspolitischen Sinn intendiert ist, sondern normativ, geht aus dem Zitat genauso hervor wie aus der Utopie der versöhnten Menschheit, die mit dem Konkretum der praktischen Beseitigung der europäischen Landesgrenzen umstandslos amalgamiert wird: „Unwahr ist die Vorstellung, daß man Subjekt nur sei als Subjekt gesellschaftlicher Macht, nicht als Subjekt von Freiheit, als Subjekt einer versöhnten Menschheit.“ (Ebd.) Das Identitätsprinzip der „falschen“ Moderne ist hier das der Nation, die es erlaubt, dass das Kapital in der
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nationalen Organisation der Gesellschaft die Basis seiner Absicherung findet. Die Identität der Menschheit als solcher mit sich selbst zu realisieren, würde gerade bedeuten, die Nicht-Identität der Menschheit mit sich selbst in den engen Grenzen von Nationen, in die sich wider sich selbst auffächert, zu überwinden. Adorno gibt dieser Utopie, die mit den Landesgrenzen einen klaren politischen Inhalt erhält, ein gänzlich unpolitisches Antlitz, indem er den Geist ins Zentrum rückt. Der Text schließt folgendermaßen: Die Starre, die der Geist widerspiegelt, ist keine natur- und schicksalshafte Macht, der man ergeben sich zu beugen hätte. Sie ist ein von Menschen Gemachtes, der Endzustand eines geschichtlichen Prozesses, in dem Menschen Menschen zu Anhängseln einer undurchsichtigen Maschinerie machten. Die Maschinerie durchschauen, wissen, daß der Schein des Unmenschlichen menschliche Verhältnisse verbirgt, und dieser Verhältnisse selbst mächtig werden, sind Stufen eines Gegenprozesses, einer Heilung. Wenn wirklich der gesellschaftliche Grund der Starre als Schein enthüllt ist, dann mag auch die Starre selber weggehen. Der Geist wird lebendig in dem Augenblick, in dem er nicht länger sich bei sich selber verhärtet, sondern der Härte der Welt widersteht. (Ebd.)
Das psychoanalytische Motiv der Heilung durch Einsicht (statt einer marxistischen „Expropriation der Expropriateure“) in die pathologische Struktur eines Charakters – hier einer Gesellschaft und des geschichtlichen Prozesses, der die Moderne selbst darstellt – ist deutlich präsent. Wo in der Psychoanalyse die Verdrängung waltet, sind es die erstarrten, kalten Verhältnisse, die sich in den Menschen selbst als deren Starre und Verhärtung reproduzieren. Die Psychoanalyse erhält derart eine holistische Fassung, an die Stelle von Verdrängung und Psyche tritt das konformistische Verhalten und der Mensch, der sich gemäß der Internalisierung dessen, was Macht von ihm verlangt, verhält. Die Macht der Maschine wird von Adorno mit dem in sich erstarrten und daher auf diese Macht fixierten Geist enggeführt, von dem zu sagen ist, er sei nicht die „natur- und schicksalshafte Macht“ (ebd.), als die er geschichtlich für die Menschen auftritt. Aufklärung und Heilung erfordern die Einsicht, dass dieses scheinhafte An-sich ein Für-sie und insofern Schein ist. Doch im letzten Satz zeigt sich auch die Mehrdeutigkeit dieser Utopie: „Der Geist“ ist sowohl der Geist, wie er als Macht sich versteinert verkörpert, als auch der „der Geist“ als solcher, der den erstarrten Geist erkennt und durchschaut. „Der Geist“ in dieser Allgemeinheit kann nämlich nur lebendig werden, wenn er nicht mehr in eine Partikularität übersetzbar ist, wenn er also wirklich Geist ist und nicht mehr Ideologie, anders gesagt: wenn er seine falsche Identität abstreift und Geist gerade dadurch wird, dass er das Nichtidentische, das er als Partikulares gewaltsam aus sich ausscheidet und unterdrückt, in sich aufnimmt. „Der Geist“, den Adorno hier utopisch adressiert, ist der humane; derjenige Geist, den es durch diesen zu überwinden gilt, ist der „raubtierhafte“²⁵⁵ idealistische, der bei Hegel alles sich einverleiben will, wie er in seinem als Weltgeist sedimentierten Prinzip der Herrschaft alles sich unterwirft und in dieser Unterwerfung gleichmacht. Der Vgl. AGS 6: 33.
7.2 Adorno: Die „Entgeistung“ der Moderne
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idealistische Geist der Erkenntnis und der Weltgeist finden ihren gemeinsamen Nenner in dem, was das Tauschprinzip trägt: Kommensurabilität.²⁵⁶ Geist, wäre für Adorno gerade ein solcher, der Kommensurabilität, und damit funktionale und als ontologische sich gebende Identität, auflöste. Was dann an die Stelle der Macht träte, wäre die Lebendigkeit, was in ihr von der über sie verhängten Starre befreit würde, wäre – nicht mehr national einhegbare und insofern anthropologische – Natur, die dann nicht mehr mit dem Geist im Widerspruch stünde, denn in der versöhnten Menschheit wären auch Natur und Geist versöhnt. Die theoretischen Schwächen von Adornos Ausführungen können – insbesondere, weil er eine solche abstrakte Utopie und die Beseitigung von Landesgrenzen leichtfertig ineinanderlaufen lässt – hier nicht verschwiegen werden. Dies ist umso weniger möglich, als diese Schwächen nicht nur aus einem horrenden ordnungspolitischen Desinteresse resultieren, sondern strikt immanenter Natur sind. Wenn Adorno sagt, die Beseitigung der Landesgrenzen sei „an der Zeit“ und wenn außerdem die Nation durch eine „organisatorische Unzulänglichkeit gegenüber dem gesamten Stand der Produktivkräfte“ (NL 4/13: 1 56) gekennzeichnet ist – letzteres sagt Adorno in einer Vorlesung 1964/65, aber logischerweise war diese Ansicht schon zur Zeit der Abfassung der Dialektik der Aufklärung ausgebildet, in der der Kapitalismus als planetarisches Desaster aufgefasst wird –, dann stellt Adorno mit der Beseitigung der Landesgrenzen sich unfreiwillig in den Dienst genau derjenigen Entfesselung des Kapitalismus, den er als Höllenmaschine ansieht.²⁵⁷ Diese Höllenmaschine genießt dann freie Fahrt, weil Adorno theoretisch inkonsequent verfährt und unmerklich das Verhältnis von Nation und Kapitalismus entflechtet, was aufgrund seiner Beschreibung des Kapitalismus aber nur zu dessen Gunsten geschehen kann. Bei Adorno gerät dies aus dem Fokus, wo die Psychoanalyse und das Motiv der Heilung die Utopie in Regie nehmen. Damit hört Adorno aber auf, die Logik der Naturbeherrschung zu denken, denn der immanenten Logik seines Denkens zufolge muss das Kapital sich von Landesgrenzen emanzipieren, allerdings nicht in der romantischen Form einer Vereinigung, wie sie für das Proletariat angedacht war, sondern in Form einer Expansion, eines Umsichgreifens. Gerade der transnationalen Entfesselung der Produktionsverhältnisse redet Adorno damit das Wort wider seine Intention – und insofern zugleich gemäß seiner Intention, weil die Menschheit sich nur als Menschheit und nicht im nationalen Format versöhnen kann. Doch alle Passagen, in denen Adorno diagnostisch an Marx anschließt, legen nahe, dass mit den Landesgrenzen die letzte Begrenzung der Allmacht des Kapitals fiele. Dass Adorno dies nicht bemerkt, ist bemerkenswert. Solchen Ausführungen kann man entnehmen, warum Adorno innerhalb derjenigen politischen Theorie, die man im emphatischen Sinne so nennen
Die womöglich gewichtigste Stelle hierzu aus der Negativen Dialektik ist bereits weiter oben zitiert worden, vgl. GS 6: 149. Was hier en detail einer Klärung bedürfte, wäre das Verhältnis von Adornos Überlegungen zu dem, was heute Globalismus genannt wird.
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kann, keine nennenswerte Rolle spielt.²⁵⁸ Auch eine Assoziation der „Beseitigung der europäischen Landesgrenzen“ mit Habermas‘ Konzept der postnationalen Konstellation würde solche Passagen bei weitem überschätzen und in die Versöhnungsrhetorik ein politisches Bewusstsein hineintragen, auf dessen Vorhandensein die Formulierungen gerade nicht schließen lassen, mehr noch: dessen Nichtvorhandensein sie verraten. Diese Anmerkungen sollen aber nicht aus dem Blick geraten lassen, dass das Prinzip der Nicht-Identität, versuchte man es systematisch zu fassen und gegen die Moderne in Anschlag zu bringen, nicht produktiv werden könnte. Dazu müsste das Unterdrückte, dessen Exposition Adornos negativ-anthropologische Kritik als philosophisch wie gesellschaftlich Ungedachtes und Unsichtbares und dadurch Unterdrückbares erweist, mit dem politisch Ungedachten, d. h. mit dem realen Denken politischer Möglichkeiten, die dem anthropologisch Ungedachten ermöglichen, aus seiner Unsichtbarkeit herauszutreten, sich politisch statt utopisch verbünden. Adornos Denkfigur der Nicht-Identität legt den Blick darauf offen, dass Kommensuration und Unterdrückung nicht identisch miteinander sind, ohne jedoch in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung zu stehen: Kommensuration ermöglicht Unterdrückung, indem sie das Unterdrückte unsichtbar macht, ist aber selber Teil der Unterdrückung, die aufgrund ihrer durchhaltbar ist. Die Unterdrückung hält ihre Praxis durch dank der Kommensuration, die nicht in der Unterdrückung, sondern tatsächlich bereits in der Identitätslogik²⁵⁹ und der ihrer bedürfenden Urteilspraxis, auch der allen sozialen Urteils, ihren Grund findet. Besonders eindrückliche Beispiele für relevante politische Theorie sind meines Erachtens die kaum (noch) gelesenen Raymond Aron und Panajotis Kondylis. Legt man die umfangreiche, 30 seit 1978 erschienene Einführungen in die politische Theorie auswertende Analyse von Reese-Schäfer/ Salzborn (2015) zu Kanoisierungsvorgängen im Bereich der politischen Theorie zugrunde, dann fällt auf, dass sowohl Adornos Hauptanknüpfungspunkte Hegel und Marx wie auch sein „Nachfolger“ Jürgen Habermas den Klassikern der politischen Theorie zugerechnet werden, Adorno selbst aber nicht. Auffällig ist dabei auch, dass die eigentlichen politischen Köpfe der frühen Kritischen Theorie, Otto Kirchheimer und Franz Neumann, in der Politikwissenschaft ebenfalls weit von einem Klassikerstatus entfernt sind und selbst innerhalb der Kritischen Theorie kaum wahrgenommen werden (auch von Habermas nicht).Vor diesem Hintergrund muss man schon fast die Frage stellen: Was hat die Kritische Theorie der politischen Theorie überhaupt zu bieten? Symptomatisch fällt ein aktueller Versuch aus, die Kritische Theorie, und zwar gerade die frühe, als politische Theorie zu lesen: „Kritische Theorie ist insofern also stets politische Theorie, als sie parteiisch ist, getragen von einem ‚Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts‘, und damit beansprucht, ‚Theorie als Moment einer auf neue gesellschaftlichen Formen abzielenden Praxis‘ zu sein.“ (Bohmann/Sörensen 2019: 18) Wenn Parteilichkeit den politischen Gehalt stiftet, ist die Kritische Theorie politisch allzu leicht Formen von Identitätspolitik assimilierbar. Sie gibt dann weder eine Theorie noch eine Kritik der Gesellschaft als Ideologie oder innergesellschaftlicher Ideologien, sondern wird selbst zum ideologischen Instrument von Parteien im gesellschaftlichen Kampf. Im Verhältnis zur Intention der Kritischen Theorie wäre das, als würde man die Versöhnung an die Kulturindustrie delegieren. Hier ist Adornos so einfacher wie folgenschwerer Grundsatz „Denken heißt identifizieren“ (AGS 6: 17) in seiner Verbindlichkeit ernstzunehmen. Wenn Adorno vorgehalten wird, er würde „nie zwischen ‚Etwas identifizieren als…‘ und ‚Etwas identifizieren mit…‘“ (Schnädelbach 1983: 72) unterscheiden, so stimmt dies zwar, aber die Herrschaft des Identitätsprinzips macht es gerade aus, eine solche Unter-
7.3 Plessner: Das Prinzip der Unergründlichkeit
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Adorno führt in seiner Utopie die Kritik des nationalstaatlichen Europas mit der der Identitätslogik in der Aufforderung zusammen, die Moderne über ihre seines Erachtens so anachronistische wie für sie konstitutive Grenze des Nationalstaates hinauszudenken – eine Aufforderung, die zugleich nicht eingelöst wird und deren Ambivalenz dementsprechend unentfaltet bleibt. Aber darüber hinaus stellt Adornos Kritik der Moderne vor allem die grundsätzliche Aufforderung dazu dar, eine mögliche Moderne zu denken, in der Hegels Weltgeist am Besonderen gebrochen wird, statt in das Tauschprinzip transponierbar zu sein, anders gesagt: eine Moderne zu denken und in der Moderne im Medium der Reflexion gegen die Moderne derart zu denken, dass die Unergründlichkeit sich Geltung verschafft dadurch, dass der Identitätsfluch der falschen Einheit gebrochen wird.
7.3 Plessner: Das Prinzip der Unergründlichkeit und die Figur des homo absconditus als komplementäre Grundfiguren von Plessners Moderne-Kritik Im dritten Teil dieser Studie habe ich geltend gemacht, dass Plessner Macht und menschliche Natur später nicht noch einmal systematisch aufgegriffen habe. Dies hat triftige Gründe, die übersehen werden, wo die im besagten Werk entwickelte Kategorie der Unergründlichkeit kurzerhand mit der späteren Kategorie des homo absconditus enggeführt wird, als würden beide Kategorien derselben „Pipeline“ entstammen. Gegen Olivia Mitscherlichs Akzentuierung der Differenz zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie bei Plessner habe ich dennoch die Kontinuität in Plessners Werk starkgemacht, weil er seine Naturphilosophie in keiner Phase seines Schaffens revidiert oder aufgegeben hat. Allerdings ergibt sich ein Bruch, der jedoch äußeren Umständen geschuldet ist: In den vergleichsweise ruhigen Jahren der Nachkriegszeit, insbesondere nach 1950, hat Plessner keinen Grund mehr, die Unergründlichkeit gegen einen Gemeinschaftskult oder völkisch-rassistische Bewegungen in Stellung zu bringen. Das Wegbrechen solcher Gegnerschaften wird in dem Aufsatz Zur Frage menschlicher Beziehungen in der modernen Kultur (1959) explizit thematisiert: Die religiösen Impulse, ins Weltliche abgedrängt, doch wiederum nicht voll von materiellen Interessen absorbiert, werden nach dem Glück und Elend der Jugendbewegung ihre Ersatzbefriedigung nicht mehr in den verbrauchten Form der Kameradschaftlichkeit und des hündischen Lebens, der Romantisierung der Primitivität und Zivilisationsferne suchen, um so weniger, als die Anpassung an den Zivilisationsapparat nach den Erfahrungen zweier Weltkriege erheblich fortgeschritten ist. Ob aber der gedankliche Ernüchterungsprozeß mit ihr Schritt gehalten hat, der
scheidung nicht zu treffen, dennoch aber Unterschiede, auch logisch-operative Modi des Identifizierens, je nach Bedarf gezielt zu instrumentieren. Der Mangel an Differenzierung bei Adorno bildet somit gerade die Universalität der Verdinglichung ab.
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ideologische Druck auf den Gemeinschaftsbegriff damit gewichen ist, bleibt abzuwarten. (PGS 10: 184 f.)
Die Wiederaufnahme von Motiven aus den Grenzen der Gemeinschaft erklärt sich daraus, dass Plessner nie aufgehört hat, Generationenkonflikte für ein wesentliches Merkmal von Gesellschaftsbildungen und -entwicklungen zu halten. Auch um 1960 herum hielt Plessner eine Revolte der Jugend gegen einen Zivilisationsapparat, den sie für in sich erstarrt hält und der sie den Kompromiss von Anpassung und Eingliederung nicht gewähren will, für denkbar. Dass hier aber ein anderer Wind weht als in Macht und menschliche Natur und dass hier kein zum Wesen des Ganzen sich aufspreizendes Partikulares zu bekämpfen ist, ist offenkundig. Dennoch verdeckt dieser äußere Bruch die innere Kontinuität, die sich in der Ausbildung der Kategorie des homo absconditus im Jahr 1956²⁶⁰ und ihrer eigentlichen Prägung im Jahr 1969 zeigt. Das Verhältnis Plessners zu Adorno ist hier ambivalent. In Homo absconditus richtet Plessner sich gegen den von Adorno maßgeblich bestimmten und zur Prominenz gebrachten Begriff der Naturbeherrschung (vgl. Kapitel 4.3.2 und 4.3.3.) und kritisiert, wie Adorno, die idealistische Geschichtsphilosophie Hegels und die Marx‘sche Eschatologie, obwohl er, ebenfalls wie Adorno, Marxens Konzept des Warenfetischismus keiner Kritik unterzieht (vgl. PGS 8: 365). Die Ambivalenz im Verhältnis zu Adorno resultiert daraus, dass dieser die Moderne in toto von Marx her kritisiert und, indem er sie als Bann begreift und Bann und Ideologie gleichsetzt (vgl. AGS 6: 342 und Kapitel 5.1.), sein Projekt der Ideologiekritik direkt in eine ModerneKritik transformiert. Für Plessner ist die Moderne eine historische Realität, in der Ideologien existieren, die gegen sie gerichtet sind (z. B. der Gemeinschaftskult), als auch solche, die ihr als Katapult dienen wollen (z. B. Fortschrittsideologien, die das historische Fortschrittsprinzip der Moderne affirmativ und ideologisch überhöhen). Daraus folgt wiederum nicht, dass Plessner die Moderne affirmierte, auch nicht, dass er sie in einem quietistischen Positivismus als bloßer Beobachter gleichsam von der Seite betrachtete. Um Plessners Verhältnis zur Moderne aufzuhellen, ist es im Folgenden nötig, das Universale seines Konzepts der Moderne herauszuarbeiten – der deutsche Sonderweg spielt hier keine bedeutende Rolle –, um dann anhand der Konzepte der Unergründlichkeit und des homo absconditus zu zeigen, dass es bei Plessner mit dem Prinzip der Unergründlichkeit und dem homo absconditus zwei Konzepte gibt, die zwei verschiedene Ausprägungen der universalen europäischen Moderne auf derselben theoretischen Basis kritisieren, aber dennoch nicht umstandslos gleichzusetzen sind, weil der Sinn des Prinzips der Unergründlichkeit in einer direkten Anwendung auf die Nachkriegsgestalt der Moderne sich in sein Gegenteil verkehren kann, was umgekehrt für das Konzept des homo absconditus nicht gilt.
Plessner verwendet den Begriff homo absconditus bereits 1956 in Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (PGS 8: 134).
7.3 Plessner: Das Prinzip der Unergründlichkeit
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Nur kurz ist hier darauf einzugehen, dass Plessner nicht nur verschiedene Stadien der Moderne kennt und in ihrer Eigenständigkeit anerkennt, sondern gemäß der Nationalstaatlichkeit der Moderne selbst, die auch Adorno ins Zentrum seiner Überlegungen rückt, eine deutsche und eine europäische Moderne voneinander unterscheidet. Die europäische Moderne ist vor allem die Frankreichs und Englands, um bei den Ländern der großen Revolutionen zu bleiben. In diesen Ländern trifft im 19. Jahrhundert eine in sich gefestigte und von einer Staatsidee beseelte politischdemokratische Kultur auf die Industrielle Revolution, während umgekehrt dieselbe Industrielle Revolution ein politisch fragiles, von keiner demokratisch-parlamentarischen Kultur und Staatsidee getragenes Deutschland erfasst: „Unsere nach westlichem Maßstab verspätete, nie unbestritten gebliebene Entwicklung zum Nationalstaat vollzog ich in einer Zeit beschleunigt einsetzender Industrialisierung“ (AGS 6: 212) und dieser unfertige Nationalstaat wird letztlich von ihr überrannt: Deutschlands „Industrialismus braucht sich nicht gegen ein altes Staatsgefüge durchzusetzen.“ (AGS 6: 105) Um die Spezifik der deutschen Situation soll es hier nicht gehen, das entscheidende Stichwort ist bereits gefallen und lautet „Industrialismus“. Plessner spricht in Die verspätete Nation auch von der „traditionslose[n] Erwerbsarbeit des Kapitalismus und Industrialismus“. (Ebd: 107) Die Unterscheidung ist keine zufällige, denn der Industrialismus kündet, anders als der Kapitalismus per se, von den „titanischen Verlockungen der Technik“ (PGS 6: 266). Dass Plessner später in seinen soziologischen Schriften meist nicht von der kapitalistischen Gesellschaft, sondern von der Industriegesellschaft sowie vom „Normensystem der modernen industriellen Zivilisation“ (PGS 10: 103) und der „industrielle[n] Welt und industrielle[n] Gesellschaft“ (PGS 10: 162) spricht, zeugt davon, dass der Kapitalismus für Plessner nicht das Übergewicht gegenüber Wissenschaft und Technik als seinen zivilisationsbildenden und -transformierenden Funktionen hat: „Industrialisierung ist einmal das Werk der Wissenschaft und zum anderen die Kraft, welche die neue Funktion der Wissenschaft in der Gesellschaft und für sie begründet.“ (PGS 10: 241) Gültig bleibt auch, was Plessner 1924 in Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der Deutschen Universität – Tradition und Ideologie sagt und womit er Wissenschaft, Kapitalismus und Industrie als eine unzerreißbare Struktur auffasst: „Indem die Wissenschaft das gesellschaftliche Leben beherrscht, wird sie selbst mehr und mehr zu einer Industrie.“ (PGS 10: 17) Gestiftet wird diese Einheit von Wissenschaft und Industrie dezidiert im Hochkapitalismus, dessen für Adorno noch gültig bleibende Analyse Marx²⁶¹ gibt: Wie immer im Rückblick erscheint auch das Phänomen des Hochkapitalismus als Ergebnis einer Entwicklung, deren Anfänge weit zurückliegen. Trotzdem bleibt er ein die Menschen aufrütteln-
Plessner erkennt die Verbindlichkeit der Marx‘schen Analyse an, indem er zugleich dem Leser zu verstehen gibt, dass er nicht in ihr den Stein der Weisen zu finden hoffen sollte: „Daß im Industrialismus die Ware zum Fetisch wird, die Mechanisierung der Arbeit deformierende Wirkungen hat, weiß heute jeder.“ (PGS 8: 365)
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des und verwirrendes Ereignis, ein Umsturz völlig neuer Art, voller Unvorhersehbarkeit. Zwei einander so wesensfremde Funktionen wie Ökonomie und Technik verbinden sich in wenigen Jahrzehnten zu einer neuen Lebensmacht, die ihre eigene Logik gebiert, den Händen ihrer Urheber entgleitet und die menschliche Existenz von ihrer materiellen Seite her, in der man seit den ältesten Zeiten ihre ‚natürliche‘ Wurzel sah, aus dem Gleichgewicht bringt. (PGS 6: 97 f.)
