Nächstenliebe und Barmherzigkeit: Schriften zur jüdischen Sozialethik 9783412216740, 9783412222796


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German Pages [296] Year 2014

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Nächstenliebe und Barmherzigkeit: Schriften zur jüdischen Sozialethik
 9783412216740, 9783412222796

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DEUTSCH-JÜDISCHE AUTOREN DES 19. JAHRHUNDERTS SCHRIFTEN ZU STAAT, NATION, GESELLSCHAFT ANTHOLOGIE, BAND 2 NÄCHSTENLIEBE UND BARMHERZIGKEIT

DEUTSCH-JÜDISCHE AUTOREN DES 19. JAHRHUNDERTS SCHRIFTEN ZU STAAT, NATION, GESELLSCHAFT ANTHOLOGIEN, BAND 2

FÜR DAS DUISBURGER INSTITUT FÜR SPRACH- UND SOZIAL­F ORSCHUNG SOWIE DAS SALOMON LUDWIG STEINHEIM-INSTITUT FÜR DEUTSCH-JÜDISCHE GESCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT DUISBURG-ESSEN

HERAUSGEGEBEN VON MICHAEL BROCKE, JOBST PAUL UND SIEGFRIED JÄGER

MITGLIEDER DES WISSENSCHAFTLICHEN BEIRATS  : PROF. DR. DOMINIQUE BOUREL, PARIS PROF. DR. SHMUEL FEINER, RAMAT GAN PROF. DR. HANS-OTTO HORCH, AACHEN PROF. DR. ANDREAS KILCHER, ZÜRICH PROF. DR. BIRGIT E. KLEIN, HEIDELBERG PROF. DR. SALOMON KORN, FRANKFURT AM MAIN PROF. DR. DANIEL KROCHMALNIK, HEIDELBERG PROF. DR. PAUL MENDES-FLOHR, JERUSALEM PROF. DR. MICHAEL A. MEYER, CINCINNATI PROF. DR. CÉLINE TRAUTMANN-WALLER, PARIS PROF. DR. CHRISTIAN WIESE, SUSSEX PROF. DR. IRENE ZWIEP, AMSTERDAM

NÄCHSTENLIEBE UND BARMHERZIGKEIT SCHRIFTEN ZUR JÜDISCHEN SOZIALETHIK

HERAUSGEGEBEN VON MICHAEL BROCKE UND JOBST PAUL

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN  2015



Die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurde durch die großzügige Unterstützung der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel, ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung  : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22279-6

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 21

Die Beiträge in der Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 25

Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 33

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 37

Texte I. Gottesliebe und Menschenliebe 1. Ludwig Philippson, Gotteserkenntnis und die Pflicht zum Handeln (1845) . 2. Leo Baeck, Gottebenbildlichkeit und Menschenliebe (1913) . . . . . . . . . 3. Samuel Holdheim, Gottesliebe, Nächstenliebe, Freiheit (1852). . . . . . . . 4. Elias Grünebaum, Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe (1836) . . . . . . . . II. Liebe des Nächsten 5. Nachman Izaak Weinstein  : Die jüdischen Lehrmeister der Nächstenliebe (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. H. Lesser, Die Pflichten der Nächstenliebe (1853). . . . . . . . . . . . . . . 7. Samuel David Luzzatto, Die Achtung des Nächsten als natürliche und geoffenbarte Moral (1870) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Samuel Holdheim, Nächstenliebe (1852).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten 9. Samuel David Luzzatto, Die Liebe zwischen Eltern, Kindern und Verwandten (1870) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Samuel Holdheim, Die Schonung der Familie (1849). . . . . . . . . 11. Samuel Holdheim, Liebe gegen Verstorbene (1850).. . . . . . . . . 12. Samson Raphael Hirsch, Die Achtung des Leichnams ‫( קבורה‬1837) .

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 61  68  77  84

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 91  98 103 110

IV. Humanität 13. Sigismund Stern, Erziehung zur Humanität (1858) . . . . . . . . . . . . . . 14. Moritz Dessauer, Erziehung zur Humanität (1884) . . . . . . . . . . . . . .

117 123

5

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 41  46  50  55

Einleitung

V. Fremden- und Feindesliebe 15. Joseph Samuel Bloch, Der Fremde – bei den Griechen, den Römern und den Juden (1884) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Nachman Izaak Weinstein, Die Bedeutung von Rea (1891). . . . . . . . . . 17. Moritz Dessauer, Pflichten gegen den Nicht-Israeliten (1884) . . . . . . . . 18. Joseph Levin Saalschütz, Feindesliebe (1838) . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Hermann Cohen, Feindesliebe (1900). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Samson Raphael Hirsch, Die Missachtung anderer (1837) . . . . . . . . . . 21. Samson Raphael Hirsch, Hass und Rache (1837) . . . . . . . . . . . . . . .

129 132 139 145 151 158 173

VI. Die Debatte um die Todesstrafe 22. Heinemann Vogelstein, Über die Abschaffung der Todesstrafe (1868).. . . 179 23. Julius Fürst, Das peinliche Rechtsverfahren im jüdischen Altertum (1870) . 186 24. Alexander Friedländer, ‚Ich will nicht den Tod des Sünders  !‘ (1847) . . . . 195 VII. Achtung der Tiere und Pflanzen 25. Samson Raphael Hirsch, Achtung der Tiere und Pflanzen (1837). . . . . . . 26. Moritz Ehrentheil, Mensch und Tier. Gegen die Tierquälerei (1887) . . . .

205 215

VIII. Versöhnung 27. Samuel Holdheim, Buße und Versöhnung (1853). . . . . . . . . . . . . . . 28. Hermann Cohen, Buße und Versöhnung (1890–1892) . . . . . . . . . . . . 29. Samuel Holdheim, Barmherzigkeit gegen die Schuldigen (1850).. . . . . .

221 227 237

IX. Wohltätigkeit 30. Meyer Kayserling, Wohltätigkeit (1882) . . . . . . . . . . . . 31. Heinrich Galandauer, Wohltätigkeit (1891) . . . . . . . . . . 32. Moritz Ehrentheil, Wohltätigkeit versus Selbsthilfe (1887). . 33. Samuel Holdheim, Wohltätigkeit als Scheintugend (1854) . .

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247 254 258 268

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Zitatindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Sach- und Personenindex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Zum Editionsprojekt.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294

6

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Einleitung

Die ethischen Anforderungen von Nächstenliebe und Barmherzigkeit, die das Judentum hervorgebracht hat, gründen im Gottesbild. In der Schöpfung des einen Menschenpaars im Ebenbild Gottes1 – so sagten wir in der Einführung zum Band Gotteserkenntnis und Menschenbild – ist „für das Judentum die ganze sittliche Weltordnung beschlossen, die Gleichheit aller Menschen vor Gott (und danach vor dem Recht), die Pflicht zur Liebe und zum Frieden untereinander und – in diesem Rahmen – zur Freiheit, zum willentlich Guten.“ Der Begriff der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zielt daher auf die nüchterne und zugleich folgenreiche Kernaussage, dass sie das sei, „was jedem zukommt, jedem sein Gepräge gibt, mir nicht mehr, aber auch nicht weniger als irgendeinem andern.“ Im „Wichtigsten und Entscheidenden“  – so Leo Baeck  – meine der Begriff daher, „dass wir alle gleich sind“, ohne Unterschied, über alle Grenzen hinweg, „welche die Völker und die Rassen, die Stände und die Kasten, die Kräfte und Gaben abstecken wollen“.2 So also wird der Grundsatz der menschlichen Gleichheit vor 3000 Jahren an den Anfang der jüdischen Religion gestellt, sogar als ein Eckstein des göttlichen Schöpfungsplans. Der Gleichheitsgrundsatz wird damit zugleich zum sozialethischen Vorzeichen vor all dem, was der menschlichen Gesellschaft aus jüdischer Sicht an Pflichten aus ihrer Gottesebenbildlichkeit zuwächst, insbesondere die konkrete Aufgabe, „eine alles umfassende Kultur“3 der sozialen und ökonomischen Gerechtigkeit zu verwirklichen. Der Gedanke der Zukunft – so noch einmal Baeck – bezeichnet dementsprechend ein „Eigenes der jüdischen Religiosität“. In der Einheit und in der Spannung zwischen einem einzelnen „Menschendasein“ und der Ferne dieses Ziels werde „das Messianische“ im Judentum fassbar, als Sehnsucht nach der „Einheit der Nationen“ und nach der „Einheit der Zeiten“.4 Von einer anderen Seite her kann diese Spannung freilich noch konkreter gefasst werden, insbesondere durch eine Präzisierung des Begriffs der Gottesebenbildlichkeit. Martin Buber fasst sie zum Beispiel als Gabe, die dem Menschen im Akt der Schöpfung mit auf den Lebensweg gegeben ist. Aber erst der menschliche Lebensvollzug ist dann der Raum, in dem sich diese Ebenbildlichkeit  – als ‚Nachahmung Gottes‘  – konkret entfalten kann  : „Wir sind bestimmt, ihm zu ‚gleichen‘, das heißt  ; das Bild, in dem wir erschaffen sind und das wir in uns tragen, aus uns zu vollenden, um – nicht mehr in diesem Leben – seine Vollendung zu erfah­ren.“5 1 Vgl. an neueren Stellungsnahmen zum Begriff  : Greenberg/Freedman 1998  ; Gillman 2000  ; Sherwin 2000  ; Abrams/Gaventa 2006  ; Green 2010. 2 Baeck 1914, 11. 3 Sacks 1992  ; vgl. weitere Literatur  : Baeck 1905  ; Epstein 1943  ; Kasher/Lamm/Rosenfeld 1962  ; Jung 1967  ; Jung 1987  ; Sacks 1990  ; ZEDAKA 1992  ; Pfleiderer/Stegemann 2006  ; Keller 2010  ; Fagenblat 2010  ; Hughes/ Wolfson 2010  ; Eisen 2011  ; Rashkover 2011  ; Simon-Shoshan 2012  ; Goetschel 2013. Vgl. auch die umfangreiche Bibliographie zur Literatur, die bis zum Jahr 1894 zum Thema erschien, in  : Stein 1894, 44–185. Literatur bis 1930 ist berücksichtigt im Kompendium  : Bernfeld 1920–1929. 4 Baeck 1905, 253. 5 Buber 1964, 1055–1064, hier 1061.

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Einleitung

Auch Michael Brocke gibt zu bedenken, dass der Begriff der Gottesebenbildlichkeit des Menschen im Judentum seinen ethischen Sinn von der – partiellen und bruchstückhaften – Nachahmung Gottes her bezieht und selbstverständlich nicht im anmaßenden Sinne von „Welten schaffen, Zeichen und Wunder wie die Befreiung aus Ägypten setzen, Tote erwecken“ missdeutet werden dürfe.6 Mit den offenbarten 13 middot, den ‚Eigenschaften‘ Gottes (Ex 33), ist „der Raum abgesteckt, in dem sich Nachahmung bewegen kann und zu bewähren hat“.7 Die Idee der Nachahmung Gottes, die sich „im frühen Judentum besonders unter grie­chischem Einfluß“ entwickelt8, regt dazu an, Gottes nachahmbare ‚Aspekte‘ aufzuschlüsseln, „damit der Mensch daran er­fahre und erlerne, wie er mitmenschlich zu handeln hat.“ Die „Attri­bute der Güte und der Barmherzigkeit“, die „Werke der Liebestätigkeit“ stehen dabei im Zentrum  : 9 „Gott selbst ist das bleibende Paradigma für das, was der Mensch am Menschen – und an Gott – verwirklichen soll, konkrete alltägliche Mitmenschlichkeit.“10 Aus dieser Perspektive kann das, was Leo Baeck als „Eigenes der jüdischen Religiosität“ bezeichnet, nämlich die Spannung zwischen einem Menschenleben und dem fernen Ziel des „Messianischen“, auch anders benannt werden. Brocke spricht hier vom Paradox von „Unnahbarkeit und Annäherung“, von „Nachahmung und Unzu­gänglichkeit Gottes“, von „absoluter Unerreichbarkeit Gottes und intimstem Ihm-Anhangen“ oder von der Dialektik zwischen „Nachah­mungsgebot und Unnachahmlichkeitswarnung“.11 Gemeinsames Merkmal des Messianischen wie des Nachahmungsgebots ist es nun freilich, dass sich beide nicht mit Grundsätzen und Gedanken, mit der bloßen Gesinnung oder Frömmigkeit zufrieden geben. Ihr Kern ist kein „geschichtsloses und praxisirrelevantes Theologumenon“.12 Es geht vielmehr ums praktische Handeln, dem bereits im Jetzt der ethische Prägestempel der ‚neuen Erde‘ und des ‚neuen Himmels‘ der messianischen Zeit aufgedrückt sein soll. All dies soll aber zugleich menschen-möglich, d. h. machbar bleiben  : Die Größe der Aufgabe kann nur bewältigt werden, wenn man stets die leibliche Begrenztheit des Menschen im Blick hat. Wenn es kein Mehl gibt, kann es auch keine Tora geben (und umgekehrt), heißt es in der Mischna.13 Der Mensch vermag „als Leib-Seele-Wesen ohne Beachtung der Bedürfnisse des Leibes keine stete religiöse Höhe erreichen“. Dazu gehört „die Fähigkeit zum Genuss“ ebenso wie die einfache Regel, dass alles, was zum Leben notwendig ist, „in dieser und auch in der kommenden Welt vorhanden sein“ muss.14   6 Brocke 1976, 78.   7 Brocke 1976, 79.   8 Ebd. 76.   9 Ebd. 92. 10 Ebd. 98. 11 Ebd. 77. Auch Buber (1964, 1060) sieht eine „zentrale Paradoxie des Judentums“ darin, dass der Mensch „den Unsichtbaren, Unfaßbaren, Gestaltlosen, nicht zu Gestaltenden“ nachahmen soll und möchte. 12 Brocke 1976, 76. 13 n. Sacks 1992, 15 (Mischna, Pirke Avot 3,21). 14 Sacks 1992, 15.

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Einleitung

All dies steht gewiss quer zum Programm einer bewussten Askese und Enthaltsamkeit15. Diese erscheinen vielmehr aus jüdischer Sicht – so Jonathan Sacks – „als implizites Verleugnen“ der Welt, „die Gott erschaffen und für gut befunden“ hat.16 Die Bibel enthalte stattdessen keine Aufforderung zur „Vernachlässigung der jetzigen Welt zugunsten des Wohles der kommenden“17 oder etwa die Lehre, dass „die Verdammung weltlicher Güter erstrebenswert sei“. Aus diesen Vorstellungen erwächst ein außerordentlich pragmatisches, ausgewogenes, an den realen Bedürfnissen des Menschen orientiertes Menschenbild. Es scheint sogar derart rund und harmonisch zu sein, dass sich die Frage aufdrängt, ob und wie darin der oben erwähnte, kühne Entwurf der künftigen, gerechten Gesellschaft überhaupt Platz finden könnte. Wie könnte der ethische Prägestempel aussehen, den ‚die kommende Welt‘ dem jetzigen Handeln aufdrückt, wenn doch alles Menschliche im Rahmen der Einheit von Leib und Seele begrenzt ist und in dieser Begrenzung hingenommen werden soll  ? Die Antwort ist nicht nur angesichts ihrer Weitsicht überraschend, sondern auch hinsichtlich ihrer Dynamik und umfassenden Geltung. Denn wenn im Judentum die ‚stete religiöse Höhe‘ nur erreicht werden kann, wenn dem Menschen „alles, was zum Leben notwendig ist“ gegeben ist, dann gilt für die jüdische Religion umgekehrt, dass es einer ihrer vornehmsten Inhalte ist, entsprechend des Grundsatzes der Gleichheit die notwendigen Lebensgrundlagen für alle Menschen in Würde und Gerechtigkeit herzustellen und zu sichern. Gewiss ist dann die Sorge für den Nächsten in besonderer Form denen aufgegeben, die bereits über die erforderlichen Lebensgrundlagen verfügen, aber selbst den Bedürftigen ist die Sorge für den Nächsten aufgegeben. Jonathan Sacks, auf dessen Darstellung wir uns nachfolgend stützen, bezeichnet die Wohl­tä­tig­keit daher als die höchste, die ‚tran­szen­die­ren­de‘ Tu­gend der jüdischen Sozialethik18. Die biblische und nachbiblische Tradition hat die vielen Probleme und auch Wertekonflikte bereits durchdacht, erörtert und mit praktikablen Regeln versehen, wie sie einem auf dem Feld der sozialen und ökonomischen Gerechtigkeit überhaupt begegnen können. Die Erörterungen in Tora, Mischna und Talmud können sich angesichts ihrer Differenziertheit jederzeit an modernen sozialphilosophischen bzw. nationalökonomischen Reflexionen messen lassen. Auf alle Fälle überragen sie durch ihre Maximen, ihre Wert-Orientierung und ihren kulturellen Anspruch wohl bei weitem die Fragwürdigkeit und Widersprüchlichkeit heutiger, globaler Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge zu den Themen Nächstenliebe und Barmherzigkeit beleuchten zunächst die Frage, wie die jüdische Sozialethik die große Aufgabe der Gerechtigkeit auf der individuellen Ebene skizziert19, im Bereich von Sorge, Fürsorge, Liebe, Verantwortung, zwischen Gebenden und Empfangenden, zwischen Arm und 15 Ebd. 16 Ebd. 15/16. 17 Ebd. 24. 18 End. 16. 19 Im Mittelpunkt von Band 3 der Anthologie zur jüdischen Sozialethik soll die Thematik der sozialen und ökonomischen Gerechtigkeit in institutioneller Hinsicht stehen.

9

Einleitung

Reich, zwischen Verwandten, selbst gegenüber den gerade Verstorbenen und den Toten und schließlich gegenüber der Schöpfung, gegenüber Tieren und Pflanzen. Der enge Zusammenhang zwischen Liebe und Gerechtigkeit steht dabei immer oben an – er muss nicht immer wieder betont werden.20 Eine an individueller Verantwortung und Gerechtigkeit orientierte Gesellschaft hat von vornherein im Auge, dass die Einzelnen keine Not leiden21. Und sind sie doch in Not, dann dürfen sie nicht von Mitleid abhängig sein, dann ist Hilfe Pflicht  : Nächstenliebe verpflichtet zu einer Gerechtigkeit, die Not vermeidet, sie lässt nicht Ungerechtigkeit zu, um dann aus Mitleid zu helfen.22 Und schließlich  : Stünden Nächstenliebe und Barmherzigkeit außerhalb eines Systems der Gerechtigkeit, so wären sie dem Belieben und der Gesinnung von Einzelnen ausgeliefert und hingen allein von deren wechselnder Leistungsfähigkeit ab. Ein System der Gerechtigkeit dagegen würde ohne das Korrektiv von Milde und Nachsicht, ohne die Anerkenntnis von Unbilligkeit und Härte bald zum System der Zerstörung von Menschen, ja der ganzen Gesellschaft werden.23 So ist es vor allem das hohe Ausmaß von Lebenserfahrung und sozialer Umsicht, das die Erörterungen in Tora, Mischna und Talmud zu herausragenden Dokumenten der menschlichen Kulturgeschichte macht. Wir wollen dies kurz am Thema der Armut veranschaulichen und stützen uns dabei auf die Darstellung von Jonathan Sacks. Zentral ist zunächst die Einsicht der Weisen, dass Armut nicht nur eine spe­zi­el­le Art der Er­nied­ri­gung be­deu­tet24, sondern dass psychische Er­nied­ri­gung als der ent­schei­den­de Fak­tor in der Erfahrung von und in der Begegnung mit Armut anerkannt werden muss25. Die rabbinische Tradition bezeichnet die Armut als ‚Erz­ü­bel‘ und bestreitet, dass man einen Men­schen – oder ein Mensch sich selbst – nur deshalb als glücklich bezeichnen könne, weil er Man­gel lei­det. Armut ist alles andere als ein glück­se­li­ger Zu­stand und auch nicht erkennbar förderlich zur Ausbildung irgendei­ner Tu­gend. Sacks weist darauf hin, dass es in der Bibel keine göttliche Identifikation mit dem Armsein als solchem gibt, sondern allein mit den Gebeugten und Ausgebeuteten26. Dem entsprechend darf im Zentrum der Bekämpfung der Armut nicht die Person des Gebenden, bzw. eine narzisstische Psychologie des Gebens, bzw. des Mitleids stehen  : „Wohl­tä­tig­keit mag die höchs­te Tu­gend sein, aber noch bes­ser ist eine Welt, in der sie nicht not­wen­dig ist.“ Wohl­tä­tig­keit ist nicht bedeutsam oder ‚gut‘ durch das Gute, „das sie für die Seele des Ge­ben­den meint, son­dern durch das Maß, in dem sie das Elend des Emp­fän­ gers, phy­sisch und mehr noch psy­chisch, be­sei­tigt.“ Eine Tat, die einem Emp­fän­ger hilft, „auf Wohl­tä­tig­keit nicht mehr an­ge­wie­sen zu sein, ist höher zu be­wer­ten als jedes Wohl­

20 Vgl. den Text von Elias Grünebaum (4). 21 Sherwin 2000, 131, bezeichnet die jüdische Sozialethik als „individual-centered“. 22 Vgl. z.B. den Beitrag von Julius Fürst (23). 23 Vgl. den Text von Grünebaum (4) und die Beiträge zur Diskussion der Todesstrafe von Heinemann Vogelstein (22), Julius Fürst (23) und Alexander Friedländer (24). 24 Sacks 1992, 15. 25 Ebd. 21. 26 Ebd. 15.

10

Einleitung

tä­tig­sein.“27 Mit anderen Worten  : Einem armen Menschen wird al­lein durch die Chance ge­hol­fen, einen Ausweg aus der Armut zu finden,28 nicht durch die Selbstdarstellung und gesinnungsethische Identifikation des besitzenden Teils der Gesellschaft mit verklärter Armut oder Askese. Ebenso wenig Sinn hat es nach Auffassung der jüdischen Weisen, die Armut an­de­rer dadurch min­dern zu wollen, indem man die eigene Ver­ar­mung herbeiführt.29 Abgesehen von der psychischen Zerstörungskraft, die ein solches ‚Helfer-Syndrom‘ auf Betroffene ausübt, widerspricht die kurzfristige Verausgabung dem Ziel, die Armut und ihre Be­ din­gun­gen auf lange Sicht zu beseitigen. Die Gelehrten, so Sacks, erließen daher eine bin­den­de Ver­ord­nung gegen die Scheintugend30 des über­mä­ßi­gen Selbst­ver­zichts und verbanden damit religiöse Erfahrung mit der sozialpolitischen Einsicht, dass schie­res Stre­ben nach einem Wert „die ei­gent­li­che In­ten­ti­on die­ses Wer­tes zu­nich­te ma­chen“ könne31. Sich selbst zu ver­ar­men ver­stoße im Übrigen „gegen die hö­he­re Ver­pflich­tung, nach der die Un­ab­hän­gig­keit von Wohl­tä­tig­keit an­zu­stre­ben ist“   : Es ist zum Nach­teil der Armen, wenn langfristige Mög­lich­kei­ten, Wohl­stand zu schaf­fen, durch kurzfristige ersetzt werden.32 Man kann mit Fug von einer, vom Wert der Gerechtigkeit durchdrungenen Kultur sprechen, der eine zutiefst demokratische Bedeutung innewohnt, wo mit solcher Stringenz argumentiert wird  : Die ge­sam­te mosaische Ge­setz­ge­bung – so Sacks – zeich­ne­te sich durch „aus­ge­präg­te Rück­sicht­nah­me auf die Ge­füh­le der Al­mo­sen­emp­fän­ger“ aus, wobei die De­ fi­ni­ti­on von Armut Ausdruck „einer be­son­de­ren so­zia­len Struk­tur“ war, „ba­sie­rend auf der Ge­mein­schaft und ver­wal­tet von Ver­tre­tern die­ser Ge­mein­schaft“.33 Dies spiegelt sich auch in zwei Details der jüdischen Armenfürsorge, die angesichts moderner Erfahrungen in Wohlfahrtsstaaten in Erstaunen versetzen. Als Maßstab für Armut gelten nämlich – zum einen – nicht nur die existenziellen Lebensverhältnisse von Betroffenen, also im Hinblick auf „Essen, Woh­nen, ein Mi­ni­mum an Mö­blie­rung“ und auf „Rück­la­gen, um eine Hoch­zeit aus­rich­ten zu kön­nen“. Der psychische As­pekt der Erniedrigung ist vielmehr auch dort in Betracht zu ziehen, wo Betroffene in re­la­ti­ve Armut geraten, re­la­tiv näm­lich zu ihren vor­he­ri­gen möglicher Weise hohen per­ sön­li­chen Lebensverhältnissen, an die sie sich ge­wöhnt hatten, und die sich im quantitativen Maß der Hilfeleistung zumindest spiegeln sollten.34 Zum anderen halten die jüdischen Weisen am Grundsatz der Gleichheit und an der Anerkennung der Würde der Armen fest, indem sie auch den in Armut Geratenen die Möglichkeit eröffnen wollen, wohltätig zu sein  : Ihnen müsse „in so ausreichendem Maß“ gegeben werden, dass auch sie davon wieder abgeben können. 27 Ebd. 17. 28 Ebd. 16. 29 Ebd. 30 Vgl. den Beitrag von Samuel Holdheim (33). 31 Sacks 1992, 17. 32 Ebd. 33 Ebd. 22. 34 Ebd. 21.

11

Einleitung

Hier wird freilich auch die rechtlich fundierte Struktur der jüdischen Armengesetzgebung wirksam, insofern diese Regel auch einer Bevorzugung der Armen einen Riegel vorschiebt, gemäß dem Bibelwort  : „Du sollst auch den Geringen in seinem Rechtsstreit nicht begünstigen.“ (2. Mose 23, 3  ; siehe 3. Mose 19,15). Sacks spricht von „moralischer Rationalität“, in der das Mitgefühl die Urteilskraft nicht schmälern dürfe, sondern sich an Unparteilichkeit, der Reziprozität von Rechten und Pflichten und dem Ausgleich offensichtlich entgegengesetzter Interessen orientieren müsse.35 Diese Zwischenstellung der Nächstenliebe zwischen Recht und Mitgefühl kommt wohl auch im he­bräi­schen Be­griff der Ze­da­ka36 zum Ausdruck, dem die Idee zugrunde liegt, dass „jeder Be­sitz letzt­lich Gott ge­hört, wes­halb auch eher der Sinn für Gleich­heit als der für Groß­zü­gig­keit Spen­den für an­de­re for­dert.“ Verschiedene Institutionen der jüdischen Wohltätigkeit reichen daher weit zurück, so die tägliche Armenspeisung (Tam­chui), die wöchentliche, anonyme Geldausgabe an Bedürftige (Kuppa) oder die Organisation der Hilfe für bedürftige Gruppen, wie Witwen, arme Bräu­te oder arme Hinterbliebene.37 Dem Kampf gegen die Armut gilt allerdings eine noch viel umfassendere Tradition, die insbesondere mit der Institution des Sabbat verbunden ist, nämlich die von Bildung und Erziehung.38 Am Sabbat waren traditionell – so Sacks – die sozialen Schranken aufgehoben, der arme Mann konnte sich an diesem Tag unbegrenzt und lebenslang durch den Anteil am gelehrten Geschehen nicht nur im metaphorischen Sinn als ‚wohlhabend‘ ansehen  : „Es war, so könnte man auch sagen, ein Sich-Fügen in eine Welt alternativer Identität, in der das weiße Tischtuch, die silbernen Kerzenleuchter, die gemütlichen Mahlzeiten und die versammelte Familie Freiheit von der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Ordnung eher untermauerten als symbolisierten.“ Sacks bezeichnet das Judentum von seiner Konzeption her als „eine klassenlose Religion“ mit ökonomischen Forderungen, die nicht entzweien sollen, sondern im Gegenteil ein zuviel an Armut und Reichtum verhindern möchten. Die jüdische Tradition setzt Kultur als den Faktor, der bestimmt, was ethische Praxis ist, insbesondere innerhalb ökonomischer Gefüge. Und genau im Hinblick darauf, d. h. mit seinen Vorstellungen von Gerechtigkeit, verstehe sich das Judentum als eine kulturelle Kraft. Das heißt umgekehrt, dass das Judentum ohne sein „sorgfältig ausgearbeitetes Programm zur Minderung der Armut“ wohl keinen Bestand gehabt hätte.39 Das große Projekt des Judentums, die Durchsetzung sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, verzahnt mithin die institutionelle Ebene, etwa hinsichtlich der Themen Kapital und Arbeit, mit der individual-ethischen Ebene, mit den Themen von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Zedaka, die im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes stehen. 35 Ebd. 26. 36 Vgl. den Beitrag von Leo Baeck (2). 37 Brocke 1976, 75–76  ; Brocke 1979  ; Sacks 1992, 22. 38 Vgl. auch Brocke 1976, 87  : „Läßt sich auch die Sabbatfeier als Nachahmung Gottes bezeichnen  ? Ex 20,11 und 31,17 können das nahelegen. Gewiß, Gott schrieb von sich selbst, er ruhte, obwohl es für ihn keine Arbeit gibt, und insofern feiert der Sabbat eher Gott als den Schöpfer aller Dinge, als daß er einen menschlichen Nachvollzug der göttlichen Vollendung und Beendigung der Arbeit darstellt.“ 39 Ebd., 23.

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Einleitung

Angesichts der Komplexität und Tiefe, mit der diese Themen das Judentum in seinem ethischen Kern prägen, ist es völlig unbegreiflich, dass ausgerechnet dieser ethische Kern auf einer völlig anderen Ebene, nämlich im Verlauf der schwerwiegenden, zwei Jahrtausende währenden Antagonismen zwischen der jüdischen Tradition und christlichen Ansprüchen, zum Gegenstand der Diskreditierung, d. h. zum ideologischen Grund für Judenfeindschaft und Antisemitismus wurde. Insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts, angesichts des Emanzipationsprozesses der jüdischen Minderheit in Deutschland, verschärfte sich die zumeist christliche, teilweise geradezu vernichtende Polemik gegen die Integrität der jüdischen Ethik und gegen ihre Bekenner. Während diese Polemik in Deutschland mit der Etablierung von Antisemiten-Parteien am Ende des 19. Jahrhunderts sogar zum politischen Projekt der bürgerlichen Mitte avancierte, hatte sie inhaltlich bereits über Jahrhunderte die Bildungsinhalte im christlich dominierten Schulwesen bestimmt. Im Zeichen der ökonomischen und sozialen Umbrüche des 19. Jahrhunderts prägte sie darüber hinaus und weiterhin die Mentalität bestimmender Teile der Verwaltungen und der Justiz, daneben aber auch die Weltsicht und das Selbstverständnis vieler Wissenschaften und nicht-jüdischer Publizisten. Man kann nur ahnen, welche psychischen Erschütterungen die nicht enden wollende Polemik in den jüdischen Gemeinden über Generationen hinweg auslöste. Dennoch wird in nahezu allen Beiträgen, die für diesen Band zusammengestellt wurden, eine ganz andere Weise erlebbar, in der jüdische Autoren auf die ständigen Provokationen reagierten, nämlich mit der selbstbewussten Richtigstellung der ethischen Botschaft des Judentums. Allerdings war es dazu für die betreffenden Autoren zunächst unvermeidbar, immer wieder aufzunehmen, worin die Verzerrungen und Diskreditierungen von der anderen Seite bestanden. In großer Breite formulieren sie daher auch Analysen zur doppelbödigen, ja skandalösen Aussagenstruktur der christlichen Polemik  – ja, sie legen Grundmuster antisemitischen Argumentierens als solchem frei. Wir haben hier allerdings darauf verzichtet, bereits im Zusammenhang des vorliegenden Bandes diesen zweiten inhaltlichen Schwerpunkt innerhalb der sozialethischen jüdischen Publizistik des 19. Jahrhunderts zu berücksichtigen.40 Dennoch wird die spezifische Bedeutung einzelner thematischer Schwerpunkte dieses Bandes erst verständlich, wenn man den Tenor der deutsch-jüdischen Analysen von Judenfeindschaft und Antisemitismus hinzudenkt. Aus jüdischer Sicht ist die antijüdische, bzw. antisemitische Polemik vor allem von zwei, ineinander greifenden Thesen bestimmt.41 Danach beziehe sich – zum einen – der soziale Aspekt im Judentum allein auf Juden  : Als Nächster firmiere im Judentum nur der Volksgenosse. Damit grenze sich das Soziale im Judentum letztlich gegen alle Nichtjuden ab, insbesondere gegen die Christen. Folglich sei die jüdische Perspektive egoistisch und partikulär, d. h. auf eigene Interessen ausgerichtet.42 Demgegenüber – so die zweite These 40 Diesem Schwerpunkt wird Band 6 der vorliegenden Anthologien gewidmet sein. 41 Vgl. Brocke et al. 2009. 42 Es spricht viel für die These, dass die christliche Tradition diese Aussage aus der viel älteren, antiken Form des Antisemitismus (Schäfer) übernommen hat. Bereits dort zielte sie auf den jüdischen Monotheismus, d. h. auf die jüdische Weigerung, sich polytheistischen Religionsformen zu unterwerfen. Vgl. Schäfer 2010.

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– habe erst das Christentum eine universalistische, d. h. auf alle Menschen bezogene, altruistisch angelegte Ethik der Nächstenliebe hervorgebracht und habe damit das Judentum obsolet werden lassen. In der Tat verlegte sich die anti-jüdische Polemik des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt inspiriert durch pseudo-philologische ‚Nachweise‘, Spitzfindigkeiten und Behauptungen durch anti-jüdische Kompendien des 17. und 18. Jahrhunderts, insbesondere darauf, dem Judentum vorzuhalten, dass bestimmte, vor allem sozial relevante Schlüsselbegriffe der hebräischen Bibel, des Talmud und anderer Schriften eine allein auf Juden bezogene, eingeschränkte, also ‚egoistische‘ Bedeutung hätten (re’a, gojim etc.) Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg sahen sich daher Rabbiner und jüdische Publizisten genötigt, immer wieder in die gleiche, oft absurde Debatte um Wortbedeutungen und Inhalte der jüdischen Religion einzutreten und den zumeist überheblichen, inhaltlich aber dürftigen Anwürfen gegenüber zu treten.43 Die bloß philologische Gegenwehr bildet für viele Autoren allerdings nur den Anstoß zur Einordnung und Bekräftigung des universalistischen Charakters des Judentums. Entscheidend ist dabei ihr Hinweis, dass der gegen jede unbillige Herrschaft gerichtete Gleichheitsgrundsatz der jüdischen Sozialethik eng mit Erfahrungen der frühen jüdischen Geschichte verknüpft ist. Was Herrschaft, Willkür und Tyrannei ausrichten, bewahrte die Erzählung der Bibel aus der Zeit der Versklavung in Ägypten auf. Zur Erfahrung gehörte der Machtmissbrauch in den jüdischen Königreichen ebenso wie Okkupation und Deportation durch Großreiche von außen, zu schweigen vom Ende der jüdischen Staatlichkeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und dem Beginn der globalen Zerstreuung. In der Geschichte des Judentums konnte also die Bedrohung jederzeit von innen wie von außen kommen, und entsprechend umfassend muss die Erfahrung von Gewalt und Tyrannei gewesen sein. Die Vorstellung ist daher vollkommen absurd, aus jüdischer Perspektive habe man diese Erfahrung nicht als Bedrohung für die menschliche Existenz schlechthin aufgefasst, sondern als eine Erfahrung, die Juden allein auf sich (als Juden) zu beziehen hätten. Selbstverständlich darf man das Gegenteil annehmen, dass die jüdische Tradition die Verarbeitung der Erfahrung, was Willkür und Tyrannei anrichten, auch auf die umfassende conditio humana aller Menschen, nicht allein auf einen wie immer zu denkenden ‚jüdischen Menschen‘ bezogen hat. Dennoch erfordert eine auf Gleichheit und Gerechtigkeit basierende soziale Kultur, die Herrschaft und Gewalt bannen will, eine umfassende Anstrengung, die ihr Ziel nicht mit ‚ein bisschen‘ Gerechtigkeit erreichen wird und auch nicht durch Einräumung oder Eindämmung von ‚ein bisschen‘ Gewalt hier und da. Insofern, nämlich hinsichtlich der Verbindlichkeit für diejenigen, die eine Kultur der Gerechtigkeit tragen und erhalten sollen, sind die Anforderungen der jüdischen Sozialethik hoch und drängen selbstverständlich zur Entscheidung, ob man ihnen folgen möchte oder nicht. Der universalistische Appell ‚an alle‘ und die Verpflichtung hier und jetzt, zwischen Messianismus und tatsächlichem Tun ergibt den der jüdischen Kultur innewohnenden Entscheidungscharakter und ihre zutiefst demokratische Bedeutung (Sacks). 43 Vgl. dazu diverse Passagen in den Texten 15–21 in diesem Band.

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Diese Spannung musste sich unter den Bedingungen der Zerstreuung ja noch verstärken. Während die Realisierbarkeit ‚für alle‘ Menschen unter den Maßgaben der christlichen Ständeordnungen, der Geldwirtschaft und des christlich-antiken Bildungswesens in weite Ferne rückte und die jüdische Minderheit marginalisiert war, blieb die jeweilige eigene jüdische Gemeinschaft der einzige praktische Bereich der Realisierung.44 Es hat nicht in der Verantwortung der jüdischen Sozialethik gelegen, dass sich die westlich-abendländische Kultur nicht für deren Gleichheitstheoreme entschied. Es war umgekehrt. Es war die christliche Seite, die sich mit ihren Geltungs- und Übertrumpfungsansprüchen – und ausgerechnet mit dem zentralen Trumpf der ‚christlichen Nächstenliebe‘, in die Position des bestimmenden Akteurs geschoben hatte. Viele jüdische Publizisten des 19. Jahrhunderts konfrontieren diese Ansprüche daher mit dem desolaten sozialen, politischen und ökonomischen Zustand ihrer Zeit, mit der Sklaverei in den Vereinigten Staaten, mit der neuen, internationalen Dynamik des Nationalismus und der dort aufflammenden politischen Geltungssucht, und mit den Folgen der allein am Gewinn der wenigen orientierten industriellen Revolution. Darüber hinaus stellen sie die Geltungs- und Übertrumpfungsansprüche der christlichen Seite, darunter deren Umgang mit dem Judentum auf den religionsgeschichtlichen Prüfstand. So wird die christliche Herabsetzung des Judentums, der Versuch, ihm eine Ethik überhaupt abzuerkennen, als unethisch-materiell und egoistisch gebrandmarkt. Mit seiner Inkulturation in den Mittelmeerraum habe das Christentum eine griechisch-hellenistische Hypothek in sich aufgenommen  : Es habe sein jüdisches Erbe um die Gerechtigkeitslehre halbiert und das Nächstenliebe-Gebot zu einer geber-zentrierten Mitleidsethik schrumpfen lassen. Mit diesem Restbestand der jüdischen Sozialethik trete man nun – sogar übertrumpfend – dem Judentum gegenüber. Der Pommersche Rabbiner Peter Buchholz forderte daher, das Wort ‚christlich‘ auf seine ursprüngliche Bedeutung zu reduzieren und ihm jede andere zu nehmen, „welche geeignet sei, das Judentum nicht bloß seiner Verdienste um die Menschheit zu berauben, sondern auch als Gegensatz zum Christentum herabzusetzen.“45 Mit der Behauptung, die christliche Ethik sei eine spezifisch christliche, werde nicht nur ihre jüdische Herkunft geleugnet, sondern verdeckt, dass das Christentum selbst überhaupt keine eigene „autochthone Ethik“ hervorgebracht habe  :46 „Was ist denn nun diese Betonung des Christlichen auf dem ganzen Gebiete der Humanität und Sittlichkeit, diese Bezeichnung der Tugend und Menschenliebe als christliche Domäne anders als ein furor christianissimus, der die Wahrheit verdunkelt, den endgültigen Frieden der Confessionen und die Anerkennung des Judenthums unmöglich macht  ? Braucht es denn erst gesagt zu werden, daß alle jene Lehren der Humanität und Sittlichkeit, welche das Christenthum für sich in Anspruch nimmt, aus den Religionsquellen des Judenthums geflossen sind  ? Wer hat denn zuerst das Gesetz von der Nächstenliebe ausgesprochen  ? Wer dieses Gesetz als Grundlehre aller Religion hingestellt  ? Hat nicht das 44 Vgl. Stecklina 2007, 1. 45 Buchholz 1871, 243. 46 Ebd., 241.

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Judentum die werkthätige Menschenliebe lange vor dem Christenthum gelehrt und geübt  ? Ist etwa die Bethätigung derselben hinter der Lehre zurückgeblieben  ? Hat das Judenthum in seinem viel längeren Bestande gegen die Menschenliebe so oft und so schwer sich versündigt, wie das Christenthum  ?“47 Der Frankfurter Rabbiner Leopold Stein beklagt darüber hinaus, wie kulturell retardierend und zerstörerisch die christliche Übertrumpfungsmentalität nach innen wirke. Sie lähme nicht nur die Bildungs- und Kritikfähigkeit breiter Bevölkerungsschichten, sondern schließe diese auch vom Wissen über und vom Dialog mit dem Judentum ab. Die Vergessenheit hinsichtlich der jüdischen Wurzeln des Christentums, hinsichtlich der Werte der Gleichheit und Gerechtigkeit also, bringe Machtmissbrauch und Gewalt hervor, wie die westlichen Religions- und Konfessionskriege oder die Sklaverei in den Vereinigten Staaten zeigten. Und dennoch führe man allseits das Argument der „christlichen Liebe“ im Mund. Stein deutet Judenfeindschaft sogar als Ausgangspunkt, von dem aus sich seit Jahrhunderten ein Paradigma der Ausgrenzung kulturell verselbständigt habe.48 Auch für den Landauer Rabbiner Elias Grünebaum versucht die christliche Theologie, „das Christenthum auf Kosten des Judenthums zu erheben oder vielmehr letzteres zur Verherrlichung des erstern recht tief herabzudrücken, ohne vielleicht zu bedenken, daß mit der Zerstörung des Grundes auch der darauf ruhende Bau dem Zusammensturze verfällt, daß, ‚wenn der Stützende strauchelt, der Gestützte fällt und insgesammt sie untergehen‘“.49 Stellungnahmen wie diese, die in großer inhaltlicher Breite und Vielfalt die gesamte jüdische Publizistik des 19. Jahrhunderts durchziehen, werden durch neuere Analysen bekräftigt. So mündet auch für Leo Trepp50 der christliche Versuch, den Juden ausgerechnet „ihre größte Errungenschaft“, nämlich ihren ethischen Grundlagentext, die hebräische Bibel, zu entwinden, insbesondere in Deutschland in einer fatalen Weichenstellung. Obwohl – oder gerade weil  – das Neue Testament „zu Sozialfragen kaum Stellung nimmt“51 und es sich „bei der christlichen Sozialethik in ihren Grundpfeilern um jüdische Sozialethik handelt“52, erhält die genau konträre Behauptung von Sprechern der christlichen Kirchen, beim ‚Alten Testament‘ handele sich lediglich um den „Vorläufer des Neuen Testamentes“ und dieses Alte Testament dürfe daher „nur aus diesem Neuen Testament her erklärt und verstanden werden“53, seine ‚populistische‘ Überzeugungskraft.54 47 Ebd. 48 Stein 1852, 6. 49 Grünebaum 2010, 182. 50 Trepp 1989, 31–54. 51 Trepp 1984, 15. 52 Zeller 1997, 112 (Hervorhebung im Original) 53 Trepp 1989, 34. 54 Sherwin 2000, 131–132, vertritt die Auffassung, dass auch die Formel von der ‚jüdisch-christlichen Ethik‘, die gern ins Feld geführt wird, irreführend ist. Die jüdische und die christliche Ethik unterschieden sich theologisch, hermeneutisch und ethisch. Gegenüber der von ‚caritas‘ und ‚philanthrophia‘ abgeleiteten Forderung des Christentums, aus Liebe zu helfen, „Jewish ethics bases help for the needy upon social obligation, rather than upon spontaneous love. Although such spontaneity may be desirable, in the final analysis it is undefendable. The needs of the indigent are too constant and numerous, and their conditions often too precarious to rely upon the spontaneous altruism of the potential donor. For Jewish ethics, zedakah rather than “charity”

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Die Behauptung verfestige sich nämlich im 19. Jahrhundert – so Trepp – zur Weigerung der Mehrheitsgesellschaft, ihre Vorurteilsstrukturen „einer wahren Kritik durch Umwelt und andere Kulturen“ auszusetzen und eigene „Fehler und Mängel zu erkennen und anzuerkennen“. Die Abschottung fokussierte sich einerseits, nämlich ideell, gegenüber der ethischen Kultur des Judentums, die der Mehrheitsgesellschaft eigentlich die Möglichkeit eröffnet hätte, „sich multikulturell zu orientieren und beeinflussen zu lassen“.55 Andererseits betraf sie – persönlich und biographisch – die Versuche deutscher Juden, die diese deutsche Kultur mit der Kultur des Judentums bereichern und gegen Fehlentwicklungen schützen wollten. Diese Juden bewahrten sich, während sie „vollkommen in deutscher Kultur zu Hause waren“, „ein kritisches Auge für die Errungenschaften“, aber auch für die „Mängel der deutschen Kultur- und Gemeinschaftsformen“  : „Der deutschen Kultur war damit eine ideale Möglichkeit gegeben, sich an einer anderen, hohen Kultur in ihrer eigenen Mitte zu messen, sich ihr kritisch zu stellen und von ihr beeinflusst zu werden. Das ist nicht geschehen.“56 Die anti-jüdische Polemik um Nächstenliebe und Barmherzigkeit steht daher nicht nur für einen abstrakten ‚religionsgeschichtlichen‘ Kampf. Vielen deutsch-jüdischen Autoren war bewusst, dass es sich um eine entscheidende Auseinandersetzung im Hinblick auf die Zukunft der deutschen Gesellschaft und Kultur schlechthin handelte. Diese Auseinandersetzung äußerte sich allerdings nicht nur in publizistischer Weise, sondern in sehr konkreten, elementaren gesellschaftspolitischen Konflikten und Kämpfen im Schnittfeld zwischen jüdischer Sozialethik und christlich unterlegtem Antisemitismus. Dabei ergaben sich auch überraschende diskursive Wendungen. So bildeten seit der Aufklärung die vielfältigen, der Fürsorge dienenden Gemeinschaften und Sozialkassen die Grundlage eines jüdischen Gemeinde- und Familienlebens. Im Verlauf der Emanzipationsdebatten und mit der Verstetigung der damit zusammenhängenden, judenfeindlichen Angriffe nahm die soziale Praxis innerhalb der jüdischen Gemeinden allerdings auch den Charakter eines gegen diese Angriffe gerichteten Arguments der Selbstverteidigung an  : Anti-jüdische Behauptungen etwa über eine wachsende ‚jüdische Kriminalität‘ oder über eine angeblich fehlende ‚Sittlichkeit‘57 konnten – zunehmend auch mit Statistiken58 – pariert werden, mit dem Hinweis, dass sich die jüdische Minderheit durch eine im Vergleich zur christlichen Bevölkerung geringere Kriminalität, intaktere Ehen und insgesamt stabilere Familienstrukturen hervortat. is required. Zedakah is etymologically related to the Hebrew word for “righteousness,” “zedek.” In this view, one regularly helps the needy because it is right. Zedakah is a regular and continuous social obligation, and not the result of a passing passion.“ 55 Trepp 1989, 33. 56 Trepp 1989, 34. 57 Vgl. z.B. Johann Gottfried Hoffmann (1765–1847), Universitätslehrer und langjähriger Direktor des Königlich-Preußischen Statistischen Bureaus, und dessen  : Zur Judenfrage, Statistische Erörterungen. Anzahl und Vertheilung der Juden im preußischen Staate, nach einer Vergleichung der Zählungen zu Ende der Jahre 1840 und 1822, Berlin 1842 58 Vgl. die statistischen Schriften von Salomon Neumann (1819–1908), insbesondere aber  : Lux 1893.