Industrialismus und Hochkapitalismus sind bei Plessner die entscheidenden Universalien der europäischen Moderne unabhängig davon, wie sie sich in den verschiedenen Ländern auswirken. Plessner sieht auch klar, dass dieser Prozess kein gemütlich handhabbarer und nach Belieben kontrollierbarer ist, sondern dass die pyroklastischen Ströme dieses Ereignisses mitunter verheerende Wirkung hatten. Dennoch sieht Plessner in dieser Verselbständigung keine Dialektik der Aufklärung sich entzünden, sondern einen Umsturz sich vollziehen, der historischer Art und geschichtlich zu beantworten ist. Der Kapitalismus ist kein System, das alle Konflikte zugleich überwölbt und schluckt, denn die „Entfremdung zur Ware“ (PGS 10: 217), die das Schicksal der Arbeiter im Hochkapitalismus kennzeichnet, universalisiert sich nicht ohne weiteres, sondern ist selbst wiederum verortet „in dem unaufhaltsamen Prozeß gesellschaftlicher Zerklüftung in zwei feindliche Lager Kapital akkumulierender Unternehmer und verelendender Proletariermassen“ (ebd.). Ökonomie bzw. Kapital und Technik verschmelzen zwar zu einer unkontrollierbaren Macht, aber die sozialen Konflikte verlieren dadurch nicht ihre Eigenständigkeit und damit auch nicht ihre Analysierbarkeit. Die Grenzen der Gemeinschaft enthalten eine grundsätzliche Kritik einer falschen, weil gesellschaftsfeindlich ins Leere laufenden Beantwortung von Industrialisierung und Industrialismus, aber auch eine Kritik der falschen Beantwortung der „Entstehung der sogenannten Massengesellschaft“ (PGS 10: 214), die sich erst um die Jahrhundertwende herausgebildet hat und für den Bezugsrahmen der Grenzen der Gemeinschaft konstitutiv ist. Der Konflikt, den Plessner behandelt, ist ein Generationenkonflikt, der außerdem als Ideen- und Wertekonflikt aufgetreten ist und auf den gemeinsamen Grundzug aller Varianten der europäischen Moderne eruptionsartig reagiert, aus dem er zugleich hervorgegangen ist, nämlich dass „die Gesellschaft unter das Gesetz des Fortschritts gebracht“ (PGS 10: 107) worden ist. In Macht und menschliche Natur antwortet Plessner nicht auf eine soziologisch ausbuchstabierte Konfliktsituation, sondern auf die Frage danach, worin „ein Fundament für die Betrachtung politischer Dinge zu finden“ (PGS 5: 142) sein könne. Weil philosophische Kategorien in politischem Denken orientierungs- und entscheidungsbestimmend wirksam sind, ist die philosophische Theorie der Politik selbst Element der Politik. Stein des Anstoßes ist die „Haltung der Intellektuellen zur politischen Sphäre als solcher“ (ebd.: 139). Mit der konstitutiven Funktion organizistischer Vorstellungen gibt Plessner ein konkretes Beispiel: „So ließe sich schließlich die Mikrokosmosidee vom Menschen am Leitfaden des politischen Makrokosmos entwickeln und das politische Apriori aufdecken, das sich für die Vorstellungen vom menschlichen Wesen in seiner ganzen Weltverflochtenheit wirksam erweist.“ (Ebd.: 141) Das Als-ob der Fortschrittsideologie beispielsweise ist die Selbstansetzung der
7.3 Plessner: Das Prinzip der Unergründlichkeit
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ihrem Selbstverständnis nach fortschrittlichen „Historiker, Soziologen und Psychologen“ (ebd.: 161) und ihrer affirmativ-ethnozentrischen Konzeptionen als zu verwirklichendes Ideal der Geschichte; in solcherweise ethnozentrisch codierten Sichtweisen erscheint die eigene abendländische Herkunftswelt dann in so, „als ob ihre Zivilisation, da sie rationale Geschichtserkenntnis und Sozialforschung in Freiheit gesetzt hatte, das letzte und höchste Stadium der Menschheit repräsentiere“ (ebd.). Gegen derartige ideologische – sich selber als solche wie auch in ihrer, insbesondere in ihrer indirekten, Wirksamkeit undurchschaubare – Vorverständnisse richtet das Prinzip der Unergründlichkeit sich, nicht etwa gegen eine sich kapitalistisch totalisierende Moderne im Ganzen, die Adorno, indem er sie als historisch sedimentierte Ideologie auffasst, ins Visier von Ideologiekritik rücken kann. Indem Plessner mittels des Prinzips der Unergründlichkeit versucht, eine „geistige Welt und Geschichte, als eine nie ausschöpfbare und doch faßliche, d. h. immer neu zu sehende, weil beständig sich in anderem Sinne erneuernde Lebenswirklichkeit in den Blick zu bekommen“ (ebd.: 181 f.), will er Geschichte im historistischen Sinne gegen das Leben als zu lebendes „neutralisieren“; die Lebenswirklichkeit von der Geschichte her und auf zukünftige Geschichte hin in den Blick bekommen heißt, dass Im-Leben-stehen zugleich In-der-Geschichte-stehen heißt und umgekehrt. In der Geschichte, aus der Geschichte her und auf eine so gewagte wie unbekannte Geschichte hin kommt Leben zu sich, statt dass die Geschichte das Leben bloß mitschleift, wie es der Fall ist, wenn sie sich (und indirekt damit das Leben) unter das Gesetz ideologischer Vorstellungen stellt, ob dieses aus der Vergangenheit oder einer zielhaft fixierten und ausgemalten Zukunft seine Bestimmung erfährt. Im Grundsatz ist Plessners Unergründlichkeitsprinzip eine lebensphilosophische Transformation von Kants „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, allerdings in der holistischen Erweiterung auf die Lebensführung im Ganzen hin. Mit allem historistischen Determinismus und allen Ideologien und Wesensfestlegungen bricht Plessner dadurch, dass im und „aus dem unergründlichen Woraufhin unserer Entscheidungen“ (ebd.: 183) unser Woher sich bestimmt und wir uns bestimmen. Um die Brücke zu Adorno zu schlagen: Die NichtIdentität von Leben und Ideologie als die ontologische Unmöglichkeit, beides zur Deckung zu bringen, ohne ersteres zu „entlebendigen“, fasst das Prinzip der Unergründlichkeit theoretisch und intentional praktisch, insofern das Prinzip die Forderung enthält, diese Unmöglichkeit als Möglichkeit, aus einem „offenen Mächtigkeitsgrunde“ (ebd.: 202) zu leben, anzunehmen und zu übernehmen. Zugleich darf nicht vergessen werden, dass das Prinzip der Unergründlichkeit kein individualistisches ist und Plessner sich damit nicht an Existentialisten richtet, denn im letzten Absatz von Macht und menschliche Natur wird klar, dass er hier bereits die verspätete Nation und deren „politische Selbstbestimmung“ (vgl. ebd.: 234) adressiert. Ein Kreis schließt sich hier: Die Intellektuellen werden am Anfang als die ideologischen Verführer dargestellt, die politische Selbstbestimmung wird am Ende der verbindlich zu nehmenden Unergründlichkeit statt intellektuellen Wortführern und Taktgebern überantwortet; das Bindeglied zwischen beiden ist ein nach heutigen Maßstäben Anachronistisches: die Realität, d. h. die reale Wirkmächtigkeit von Geistigem.
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In seinen späteren Schriften handelt Plessner nicht mehr vom Verbindlichnehmen oder der freien Anerkennung des Prinzips der Unergründlichkeit, einerseits, weil ihm die Gegner abhanden gekommen sind, gegen die es in Anschlag gebracht worden ist, andererseits – und das wollen Sympathisanten dieses Prinzips gemeinhin nicht sehen –, weil es formalisierbar ist und in den Dienst einer pluralistischen Nivellierung – in Unverbindlichkeit statt Unergründlichkeit hinein – gestellt werden kann: Der Pluralismus der heutigen Gesellschaft läßt im Grunde nur ein neutrales, ein indifferentes Ethos formaler Haltungen zu, das auf allen Inhalt – sei er irdisch oder überirdisch – verzichtet. Rassenunterschiede, Klassenunterschiede, Standes- und Bildungsunterschiede sind ebenso dabei ausgeschaltet wie Unterschiede des Glaubens. (PGS 10: 163)
Der homo absconditus handelt nicht mehr vom Prinzip der Unergründlichkeit, sondern von der Unergründlichkeit des Menschen selbst. In den vergleichsweise geordneten und ruhigen Verhältnissen der Bundesrepublik lässt das Motiv der Unergründlichkeit sich wieder naturphilosophisch aufnehmen in einer Kritik an Hegel und Marx, deren theoretische Grundlagen nicht modernekritischer Natur sind, sondern gerade einer für Plessner zentralen – der am Anfang dieses Abschnitts angesprochenen zweiten – Errungenschaft der Moderne sich verdanken, die er sowohl im Homo absconditus-Aufsatz²⁶² als auch in seinem Adorno-Aufsatz Adornos negative Dialektik²⁶³ explizit – und im letzteren Fall explizit kritisch gegen Adorno – ins Feld führt: die Biologie. In beiden Texten wird die Biologie explizit herangezogen und fungiert als Chiffre für den gesamten naturphilosophischen Ansatz, vom „Verhalten des Menschen“ (PGS 8: 355) ist kursorisch in der Abgrenzung von dem des Tieres die Rede, dabei wird die Verhaltenslehre aus Lachen und Weinen in übermäßig komprimierter Weise gestreift, auf das privat-öffentliche Doppelgängertum und den Rollenbegriff hingegen wird nicht eingegangen, obwohl der gesamte, hier (in Kapitel 3.10. und 5.2.) und wesentlich ausführlicher in Edinger 2017 ausgefaltete Komplex von Naturphilosophie, Verhaltenstheorie und Rollentheorie den systematischen Boden bildet, auf dem der Begriff des homo absconditus aufruht. In Homo absconditus stellt Plessner eine Frage, die einen entscheidenden systematischen Begriff ins Spiel bringt und mit Fragestellungen und Ausführungen korrespondiert, die Plessner nicht etwa in Macht und menschliche Natur, sondern 1956 in Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie behandelt hat. Diese Frage lautet: „Nur er [der Mensch, S. E.] kann vergegenständlichen. Muß er sich damit aber seiner selbst entäußern?“ (PGS 10: 364) In Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie heißt es: Die wissenschaftliche Behandlung des Menschen wirft aber dadurch, daß sie ihn zu einem Gegenstand macht, über unsere Bedenken zu Anfang hinausgehende grundsätzliche Fragen auf,
„Den Ansatzpunkt für die philosophische Anthropologie bot eine Hegel noch unbekannte Wissenschaft, die erst in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzte: die Biologie.“ (PGS 8: 354) „Aber Biologie, die es zu Zeiten Hegels und Marxens nur in bescheidenen Ansätzen gab, spielt – wohlgemerkt als Basis menschlicher Naturwüchsigkeit – keine Rolle.“ (PAP: 278)
7.3 Plessner: Das Prinzip der Unergründlichkeit
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Fragen, die an das Verhältnis von Wirklichkeit und Selbstverantwortlichkeit oder, wenn man es anders formulieren will, an die Grenzen der Vergegenständlichung menschlichen Wesens rühren. Inwieweit ist der Mensch überhaupt gegenständlich zu machen? (PGS 8: 128)
Auf beide Fragen lässt sich systematisch keine Antwort geben, wenn man den Zusammenhang zwischen der Vergegenständlichung und der Konstitution und Entfaltung des Verhältnisses zwischen Leibsein und Körperhaben als dem Medium des privat-öffentlichen Doppelgängertums übergeht. Um von der zuletzt zitierten Frage auszugehen: Der Mensch personalisiert sich keineswegs ausschließlich in Vergegenständlichungsleistungen, aber auch nicht, ohne sich selbst zu vergegenständlichen. Es gibt keine „instrumentale Beherrschung unseres Leibes“ (ebd.: 291), solange wir den Leib nicht in seiner Erfahrung und auf die Qualität als Leib rückwirkenden Beherrschung als Körper zu „meistern“ verstehen; diese „Meisterung“ der Doppelseitigkeit und des Doppelcharakters unseres Körperleibs setzt aber „Vergegenständlichung voraus, und zwar praktische, keine theoretische, d. h. ein Eingreifen in die Medialität des Leibes selber“ (ebd.). Die Vergegenständlichung als Instrument der Ausgleichsbildung und Erschließung des Körperleibs in seiner privat-öffentlichen Doppelseitigkeit hat also primär eine konstitutive Funktion im Prozess der Personalisierung. Auf die Frage nach den Grenzen der wissenschaftlichen Vergegenständlichung des Menschen antwortet Plessner nicht mittels der exzentrischen Positionalität, sondern, gemäß den Ausführungen in Kapitel 3.11., mit der praktischen Vernunft: „Diese Grenze [seiner Vergegenständlichung, S. E.] ist ihm gezogen, aber nur durch seine eigene Vernunft und nur insofern, als er um ihre letztlich praktische Bestimmung weiß.“ (Ebd.: 132) Die grammatikalische Form des Satzes („ist ihm gezogen“) gibt Aufschluss über die Verbindlichkeit der Vernunft, die der des Prinzips der Unergründlichkeit in nichts nachsteht und mit diesem im oben angedeuteten Kantischen Geist grundlegend übereinstimmt: Die Vernunft ist keine subjektive, die Grenzen nach Gutdünken zieht und definiert, aber je nach diskursiver Wetterlage wieder revidiert, sondern sie ist Vernunft dadurch und nur dadurch, dass sie die Grenzen kodifiziert, die sie als ihr und damit ihm gezogene erkennt und anerkennt und die zu setzen, erfinden oder leugnen nicht in ihrem Belieben steht (abgesehen davon, dass solches Belieben gar nicht Teil ihres Horizontes ist, sondern von der Vernunft her die anythinggoes-Grille von Vernunftlosigkeit ist). Vor dem Hintergrund der hier angesprochenen Weise der Vergegenständlichung sagt Plessner später in Homo absconditus: „Vergegenständlichung muß nicht Verdinglichung sein.“ (PGS 10: 365) Bereits in Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie grenzt Plessner sich von der „äußersten Vergegenständlichung des Menschen“ (ebd.: 132) durch Marx explizit ab. Auch dieser Faden wird in Homo absconditus wieder aufgenommen, und wo dies geschieht, antwortet Plessner auf die andere, oben zitierte Frage, ob der Mensch in der Vergegenständlichung sich „seiner selbst entäußern“ (ebd.: 364) müsse. In der negativen Antwort hierauf formuliert Plessner implizit eine Idealismus-Kritik, die sich mit der Adornos im Grundlegenden deckt. Die Entäußerung macht Plessner als eine Bedrohung für den Idealismus aus,
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den Marx in seinen Prämissen noch von Hegel übernommen hat: „Der Gedanke, Objektivierung als Entäußerung bedeute Verzicht auf sich selbst, einen Verlust an Selbst, einen Selbstverlust, beruht auf einem idealistischen Vorurteil der Hegelschen Philosophie.“ (Ebd.: 364) Marx gelangt zur letztlich idealistischen „Deutung der Arbeit als Selbstverlust“ (ebd.: 361) nicht, weil er anthropologisch gedacht hätte, sondern gerade, weil als er Idealist nicht konsequent anthropologisch gedacht habe: „Hätte er hier konsequent anthropologisch gedacht, so wäre Arbeit nicht der ewige Sündenbock des Sündenfalls, mit dem der Selbstverlust des Menschen beginnt.“ (Ebd.) Dieser Idealismus fundiert Plessner zufolge noch den Entfremdungsbegriff, der sich aus denselben idealistischen Quellen speise und die Philosophische Anthropologie in eine Gegenstellung gegen den Idealismus bringe: „Das Theorem der menschlichen Selbstentfremdung, das anthropologische Rückgrad [sic!] des Marxismus, spricht heute die philosophische Anthropologie unmittelbar an.“ (Ebd.: 363) Wie oben gezeigt, antwortet in der Selbstentfremdung das privat-öffentliche Doppelgängertum auf die Notwendigkeit, die Differenzierung des Körperleibs im Verhältnis von Leibsein und Körperhaben sowohl in habitualisierten Ausgleichsleistungen als auch in immer wieder situativ neu zu vollziehenden Ausgleichsleistungen zu bewältigen; Entäußerungen und Vergegenständlichungen bedrohen nicht die Personalität, in ihnen und vermittels ihrer entwickelt und kultiviert sie sich erst. Adornos Befund, der Idealismus beharre auf Identität und überlasse sich ihr als seinem teleologischen Prinzip, teilt Plessner explizit, antwortet aber auf den Idealismus nicht mit dem Versuch, Identität mittels einer negativen Dialektik von innen heraus zu überschreiten, sondern mit der Personalisierung im privat-öffentlichen Doppelgängertum. Was Plessner mit Adorno hier wiederum eint, ist die Position, dass keine Identität möglich sei außer einer solchen, die sich in und durch Nicht-Identität konstituiert. Was Adorno vom Vorrang des Objekts und der negativ-anthropologischen Codierung desselben mittels des Naturbegriffs sowie im Rückgriff auf Freuds Libidotheorie zu begründen versucht, begründet Plessner in einer Philosophischen Anthropologie, die auf einer negativen Ontologie des Ausgleichs basiert (vgl. Edinger 2017 und Kapitel 3.3.4.) und später als Verhaltens- und Rollentheorie spezifiziert wird. Nicht-Identität bedeutet bei Adorno notwendige Unversöhntheit und unerlösbare Versöhnungssehnsucht, bei Plessner bedeutet sie Ausgleichsbedürftigkeit, d. h. die Notwendigkeit, in körperleiblichen und sprachlichen Personalisierungsleistungen jeweils die Ausgleichsleistungen zu erzielen, die menschenmöglich sind.
7.4 Synopsis Adornos Verständnis der gesellschaftlichen Moderne bleibt maßgeblich von Hegel und Marx bestimmt; Max Weber hat Adorno nicht maßgeblich zu prägen vermocht, so dass sein Einfluss stets weit hinter dem Marxens zurückgeblieben war (vgl. NL 4/15: 237 ff.). Zudem hat Adorno die Biologie nicht als intellektuelle Herausforderung ernstgenommen, was auch Plessner kritisch anmerkt (PAP: 278). Das Konzept der
7.4 Synopsis
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verspäteten Nation war Adorno bekannt, doch von einer Auseinandersetzung damit kann keine Rede sein (vgl. AGS 10/2: 788). Der historische Aufriss fällt bei Adorno demgemäß anders aus und bleibt an Hegel und Marx und damit am Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und Kapitalismus orientiert, d. h. die Grundkonstellation bleibt identisch und es gibt bei Adorno keine spezifischen Konstellationen geltenden Kampfschriften (wie die Grenzen der Gemeinschaft). Bei allem Denken von NichtIdentität gilt hier der Vorrang der Kontinuität vor dem Bruch: Die Problemkonstellation der Moderne bleibt vom 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein prinzipiell dieselbe. Weil Hegel und Marx die Leitfiguren der Analyse der Moderne wie der Geschichtsphilosophie bilden, greifen die Moderne- und die GeschichtsphilosophieKritik bei Adorno ineinander: Beide Kritiken sind Totalisierungskritiken im Namen der Dialektik des Besonderen und der Nicht-Identität. Versucht man bei Plessner eine universale europäische Moderne bzw. deren entscheidende Strukturmerkmale auszumachen und gerade von den nationsspezifischen Unterscheidungen abzusehen, so gerät ebenfalls der Hochkapitalismus ins Visier, doch mit ihm auch der Industrialismus, der genau diejenige Binnendifferenzierung ermöglicht und erforderlich macht, aus dem sich die Konfliktsituation ergeben hat, auf die die Grenzen der Gemeinschaft reagieren. Das dritte Glied der europäischen Moderne, wie Plessner sie skizziert, nämlich die Naturwissenschaft im Allgemeinen und die Biologie im Speziellen, wird bei Adorno dem Kapitalismus als dessen wissenschaftlich-technisches Antlitz zugeschlagen, aber nicht in seiner Eigenständigkeit systematisch reflektiert. Während das Prinzip der Unergründlichkeit aus Macht und menschliche Natur mit dem Prinzip der Nicht-Identität enggeführt wird als die Übersetzung der Nicht-Identität in ein praktisches Ethos, steht zwischen dem Homo absconditus und der Nicht-Identität ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis von Naturphilosophie, das sich bei Plessner als Philosophische Anthropologie materialisiert und bei Adorno unter der Treue zu einer marxistischen Anthropologie als Naturmoment im Subjekt-Objekt und als Libido in der psychoanalytischen Transformation desselben wirksam bleibt, aber nicht anthropologisch gedacht werden soll. Dennoch liegt auf der Hand, dass der Impetus bei Adorno und Plessner komplementärer Natur ist: Die Kategorien des Prinzips der Unergründlichkeit des Menschen, des homo absconditus, des Eingedenkens der Natur im Subjekt oder der Inversion des Subjekt-Objekts unter dem Vorrang des Objekts als dem Motor der NichtIdentität sind anthropologische Figuren, die systematisch derjenigen Totalisierung entgegenstehen, die Plessner und Adorno bei allen Unterschieden als wesentliche Tendenz der kapitalistischen Moderne und der die Moderne ideologisch maßgeblich bestimmenden Geschichtsphilosophien Hegels und Marxens ansehen. Statt mit einem Happy End zu schließen, möchte ich zeigen, wie Plessner im Unterschied zu Adorno seine Philosophische Anthropologie in der Nachkriegszeit nicht nur in einer spezifischen Theorie der modernen Gesellschaft, sondern gemäß dieser Gestalt der modernen Gesellschaft weiterentwickelt hat, ohne das kritische Potential (gemäß der von Plessner praktizierten Kritik) ihr gegenüber preiszugeben. In der Rollentheorie kritisiert Plessner die Moderne nicht, sondern beansprucht gerade
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7 Negativ-anthropologische Konvergenzen in Plessners und Adorno Kritik der Moderne
mittels seiner Rollentheorie ein zentrales Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft zu erschließen,²⁶⁴ insofern diejenige moderne Gesellschaft, die mittels ihrer beschreibbar ist, dem in den Grenzen der Gemeinschaft entfalteten Prinzip der Gesellschaft seine Legitimität nicht bestreitet und der Person die Stärke als notwendige Möglichkeit abverlangt, die zugleich ihre Würde garantiert: „[S]tark ist, wer den ganzen Wesenskomplex der Gesellschaft um der Würde des einzelnen Menschen und um der Gesamtheit willen bejaht, schwach ist, wer die Würde um der Brüderlichkeit in der Gemeinschaft willen preisgibt.“ (PGS 5: 31 f.) Schwach ist Plessner zufolge auch das Identitätsverlangen des Idealismus, dessen Mangel an Anthropologie dieses Verlangen gerade verstärkt. Schwach ist eine Gesellschaft, wenn sie sich ihrem Charakter als moderner nicht mehr stellt und eine Selbstüberhöhung verlangt, wie Hegel sie in seiner Geschichtsphilosophie gibt, denn auch dann wird der Menschentypus dieser Gesellschaft in dieser Überhöhung wieder zum τέλος dieser Gesellschaft und ihrer Geschichte sowie ihrer Stellung in der Geschichte überhaupt (vgl. PGS 8: 360). Insofern ersetzt Plessner nicht das Prinzip der Unergründlichkeit durch eine deskriptive Phänomenologie anthropologischer Unergründlichkeit, sondern das Prinzip bleibt, bei Vertiefung seiner sachlichen Fundiertheit, als solches reaktivierbar, falls die Moderne von einem gemäßigten in einen fanatischen Zustand übergeht. Ein solcher Übergang ist eine ihrer Möglichkeiten und als solche gegeben mit ihrer inneren Pluralität, die logisch immer die Möglichkeit enthält, dass ein Partikulares sich als Prinzip, Träger oder Repräsentant des Ganzen setzt und zu gelten beansprucht. In Plessners Auffassung kodifiziert der homo absconditus in Gestalt der Philosophischen Anthropologie eine naturphilosophische Bearbeitung und Integration der Biologie sowie eine sozialontologische Auffassung der Personalität in einer modernen Gesellschaft, die sich der Entfaltung ihrer Strukturpotentiale verschreibt. Idealismen hingegen sind dieser Auffassung nach der Moderne nicht gewachsen, d. h. umgekehrt: Die Moderne darf dem Idealismus, seinem Begehren, Versöhnung in Identität zu finden, nicht wieder anheimfallen.²⁶⁵ Darin stimmt Plessner (nach wie vor) grundlegend mit Adorno überein, auch da, wo er der Figur der Unergründlichkeit eine Gestalt und Verortung gibt, die Adorno ablehnt, weil alle Rollentheorie für ihn per se konformistisch ist: „Die Not der Arbeitsteilung wird im Rollenbegriff als Tugend hypostasiert. Mit ihm verordnet das Ich, wozu die Gesellschaft es verdammt, nochmals sich selbst.“ (AGS 6: 275). Plessner ist insofern konsequenter modern als Adorno, als er in Reaktion auf den Idealismus keine utopische Idee der Freiheit mehr parat hat, sondern Negativität als
„Offensichtlich entspricht der Rollengedanke insoweit unserem modernen Gesellschaftstyp, dessen Träger ihr Zusammenspiel rational an Leistungen messen, die als Leistungen verstanden und in Wechselbeziehung zueinander gebracht werden.“ (PGS 8: 201) Plessner zufolge heißt dann, die Moderne zu affirmieren, auch das zu affirmieren, was er in Die verspätete Nation als das Universale der europäischen Moderne (unter dem Namen der „abendländischen Kulturgemeinschaft“; PGS 6: 132) benannt hat: den „Verfall des heilsgeschichtlichen Bewußtseins“ (ebd.).