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Und während mit dem Argument von der ‚egoistischen‘ jüdischen Nächstenliebe auch die bürgerliche und patriotische Verlässlichkeit von Juden in Zweifel gezogen werden konnte59, kontrastierten jüdische Autoren die funktionierende, jüdische Sozialpraxis mit der sozialen Not und der Bildungsmisere im ‚christlichen Staat‘ im Zeitalter der Industrialisierung60. Susanne Zeller hat darauf hingewiesen, in welchem Ausmaß deutsch-jüdische Frauen zwischen 1893–1933 der professionellen sozialen Arbeit in Deutschland den Weg ebneten, indem sie versuchten, „die jahrhundertealten, kommunal-polizeilich geprägten Armenpflege­strukturen“, die in Deutschland hauptsächlich „mit unausgebildeten, ehrenamtlich tätigen Armen- und Polizeipfle­gern“ (also Männern) bestückt waren, zu einem „professio­nellen Berufszweig“ hinzuentwickeln. Ihre Motivation bezogen Persönlichkeiten wie Lina Morgenstern, Jeanette Schwerin, Alice Salomon, Sidonie Wronsky, Henriette Arendt61 und Hedwig Wachenheim aus den „ethischen Prämissen einer langen Tradi­tion der Wohltätigkeit des Judentums“62, wobei es ihnen nicht um eine Wohltätigkeit der Gnadenakte, sondern um Gerechtigkeit ging  : Sie lehnten daher „die traditionellen bürgerlichen Wohltätigkeitsbazare, Tanzveranstaltungen und Armenspeisungen zugunsten Notleidender“ ab.63 Unübersehbar aber ist freilich auch, dass sich dieses sozialethische Engagement64 in zumeist nicht-jüdischen Organisationen65 extrem feindseligen, antisemitischen Angriffen durch nationalistische und völkische Frauenkreise gegenüber sah. Da diese die sozialen Leistungen jüdischer Frauen „vor allem auch für die nichtjüdische Bevölkerung“ nicht ignorieren konnten, sie „aber auch nicht anerkennen“ wollten, versuchten sie, „durch die antisemitische Negativ­bewertung hinsichtlich der ethnischen bzw. re­ligiösen Zugehörigkeit, diese in der Öffentlich­keit in Mißkredit zu bringen“66. Aber nicht nur diese antisemitischen Wortführer(innen), die gedachten, an der hergebrachten Armenfürsorge festzuhalten, sahen offenbar in der auf Gleichheit angelegten Programmatik der jüdischen Sozialarbeit eine Bedrohung des status quo und der Machtverhältnisse. Die christliche Mitleidsethik und eine Sozialfürsorge, welche die Logik der Ökonomie nicht in Frage stellte, erwiesen sich als mit dem Obrigkeitsstaat, mit autokratischen Eliten und den sozialen Opfern der industriellen Revolution gut vereinbar. Dies zeigten insbesondere die sozialpolitischen Initiativen Bismarcks und Wilhelms I. (1881–1889), denen es im Grundsatz darum ging, nach dem Vorbild Frankreichs und 59 Gotzmann/Liedtke/Rahden 2001. 60 Vgl. stellvertretend für die reichhaltige Literatur zu den christlichen Sozialbewegungen im 19. Jahrhundert Grebing 2000  ; Habisch et al. 2012  ; Harth et al. 1984  ; Fähnichen et al. 2005  ; Pentz 2005  ; Ritter 1998. 61 Geis 1995. 62 Zeller 1997, 110. 63 Zeller 1999, 14–20. 64 Zur überproportionalen Beteiligung von Jüdinnen und Juden an der deutschen Wohlfahrtspflege vor dem 1. Weltkrieg vgl. Fassmann 1996, 226ff.; vgl. auch Klapper 2013. 65 Zu den Versuchen einer Integration der jüdischen Wohlfahrt in das entstehende Sozialsystem der Weimarer Republik und zur Rolle Leo Baecks, vgl. Stecklina 2007, 2ff. 66 Fassmann 1996, 11.

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Napoleons III. über staatliche Sozialleistungen auch für eine direktere Staatsbindung der Untertanen zu sorgen. Dem entsprachen insbesondere die Positionen des zweiten, von Bismarck mit der Sozialgesetzgebung befassten Beraters, Carl Ludwig (‚Louis‘) Baare. Er war Generaldirektor (1854–1895) des Bochumer Vereins, eines der größten zeitgenössischen Stahlkonzerne, und empfahl sich aufgrund eines vom Konzern in Bochum angelegten, mit Sozialdiensten versehenen Arbeiterstadtteils, dessen Ziel die familiäre, aber auch ideologische Bindung der Arbeiter an den Konzern war. Dass die Sozialgesetzgebung mit ihrem Vorzeichen des „praktischen Christentums“67 freilich insgesamt als Demonstration gegen das Judentum gedacht war, zeigte Bismarck durch die Berufung (1881) seines ersten Beraters und Juristen, des protestantischen Präsidenten der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden (1876–1898) und Funktionärs der Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden, des niedersächsischen Verwaltungsjuristen Theodor Christian Lohmann (1831– 1905).68 Vor diesem Hintergrund spricht viel für die Annahme, dass durch die Etablierung des obrigkeitsstaatlich und ordnungspolitisch motivierten ‚Sozialstaats‘ in Deutschland nicht nur die christliche Vereinnahmung des jüdischen Ethos der Nächstenliebe und dessen Halbierung um Gleichheits- und Gerechtigkeitsgrundsätze eine mächtige Sanktionierung empfing, sondern dass es damit den protestantischen preußischen Eliten auch gelang, die jüdische, demokratische Konzeption des Sozialstaats, und damit die jüdische Sozialethik insgesamt nachhaltig aus dem kulturellen Gedächtnis der Deutschen zu löschen. 69 In der Tat muss man einräumen, dass diese historische, mit dem Sozialstaatsgedanken so eng verknüpfte Hypothek selbst nach der Shoa nicht ins politische Bewusstsein zurückkehrte. Dazu trug sicher bei, dass in der politischen Auseinandersetzung (West-Deutschlands) der Grundsatz der Gerechtigkeit in einem zunehmenden, immer noch anhaltenden Prozess an das in Teilen noch immer dem 19. Jahrhundert verpflichtete Modell des Sozialstaats herangetragen wird. Darüber hinaus verdrängte die deutsche Nachkriegsgesellschaft fast vollständig die jüdische Existenz in Deutschland und damit auch deren in radikaler Weise demokratisch orientierte Sozialethik. Um so mehr Orientierung können noch heute Stimmen wie die von Johannes Rau geben  : „… es täte uns schon gut, wenn wir den Begriff der christlichen Nächstenliebe daraufhin überprüften, ob es nicht jüdische Nächstenliebe ist, die wir, die Christen, von den Juden gelernt und übernommen haben.“70 Was Susannah Heschel ganz allgemein angemahnt hat, dass man nämlich erst über die Perspektive der deutschen Juden71 einen Zugang in „die tatsächliche Situation der Zeit” 67 Reichstagsrede Bismarcks vom 2. April 1881, in  : Bismarck 1976, 514–532. 68 Es kam jedoch 1883 zum Zerwürfnis, als Lohmann den autoritären Vorstellungen Bismarcks widerstrebte und für mehr Freiheitsrechte für die Arbeitnehmer eintrat. Vgl. Zitt 1996. 69 Das letzte große sozialethische Werk aus jüdischer Feder vor der Shoah, das Sammelwerk Die Lehren des Judentums nach den Quellen, das Simon Bernfelds zwischen 1928 und 1930 für den Verband der Deutschen Juden herausgab (Bernfeld 1920–1929), spiegelt den Willen, in dieser Situation die Grundsätze der jüdischen Sozialethik noch einmal zu bekräftigen. 70 Rau 1999, 49. 71 Wiese 1999, 6. Heschel, Vorwort. In  : Wiese 1999, IX.

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vor 1938 erhalte, gilt sicher in ganz besonderer Weise für die Potenziale, die eine sozialethische Debatte bereit hält, wenn man die jüdische Perspektive in ihr endlich berücksichtigen würde. Die nachfolgenden Beiträge stellen dafür Material bereit, wobei der individuelle Bereich von Sorge, Fürsorge, Liebe und Verantwortung im Zentrum steht. Im daran anschließenden Band unter dem Titel Recht. Soziale und ökonomische Gerechtigkeit sollen jüdische Debattenbeiträge zum Thema einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung versammelt werden. Jobst Paul

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Die Beiträge in der Zusammenfassung

Gottesliebe und Menschenliebe Die Liebe zu Gott beinhaltet die Liebe zum Mitmenschen wie die Liebe zu sich selbst. Der Liebe zum Nächsten soll, so Ludwig Philippson (1) vor allem durch die Tat und nicht in erster Linie durch das Wort Ausdruck verliehen werden. Diese Kritik an Lippenbekenntnissen formuliert Philippson im Kontext eines jüdischen Wohltätigkeitsverständnisses, in dem es nicht um die Selbstaufwertung des Spendenden durch seine Wohltaten gegenüber dem Empfangenden gehen darf. Vielmehr soll unverschuldetes Leid gemindert und der Hilfsbedürftige auf Augenhöhe mit dem Helfenden gestellt werden. Bedürftigen soll Trost und Anerkennung gegeben werden, während die Helfenden mit dem Leben der Anderen auch das eigene bejahen. Diese Nächstenliebe fußt auf der Anerkennung der eigenen Nähe zu Gott und auf der Erkenntnis, dass diese Liebe jedem gleichermaßen zu Teil wird. Der Akt der Wohltat ist somit nicht hierarchisch, sondern – durch die Tat – Ausdruck dieser Egalität. Diesen Gedanken teilt auch Leo Baeck (2), indem er die jedem gleichermaßen zukommende Gottesebenbildlichkeit thematisiert. Aus dieser Erkenntnis leitet er ab, dass es nicht die gütigen Taten sind, die Gleichberechtigung schaffen. Diese ist vielmehr von vornherein gegeben. Da sie das Verhältnis der Gottesebenbildlichkeit widerspiegelt, ist Nächstenliebe kein gütiger Akt, sondern steht jedem gleichermaßen zu. Sie zu versagen, sei daher ein Raub. Gleichwohl ist der Mensch hier als freies Wesen gefordert  : Er soll geben, was ihm von Gott gegeben ist, und sich zu ihm wie zu sich selbst bekennen. Baeck artikuliert damit eine Ethik, in der nicht Ungleichheit, sondern Gleichheit als Axiom gilt und Ungleichheit als Abweichung von der Regel behoben werden muss. Diese Überzeugungen zu vertreten und durchsetzen zu wollen – so Samuel Holdheim (3) – sei nicht Ausdruck von Dogmatismus oder einer diktatorischen Gottesvorstellung, die dem Judentum gern vorgeworfen werden. Diese Grundsätze durch die Tat dort zu vertreten, wo man sie verletzt sieht, sei Ausdruck wahrer Hingabe und nicht eine tote Liebe, die sich auf Worte beschränkt. Sie sei der Appell an die Eigenverantwortung des Menschen. Elias Grünebaum (4) schließlich tritt dafür ein, Liebe nicht als Prinzip des jüdischen Glaubens, sondern als Grundzug zu verstehen. Die mittels der Vernunft erreichten Einsichten zur Gerechtigkeit dürfen nicht für sich selbst stehen bleiben oder mit drakonischer Härte durchgesetzt werden. Zu ihnen muss Liebe hinzutreten, die einen Raum erzeugt, in dem auch das eigene Fehlen erkannt und Wandel möglich wird. Die Liebe des Nächsten Nachmann Izaak Weinstein (5) beginnt mit einem historischen Abriss über die Interpretation der Thora. Er weist darauf hin, dass von Esra über Shimeon ben Shetach bis zu Rabbi 25

Die Beiträge in der Zusammenfassung

Akiba betont wurde, die Heilige Schrift des Judentums sei stets in ihrer Gesamtheit, bezogen auf ihre Hauptprinzipien, auszulegen und zu deuten, nicht aber fragmentiert. Als ein solches Hauptprinzip gilt die Nächstenliebe, als Weg zur Erziehung des Menschen zu einem tugendhaften Wesen. Gebote und Weisungen sind danach nicht Selbstzweck oder das Diktat eines Gottes, dem unabhängig von Einsicht und Sinn Folge zu leisten sei. Nächstenliebe sei ein Akt des Menschen am Menschen und insofern Gottesdienst. Diesen Gedanken teilt auch H. Lesser (6). Er formuliert unter diesem Aspekt eine Anleitung zum Zusammenleben und zum Umgang mit Mitmenschen im Allgemeinen und in der Familie im Speziellen. Dabei weist er deutlich darauf hin, dass die Liebe des Nächsten keine Neuerung der christlichen Lehre, sondern seit jeher ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Religion sei. Nächstenliebe entstehe nicht einzig und allein aus der Rezeption der Thora, so argumentiert Samuel David Luzzatto (7). Sie sei auch auf die Natur des Menschen zurückzuführen. Der dem Menschen eigene Narzissmus paare sich mit dessen Fähigkeit, sich in sein Gegenüber zu versetzen und dessen Leid als Unbehagen zu empfinden. Das Leid des anderen appelliere an den ureigenen, egoistischsten Wunsch nach Selbsterhaltung und sei somit eine Art natürliche Moral. Diese sei jedoch allzu leicht fehlbar und würde allzu häufig zugunsten anderer Begierden vernachlässigt. Hierauf reagiert die Religion, indem sie die in der natürlichen Moral angelegte Menschenliebe ausformuliert und sie auf einen allmächtigen Gott bezieht. Barmherzigkeit und kollektives Glück entstehen somit als Ausdruck der dem Menschen eigenen Gefühle, systematisiert durch Glaube und Gottesfurcht. Auch hier stellt Barmherzigkeit einen Dienst am Menschen und keine Opfergabe an einen hungrigen Gott da  : Gott sei als Ewiges und Allmächtiges nicht darauf angewiesen. Gerade hier – so wendet Samuel Holdheim (8) ein – müsse jedoch stets ein Bezug auf das Göttliche, auf die daraus resultierende Gleichheit aller Menschen bestehen, als Schöpfung und Ebenbild Gottes. Da sich somit die Menschenliebe notwendig aus der Gottesliebe ergebe, sei ein Verstoß gegen erstere letzlich Götzendienst. Nächstenliebe sei dagegen wahre Gottesfurcht. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten Im ersten Beitrag über die Liebe zwischen Eltern und Kindern beginnt Samuel David Luzzatto (9) den Ursprung elterlicher Liebe in der Natur zu suchen, da diese Liebe unter allen Lebewesen zu beobachten sei. Dennoch sei bei der Erziehung nicht nur Wert auf den Erhalt des Lebens und die Unversehrtheit der Zöglinge zu legen, sondern vor allem auch auf einen respektvollen Umgang. Hierzu gehören der Schutz in moralischen Belangen, die Berufsausbildung, wie auch auf die Erziehung zur Eigenverantwortung. Die Kinder haben ihrerseits den Eltern Respekt zu erweisen, eine Haltung, die sich, wenn sie ehrlich und nicht bloß förmlich sei, im gesellschaftlichen Handeln fortsetze. Dem gegenüber bevorzugt Samuel Holdheim (10) eine Argumentation, die vom Vorrang des Werdens vor der Vollendung ausgeht. Der Aufbau eines eigenen Haushalts, der Beruf und die Familie seien elementare Teile des Lebensprozesses und eigentlicher Zweck menschlichen Daseins, insofern der Bund von Mensch und Mensch immer auch den Bund 26

Die Beiträge in der Zusammenfassung

von Mensch zu Gott widerspiegle. Holdheim verurteilt die Inanspruchnahme von Glück, das nicht aus eigener Bemühung hervorgegangen ist. Das Glück anderer zu zerstören, könne keine wirkliche Erfüllung verschaffen. Auch im darauf folgenden Text, in dem sich Holdheim (11) zu den Pflichten gegenüber den Toten äußert, betont er die Bedeutung der gegenwärtigen Existenz. Die letzte Ehre, die man den Toten gegenüber zu geben, und die letzte Schuld, die man zu tilgen habe, müsse stets im Verhältnis zum eigenen Leben verstanden werden. So ist es am Trauernden, sein Verhältnis und die Rechtschaffenheit, die man dem Toten gegenüber geübt hat, auf die Probe zu stellen und Trost nur insofern zu finden, als man dem Gegenüber alle Bringschuld abgetragen hat. Dabei muss die letzte Schuld, die man dem Toten gegenüber abzuleisten hat, keine schlechte, belastende sein. Sie kann ein letzter Akt der Liebe sein oder der Anerkennung der Liebe, die Verstorbene in ihrem Leben haben walten lassen. Jeder sei – nicht mit Blick auf den Tod, sondern auf das Leben – aufgefordert, es so zu gestalten, dass man am Ende dieses Lebens selbst ein bleibendes Zeichen von Anerkennung, Wertschätzung und Pflichtgefühl seinen Mitmenschen gegenüber gesetzt habe. Wie diesem Pflichtgefühl im Ritus der Bestattung Ausdruck zu verleihen ist, beschreibt Samson Raphael Hirsch (12). So sei der Leichnam des Toten als eine gottesgestempelte Hülle zu achten. Ihr ist als Werkzeug im Leben des Verstorbenen Respekt zu erweisen. Indes soll auch nichts für die Überlebenden von großem Wert vernichtet werden. Die Pflichten im Zusammenhang mit dem Tod dürfen nicht über das Leben gestellt werden, sondern stehen im Bezug zum Leben und erfahren von dort ihr Maß. Humanität In diesem kurzen Abschnitt argumentieren Sigmund Stern (13) und M. Dessauer (14) zugunsten einer ethischen Bildung. Stern betont den Vorrang der Vermittlung von Religiosität vor der Belastung von Kindern mit dogmatischer Religion oder den Differenzen zwischen Religionen, Nationen und Ständen. Die Pädagogik solle vielmehr die Universalität menschlicher Gleichheit vorleben und so die Basis für ein universales Verständnis des göttlichen Prinzips legen. Dessauer wiederum verweist auf systematische Bildung als Bedingung tatsächlicher Sittlichkeit  : Nur wenn Ethik systematisiert werde, könne sie über eine bloße Gemütsregung hinaus wirken. Dazu sei die Disziplin sich selbst gegenüber notwendig, ein nach ethischen Kriterien geordnetes Wissen und dessen tätige Umsetzung. Humanität äußere sich in der tatsächlichen Übung am Menschen und spiegele die Beziehung zwischen Einzelnem und Ganzem. Fremden- und Feindesliebe Das Verhalten gegenüber Feinden und Fremden, so legen es die Autoren in diesem Abschnitt dar, ist nach jüdischen Glauben und unter Berufung auf die Gleichheit aller Menschen durch ihre Gottesebenbildlichkeit in gleichem Maß dem Prinzip der Nächstenliebe 27

Die Beiträge in der Zusammenfassung

unterworfen wie die Beziehung zu den sogenannten Volksgenossen. Während Joseph Samuel Bloch (15) die historische Gastfreundschaft gegenüber Fremden in Palästina mit dem Umgang der Griechen, Römer und Germanen mit Fremden kontrastiert, begründet Nachman Izaak Weinstein (16) den offenen Umgang, den das Judentum Fremden gewährt, mit dem Begriff Rea (Nächster), der in der Thora nicht nur auf Juden bezogen wird. So werden auch Ägypter (z.B. während der jüdischen Gefangenschaft in Ägypten) mit diesem Begriff bezeichnet. Sie seien somit dem universellen Prinzip der Nächstenliebe ebenfalls unterworfen gewesen. Gerade diese Erfahrung der Gefangenschaft in der Fremde, so betonen es nahezu alle Texte mit Verweis auf die Heilige Schrift, soll die Juden ermahnen, Dritte nicht in ihren Rechten zu beschränken. M. Dessauer (17) räumt allerdings ein, dass die Verwirklichung dieses Prinzip ein Ziel ist und die Realisierung des Prinzips der Humanität auch in der jüdischen Tradition einem Prozess unterworfen ist. Joseph Levin Saalschütz (18) schildert dazu beispielhafte Lektionen innerhalb der jüdischen Tradition, etwa die Güte Davids gegenüber Saul oder Moses gegenüber den Seinigen. Einem Menschen dürfe weder in Gestalt eines Sünders, eines „Heiden“ oder eines Fremden das aberkannt werden, was sich vom Verhältnis zwischen Mensch zu Gott notwendigerweise auch auf das Verhältnis zwischen Menschen erstrecken muss. Wird eben diese Nächstenliebe durch andere verweigert, rechtfertigt dies nicht, es ihnen gleich zu tun, wie Hermann Cohen (19) weiter ausführt. Auch wenn sich Menschen als Feinde darstellen, rechtfertige dies nicht, ihnen mit Hass, Rache oder Schadenfreude zu begegnen und sich somit selbst an ihnen zu versündigen. So sei auch bei jeder Zurechtweisung darauf zu achten, andere nicht zu entwürdigen. Damit würde man sich letztlich unter sie stellen. Samson Raphael Hirsch (20) beschreibt abschließend in einer Abhandlung das manipulative Potenzial der Sprache. Daraus resultiere die Pflicht zur Äußerung der Wahrheit, während es umgekehrt einem Raub gleichkomme, diese Wahrheit seinen Mitmenschen vorzuenthalten. Man beraubt sie damit nicht nur ihrer Chancen und ihrer Freiheit, sondern führt sie auf Basis der eigenen Lüge auf falsche Wege und schmälert so das Gute an ihnen. Darüber hinaus negiere man etwa durch Heuchelei und Lüge sich selbst, indem man sich als etwas Falsches darstellt. Im schlimmsten Falle – so Hirsch (20/21) – kopple man durch Hass, Schadenfreude oder gar Rufmord das eigene Wohl an das Leid seiner Mitmenschen. So verliert man den Bezug zur heilsamen Nächstenliebe und somit zum Menschsein überhaupt. Daher solle die Rede über Andere stets mit Vorsicht formuliert oder sogar gänzlich unterlassen werden. Man möge sich ebenfalls genau überlegen, wie die Kritik am Bösen in einer Person zu äußern ist, ohne den göttlichen Bund zwischen Mensch und Mensch zu negieren. Debatte um die Todesstrafe Die Auffassung, die Todesstrafe stelle einen Widerspruch in sich dar, einigt die Autoren in diesem Kapitel. Heinemann Vogelstein (22) verweist auf die Notwendigkeit, Äußerungen in der Bibel, etwa bezüglich der Bestrafung von Mördern, in einen historischen Kontext und 28

Die Beiträge in der Zusammenfassung

ins Verhältnis zu den elementaren Prinzipien des jüdischen Glaubens zu setzten. Die allzu dogmatische Auslegung der heiligen Schrift schade nicht nur dem Ansehen der Religion und verschleiere deren Botschaft der Nächstenliebe. Sie richte sich gleichermaßen gegen die Errungenschaften der Moderne. Die großen Vorbehalte der jüdischen Rechtslehrer gegen die Todesstrafe und die hohen Hürden, die sie gegen ihre Zulassung vorsehen, sprechen kaum für ein Bekenntnis zu ihr, sondern ganz im Gegenteil für eine sehr ausgeprägte Skepsis. Diesen Gedanken teilt auch Julius Fürst (23) und erläutert weiter, dass sich im Lauf der kulturellen Entwicklung Alternativen zur Todesstrafe ausbildeten. Wenn die Lehre mit deutlichen Worten fordere, dass Morde geahndet werden müssten, dann doch im Sinne des humanen Anspruches der Religion, und nicht mit dem Ziel, diesen Anspruch zu verletzen. Daher ist es falsch, die Todesstrafe mit der heiligen Schrift zu legitimieren, statt sie mit ihr zu kritisieren. Während die Tötung eines Menschen irreversibel ist, sind menschliche Urteile fehlbar und politisch und religiös instrumentalisierbar. Daher hätten die Gelehrten des mosaischen Staats – so Fürst – schon immer große Bedenken gegenüber der Todesstraße geäußert. Alexander Friedländer (24) stützt seine Argumentation hingegen auf ein hegelianisches Verständnis des Staates, in dem das Gesetzte Ausdruck der Freiheit (der Bürger) sein soll. Diese Freiheit trage der Bürger somit in sich und verwirkliche sie durch sie. Die Todesstrafe als abstrakte Negation des Mordes zu betrachten, hält er für falsch, da sie die durch den Mord vernichtete Freiheit nicht wieder herstelle. Dem Ermordeten werde das ihm Genommene nicht wiedergegeben, auch nicht durch die Tötung des Mörders. Stattdessen werde Freiheit nur erneut vernichtet. Da das Gesetz aber nur der Freiheit und dem Leben dienen dürfe, würde die Todesstrafe in ihrer Wirkung ins Leere laufen und der Staat sich als Diener des Lebens selbst negieren. Die Bemühungen der Justiz dürften sich nur auf die Verwerflichkeit des Mordens richten, nicht auf die Beseitigung des Täters. Darüber hinaus steht Freiländer dem Abschreckungscharakter der Todesstrafe skeptisch gegenüber. Ein solcher sei nicht belegbar und die eigentliche Marter des Verurteilten, die Gewissheit des Todes, sei der Öffentlichkeit meist verschlossen. Achtung der Tiere und Pflanzen Für Samson Raphael Hirsch (25) ist die Schöpfung dem Menschen zur Pflege und zum verantwortlichen Umgang gegeben. Eine wesentliche Voraussetzung des Menschseins ist es daher, mit dieser Schöpfung weise umzugehen. Die Zerstörung der Natur aus Zorn oder aufgrund anderer Leidenschaften sei letztlich Götzendienst. Wohl dürfe etwas angerührt werden, um einem höheren Zweck zu dienen, aber nur mit größter Sorgfalt. Denn auch die Aneignung der Natur in guter Absicht, aber in unnötigem Übermaß komme einer Zerstörung gleich. Hirsch beschreibt daher Gesetze und Regeln, die der jüdische Glaube für den Umgang mit der Umwelt formuliert. Die gottgegebene Ordnung sei als solche zu achten und nicht zu verzerren, etwa in Form der Kreuzung unterschiedlicher Gattungen durch den Menschen. Die von Gott gewollte Entfaltung der Schöpfung müsse auch hinsichtlich der nicht-menschlichen Sphäre mit Achtung erfolgen. So hat in letzter Konsequenz auch 29

Die Beiträge in der Zusammenfassung

das Tier ein Anrecht auf die Früchte jener Arbeit, bei der es dem Menschen von Nutzen ist. Der Mensch ist im Einklang mit seiner eigenen Entfaltung zur Fürsorge und zum weisen Umgang mit der Schöpfung aufgefordert, da sich auch im Verhältnis von Mensch und Natur das Verhältnis zu Gott spiegele. Dieses Verhältnis ist demnach eine religiöse Beziehung. Moritz Ehrentheil (26) veranschaulicht dies an der Darstellung Moses als gutem Hirten und damit als gutem Menschen und Anführer des jüdischen Volkes. Da sich die Liebe Gottes über seine ganze Schöpfung erstrecke und die Schonung der unbelebten Welt ein biblisches Gebot sei, müsse dieses umso mehr für Tiere gelten. Barmherzigkeit komme dem Tier nicht nur durch den Menschen zu, sondern auch direkt vom Schöpfer. Ehren­ theil sieht daher die Methode der Schächtung in diesem Sinne geprägt von dem historischen Versuch, das Leid des Tieres bei der Schlachtung so gering wie möglich zu halten. Die antisemitische Denunziation, es handle sich hierbei um Tierquälerei, sei absurd. Versöhnung Samuel Holdheim (27) beginnt mit der Beschreibung einer alten mosaischen Tradition, nach der ein Mensch, der unabsichtlich zum Mörder geworden ist, verbannt wird und erst zurückkehren darf, sobald der Hohe Priester in Jerusalem stirbt. Dahinter stehe der Gedanke, dass Verantwortung auch über eine Absicht hinaus besteht, also nicht nur in Bezug auf eine Tat selbst, sondern auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen. Vergebung müsse zu allererst zwischen Mensch und Mensch geschehen, dies sei aber für den unabsichtlichen Mörder an dem Toten nicht möglich. Daher solle es die Verbannung dem ungewollt schuldig Gewordenen ermöglichen, Buße zu tun, indem er den Schmerz des Verlustes, den er der Gesellschaft zugefügt hat, an sich selbst erfährt. Holdheim  : „Kein anderer als Gott kann uns versöhnen, aber er bewirkt die Versöhnung durch den läuternden und verklärenden Schmerz, den die Liebe empfindet, wenn der teure Gegenstand ihr entrissen wird.“ Dieses Prinzip stände hinter der Vergebung durch den Tod des Hohen Priesters  : Die nationale Trauer um den höchsten Amtsträger des mosaischen Staats vereine die gesamte Bevölkerung in Trauer und Liebe und in diesem Moment würden auch die Bande zwischen dem ungewollt schuldig Gewordenen und der Gemeinschaft wieder zusammen gefügt. Die Bande zwischen den Menschen und Gott bildet wiederum den Anfang der Überlegungen Hermann Cohens (28). Ihm zufolge bestehen die Bindungen auf drei Ebenen  : Zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen dem Menschen und sich selbst. Die Sünde finde in Bezug auf eine dieser Beziehungen statt und führe damit auch zu einer Schädigung der jeweils anderen zwei. Buße müsse daher alle drei Beziehungen miteinander versöhnen. Nach Cohen verlief die Entwicklung des jüdischen Glaubens hin zu dieser Erkenntnis entlang des Opferritus. Der Autor unterscheidet hierbei drei Stufen. Auf der ersten mythischen Stufe des noch heidnischen Glaubens, auf der die Universalität Gottes noch nicht erkannt wurde, wurde das Opfer noch im Kreise der eigenen Gemeinschaft verordnet. Das Opfer wird somit nicht Gott, sondern mit ihm dargebracht und besitze noch keinen versöhnenden Charakter. Sobald aber Gott als dem 30

Die Beiträge in der Zusammenfassung

Menschen übergeordnet erkannt wurde, habe sich der priesterliche Opfermythos entwickelt. In ihm fungiert der hohe Priester als Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Er bringt Gott die Opfer dar und versöhnt damit die Menschen mit Gott und untereinander. Die Idee der individuellen Schuld und der Versöhnung beseitigt das Prinzip von Erbsünde und Rache und eröffnet die messianische Idee des direkten Verhältnisses zwischen Mensch und Gott. An Stelle des Opfers treten das Gebet und die Buße, in denen sich der Mensch durch Abkehr von seinem sündigen Lebenswandel wandeln kann. Die Bande zwischen Gott und Mensch werden nun als universal verstanden und erstrecken sich über die jüdische Glaubensgemeinschaft hinaus. Im anschließenden Text formuliert Samuel Holdheim (29) erneut einige Gedanken zur Buße, betont aber die Rolle der Gesellschaft. Sünde und Schuld seien nicht nur beim Täter zu sehen und zu ahnden. Auch dessen Umfeld, welches ihm mit schlechtem Beispiel voranging, müsse sich seiner Verantwortung bewusst werden. Holdheim benutzt hierbei das Bild eines Gefängnisses als einem Friedhof moralischer Existenzen, über die die Gemeinschaft ebenso trauern müsse wie über den körperlichen Tod von Menschen. Wohltätigkeit Die Ungleichheit der Menschen ist eine Tatsache, stellt Meyer Kayserling (30) fest. Das Leben sei gezeichnet von Geben und Nehmen, Gegenseitigkeit und Umbrüchen. Wohltätigkeit beabsichtige nicht, dieses Prinzip gänzlich aufzulösen, sondern müsse es vielmehr widerspiegeln. Dies geschehe etwa, indem sie den Armen dazu ermächtigt, wieder selbst für sich zu sorgen. Wohltätigkeit dient daher dazu, die Armut vollständig zu überwinden. Wohltätigkeit dürfe nie gönnerhaft oder herabwürdigend praktiziert werden. Dies betont auch Heinrich Galandauer (31) und beklagt die traurige Existenz des unverschuldet Verarmten, der nicht in der Lage sei, nach seinem Willen zu handeln und sich zu entfalten. Wohltätigkeit müsse daher dazu führen, ihn in genau diese Lage zu versetzen. Dafür seien sowohl eine öffentliche, wie auch eine private Fürsorge vonnöten, wie es sie bereits im mosaischen Staat gegeben habe. Ebendiese Fürsorge beschreibt Moritz Ehrentheil (32). Anders als andere Gesellschaften habe sich das Judentum nach seinem Auszug aus Ägypten vom Kastenwesen und von der Sklaverei distanziert. Armut sei danach nicht mehr als Strafe oder als unabänderliches Schicksal betrachtet worden. Vielmehr werde Armut seitdem als Aufgabe für den Betroffenen wie die Gemeinschaft betrachtet, diesen Zustand in einem Akt der Tugend zu überwinden. Daher werden auch die Gaben der Großen, Herrschenden, skeptisch gesehen. Dienen sie doch meist weniger der Befreiung aus, als vielmehr der Erhaltung von Abhängigkeit. Auch Ehrentheil betont das Gebot des Respekts voreinander. Gebender wie Nehmender sollten sich nicht gegenseitig beschämen. Gleichwohl sei es verpflichtend, dem Armen zu geben, aber auch die Hilfe anzunehmen, derer man bedarf. Abschließend argumentiert Samuel Holdheim (33) gegen eine scheinheilige Wohltätigkeit als Scheintugend. Durch sie werde wahre Tugend korrumpiert. Sie eigene sich die Zeichen und Verfahren des Guten an, verwende diese Zeichen aber unter falschen Absich31

Die Beiträge in der Zusammenfassung

ten. Da die scheinheilige Wohltätigkeit dem Bösen so den Anschein der Tugendhaftigkeit gibt, führe sie zur Selbsttäuschung und damit zu weiterem Fehlverhalten. Auch wenn sie aus pragmatischer Sicht als hilfreich erscheine, sei sie von einem religiösen und ethischen Standpunkt aus falsch. Sie diene nicht Gott und trüge letztlich zur Zerstörung wahrer Tugend bei.

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Zu den Autoren

Baeck, Leo (1873 Lissa – 1956 London). Nach seiner Ausbildung u.a. am Rabbinerseminar in Breslau und seiner Promotion an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin übernahm Baeck Rabbinerstellen in Oppeln (1895), Düsseldorf (1907–1912) und seit 1912 in Berlin. Ab 1913 bis zur Schließung im Juli 1942 wirkte er auch als Dozent an der Berliner Hochschule. Nach 1918 wurde Baeck zum Hauptrepräsentanten des liberalen Judentums und wirkte in mehreren Verbands-Funktionen. 1933 übernahm er die Leitung der Reichsvertretung der Deutschen Juden, die die Nationalsozialisten 1939 zur Zwangsvereinigung Reichsvereinigung der Juden in Deutschland umwandelten. Baeck und die gesamte Leitung der Reichsvereinigung wurde 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Er überlebte und zog nach London, wo er in die Leitung der Weltunion für progressives Judentum zurückkehrte. Zwischen 1948 und 1953 unterrichtete er am Hebrew Union College in Cincinnati/Ohio. Bloch, Joseph Samuel (1850 Dukla/Österreich-Ungarn – 1923 Wien). Nach wechselvoller rabbinischer und philosophischer Ausbildung und seiner Promotion in Zürich wirkte Bloch in Rendsburg, Kobylin, Brüx und zwischen 1877 und 1883 als Rabbiner in Floridsdorf/Wien. Daneben fungierte er als Abgeordneter (1883–85, 1891–95) und als Publizist und Redakteur. Wichtigstes Anliegen war ihm die Selbstbehauptung des Judentums gegenüber den antisemitischen Kampagnen der christlich-sozialen und deutschnationalen Bewegung. Besondere Bedeutung erlangte sein Kampf gegen den Theologen August Rohling (1839–1931), der schließlich im Zusammenhang des Ritualmord-Prozesses in Tisza-Eszlár wegen Falschaussagen seine Professur verlor. Cohen, Hermann (1842 Coswig  – 1918 Berlin). Talmudstudium bei seinem Va­ter, Besuch des Gymnasiums in Dessau, dann des Jüdisch-Theologischen Seminars in Bres­lau. 1861–1864 Studium der Philosophie an der Universität Breslau, 1864–1865 in Berlin. 1865 Promotion in Halle. 1873 Habilitation in Marburg. 1876–1912 Professor für Philo­sophie in Marburg. Seit 1913 Dozent an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Juden­tums in Berlin. Cohen galt als Führer des liberal-religiösen Judentums, dessen Bedeutung er in seiner Ethik sah. Er stand dem nationalen Gedanken ablehnend gegenüber und war Verfechter der Synthese von Deutschtum und Judentum. Dessauer, Moritz (1842 in Balatonfö-Kajár/Ungarn  – 1895 Meiningen). Nach seinem Studium in Vár-Palota, Stuhlweissenburg und am Jüdisch-theologischen Seminar und der Universität in Breslau (1861 bis 1868) promovierte Dessauer in Heidelberg. 1871 wurde er Prediger in Köthen und 1881 bis zu seinem Tod 1895 Rabbiner in Meiningen. Hauptwerke  : Spinoza und Hobbes  : Begründung ihrer Staats- und Religionstheorien durch ihre philosophischen Systeme (Breslau 1868)  ; Humanität und Judenthum (Leipzig 1885). 33

Zu den Autoren

Ehrentheil, Moritz, (1825 Szilägy-Nagyfalu  – 1894 Budapest). Ungarischer Pädagoge und Publizist. Zwölf Jahre lang als Sekretär der orthodoxen Landeskanzlei in Pest tätig  ; als Gegner derselben ausgeschieden. Veröffentlichungen zu sprachwissenschaftlichen The­ men und zum Judentum. Herausgeber von Die jüdische Volksschule und Das tra­ditionelle Judentum. Friedländer, Alexander (1819 Brilon  ; 1858 [Atlantik-Überfahrt]). Nach dem Jura-Studium in Bonn (1837–1839) und Heidelberg (1839–1841) und der Promotion (Heidelberg) arbeitete Friedländer nur kurz am Stadtgericht in Brilon, bevor er sich 1842 an der Universität Heidelberg habilitierte und als Privatdozent arbeiten konnte. 1849 wurde er wegen verschiedener Protestaktionen und Aufrufe während der Revolution 1848/1849 entlassen, 1850 verhaftet und zu mehrjähriger Haft verurteilt. Unter der Bedingung, nach Amerika auszuwandern, wurde er begnadigt. Friedländer kam bei einem Schiffsbrand während der Atlantiküberquerung ums Leben. Fürst, Julius (1805 Zerkowo/Preußen – 1873 Leipzig). Fürst studierte in Berlin und Breslau, danach in Halle, wo er 1832 promoviert wurde. Er ließ sich in Leipzig als Privatgelehrter nieder und arbeitete journalistisch und als Universitätsdozent. Zum 25. Jahrestag seiner Dozentur wurde er 1864 zum ersten jüdischen Professor ernannt. Fürst leitete bis zu seinem Tod die Abteilung für Orientalische Sprachen und Literatur und wurde Mitglied in verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften. Schwerpunkt der Arbeit von Fürst waren Wörterbücher und bibliographische Werke im Bereich der Orientalistik. Fürst wirkte als Herausgeber der Zeitschrift Der Orient. Berichte, Studien und Kritiken für jüdische Geschichte und Literatur (1840–1851), in der er auch zahlreiche eigene Forschungsergebnisse zu den kulturellen, historischen und linguistischen Wurzeln des Judentums veröffentlichte. Grünebaum, Elias (1807 Reipoltskirchen/Pfalz – 1893 Landau). Nach dem Talmudstudium in Mainz und Mannheim (1823–1826) ab 1827 Vorbereitung auf das Universitätsstudium am Gymnasium in Frankfurt/Main. Nach dem Studium in Bonn (1831) und München (1832) und der Rabbinatsprüfung in Bayreuth (1834) wurde er Rabbiner in Birkenfeld (1835), kurz darauf bereits in Landau. Grünebaum, der u.a. wegen Auseinandersetzungen mit einem Synagogenvorstand öfter erwog nach Amerika auszuwandern, entwickelte sich zu einem der profiliertesten Vertreter des Reformjudentums. Hauptsächlich aufgrund seiner publizistischen Intervention wurde der ‚Judeneid‘ in Bayern schließlich abgeschafft (1862). In Anerkennung seiner Leistungen im Bereich des jüdischen Schulwesens erhält er einen bayerischen Orden. Hauptwerk  : Die Sittenlehre des Judenthums anderen Bekenntnissen gegenüber (1867 und 1878, vgl. Grünebaum 2010). Hirsch, Samson Raphael (1808 Hamburg – 1888 Frankfurt am Main). Nach dem Talmudunterricht durch Großvater und Vater studierte Hirsch klassische Sprachen, Geschichte und Philosophie an der Universität Bonn (1829). Er wirkte zunächst als Rabbiner in Oldenburg, Aurich und Emden und zwischen 1847 und 1851 als Oberlandesrabbiner in 34

Zu den Autoren

Nikolsburg (Mähren). 1851 folgte Hirsch einem Ruf als Rabbiner der orthodoxen Frank­ furter „Austrittsgemeinde“, ein Amt, das er bis zu seinem Tod ausfüllte. 1853 gründete und leitete er die Realschule der Israelitischen Reformgesellschaft. Hirsch entwickelte sich zum markanten Hauptvertreter der deutschen Orthodoxie, nicht zuletzt durch seine Hauptwerke Neunzehn Briefe über Judenthum (1836) und Choreb, oder Versuche über Jissroels Pflichten in der Zerstreuung (1837). Holdheim, Samuel (1806 Kempen – 1860 Berlin). Talmudstudium in Kempen, Kurnik und in Böhmen. Nach autodidaktischen Studien der weltlichen Wissenschaften 1833 Studium der Philosophie als Gasthörer an der Universität Prag, später Berlin. 1836 Rabbi­ ner in Frankfurt an der Oder. 1839 Promotion in Leipzig. 1840 Ernennung zum Landes­ rabbiner von Mecklenburg-Schwerin. Ab 1847 Prediger der Reformgemeinde in Berlin. Kayserling, Moritz Meyer (1829 Hannover – 1905 Budapest). Besuch des Gymna­siums in Hannover. Talmudisch-rabbinische Studien in Halberstadt, Mikulov, Prag und Würzburg. 1851 Studium an der Universität Würzburg, 1852 an der Universität Berlin. 1856 Promotion in Leipzig. Ab 1861 Rabbiner der Schweiz mit Sitz in Lengnau. Schwieger­sohn von Ludwig Philippson, Teilnehmer an dessen liberaler Kasseler Rabbiner-Versamm­lung. Ab September 1870 Rabbiner und deutscher Prediger in Budapest. Schrieb zahlrei­che historische, philosophische und exegetische Werke. Lesser, Hirsch (1814–1862 Preußisch Stargard). Talmudschüler und Autodidakt. Lesser war zunächst Lehrer in Greifenberg/Stettin, ab 1844 für 10 Jahre Lehrer, Rabbinatskandidat und Rabbinatsrichter in Kolberg/Pommern, ab 1853 Rabbiner in Preuß. Stargard. Neben intensiver Gemeindearbeit publizistische Arbeiten in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums und in Ha-Maggid. Luzzatto, Samuel David (1800 Triest – 1865 Padua). Mitglied der Familie Luzzatto, die eine Reihe von Gelehrten hervorbrachte. Als (hochbegabter) Sohn eines Handwerkers erwarb sich Luzzatto ein umfangreiches Wissen zu Talmud, Bibel und zum Hebräischen als Autodidakt. Seit 1821 arbeitete er als Privatlehrer und erhielt 1829 die Berufung als Dozent für Theologie und Bibelkunde, hebräische Grammatik sowie jüdische Geschichte am Collegio Rabbinico Italiano in Padua, wo er bis zu seinem Tod wirkte. Schwerpunkt seiner Arbeit war die mittelalterliche jüdische Poesie. Darüber hinaus hatte er großen Anteil daran, das Hebräische als wissenschaftliche Sprache zu etablieren. Er veröffentlichte seine Autobiographie in Fortsetzungen in Ha-Maggid (1858–1862). Philippson, Ludwig (1811 Dessau –1889 Bonn). Nach dem Studium des Hebräischen und der klassischer Literatur in Dessau, Halle und Berlin (1829–33) wurde er Prediger und Religionslehrer in Madgeburg. 1834 begann Philippson mit der Herausgabe verschiedener Zeitschriften. 1837 wurde er zum Begründer der Allgemeinen Zeitung des Judenthums (AZJ, 1837–1922), als deren Herausgeber er erheblichen Einfluss auf die überregionale Zusammenarbeit der deutschsprachigen Rabbiner nahm. U.a. gehörte er zu den Initiatoren der 35

Zu den Autoren

Rab­bi­ner­konferenzen in Braunschweig (1844), Frankfurt/Main (1845) and Breslau (1846). Zwischen 1839 und 1853 publizierte Philippson eine Bibelübersetzung, die weite Verbreitung fand. 1854 gründete er (mit anderen) das Institut zur Förderung der Israelitischen Literatur (bis 1873). Aufgrund einer fortschreitenden Augenerkrankung gab Philippson 1862 seine Magdeburger Stelle auf und zog nach Bonn, wo er weiterhin wissenschaftlich arbeitete. Saalschütz, Joseph Levin (1801 Königsberg – 1863 Königsberg). Nach der wissenschaftlichen Ausbildung am Gymnasium und der Universität in Königsberg wurde Saalschütz promovirt (1824). Mehrere Jahre wirkte er an der israelitischen Gemeindeschule zu Berlin und folgte dann einem Ruf als Prediger und Religionslehrer nach Wien. 1835 trat er als Religionslehrer in den Dienst der israelitischen Gemeinde in Königsberg. Er entwickelte sich gleichzeitig zum führenden Fachwissenschaftler in hebräischer Archäologie (1847 Habilitation). Bis zu seinem Tod wirkte er als Privatdozent in Königsberg und hinterließ ein umfangreiches wissenschaftliches Werk. Stern, Sigismund (1812 Karge –1867 Frankfurt am Main). Nach Talmudstudium 1831 Abitur an einem Berliner Gymnasium. Immatrikulation an der Universität Berlin. Stu­dium bei Hegel, Schelling und Schleiermacher. Promotion (1834) in Halle. Leitung der Berliner Höheren Schul- und Pen­sionsanstalt für Knaben. 1844 als Vertreter des Berliner Reformkreises auf der Rabbiner­versammlung in Frankfurt am Main. Präsident der Reformgemeinde in Berlin. 1855 Ruf als Direktor der Realschule der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Mitglied an der allgemeinen deutschen Lehrerversammlung. Vogelstein, Heinemann (1841 Lage/Lippe  – 1911 [St. Moritz]) Nach dem Studium am Jüdisch-Theologischen Seminar und der Universität Breslau und seiner Promotion (1865) wurde Vogelstein Rabbiner in Pilsen (1868–1880) und Stettin (1880 bis zu seinem Tod). Er gründete und leitete die Vereinigung der liberalen Rabbiner und fungierte als stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung für das Liberale Judentum in Deutschland. Er bekämpfte den Zionismus, soweit er als jüdischer Nationalismus auftrat, u.a. in seiner Schrift Der Zionismus, eine Gefahr für die gedeihliche Entwickelung des Judentums (1906). Eine Ansiedlung von Juden in Palästina befürwortete er jedoch als Möglichkeit, der Not in Europa zu entkommen. Weinstein, Nachman Izaak u.a. Rabbiner in Jamnitz (1893–1895).