7.4 Synopsis
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Strukturmerkmal das privat-öffentlichen Doppelgängertums begreift, mit dem Personen sich selbst als Aufgabe gegeben sind, was Adornos negativ-anthropologische Versöhnung nicht mit derselben Beharrlichkeit tut. Denn Plessner nimmt ernst, was Adorno dem Rollenbegriff halbherzig konzediert, nämlich dass „der dem Theater entlehnte Rollenbegriff darauf hindeutet, daß die den Menschen von der Gesellschaft aufgenötigte Existenz nicht identisch ist mit dem, was sie an sich sind oder was sie sein könnten.“ (AGS 10/2: 645) Insofern steht die Rollentheorie Plessners gerade nicht im Gegensatz zum Denken Adornos, denn sie bildet nicht brav gesellschaftliche Ideologie ab, sondern elaboriert die Ermöglichungsbedingungen der Personalisierung sowohl gemäß als auch in Gegenstellung zur Gesellschaft. Der Konformismus der Abbildung der Gesellschaft in der Rolle bricht sich nämlich gerade daran, dass das privat-öffentliche Doppelgängertum die Reflexivität, durch die Adorno den Individualitätsbegriff bestimmt (vgl. Kapitel 4.3.3.1.), in der Personalisierung ebenfalls in Anspruch nehmen muss: Aber gerade in einer modernen Gesellschaft endet diese Entwicklung nicht bei der Individualität, die sich auf einer höheren Ebene des Entwicklungsprozesses in die Personalität „aufheben“ muss. Das wiederum ist nur dadurch möglich, dass Rollen nicht im konkretistischen Plural individuierter und kopierbarer Verkörperungsangebote existieren,²⁶⁶ deren Individuen sich in plagiatorischen Individuierungen bedienen, sondern die Rolle als solche ein Personalisierungsmedium darstellt und der generische Charakter der Rolle kein abstrakt generischer ist, sondern ein konkret generischer: Die Rolle hält die Mitte zwischen dem Individuum, das die Rolle verkörpert, und der Gesellschaft, in der die Rolle kein stummes, transzendental-strukturelles Etwas, sondern ein bedeutungserfülltes (und Bedeutungsverstehen und Bedeutungsbildung ermöglichendes) Reales ist, durch das hindurch Individuen sich personalisieren und dabei zu denjenigen Personen werden, die sowohl Rollen verkörpern als auch Rolle und Rollenhaftigkeit als solche vergegenständlichen können. Dann können sie z. B. das Verhältnis zum Konzept der Rolle einnehmen, das Adorno zu ihm einnimmt und diese Möglichkeit ist eine genuin moderne, die – wiederum wie bei Adorno – eine grundsätzliche Kritik des existierenden Rolleninventars und damit der Gesellschaft keineswegs ausschließt.
Empirisch ist dies zwar zumeist der Fall, aber für die Theorie verbindlich ist hier nicht, was zumeist der Fall ist, weil sich dadurch nicht verstehen lässt, was eine Rolle als solche sei, sondern nur, wie der schlechte Umgang damit aussieht.
Schluss: Negative Anthropologie – Ideengeschichtliche Nostalgie oder systematische Meliorisation? Wenn das 20. Jahrhundert die kommunistische Utopie entlarvt hat, dann wird das 21. Jahrhundert die Abschaffung des Liberalismus bedeuten. Doch niemand weiß, welche konkreten Ereignisse diese großen Tendenzen im Hinblick auf das 21. Jahrhundert einleiten werden, das meines Erachtens das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit werden wird.²⁶⁷ (Panajotis Kondylis)
Über welches Konzept könnten Mark Zuckerberg und Xi Jinping zusammen gellender lachen als über das des homo absconditus? Wie unergründlich ist der Mensch, wenn schon die Kombination aus Metadaten und Geodaten so viel „Wissen“ über jemanden preisgibt, dass es auf die eigentlichen Daten gar nicht mehr ankommt? (Natürlich kann man hier geltend machen, dass dieses Wissen sich immer nur auf Individuen und nie auf „den“ Menschen beziehe, aber kommt bei solchem Argumentieren wirklich mehr heraus als sophisticated ignorance gegenüber den realen Machtmöglichkeiten, die China uns auch im fragmentierten Blick aus der Ferne schon offenbart?) Wie unergründlich ist der Mensch, wenn unvermeidliche smart homes²⁶⁸ und subkutane Chips hinzugekommen sein werden (hier gibt es nichts grammatisch abzuschwächen), die dann Smartphone-Nutzer von ihrer Vergesslichkeit „emanzipieren“ (man kann es ja liegenlassen) oder Smartphone-Verweigerer zu derjenigen Tugendhaftigkeit anspornen, in der sich diejenigen vereinigt finden, denen in viehischer Dumpfheit alles egal ist, weil sie „nichts zu verbergen“²⁶⁹ hätten? Von der Antriebs-
Kondylis 2001: 12. Yvonne Hofstetter weist in ihrem höchst lesenswerten Buch Sie wissen alles. Wie Big Data in unser Leben eindringt und warum wir um unsere Freiheit kämpfen müssen (2016) darauf hin, dass Google an intelligenten Heizungsthermostaten arbeitet, die nicht nur jede Menge aufzeichnen, sondern mit anderen Geräten kommunizieren und die aggregierten Informationen auswerten können. Nicht zu vergessen, dass die Kommunikation sich nicht auf andere eigene Geräte, sondern auch auf andere Datenbanken von Google erstreckt. Die Rumpelkammer wird dann zur Ruhekammer, in der man es allerdings wiederum nicht aushalten, geschweige sich gemütlich machen kann. Vgl. Hofstetter 2016: 128, 148, 223, 249 und 300. Diese verfügungswillige, jedes Takts und jedes Sinns für Privatheit und Intimität entbehrende Phrase suggeriert auf fast schon bösartige Weise, man bedürfe eines besonderen Grundes, um sich übergriffiger Zudringlichkeiten erwehren zu dürfen; von Bösartigkeit kann man hier sprechen, weil die Abneigung gegen Totalverfügung mit einer Schuldvermutung belegt und zugleich als Schuldgeständnis demjenigen untergeschoben wird, der gegen eine Belästigung aufbegehrt (oder aufbegehren könnte), die aus einem grundsätzlichen Mangel an rechtsstaatlicher Kultiviertheit erwächst. https://doi.org/10.1515/9783110773682-009
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bzw. Abhängigkeitsstruktur dieses Wesens Mensch her gefragt: Wie unergründlich ist etwas, das sich von einem Smartphone (und seinen funktionalen und typologischen Nachfolgern) psychisch und lebenspraktisch abhängig macht? Wie, zwar nicht unergründlich, aber bodenlos naiv ist eine Lebensform, die in wenigstens vager Kenntnis des Entwicklungsniveaus der bestehenden Technologien und der Kontroll- und Machtbegierde von Staaten und Konzernen glaubt, etwas Verlegbares, Verlierbares und Deaktivierbares wie ein Smartphone wäre nur ein vorläufiger Entwicklungsschritt innerhalb dessen, was sich hier vollzieht²⁷⁰ und worin der Westen (bzw. seine sogenannten Eliten)²⁷¹ eher neidisch als angewidert auf China schaut?²⁷² Bleibt als Uner-
Ein Buch wie Guido Zurstieges (2019) Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter wird vermutlich in spätestens 10 Jahren nicht mehr geschrieben werden können. – Wer glaubt, so etwas wie ein „subkutanes Smartphone(analogon)“ wäre Science Fiction, gleicht demjenigen, der einst geglaubt hat, mit der Erfindung der Kutsche habe die Menschheit den unübersteigbaren Gipfelpunkt in der Entwicklung des Transportwesens erreicht. Viel Nötiges und so gut wie nichts Schmeichelhaftes hat Michael Hartmann in seinem Buch Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden (2018) ausgebreitet. Noch aktueller und bedenklicher als der von Hartmann berührte Bildungsverfall innerhalb der sich funktional purifzierenden Eliten ist ein aktuelles Produkt aus der Harvard Law School, das überhaupt erst entstehen kann, wenn die demokratische Kultur eines Landes erodiert und weitgehend ausgehöhlt ist. In dem Artikel von Goldsmith (Harvard) und Woods (Arizona) heißt es: „In the great debate of the past two decades about freedom versus control of the network, China was largely right and the United States was largely wrong. Significant monitoring and speech control are inevitable components of a mature and flourishing internet, and governments must play a large role in these practices to ensure that the internet is compatible with a society’s norms and values.“ (Goldsmith/Woods 2020) Die Gesellschaft, deren Normen und Werte zu schützen seien, ist nicht die Gesellschaft im Ganzen, sondern derjenige, vor allem in der wohlbegüterten Wirtschaft und im Staatsapparat konzentrierte Teil derselben, dem Goldsmith und Woods sich zugehörig fühlen und den sie mit „der Gesellschaft“ (im Englischen schlicht „society“) identifizieren bzw. zu deren legitimem Repräsentanten ernennen. Man erklärt sich hier unverhohlen selbst zum Besten und Schützenswerten der Gesellschaft und verfährt dabei ähnlich wie die chinesische Staatsführung, die vom tugendhaften Menschen spricht und totalitäre (im Unterschied zu ihren Vorgängern: letztlich totale) Kontrolle in eigener Sache meint, wenn sie ihr Social Credit System anpreist. Das „mature and flourisihing internet“ ist nichts anderes als ein gleichgeschaltetes (und deshalb psychisch gleichschaltendes). Wer glaubt, China Aufstieg sei nur ein vorübergehender medialer „Hype“, der lese Ben Buchanans (2020)The Hacker and the State. Cyber Attacks and the New Normal of Geopolitics oder Yvonne Hofstetters (2019) Der unsichtbare Krieg. Wie die Digitalisierung Sicherheit und Stabilität in der Welt bedroht, um sich ein Bild davon zu machen, wie Russland, aber vor allem China seine wachsende geopolitische Machtstellung durch digitale Fähigkeiten von sehr beachtlicher Art ausbaut und längst zum Alptraum der amerikanischen „Neocons“ ihrer Vision einer dauerhaften Unipolarität geworden ist (vgl. Menzel 2015: 987; für Christian Hacke konnte sich das im gleichen Zeitraum noch als Schicksalsauftrag darstellen: „An der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeigt sich, daß als letzte verbliebene Macht von globalem Rang die USA zur Weltmacht verdammt sind.“, Hacke 2003: 20). Gunnar Heinsohns (2019) Wettkampf um die Klugen lese, wer die Illusion loswerden will, die, d. h. hier: irgendeine mögliche Bildungspolitik könne als Korrektiv der demographischen Entwicklung des Westens fungieren oder gar eine kompetitive Trendumkehr bewirken. Mit dem, was Buchanan und Hofstetter in ihren Büchern entfalten, dringt das Prinzip der doppelten Kontingenz endgültig in die Theorie der internationalen Politik ein. Heinsohns Buch hingegen entfaltet materialreich Erwartbarkeit (flapsig: nichts, was Hel-
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gründlichkeit, de facto als ihr illusionäres Substitut, nur noch die Individualität und mit ihr eine prognostische Lücke, die darin besteht, dass längst katalogisierte behavior patterns in individuell unterschiedlichen Anordnungen und Kombinationen realisiert werden und dadurch kleinere Abweichungen zustandekommen? Inwieweit bedeutet Unergründlichkeit Unvorhersagbarkeit? Wie weit muss diese Unvorhersagbarkeit reichen? (Ist die Referenzkategorie das Verhalten von Individuen, die Entwicklung von Gesellschaften oder letztlich „der“ Geschichte?) Und für wen? Für den weltlichen Laplace‘schen Dämon von Überwachungsagenturen oder für diejenigen, mit denen wir im Bereich „intersubjektiver Beziehungen“ interagieren? Wird nicht spätestens hier sichtbar, dass die Pointe der Unergründlichkeit die praktische Vernunft ist, in der auch Plessners und Adornos Philosophien ihren letztendlichen philosophischen Fluchtpunkt finden? Anders gesagt: Kann die Unergründlichkeit nicht nur dann noch verbindlich genommen werden, wenn sie als verbindliche, d. h. die Einrichtung des gesellschaftlichen Lebens bestimmende Maxime praktischer Vernunft verstanden wird? Die Legitimität Negativer Anthropologie steht und fällt nicht mit der solcher Fragen, und das nicht nur deshalb nicht, weil sie aus der anderslautenden Beantwortung derselben gewonnen worden wäre, sondern vor allem, weil sie einer anthropologischen Reflexion über ein Lebewesen entstammt,²⁷³ das zwar unter neuartigen Umständen neuartig erscheinende Verhaltensweisen und -dispositionen entwickelt, aber als Naturwesen nicht bereits als das Produkt dieser Umstände in diese eingeht. Dadurch lässt sich wiederum nicht verharmlosen, wie sehr der Zugriff auf das, was man „die menschliche Natur“ nennen könnte, sich stetig sowohl ausweitet als auch vertieft. Ein Ende der Gebietsverluste ist nicht in Sicht und die Abschaffung des Bargeldes würde die politische Chinoiserie des Westens im offenen Überwachungstotalitarismus enden lassen,²⁷⁴ die Politisierung der Justiz als Übermut Schmidt [2006] uns nicht schon gesagt hätte), die Asiaten munden kann, während sie Westeuropäern überhaupt nicht schmecken kann. Im Hause Münkler gelangt man offensichtlich zu einer anderen Einschätzung der Lage als Heinsohn, wie die affirmative Verwendung des technokratischen und verwertungsorientierten Begriffs der „Bildungsreserve“ zeigt, H. Münkler/M. Münkler 2019: 99. Dies möge man wiederum nicht idealistisch missverstehen: Zwar ist eine Negative Anthropologie nicht durch die Weltgeschichte philosophisch widerlegbar, aber darauf sich auszuruhen hieße, die aus Borniertheit gewonnene Selbstgenügsamkeit eines Idealismus zu wiederholen, der die Idealität seiner Prinzipien in eine scheinhafte Unantastbarkeit und Nicht-Depotenzierbarkeit durch die Weltgeschichte umdichtet. Falls Jiwei Ci (2019; vgl. auch Edinger 2021b) mit seiner Prognose Recht hat, die er in seinem 2019 erschienenen Buch Democracy in China. The Coming Crisis in ständiger freundschaftlicher Begleitung durch Tocqueville weitläufig entfaltet, wird ironischerweise China ökonomisch und vom Bildungsniveau her eine Mittelschicht hervorbringen, die gegen eine staatliche Bevormundung und Überwachung in weitreichend transformativer Weise rebellieren wird, während der eine „Weimarisierung“ und demographische Selbstauflösung durchlaufende Westen aus anderen Gründen als China den aktuellen chinesischen Weg gehen wird. Was bleibt den westlichen Eliten unter den resultativ sich herauskristallisierenden Zukunftsvoraussetzungen, die sie sinn- und kopflos geschaffen haben, auch anderes übrig?
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gangsschritt zur vollendeten politischen Justiz inklusive.²⁷⁵ Und doch ist ein Ende der Negativen Anthropologie erst in Sicht, wenn Menschen systematisch und flächendeckend einer biotechnologischen Fabrikation und Manipulation unterworfen werden. Die Nicht-Widerlegbarkeit Negativer Anthropologie als solcher durch die geduldete Bedrängung durch Beobachtungs- und informationelle Selbstpreisgabetechnologien betrifft wiederum die Kommunizierbarkeit der Legitimität Negativer Anthropologie bzw. ihre persuasive Kraft. Entnimmt man die Kriterien ihrer Bewertung dem Zustand der Welt und derjenigen Gesellschaften (bzw. von einer psychologischen Metaebene her: ist man dazu geneigt, sie der Empire zu entnehmen und Empirie und Anthropologie derart ineinanderlaufen zu lassen), die sich „demokratische“ nennen, dann muss man die negative Anthropologie strikt im Sinne Adornos auffassen und die Nicht-Identität von Sein und „Wesenspotenz“ im denkerischen Widerstand gegen ein Ganzes in Anschlag bringen, das nur noch in einer romantischen Verklärung ein unwahres genannt werden kann. Hält man sich stärker an die immanente anthropologische Analyse im Sinne Plessners, dann rücken pragmatische Fragen in den Vordergrund: Wie lassen sich die strukturellen Ermöglichungsbedingungen von Personalität am besten und effektivsten sichern? Welche politischen, gesellschaftlichen und juridischen Weichenstellungen sind hier angebracht? Nicht ohne Grund habe ich darauf hingewiesen, dass Adornos Unverständnis gegenüber der Rechtswissenschaft auf seine Philosophie zurückfällt;²⁷⁶ deshalb kann ich hier guten Gewissens Partei ergreifen und sagen: Wer sich hier an Adorno hält, macht es sich letztlich zu einfach (und ich behaupte, dass ich es mir dabei nicht mit Adorno zu einfach mache bzw. gemacht habe). Doch die von Plessner her gestellten Fragen betreffen systematisch die Schnittstelle von Philosophie und Rechtswissenschaft und berühren ein praktisches Desiderat: Die meisten Philosophen haben noch nicht verstanden, wie wichtig es wäre, mit rechtsphilosophisch aufgeschlossenen Rechtswissenschaftlern intensiv zusammenzuarbeiten. Dieser interdisziplinäre Anknüpfungspunkt einer Negativen Anthropologie scheint mir einer der vielversprechendsten und nötigsten zu sein. Solche Überlegungen weisen in eine unbestimmte Zukunft von einer Gegenwart her,
Der Hinweis auf eines der wichtigsten und viel zu wenig gelesenen Bücher des 20. Jahrhunderts, Otto Kirchheimers Politische Justiz, kann hier nicht ausbleiben. Es ist leicht vorherzusehen, dass dieses Buch eines der wichtigsten Bücher des 21. Jahrhunderts sein wird – und dass es eines der zu wenig gelesenen bleiben wird. Im bei Metzler erschienenen Handbuch Rechtsphilosophie (Hilgendorf/Joerden 2017) wird Kirchheimer nicht einmal erwähnt; während Tierrechte im Kapitel „Aktuelle Herausforderungen“ einen eigenen Eintrag erhalten, sucht man ein Kapitel zur politischen Justiz, diesem zentralen Merkmal von already failed states und failing states, vergebens. Der Zusammenhang zwischen seiner Verständnislosigkeit gegenüber den Rechtswissenschaften steht in keinem äußerlichen Verhältnis dazu, dass Adorno Hegel und dessen Konzept der bürgerlichen Gesellschaft nicht systematisch zu Ende zu denken vermochte; die Betonung liegt auf systematisch, denn es gibt vereinzelte Stellen, die Aufschluss darüber erteilen, dass Adorno sehr wohl wusste, dass mit der Einhaltung und Nicht-Einhaltung von Rechtsbestimmungen, Recht und Gerechtigkeit selbst stehen und fallen können und dass ohne rigoroses Festhalten an Grundrechten von keiner Versöhnung mehr geredet zu werden braucht, vgl. das Zitat in Fußnote 215.
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zu der die Negative Anthropologie in ihrer Entwicklung, ihrer „Schaffenspause“ und ihrem strikt philosophischem Gehalt und Potential in Beziehung zu setzen ist. Die formative Zeit der Negativen Anthropologie waren die 1920er (angefangen mit den Grenzen der Gemeinschaft bei Plessner) und frühen 1930er Jahre (angefangen mit Die Idee der Naturgeschichte beim jüngeren Adorno). Als gemeinsamer Endpunkt lässt sich das Jahr 1969 angeben, für den Liebhaber des sauberen Schnitts auch gewaltlos das Jahr 1970. 1969 ist Adorno gestorben und Plessners Homo absconditus erschienen; in den 1970er Jahren hat Plessner nur noch wenig geschrieben und nichts mehr, was im Verhältnis zu bereits Geschriebenem mehr als „Parerga und Paralipomena“ darstellte. Adornos Erfolg war ein durchschlagender; von einer prinzipiell kontinuierlichen Rezeption seines Werks nach seinem Tod zu sprechen, ist legitim. Im Falle Plessners ist dies anders. Von Felix Hammers (1967) noch zu seinen Lebzeiten erschienenem Buch abgesehen, ist Plessner erst in den 1990er Jahren seit dem Erscheinen von Stephan Pietrowicz‘ Buch Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens (1992) wieder vermehrt wahrgenommen worden, seitdem allerdings stetig, wobei Pietrowicz‘ Buch eher ein äußerlicher Anstoß der verspäteten Rezeption gewesen sein dürfte – im Unterschied zur Bezugnahme auf Plessner durch Jürgen Habermas in Die Zukunft der menschlichen Natur (2001)²⁷⁷ – generell hat Plessner immens an Präsenz in den philosophischen Diskussionen gewonnen. Das Konzept einer Negativen Anthropologie ist allerdings in Auseinandersetzungen mit Plessner bisher nicht entwickelt worden und im Falle Adornos gilt, dass die Rezeption sich weitestgehend brav an das Veto gegen jegliche Anthropologie gehalten²⁷⁸ und nicht weiter nachgefragt hat. Die oft aspektspezifisch orientierte Plessner-Rezeption hat sich meist um „Fruchtbarmachungen“ für diese oder jene Diskussion bemüht,²⁷⁹ aber nicht versucht, die verschiedenen Linien und Aspekte von Plessners Denken zu einem Ganzen zusammenzufügen, d. h. Plessner anspruchsvoll zu systematisieren. Die Ausnahme in Bezug auf Plessner bildet hier Hans-Peter Krüger. Auf diese Bezugnahme wiederum Bezug genommen haben Krüger (2009: 31 ff.) und Schick (2012: 202 und 210). Bei Honneth wird die Anthropologie unter strengen Auflagen noch als formale Anthropologie geduldet, vgl. Honneth 2000: 66 f. – Ein freieres Fragen in Bezug auf Adorno haben sich Stefan Breuer (1985) und Rudolf Burger (1993) gestattet, die allerdings nicht der Frankfurter Schule zugerechnet werden. Dasselbe gilt für den bereits erwähnten Christian Thies (2018). Für die Umweltsoziologie: Block (2018); im Bereich der Intersubjektivitätstheorie: Breyer (2015), Lindemann (2009, 2011); für die Biowissenschaften/Intensivmedizin: Lindemann (2001), Fischer (2004; Ingensiep 2004; Manzei 2005), allerdings mit stärker holistischem Anspruch als viele andere Interpretationen; für die Psychiatrie: Fuchs (2000) und Heinz (2014); für die politische Anthropologie: Jörke (2005); für eine Theorie der Leidenschaften: Sydow (2013); im Hinblick auf eine historisch-genetische Anthropologie: Dux (1994); im Hinblick auf eine phänomenologische Theorie der Normativität: Schloßberger (2019). Gesondert zu nennen sind Hans Heinz Holz‘ (2003) schief geratener Versuch, Plessner dialektisch zu interpretieren (vgl. Edinger 2017), und Marc Röllis (2011) Kritik von Plessner im Rahmen einer Generalkritik der Philosophischen Anthropologie, die allerdings nur im Einzelnen noch einmal hervorzubringen weiß, was sie im Allgemeinen und Grundsätzlichen schon hervorgebracht hat.