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Editorische Notiz

Soweit möglich, sind alle Angaben der biblischen Fundstellen nach den Loccumer Richt­ linien zur rabbinischen Literatur  – vgl. die Frankfurter Judaistischen Beiträge 2 (1974)  – vereinheitlicht worden. Im Hinblick auf die hebräischen Zitate selbst oder auf Übersetzungen hebräischer Fundstellen wiesen die Originalbeiträge uneinheitliche oder ungenaue Zitierweisen und Quellenangaben auf. Gelegentlich kürzten die Autoren auch ihre Zitate zur Verdeut­lichung des Gemeinten. Die Herausgeber haben vor diesem Hintergrund eine weitest gehende Vereinheitlichung und Nachvollziehbarkeit angestrebt. Heutige Maßstäbe der Zitation konnten freilich nicht immer erreicht werden. Setzfehler im Hebräischen wur­den stillschweigend korrigiert. Dem Band sind ein Zitatindex und ein Sach- und Personenindex beigefügt worden. Die dortigen Seitenangaben beziehen sich auf die vorliegende Ausgabe. Zusätzlich wurde in allen Beiträgen die Originalpaginierung (in | |) kenntlich gemacht. Anmerkungen der Herausgeber zu den Beiträgen wurden in [ ] gesetzt. Die Überschriften zu den einzelnen Beiträgen, die die jeweiligen thematischen Schwerpunkte kennzeichnen und eine schnelle Orientierung ermöglichen sollen, stam­men von den Herausgebern. Mit Ausnahme der Großschreibung unbestimmter, bzw. unpersönlicher Pronomina (Jeder, Alles, Eines etc.) wurde die Rechtschreibung der deutschsprachigen Beiträge in behutsamer Weise vereinheitlicht und modernisiert. Die Herausgeber bedanken sich sehr herzlich bei Frau Annette Sommer, Herrn Daniel Lewin, Herrn Corvin Rabenstein und bei Herrn Felix Kronau für ihre umsichtige und sorgfältige Mitarbeit bei der Entstehung des vorliegenden Bandes. Insbesondere sind wir der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel, zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre großzügige Unterstützung bei der Drucklegung wäre die Publikation des vorliegenden Bandes nicht möglich gewesen.

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TEXTE I. GOTTESLIEBE UND MENSCHENLIEBE

1. Ludwig Philippson, Gotteserkenntnis und die Pflicht zum Handeln (1845)1

|245| Andächtige Gottesgemeinde  ! ‫לא המדרש עיקר אלא המעשה‬ Nicht das Wissen, nicht das Aussprechen, nicht die Erklärung ist die Hauptsache, sondern die Tat, das Ins-Werk-Setzen, die Ausführung  ! Dieser alte Ausspruch unserer Weisen war – und sollte immerfort sein – ein Grundzug unserer Religion. Wort und Werk, wie oft widersprechen sich die, Schein und Sein  ! Meine Freunde  ! Es war sicherlich noch keine Zeit, wo so viel über Religion gesprochen und gestritten wurde, wie die unsere. Ob unsere Zeit aber wirklich eine religiöse sei, eine echt-religiöse in Gefühls-, Denk- und Handlungsweise, das ist wenigstens fraglich, zweifelhaft. Das Wort, meine Freunde, drückt jetzt die Tat zu Tode. Sobald etwas geschehen soll, etwas Tüchtiges, etwas Entscheidendes und Durchgreifendes, so wird zuvor so viel dar­ über gesprochen, gestritten, erwogen, verhandelt, debattiert, diskutiert  – bis das Feuer der Begeisterung erloschen, bis der keusche Gedanke entheiligt, die Gefühlswelt, aus deren Schoß |246| unmittelbar die Idee sich erhob, abgekühlt worden ist. Wenn endlich das Wort zu Ende ist, siehe  ! so hat das ganze Werk auch ein Ende. Der bewegliche Geist will wieder eine andere Nahrung, einen andern Gegenstand seiner Tätigkeit. Gerade dem entgegen, meine Freunde, ist das Judentum, dem das völlige Gegenspiel. Tut mehr und redet weniger, ruft es uns zu, nutzt nicht ab durch das Wort, sondern nützt durch die Tat. Die Religion soll nicht bestehen im bloßen Wort, sondern sie soll sich tatkräftig herausstellen in das Licht der Welt, und zeigen  : das ist mein Erfolg  ! Hierauf, geliebte Zuhörer, wollte ich Euch heute aufmerksam machen, dies wollte ich Euch heute vor die Seele führen  : dass die Religion Israel’s eine Religion der Tat ist, nicht aber des bloßen Wortes. Dies ist es, was uns einer der größten Geisteshelden Israel’s, Samuel, zuruft in der heutigen Haftara2  : „Hat der Ewige Gefallen an Ganz- und Schlachtopfern wie an Gehorsam gegen die Stimme des Ewigen  ? Siehe  ! Gehorsam ist besser denn Opfer, Aufmerken denn der Widder Fett  ! Denn Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit, Verbrechen der Abgötterei ist Widerstand. Weil du verworfen das Wort des Ewigen, so hat er dich als König verworfen.“ Dies ist es auch, was Mordechai der Esther in dem Buche, welches wir heute Abend zum Feste verlesen, antwortet, da sie sich fürchtet, zum König zu gehen, die Rettung der Juden zu erflehen3  : 1 [Ludwig Philippson, Die That. Eine Paraschat Sachor-Predigt. In  : Ludwig Philippson, Siloah. Eine Auswahl von Predigten. Zur Erbauung, so wie insonders zum Vorlesen in Synagogen, die des Redners ermangeln. Zweite Sammlung. Leipzig  : Baumgärtner 1845, 245–253] 2 1 Sam 15,22.23 3 Est 4,14

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I. Gottesliebe und Menschenliebe

„Wolltest du stille sitzen in dieser Zeit, so würde Hilfe und Rettung für die Juden ent­ stehen von einem andern Orte her  : du aber |247| und deines Vaters Haus ihr würdet um­ kommen.“ Ja, die Tat, Israeliten, die Tat verlangt Eure Religion Euch ab zu aller Zeit  : die Tat, und nicht das Wort  ! O, Herr, so begeistere mein Wort, dass es uns alle zu Taten entzünde, Taten, wie sie Dir sind wohlgefällige Opfer – Amen  ! *** Die Religion Israel’s hatte zu ihrem ersten und obersten Zwecke  : die Erkenntnis des Einigen Gottes, und die Anbetung desselben im Geiste. Und hierin bewährte sie sich zuerst als eine Religion der Tat. Sie zerschlug alle Götzenbilder, welchen Namens sie auch waren, sie zerstörte alle Götzenaltäre, Götzenhaine, Höhen. Dem einigen Gotte richtete sie einen einzigen Altar in einem einzigen Tempel auf, und alle anderen vernichtete sie. Ja, sie verbot selbst den Namen der Götzen zu nennen, sie verbot auch Nichtisraeliten, Götzenbilder zu verfertigen, sie gebot, das Gold und Silber der erbeuteten Götzen zu vernichten. Ja, bis auf die Wurzel rottete sie den Afterglauben aus  ; sie verbot bei Strafe der Ausrottung jede Art der Zauberei sowohl zu betreiben, als auch seine Zu­flucht dazu zu nehmen  – alles, alles, was der reinen Erkenntnis eines einzigen Gottes, dem reinen Vertrauen auf einen einzigen Gott, und der reinen Anbetung desselben im Geist, ohne Bild und ohne Zeichen, entgegenstände, verurteilte sie. Daher war auch in Israel niemals ein Schwanken darüber, niemals ein Deuteln und Zweideuteln. Fest und sicher stand in ihm das Panier des einzigen, geistigen Gottes aufgerichtet. Wie  ? Sind andere Religionen auch solche der Tat in die­sem Bezug, oder bloß des Wortes  ? Sie wollen auch nur einen einzigen Gott anbeten, aber tun sie es in der Tat  ? Wie dreht man das Wort, wie stellt man es, selbst in Bekennt- |248| nissen der sogenannten Aufgeklärten, selbst in Bekenntnissen von Gemeinden, die sich jetzt erst bilden, auf Schrauben, und am Ende ist es doch keine einzige Gottheit, die man in Wirklichkeit anbetet, und am Ende hat man immer seine Zuflucht zu äußeren Zeichen und Bildern genommen, die man als, und unter denen man Göttliches verehrt. So ist es das Judentum allein, welches strikt und unbedingt, in der Tat den einzigen Gott und im Geiste nur erkennt und anbetet, andere nur dem Worte nach. Das Judentum hatte zu seiner zweiten Aufgabe  : die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott her­zustellen und eng und fest zu machen. Auch hier bewährte es sich als die Religion der Tat, nicht des Wortes. Um den Menschen mit Gott zu verbinden, hat sie nicht etwa ein drittes Glied dazwischen geschoben – denn ein drittes zwischen Mensch und Gott, eine Vermittlung, ist nur eine Verbindung dem Worte nach, in der Tat trennt es gerade den Menschen von Gott. Was tat das Judentum  ? Zuerst die Verbin­dung zwischen dem arbeitenden Menschen und Gott – durch den Sabbat, durch den Ruhetag, daran sich der Mensch aller Arbeit enthalten soll, um Raum zu gewinnen für seinen Geist, Raum zu gewinnen für die Erhebung des Geistes zu Gott, für Andacht und Gottesdienst, dass er sich da fühle als ein höheres Wesen, das nicht bloß für den Bissen Brot im Schweiß des Angesichts sich zu mühen habe, als totes Werkzeug und Ma­schine, sondern auch ei42

1. Ludwig Philippson, Gotteserkenntnis und die Pflicht zum Handeln (1845)

nem höheren Kreis, dem geistigen, dem göttlichen angehöre. Aber es sollte auch nicht ein Scheinsabbat sein, den jeder feiere und verletze nach seinem Belieben, sondern gar wirklich und bestimmt, in der Tat ein Aufhören aller weltlichen Beschäftigung. – Dann die Verbindung zwischen dem sündhaften Menschen und Gott – durch einen Tag der Buße, der Herzensdemütigung, der Reinigung, einen Tag der Versöhnung  ! Freilich nicht der Tag an sich, freilich nicht das |249| Fasten und Beten an diesem Tage an sich. Sondern hingestellt als ein Wahrzeichen mitten in das Leben des Menschen  : Halt’ ein, sinne nach, und kehre zurück  ! Als ein lauter Zuruf, als ein Anhaltpunkt und Stillstand im Jahre – aber dann wieder nicht bloß ein Bußtag im Kalender, nicht bloß dem Worte und Namen nach ein Bußtag, sondern ein Tag völliger Zurückgezogenheit aus der Welt, völliger Enthaltung von allem Irdischen, gänzlicher Hingebung an seine Bestimmung, also ein Tag der Buße, Demütigung, Rückkehr, Versöhnung in der Tat. Meine Freunde  ! Aus dem Verhältnis des Menschen zu Gott habe ich so nur die zwei wesentlichen Punkte, die Erkenntnis des Einzigen und die Verbindung mit ihm herausgehoben, um Euch an ihnen zu zeigen, wie das Judentum überall nur die Tat, die Wirklichkeit, ‫ המעשה‬wollte, auf das Wort allein aber keinen Wert legte. Würde der Raum es gestatten, wie könnte ich es bis ins Einzelnste verfolgen  ? Brauche ich Euch doch nur an den Bund Israel’s zu erinnern, geknüpft an ein wirkliches Zeichen, wie Gott als der Helfer und Befreier aus Knechtschaft und Sklaverei im Pessach so tatsächlich, als Geber alles Guten im Schawuot und Sukkot, als Richter der Welt im Rosch ha-Schana so tatkräftig verehrt wird, wie Reinheit und Reini­gung, Mäßigkeit und Enthaltsamkeit in so vielen Gesetzen wesentlich und tatsächlich erlernt und geübt werden soll. – Ja, die Religion Israel’s wollte kein Augenverdrehen und keine künstlichen Worte und keine heuchlerische Empfindelei.  – Überall legte sie ihrem Bekenner vor ein Entweder-Oder, überall wollte sie von ihren Jüngern eine Tat haben. Sie sprach  : Nicht mit Worten sollst du mir meine Lehren bezahlen, meine Erkenntnisse bekräftigen, sondern durch Tat und Werk  ! Dieweil durch diese ein gänzliches Durchdrungensein, ein wirkliches Ergriffensein, eine wirkliche Vergöttlichung bewirkt wird. Es ist Sein, aber kein Schein  ! Seht, darum ist ihr Gehorsam lieber als Opfer, Aufmerken |250| angenehmer denn Widderfett. Sitze nicht still zu dieser Zeit – du möchtest von dannen kommen  ! *** Wer wüßte aber, meine Freunde, von Euch nicht, dass die Religion Israel’s nicht bloß Gott dem Menschen näher gebracht, dass sie auch den Menschen dem Menschen genähert hat. Und das ist gerade eine der herrlichsten Partien des Judentums  : das Verhältnis des Menschen zum Menschen. Ihr wisst es, die Religion Israel’s sprach es aus  : Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst  !  – Das war ihr Wort. Und dieses Wort hat man ihr nachgeahmt und hat es mit vielen andern Worten verbrämt, mit vielen schönen Worten, mit vielen lieben Sprüchen. O man schwelgte in den Gefühlen der Liebe, des Friedens – aber wo blieb die Tat  ? Wir Juden sind dafür die rechten Zeugen  : Wo blieb die Tat  ? Waren Krieg, Mord, Verfolgung, Schmähung, Unterdrückung die Tat jenes Wortes  ? Sklaverei, Knechtschaft, Leibeigenschaft, Ausschließung, Ungleichheit des Gesetzes und Rechtes, Unbarmherzigkeit, die 43

I. Gottesliebe und Menschenliebe

blieben mitten in diesem Worte bestehen und forderten Billionen von Opfern neben dem Spruch der Nächstenliebe, und nur die volle Gewalt der Jahrhunderte konnte Erleichterung erzwingen. Nicht so das Judentum  ! Das hat aus dem Wort die Tat gemacht, Israel’s Religion war die Religion der Tat, des Werkes  ! Das will ich Euch erweisen. Ich will, meine Freunde, heute übergehen, worüber ich in meiner vorigen Ansprache an Euch mich ausgesprochen  : die Gleichheit aller Menschen in Israel. Ich will heute die schönste, die edelste Seite der Nächstenliebe hervorheben, worin das Wort in Israel ganz Tat geworden  – die jüdische Wohltätigkeit. Ich will es Euch ein wenig sagen, was diese eigentlich nach unseren Gesetzbüchern und nach unseren Gebräuchen ist. |251| Die jüdische Wohltätigkeit trennt sich in ‫ צדקה‬und ‫גמילות חסדים‬. ‫ צדקה‬ist die Hilfe, die wir dem Dürftigen verleihen. Da ist es Gesetz in Israel  : Du sollst, wenn du ein Gewerbe beginnst, den fünften Teil deines Vermögens, und dann den zehnten Teil deines Einkommens für die Bedürftigen verwenden. Und wie dies  ? 1) ‫לפדיון שבוים‬, zur Auslösung von Gefangenen, solchen nämlich, welche nicht durch eigenes Verbrechen, sondern durch Gewalt und trübselige Umstände Gefangene geworden, deren ehemals aus Israel so viele  ; 2) ‫להכנסת כלה‬, zur Ausstattung armer Bräute  ; 3) ‫לפרנסת יתומים‬, zur Ernährung und Erziehung von Waisen, weil, wie es heißt, sie klein sind und schwach und auf Erden keinen Vater haben, der sich ihrer erbarmt  ; 4) ‫להכנסת אורחים‬, zur Aufnahme von armen Reisenden, freilich nicht solcher, die ein Gewerbe machen vom Betteln von Tür zu Tür. Denen, heißt es ausdrücklich, sollst du nur wenig geben, aber Flüchtigen, Vertriebenen, Kranken oder um eines bestimmten Zweckes willen zur Reise Gezwungenen, denen soll Speise und Nachtlager erteilt werden zur Genüge  ; 5) ‫לפרנסת עניים‬, zur Ernährung der Armen, worüber sehr weitläufige Vorschriften gegeben worden, namentlich wie man jedem, und wie man mit freundlichem Herzen und tröstendem Worte geben soll, und weshalb in jeder Gemeinde eine ‫ קופה‬Armenbüchse, und ein Tamchui oder große Schüssel, eingerichtet sein sollte, jene zu Geld, diese zu Nahrungsmitteln für die Bedürftigen. Dies, meine Freunde, sind die großen Pflichten, welche das Gesetz des Judentums uns auferlegt, und wodurch die Wohltätigkeit in Israel nicht bloß ein Wort, sondern eine große, gewichtige Tat werden sollte. |252| Der zweite Zweig der jüdischen Wohltätigkeit ist die ‫גמילות חסדים‬. Worin besteht diese  ? 1) in ‫ שמחת חתנים‬der Erfreuung von Brautleuten durch Geschenke, Ehren und Bedienen, durch Belobung der Braut und fröhliche Teilnahme, denn wie bei vielen ist der Hochzeitstag der einzige hohe Freudentag im Leben  ! 2) in ‫ ביקור חולים‬Besuch der Kranken, sobald es diese nicht etwa belästigt, und Gebet für dieselben. Der Vornehme soll dies dem Geringen, der Große dem Kleinen nicht minder leisten. 3) ‫הלויות למתים‬, Totenbestattung, da es als ein höchst Verdienstliches erhoben wird, an der Reinigung und Bekleidung, an der Bestattung und Beerdigung der Leichen, natürlich ganz ohne Löhnung, teilzunehmen. 44

1. Ludwig Philippson, Gotteserkenntnis und die Pflicht zum Handeln (1845)

4) ‫נחום אבלים‬, Tröstung der Leidtragenden und Trauern­den in Hinweisung auf die Liebe und Gnade Gottes, in der dessen Beschlüsse allesamt gefasst werden. O, meine Freunde, alle diese Pflichten legt uns unser Judentum auf, ihre Ausübung nach dem Maß unserer Kräfte und unseres Vermögens ans Herz. Niemand ist davon ausgenommen, jedermann berufen. Und seht, das ist Tat  ! Das ist Werk und Wirklichkeit, nicht bloß Wort und süße Empfindung, sondern kräftige Tat. Soll doch, nach unseren Weisen selbst der Arme, der von Almosen lebt, wieder etwas davon als Almosen abgeben  ! Nun geht hin, und fragt. Fragt zuerst Eure Erinnerung und Eure Vordern – ob dies in den Gemeinden Israel’s nicht von jeher Wirklichkeit gewesen, ob nicht diese ‫ צדקה‬und diese '‫ גמ' חסד‬wirklich stets ausgeübt worden ist – wie hätte sonst Israel auch bestehen können  ? Und dann fragt weiter  ; wie steht’s hiermit in andern Kreisen  ? Ist es nicht erst die Anstrengung unserer Zeit, was so seit Jahr­tausenden in Israel heimisch ist  ? Und wie weit steht man noch zurück  ! Ja, man sagt es, brich dein Brot dem Armen, kleide |253| den Nackenden, erquicke den Dürftigen, nimm dich an der Waisen. Aber in Israel tat man es, tat man es zu aller Zeit. Es war der Gehorsam, den Israel von seinen Bekennern verlangte, das Nicht-Stille-Sitzen, dass man nicht von dannen käme  ! Aber, meine Freunde, das Gemälde, welches ich Euch vor­geführt habe, ist auch zugleich ein Spiegel für Euch selbst  ! Wie  ? Ist Israel diesem Charakter seiner Religion treu geblieben  ? Ist die Religion Israel’s noch Tat, oder schwächt sie sich im­mer mehr ab, erbleicht sie immer mehr zum bloßen Wort  ? Ist es nicht die Tat des Sabbats, die Tat der Feste, die Tat der Gesetze, die immer weniger in Ausübung gesetzt wird  ? Ist es nicht die Tat der ‫צדקה‬, die Tat der '‫גמיל' חסד‬, die immer weniger Träger und Werkführer findet  ? Es ist Stillesitzen alle Wege, und wo sich jemand erhebt, so ist es zum Worte, aber nicht zur Tat, der er sein Leben widmet. Und doch haben wir uns davor am meisten zu hüten, denn würde erst auch die Religion Israel’s aus der Tat ganz zum Worte geworden sein, so hätte es seine uralte Lebenskraft verloren in­mitten der wirren Erscheinungen der Menschheit. Wir brauchen Kraft, Werk, Tat, die Gott lieb sind. So lasst uns unser Herz stählen, unseren Arm stärken, unseren Fuß beschleunigen, dass wir Taten vollbringen, die uns das Heil erringen – Amen  !

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2. Leo Baeck, Gottebenbildlichkeit und Menschenliebe (1913)4

|9| Alle unsere Gewissheit des Lebens und damit auch unsere beste Freude an ihm hängt davon ab, dass es für uns einen Sinn gewinnt, der über die Alltagskreise hinausgeht. Erst wenn wir ihn ergriffen haben, wird unser Dasein ein ganzes, erst dann ist es ein Menschenleben und nicht bloß eine Reihenfolge von Tagen, und es wird wie zu einem Gebote  : Du sollst leben. Die Offenbarung, die Israel zuteil geworden ist, kommt denn auch in diesem einen zusammen, dass die Bedeutung des Lebens erschlossen wurde. Der „Bund“ zwischen Gott und den Menschen wurde erfasst, und er gab den Sinn, in welchem sich Tag an Tag und Anfang und Ende zusammenfügten, so dass das Dasein ein ganzes und eines wird – von Gott und bei Gott. Damit ist das Menschenleben erst geschaffen worden. Der Fragen des Daseins waren jetzt um so mehr, je mehr das Dasein bedeuten konnte. Die Männer, die wir die Gottesmänner nennen, unsere Propheten, haben die Antworten darauf gegeben, das Gesetz, in dem sich alles formte und bestimmte. Sie sind Bildner und Gestalter des Menschenlebens geworden. An den Ideen, die sie ins Dasein führten, hat sich dann jenes Wort vom Segen des Erschaffens bewährt  : „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde  !“ Von ihnen sind Ge­schlechter von Gedanken ausgegangen. Sie haben die Welt des Lebens weit und reich gemacht. Kraft von Israels Kraft wirkt fort und fort im Besten vom Gut der Menschheit. Eine Idee zeugt heute ganz besonders hiervon, da sie von Israel in die Welt gezogen und in der Gegenwart siegreich weitergedrungen ist  : die Idee vom Menschen. Sie steht da als eine der ersten und einleitenden unter denen, die dem Leben sein Gebiet geben, und es könnte scheinen, als hätte |10| sie früher als jede andere aus dem Nachdenken hervortreten müssen. Aber das Einfache und Ursprüngliche eröffnet sich nicht immer zuerst. Vorstellungen vom Volk und seinen Aufgaben, von Staats- und Standesehre waren vielerorts erfasst und gestaltet worden, als dort das Menschenrecht und die Menschenwürde noch ungekannt waren. Diese zu schaffen, war das größere Werk. Der griechischen Philosophie war es gelungen, sich mit ihren Begriffen dem Menschen zu nähern. Sie war, nachdem sie lange nur die Natur durchforscht hatte, schließlich zu ihm gekommen. Nun lernte sie ihn in seinem Gegensatz zur Welt, in seinem eigenen Dasein kennen, das verstehen, was ihm gehört und seine Gabe ist. Die menschliche Individualität gewann ihr Selbstbewusstsein und ihre Forderung der Frei­heit, sie erhielt auch ihre Selbstbesinnung und den Wunsch nach der Selbstvervollkommnung, in der das Glück gewährt sei. Aber dieses Selbst, dieses bloße Ich bezeichnet hier alles oder zum mindesten das Wesentlichste, es ist hier Ziel und Schranke. Der Mensch steht in seiner Besonderheit da, aber nur in ihr  ; Menschenrecht ist bloß das Eigenrecht der Persönlichkeit, sie gilt für sich oft bis dahin, dass nur der Starke oder der Kluge recht haben soll. Der Mitmensch wird noch nicht entdeckt, er bleibt im Gewissenlosen des Unbegriffenen. Ihn hatte allein 4 [Leo Baeck, Die Schöpfung des Mitmenschen (1913). In  : Soziale Ethik im Judentum. Herausgegeben vom Verband der deutschen Juden. 5. Auflage. Frankfurt am Main  : Kauffmann 1918, 9–15]

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2. Leo Baeck, Gottebenbildlichkeit und Menschenliebe (1913)

der israelitische Genius erkannt, lange bevor die Philosophie des griechischen Volks ihren Weg begonnen hatte. Dem israelitischen Denken, wie es die Propheten geformt haben, ist es eigen, dass es den Sinn von allem in der Einheit sucht. Es bezieht darum alles Vergängliche auf das Blei­ bende, jedes Irdische auf das Ewige. Das Wort Spinozas, dass alles nur sub specie aeternitatis, „unter der Form der Ewig­keit“, erfasst werden könne, ist im Grunde ein echt jüdisches Wort. Schon die Propheten haben es gelehrt  : Erst der Ge­danke an den einen Gott erschließt die Bedeutung von allem. Die Welt versteht nur der, der es weiß, dass sie des Ewigen |11| ist, sein Werk und seine Welt. Der Mensch wird begriffen, nur wenn er als der Mensch Gottes oder, wie das alte bi­blische Gleichnis es sagt, als das Kind Gottes, als das Eben­bild des Ewigen erkannt ist. Das erst gibt ihm seinen Platz und seine Aufgabe, das allein bestimmt ihn als Menschen. Der einzige Gott lehrt, wie die Einheit der Welt, so die Ein­heit des Menschenlebens erfassen. Der Grundsatz des Menschentums, sein Wesen ist so gewonnen. Die Gottesebenbildlichkeit ist das, was jedem zukommt, jedem sein Gepräge gibt, mir nicht mehr, aber auch nicht weniger als irgendeinem andern. Wir gehören alle zu Gott, wir sind alle dieselben. Im Wichtigsten und Entscheidenden sind wir gleich, alle ohne Unterschied, in jedem Menschen ist das Größte. Über die Grenzen, welche die Völker und die Rassen, die Stände und die Kasten, die Kräfte und Gaben ab­stecken wollen, geht die Einheit und geht die Hoheit des Menschlichen. Wer immer ein anderer ist, mag er fern oder fremd oder auch feindlich zu mir stehen, er gehört zu mir, als Wesen von meinem Wesen, mit mir von Gottes wegen verbunden. Er ist, wie das biblische Gleichniswort, das alles enthält, es besagt, mein „Bruder“, mein „Nächster“. Ich kann an mein Leben glauben, nur wenn ich an das seine glaube. Nur wenn ich vor ihm Ehrfurcht hege, habe ich die Ehr­furcht vor dem, was das Beste, das Menschlichste in mir ist. Damit ist erst der Mitmensch geschaffen und somit erst das ganze Menschenleben  : Ich und der andere als ein Un­trennbares, als sittliche Einheit. Seinen klassischen Ausdruck hat das in dem Satze der Tora gefunden, der gewöhnlich übersetzt wird  : „Liebe deinen Näch­sten wie dich.“ In der ganzen Treue des Sinns und dem eigentlichen Gehalt des Wortes sagt er  : „Liebe deinen Näch­sten, er ist wie du.“ Auf diesem „wie du“ liegt der ganze Nachdruck. Darin ist jene Einheit alles Menschlichen aus­ gesprochen, die den Sinn des Erdenlebens erschließt und die weit mehr bedeutet als das unbestimmte Wort von der Liebe. |12| Der soziale Gedanke von dem einen Menschengeschlecht und dem einen Menschenrecht und nicht bloß das verfliegende Gefühl hat diesen Satz gebildet. In dem starken Empfinden dafür, wie von dieser Idee hier alles abhängt, hat einer der großen Lehrer aus dem Ge­schlecht nach der Zerstörung des Tempels, Simon ben Asai, die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit noch vor jenen Satz von der Nächstenliebe gestellt. Ben Asai sagt  : „Liebe deinen Nächsten wie dich  ! das ist ein großes Wort, aber größer noch ist das andere  : ,dies ist die Geschichte des Menschen  : als Gott den Menschen schuf, machte er ihn in seinem Eben­bilde‘  – der Satz trägt die ganze Tora.“ Die Überzeugung von der Einheit alles Beseelten, dieser Gedanke vom Nebenmenschen, ist in der Tat der feste Grund der Tora, der Religion, die ihre Forderung stellt. Er gibt erst der Nächsten­liebe ihre soziale Bestimmtheit, nur er verhütet es, dass sie in die bloße gerührte Empfindsamkeit zerfließe. 47

I. Gottesliebe und Menschenliebe

Aber die soziale Idee wiederum gewinnt ihre ganze Sicher­heit und ihre Weite nur durch diesen religiösen Grund, den das Judentum ihr gegeben hat. Er lässt kein Beengen und kein Mäkeln und Deuteln zu. Nicht unser Wohlwollen oder unsere Bereitwilligkeit schenkt es jetzt dem andern, dass er unser Mitmensch ist, und nicht eine gesellschaftliche Einrichtung oder eine staatliche Anordnung gibt es ihm, sondern er ist es kraft Gottes. Der eine Gott hat ihn dazu gemacht, und niemand kann es ihm daher nehmen oder mindern. Erst hiermit ist der Mitmensch auf seinen festen Boden gestellt, auf den Grund des bleibenden Menschenrechts. Auf diesem baut sich dann das weitere auf. Jede Einsicht, so ist es die dem Judentum eigene Lehre, ist zugleich ein Gebot, jedes Recht schließt seine Aufgabe in sich. Das Juden­ tum kennt keinen Satz, der bloße Aussage bleiben dürfte. Das Wort ist in ihm ein „Wort, das getan werden soll“. So wird es denn zur Forderung  : Du sollst ein Mitmensch sein. Die Einheit aller wird zur gemeinsamen Verantwortlichkeit, zur |13| Pflicht aller gegeneinander. Was wir dem andern gewähren, ist unsere Schuldigkeit und ist sein Recht. Wenn wir es ihm erweisen, so haben wir nur Gerechtigkeit, Zedokoh, geübt. Versagen wir es ihm, so haben wir ihm etwas vorenthalten, was ihm gebührt, oder wie ein Bibelwort von den alten Lehrern aufgefasst wurde  : Ein Raub wird an ihm begangen, ein Raub an seinem Menschenrecht. Ein sittlicher Zusammenhang verbindet damit alle und gewährt allen den menschlichen Gruppen und Gesamtheiten den Sinn ihres Lebens, ihren Wert und Zweck. Der Begriff der menschlichen Gesellschaft tritt hervor, der großen Gemeinschaft, in der jeder, wes Vaters er ist, von vornherein seinen Platz haben kann und haben soll. Es gibt jetzt nichts mehr, was nur den einzelnen anginge und träfe  : Kein Unrecht, das gegen ihn bloß geübt würde, und keine Not, die er ganz für sich zu tragen hätte. Jeder Frevel gegen einen ist ein Verbrechen gegen alle Menschen, und jedes Bedürfen des einzelnen an alle eine Forderung. Das erst ist die Zedokoh, die soziale Gerechtigkeit, diese Bestimmtheit der sittlichen Pflicht, die über das Ungewisse des bloßen Wohl­wollens, welches schenken und verweigern kann, uns empor­ führt. Doch das alles bedeutet zugleich ein Größeres noch. Diese Gerechtigkeit ist im Judentum als Gottesdienst erkannt wor­den, und damit hat sich erst ihr ganzer Sinn, die Einheit in ihrer Mannigfaltigkeit, offenbart. Wir sollen Gott dienen, Gott von dem unseren geben. Aber, so lehrt es das Judentum, das einzige, was wir aus Eigenem Gott geben können und was darum Gott von uns fordert, ist das Gute und Rechte, die Erfüllung der Gebote Gottes. In ihr allein ist Gott für unser Tun gleichsam erreichbar. Daher ist es ein Weg zu Gott, wenn wir unseren Menschenbruder suchen, denn in ihm findet unsere Pflicht ihre Fülle der Aufgaben, an ihm ein wesent­liches Ziel. Am Mitmenschen können und sollen wir Gott dienen, Gott das unsere darbringen, das, was aus unserem |14| Freien und Eigenen kommt. Nur der, welcher die Gerechtig­keit übt, der Zaddik, ist ein Frommer. Der eigentümliche Zug der jüdischen Religion offenbart sich hier  : in ihr steht nicht die Verheißung, sondern die Forde­rung vornan  ; der Mensch ist freie, sittliche Persönlichkeit, von ihm wird die rechte Tat, seine Gerechtigkeit gefordert. Hierin liegt der bezeichnende Unterschied gegenüber Glaubensrichtungen, für welche Heilstatsachen das Wesentliche sind, die Gnade, die über den Menschen kommt, das Große und Ent­scheidende seines Le48

2. Leo Baeck, Gottebenbildlichkeit und Menschenliebe (1913)

bens ist, das, was ihn zu Gott führt und ihm alles gewährt. „Gott und die Seele und nichts weiter“  ; um es mit dem Worte Augustins zu sagen, ist dort der In­halt der Religion, und es gibt daher dort eine Frömmigkeit auch ohne den Mitmenschen. Der Einsiedler, der nur in der Verzückung seines Gemütes lebt, der für keinen Nebenmenschen wirkt, sondern sein ganzes Dasein mit der Sorge für seine kleine oder große Seele befasst, kann der wahrhaft Fromme, der Heilige sein. Der jüdischen Religion ist das Leben des Einsamen, in wie erhabenen Gedanken und Empfindungen es auch aufgehen mag, ein Stückwerk nur. Ihm fehlt zur Bewährung des Menschentums der Menschenbruder. Eine Frömmigkeit dessen, der allein und für sich bleibt, ist hier ein Widerspruch in sich  ; es gibt keine Frömmigkeit ohne den Mitmenschen. Wohl kennt auch das Judentum das Wort – sein Psalmist hat es gesprochen –  : „Wen habe ich im Himmel, und außer Dir begehre ich nichts auf Erden  !“ Aber das ist hier der starke Trost dessen, der sein Leben erfüllt weiß, nur wenn er die Menschen sucht, und darum, wenn sie ihn verkennen und verstoßen, immer gewiss ist, dass Gott ihm bleibt, als dessen Ebenbild, trotz allem, sie allesamt auf die Erde gesandt sind. Es ist das „und dennoch“ der Gerechtigkeit, die im Namen Gottes am Sinn des Lebens festhält. Dem Judentum ist die soziale Forderung ein Wesentliches und Notwendiges der Religion, der Weg dazu, dass das Leben |15| in seiner Bedeutung erfasst wird. Es ist kein Zufall, dass der Gedanke dieser Daseinsaufgabe sich immer an ihm, mittelbar oder unmittelbar, genährt hat. Er hat lange das Schicksal des Judentums geteilt, unbekannt oder verkannt zu sein. Die Gegenwart hat ihm eine Bahn geöffnet. Überall, wo er vor­wärtsdringt, wirkt der Genius Israels, der den Mitmenschen geschaffen hat.

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3. Samuel Holdheim, Gottesliebe, Nächstenliebe, Freiheit (1852)5

|37| Wir müssen es gar oft hören, das alte Judentum kenne nur einen knechtischen Dienst, einen sklavischen Gehorsam gegen einen fremden Willen, der nicht dem innersten Boden des eigenen See­lenlebens entsprossen ist. Es kenne nur ein Gesetz und einen gesetzlichen Gehorsam, aber nicht die Liebe, die sich selbst das Gesetz gibt und es frei befolgt. Gott trete dem jüdischen Volk als Herr und Gesetzgeber entgegen, der mit Strenge seinen blinden Gehorsam und seine knechtische Unterwerfung fordert, aber nicht als Vater, der mit dem Seil der Liebe es an sich zieht und seine Liebe fesselt. Das Gesetz sei ein Zuchtmeister gewesen, der das her­zensharte Volk an Gehorsam gewöhnen und es für das höhere und innigere Verhältnis der Kindschaft Gottes vorbereiten sollte. Und wenn man darauf antwortet und hinweist, wie das älteste mosaische Judentum neben so vielen Zeremonien und Bräuchen die Liebe zu Gott, die Liebe mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele |38| und ganzem Gemüt gleichwohl als das Höchste gebietet, und wenn man hinzufügt, dass Liebe sich nicht gebieten lässt, und dass, wenn sie dennoch geboten wird, nur die freie Liebe, die ungezwungene Empfindung des Herzens gemeint sein könne, so erwidert man  : Diese Liebe solle sich doch ja nur betätigen in dem Halten jener äußerlichen willkürlichen Gebote, also wiederum nur in dem knechtischen Gehorsam gegen einen fremden Willen, dem der Is­raelit sich preisgeben müsse. Wo das Gesetz von denen redet, die „Gott lieben“ fügt es unmittelbar als Erklärung hinzu  : „und meine Gebote halten“6. Es ist also hier in der Tat nicht um die freie Liebe zu tun, sondern um die er­zwingbare und wirklich durch bürgerliche Strafen erzwungene gesetzliche Handlung. Das ist ja – ruft man – der Charakter des Gesetzes, dass es mit zwingender Gewalt auftritt, wäh­rend die freie, keiner äußern Gewalt unterworfene Empfindung des Herzens der eigentümliche Boden der Religion ist. Die Tugend im Reiche des Gesetzes heiße darum „Gesetzlichkeit“ (Legalität), im Gebiete der Religion freie Sittlichkeit, Religiosität, innere Frömmigkeit. Die Liebe also, die aus der Unendlichkeit des eige­nen Bewusstseins aufsteigt, die Liebe, in deren tiefem innerlichem Grund das äußerliche Gesetz erfüllt und aufgehoben sei, diese freie Liebe kenne das alte mosaische Judentum nicht, diese sei erst viel später als Licht der Welt aufgegangen. Darum, liebe Freunde, sage ich Euch, es ist dem nicht also. Gerade diese Liebe, welche in der Lebensfülle des eigenen mensch­lichen Bewusstseins ihren selbstständigen Quell und Boden hat, gerade die Liebe, die in dem tiefen Urgrund des eigenen Herzens den Gott wiederfindet, dem es sich ganz hingegeben hat, lehrt das alte Judentum. Was ein alter 5 [Samuel Holdheim, Du sollst lieben den Ewigen Deinen Gott mit ganzem Herzen (1852). In  : Predigten über die jüdische Religion. Ein Buch der religiösen Belehrung und Erbauung für’s jüdische Haus gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Zweiter Band. Dem um die Läuterung des Gottesdienstes und die Förderung der Religiosität in Israel hochverdienten Vorstande der jüdischen Reformgemeinde in Berlin hochachtungsvoll gewidmet. Berlin  : David 1853, 35–48, hier 37–43] 6 Ex 20,6  ; Dtn 5,10  ; Dtn 10,12.13

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3. Samuel Holdheim, Gottesliebe, Nächstenliebe, Freiheit (1852)

Schriftgelehrter, Hillel, von der „Nächstenliebe“ sagt, sie sei der Text des ganzen Ge­setzes und alles Übrige nur Auslegung und Erklärung, möchten wir von der „Gottesliebe“ behaupten, sie sei der Urtext und selbst die Nächstenliebe nur eine Übertragung. Auch in dem Nächsten sollen wir nur Gott lieben, ihn deshalb lieben, weil er |39| Mensch, d.h. ein Ebenbild Gottes ist. Der Urgrund und Boden aller heiligen Verpflichtung des Menschen ist und bleibt ausschließend die freie Liebe zu Gott mit ganzen Herzen. Da der Mosaismus neben der Lehre der Religion, welche das Verhältnis jedes einzelnen Menschen zu seinem Gott betrifft, und darum ausschließlich in der Liebe zu Gott und dem Wandel in seinen Wegen, d. h. in dem Gefühl, ein Kind Gottes zu sein, und in der Betätigung dieses Gefühls durch gottähnliche Handlungsweise besteht, da der Mosaismus – sage ich – neben dieser Religionslehre auch bestimmte äußere Lebensverhältnisse des jüdischen Volkes und bürgerlichen Reiches im Auge hat, so schreibt er für diesen Lebenskreis des jüdischen Volks bestimmte Gesetze vor, bei welchen es in der Tat nur auf Gehorsam und strenge Befolgung abgesehen war und nicht anders sein konnte. In den­jenigen Teilen der mosaischen Lehre aber, wo die Religion außer diesem ihrem Zusammenhang mit dem bürgerlichen Gemein­wesen des jüdischen Volks in ihrer Allgemeinheit und Ewigkeit als Religion des Menschen und Israeliten in seinen menschlichen Beziehungen zu Gott gelehrt wird, da ist der Boden ein inner­licher, da ist von keinem äußerlichen Gehorsam die Rede, sondern von der Liebe in ihrer Freiheit und Innerlichkeit, da soll der Is­raelit nicht bloß sich Gott hingeben, sondern auch Gott selbst in seinem Herzen haben, in seinem Gemüte tragen, den göttlichen Willen nicht als einen ihm fremden ehren, sondern ihn aus dem Grund seines eigenen Seelenlebens aufsteigen sehen, die Liebe nicht im Gehorsam, sondern umgekehrt den Gehorsam in der Liebe aufgehen, die Liebe in ihrer Freiheit walten lassen. Derjenige Teil des mosaischen Gesetzes, in welchem von bestimmten bürgerlichen Verhältnissen des jüdischen Volkes und in Ansehung dieser bürger­lichen Gesetze von einem gesetzlichen, durch Strafen zu erzwingenden Gehorsam die Rede ist, dieser Teil ist ja mit dem Boden seines einstmaligen Lebens uns längst entrückt worden. Der Boden aber, der uns nicht entrissen werden kann, der Boden, aus dem wir fort und fort Lebenskraft und Nahrung ziehen, der Boden, auf dem wir mit unsern Kindern leben und wirken, das ist die |40| Religion des Geistes und Herzens, die Religion der freien Liebe zu Gott und zu den Menschen. Der Dienst, den diese Religion von uns fordert, ist die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahr­heit nach dem Wort eines der ältesten Propheten  : „Nur fürchtet Gott und dienet ihm in der Wahrheit mit eurem ganzen Herzen.“ Für das Gesagte, meine Freunde, mögen folgende Beweise selbst reden. Das Gebot, heilig zu sein, wie Gott heilig ist,7 ist in seiner Allgemeinheit kein Gegenstand bürgerlichen und richterlichen Zwangs und trägt, wie alle ähn­lichen Gebote, die auf keinen bestimmten Fall des Lebens und Handelns sich beziehen, den reinsten Charakter der Religion. Unter diesem Gebot wird nicht bloß Heiligkeit der Handlungen, sondern auch der Gefühle und Gesinnungen verstanden, welche die Lebens­quellen von Handlungen sind. Richtig ist die Auffassung der Alten  : ‫„ כל מקום שאתה מוצא גדר ערוה אתה מוצא קדושה‬Überall wo Keuschheit 7 Lev 19,1

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I. Gottesliebe und Menschenliebe

und Reinheit des Sinnes und Lebens geboten wird, ist der Ausdruck dafür Heiligkeit  !“ Dass gerade bei diesem Gebot die Anrede „an die ganze Gemeinde der Kinder Is­rael“ scharf betont und hervorgehoben wird, ist wohl ein Beweis, dass eben dieses Heiligkeitsgebot nicht allein für das Volk im ganzen und in seinem theokratischen Verhältnis zu Jehova, seinem Herrn, sondern auch für jeden einzelnen Israeliten in seinen rein menschlichen Beziehungen zu Gott, seinem Vater, gege­ben worden ist und von jedem einzelnen Glied der Gemeinde gehört und beherzigt werden soll. Oder lässt sich denken, dass das Gebot  : „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ nur gesetzlichen Gehorsam, der mittelst richter­licher Strafe zu erzwingen sei, im Auge habe  ? Wohl wurde der widerspenstige Sohn vom weltlichen Richteramt bestraft,8 aber mit nichten fällt das Gebot der kindlichen Liebe und Ehrfurcht gegen Eltern in seiner das ganze Familienheiligtum umfassenden Bedeutung in den Bereich der bürgerlichen Gesetze  ! Und gibt es ein Gebot, welches ausschließlicher den |41| Herzensboden der Gefühle und Empfindungen zu seinem Reich macht, als das Gebot  : Du sollst nicht begehren  ! Kann man sagen, dass ein Gesetz, welches die Werkstatt des innern Lebens und Webens, das Reich der Gefühle und Gesinnungen als seinen Wirkungskreis erkennt, nur äußere Gesetzlichkeit, Legalität, und nicht auch innere Frömmigkeit des Herzens, freie Liebe und heilige Gesinnung fordert  ? Wenn das Gesetz auch Milde und Barm­herzigkeit gegen Tiere befiehlt und bei der Aushebung eines Vogelnestes die Mutter fortzuschicken gebietet, kann es etwas anderes als weiche, rein menschliche Gefühle, in deren innere Werkstatt kein menschliches Auge eindringt, verlangt haben  ! „Dem Tauben sollst du nicht fluchen und dem Blinden kein Hindernis in den Weg legen, du sollst dich fürchten vor deinem Gotte, ich bin der Ewige.“9 Hier, meine Freunde, ist ein Gesetz, wel­ches nur in bildlicher Form seinen Gegenstand nennt und bezeichnet, die Anwendung aber, weil sie über einen großen vom Gesetz nicht zu übersehenden Kreis von menschlichen Handlungs­weisen sich verbreitet, jedem Einzelnen überlassen muss. Ich frage  : Kann bei diesen und ähnlichen Gesetzen nur an äußerlichen knechtischen Gehorsam gedacht worden sein, oder musste nicht vielmehr an die sittliche Freiheit jedes Handelnden die Forderung gestellt werden, jedes Mal und in jeder Lebenslage die richtige Anwendung im Geist dieses Gesetzes selbst zu finden und zu machen  ? Ferner  : „Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Herzen“10. Gibt es, meine Freunde, einen schlagenderen Be­weis, dass das älteste mosaische Judentum eine Religion des Herzens, eine Religion der Liebe sei  ? Wenn von dem Gebote der Liebe zu Gott mit ganzem Herzen eingewendet wird, dass diese Liebe durch Erfüllung der Gottesgebote sich tatsächlich bewähren müsse, so erkennen wir dies insofern an, als nach dem Geiste des Judentums die Liebe als bloße Empfindung ohne tatsächliche Bewährung nur eine tote, aber keine lebendige Liebe sei. Nichts desto weniger ist die Liebe selbst, von ihrer Betätigung abgesehen, als Gefühl geboten, wie das Gefühl des Bruderhasses, von feindseligen Werken abgesehen, als |42| ungöttliches   8 Dtn 21,18ff   9 Dtn 19,14 10 Lev 14,17