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Doch das Konzept der Negativen Anthropologie im Besonderen hat sich zwischen 1970 und ungefähr 2015 nicht aufgedrängt. Meine nachfolgend zu begründende These lautet: Es konnte sich nicht aufdrängen, weil ein philosophischer Zeitgeist sich ungebrochen in diversen Varianten ausgebreitet hat, der nicht nur immer noch, sondern noch viel stärker eine bestimmende Kraft nicht nur des philosophischen, sondern des gesellschaftlichen Mainstreams überhaupt bildet und eine Anthropologie am ehesten als eine negative (aber nicht als eine Negative) zu akzeptieren bereit wäre. In einem „Verdichtungsbegriff“ (Luhmann) benannt, handelt es sich dabei um eine Geisteshaltung, die sich auf den Namen „Konstruktivismus“ bringen lässt. Alles Folgende kann a priori keinerlei Sinn für denjenigen ergeben, der Verdichtungsbegriffe per se für Unsinn hält. Zu den eingeschliffenen Reflexen innerhalb der Universitätslandschaft gehört, dass ein derartiger Versuch, eine geistesphysiognomische Verwandtschaft der meisten maßgeblichen Richtungen eines größeren Zeitraums in einem Verdichtungsbegriff zu benennen, eine aus Übermut oder Reflexionsmangel resultierende Übergeneralisierung, eine essentialistische Reduktion oder eine Pauschalisierung darstellt, die der Komplexität des Sachverhalts nicht gerecht wird und nicht gerecht werden kann. Konstruktivismus ist das gemeinsame geistige Paradigma (nicht das einzige, nicht das erschöpfende) von Postmoderne, Feminismus, Postkolonialismus, kulturalistischen Ansätzen im Allgemeinen, Multikulturalismus im Speziellen und der wichtigsten Ideologie der Gegenwart, nämlich des Pluralismus, noch grundsätzlicher: Konstruktivismus ist das gemeinsame Paradigma aller neueren Ansätze, die sich als anti-realistisch oder anti-essentialistisch begreifen (wenn auch nicht aller, die sich als nichtessentialistisch begreifen). Der paradigmatisch verstandene Konstruktivismus ²⁸⁰ hat in der Philosophie längst eine ähnliche Funktion wie der Reisepass an Flughäfen.²⁸¹ Er
So sympathetisch ich gegenüber Michael Hampe bin, wenn er sich über „Vertreter eines Überzeugungskartells“ (Hampe 2014: 194) mokiert, „die einen Realismus oder Konstruktivismus so wie andere Leute Staubsauger oder Bügeleisen vertreten“ (ebd.), so sehr unterschätzt eine solche Einschätzung leider die Tragweite des paradigmatisch verstandenen Konstruktivismus. Hier geht es eher um eine Gesellschaften intellektuell in einen Schraubstock zwingende Mentalitätsmonokultur. Ehemals so disparate Unternehmungen wie Philosophie und Selbstvermarktungsratgeber gelangen in der konstruktivistischen Grundhaltung auf eine geradezu sektiererische Weise zu einem uneigentlichen, weil unerrungenen Einvernehmen, das von Förderinstitutionen und Geldgebern in seiner entwicklungslosen Selbsterhaltung großzügig und unkritisch unterstützt wird. Man müsste hier eher von einem Staubsauger- und Bügeleisen-Sozialismus ausgehen als von sogenannter Diversität und meritokratischem Wettbewerb. Gleichwohl gebiert solche konstruktivistische Mentalität im viel umfassenderen Sinne ein Äquivalent dessen, was Hampe doktrinäre Philosophie nennt; wie diese so scheint jene „die Sprache ‚von oben‘, ‚top down‘ durch ein System oder eine Theorie des Diskurses regulieren zu wollen“ (ebd.: 35); womöglich will sie erreichen, was der Effekt ihrer in den immergleichen Worthülsen (Konstrukt, Geschichtlichkeit, Kontingenz etc.) strandenden Einfallslosigkeit ist: eine Narkotisierung. Vorab möchte ich klarstellen, wo der Konstruktivismus zwar existiert, aber durch die Geisteswissenschaften hin importiert werden musste, ohne dass er sich hätte paradigmenbildend durchsetzen können: nämlich in der Politikwissenschaft. Dort existiert er als eine Richtung bzw. Schule unter
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ist, mit Gunnar Hindrichs zu reden, ein Produkt und eine Funktion kommunikativer Macht;²⁸² mit Bourdieu gesprochen ist der Nukleus einer herrschenden Doxosophie. Einige Hinweise philologischer Art seien erlaubt (das Folgende kann nur für diejenigen interessant sein, die physiognomische Versuche gegenüber Konkretismen bevorzugen und letztere nicht mit Konkretheit verwechseln und die überdies das Konzept der Wirkungsgeschichte begreifen): – Innerhalb der Postmoderne hat sich eine sogenannte Differenzphilosophie ausgebildet, deren vielfältige Ursprünge Heinz Kimmerle in Philosophien der Differenz. Eine Einführung (2000) aufgearbeitet und dargestellt hat mit dem subjektiv-teleologischen²⁸³ Fluchtpunkt einer interkulturellen Philosophie. Einer seiner Ausgangs-
anderen im Bereich der Internationalen Beziehungen (IB) bzw. International Relations (IR). Theoretisch-paradigmatische Hegemonie des Konstruktivismus ist hier keine Möglichkeit, weil die Theoriebildung zu sehr durch die Realität der Politik restringiert wird und die Gleichsetzung von Politik mit Diplomatie, europäischer Politik oder kontraktualistischen Verflechtungen auf internationaler Ebene nicht tragfähig ist. Wenig aus der politischen Geschichte ist konstruktivistisch erklärbar, vieles aus der Gegenwart ist es nicht und von dem weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts werden Konstruktivisten im Bereich des Politischen das Wichtigste weder hellsichtig prognostizieren noch von ihrer politischen Theorie her verstehen können. In Ulrich Menzels Unterscheidung von vierer idealtypischer Modelle internationaler Ordnung (vgl. Menzel 2015: 44) lässt der Konstruktivismus sich dem Idealismus zuordnen, während die Erschließung von Hegemonietheorie und Imperiumstheorie dem Realismus, der das vierte Ordnungsmodell bildet, überlassen bleibt. Die Politik als ein Gegenstand, der von einem Klassiker der politischen Theorie, als „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (Clausewitz 1999: 44) definiert worden ist, zeichnet sich durch eine markante Widerborstigkeit gegenüber dem Konstruktivismus der Geisteswissenschaften aus. Unter dem Namen der kommunikativen Macht entwickelt Hindrichs (2020) in seinem neuen Buch Zur kritischen Theorie eine so schneidende wie brillante Kritik der Philosophie von Jürgen Habermas. Was Hindrichs Habermas im Wesentlichen gleichermaßen vorhält, wie er es dem Leser vorexerziert, ist, wie Habermas die Lebenswelt nicht nur universalpragmatisch als „ursprüngliche“, normative Legitimitätsquelle freilegt, sondern sie zugleich über die „normative Kraft des Faktischen“ zur Legitimationsinstanz der empirisch stattfindenden Kommunikation macht: „Kant bringt den Inhalt der Maximen in eine bestimmte Form. Habermas aber setzt die Form an die Stelle des Inhalts. Es zählt nur die Form der äußeren Verständigung. Und diese Form der äußeren Verständigung – also ein bestimmtes Miteinander der Menschen – macht sich ohne Grund als das Gute geltend, was bei Kant noch der in die richtige Form gebrachte Inhalt war. Gut ist nunmehr die kommunikative Macht und was sie bewirkt.“ (Ebd.: 261) Dies lässt sich zwanglos auf den Konstruktivismus übertragen: Gut sind die Konstruktionsleistungen der kommunikativen Macht, wozu insbesondere die meta-kommunikative Assertion gehört, dass alle Kommunikation Konstruktion ist, wodurch alle missliebige Kommunikation als bloße Konstruktion angreifbar ist, während alle gewünschtermaßen akzeptierte Konstruktion der kommunikativen und lebensweltlichen Modifikation dessen dient, was dank der genialen Leistungen konstruktivistischer Forschung als Konstrukt durchschaubar geworden ist. Was Hindrichs als systematische Grenze der Habermas’schen Revision der Philosophie ausweist (vgl. ebd.: vor allem 219 f. und 226 ff.), nämlich das Subjekt, umgeht der Konstruktivismus nicht mehr verlegen wie Habermas, sondern er wird es einfach los, indem er es wider den intransitiven Sinn von „sich verflüchtigen“ gleichsam von außen verflüchtigt. „Die Philosophien der Differenz sind ein Weg zur interkulturellen Philosophie, der zugleich mein Weg dahin ist.“ (Kimmerle 2000: 9)
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punkte bildet dabei auf eine äußerst symptomatische Weise Adorno, weil Kimmerle Adorno strikt vom Anti-Essentialismus des Denkens von Nicht-Identität her liest und die Kritik falscher Identität umstandslos mit einer Kritik der westlichen Metaphysik gleichsetzt bzw. in eine solche auslaufen lässt: „Die westliche Metaphysik ist in der Tat, wie es bei ADORNO der Fall, ist, als eine Art Herrschaftsdenken zu erfassen, aber in einem fundamentalontologischen Sinn.“ (Kimmerle 2000: 27) Der nicht als nette Sentenz sich isolieren lassende Schlussatz der Negativen Dialektik wird damit unverständlich,²⁸⁴ es sei denn, man wollte behaupten, die Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes bestünde in deren Beerdigung samt Grabrede, in der sie als westliche Kolonialisierungsideologie im Namen aufgeklärter Interkulturalität verworfen wird. Zugleich ist verständlich, dass Kimmerle vom Kritiker von Herrschaft überhaupt wie vom Bann als Ideologie einen Weg zur interkulturellen Philosophie zu finden vermag, vor allem dann, wenn man sieht, dass er Adorno als direkten Vorläufer der Dekonstruktion²⁸⁵ auffasst (vgl. Kimmerle 2009: 43), die sich – anders als Adorno²⁸⁶ – dem Paradigma des Konstruktivismus einfügt. – Die feministische Philosophie seit Judith Butler und so weit sie ihr im Prinzip folgt, ist hier zu nennen. Was man mir in Bezug auf Butlers Konstruktivismus als Fehllektüre vorzuhalten geneigt sein mag²⁸⁷, als würde ich so ins Blaue hineinschreiben wie Butler, wo sie in Gender Trouble (1990) von Substanzmetaphysik spricht,²⁸⁸ bringe ich gerne selber zur Sprache. Butler sagt: „The debate between constructivism and essentialism thus misses the point of deconstruction altogether“ (Butler 1993: 8). Was den Konstruktivismus Butler zufolge auszeichnet (vgl. ebd.: 7), ist die Importierung von Essentialität in ein voluntaristisch über sie verfügendes Subjekt, das sein Wesen zum Gegenstand seiner hoheitlichen Selbstdefinition macht. „Constructed by discourse“²⁸⁹ (ebd.) zielt gerade auf keinen Konstruktivismus, der von
Enzo Traverso gerät insofern nicht in die größte Begründungsnot, wenn er Adorno als Eurozentristen statt als Eurozentrismuskritiker sieht, vgl. Traverso 2014: 206. Darin trifft Kimmerle sich wiederum mit Gamm, der Adornos Schlussatz der Negativen Dialektik sogar abwandelt: „Mit jener etwas pathetisch klingenden Formel Adornos müßte man sagen: „Die Dekonstruktion zeigt sich solidarisch mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes, sie verteidigt im Rückgriff auf Lévinas‘ Idee einer infiniten Verantwortlichkeit die Unbedingtheit ethischer Verpflichtung.“ (Gamm 2004: 241) Solche Engführungen von Adorno und Derrida zeugen von Prioritäten der Interpreten, für die die essentialismuskritische Nicht-Identität die Essenz von Adornos Denken darstellt; nicht Weniges wird dabei übersehen, z. B. Adornos Wahrheitsbegriff. Um Adorno leicht eingemeinden zu können, muss man nicht nur den Wahrheitsbegriff ignorieren, sondern auch die Vermittlung als Konstruktion missverstehen. Was man dann allerdings überhaupt noch von Adorno versteht, ist fraglich. Irmela Marei Krüger-Fürhoff zufolge erweist „Judith Butlers radikal-konstruktivistische Infragestellung der Kategorie des biologischen Geschlechts (sex)“ dieses „als ebenso kulturell konstruiert wie gender“ (Krüger-Fürhoff 2009: 71) Man muss ihr zugute halten, dass sie den Begriff später nicht weiterverwendet hat. Man darf dafür Mary Poovey (1992) vorhalten, dass sie auf den Ausdruck reingefallen ist. Eine andere, konkretere und am Pragmatismus wie an den empirischen Sozialwissenschaften orientierte Variante dieser konstruktivistischen Grundfigur stellt die Intersubjektivitätstheorie dar. Das
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einem identifizierbaren Zentrum/Akteur her erfolgt, sondern auf einen, in dem Konstruktion von einer im weitesten und zugleich strikten Sinne sozio-logischen Matrix her erfolgt. Der Diskurs jedoch hat – wie die Macht bei Foucault, dessen Theorie auf die Geschlechterfrage übertragen wird (vgl. ebd.: 4, 83, 94 und vor allem 117 ff.) – kein kontrollierbares Zentrum, das ihm wiederum eine Kontrolle ermöglichte. Der Begriff des Diskurses ist zunehmend durch Gesellschaft und Kultur ersetzt worden, der AntiEssentialismus im Namen der Unterscheidung zwischen sex und gender fundamentalisiert worden.²⁹⁰ – Der Übergang von der feministischen Philosophie zu den Kulturwissenschaften, also zu nicht nur einer innerwissenschaftlichen Strömung, sondern zu einer Wissenschaft selbst, ist fließend. Doris Bachmann-Medick bringt dies treffend auf den Punkt: „Somit ist die Genderspektive auf einer entscheidenden epistemologischen Achse mit der kulturwissenschaftlichen Forschung und ihrem Kulturkonstruktivismus verschränkt.“ (Bachman-Medick 2006: 43) Der Begriff „Kulturkonstruktivismus“²⁹¹ benennt das Fach „Kulturwissenschaft“ von seinem epistemologischen Paradigma her, er benennt nicht etwa, was innerhalb dieses Faches angreifbar wäre, ohne dass die Grundlagen des Faches selbst angegriffen würden, denn mit den Kulturwissenschaften geht ein kultureller Bewusstseinsevolutionismus einher: Vom Zeitpunkt ihrer Erlangung von Breitenwirksamkeit an ist naiv, wer die kulturelle Konstruiertheit (oder wenigstens Codiertheit) alles Wissens objektivistisch zu umgehen versucht. Wie der „Kulturkonstruktivismus“ im Einzelnen ausgestaltet wird, bleibt dem jeweiligen Akteur überlassen. Bachmann-Medick täuscht den Leser allerdings, wenn sie von einer „Tendenz der Kulturwissenschaften zum Pluralismus“ (ebd.: 9) spricht, denn es handelt sich um keine temporäre oder veränderliche Tendenz, sondern um eine Verpflichtung qua Identität.²⁹² Der Pluralismus ist die Rückseite eines Anti-Essentia-
Stichwort hat Habermas gegeben mit dem Ausdruck „Individuierung durch Vergesellschaftung“ (Habermas 1992). „Ging es zunächst darum, durch die bewußte Unterscheidung von sex und gender auf die gesellschaftliche und kulturelle Konstruktion von ‚Geschlechtsidentität‘ aufmerksam zu machen, so ging es bald um eine grundlegende Kritik an essentialistischen Vorstellungen einer ‚unverrückbaren‘, ‚primären‘ oder ‚originalen‘ Beschaffenheit von Natur, Geschlecht und Identität überhaupt.“ (von Braun/Stephan 2006: 4) Vgl. außerdem ebd.: 58 und 231 f. Konstruktivismus im Grundsätzlichen nennt Christoph Jamme gar die Kopernikanische Revolution der Geisteswissenschaften: „Dieser Wandel, von dem man sogar als ‚Kopemikanische Wende der Geisteswissenschaften‘ gesprochen hat, ist in toto ein Wandel zum Konstruktivismus: Die Wirklichkeit ist ‚ein Konstrukt der Kultur‘ bzw. die Kultur schafft ‚unsere Lebenswirklichkeit‘.“ (Jamme 2007: 80) Jedenfalls gemäß ihrer heutigen Identität. Lange vor dem Aufkommen der Kulturwissenschaften hat sich das Konzept der Kulturnation ausgebildet, das gerne auf Herder zurückdatiert wird, doch interessanter dürfte hier der Institutionalisierungsverlauf dieses Konzepts sein.Was dann in den Fokus rückt, ist die Institutionengeschichte der praktischen Implementierung dieses Konzepts, d. h. die Entstehung der Germanistik, die als nationale Philologie eine Kulturwissenschaft avant la lettre war. In seiner hervorragenden Studie Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft zeichnet Klaus Weimar (2003) diesen Prozess minutiös nach und legt dar, dass in den 1840er Jahren der „endgültige Durchbruch der deutschen Philologie“ (ebd.: 245) stattgefunden habe. Die entscheidende publizistische
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lismus, die beide Säulen gleichermaßen einer Wissenschaft wie einer kulturellen Agenda bilden. – Das lässt sich auch vom Postkolonialismus und seinen Nachfolgern, z. B. der Critical Race Theory, sagen, die die Errungenschaften der Dekonstruktion, der feministischen Philosophie, des Kulturalismus, Anti-Essentialismus und des Pluralismus (um die die wesentlichen Ingredienzen zu benennen) in Gestalt eines die Identität der Disziplin konstituierenden Anti-Rassismus aufnimmt. Während in der feministischen Philosophie das Geschlechterverhältnis im Zentrum des Interesses steht, ist es hier der Begriff der Rasse; das Pendant des Patriarchats in der feministischen Philosophie bildet hier die sogenannte whiteness, deren Manifestationsformen das weiße, westliche, männlich-heterosexuelle Patriarchat und der Kolonialismus (ob politisch oder kulturell) sind; an die Stelle des Androzentrismus tritt der Eurozentrismus.²⁹³ Zwei m. E. typologisch repräsentative Belege möchte ich hier nicht unterschlagen: (1) Amy E. Ansells Race and Ethnicity. The Key Concepts definiert Essentialismus und Kon-
Rolle hat dabei nicht Herder, sondern Gervinus mit seiner Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1835 – 1842) gespielt. Bei Gervinus heißt es kulturpolitisch-missionarisch: „Wer aber wird uns einmal die große Aufgabe zu lösen suchen […] nachzuweisen (was sich hier, aber noch nicht an politischer Geschichte von Deutschland nachweisen läßt), wie diese Literatur und die Nation mit ihr zur Selbständigkeit, zur literarischen Herrschaft in Europa“ (Gervinus 1962: 47 f.) gekommen sei. Auch Moritz Lazarus’ frühe Ansätze zu einer Kulturwissenschaft überspringen in der Dialektik von Individuum und Allgemeinem (qua Kultur, Gesellschaft, Idee) weder das Konzept des Volksgeistes noch das des „Organismus seines [des Bürgers, S. E.] Staatslebens“ (Lazarus 2003: 165): „[W]ir sehen das ewige Gleichniß aller inneren Entwicklung, die beiden goldenen Schöpfungseimer an der Quelle aller geistigen That; es ist: die Allgemeinheit der Idee und die Individualität ihrer Gestaltung oder Auffassung im Einzelnen; aus dem Widerstreit und der Wechselwirkung dieser beiden Elemente entspringt jeder Fortschritt der Cultur.“ (Ebd.: 107) Das nur als Randbemerkung zur Vorgeschichte des schlechthin Unbezweifelbaren. Weiße Amerikaner müssen in dieser Sichtweise Europäer sein, die sich territorial westwärts verpflanzt haben und transatlantisch ihr wesentliches Unwesen treiben. Rückwirkend wird dann alles Spezifische innerhalb Europas der whiteness hermeneutisch unterworfen. Folgerichtig spricht der geniale Historiker Bernie Sanders, wo er von dem handelt, was Ewiggestrige als „Nationalsozialismus“ kennen, schlicht von „white fascism“. Damit wird der Holocaust „entdeutscht“ und die Verantwortung dafür innerhalb der weißen Welt universalisiert und damit „rassifiziert“ – logischerweise, wenn man „Rassifizierung“ als solche in den Nukleus der Gesellschaft und ihrer Logik heineinverlegt. Natürlich wollen diejenigen, die in diesem ideologisch-sozialpolitischen Industriezweig tätig sind, nichts von den verschiedenen möglichen Entfaltungsweisen dieser Logik wissen, zu denen die dämonisierende Retro-Rassifizierung der Geschichte gehört. Der Nationalsozialismus war dann white fascism und eine Emanation des Wesens von whiteness. Geschichte gerät dann zu einer dämonologischen Disziplin. Wer verstehen will, was hier geschieht, wird aus einer Auseinandersetzung mit Martin Luther King oder Mahatma Ghandi keinen Gewinn dafür ziehen können, umso mehr aber aus der Lektüre von Carl Schmitts (1932) Der Begriff des Politischen lernen können, was in einer bipolarisierten (vgl. Edinger 2020: 138) Gesellschaft wenig überraschend ist. Wer statt eines politischen einen eher sozialontologischen und keineswegs weniger erhellenden Aufschluss über den Sachverhalt zu gewinnen sucht, dem sei Panajotis Kondylis’ (1984) Schrift Macht und Entscheidung ans Herz gelegt. Zur – Gespräche mit Politikwissenschaftlern haben mich darüber belehrt – leider nötigen Abgrenzung von Schmitt und Kondylis vgl. Edinger 2019b.
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struktivismus als typologische Grundgegensätze und integriert dabei oben angesprochene Aspekte des gegenwärtigen (bzw. Gegenwarts‐)Konstruktivismus: Essentialism refers to the tendency to treat race (or other variables of identity such as those based on gender, sexuality, culture, etc.) as a matter of innate characteristics; that is, as something immutable, discrete, and unchanging. It is often used as a pejorative label by anti-essentialists, and stands in contrast to constructivist perspectives, which view race in socio-historical terms as unstable, dynamic, and variable. (Ansell 2013: 62; fett im Original)
Hier wird im Begriff „constructivist perspectives“ alles Wesentliche vereint: die Historisierung mit der Kulturalisierung, damit die Öffnung hin zu den Kulturwissenschaften; Rasse wird mit Geschlecht parallelisiert, Dynamismus und prinzipielle Variabilität repräsentieren den Anti-Essentialismus und Pluralismus. (2) Die Offensivgeistvariante dessen präsentiert dem philosophischen Fachpublikum Franziska Dübgen in ihrem Essay Blinde Flecken der Politischen Philosophie? Impulse der Critical Philosophy of Race für die Analyse von Normativität, Politik und Recht (2019).²⁹⁴ Dübgen fungiert dabei als Botschafterin, die auf Rezeptionsversäumnisse hinweist und ohne Umschweife gesteht, dass ihrerseits importiert wird, was in den USA schon seit Jahrzehnten bekannt und mittlerweile die ideologische Basisagenda einer neuen re-education²⁹⁵ ist: „Die Critical Philosophy of Race (CPoR), die sich in den USA in den
Eine Grundsatzkritik der Critical Race Theory (CRT) haben jüngst Lindsay/Pluckrose (2020) unter dem Titel Cynical Theories. How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender, and Identity – and Why This Harms Everybody vorgelegt. Nicht nur fällt ihre Kritik der CRT vernichtend aus, sie stellen ihr im Schlusskapitel das ausführliche Porträt einer Geisteshaltung gegenüber, die man als das „EthosGegenmodell“ zur CRT bezeichnen könnte und das auf den Namen „Liberalismus“ hört. Eine adäquate Zeitkritik, würde man sie formulieren, müsste sich zur Kontroverse zwischen CRT und Lindsay/Pluckrose in etwa so verhalten wie Kondylis (1991) sich in Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform zu Moderne und Postmoderne verhalten hat, anders gesagt: Wer mitmacht, d. h. miteifert und -geifert, verpasst zu viel und das Entscheidende. In dieser re-education geht es nicht darum, das aus Gründen der individuellen Missratenheit falsche individuelle Bewusstsein emanzipationsmaieutisch in ein richtiges umzumodeln, sondern darum, die strukturelle „Falschheit“ einer gesamten Generationenfolge nachträglich und mit wegbahnender Absicht zu „reparieren“, denn nicht die Individuen sind das primäre Problem, sondern die gewachsenen, konstruierend wirksamen Strukturen, die das Problem erschaffen haben, an dem die Critical Race Theory sich abarbeitet. Als horizontales Projekt kann sie nicht adäquat funktionieren oder agieren und als solches kann sie sich auch nicht ausgeben, ohne als Verrat an ihrem grundsätzlichen Anspruch aufzutreten. Sie muss rückwirkend eliminieren wollen, was im vertikal verlaufenen Generationenprozess als toxisch wirksam ausgemacht worden ist. Auch die „Alten“ müssen also lernen, dass sie in strukturell rassistischer Unwahrheit aufgewachsen sind und in dieser Unwahrheit Kinder großgezogen haben (die eigene Erbschuld wird tradiert und denen verabreicht, die im Bann einer verlängerten Erbschuld großwerden), die in strukturell rassistischer Unwahrheit leben und lernen müssen, dass ihre Eltern und Großeltern – in der sachtesten Formulierung – Produkte eines falschen, strukturell rassistischen Bewusstseins waren. Wie die USA und das Westeuropa der Gegenwart zeigen, kann man beträchtlichen Teilen der Gesellschaft transgenerationell solche Ansichten und Urteils- und Verhaltensdispositionen einimpfen. Beachtlicherweise steht keine Kritische Theorie dem im Wege. Demzufolge gilt in einer Horkheimer-Variation: Wer von der Critical Race Theory reden will, der kann
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letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, widmet sich der Analyse von ‚Race‘ sowie der damit verbundenen Unterdrückung und nimmt diese Analyse zum Ausgangspunkt ihres Philosophierens.“ (Dübgen 2019: 620) Den Konstruktivismus muss man hier nicht als typologisches Interpretationsdestillat ausmachen: ‘Race‘ wird im Folgenden verstanden als ein soziales Konstrukt, das durch Zuschreibungsprozesse innerhalb von sozialen Machtverhältnissen entsteht. Diese konstruktivistische Lesart geht davon aus, dass die historisch entstandenen Kategorien Race/‘Rasse‘ und Rassismus bis heute in den westlichen Gesellschaften, die an Kolonialismus und Sklavenhandel beteiligt waren, sozial wirksam sind und unsere gesellschaftliche Realität in Bezug auf Status, Güterverteilung, Ämter, Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt etc. prägen. Rassismus, dieser Konzeption von Race folgend, ist ein vertikales Verhältnis der Beherrschung, Ausgrenzung oder Invisibilisierung von weniger machtvollen Akteursgruppen auf der Basis von Rassifizierungsprozessen. (Ebd.: 621)
Diese Passage verdient es, ausführlich zitiert zu werden, weil sich hier zeigt, dass der Ausdruck Konstruktivismus mehrere Bedeutungsdimensionen umfasst, um die es mir hier geht: Er bezeichnet (1) die Konstitutionslogik unseres Welterschließungsinventars im Ganzen (Sprache, Denkformen, kulturelle Artefakte etc.); die (2) die soziale Kommunikation im Ganzen im Hinblick darauf, dass in ihr permanent „Zuschreibungsprozesse“²⁹⁶ (ebd.) ablaufen, mittels deren Identität konstruiert wird auf der Basis von Konstrukten wiederum; (3) die Machtdimension von Kommunikation, weil Identität in
von re-education nicht schweigen. Keine Reflektiertheit, die man sich gleichwohl allerorten großzügig konzediert, behindert die grenzenlos selbstgerechte Gleichsetzung der ephemeren Subjektivität mit der geschichtsphilosophischen Wahrheit. Blumenberg hat – ironischerweise in Arbeit am Mythos – die Struktur solchen Für-wahr-Haltens auf den Punkt gebracht: „Geschichtliche Zäsuren, Neuanfänge können nicht gesetzt werden, ohne daß der behauptete Unwert dessen, was dem beanspruchten Bruch vorausgegangen war, dem Subjekt des Neubeginns selbst zur Last fällt. Schreibt sich die Vernunft die Notwendigkeit des neuen Anfangs selbst zu, muß sie sich fragen lassen, was denn sonst und anderes für die vorhergehende Unerträglichkeit verantwortlich sein könnte. Wo Subjekt und Vernunft sich als identisch behaupten, muß das Verlangen nach Gerechtigkeit für die Totalität der Geschichte übermächtig werden.“ (Blumenberg 2006: 616) Zugleich ist hier an den folgenden Satz Kosellecks zu erinnern: „Das Gewissen, das des Außenhalts entbehrt, entartet zum Idol der Selbstgerechtigkeit.“ (Koselleck 1992: 22) Wichtiger als der Zusammenhang, dem der Satz entstammt, ist, wie er den, in den er gestellt wird, konfiguriert. Diesem Konstruktivismus greift die Semiotik unter die Arme mittels dessen, was Umberto Eco als „Prozeß unendlicher Semiose“ (Eco 1994: 77) bezeichnet, der in einem linguistischen System stattfindet: „Die Sprache wäre also ein System, das sich aus sich selbst heraus durch aufeinanderfolgende Systeme von Konventionen erklärt, die sich gegenseitig erklären.“ (Ebd.) Für eine Übertragung dieser semiotischen Logik auf den Konstruktivismus bietet sich explizit der Konstruktivisten bestens mundende Begriff des Interpretans an: „Das Interpretans ist die in ihrem Wesen als kulturelle Einheit verstandene Bedeutung eines Signifikans, das durch ein anderes Signifikans aufgezeigt wird, um ihre Unabhängigkeit (als kulturelle Einheit) vom ersten Signifikans zu zeigen.“ (Ebd.: 78) Wichtiger als die Eigenständigkeit kultureller Einheit, die zwar oft „betont“ wird, wie man gerne sagt, wenn man übers Betonen hinaus nichts zu bieten hat, ist der geschlossene Kreislauf des Konstruierens: Wie in der unendlichen Semiose der Ausbruch aus derselben nicht möglich ist, so bildet im Konstruktivismus das Konstruieren einen geschlossenen Kreislauf.
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vertikalen Determinationsprozessen Konstrukten unterworfen wird, die heteronom auf sie einwirken; (4) die Dezentralität und Unverfügbarkeit des „konstruktiven Universums“ einer Gesellschaft oder Kultur. Zugleich geht es darum – das ist eine entscheidende Pointe des Konstruktivismus –, Unverfügbares zumindest partiell verfügbar zu machen durch seine Durchleuchtung. Anders gesagt: Werden Konstrukte als Konstrukte entlarvt, dann können sie mittels anderer Konstrukte dekonstruiert oder wenigstens (politisch, d. h. in dem Fall: anti-paternalistisch und sozialtherapeutisch) „behandelt“ werden. Kommunikationstheorie (Konstruktion im Medium von Zuschreibungsprozessen), Kritik (auch im therapeutischen Sinn), Macht- (Ausgrenzung qua Konstruktion im vertikalen Sinn) oder Handlungstheorie allgemein und Erkenntnistheorie können mittels des Konstruktivismus in eine Fluchtlinie gebracht werden. Dübgen macht in ihrem Ansatz keine grundsätzlichen Annahmen, die etwa Foucaults Machttheorie prinzipiell zuwiderliefen; über den Unterschied zwischen Konstitution²⁹⁷ (Foucault) und Konstruktion führt eine Brücke.²⁹⁸ In dieser globalen Bedeutung, die sich hier andeutungsweise fassen lässt, verstehe ich den paradigmatischen Konstruktivismus, dessen operationale Prägekraft keineswegs auf die Kultur- und Geisteswissenschaften beschränkt bleibt. – An der Front der hard sciences, insbesondere der Hirnforschung oder ihrer innerphilosophischen Interpretationsabteilung, der sogenannten Neurophilosophie, sieht es im Grundsätzlichen nicht anders aus. Man sollte hier nicht übersehen, dass der paradigmatische Konstruktivismus in neurowissenschaftlicher Inspiriertheit durchaus auch komputationalistisch²⁹⁹ aufgesetzt werden kann. Auch hier lässt das herrschende Paradigma sich auf den Namen Konstruktivismus bringen, d. h. die epistemologische Grundsätzlichkeit des Konstruktivismus gilt ebenso, sie wird aller-
Auch die biopolitische Grundunterscheidung zwischen Leben machen und sterben lassen lässt sich damit fassen. In der Zusammenfassung seiner Vorlesung führt Foucault explizit den Machtbegriff mit dem Konstitutionsbegriff eng: „Die Macht sollte man jedoch nicht auf der Grundlage der ursprünglichen Begriffe der Beziehung untersuchen, sondern auf der Grundlage der Beziehung selbst, insofern sie die Elemente, auf die sie sich bezieht, selbst konstituiert“ (Foucault 2001: 312). Und dies nicht nur deshalb, weil Butler im Prinzip eine Mutationsform von Foucaults Machttheorie präsentiert, vgl. Bublitz 2002: 17. Ebenso Petra Gehring 2014: 293 und besonders eindrücklich Martin Saar: „Der konstruktivistische Grundcharakter der Genealogie zielt auf Prozesse hinter den schon eingerichteten Institutionen und gelebten Identitäten. Denn sie beschreibt in hypothetischen Szenarien das Zustandekommen, Sich-Verändern, Sich-Durchsetzen und Vergehen von Praktiken, Institutionen und Identitäten.“ (Saar 2009: 262 f.) Exemplarisch: „Since the logical formalism permits the construction of computational systems of arbitrary complexity, the postulation of even an elaborate population of faculties is tolerable to this new sort of associationism. For, so long as the operation of the faculties is assumed to be exhaustively computational, they can be viewed as mere constructions out of whatever elementary ‚associations‘ the theorist ist prepared to acknowledge. Perception, memory, thought, and the rest of the faculty psychology’s brood can then be accepted as distinguishable aspects of mind (specifically, as distinct mental processes) without abandoning the basic associationistic premise that practically all of the mental life’s ‚assembled‘ – i. e. put together from some relatively simple and uniform population of psychological elements.“ (Fodor 1983: 30)
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dings gleichermaßen hochmütig und demütig bio- und neurowissenschaftlich untermauert (hochmütig gegenüber Philosophen aus anderen philosophischen Disziplinen, etwa der Hermeneutik, demütig gegenüber den Fachwissenschaftlern, denen man ergeben ablauschen will,³⁰⁰ was dann wiederum hochmütig den Angesprochenen gegenüber als das präsentiert wird, worauf es wirklich ankomme). Der dogmatische Energieüberschuss dieses Konstruktivismus verdankt sich seiner Konsekration durch die in solchen Kreisen allzu gerne und ehrfürchtig angerufene scientific community.³⁰¹ Die im deutschsprachigen Raum weit über die akademische Philosophie hinaus beachteten Bücher des Neurobiologen Wolf Singer (2002) und des Neurobiologen und Philosophen Gerhard Roth (1994, 2003) präsentieren Konstruktivismus als den Bewusstseinsstand der scientific community.³⁰² In Das Gehirn und seine Wirklichkeit heißt es: Die Wirklichkeit ist nicht ein Konstrukt meines Ich, denn ich bin selbst ein Konstrukt. Vielmehr geht ihre Konstruktion durch das Gehirn nach Prinzipien vor sich, die teils phylogenetisch, teils frühontogenetisch entstanden sind und ansonsten den Erfahrungen des Gehirns mit seiner Umwelt entstammen. (Roth 1994: 330)
Das missfällt kulturellen Konstruktivisten, die Konstruktion als „reine“ Tätigkeit auffassen wollen, um die Autonomie der Person zu vertiefen und deren Verantwortlichkeit zu stärken, d. h. sie wollen die Konstruktion als Autorschaft der Person und nicht als das, was anstrengende Willensfreiheitsdebatten nach sich zieht wie die, in
Habermas sagt in seinem neuesten Buch Auch eine Geschichte der Philosophie dazu: „An einigen Orten geht sie [die Philosophie, S. E.] schon in der Rolle einer begriffsanalytischen Dienstleistung für die Kognitionswissenschaften auf“. (Habermas 2019: 12) Die wissenschaftstheoretische Aufgabe der philosophy of mind, sofern sie überhaupt einen philosophischen Rest gegenüber dem Abschreiben aus naturwissenschaftlichen Lehrbüchern übrig lässt, wird in der demütigen Ehrfurcht gegenüber den Neuro- und Biowissenschaften suspendiert. Umgekehrt wird sie groß herausgekehrt, wo es darum geht, Antragsprosa so aufzumotzen, dass Geldgeber glauben, sie würden die Exponierung der letzten Wahrheiten, die der Fachwissenschaft verschlossen bleiben müssen, aber menschenmöglich sind, indirekt durch die Förderung ermöglichen. Der grundsätzliche Taschenspielertrick des Konstruktivismus, der das Dilemma des schizophrenen Verhältnisses zwischen objektsprachlichem Agieren und metasprachlichem Argumentieren zu vertuschen versucht (mit dem fatalen Resultat, das objektsprachliche Agieren metasprachlich – gleichwohl sehr selektiv – seiner selbst und der immanenten Prüfung zu entziehen), ist Julian NidaRümelin nicht entgangen: „Die meisten Neurophysiologen bekennen sich zu der einen oder anderen Form des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus, wonach wir keinen Zugang zur Realität haben, sondern in unseren Wahrnehmungen und Meinungen abhängig davon sind, was unser im evolutionären Prozess entstandener, optimal angepasster Sinnesapparat uns vermittelt. Natürlich stellt sich hier sofort die Frage, ob die Begründung des Konstruktivismus nicht selbstaufhebend ist, denn schließlich werden empirische Daten in dieser Begründung angeführt, deren Verlässlichkeit und Objektivität vorausgesetzt wird. Aber auch unabhängig von der Selbstwidersprüchlichkeit des Konstruktivismus tendiert ein Teil der Neurophysiologie zu einer inkohärenten Position, die sich metatheoretisch zum Konstruktivismus bekennt und inhaltlich einem bisweilen geradezu naiven Realismus verhaftet bleibt.“ (Nida-Rümelin 2005: 169)
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denen Roth selber mitgemischt hat.³⁰³ Positionen wie die Roths stärken und schwächen den Konstruktivismus zugleich; sie stärken ihn, weil der konstruktive Charakter des modus operandi des Gehirns aufgezeigt wird, aber sie schwächen ihn zugleich, weil in solchen „homunkulare[n] Charakterisierungen von Gehirnprozessen“ (Keil 2017: 236) mitunter eine subpersonale Entität wie ein personaler Akteur beschreiben wird. Dennoch haben Roth und Singer die akademische Philosophie in Deutschland in Zugzwang gebracht und waren nicht unmaßgeblich daran beteiligt, dass eine weitverzweigte Diskussion zu Beginn dieses Jahrhunderts eingesetzt hat,³⁰⁴ die auch in den letzten Jahren öfter aktualisiert worden ist.³⁰⁵ International geht der gleiche Effekt von Antonio Damasio (1994) aus, soziologisch vertieft wird dieser Konstruktivismus durch Alain Ehrenbergs Die Mechanik der Leidenschaften. Gehirn, Verhalten, Gesellschaft (2019). Die Kritik dieses Konstruktivismus tritt gemäß der konstruktivistischen Physiognomie der Gegenwart auch nur als partikulare auf, z. B. als Kritik eines „Neurokonstruktivismus“,³⁰⁶ und der Neue Realismus, um dessen Entwicklung Markus Gabriel sich bemüht, enthält dementsprechend nur eine sehr engmaschige erkenntnistheoretische Konstruktivismus-Kritik (vgl. Gabriel 2013b), die sich dem paradigmatischen Konstruktivismus ohne weiteres einfügen lässt, denn einer handlungstheoretischen Integration,³⁰⁷ deren Möglichkeit einem solchen Paradigma seine immense Macht verleiht, wird Gabriel sich wohl kaum verweigern.³⁰⁸
Die Beiträge des mehrgliedrigen Schwerpunkts in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie sind in Krüger (2007) versammelt. Eine Vorreiterrolle in Deutschland hat dabei schon früh Thomas Metzinger (2003) eingenommen, dessen Buch Being No One mit dem Titel ernster macht als dem Connaisseur gepflegter Innerlichkeit lieb sein kann. Bei Metzinger kommt es zu einer coincidentia oppositorum, zu einer naturalistischen ontologischen Reduktion auf der einen Seite und der Totalwerdung der auf ihr aufruhenden und für sich selbst intransparenten Simulation eines Selbst. Bettina Walde (2006) hingegen hat mit ihrem „Hybridmodell des epistemischen Libertarismus“ (ebd.: 22) auf einem vergleichbaren Kenntnisstand den Versuch unternommen, komptatibilistische und inkompatibilistische Motive aufzunehmen und unter Hinzuziehung psychologischer Kriterien (vgl. ebd.: 177) beide Positionen miteinander zu versöhnen. Im Lichte jüngerer Forschungsergebnisse in den empirischen Wissenschaften hat in besonders elaborierter Weise Keil (2017) wieder an die Diskussionen angeschlossen. Auch Thomas Fuchs’ (2013) Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, das eine Kritik des Neurokonstruktivismus enthält, verdient gesondert genannt zu werden. Vgl. Gabriel 2015: 23 f. und 82 ff.; Gabriel 2013a: 60 und 165 f. Die handlungstheoretische Integration würde auf die Bestreitung der Gültigkeit des Konstruktivismus (d. h. den Hinweis auf seine Grenzen) damit antworten, dass nicht die Existenz von Objektivem geleugnet werden soll, aber umgekehrt auch nicht geleugnet werden kann, dass die gesamte epistemische Situation wiederum in eine Handlungspraxis eingebettet und von dieser überformt ist. Dabei kommt dann, je nach Vorliebe, wieder allerlei (auf jeweils leicht vorhersehbare Weise) ins Spiel: Kultur, Geschlecht, Rassismus etc. Dass er es nicht tut, geht aus seiner Kritik dessen hervor, was er „radikalen Tatsachenkonstruktivismus“ (vgl. Gabriel 2013b: 333) nennt. Dabei wird nicht der Konstruktivismus als solcher angegriffen, sondern nur seine Radikalisierung in die Absurdität hinein. Mit einem prinzipiellen und ge-
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– An einem letzten Punkt möchte ich den Konstruktivismus topologisch veranschaulichen, denn es gibt einen Topos, der überaus wirkmächtig, auch über sämtliche Grabenkämpfe zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie hinweg, seit Jahrzehnten sich ausgebreitet und den Konstruktivismus maßgeblich mitermöglicht hat; zudem laufen in diesem Topos Erkenntnistheorie und Sozialtheorie im Allgemeinen bzw. politische Theorie im Konkreten ineinander: Ich meine die sogenannte Krise der Repräsentation. Die Werke, die dessen Ausbreitung am stärksten befördert haben dürften, sind Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge (1974; frz. 1966) und seine Archäologie des Wissens (1986; frz. 1969) sowie Richard Rortys The Mirror of Nature (1979), mit welchem Buch Rorty nicht zufällig den Übergang zu einem anderen Typus des Philosophierens vorbereitet hat, der sich in Contingency, Irony, and Solidarity (1989) exemplarisch manifestiert hat und die Kritik der Repräsentation konsequent in ein konstruktivistisches Philosophieren (auch ohne nominellen Konstruktivismus) übergeführt hat. Foucaults Kritik der Repräsentation wiederum hat als Problemaufriss bis in die postkolonialistische Revision des Repräsentationsbegriffs durch Spivak (1988) hineingewirkt. Während der Repräsentationsbegriff in erkenntnistheoretischen, insbesondere in kognitionswissenschaftlich und KI-inspirierten³⁰⁹ Debatten von Foucaults Kritik im Wesentlichen unberührt geblieben ist, ist der politische Repräsentationsbegriff in eine Art permanentes konstruktivistisches Kreuzfeuer geraten, zu dem ich oben einige Andeutungen gegeben habe.³¹⁰ Generell lässt sich hier sagen:
mäßigten Konstruktivismus ist Gabriels Pluralismus der Bezugssysteme bzw. Sinnfelder (Gabriel 2016) hingegen bestens kompatibel. Stellvertretend für eine potentiell endlos lange Bibliographie führe ich ein Zitat von Thomas Metzinger aus dem Jahr 1998 an, in dem die ungebrochene Bedeutung des Repräsentationsbegriffs für die genannten Debatten auf den Punkt gebracht wird: „Nicht nur in der Künstliche-Intelligenz-Forschung, in der Kognitionspsychologie und in verschiedenen Neurowissenschaften spielt der Repräsentationsbegriff bereits seit längerem die zentrale Rolle in der Theoriebildung“ (Metzinger 1998: 337) – und zwar in einem solchen Ausmaß, dass eine mit den Wassern der Psychiatrie wie der Philosophischen Anthropologie gleichermaßen gewaschene, explizit repräsentationalismuskritische Gegenposition wie die von Thomas Fuchs hier erwähnt zu werden verdient. Vgl. Fuchs 2013 und 2017. Eine weitere Andeutung, die nicht ausbleiben kann, gilt dem politischen Repräsentationskonzept Hannah Fenichel Pitkins, das weitgehend in Vergessenheit geraten ist (vgl. Schmid 2015). Pitkin gehört nicht zum gängigen Lektürestoff von Philosophen, von denen nicht wenige „Politische Philosophie“ interessant finden, ohne allerdings die existierende Demarkationslinie zwischen politikwissenschaftlicher politischer Theorie und philosophischer politischer Theorie überhaupt zu kennen. Die Trennung verläuft entlang der Differenz zwischen Theorien der Politik (Politikwissenschaft) und Theorien des Politischen (Philosophie). Die Trennung wird jedes Mal aufs Neue durch Unachtsamkeit kodifiziert, wo Pitkins Repräsentationskonzept der Politikwissenschaft zugeschlagen wird und Rancières (2002) „Anteil der Anteilslosen“ (la part des sans-part) von philosophischer Seite als Markstein der politischen Theorie gefeiert wird. Beide Konzepte stehen quer zueinander (Rancières Anteil zielt nicht auf klassische demokratische Repräsentation, sondern auf subversive Macht). Ich kann hier nur wenige Hinweise geben: Pitkins Rückgang auf den lateinischen Begriff repraesentare („Repraesentare means to make something present that is not in fact present“, Pitkin 1967: 92) kann offensichtlich auch (!) einen durchaus emanzipatorischen Sinn haben, nur wird die Emanzipation hier nicht im Sinne blanker Selbstermächtigung gedacht, sondern von einem „collegiate representative body“ (ebd.: 227),
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Je stärker Repräsentation „unrein“, nämlich so gefasst wird, dass – wie z. B. bei Adorno (hier als Chiffre für alle Kritische Theorie, auch im wesentlich weiteren angelsächsischen Sinne, stehend unabhängig davon, wie weitgehend sie sich im Einzelnen mit Adorno befasst) – „Epistemisches“ und „Politisches“ nicht in einem disjunktiven Verhältnis zueinander stehen, sondern ersteres für letzteres „durchlässig“ ist, desto stärker sieht jemand sich – wiederum physiognomisch gesprochen und den Eigennamen als Chiffre verwendend – Foucault verpflichtet und bläst zum Angriff auf den Repräsentationsbegriff. Dieser Angriff ist nicht schon der Konstruktivismus selbst, sondern hat ihm den Weg geebnet. Konstruktivismus ist der holistische Name einer kulturellen und intellektuellen Agenda, die Repräsentation holistisch und als den Namen einer objektivistischen Denkform begreift, die sich politisch in ein Unrepräsentiertes und Unrepräsentierbares vereinnahmendes Machtdispositiv umsetzt.³¹¹
„an advisory body“ (ebd.; executives und ambassadors sind weitere Beispiel dieser Indirektheit und Stellvertretergebundenheit der artikulatorischen Präsenz, vgl. ebd.) und der „duality and tension between purpose and institutionalization“ (ebd.: 235) im Falle der Repräsentation durch eine Regierung her. In Repräsentationsverhältnissen geht es grundlegend um einen anspruchsvollen, nicht positivistisch-konformistisch an einem erstarrten System abgelesenen Sozialvertrag, um dessen theoretische Erfassung Pitkin sich in der Analyse verschiedener Repräsentationsverhältnisse und -bedeutungen bemüht. Was findet man bei Rancière? Die normative Überfrachtung der Politik: „Die Politik existiert nur durch die Verwirklichung der Gleichheit“ (Rancière 2002: 73), die nur zu erreichen ist, wenn die polizeiliche Maske der Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft vom Gesicht gerissen wird: „Der Mensch ist nicht die zukünftige Vollendung jenseits der politischen Repräsentation. Er ist in Wirklichkeit verdeckt unter dieser Repräsentation: der Mensch der zivilen Gesellschaft, der egoistische Eigentümer, der zum Gegenstück den Nichteigentümer hat, dessen Bürgerrechte nur dazu da sind, das radikale Nicht-Recht zu maskieren.“ (Ebd.: 94) Dass Rancière in unserer Zeit „starfähig“ ist, während Pitkins Konzept unter Politikwissenschaftlern nicht mehr zum Standardrüstzeug gehört, sagt einem eine Menge darüber, wo wir „wissenschaftlich“ stehen und wo gesellschaftlich die Reise hingeht. Das spezifisch politische Äquivalent der Konstruktion im allgemeinen ist die Konstitution, mit der im heutigen Mainstream zumeist die Konstitution eines emanzipatorischen Subjekts gemeint ist. Exemplarisch zeigt sich dies bei Chantal Mouffe, derzufolge sich „jede Subjektposition im Rahmen einer wesenhaft instabilen diskursiven Struktur konstituiert“ (Mouffe 2018: 103), während zugleich das „Volk“, das sich radikaldemokratisch zu konstituieren habe, „eine diskursive politische Konstruktion ist“ (ebd.: 74) Neben Mouffe und dem bereits erwähnten Rancière sind hier vor allem Alain Badiou, Slavoj Žižek und Ernesto Laclau zu nennen. Ein politisch-physiognomischer Sachverhalt, der eine wesentlich ausführlichere Betrachtung verdient hätte, muss hier wenigstens angedeutet werden: Man kann an solchen Entwürfen ablesen, warum es zwar einen Links-Schmittianismus, aber keinen LinksHobbesianismus gibt. Am Beispiel Žižek: Schmitt wird von Žižek als Repräsentant einer ultra-politics angegriffen für den „attempt to depoliticize the conflict by bringing it to the extremes, via the direct militarization of politics“ (Žižek 1999: 190). Umgekehrt fasst Žižek seinen Lacan entlehnten Begriff der „constitutive exception“ in The Ticklish Subject folgendermaßen: „We should therefore consider three, not just two, levels: the empty Universal (‚justice‘), the particular content which hegemonizes the empty Universal (just and equivalent exchange’), and the individual, the symptomatic excess which undermines this hegemonic content (exchange between capital and workforce). One can see immediately in what sense the individual is the dialectical unity of the Universal and Particular: the individual (the symptomatic excess) bears witness to the gap between the Universal and the Particular: to the fact that the Universal is always ‚false‘ in its concrete existence (hegemonized by some particular content which
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Für die oben angesprochenen, äußerst wirkmächtigen Richtungen gilt letzteres in profunder und das geisteswissenschaftliche Klima maßgeblich bestimmender Weise. Welche Rolle kann eine Negative Anthropologie in einer seit den Schaffensphasen Plessners und Adornos derart veränderten Zeit spielen? Denn vom konstruktivistischen Zeitgeist her lassen sich eine Menge Rückfragen an eine Negative Anthropologie stellen, die ihr als Anthropologie gelten: Gibt die Anthropologie ein repräsentatives Bild des Menschen? Beansprucht sie, ein solches zu geben? Ist die Theorie „des Menschen“ im konstruktivistischen Klima nicht bereits übergriffig gegenüber „den Menschen“, indem sie in diesem historisch gesehen westlichen Unterfangen eine toleranz- und pluralismusfreundlich drapierte Kolonialherrenmentalität wiederaufleben lässt? Kann man hier nicht gegen eine jegliche Anthropologie einwenden, was Spivak gegen Foucault und Deleuze einwendet, nämlich dass diese eine essentialistische Agenda mittels eines nicht-essentialistischen Vokabulars verfolgten? Und sieht sie nicht, dass sie nur Konstrukte zu bieten hat, die sich als solche für den Leser undurchschaubar machen müssen, um ihre allerdings prinzipiell durchschaubare chimärische Autorität zu erlangen? Diese Fragen sollen illustrieren, wie mittlerweile gerne gefragt und welcher Art des Fragens eine Negative Anthropologie heute ausgesetzt ist, ohne dass dies bis 1970 möglich gewesen wäre. Eine Antwort muss hier darauf nicht gegeben werden, denn damit würde ich meinen eigenen, gleichermaßen ideengeschichtlichen wie systematischen Anspruch, etwas bei Plessner und Adorno aufzuweisen, überbieten und eine darüber hinausgehende Agenda formulieren. Jegliches identifikatorische Agieren untersteht hier keinem missionarischen, sondern
involves a series of exclusions).“ (Ebd.: 181) Die „African-American unemployed lesbian mother“ (ebd.: 203 f.) fungiert bei Žižek als „‘metaphoric’ elevation of her specific ‘wrong’ into a stand-in for the universal ‘wrong’“ (ebd.: 204). Sobald diese Haltung von den entsprechenden Personengruppen (die auch andere als die exemplarisch genannten sein können) selbst eingenommen wird, konstituieren sie lebende Male an ihnen verübten Unrechts in einem doppelten Akt: Sie vollziehen dann eine politische Kollektivierung, ohne die Apotheose des Individuums abzuschwächen, die Žižek anerkennt und die er mit der liberal democracy in anderer Akzentuierung teilt. Das ist der Zeitpunkt, an dem Carl Schmitt triumphal lächelnd oder lachend durch die Hintertür wieder hereinspaziert und die ultra-politics mit ihm zurückkehrt. Obwohl Mouffe sich mit aller Zuneigung zur pluralistischen Demokratie an Schmitt abarbeitet, gilt spätestens dann, was sie selber als Gefahr ansieht, deren Bannung sie sich vom „‘consensus at the centre’“ (Mouffe 2016: 64) erhofft: „that the very conditions of possibility of the exercise of democracy constitute simultaneously the conditions of impossibility of democratic legitimacy as envisaged by deliberative democracy“ (Mouffe 2000: 48 f.) Anders als zu viele andere weiß Mouffe, dass „the traditional right/left frontier cannot be used to radicalise democracy“ (Mouffe 2016: 124), dass sie dieselbe aber sehr wohl zerstören kann. Dies passiert allzu schnell und allzu leicht, wenn alles Denken links-schmittianisch um Macht sich dreht, aber nicht etwa – um auf die obige, exemplarische Unterscheidung zurückzukommen – hobbesianisch mit dem Nexus von Ordnung (im Sinne des „commonwealth by institution“, vgl. Hobbes 1996: 132 ff.), Autorität, Naturgesetzlichkeit und Repräsentation sympathisiert; die Konstitution einer stabilen gesellschaftlichen Ordnung müsste Vorrang einnehmen vor der Selbstkonstitution politischer Subjekte innerhalb und – zugleich, nicht zusätzlich – gegen die Gesellschaftsordnung. Leider kann hier mehr nicht angedeutet bzw. ausgeführt werden.