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3. Samuel Holdheim, Gottesliebe, Nächstenliebe, Freiheit (1852)

Gefühl verboten ist. Die Liebe ohne Tat ist Seele ohne Körper, die in einem Menschenreich ohne praktische Bedeutung ist, aber auch die Tat ohne Liebe ist Körper ohne Seele, der in einem Gottesreich wertlos ist. – „Hüte dich“, rief Mose seinem Israel zu, „dass du nicht Gott vergessest“.11 Wo hat die Gottesvergessenheit wie das Gottes­eingedenksein den Sitz, wenn nicht im Herzen  ? Überhaupt, meine Freunde, müssen wir im Mosaismus streng unterscheiden zwischen besonderen Gesetzen, die auf bestimmte Le­bensfälle und Handlungsweisen sich beziehen, und allgemeinen Lehren, welche Heiligkeit, Gottesfurcht, Gottesliebe, Treue und Anhäng­ lichkeit gebieten, oder Unheiligkeit, Gottesvergessenheit, Abfall und Untreue verbieten. Diese, welche Gefühle, Empfindungen und Gesin­nungen als den Ursprung menschlicher Handlungen zum Gegenstand haben, sind Religion im vollsten reinsten Sinne des Wortes. Mit Recht erklären die Alten die Worte ‫( ולעבדו בכל לבבם‬Gott dienen mit ganzem Herzen) mit ‫איזהו עבודה שבלב זה תפלה‬, dem „Herzensdienst“. Damit seien nicht Tätigkeiten, sondern das „Gebet“ gemeint, die Herzenssprache, der Gottesdienst im Herzen und in der Wahrheit. Wir geben zu, dass auch von solchen Gesetzen, deren Quelle die fromme heilige Gesinnung ist, gar viele ein Gegenstand bürger­lichen Zwangs und richterlicher Strafe waren, dass man also auch für solche Gebote, die ihrer Natur nach ein Ausdruck der Gottes­ liebe sein sollten, einen gesetzlichen Gehorsam zu erzwingen suchte. Dessen ungeachtet – behaupten wir – war die freie Liebe geboten. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass das mosaische Judentum einen Staat und eine Kirche, ein bürgerliches und ein religiöses Ge­meinwesen zugleich bildete, und dass beide Gewalten in einer Hand vereinigt waren. Wo diese Lebenskreise getrennt sind, da sind ihre Reiche geschieden  ; der Staat erzwingt gesetzlichen Gehor­sam und die Kirche übt einen moralischen Machteinfluss über die religiösen Gewissen aus. Wo beide, wie dies in der jüdischen Theo­kratie der Fall war, in einer Hand vereinigt sind, da leiht der Staat seinen weltlichen Arm der Kirche und diese bedient sich des­selben über die Gewissen. Das war im mosaischen Judentum |43| der Fall. Mit dem Untergang des jüdischen Staates hat auch die jüdische Kirche ihre weltliche Macht verloren. Sie konnte keine physische Gewalt anwenden und gebrauchen, um ihren Machtansprüchen Gehorsam zu erzwingen, und es steht ihr fortan nur der moralische Einfluss zu Gebote. Können wir aber sagen, weil das alte Judentum, das mosaische Gesetz, als es noch Staat und Kirche in sich vereinigte, für das reine religiöse Gebot der Liebe seine staat­liche Gewalt brauchte oder missbrauchte, habe es darum das Gebot der freien Liebe nicht gekannt, oder dass wir dadurch, dass wir heute jeden knechtischen Zwang verwerfend, nur an der mosaischen Religion der freien Liebe festhalten, den Boden des alten historischen Judentums verlassen  ? Nein, meine Freunde, wie die Religion des Judentums den jüdischen Staat überlebte, so ist sie auch älter als der jüdische Staat  ! Das mosaische Gesetz, welches den Staat bildete und die alte Religion zum Grundgesetz des neuen Staates machte, hatte bereits die Religion gekannt und mit dem neuen Staate vermählt. Die Zerstörung des jüdischen Reichs war der Scheidebrief ‫ספר כריתות‬, den die Religion dem Staate schrieb. Wenn wir den mosaischen 11 Dtn 6,12

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I. Gottesliebe und Menschenliebe

Staat längst der Geschichte übergeben, so bleibt uns nur die mosaische Religion, diese aber – ohne Verbindung mit dem Staate – ist die Religion der freien Liebe, ist Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit, ist, was wir nicht erst auf anderem Gebiete suchen müssen, sondern was wir längst besitzen – als das höchste Kleinod unseres Lebens.

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4. Elias Grünebaum, Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe (1836)12

|289| Nicht ohne Absicht haben wir den Ausdruck Grundzug der Liebe gewählt. Wir wollten damit sogleich andeuten, dass wir die Liebe nur als den begleitenden Charakter, nicht aber, wie manche, als das einzige Fundament, als das Prinzip unserer Religion ansehen, und nur als solchen Grundzug sie nachzuweisen uns bemühen. Unter Prinzip versteht man die höchste Wahrheit in irgendeinem organisch zusammengehörigen Ganzen, aus welcher alle andern dahin gehörigen Wahrheiten, wie die Glieder des lebendigen Körpers aus dem Herzen das Lebensblut saugen müssen. Grundzug dagegen nennen wir den begleitenden Charakter, welcher der Totalität des Geistes, wie allerdings auch der einzelnen Wahrheiten, die dieser Geist ausspricht, wie das Siegel, das ihre Herkunft bekundet, aufgedrückt ist. Nun aber können wir die Liebe als Prinzip der Religion überhaupt nicht gelten lassen. Die Liebe herrscht, ihrer Natur nach, blind. Wo sie herrscht, lässt sie ferner keine strenge Untersuchung zu, da sie schon im Voraus gegen jeden Anstoß, den diese finden könnte, gewappnet ist. Liebe ist Sache des Herzens und fragt nicht nach den strengen Partitionen, in die der Verstand spaltet, und sie kann daher besonders im Judentum, das seinen Anhängern kein blindes crede befiehlt, vielmehr im Gegenteil die Untersuchung der höchsten Wahrheiten, welche die Religion lehrt, zur strengen Pflicht macht, das Prinzip der Religion nicht bilden. Und so finden wir es auch ausgesprochen in dem Schrifttum des jüdischen Religionswesens. Gerechtigkeit, die sich der Untersuchung unterziehen darf, wird hier deutlich als das Prinzip der Religion ausgesprochen. So heißt es  : „Der Schö- |290| pfer, sein Werk ist ohne Fehl, alle seine Wege sind das Recht, er ist der Gott der Treue, ohne Unrecht, gerecht und gerade ist er.“13 Sowohl die Belohnung als die Bestrafung, die der Herr über die Menschen verhängt, sind nach der strengen Gerechtigkeit, ohne Vorliebe und Vorurteil ausgeteilt, bemerken hierbei die Midraschim14. Eben so spricht der Psalmist sich aus  :15 Der Anfang (Prinzipium) Deines Gesetzes ist Wahrheit. – Da wir hier dem Ausdruck Wahrheit zuerst begegnen, so müssen wir uns dessen Bedeutung klar zu machen suchen. Und die Gelegenheit dieses zu unternehmen, ist uns um so willkommener, als wir damit um so sicherer zeigen können, dass die Liebe nicht Prinzip im Judentum sei und sein könne. Unter Wahrheit überhaupt versteht man die Gewissheit unserer Vorstellungen und die Übereinstimmung in denselben. Wir sagen Gewissheit und Übereinstimmung, denn bloße Übereinstimmung unserer Vorstellungen involviert nur formale oder logische Wahrheit, d. h. Freiheit unserer Vorstellungen von allem Wi12 [Elias Grünebaum, Der Grundzug der Liebe und dessen Entwickelung im Judenthume. In  : Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 2(1836)285–303  ; 1(1837)59–73  ; 2(1837)180–196, hier  : 289–296] 13 Dtn 32,4 14 SifDtn zu 32,4 15 Ps 119,160

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I. Gottesliebe und Menschenliebe

derspruch. Allein unsere Wahrheit soll auch gewiss, d. h. auch materiale Wahrheit sein. Unser Streben nach Wahrheit fordert von uns, dass der Inhalt unserer Vorstellungen auch Realität habe, d.h. dem Sein und Wesen der Dinge, welche unsere Vorstellungen umfassen sollen, entspreche. Eine solche materiale und formale Wahrheit ist oben auch als Prinzip des Judentums ausgesprochen. Das Judentum will nämlich erst das, was die Vernunft anerkannt hat, zum Glauben erheben und so, durch Durchdringung des Verstandes vom Gefühl, durch den Geist zum Her- |291| zen sprechend, eine wahrhafte Vernunft-Religion begründen. Es macht daher auch eigenes Forschen zur Pflicht, appelliert an unsere Erkenntnis und fordert uns sodann zum Glauben, d.h. zur Aufnahme der von ihm gelehrten, von uns erkannten Wahrheiten in unser Herz, in unsere Seele, in unser ganzes Wesen auf, und erhebt damit sowohl die Wahrheit an sich, als das Streben in uns nach der Erkenntnis seiner Wahrheiten, zur Religion. Wenn wir demnach die Gerechtigkeit als das Prinzip des Judentums anerkennen mussten, so müssen wir nichts desto weniger auch die Wahrheit als dessen Prinzip anerkennen, mit dem Unterschiede, dass die Gerechtigkeit das Prinzip der Gesetze im Judentume sei, die Wahrheit dagegen das Prinzip der Gedanken, der Lehren, was vielleicht auch das  : dabar16 in jener Stelle bedeutet. Wenden wir beides nun auf uns an, so werden wir dies so aussprechen müssen  : dass uns im Judentum die Gerechtigkeit zum Prinzip unsers Handelns, die Wahrheit dagegen zum Prinzip unsers Glaubens gegeben sei. Gerechtigkeit und Wahrheit also, diese unzertrennlichen Momente alles wahrhaft geistigen Lebens machen die Prinzipien des Judentums aus. Vielleicht lässt sich dieses auch zusammenfassen und – inwiefern die Gewissheit in den Vorstellungen und die Übereinstimmung in denselben  – vernünftiges Denken und dem Sittengesetz entsprechende Gesinnungen –, verbunden mit gerechtem Handeln den wahren Weisen bilden – das Prinzip des Judentums in der Weisheit finden. Doch wir kehren zu der Liebe zurück, wie und auf welche Weise das Judentum ihr einen Platz einräumt. Und da finden wir denn, dass sie, wie gesagt, |292| kein Prinzip in ihm sei, aber doch die Gerechtigkeit immer begleitet – und dies nennen wir den Grundzug des Judentums, der den Grund, das Prinzip desselben gleichsam durchzieht. – Nicht wird, wie es die strenge Gerechtigkeit fordern könnte, die Schuld mit eiserner Strenge geahndet, sondern es waltet die Barmherzigkeit und die Langmut, welche die Gerechtigkeit und Wahrheit begleiten17, die gerne dem reuigen Sünder verzeihen, und ihn in ihre Liebe wieder aufnehmen. „Gottes Güte geht nicht zu Ende, seine Vaterhuld vorüber nicht.“ „Gott ist langmütig, sagt der Talmud, dem Bösen wie dem Guten“18. So sehr demnach die strenge Gerechtigkeit von dem Grundzug der Liebe gemildert wird, so wird sie durch ihn dennoch nicht zerstört, und der Sünder nur dann in Gnade wieder aufgenom16 Ps 119,160. 17 ‫ורב חסד ואמת‬ 18 bEr 22a, vgl. Tossafot daselbst mit Gemara bSan 111a.b, woraus hervorgeht, dass diese Langmut dem Frevler werde, damit er sich bessere, und so der Strafe, welche die strenge, ungemilderte Gerechtigkeit sofort an ihm vollziehen ließe, entgehen könne, cf. Raschi Ex 34,6.

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4. Elias Grünebaum, Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe (1836)

men, wenn er sich wirklich gebessert hat, wie auf der andern Seite der Fromme, nur eben so lange er wirklich fromm geblieben, ausgezeichnet wird. Damit beweist das Judentum eben damit, dass die Liebe nicht das Prinzip ist, das es beherrscht, sondern immer wieder die Gerechtigkeit, jener nur die Begleitung, die Milderung gestattend. Kränkelnde Überspannung, hinschmelzende Zärte, die nur Liebe kennt, schwärmerische Beschränkung auf das Gemüt und empfindelnde Schwärmerei, die hier den Sünder ganz ohne Grund, bloß weil sie in Liebe seiner gedenkt, in Gnade wieder |293| aufnimmt, dort dagegen nur ihre Auserwählten, die sie mit besonderer Gnade anlächelt, fromm sein lässt – Begriffe, wie nur Einseitigkeit sie erzeugen konnte –, kennt das Judentum durchaus nicht, und einer solchen Ansicht von dem Prinzip der Liebe mussten wir daher gleich im voraus durch feste Bestimmung seiner Geltung im Judentum mit allem Nachdruck widersprechen. Einen jeden Mann richte ich nach seinen Wegen, spricht sein Gott19. Der Mensch bleibt in seiner angeborenen Würde, die weder durch phantastische Liebe, noch durch grundlose Ausschließung aus dem Reiche der Gnade verkümmert wird, als ein nach unbeschränkter Willensfreiheit handelndes, nicht jedes Mal der unmittelbaren Erhebung und Erweckung zur Frömmigkeit bedürftiges, und deswegen für alle seine Handlungen verantwortliches Wesen. „Sprechet Heil dem Gerechten, er genießet die Frucht seiner Werke  ; wehe aber dem Bösewicht  : Die Vergeltung seiner Werke trifft ihn.20 Geist und Herz sind im Judentum unzertrennlich verbunden, Verstand und Gemüt, wie im Menschen selbst, in der den Menschen gegebenen Religion. Doch Geist und Verstand sind das Fundament, das Prinzip, Herz und Gemüt sind denselben zwar nicht unter-, aber beigeordnete Charaktere. Deswegen weist auch das Judentum so häufig auf die Betrachtung der Natur hin, als Stütze der Religiosität und der Gotterkenntnis, da in ihr Verstand und Gemüt, Gerechtigkeit und Liebe auf |294| eine Weise verbunden erscheinen, dass sie als das schönste sichtbare Bild der Gottesoffenbarung gleichsam in einem bestimmten Rahmen uns vorgestellt werden. Auf Weisheit, dieser Grundlage der Gerechtigkeit, ist die Natur gegründet  : „Mich, spricht die Weisheit21, hat der Herr gebildet als Anfang seiner Wege  ; vor allen seinen Werken war ich schon da. Mich hat er eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang vor der Erde. Da die Tiefen noch nicht waren, wurde ich gezeugt, da die Quellen noch nicht Wasser sprudelten“  ; die Weisheit auch ist die Grundlage, das prinzipale Element in der Religion. In der Natur aber ist diese Urwerkmeisterin Weisheit zugleich „das spielende Kind“ vor dem ernsten Vater, wie sie dort in der Religion die Liebe stets zur Begleiterin hat. Wenn wir daher auf der einen Seite dem Ausspruche des alten Hillel  : „was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht, das ist das ganze Gesetz, das Übrige nur Erklärung“, nicht beipflichten können, da auf diese Weise die Religion, die allerdings tief das Gemüt berührt, zu einer bloßen und noch dazu negativen Verstandestätigkeit herabgesetzt werden möchte  : so müssen wir auf der andern Seite der Manier mancher neueren 19 Vgl. Ex 34,6.7 mit der herrlichen Stelle Ez 33,11–20, wozu vergl. Ez 3,18–22 u. Ez 18  ; Jer 18,7–10, auf welche Stelle wir jedoch später wieder zurückkommen werden  ; vgl. Jer 32,19  ; Ez 7,4.27. 20 Jes 3,10.11 21 Spr 8,22 ff

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I. Gottesliebe und Menschenliebe

jüdischen Theologen, die einer Gefühlstheorie huldigend, diese auch auf das Judentum propfen und dessen einzigen Faktor nur im Gemüt finden möchten, nicht minder widersprechen. Nur dann, wenn die Liebe, dieser das Gemüt betreffende Faktor, als das Prinzip der Religion angenommen wird, kann das Gemüt, das Gefühl als demonstratives, selbst kausatives Prinzip gelten  ; ist aber, wie wir nachgewiesen, die Liebe nur gewissermaßen das assistierende Ele- |295| ment, so muss der Hauptzähler in der Religion offenbar ein ganz anderes als das Gefühl sein, und wir werden schon hier um so stärker auf die Offenbarung, auf eine Tat wie die Schöpfung, wo ähnliche Faktoren herrschen, hingewiesen. Geist (im Gegensatz von Gemüt), Kräftigkeit, Männlichkeit, Tat und Leben bilden das Prinzip im Judentum, Liebe und Gemüt nur den Grundzug, die Macht der strengen Gerechtigkeit mildernd, ohne sie zu zerstören22. Deswegen mag auch das Judentum allerdings rigoristisch heißen. Deswegen gestehen wir gerne ein, dass es nicht leicht die Welt zu sich führen konnte. Denn es verwirft geradezu jedes Anschmiegen an eine ihm fremde Denkart, wozu das bloße Gefühl so vielfachen Anlass gibt. Dieses lässt unendliche Modifikationen zu gegenüber Wahrheit und strenger Gerechtigkeit, auf die es basiert ist, die aber in ihren strengen Anforderungen immer gleich und dieselben bleiben, aber nicht die Sache aller Menschen sind. Und nur als Hoffnung künftiger Zeiten lebt im Herzen der Propheten die Idee des Judentums in solch allgemeiner Weise. So haben wir nun den Begriff der Liebe im Judentum völlig klar erkannt, als Grundzug, der den Geist nicht sowohl beherrscht als begleitet, gerade in solcher Weise aber als unbeschränkte, überall |296| wirkende Liebe sich kundgebend, die alles umfasst, alles durchdringt und belebt.

22 Sehr schön sagt wohl in diesem Sinne der Midrasch  : Anfangs wollte der Herr mit dem Maße strenger Gerechtigkeit die Welt erschaffen  ; aber da er sah, dass die Welt nicht bestehen könne, verband er das Maß der Barmherzigkeit (Liebe) mit dem Maße der Gerechtigkeit.

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II. LIEBE DES NÄCHSTEN

5. Nachman Izaak Weinstein  : Die jüdischen Lehrmeister der Nächstenliebe (1891)23

|24| Wie ein Fluss dort, wo er entspringt, so klein und unbe­deutend ist, dass man nicht imstande ist, zu entscheiden, welchen Umfang er später erhalten wird, in seinem späteren Lauf aber zu einem mächtig dahin wogenden Strom an­wächst, der alle seine Nebenflüsse in sich aufnimmt, Länder verbindet, belebt und ernährt, ebenso erging es mit den neuen Einrichtungen des hohen Priesters Jochanan. Hat dieser bloß drei an und für sich vielleicht unwesentliche Einrichtungen im religiösen Leben Israels gestiftet, so war der Gedanke, von welchem er bei diesen Einrichtungen geleitet wurde, von unge­heurer, unabsehbarer Tragweite. Dieser herrliche Gedanke, man solle die mosaische Gesetzgebung nicht nach dem toten Buchstaben, sondern nach dem in derselben waltenden Geist beurteilen, gab Schimon ben Schetach Veranlassung, eine gründliche Reformation im Synhedrion vorzunehmen. Auch seinen Nachfolgern diente dieser Gedanke zur Richtschnur ihrer sämtlichen Gesetzgebungen und religiösen Verhandlungen. War aber dieser Gedanke, dass die Nächstenliebe die Grundlage und das Zentrum der ganzen mosaischen Gesetzgebung ist und die Gesetze nach streng logischer Regelung zu beurteilen seien, bei den vorher statt­gehabten neuen Einrichtungen nur latent wirkend, so tritt es bei den Nachfolgern von Schimon ben Schetach klar zu Tage. Ein Beispiel hierfür ist der große Mischnalehrer Hillel. Seine Bedeutung erwarb er sich dadurch, indem er zeigte, dass man nicht nötig habe, eine Halacha aufzuschreiben und sein Gedächtnis damit zu beladen, sondern dass jeder Halacha ein logischer Gedanke innewohnt und nach diesen logischen Regeln, die er zum ersten Male aufstellte, sich alle Gesetze aus den mosaischen Gesetzen herleiten ließen. Als aber die damaligen Leiter der Gesetzgebung, die Bene Bethera, sein deriviertes Gesetz |25| nicht anerkennen wollten, da versicherte er ihnen, dass dies nach den logischen Regeln derivierte Gesetz auch mit der Überlieferung übereinstimmte, und dadurch ist er zum Nasi, zum obersten Leiter der Gesetzgebung ernannt worden24. 23 [Nachman Izaak Weinstein, Geschichtliche Entwickelung des Gebotes der Nächstenliebe innerhalb des Judentums  : kritisch beleuchtet. Berlin  : Itzkowski 1891, 24–35] 24 Vgl. yPes VI,1  : ‫תנו רבנן הלכה זו נתעלמה מבני בתירה פעם אחת חל ארבעה עשר להיות בשבת ולא היו יודעין אם פסח דוחה את‬ ‫השבת אם לאו אמרו יש בבלי אחד והלל שמו ששמש את שמעיה ואבטליון יודע אם פסח דוחה את השבת אם לאו אפשר שיש ממנו‬ ‫תוחלת שלחו וקראו לו אמרו לו שמעת מימיך כשחל י"ד להיות בשבת אם דוחה את השבת אם לאו אמר להן וכי אין לנו אלא פסח‬ ‫אחד דוחה את השבת בכל שנה והלא כמה פסחים ידחו את השבת בכל שנה…אמרו לו כבר אמרנו שיש ממך תוחלת התחיל דורש להן‬ ‫ מהיקש הואיל ותמיד קרבן צבור ופסח קרבן ציבור מה תמיד קרבן ציבור דוחה את השבת אף פסח‬.‫מהיקש ומקל וחומר ומגזרה שוה‬ ‫מקל וחומר מה אם תמיד שאין מחייבין על עשייתו כרת דוחה את השבת פסח שחייבין על עשייתו כרת‬.‫קרבן ציבור דוחה את השבת‬ ‫ מגזרה שוה נאמר בתמיד במועדו ונאמר בפסח במועדו מה תמיד שנאמר בו במועדו דוחה את השבת אף‬.‫אינו דין שידחה את השבת‬ ‫ היקש שאמרת יש לו תשובה לא אם אמרת בתמיד‬.‫פסח שנאמר בו במועדו דוחה את השבת אמרו לו כבר אמרנו אם יש תוחלת מבבלי‬ ‫ קל וחומר שאמרת יש לו תשובה לא אם אמרת בתמיד שהוא קדשי קדשים תאמר בפסח‬.‫שיש לו קצבה תאמר בפסח שאין לו קצבה‬ ‫ גזרה שוה שאמרת אין אדם דן גזרה שוה מעצמו… אעפ"י שהיה יושב ודורש להן כל היום לא קבלו ממנו עד‬.‫שהוא קדשים קלין‬ .‫שאמר להן יבוא עלי  ! כך שמעתי משמעיה ואבטליון כיון ששמעו ממנו כן עמדו ומינו אותו נשיא עליהן‬