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Schluss
einem hermeneutischen Gesetz und die hermeneutische Identifikation, die ein „Denken von“ statt eines bloßen „Redens über“ (wie im Falle der bloß persönlichen Identifikation) ermöglicht, aber zu solcher Ermöglichung auch nötig ist, endet dort, wo die Arbeit der Interpretation vollendet ist. Dem entspricht, dass die Begriffsprägung Negative Anthropologie nachholender Natur ist, wenngleich sich die Nachholung nicht gegen ihre eigene Existenz neutralisieren lässt, d. h. die Nachholung ist ein deliberativer Akt eines Autors, der darin seine eigenen bildungssoziologischen Voraussetzungen zielgerichtet publizistisch kanalisiert und deshalb mit „Negative Anthropologie“ einen Terminus prägt und ihm zur Prominenz zu verhelfen versucht, wo auch andere Themen prinzipiell historisch-systematisch hätten bearbeitet werden können. Ist diese Nachholung also nicht zwangsläufig das, was gerne „Einsatz“ genannt wird? Und, um mit Spivak eine anthropologiekritische Verdachtshermeneutik konkret zu formulieren: Wird mit der Exposition des Konzepts der Negativen Anthropologie nicht eine essentialistische Agenda mittels eines nicht-essentialistischen Vokabulars verfolgt? Die kurze Antwort lautet: Nein. Eine etwas ausführlichere, die ich geben werde, enthält zwei Thesen: (1) Die Negativen Anthropologien Plessners und Adornos lassen sich dem konstruktivistischen Paradigma und Zeitgeist nicht einverleiben, sind aber deshalb noch nicht essentialistisch, weil der Konstruktivismus die Umgehung des Essentialismus nicht exklusiv gepachtet hat. (2) Die Negative Anthropologie Plessners ermöglicht es, geschichtliche, kulturelle und individuelle Pluralität zu denken (ohne einem Pluralismus das Wort zu reden). Zu (1): Inkompatibilität der Negativen Anthropologie mit dem Konstruktivismus Ad Adorno: Wodurch Adorno grundsätzlich – d. h. nicht erst durch eine bei ihm ausgemachte Negative Anthropologie – gegen einen Konstruktivismus sich sperrt, ist die Intransigenz des Vermittlungsbegriffs gegen ein Denken der Konstruktion. Diese Intransigenz rührt von Adornos Auffassung von Objektivität und Wahrheit her, auf die auch die Vermitteltheit strikt bezogen bleibt. Für Adorno ist „der Dualismus von Subjekt und Objekt und zugleich die Vermitteltheit dieser einander entgegengesetzten und doch einander bedingenden Momente“ (NL 4/1: 211) unhintergehbar und die Entgegengesetztheit ist hier im starken Sinne zu lesen, d. h. der Gegensatz lässt sich nicht in eine Vermittlung der Konstrukte Subjekt und Objekt umbiegen. Subjekt und Objekt werden hier als jeweils eigenständige (objektive) Pole gemeint und in der Vermittlung als Momente gedacht, aber ganz sicher nicht als Konstrukte; deshalb kann die Dialektik positivistischer sein als der Positivismus: „In gewissem Betracht ist die dialektische Logik positivistischer als der Positivismus, der sie ächtet: sie respektiert, als Denken, das zu Denkende, den Gegenstand auch dort, wo er den Denkregeln nicht willfahrt.“ (AGS 6: 144) Es geht hier also nicht um Konstrukte und auch nicht um Momente von Konstruktionen, sondern das, was Adorno „das zu Denkende“ (ebd.) nennt, benennt
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das Ethos, sich theoretisch als Subjekt und Objekt in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit verpflichtet zu verhalten. Diese Verpflichtung einzulösen heißt, beide zu durcheinander zu vermitteln. Woran Adorno ebenfalls festhält, ist die „Objektivität der Erkenntnis jenseits der Bewußtseinsakte der einzelnen Individuen“ (NL 4/1: 336). Fasst man Konstruktion fundamental als Aufhebung solcher Objektivität auf, so betritt man das Feld des Subjektivismus und verfehlt damit gerade das, was Adorno Vermittlung nennt. Fasst man die Konstruktion als ein Objektives auf – im schlicht faktischen Sinne ihrer Existenz –, so ist sie als solches wiederum nicht subjektivierbar im Sinne der These: „Die Konstruktion ist eine Objektivität, die subjektiv vermittelt ist“, denn das wäre wiederum genau diejenige Einverleibung (statt Vermittlung) derselben, die Adorno Subjektivismus nennt. Wenn man Konstruktion als gegen die Subjekt-ObjektUnterscheidung neutral auffassen will, verlässt man den Denkrahmen der Dialektik Adornos, denn von Adorno her gedacht kann es keinen Begriff der Konstruktion geben, für den der Vorrang des Objekts im erkenntnistheoretischen Sinne nicht verbindlich bleibt, weil diesem gerecht zu werden gerade bedeutet, die Konstruktionen vor der Willkürlichkeit zu bewahren. Grundsätzlicher gesagt: „Die Erkenntnistheorie kritisieren heißt auch: sie festhalten.“ (AGS 5: 34) Das impliziert: an der Verbindlichkeit ihrer Problemstellung und an der Subjekt-Objekt-Relation als deren Rahmen festhalten. Von Adornos Verständnis von Erkenntnistheorie her lässt der paradigmatische Konstruktivismus sich als Neuauflage des Idealismus bestimmen: „Erst der Idealismus hat die Wirklichkeit, in der die Menschen leben, als eine nicht von ihnen unabhängige und invariante durchsichtig werden lassen.“ (Ebd.: 35) Von dieser so grundsätzlichen wie weiten Bestimmung des Idealismus her lässt jeglicher Konstruktivismus sich gemäß Adornos Ausführungen als eine Art von Neo-Idealismus begreifen; für einen solchen gilt aber auch das Ideologie-Kriterium, das Adorno für den Idealismus formuliert hat: „Ideologie aber ist der Idealismus, indem er die Wirklichkeit schlechtweg vermenschlicht, einig mit dem naiven Realismus als dessen reflektierende Rechtfertigung.“ (Ebd.) Als Ideologie wäre der Konstruktivismus zugleich neo-idealistisch wie auch reflektierende Rechtfertigung seiner eigenen These, die selbstreferentiell das, was Adorno zufolge objektivistische Seinshypostase ist, in Bezug auf die Tätigkeit des Konstruierens vollzieht, aber dabei eine positive Aussage macht, die selber wiederum der Vermittlung entzogen wird: „Vermitteltheit ist keine positive Aussage über das Sein, sondern eine Anweisung für die Erkenntnis, sich nicht bei solcher Positivität zu beruhigen, eigentlich die Forderung, Dialektik konkret auszutragen.“ (Ebd.: 32) Nicht umsonst kann Adorno grundsätzlich keinen -Ismus anerkennen, der sich inhaltlich definieren lässt. Der Materialismus ist nur prima facie ein solcher und vor allem eine Bestimmung der Dialektik, die nicht umsonst „materialistische Dialektik“ genannt wird; ohne den Bezug zur Dialektik, die durch ihn attributiv qualifiziert wird, verliert er für Adorno Sinn und Verbindlichkeit.Wo Adorno Vermitteltheit bestimmt als „die Forderung, Dialektik konkret auszutragen“ (ebd.), lässt sich der Materialismus bestimmen als die Anweisung, Subjekt und Objekt unter Anerkennung des Vorrangs des Objekts zu vermitteln. Konkret lässt diese Forderung sich nur einlösen in der Verpflichtung auf Objektivität und Wahrheit und dabei lassen
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Schluss
„Konstrukte“ sich als Ausdruck von falschem Bewusstsein benennen – und falsches Bewusstsein wiederum ist zum Beispiel solches, das die Natur im Subjekt vergisst. Ad Plessner: Plessners objektive Transformation der Phänomenologie³¹² elaboriert die Ermöglichungsbedingungen und die anschauungsimmanenten Strukturmerkmale des Erscheinens von Wirklichkeit. Die Epistemologie der Negativen Anthropologie Plessners erledigt jegliche konstruktivistische Interpretation im Ansatz, doch die exzentrische Positionalität eröffnet die reflexive Möglichkeit, Plessners Ansatz im Ganzen als lediglich eine Möglichkeit, Anthropologie zu betreiben, anzusehen. Aus dieser prinzipiellen, abstrakten und logischerweise bestehenden, von der exzentrischen Positionalität her nicht bestreitbaren, sondern anzuerkennenden Möglichkeit her ergibt sich ebensowenig wie von ihrer Realisierung her eine Kritik des systematischen Fundaments von Plessners Anthropologie, von dem die exzentrische Positionalität sich nicht ablösen lässt, nur weil von ihr her eine Vergegenständlichung desselben möglich ist. Anders gesagt: Eine „ontologische Optionalisierung“ von Plessners Ansatz begegnet diesem nicht immanent. Die exzentrische Positionalität legitimiert bei Plessner keinen Relativismus, sondern sie expliziert das Verhältnis eines bestimmten „Organisationstypus“, um auf die naturphilosophische Begrifflichkeit zurückzukommen, im Verhältnis zu einem Positionsfeld. Auch Relativierungen nicht-relativistischer Art – z. B. in Anlehnung an die „Relativierung auf“ in Macht und menschliche Natur –, sofern sie auf die exzentrische Positionalität Bezug nehmen, verpflichten sich auf diesen Rahmen; sonst wäre „exzentrische Positionalität“ nur ein Signalwort, mit dem so unverbindliche wie luftige Könnte-auch-anders-sein-Phrasen geschmückt werden. Dass die exzentrische Positionalität weder mit einer von Plessner formulierten objektivistischen Erkenntnistheorie einhergeht, noch die Legitimität einer solchen prinzipiell stützen kann und soll, greift den gänzlich unkonstruktivistischen Anspruch auf objektive Gültigkeit und Unverhandelbarkeit der theoretischen Grundlagen der exzentrischen Positionalität, d. h. die von Kapitel 1– 5 der Stufen, nicht an. Werden diese Grundlagen preisgegeben, dann verflüchtigt sich auch die exzentrische Positionalität. Die exzentrische Positionalität ist auch nicht das letzte Wort der Philosophischen Anthropologie, sie bleibt immer auch darauf bezogen, dass menschliche Personen den Anforderungen an Personalität genügen, aber auch daran scheitern können, dass sie richtige, aber auch falsche Entscheidungen treffen können, richtig erkennen, sich aber auch irren können – und in solchem Irren wiederum daran scheitern können, Strukturpotentiale von Personalität zu realisieren, weil sie auf der Bühne der privat-öffentlichen Doppelexistenz versagen. Scheitern meint hier nicht, etwas ungeschickt konstruieren; die exzentrische Positionalität ist strikt auf die naturphilosophischen Strukturbedingungen gelingender Lebensführung bezogen, die von Plessner gänzlich unkonstruktivistisch formuliert werden in einem philosophi-
Vgl. Kapitel 3.3.1 und 3.3.2.
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schen „Klima“, in dem der paradigmatische Konstruktivismus nicht vorab alles zum nächsten Angebot unter Angeboten depotenziert hat. Zu (2): Das Denken von Pluralität (Plessner) Warum Plessner statt Adorno? Weil Adorno Pluralität affirmiert, aber sie nicht systematisch denkt; aus ersterem ergibt letzteres sich nicht, denn dazu wäre ein systematisch entfalteter struktureller Ermöglichungsgrund erforderlich, der sich bei Adorno nicht findet. Zudem gilt hier „Plessner statt Adorno“, weil Adorno die Pluralität zugleich insofern nicht affirmiert, als die materialistische Dialektik der einzig mögliche Modus von Philosophieren überhaupt für ihn ist.³¹³ Wenn man den Grundsatz, dass jeder genuine Denker die Philosophie im Ganzen auf sich selbst als deren Abschluss hin denken muss,³¹⁴ auf Adorno anwendet, hinterlässt er der Nachwelt das unausgesprochene Gebot, in seinem Sinne Dialektiker oder Ideologe zu sein. Wer Plessners Philosophische Anthropologie ablehnt, wird von Plessner mit keinem Verdikt belegt; es gibt kein Komplement der Alternative zwischen Dialektik und Ideologie, die kein Resultat der Dialektik, sondern ein nomologisches Apriori Adornos ist. Plessners Freilegung von Ermöglichungsbedingungen von Personalität mündet in keinen selbstreferentiellen Evolutionismus, der letztlich nur die Wahl zwischen materialistisch-dialektischer Ideologiekritik und Ideologie lässt. Pluralität ist deshalb eine reale Möglichkeit, aber keine beliebige; sie ist vielmehr eine personale Möglichkeit und die Ermöglichungsstruktur derselben wird nicht der Beliebigkeit anheimgegeben. Hierzu ließe sich grundsätzlich viel Material ausbreiten und genau das verbietet sich hier. In den Stufen ist der Pluralismus für Plessner noch anthropologisches Desiderat von hohem Wert, denn bis dato existierte er nur im Rahmen von Kulturphilosophie und Neukantianismus. Plessner begründet ihn vom dritten anthropologischen Grundgesetz des utopischen Standorts her religionskritisch, was sich aus der Bestimmungsmacht der Religion zu seiner Zeit erklärt; die beiden anderen anthropologischen Grundgesetze (das der natürlichen Künstlichkeit und das der vermittelten Unmittelbarkeit) oder die exzentrische Positionalität im Grundsätzlichen hätten dazu genauso gut herangezogen werden können. Plessner sagt über über einen Pluralismus
Die Alternative zu ihr ist für Adorno der begrifflich der Realität überhobene Sophismus, der begriffsrealistische Schein, der Hybris und Versagen zugleich ist: „Dialektik ist ein Denken, das sich nicht bei der begrifflichen Ordnung bescheidet, sondern die Kunst vollbringt, die begriffliche Ordnung durch das Sein der Gegenstände zu korrigieren.“ (NL 4/2: 10) Das Denken in Modellen und Konstellationen bekommt damit sein Koordinatensystem verordnet; egal, wie unschematisch dialektisches Denken sein soll, ein Schematismus wird damit vorgegeben. Dies tut auch Jürgen Habermas in seinem neuesten Buch Auch eine Geschichte der Philosophie (2019). Wenn Habermas sagt, dass er „auf dem indirekten Weg einer Genealogie des nachmetaphysischen Denkens die rational nachvollziehbaren Lernprozesse untersuchen [möchte], die an der markanten, durch Hume und Kant signalisierten Wegscheide des modernen Weltverständnisses nicht Halt machen“ (Habermas 2019: 37), spricht er von denjenigen Prozessen, die gleichermaßen lernevolutionär-teleologisch wie schlicht faktisch in das kommunikationstheoretische Paradigma münden.
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Schluss
von Gottes-, Mensch- und Weltbildern: „Selbst Leibniz vermochte den Gedanken des Pluralismus nicht völlig konsequent auszugestalten und den Begriff einer Zentralmonade zu entbehren. Und doch vermag der Mensch diesen Gedanken zu denken.“ (SOM: 346) Die Denkbarkeit dieses Gedankens war keine Trivialität, die man gelangweilt und gähnend abnicken konnte, sondern ein prekäres Faktum, von dem Plessner deshalb fühlte, dass es einer fundamentalphilosophischen Begründung bedurfte. Uexküll habe den „Gedanken eines Pluralismus der Umwelten, der einen Pluralismus der biologischen Wertmaßstäbe einführt“ (PGS 8: 59), mit seiner differentiellen Strukturanalyse von Organismus-Umwelt-Relationen fundiert. Uexkülls Auffassung der Organismen als verschiedene Funktionssysteme vollzieht biologisch Cassirers Übergang vom Substanz- zum Funktionsbegriff nach³¹⁵, so dass Plessner sie zu einer naturphilosophisch fundierten, aber mittels des Weltbegriffs die Biologie zur spezifisch menschlichen (geschichtlichen und kulturellen) Welt überschreitenden Positionalitätstypologie weiterentwickeln kann.³¹⁶ Nicht nur Uexkülls Pluralismus, auch der neukantianisch-kulturphilosophische (vgl. PGS 9: 337) und Spenglers (vgl. PGS 9: 351) geschichtsphilosophischer werden von Plessner akzidentell anthropologisch legitimiert – akzidentell, weil die philosophisch-anthropologische Begründung von Pluralität keine philologischen Ambitionen verfolgt. Von einem anderen Ton dahingehend getragen sind die Nachkriegsschriften Plessners. In Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (1956) beschreibt Plessner eine Welt, der die „Einheit der theoretischen Orientierung“ (PGS 8: 117) abhanden gekommen sei und fügt ohne restaurative Aspiration oder Hoffnung hinzu: „Wie diese Einheit aussehen soll, bleibt freilich offen.“ (Ebd.) In einem globaleren Porträt sagt Plessner: „Viele Wertsysteme von gleichem Rang und gleichem Anspruch konkurrieren heute miteinander und setzen die Menschen der immer gefährlicher werdenden Spannung des Pluralismus gesellschaftlicher Normen und Institutionen aus.“ (Ebd.: 117) Für Plessner beginnt der Pluralismus sich in seiner massendemokratischen Variante als schmaler Grat zu zeigen, denn für eine solche Gesellschaft gibt es „außer den unbesehen hingenommenen christlichen Normen heute nichts mehr, was sie als Ganzes noch über sich und für wirklich verpflichtend anerkennt“ (PGS 10: 162). Dieses Unverbindlichwerden betrifft auch die traditionelle Idee der universitas, die nicht nur unverbindlich, sondern auch schlicht unverständlich wird, aber dennoch dazu auffordert, verstanden zu werden. Jegliches Verstehen der universitas, Gottes oder des Menschen, das noch möglich sein kann, ist es Plessner zufolge nur „vom Menschen her“ (PGS: 118). Damit ist innerhalb der Pluralität die Anthropologie nach wie vor als unhintergehbares Woher ein entscheidender hermeneutischer Anker,
„Uexküll interessiert nicht die stammesgeschichtliche Herkunft des Bauplans, sondern die Art und Weise, wie er funktioniert. Organismen als Funktionssysteme studieren ist die spezifische Aufgabe der Biologie, die sich dabei der von der Chemie erarbeiteten Einsichten […] bedienen muß, sie aber als Mittel begreift, einen bestimmten Funktionsplan in Gang zu halten.“ (PGS 8: 162) „Jede biologische Umweltinterpretation muß in letzter Instanz auf einem außerbiologischen Weltbegriff ruhen. An dieser Frage setzt die Philosophische Anthropologie an.“ (PGS 8: 59)
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denn sie bemüht sich um das elaborierteste Verständnis dessen, von dem her die universitas auch in ihrer säkularen Variante überhaupt noch verstanden werden kann. Zugleich formuliert die Philosophische Anthropologie als Gesetz seiner Natur, kein partikulares Gesetz gelten lassen zu können: „Gäbe es einen ontologischen Gottesbeweis, so dürfte der Mensch nach dem Gesetz seiner Natur kein Mittel unversucht lassen, ihn zu zerbrechen.“ (SOM: 346) Die Ermöglichungsbedingungen der horizontalen Pluralisierung in der geschichtlichen Welt werden auf ein Gesetz der Natur zurückgeführt, zu dem gehört, Natur in ihrem jeweiligen Bisher-bekannt-sein-als zu transzendieren. Zugleich entfaltet Plessners Theorie der Personalisierung die Strukturbedingungen, an denen menschliche Verhaltensmöglichkeiten ihre Grenzen finden; seine Bemerkungen zur Gefahr des Pluralismus spiegeln dies wider. Das „Gesetz seiner Natur“ (ebd.) ist aber nicht das letzte Wort der Philosophischen Anthropologie, dieses gebührt der Philosophie; nicht in der exzentrischen Positionalität, sondern in der praktischen Vernunft läuft die Grundlegung der Stufen in die Figur des homo absconditus aus (vgl. Kapitel 3.11.). Konsequent ist deshalb, dass die praktische Vernunft den Fluchtpunkt bildet als universale, ohne dass positive Bestimmungen aus ihr ableitbar wären. In der praktischen Vernunft verliert sich die Unterscheidung zwischen Philosophischer Anthropologie und Philosophie überhaupt, in ihrer Weisheit finden beide zusammen, ohne das zu erstreben, was sowohl Plessner als auch Adorno „falsche Einheit“ nennen würden. Schließen möchte ich mit dem Hinweis auf eine Kategorie, die hier nicht behandelt worden ist, weil ich Adornos Ästhetik außen vor gelassen habe, die aber Plessner mit Adorno sowohl verbindet als auch beide voneinander trennt und die zudem die Philosophische Anthropologie in eine Gegenstellung sowohl gegen das Repräsentationsparadigma als auch gegen das konstruktivistische Paradigma bringt: die Kategorie des Ausdrucks. In Adornos Ästhetischer Theorie ist die Kategorie des Ausdrucks angesiedelt im kategorialen Spannungsfeld von Subjekt (sich Ausdrückendem), Material (Medium des Ausdrucks), Konstruktion/Form (Gestaltung des Sich-Ausdrückens im und durch das autonome Material), Mimesis (Verhalten des Subjekts als dem Sich-Ausdrückenden) und Leiden als Oberbegriff der subjektiv-objektiven Regungen,³¹⁷ die das Subjekt gerade zum Subjekt-Objekt im negativ-anthropologische Sinne und zum Subjekt des ästhetischen Ausdrucks machen.³¹⁸ Hinzu kommt die Kategorie der Wahrheit, denn Wahrheit ist sowohl Gehalt des Kunstwerks als auch das, worauf Kunst als solche verpflichtet ist und welche Verpflichtung sie nicht suspendieren kann, ohne zu Schund zu geraten. Der ästhetische Ausdruck ist kein Nach-außen-kehren eines In-
Adornos komprimierte Versammlung der essentiellen Elemente der Ästhetik sieht folgendermaßen aus: „Fürs Kunstwerk, und darum für die Theorie, sind Subjekt und Objekt, dessen eigene Momente, dialektisch darin, woraus auch immer es sich zusammensetzt: Material, Ausdruck, Form, je gedoppelt beides sind.“ (AGS 7: 248) Die Anmerkung sollte überflüssig sein, ist es aber leider nicht: Wesentlichkeit geht in solcher Komprimierung vor Vollständigkeit, ohne dieselbe zu beanspruchen.
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Schluss
nen, kein Umstülpen von innerlicher Regung in sichtbare Gestalt, sondern im ästhetischen Ausdruck bricht sich das Ausgedrückte im Ausdrücken doppelt: in der Konstruktion bzw. Formgebung und im Material als dem Medium des ästhetischen Ausdrucks; im Material bricht es sich objektiv, in der Konstruktion objektiv vermittels der Materialgebundenheit, objektiv und subjektiv zugleich vermittels der Tätigkeit des Subjekts, die gleichwohl im Ausdruck weder das Ausgedrückte noch den Ausdruck selbst appropriieren kann. Die ästhetische Negativität verkompliziert sich durch die Medialität des Materials, durch die eine Drittheit jenseits von Subjekt und Objekt entsteht, die nach beiden Seiten hin offen ist und beide Momente zugleich in sich aufnimmt und dabei „bricht“, ohne sie vereinnahmen und um ihre Eigenständigkeit bringen zu können. In erweiterter Form findet in der Ästhetik statt, was in der negativen Dialektik die logische Identität sprengt, die im Bewusstsein ihr Reservat findet, nämlich ein Hineinragen in Anderes: „Die vermeintlichen Grundtatsachen des Bewußtseins sind ein anderes als bloß solche. In der Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches in sie hinein.“ (AGS 6: 202) Die Nicht-Identität des Subjekts, die in der Negativen Dialektik expliziert wird, kehrt in der Ästhetischen Theorie im Phänomen des Ausdrucks wieder: „Während der Ausdruck scheinbar zur Subjektivität rechnet, wohnt ihm, der Entäußerung, ebenso das Nichtich, wohl das Kollektiv inne.“ (AGS 7: 485) Kollektiv ist hier nicht konkretistisch misszuverstehen; der Begriff bildet ein pars pro toto, der für die gesamte Sphäre von Kollektivität und damit auch für das die Individualität in der Libido transzendierende Phylogenetische steht³¹⁹ (vgl. Kapitel 4.3.3.3.), dem im ästhetischen Ausdruck zum Ausdruck verholfen wird: „Im ästhetischen Fürsichsein steckt das von kollektiv Fortgeschrittenem, dem Bann Entronnene. Jede Idiosynkrasie lebt, vermöge ihres mimetisch-vorindividuellen Moments, von ihr selbst unbewußten Kräften.“ (Ebd.: 298) Das Mimetisch-Vorindividuelle geht in der Kunst nicht unverwandelt in Objektivität über, sondern nur vermittels der Konstruktion durch das im doppelten Sinne – aufgrund der Logik der Konstruktion und der Durchgegebenheit auf Natur als sein Anderes – nicht mit sich identische Subjekt. Im Kunstwerk finden daher „das expressiv mimetische Moment und das konstruktive sich in gleicher Intensität, […] beides ist inhaltlich zugleich, Ausdruck die Negativität des Leidens, Konstruktion der Versuch, dem Leiden an der Entfremdung standzuhalten“ (ebd.: 381) Adorno konkretisiert das Mimetische des Ausdrucks: „Ausdruck der Kunst verhält sich mimetisch so, wie Ausdruck von Lebendigen der des Schmerzes ist“ (ebd.: 169), und: „Ausdrucksvoll ist Kunst, wo aus ihr, subjektiv vermittelt, ein Objektives spricht: Trauer, Energie, Sehnsucht.“ (Ebd.: 170) Trauer, Schmerz, Leiden, Sehnsucht – das Somatische als Naturmoment des Subjekts, das es zugleich material als Subjekt-Objekt bestimmt, ist inhaltlich mit melancholischen Figuren besetzt und diese wiederum reichen direkt in den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke hinein. Wenn Adorno sagt: „Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist fusioniert mit ihrem kritischen“ (ebd.: 59), ist im nächsten Schritt zu sagen: und beide
Vgl. dazu auch Edinger 2021a.
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fusionieren mit dem Ausdrucksgehalt des Kunstwerks. Im Phänomen des Ausdrucks als nicht nur ästhetischer Kraftquelle, sondern auch als humanem Privileg,³²⁰ verschränkt sich nicht nur die negative Dialektik als solche, sondern dieselbe als Negative Anthropologie, mit Adornos ästhetischer Theorie. Die Brechung der Momente in der Vermittlungsleistung der Konstruktion vollzieht den Bruch mit der Repräsentation, das Beharren auf der Objektivität des Ästhetischen und auf dem Wahrheitsgehalt der Kunst den mit dem Konstruktivismus. Die Gemeinsamkeit mit und Distanz zu Plessner soll der folgende Abschnitt in Beschränkung auf Plessners anthropologischen Ausdrucksbegriff aufzeigen. Das Phänomen des Ausdrucks begegnet Plessner nicht auf dem Weg der Ausarbeitung seiner Philosophischen Anthropologie, sondern von ihm nimmt er in Die Deutung des mimischen Ausdrucks seinen Ausgang. Die objektive Transformation der Phänomenologie in den Stufen (vgl. Kapitel 3.3.1.) reagiert maximal unkonstruktivistisch darauf, dass Lebendiges, wo es erscheint, bereits als Erscheinendes als Lebendiges und Ausdruckshaftes erscheint, statt zu erscheinen und überdies als zu Ausdrucksverhalten Fähiges sich zu erwiesen.³²¹ Von der „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen“ (SOM: 323) handelt Plessner zwar erst im letzten Kapitel der Stufen, aber die Ausdrücklichkeit ist die bedeutungshaft-personale Seite des Sachverhalts der Grenzrealisierung im lebendigen Verhalten überhaupt. In Bezug auf die menschliche Person sagt Plessner: „Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage oder Mimus faßlich wird, ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d. h. zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht.“ (Ebd.: 337) Und wo die Person ihn will, d. h. Ausdruck einer Intention gemäß gestalten will, entgleitet ihr der Ausdruck durch die konstitutive Inkongruenz von Intention und Erfüllung (vgl. ebd.: 334), die sich der vermittelten Unmittelbarkeit der Verhaltensäußerungen verdankt: „Sie macht das Ausdrucksverhältnis des Menschen, in dem er mit der Welt lebt, zum Gegenstand von Ausdrücken.“ (Ebd.: 340) Zum Ausdruck bringen heißt, mittels Ausdrücken zum Ausdruck im Ausdruck zu bringen (z. B. wird der Ausdruck von Trauer zum Ausdruck gebracht mittels Weinen in der Gestalt des hier und da inszenierten Weinens) und sowohl die Ausdrücke als auch das Zum-Ausdruck-bringen zum Gegenstand von Ausdrücken (z. B. in der Diskussion in der Probe und im Proben selbst als reflexivem Prozess) machen zu können. Weil Ausdruck bei Plessner wie in der Ästhetik Adornos kein Nach-außen-kehren von Innerem ist – Plessner richtet sich
„Einmal waren die Menschen vielleicht ausdruckslos wie die Tiere, die nicht lachen und weinen, während doch ihre Gestalten objektiv etwas ausdrücken, ohne daß wohl die Tiere es verspürten.“ (Ebd.: 486) Die Grenzen der Explikation, d. h. des Verständlichmachens, von Plessners phänomenologischer Analyse gründet in den objektiven Verstehbarkeitsgrenzen der Anschauung, die zwar intersubjektiv kommuniziert, aber nicht intersubjektiv transponiert werden kann. Blumenberg bringt dies brillant auf den Punkt mit dem einfachen Satz: „Es gibt keine Intersubjektivität der Reflexion auf reine Anschauung.“ (Blumenberg 1998: 174)
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Schluss
darin explizit gegen Ludwig Klages³²² –, aber von der „Gebrochenheit des Menschen“ (PGS 5: 106) nicht ausgenommen ist, sondern sie exemplarisch verkörpert, findet er seinen Fluchtpunkt in Plessners Anthropologie des Schauspielers und nicht, wie bei Klages, in einer Graphologie. Die Anthropologie des Schauspielers findet ihre Grundlagen aber nicht erst in den Stufen, sondern bereits in den Grenzen der Gemeinschaft, wo Ausdruck das sowohl verkörperte als auch soziale Phänomen darstellt, in dem die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen analysierbare Gestalt annimmt: Und der Bruch in der menschlichen Erotik, der Zwang zu ihrer Pervertierung kraft des Symbolisierungsvermögens ist darum nicht eine mehr oder minder zufällige Wirkung physiologischer Umstände oder besonderer Kindheitserlebnisse allein, sondern ein Ausdruck jenes wesenhaften Antagonismus von Realitätstendenz und Illusionstendenz, die aus der Zweideutigkeit alles Psychischen selber stammt. (Ebd: 69)
Auf andere Weise wird hier eloquent umschrieben, was Plessner in abstrakterer Fassung „die dialektische Dynamik des Psychischen“³²³ (ebd.: 68) nennt. Diese dialektische Dynamik, die Plessner in seinen späteren Schriften nicht mehr als nur die des Psychischen, sondern der menschlichen Person entfaltet, verbindet seine Philosophische Anthropologie sicherlich nicht mit dem Konstruktivismus, umso mehr aber, gerade auch in der Denkfigur der vermittelten Unmittelbarkeit, mit Adorno. Auch bei Plessner führt das Phänomen des Ausdrucks in die Anthropologie als einer Negativen Anthropologie. Bei Plessner und Adorno gibt es keine Möglichkeit, jenseits der Ausdruckshaftigkeit zu existieren, weil diese in der Person- (Plessner) und Subjektkonstitution (Adorno) ihr Worin (ihren Ausdrucksträger als mediales Substrat) und Woher (ihren Realisierungsgrund) findet. Ebenso gibt es bei Plessner wie bei Adorno keine hehre Naivität des reinen Ausdrucks; Plessner nennt im gewichtigen und alles andere als beiläufigen Sinne das, was man „reinen“ oder „unvermittelten“, also die vermittelte Unmittelbarkeit zur reinen Unmittelbarkeit über- bzw. unterschreitenden Ausdruck nennen könnte, lächerlich.³²⁴ Im Ausdruck werden Plessners Person und Adornos Subjekt sich selbst gegenständlich als Lebewesen, deren Identität keine logische sein und deren Kraftquellen ebenfalls nicht logischer Natur sind, wenngleich sie eminente logische Energien freizusetzen vermögen. Der Ausdrucksbegriff sowohl Plessners als auch Adornos sperrt sich deutlich gegen das Paradigma des Konstruktivismus, weil Performativität
Vgl. PGS 5: 104. Plessner nennt Theorien dieser Art auch „Bildertheorien“, vgl. ebd.: 110. Vgl. auch Kapitel 3.8.1.3. „Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will, es mag die Inbrunst, die ganze Not unmittelbaren Getriebenseins hinter ihm stehen, trägt, indem es sich hervorwagt und erscheint, das Risiko der Lächerlichkeit. Der pure Affekt, das Sich-loslassen der Seele in den Ausdruck hinein, die Unmittelbarkeit der Äußerung, die wahrhafte Rückhaltlosigkeit in der Manifestation der Urteile ebenso wie der Handlungen oder des Mienenspiels wirkt – vielleicht nicht notwendig, aber immer möglicherweise – lächerlich.“ (PGS 5: 70)
Ideengeschichtliche Nostalgie oder systematische Meliorisation?
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in der Ausdrucksgestaltung nicht in das konstruktivistische Konstruieren überführbar ist; ebenso wird mit dem Repräsentationsbegriff im klassischen und starken Sinne gebrochen in den Denkfiguren von Antagonismus und Vermittlung. Sowohl im ästhetischen Ausdruck Adornos als auch in der Gestaltungsbedürftigkeit von Ausdrücklichkeit bei Plessner wird Natur ihrer selbst als Natur gewahr: als solche, nämlich als nicht mit sich zur Deckung (Identität) zu bringende und als zu gestaltende in einem. Im letzten Aspekt, dem der Gestaltungs- und Vermittlungsbedürftigkeit, unterscheiden Plessner und Adorno sich am stärksten, ohne dass dabei ein Bruch im grundsätzlichen Impetus zutage träte. Ihre Wege trennen sich insofern, als Plessners Theorie des Ausdrucks dank seiner Theorie der Personalisierung deutlich facettenreicher ausfällt. Plessners Ausdrucksbegriff schließt in einer spezifischen Akzentuierung die hier wie in Das Politische in der Ontologie der Person (Edinger 2017) entfaltete Einheit von Anthropologie und Sozialtheorie, von Naturphilosophie und Rollentheorie, der Negativen Ontologie des Organischen und der Anthropologie des Schauspielers in der Ontologie des Ausgleichs zusammen. Er entfaltet die Ausdrücklichkeit als Ontologie, als Philosophische Anthropologie und als Rollentheorie – Adorno verwirft all dies und bringt den ästhetischen Ausdruck gegen das unwahre Ganze in Stellung und gibt damit wiederum ein Ausdrucksbild, die Physiognomie seines Denkens, in dem Negative Anthropologie systematisch letztlich mehr Negation aus Anthropologie heraus (d. h. nicht: aus Anthropologie als Grund der Negation) als Negation von Anthropologie, als solche aber zugleich in toto ein dialektisches Bild ist. Die Philosophische Anthropologie Plessners hingegen taugt eher als die Adornos als Negative Anthropologie dazu, einen „Forschungsrahmen“ (Hans-Peter Krüger) abzugeben. Als Negative Anthropologie ist sie hier dargestellt worden, ihr Potential bleibt auszuloten – wie auch das anderer Negativer und negativer Anthropologien. (Vgl. Bajohr/Edinger 2021) Was bei der Durchführung solcher Arbeiten jedoch nicht forttradiert zu werden braucht, ist die Legende von der so grundsätzlichen wie durchgängigen Frontstellung der Philosophischen Anthropologie Plessners und des Denkens Adornos. Es sollte hier klargeworden sein, dass deren Philosophien sich mehr zu sagen haben und vor allem hinsichtlich ihrer denkerischen Stoßrichtung geistig mehr teilen, als ihre Vertreter und Sympathisanten über Generationen hinweg zumeist suggeriert haben. Zudem sollte gerade der Schlussteil dieser Arbeit der Frage, „ob die Philosophiegeschichte als wissenschaftliche Disziplin selbst Teil der Philosophie“ (Hunter 2010: 242) sei, sowohl Dringlichkeit verleihen als auch eine positive Antwort darauf nahelegen – wenn dem so ist, dann sind die hier präsentierten Ansätze Plessners und Adornos auch exponiert worden als solche, die gerade deshalb anthropologisch genannt werden können, weil es in ihnen noch um das Menschsein in seinem Wahrheitsbezug ging und ihren Autoren noch nicht in den Sinn kommen konnte, das Ethos der Phänomenologie der konstruktivistisch-metatheoretischen und anämisierenden Versozialarbeitung oder der aktivistischen weaponization der Philosophie im Dienste eines genuin philosophiefeindlichen Zeitgeistes zu opfern.
Werkübersicht und Siglenverzeichnis Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Werkausgabe, Bd. 7. Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 11. Auflage. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991. MEW Karl Marx/Friedrich Engels: Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz. PAP Helmuth Plessner: Politik – Anthropologie – Philosophie. Vorträge und Aufsätze. Hrsg. v. Salvatore Giammusso und Hans-Ulrich Lessing. München: Fink, 2001. SOM Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin, New York: de Gruyter, 1975. KpV
Theodor W. Adorno: AGS Gesammelte Schriften NL Nachgelassene Schriften VG Vorträge und Gespräche
I. Gesammelte Schriften Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Zitiert wird mit dem Kürzel AGS und der Angabe von Band- und Seitenzahl: z. B. AGS 1: 322, die Doppelbände zusätzlich mit der Angabe der jeweiligen Hälfte: z. B. AGS 9/1: 322. Bd. 1: Philosophische Frühschriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973. Bd. 2: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979 Bd. 3: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: 1987. Bd. 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980. Bd. 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970. Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973. Bd. 7: Ästhetische Theorie. Hrsg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: 1970. Bd. 8: Soziologische Schriften I. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972. Bd. 9/1: SoziologischeSchriften, Bd 2. Erster Teilband. Hrsg. v. Susan Buck-Morss u. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1975. Bd. 9/2: Soziologische Schriften, Bd. 2. Zweiter Teilband. Hrsg. v. Susan Buck-Morss u. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1975. Bd. 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft, Bd 1. Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977. Bd. 10/2: Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. 2. Eingriffe. Stichworte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974. Bd. 20/2: Vermischte Schriften, Bd. 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp,1986.
https://doi.org/10.1515/9783110773682-010
Werkübersicht und Siglenverzeichnis
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II. Nachgelassene Schriften Hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv Zitiert wird mit dem Kürzel NL sowie der Angabe von Abteilungs-, Band- und Seitenzahl: z. B. NL 4/15: 133 oder NL 5/1: 40.
Abteilung 4: Vorlesungen Bd. 1: Erkenntnistheorie (1957/58). Hrsg. v. Karel Markus. Berlin: Suhrkamp, 2018. Bd. 2: Einführung in die Dialektik (1958). Hrsg. v. Christoph Ziermann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2010. Bd. 3: Ästhetik (1958/59). Hrsg. v. Eberhard Ortland. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. Bd. 6: Philosophie und Soziologie (1960). Hrsg. v. Dirk Braunstein. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. Bd. 7: Ontologie und Dialektik (1960/61). Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002. Bd. 12: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964). Hrsg. v. Tobias ten Brink u. Marc Phillip Nogueira. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Bd. 13: Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit (1964/65). Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. Bd. 14: Metaphysik. Begriff und Probleme (1965). Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: 1998. Bd. 15: Einleitung in die Soziologie (1968). Hrsg. v. Christoph Gödde. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993. Bd. 16: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003.
Abteilung 5: Vorträge und Gespräche Bd. 1: Vorträge und Gespräche 1949 – 1968. Berlin: Suhrkamp, 2019.
Arnold Gehlen: GA
Gesamtausgabe
Bd. 2: Philosophische Schriften, Bd. 2 (1933 – 1938). Hrsg. von Lothar Samson. Frankfurt/M.: Klostermann. Bd. 3/1: Der Mensch. Hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der ersten Auflage von 1940. Teilband 1. Frankfurt/M.: Klostermann, 1993. Bd. 4: Philosophische Anthropologie und Handlungslehre. Hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg unter Mitwirkung von Heinrich Wahlen und Albert Bilo. Frankfurt/M.: Klostermann, 1983. Bd. 6: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften. Hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt/M.: Klostermann, 2004.
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Werkübersicht und Siglenverzeichnis
Helmuth Plessner: PGS Gesammelte Schriften Herausgegeben von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker unter Mitwirkung v. Richard W. Schmidt, Angelika Wetterer und Michael-Joachim Zemlin, Suhrkamp-Verlag Frankfurt/M.: 1980 – 1985. Zitiert wird mit dem Kürzel PGS und der Angabe von Band- und Seitenzahl: z. B. PGS 8: 356. Die Stufen des Organischen und der Mensch werden gemäß der de Gruyter-Ausgabe unter dem Kürzel SOM zitiert, siehe Siglen. Bd. 2: Frühe philosophische Schriften, Bd. 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981. Bd. 3: Anthropologie der Sinne. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980. Bd. 5: Macht und menschliche Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981. Bd. 6: Die verspätete Nation. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. Bd. 8: Conditio humana. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983. Bd. 9: Schriften zur Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985. Bd. 10: Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp,1985.
Max Scheler: GW Gesammelte Werke Zuerst im Francke-Verlag, Bern/München erschienen, ab 1986 im Bouvier-Verlag, Bonn. Bis zu ihrem Tod (1969) von Maria Scheler herausgegeben, seither von Manfred S. Frings. Bd. 1: Vom ewigen im Menschen. Bern/München: Francke, 1968. Bd. 2: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bern/München: Francke 1980. Bd. 3: Vom Umsturz der Werte. Bern/München: Francke, 1972. Bd. 4: Politisch-pädagogische Schriften. Bern/München: Francke, 1982. Bd. 5: Vom Ewigen im Menschen. Bern/München: Francke, 1968. Bd. 7: Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart. Bern/München: Francke, 1973. Bd. 9: Späte Schriften. Bonn: Bouvier, 1995. Bd. 10: Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1. Zur Ethik und Erkenntnislehre. Bonn: Bouvier, 1986. Bd. 11: Schriften aus dem Nachlass, Bd. 2. Erkenntnislehre und Metaphysik. Bern/München: Francke, 1979.
Ulrich Sonnemann: S
Schriften in zehn Bänden.
Werkübersicht und Siglenverzeichnis
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Noch fortlaufend im Entstehen begriffene Ausgabe von Ulrich Sonnemanns Schriften in zehn Bänden. Hrsg. v. Paul Fiebig. Zu Klampen-Verlag in Springe. Zitiert wird mit dem Kürzel S und der Angabe von Band- und Seitenzahl: z. B. S 3: 140. Bd. 2: Daseinsanalyse. „Existence and Therapy“. Wissenschaft vom Menschen. Übers. v. Paul Fiebig. Springe: zu Klampen, 2011. Bd. 3: Negative Anthropologie. Spontaneität und Verfügung. Sabotage des Schicksals. Springe: zu Klampen, 2011. Bd. 4: Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Springe: zu Klampen, 2014. Bd. 5: Ungehorsam versus Institutionalismus. Deutsche Reflexionen (2). Springe: zu Klampen, 2014.
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Namensregister Agamben, Giorgio 233, 239 Ansell, Mary E. 295 f. Aristoteles 105, 124, 194 Arlt, Gerhard 135 Aron, Raymond 135 Bachmann-Medick, Doris 294 Bajohr, Hannes 1, 6, 313 Bartonek, Anders 263 Benhabib, Seyla 2 Benjamin, Walter 4, 258 f., 269 Bergson, Henri 113, 115 – 118 Berking, Helmut 94 f. Blumenberg, Hans 64, 242, 297, 311 Bollnow, Otto Friedrich Bolte, Gerhard 99 f. Breuer, Stefan 290 Breyer, Thiemo 97, 290 Buchanan, Ben 287 Burger, Rudolf 290 Butler, Judith 293, 298 Cassirer, Ernst 115, 308 Clausewitz, Carl von 288 Conrad-Martius, Hedwig 113 Damasio, Antonio 300 Deleuze, Gilles 10, 196, 303 Demirović, Alex 9 Dewey, John 255 Dilthey, Wilhelm 99, 152, 154, 166 Dries, Christian 6, 98 – 100, 107 Driesch, Hans 113, 132 – 134 Dübgen, Franziska 296 – 298 Dux, Günter 290, 316 Eco, Umberto 297 Edinger, Sebastian 1, 6, 56, 113, 118, 124 – 131, 133 – 138, 153, 171, 176, 238, 240, 280, 282, 288, 290, 295, 310, 313 Ehrenberg, Alain 300 Elias, Norbert 300 Fischer, Joachim 9, 113, 290 Flasch, Kurt 113 Fodor, Jerry 298 Foucault, Michel 21, 178, 294, 298, 301 – 303 https://doi.org/10.1515/9783110773682-011
Freud, Sigmund 1, 3, 16, 27 – 35, 39, 41, 43, 53, 81, 83, 123, 208, 215 f., 220, 226 – 228, 282 Fuchs, Thomas 290, 300 f. Gabriel, Markus 300 f. Gamm, Gerhard 94 – 100, 107, 293 Gehlen, Arnold 1 – 3, 45 – 90, 94, 97, 99, 158, 179 f., 184, 186, 191, 230, 315 Gehring, Petra 298 Gervinus, Georg Gottfried 295 Goldsmith, Jack 287 Goodman-Thau, Evelin 10 Grätzel, Stephan 202 Grimm, Dieter 240 f. Groh, Ruth 93 Guardini, Romano 89 Gürtler, Sabine 10 Guzzoni, Ute 197 Habermas, Jürgen 10, 57, 98, 227, 235, 240, 274, 290, 292, 294, 299, 307 Hacke, Christian 287 Hampe, Michael 291 Hartmann, Michael 287 Haucke, Kai 122, 146 Hebb, Donald 50 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Hegel 3 f., 31, 35 – 39, 41 f., 62, 65, 87, 101 – 105, 111 f., 192, 194, 196 f., 200 f., 210, 215, 224 f., 230, 235, 241, 247 – 250, 253 – 264, 267 f., 270, 272, 274 – 276, 280, 282 – 284, 289, 314 Heidegger, Martin 3, 78, 83 f., 87 f., 97 f., 110, 113, 119, 149 f., 164 f., 179, 186 f., 189, 191, 201, 222 f., 225, 230 Heinsohn, Gunnar 287 f. Heinz, Andreas 1, 290 Heinze, Tobias 1 Henckmann, Wolfhart 77 Herder, Johann Gottfried 56, 294 f. Hermenau, Frank 10 Hindrichs, Gunnar 292 Hobbes, Thomas 94, 303 Hofstetter, Yvonne 286 f. Hogh, Philip 235 Holz, Hans Heinz 290
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Namensregister
Honneth, Axel 57, 166 f., 290 Horkheimer, Max 10, 17, 33, 44 f., 83, 186, 220, 240, 270, 296, 314 Humboldt, W.v. 111 Hume, David 110, 154, 201 f., 307 Hunter, Ian 313 Husserl, Edmund 105, 113, 118 f., 190 f., 194, 200, 202 – 208, 234 Ilting, Karl Heinz 224 Ingarden, Roman 205 Ingensiep, Hans Werner
290
Jaeggi, Rahel 225 Jamme, Christoph 294 Jaspers, Karl 88 f. Jensen, Arthur 25 Jiwei, Ci 288 Johannßen, Dennis 6 Jörke, Dirk 290 Jung, Matthias 98 Kant, Immanuel 3, 10, 87, 116 – 118, 132, 139, 154, 182 f., 187 f., 202 – 204, 208, 210 – 212, 214 f., 220, 222 – 225, 234 – 236, 279, 292, 307, 314 Keil, Geert 300 Khurana, Thomas 197 Kierkegaard, Sören 229, 269, 314 Kimmerle, Heinz 292 f. Kirchheimer, Otto 45, 225, 274, 289 Kjørup, Søren 20 Klein, Rebekka A. 87, 94 Kondylis, Panajotis 2, 172, 231, 274, 286, 295 f. Koselleck, Reinhart 297 Krüger, Hans-Peter 2, 17, 45, 94, 125, 135 f., 156, 169, 171, 173 f., 176 f., 239 f., 290, 300, 313 Krüger-Fürhoff, Irmela Marei 293 Kutschera, Franz von 63 Lazarus, Moritz 295 Lehmann, Johann Georg 10 Leibniz, Gottfried Wilhelm 57, 308 Lethen, Helmut 94 Lindemann, Gesa 95, 290 Lorenzer, Alfred 227 f. Löwith, Karl 87, 165 Lüdemann, Susanne 94
Luhmann, Niklas 291
66 f., 69, 101, 106 – 110, 112,
Mader, Wilhelm 89 Marquard, Odo 70, 178, 316 Marx, Karl 1, 4, 31, 35 – 39, 41 – 43, 62, 73, 195 – 201, 217 f., 221, 247, 249 f., 253 – 256, 260 – 263, 267 – 271, 273 f., 276 f., 280 – 283, 314 Mehring, Reinhard 94 Menzel, Ulrich 287, 292 Mettin, Martin 1 Metzinger, Thomas 300 f. Misch, Georg 157 Mitscherlich, Olivia 171 f., 174, 275 Mouffe, Chantal 302 f. Müller, Ulrich A. 10 Münkler, Herfried 288 Münkler, Marina 288 Negt, Oskar, 240 Nida-Rümelin, Julian 299 Nitschke, Peter 94 Noetzel, Thomas 94 Päthe, Thorben 269 Pitkin, Hannah Fenichel Platon 59 f. Pollock, Friedrich 269 Poovey, Mary 293
301 f.
Rancière, Jacques 301 f. Reese-Schäfer, Walter 274 Rehberg, Karl-Siegbert 64, 67, 97, 315 Rentsch, Thomas 94 – 100 Rickert, Heinrich 113 f., 164 Rohmer, Stascha 123 Rohrmoser, Günter 64, 66, 68 Rölli, Marc 178, 290 Rorty, Richard 150, 301 Roth, Gerhard 299 f. Russell, Bertrand 162 Saar, Martin 298 Schafstedde, Maria 9 f. Scheler, Max 1, 3, 50, 53 f., 76 – 89, 99, 113, 120, 140, 152, 169 f., 178, 186 – 191, 222 f., 225 – 228, 230, 316 Schelsky, Helmut Schick, Stefan 69
Namensregister
Schloßberger, Matthias 97, 290 Schmid, Antonia 301 Schmidt, Helmut 66, 288, 316 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 9, 11 Schmitt, Carl 94, 166, 168, 231, 295, 302 f. Schmucker, Joseph F. 232, 234, 239 Schnädelbach, Herbert 83, 178, 193, 195, 274 Schopenhauer, Arthur 19, 31 f., 38, 53, 57, 78, 81, 83, 161, 188, 194, 202, 207, 215, 227, 264 Schürmann, Volker 171 – 174 Schüz, Gottfried 100, 197 Schüz, Simon 100, 197 Seel, Martin 54, 56, 88, 121, 141 f., 145 – 148, 180, 200, 251, 312, 315 Singer, Wolf 299 f. Sonnemann, Ulrich 1, 3, 9 – 45, 62, 70 – 76, 97 – 100, 179 f., 183, 223, 226 – 231, 253, 316 f. Spengler, Oswald 113 – 115, 199, 251, 308 Spivak, Gayatri Chakravorty 301, 303 f. Stein, Edith 113, 277 f.
Stierle, Karlheinz 93 Sydow, Björn 290 Tamponi, Guido 173, 262 Thies, Christian 95, 290 Traverso, Enzo 293 Walde, Bettina 300 Wallat, Hendrik 94 Weimar, Klaus 139, 167, 294 Weischedel, Wilhelm 89, 314 Wellmer, Albrecht 193 Widder, Joachim 32 Wiggershaus, Rolf 9 Windelband, Wilhelm 113 Wittgenstein, Ludwig 96 – 98 Wöhrle, Patrick 46, 67 f. Woltmann, Ludwig 150 Zhang, Weiwei 66 Ziermann, Christoph 196, 315 Žižek, Slavoj 302 f. Zurstiege, Guido 287
333
Sachregister Adäquation 110 – 113 Allegorie 258 f. Anthropologisierung 27 – 29 Antrieb(e) 49 f., 52 – 55, 60, 62 f., 65, 84, 97, 116, 227 Ausgleich 126 – 130, 132 f., 136 – 139, 141, 144 f., 153, 174 f., 180, 236, 238 f., 242, 264, 282, 313 Bann 104, 235, 239, 242, 260, 263 f., 270, 276, 293, 296, 310 Besondere, das 4, 24, 44 f., 57 f., 67, 102 f., 106, 191, 210, 215, 219, 224, 232, 234, 248, 257 – 263, 271, 275, 283, 286, 291, 312 Bewusstsein 11, 29 – 31, 34, 41, 60, 73, 76, 84 f., 87, 116, 118, 142, 145, 156, 159, 162 f., 168, 195, 201 f., 209 – 215, 221, 233, 247 f., 253, 274, 296, 306, 310 China
66, 286 – 288
Demoskopie 21 – 24, 40 Dialektik 1, 3 f., 9 – 11, 19, 33, 37, 39 f., 75, 95, 102 – 105, 108, 185 – 187, 189, 191 – 193, 195 f., 199 f., 203, 205 – 208, 210 f., 214 – 217, 219 – 222, 224, 232, 234, 241, 257 – 262, 266, 270, 273, 278, 280, 282 f., 293, 295, 304 f., 307, 310 f., 314 f. Doppelaspektivität 122, 136 – 138, 175 Doppelgänger 30, 137, 237 Dynamik, dialektische 145 f., 148, 151, 193, 216 f., 223, 312 Eigenes 34, 56, 72, 123, 136, 148, 163, 166 – 169, 206, 216 Eingedenken 3, 196 f., 200 – 202, 218, 220, 225, 259 f., 264, 283 Einheit 3, 13 – 15, 47 f., 78, 86 – 88, 102, 104, 107 – 109, 126 – 129, 133 f., 136, 138, 146, 170 – 172, 175, 182 f., 187, 206, 211 – 214, 219, 223 f., 228, 233, 238, 260, 263, 267, 269, 275, 277, 297, 308 f., 313 Emanzipation 1, 168, 217, 221, 225, 230, 267, 301 Empfindung 84, 136, 196 f., 200 – 208 Entfremdung 74, 143, 198 – 201, 278, 310 https://doi.org/10.1515/9783110773682-012
Erfahrungsstellung 115, 118 f., 135, 139, 174 Erkenntnis 11 – 16, 18, 20, 24, 28, 30, 37, 39, 50, 57, 62, 72, 78, 81, 86 f., 98, 105, 110, 116 – 118, 154, 156, 162 f., 168, 187, 190, 193 f., 201 – 204, 211 – 213, 221, 228, 233, 235, 248 f., 273, 305 Erkenntnistheorie 3, 12 f., 27, 116, 162, 193, 195, 202 – 204, 208, 210 – 213, 228 f., 298, 301, 305 f., 314 f. Ethos 39, 74, 140 – 145, 147, 155, 280, 283, 296, 305, 313 Europa 169 f., 172, 275, 295 Feminismus 291 Fortschritt 37, 51, 169, 201, 242, 248, 278, 295 Fremdes 148, 165 – 168, 198 Führungsordnung 2, 59 Ganzheit 126 – 134, 136, 138, 238 Gemeinschaft 2, 5, 139 – 143, 145, 147 f., 153, 155, 159, 183 f., 251, 276, 278, 283 f., 290, 312 Geschichtlichkeit 3, 17, 77, 99, 148 f., 154 – 157, 159 – 168, 177 – 180, 183, 186 f., 189, 191, 241, 251 f., 254, 264, 291 Geschichtsphilosophie 3 f., 36, 38, 70 f., 115, 165, 171 – 173, 178, 241, 247, 249, 251, 253 f., 257 – 260, 262 f., 267 – 270, 275 f., 283 f. Gesellschaft 5, 10 f., 22, 27, 35, 38, 44, 66 – 70, 72, 74, 88, 94, 106, 108, 139 – 143, 146 f., 153, 160, 170, 173, 202, 209 f., 215 – 218, 222 – 227, 230, 232, 235, 239 – 241, 250, 261 f., 264, 267, 269 f., 272, 274, 277 f., 280, 283 – 285, 287 – 289, 291, 294 – 298, 300, 302, 308, 314 f. Gestalt 2 f., 16 f., 21, 23, 31, 40 f., 43, 45, 50, 71, 74, 78, 81 f., 88, 94, 114, 121, 126 – 129, 133, 139, 142, 146 f., 158, 160, 162, 165, 175, 178, 180 – 182, 184, 186, 189, 193, 196, 202, 210 f., 217, 228, 235 f., 239, 242, 249, 256 f., 259 – 262, 268, 283 f., 295, 310 – 312 Gott 56, 79, 84 – 89, 173, 248 f., 253, 256, 308 Grenze, Grenzübergang 2, 5, 11, 34, 72, 79, 95 f., 108, 116, 122 – 126, 139 f., 143, 145 f.,
Sachregister
148, 150, 155, 159, 175 f., 182 – 184, 209, 213, 215 f., 236, 238, 250 f., 272, 275 f., 278, 281, 283 f., 290, 292, 300, 309, 311 f. Historismus, historistisch 11, 163, 186, 254 Hochkapitalismus 5, 266 f., 269 f., 277 f., 283 Homo absconditus 5, 173, 275 f., 280 f., 283, 286, 290, 309 Hysterie 27, 29 – 33 10 f., 13 – 16, 30 – 32, 41, 47, 52, 61, 119 – 121, 143, 149 f., 188, 190, 194, 208 – 227, 240 f., 260, 284, 299, 299 Idealismus 4, 10, 19, 83, 116 – 119, 146, 185, 192, 194, 196, 207, 214, 241 f., 250, 257, 270, 281 f., 284, 288, 292, 305 Ideologie 4 f., 64, 73, 140, 167, 170, 195, 202, 216, 222 f., 235, 242, 254, 260, 267, 272, 274, 276 f., 279, 285, 291, 293, 305, 307 Immanenz 66, 117, 151, 156 – 158, 160, 163, 207, 256 f., 259 Individualismus 67, 160, 216, 239 Individualität 83, 114, 143 f., 209 f., 216, 220, 225 f., 233, 241, 259, 285, 288, 295, 310 Individuum 3, 29, 37, 65, 79, 103, 120, 142 – 144, 146 – 148, 160, 194, 199, 208 – 211, 215 – 217, 219 – 222, 225 – 227, 229 f., 232 f., 240 f., 249, 259, 285, 295, 303 Industrialismus 5, 277 f., 283 Instinkt 2, 49, 50 – 54, 59, 71, 80 Institution, Institutionen 2, 44 f. 47, 58 – 76, 224, 229 – 231, 240, 298, 308 Institutionalismus 3, 44, 59 – 61, 67 – 76, 229 – 231 Intelligenz 25, 50, 53 – 55, 80, 286
Ich
Justiz, politische
17, 44 f., 225, 288 f.
Kapitalismus 4 f., 38, 201, 217 f., 233, 241, 254, 260 – 262, 269 – 271, 273, 277 f., 283 Konservatismus 74 Konstruktivismus 291 – 294, 296 – 302, 304 f., 307, 311 f. Körper 19, 50, 88, 95, 116, 120 f., 123 – 129, 131 f., 134, 136, 138, 146, 153, 175, 198, 236, 238, 241, 281 Körperhaben 135 – 139, 146, 175 – 177, 236, 264, 281 f. Körperleib 61, 137, 145 f., 148, 175 f., 236, 238, 281 f.
335
Kriterium 22 f., 25 f., 34, 41, 43, 61, 97, 100, 105, 156, 233, 236, 242, 289, 300, 305 Kritische Theorie 1 – 3, 9 – 11, 31 f., 34 f., 40, 44 f., 76, 98, 227 f., 240, 269, 274, 292, 296, 302 Kultivierung 55, 160 Kultur 17, 27, 31, 66 – 70, 73, 96, 114 f., 154, 166, 168 – 170, 172, 179, 232, 251, 253 f., 267, 271, 275, 277, 287, 294 f., 298, 300 Kulturalismus 295 Kulturindustrie 235, 270, 274 Kulturphilosophie 115, 171, 251, 307 f. Kulturwissenschaft 67, 93 f., 294 f., 296 Kunstwerk 199 f., 309 – 311 Lebendigkeit 124, 126, 131, 138, 151, 155 f., 164 f., 180, 219, 247, 252, 273 Lebensführung 4, 111, 159 – 161, 163 – 168, 174 f., 177 f., 181, 183, 197, 251 f., 279, 306 Lebensphilosophie 114, 118, 151 f., 154 f., 158 f., 163, 170 f., 255 Leib 19, 83, 95, 111, 121, 136 – 138, 146, 175, 198, 201 f., 215, 226, 236, 238, 241, 281 Leibsein 135 – 139, 146, 175 – 177, 236, 264, 281 f. Leiden 196 f., 200 – 203, 218, 234, 248, 263 f., 309 f. Liberalismus 20, 286, 296 Libido 208, 215 – 217, 220 f., 234, 264, 283, 310 Menschenwissenschaften 11 f., 18, 20 f. 24, 40 f. Methode 13, 25, 81, 110, 114, 154, 249 Moderne 4 f., 18, 26, 40, 66 f., 69 f., 77, 84, 88, 97, 106 – 108, 172 f., 199, 217, 226, 229, 243, 264, 266 – 272, 274 – 280, 282 – 285, 296, 307 Nation 66, 71, 267 – 269, 271, 273, 279, 295 Nationalstaat 4 f., 66, 168, 269, 271, 275, 277, 283 Natur, naturphilosophisch 3, 5, 9, 21, 37, 41, 53, 55, 61, 70, 74 f., 82 – 85, 87 f., 95, 102, 106, 111 f., 114 f., 119, 131, 139, 145, 148 – 154, 159, 162, 166, 168 f., 171 – 179, 181, 183, 186 f., 197 – 202, 209, 214 – 221, 223, 225, 234 f., 240 – 242, 251 – 253, 259 f., 263 f., 268, 272 f., 275 f., 278 – 280, 283,
336
Sachregister
288, 290, 294, 301, 304, 306, 309 f., 312 f., 316 Negativität, strukturelle 96, 98, 100, 102, 105, 107, 134 f., 139, 200, 202, 237 – 239, 284, 310 Neurowissenschaften 50, 301 Nicht-Identität 4 f., 11, 95, 130, 133 – 136, 139, 146, 175, 213 f., 234, 243, 247, 250, 259, 262 f., 272, 274, 279, 282 f., 289, 293, 310 Objekt 3, 14 f., 19, 21 f., 40, 55, 86, 108, 119, 128, 130, 136, 193 – 201, 203 f., 207, 212 – 217, 220 – 222, 234 f., 237 f., 259, 261, 282 f., 304 f., 309 f. öffentlich 4, 71, 137 f., 145 f., 175 – 177, 181, 236 f., 239, 263 f., 280 – 282, 285, 306 Öffentlichkeit 10, 23, 141 – 148, 153 Ontologie 2 f., 61, 85 f., 118 f., 122, 125 – 131, 133, 135 – 139, 145, 153, 163, 171 f., 174, 180, 184, 186 f., 189, 191, 194 f., 216, 222, 236, 238 f., 264, 282, 313, 315 Organismus 54, 58, 79, 110, 114 f., 126 – 136, 173, 180, 183, 193, 226, 237 – 239, 295, 308 Paradigma 6, 24, 56, 74, 116, 203 f., 291, 293 f., 298, 300, 304, 307, 309, 312 paradigmatisch 1, 25, 77, 90, 98, 171, 226, 291 f., 298, 300, 305, 307 Personalität 3, 78 f., 86 – 88, 135, 138, 160, 175, 177 – 179, 182 – 184, 187, 220, 222 – 231, 233, 236 – 241, 263 f., 267, 282, 284 f., 289, 306 f. Phänomenologie, phänomenologisch 2, 13, 18 f., 79, 82 f., 87, 110, 115 f., 118 – 120, 190 f., 203, 205 – 207, 261, 284, 306, 311, 313 Pluralismus 166, 173, 240, 280, 291, 294 – 296, 301, 303 f., 307 – 309 Politikwissenschaft 274, 290, 295, 301 f. Positionalität 3, 95, 125 f., 131, 135, 137, 153, 171 – 173, 177, 181 – 183, 236 – 239, 241, 253, 255 f., 281, 306 f., 309 Postmoderne 291 f., 296 privat 4 f., 113, 137 f., 145 f., 175 – 177, 181, 225, 229, 231, 236 f., 239, 241, 263 f., 280 – 282, 285, 306 Projektion 16, 28 f., 41, 44, 57, 81, 140, 141, 149
Psychoanalyse 3, 11 f., 15 f., 27 – 35, 41, 83, 185, 192 – 220, 227 f., 240, 242, 272 f. Psychologie 11, 20 f., 24, 27 – 29, 34, 77, 83, 154, 182, 199, 208, 210 – 214, 227 Rasse 150, 170, 295 – 297 Realität 28, 34, 73, 84, 101, 104, 116 f., 120, 125, 131, 141, 145, 148, 181 f., 188, 195, 200, 207, 219, 236 f., 240, 248 f., 255, 262, 276, 279, 292, 297, 299, 307 Recht, Rechtswissenschaft 16, 26, 33, 39, 43, 46, 62, 66 f., 73, 75 – 77, 81, 103, 119, 144, 168, 181, 183, 224 f., 231, 240, 248, 257 f., 261, 267, 288 f., 296, 302 Rechtsphilosophie 224 f., 267, 289 Relativismus 149 f., 157 f., 163 f., 251, 306 Repräsentation 51, 196, 212, 301 – 303, 311 Revolution 14, 18, 32, 37, 41 – 44, 71 f., 108, 118, 178, 230, 250, 253 f., 277, 294 Rolle 4 f., 20, 22, 39, 41, 45, 60, 70, 78, 80, 110 f., 137 – 139, 143 f., 147 f., 195 f., 201 f., 210, 216, 220, 227 f., 237 f., 240, 242, 251, 269, 274, 276, 280, 285, 295, 299, 301, 303 Rollentheorie 61, 137, 139, 176 f., 280, 282, 283 – 285, 313 Selbstverwirklichung 65, 86 Sinnesorgane 206 f. Somatisches 202 f., 206, 234 Spaltung 14 – 16, 26, 29, 31, 40 f., 119, 190, 227 Spontaneität 9, 12, 15 – 20, 30 f., 33 – 35, 40, 42 – 44, 74, 125, 180, 183, 317 Sprache 19, 33, 35, 51, 53, 55 – 57, 69, 73, 75 – 77, 110 – 112, 137 – 139, 147, 154, 166, 175 f., 203, 220, 223, 235 f., 238, 291, 293, 297 Subjekt 3, 14 f., 19, 37, 39 – 41, 64, 86, 119 f., 128, 130 f., 136, 138, 154, 182, 188 f., 193 – 201, 203 f., 207 – 211, 213 – 216, 218, 220 – 225, 227 f., 232 – 235, 237 f., 240, 242, 247, 257, 259 – 261, 264, 271, 283, 292 f., 297, 302 – 306, 309 f., 312 Subjektivität 19, 65, 119, 194 f., 201, 215, 222 f., 238, 247 f., 261, 297, 310 Subjekt-Objekt 3, 14, 19, 26, 40 f., 119, 185, 189 – 201, 203, 206 – 208, 210, 213 – 217, 220 f., 228, 234 f., 237 f., 241, 259, 283, 305, 309 f.
Sachregister
Subjekt-Objekt-Relation 3, 13 f., 19, 40, 191 – 193, 202, 207 f., 210, 215, 221, 229, 305 Substanz 70, 86, 105, 115, 187, 230, 240, 249, 267, 308 System 33, 47 f., 56, 66, 86, 104 f., 108 f., 114, 116 f., 128, 133 f., 142, 182, 192, 195, 264, 278, 287, 290 f., 297 f., 302 Teleologie 2, 4, 62, 64, 76, 127, 129 f., 132, 134, 174, 179 – 181, 242, 259 Testpsychologie 21, 23 f., 26 f., 40 Theologie 85, 87, 89, 94, 103 Trieb 27, 41, 53 f., 83, 214 Unbewusstes 29 f., 41 Unergründlichkeit 3 – 5, 95 f., 100, 151, 153, 157 f., 161, 164, 171 – 174, 242 f., 247, 250 – 256, 262 f., 275 f., 279 – 281, 283 f., 288 Vergegenständlichung 24, 37, 51 – 53, 58, 60, 79, 198, 281 f., 306
337
Vernunft 13, 18, 36, 39, 42, 56, 66, 70, 83, 113, 116, 154, 181 – 184, 218, 222, 229, 242, 247 – 249, 256, 259 f., 281, 297 Vernunft, praktische 96, 98, 181 – 184, 281, 288, 309, 314 Versöhnung 3 f., 12, 36 f., 62, 87 – 89, 139, 175, 196, 217 f., 220, 234 f., 242, 253, 262 f., 274, 284 f., 289 Volk 15, 31, 88, 153, 249, 268, 302 Weltgeist 4, 36, 154, 247 f., 254 – 263, 272 f., 275 Weltgeschichte 36 f., 114 f., 247 – 249, 288 Weltspaltung 14 f., 40, 228 f. Wirklichkeit 30, 37, 39, 72 f., 81, 104, 112, 116 f., 119 f., 131 f., 141, 164, 171, 182, 197, 205, 214, 248, 254 f., 281, 294, 299, 302, 305 f. Zeremoniell 142, 144, 147, 159 f. Zivilisation 88, 169, 232, 264, 275, 277, 279 Zweideutigkeit 143, 145, 147 f., 251, 312