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II. Liebe des Nächsten

Und hierin war Hillel der diametrale Gegensatz seines Amtsbruders im Synhedrion, des Gerichtspräsidenten Schammai. Denn während dieser in sklavischer Weise nach dem Buchstaben des Gesetzes sich richtete, suchte Hillel seinen Sinn zu er­gründen, der überall derselbe bleibt, nämlich die Erhaltung und das Wohl des Menschen zu fördern. Mit anderen Worten  : Die mosaische Gesetzgebung hat immer den Menschen als solchen sowie sein Leben, sein Handeln im Auge. So verlangte z B. Schammai, dass man am Abend beim Hersagen des Verses  : „Höre Israel“ etc. sich hinlehnen, während man denselben Vers des Morgens stehend hersagen solle, und zwar darum, weil in der Schrift gesagt wird  : „dir sollen diese Worte gegenwärtig sein, wenn du zu Hause sitzt, wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du wieder aufstehst“  ; während Hillel meint, darauf komme es nicht an, denn die Schrift habe nur das menschliche Leben im Auge25. Während an einer anderen Stelle erzählt |26| wird, dass die Anhänger Schammai’s bloß ein einziges Mal eine Meinung von den Anhängern des Hillel angenommen haben26, sagt uns eine andere Stelle, dass der Grund, warum die Gesetzgebung nach der Gesetzesauffassung des Hillel sich richtete, der sei, dass er jedes Mal bei einem Gesetz den Grund, den Sinn desselben im Auge gehabt hätte, und wenn er einen solchen in der Auffassung seines Gegners fand, so hat er dessen Meinung angenommen27. Ein recht anschauliches Beispiel, wie wenig Hillel ebenso wie sein Vorgänger, der hohe Priester Jochanan, von anderen gesetzlichen Rücksichten, sobald sie dem Gefühle der Nächstenliebe, welche das Hauptprinzip der ganzen mosaischen Lehre ist, nicht entsprachen, sich leiten ließ, liefert uns folgende Stelle  : „Was soll man der Braut sagen“, lautet es dort, „wenn man auf einer Hochzeit von der Braut singt“, (um sie zu belustigen)  : „Die Schammaiten sagen, man soll ihr nur ihre wirklichen Vorzüge rühmen, sonst nichts, die Hilleliten aber sagen  : Eine schöne, eine fromme Braut. Darauf bemerken die Schammaiten  : Wie ist es nun, wenn die Braut ein Krüppel ist oder sonst leibliche Fehler hat, soll man sie auch schöne, fromme Braut nennen  ? In der Schrift aber heißt es ja  : Von einer Lüge sollst du dich fernhalten.“ Die Hilleliten aber antworteten darauf  : „… und – eurer Ansicht nach – wie soll man verfahren, wenn jemand einen schlechten Kauf gemacht hat, soll man das Gekaufte schänden oder loben. Nach der Regel der Sittlichkeit soll man den Kauf in Anwesenheit des Käufers doch loben. Daraus schließen die Weisen  : Der Mensch soll mit seinen Nebenmenschen immer in liebevoller Weise verkehren.“28 Der Mensch, heißt |27| es an einer anderen Stelle, darf auch nicht eine einzige Stunde ohne schriftlichen ehelichen Vertrag mit seiner Frau zusammenleben, damit er sie nicht geringschätze oder nach Willkür sich von ihr 25 yBer I,6  : ‫וב"ה אומרים כל אדם קורא כדרכו שנאמר ובלכתך בדרך אלא אם כן למה נאמר בשכבך ובקומך  ? בשעה שבני אדם‬ .‫שוכבין ובשעה שבני אדם עומדין‬ 26 ySuk II Schluss  : .‫לא מצאנו שהודו בית שמאי לבית הלל אלא בדבר זה בלבד‬ 27 ibid.: ‫מפני מה זכו בית הלל שתקבע הלכה כדבריהן  ? אמר ר' יהודה בר פזי שהיו מקדימין דברי בית שמאי לדבריהן ולא עוד אלא‬ .‫שהיו רואין דברי בית שמאי וחוזרין בהן‬ 28 bKet  : ‫ אמרו להן בית‬.‫תנו רבנן כיצד מרקדין לפני הכלה  ? בית שמאי אומרים כלה כמות שהיא ובית הלל אומרים כלה נאה וחסידה‬ ‫שמאי לבית הלל הרי שהיתה חגרת או סימא אומרים לה כלה נאה וחסידה והתורה אמרה מדבר שקר תרחק  ? אמרו להן בית הלל לבית‬ ‫שמאי לדבריכם מי שלקח מקח רע מן השוק ישבחנו בעיניו או יגננו בעיניו  ? הוי אומר ישבחנו בעיניו מכאן אמרו חכמים לעולם תהא‬ .‫דעתו של אדם מעורבת עם הבריות‬

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5. Nachman Izaak Weinstein  : Die jüdischen Lehrmeister der Nächstenliebe (1891)

trennen könne29. Durch den schriftlichen Vertrag, durch die Kethuba aber sind der Frau die ihr zukommenden Rechte im ehelichen Leben zuerkannt und die Frau dadurch vor Missachtung seitens ihres Mannes geschützt. Allein diese neue Anordnung, diese Verbesserung der Sitten, ist, wie wir gesehen haben, ein Ausfluss des Gebotes  : „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Der jüdischen Lehre aber scheint es wie einem Produkt gegangen zu sein, das an jenem Ort, wo es erzeugt wird, offen und frei, ohne Verpackung, ohne Benennung, ohne Bezeichnung daliegt. Und dies alles ist auch dort nicht nötig, da diejenigen, unter deren Augen dieses Produkt entstand, von denen es gezogen und gepflegt wurde, alle seine Eigenschaften genau kennen. Erst wenn dies Produkt auf den Markt gebracht werden soll, wo Fremde über seine Qualitäten unterrichtet werden müssen, muss dasselbe mit Bezeichnungen und Aufschriften versehen werden, die ein klares Bild von den Haupteigenschaften des betreffenden Produkts geben. Solange die jüdische Lehre im Judentum blieb und nicht veräußert wurde, hatte kein Jude danach ein Verlangen, ein Resumé der ganzen Gesetzgebung zu haben. Nur erst, als heidnische Völker, vom Geist der jüdischen Lehre an­gezogen, in deren Besitz treten wollten, als die jüdische Lehre auch andern Völkern veräußert werden sollte, da hatte sie eine Aufschrift, die ein Resumé ihrer Haupteigenschaften enthalten sollte, nötig, und jenen Grundsatz, um welchen die jüdische Gesetzgebung seit Jochanan, dem hohen Priester, gewissermaßen wie um ein Zentrum sich drehte, nämlich die Nächstenliebe. Hillel kennzeichnete dieselbe nunmehr öffentlich als Hauptprinzip der ganzen mosaischen Lehre, als ihn ein Heide um ihre Haupteigenschaften befragte und sich in ihren Besitz setzen wollte. |28| Dass aber Hillel dies Gebot von seiner negativen Seite auffasste, indem er den Heiden nicht sagte Liebe deinen Nächsten, aber was dir unangenehm ist, das füge deinem Nächsten nicht zu, zeigt, welch tiefes Verständnis Hillel für die menschlichen Schwächen hatte. Er, der mit der äußersten Not zu kämpfen gehabt, der als Holzhauer sein dürftiges Brot unter vielen Entbehrungen sich erworben hatte und der daher das Volksleben genau kannte, wusste sehr gut, dass eine Lehre, wenn sie guten Boden finden wolle, von ihrer Höhe heruntersteigen müsse und das Ideale, welches dieses Gebot enthält, daher dem Neuling in konkreter Form fassbar gemacht werden müsse. Denn die mosaische Lehre hat vor allem den Menschen und das menschliche Leben im Auge. Ebenso sagt sein Anhänger und Nachfolger Josua ben Chananja nicht  : Nächstenliebe erhalte den Menschen, sondern  : Nächstenhass vernichte den Menschen.“30 Dass aber die Episode, welche zwischen Hillel und Schammai, als der Heide die jüdische Lehre sich in kürzester Frist aneignen wollte, sich abspielte, nicht bloßer Zufall ist, vielmehr dieses Ereignis in der verschiedenen Anpassung der mosaischen Gesetzgebung wurzelt, dafür bürgt uns ein zweites ähnliches Beispiel, welches zwischen Josua ben Chananja, (der – wie schon erwähnt – ein Anhänger von Hillel war) und seinem Collegen Elieser ben Hyrkanos, einem Anhänger des Schammai, sich abspielte (…). Welche ideelle Bedeutung 29 bBQ 89a  : .‫אסור לו לאדם שישהא אפילו שעה אחת עם אשתו בלא כתובה בשביל שלא תהא קלה בעיניו להוציאה‬ 30 mAv II,16

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II. Liebe des Nächsten

aber diese positive Seite des Gebotes der Nächsten­liebe hat, war, wie wir später sehen werden, allen Mischnalehrern bekannt und alle, welche dies Gebot im Auge hatten, waren von seiner ideellen Seite durchdrungen. Allein sollte dieses Gebot richtig begriffen werden, so musste man es fassbar machen und so formulieren, dass alle übrigen mosaischen Gebote als Kopien der Urform sich darstellen, und hierzu eignete sich Rabbi Akiba als trefflicher Meister. Die geniale Weise, wie er hierin zu Werke ging, zeigt uns recht klar, welche tiefe Kenntnis, welch feines Verständnis er von der mosaischen Gesetzgebung hatte. |29| Das Verdienst des Rabbi Akiba um die mosaische Gesetzgebung ist so groß, dass auch ein gewiegter Talmudist dies nicht sofort übersehen kann. Es bedarf einer sehr eingehenden Untersuchung seines Ideenganges überhaupt und seiner Lehr­methode im Besonderen, um den ganzen Plan der Lehrweise des R. Akiba klar zu übersehen. Denn dieser machte sich nicht bloß um die Halacha, sondern durch die Halacha um die ganze Menschheit verdient. Was die Halacha betrifft, so verfuhr er sehr systematisch und rettete sie nicht bloß vor der Vergessenheit, sondern gab ihr einen festen, nie wankenden Boden und verwandelte sie in einen sprudelnden Quell, der für jeden Fall neue Halachot schaffen kann, ohne das Synhedrion zu Hilfe rufen zu müssen. Und seine Zeitgenossen wissen auch dies große Verdienst des R. Akiba in vollem Maße zu würdigen  ; denn es heißt  : Wenn nicht Schaphan in seiner Zeit, Esra in seiner, und R. Akiba in seiner Zeit erstanden wären, so wäre die Gesetzeslehre, die Tora, in Israel vergessen geblieben.31 An einer anderen Stelle wird gesagt, dass – als Israel zum ersten Male die Tora vergaß – da kam Esra aus Babylonien und begründete sie. Dann wurde sie wieder vergessen – da kam Hillel und be­gründete sie nochmals.32 In der Tat, was Esra begonnen, Schimon ben Schetach und Hillel fortgesetzt haben, brachte R. Akiba zu einer bewunderungswürdigen Vollendung. Und ich werde noch im Laufe dieser Abhandlung zeigen, dass der Gedanke  : Liebe deinen Nächsten wie dich selbst als Prinzip, als Devise der jüdischen Lehre zu erheben, mit der Zeit immer reifer und reifer wurde. Freilich musste das Judentum für dieses Unternehmen Ruhe haben, und es durfte nicht von seinen Bedrückern, von seinen Peinigern bei dieser Arbeit gestört werden. |30| Zu den Zeiten des Schimon ben Schetach war dieses Gebot der Ausgangspunkt vieler Verbesserungen und Verordnungen. Allein dieses Gebot wirkte latent. Zu den Zeiten des Hillel kam bloß die negative, die konkretere Seite dieses Gebots zur Geltung und erst zu den Zeiten des R. Akiba leuchtete der Geist des mosaischen Gesetzes, der Geist des Gebotes Liebe deinen Nächsten wie dich selbst in seinem vollen Glanze auf. Die Methode Esra’s, Schimon ben Schetach’s, Hillels und R. Akiba’s, mittels welcher sie die Tora, das mosaische Gesetz, dem Judentum wieder zurückgaben, war eine und dieselbe. Alle suchten sie den wahren Geist des mosaischen Gesetzes dem Judentum nahe zu bringen. Bei Esra wird gesagt  : „… und sie lasen im Buche der Lehre Gottes verständlich, indem sie den

31 Sifre zum Abschnitte Ekeb  : ‫ויאמר‬.‫אלו לא עמד שפן בשעתו ועזרא בשעתו ורבי עקיבא בשעתו הייתה תורה משתכחת מישראל‬ ‫ ויגד שפן הסופר למלך לאמור ספר נתן לי חלקיה הכהן ויקראהו‬.'‫חלקיהו הכהן הגדול אל שפן הסופר ספר התורה מצאתי בבית ה‬ .‫ שפן לפני המלך‬Vgl. hierzu 2 Kön 22,8–10. 32 bSuk 20a  : .‫שבתחילה כשנשתכחה תורה מישראל עלה עזרא מבבל ויסדה חזרה ונשתכחה עלה הלל הבבלי ויסדה‬

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5. Nachman Izaak Weinstein  : Die jüdischen Lehrmeister der Nächstenliebe (1891)

Sinn des Gelesenen angaben“.33 Schimon ben Schetach sagte  : „Wer die Tora nicht versteht, dass er aus ihr ein Gesetz derivieren kann, ist nicht würdig, im Synhedrion zu sitzen“, und schloss eben einen solchen aus dem Synhedrion aus.34 Hillel stellte sieben Deutungsregeln auf, nach welchen man logisch folgernd immer eine Halacha direkt aus der Schrift ableiten könne,35 bis schließlich R. Akiba kam, der das Anstreben und alle Vorarbeiten seiner Vorgänger mit seinem gewaltigen Genie umfasste und sie in glänzender Weise zum Abschluss brachte, indem er alle Gesetze auf ihre einzelnen Prinzipien und diese einzelnen Prinzipien wieder auf ein Hauptprinzip zurückführte und so aller Welt den wahren Geist der mosaischen Gesetzgebung klarlegte. Denn der Ausdruck ‫ כלל‬als Prinzip datiert erst von seiner Zeit. Kennt aber sein Volk die Prinzipien seiner Gesetzgebung, so kann es auch diese Gesetzgebung nie und nimmer vergessen. Eine talmudische Stelle drückt diesen Gedanken ganz klar aus  : „R. Abahu sagt, alle 40 Tage, welche Mose beim Ewigen zubrachte, |31| lernte er die Tora und vergaß sie, und konnte denn Mose in der kurzen Zeit von 40 Tagen die ganze Tora durchgehen, von der in der Schrift gesagt ist Länger als die Erde ist ihr Maß und breiter als das Weltmeer.“36 Allein die Prinzipien der Tora lehrte der Ewige den Mose.37 Darum eben wollte es Schimon ben Schetach nicht haben, dass man vereinzelte Halachot aufschreibe.38 Zu den Zeiten des R. Akiba wurde der Grundsatz aufgestellt  : „einzelne Halachot aufschreiben heißt  : die Tora, die heilige Schrift verbrennen“,39 denn dadurch verliert man sich zu sehr in das Einzelne, vergisst das Prinzip, aus welchem diese Halacha hergeleitet worden ist, da man sie nicht mehr abzuleiten nötig hat, wodurch natürlich der Geist der mosaischen Gesetz­gebung nur verdunkelt wird. Daher war das erste, was Akiba unter­nahm, nämlich den Grund einer jeden Halacha zu erforschen, ein Streben, das bei ihm schon beim ersten Beginne seines Studiums in sehr intensiver Weise zu Tage trat40 und wahrscheinlich um so mehr, als er selbst zum Lehrer Israels gekrönt wurde und seinen Schülern die Halacha vortrug. Die Mischna, Sifri, Sifra, Tosefta und die Mechilta, die von seinen fünf Schülern redigiert wurden, sind alle im Geiste des R. Akiba geschrieben41. „Als er aber seinen Schülern die Halacha vortrug“, sagt uns eine Stelle, „da sagte er  : Jeder Schüler, der für die betreffende Halacha einen besseren Grund weiß, soll kommen und ihn angeben.“ Darauf sagte ihm sein Schüler R. Schimon  : „So erklärte das Haus Hillel dem 33 Neh 8,8  : ‫ויקראו בספר בתורת האלהים מפורש ושום שכל ויבינו במקרא‬ 34 MegTaan 10  : .‫וכל מי שאינו יודע להביא ראיה מן התורה אינו ראוי לישב בסנהדרין‬ 35 Sifra Anfang und ARN 37  : ‫הלל הזקן דרש שבע מדות לפני זקני בני בתירה קל וחומר וגזירה שוה ובנין אב ושני כתובים וכלל‬ .‫ופרט וכיוצא בו במקום אחר ודבר הלמד מענינו‬ 36 Ijob 11,9 37 ExR 41  : ‫אמר ר' אבהו בכל מ' יום שעשה משה למעלה היה לומד תורה ושוכח…וכי כל התורה למד משה  ? כתיב ארוכה מארץ מדה‬ .‫ורחבה מני ים ולארבעים יום למדה משה  ? אלא כללים למדוהו הקב"ה למשה‬ 38 MegTaan 4  : ‫אשר יורוך שאין כותבין הלכות בספר‬ 39 bTem 14b  : ‫ותנא דבי ר' ישמעאל כתוב לך את הדברים האלה אלה אתה כותב ואי אתה כותב הלכות…כותבי הלכות כשורף את‬ .‫התורה‬ 40 ARN 6  : ‫הלך וישב לפני ר' אליעזר ולפני ר' יהושע אמר להם רבותי פתחו לי טעם משנה כיון שאמרו לו הלכה אחת הלך וישב לו‬ .‫בינו לבין עצמו אמר אלף זו למה נכתבה  ? בית זו למה נכתבה  ? דבר זה למה נאמר  ? חזר ושאלן והעמידן בדברים‬ 41 bSan 86a  : .‫וכולהו אליבא דרבי עקיבא‬

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II. Liebe des Nächsten

Hause Schammai diese Halacha“ und alsbald zog R. Akiba seine bisherige Meinung zurück und lehrte die Halacha, wie |32| R. Schimon ihm gesagt hatte.“42 Diese Erzählung charakterisiert uns vollständig die Lehrweise des R. Akiba  : erstens, dass er nach dem Grunde einer jeden Halacha forschte, den er gern aufnahm, wo er ihn nur fand, zweitens, dass er, der größte Heros auf halachischem Gebiete, sogar seinen Schülern gegenüber sich nicht scheute, seine Meinung zurückzuziehen, sobald ihm die seitens seiner Schüler vorgebrachte Meinung annehmbarer als die eigene erschien. Und diese Art und Weise, wie R Akiba in Bezug auf die Lehrmethode gegen seinen Schüler Schimon ben Jochai verfuhr, stellte er auch als Prinzip für den Unterricht in der mosa­ischen Gesetzgebung auf.43 Überhaupt war R. Akiba der erste, der sämtliche mosaischen Gebote nach ihren Prinzipien zusammenfasste und gruppierte44. Er suchte den Zusammenhang dieser einzelnen Prinzipien wieder auf und führte sie alle wieder auf das Hauptprinzip zurück, auf das Gebot der Nächstenliebe45. Sein Schüler Rabbi Jehuda, der Redakteur des Sifra, der der Methode seines Lehrers Rabbi Akiba folgte, sagt dieses ganz deutlich, „Der Mensch“, meint R. Jehuda, „soll die Gebote der Tora nach ihren Prinzipien sich anzueignen suchen“46, und an einer anderen Stelle gibt uns derselbe Schüler des R. Akiba eine Illustration seines Ausspruches. Dort sagt er nämlich  : „Hat der Mensch das Gebot der Nächstenliebe übertreten, so wird es ihm leichter auch das Gebot  : „du sollst deinen Nächsten nicht hassen“, |33| ferner das Gebot  : „du sollst deinem Nächsten nicht nachtragen und nicht an ihm Rache nehmen“, ferner  : „du sollst deinen Nächsten mitleben lassen“, zu übertreten, bis er schließlich bei einem Kapitalverbrechen, beim Blutvergießen anlangen wird. Daher sagt die Schrift  : „Wenn jemand seinen Nächsten hassen, ihm auflauern und ihn töten wird.“47 Dass R. Akiba wirklich dieses Streben hatte und dieses Streben von seinen Zeitgenossen gekannt und von ihnen anerkannt war, geht aus einer andern Stelle hervor, die folgendermaßen lautet  : „… das Verfahren des R. Akiba gleicht jemandem, der von einem großen Berge fortwährend kleine Steinchen loslöste und der, als ihn Vorübergehende fragten, was er damit bezwecken wollte, zur Antwort gab  : Ich will den ganzen Berg abtragen und ihn an den Jordan versetzen. Auf den Einwand der Vorübergehenden, dass es doch unmöglich sei, diesem großen Berge beizukommen, legte dieser Bergwegräumer wenig Gewicht und schlug fleißig Steinchen für Steinchen ab, bis er zu einem großen Stein gelangte. Diesen untergrub er, hob ihn auf und versetzte ihn an den Jordan.48 Er sagte zum Stein  : Nicht hier 42 tSabim 1  : ‫כשהיה רבי עקיבא מסדר הלכות לתלמידים אמר כל מי ששמע טעם על חברו יבוא ויאמר…אמר לפניו ר' שמעון כך אמרו‬ .‫בית הלל לבית שמאי…חזר ר' עקיבא להיות שונה כדברי ר' שמעון‬ 43 bEr 54b  : ‫ר' עקיבא אומר מנין שחייב אדם לשנות לתלמידו עד שילמדנו שנאמר ולמדה את בני ישראל ומנין עד שתהא סדורה בפיהם‬ .‫שנאמר שימה בפיהם ומנין שחייב להראות לו פנים שנאמר ואלה המשפטים אשר תשים לפניהם‬ 44 Vgl. yShevi VI,2  ; bPes 66a und bPes 69b  ; bShab 130a  ; bMen 69a  : ‫כלל אמר רבי עקיבא‬ 45 ARN 18  : .‫כך עשה ר' עקיבא ועשה את כל התורה טבעות טבעות‬ 46 Sifra zum Abschn. Haasinu  : .‫ר' יהודה אומר לעולם יהא אדם כונס דברי תורה כללים‬ 47 Sifra zum Abschn. Schoftim  : ‫עבר על ואהבת לרעך כמוך סופו לעבור על לא תשנא ועל לא תקום ולא תטור וסופו לעבור על‬ .‫וחי אחיך עמך עד שבא לידי שפיכות דמים לכך נאמר כי יהיה איש שנא לרעהו וארב לו וקם עליו‬ 48 Eine Anspielung auf Dtn 27,2–3, „an jenem Tage, da ihr den Jordan überschreiten werdet, sollst du große

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5. Nachman Izaak Weinstein  : Die jüdischen Lehrmeister der Nächstenliebe (1891)

ist dein Platz, du darfst nicht von den vielen kleinen Steinchen bedeckt sein, sondern hier am Jordan ist dein Platz. So machte es R. Akiba bei seinen Lehrern R. Elieser und R. Josua. Darauf sagte R. Tarfon zu R. Akiba  : Auf dich ist wohl der Vers anzuwenden  :49 Vom Fließen hielt er Ströme auf und Verborgenes zieht er ans Tageslicht. Dinge, welche bis jetzt verborgen waren, förderte R. Akiba ans Tageslicht.“50 |34| Der letzte Schluss aber, welchen R. Akiba aus der ganzen mosaischen Gesetzgebung zog, dass sie nur den Zweck habe, die Menschheit zu läutern51, gilt auch den späteren Talmudlehrern, die an der Fortsetzung des Talmud arbeiteten, als Leuchtstern. So sagt auch der Amonäer Rab, der Begründer der babylonischen Talmudschulen  : „Die Gebote sind nur dazu gegeben worden, da­mit die Menschen durch sie geläutert werden, denn was für einen Unterschied macht es dem Ewigen, ob jemand ein Tier von der Halsseite oder von der Rückenseite schlachtet. Daraus ist nun zu ersehen, dass die Gebote nur dazu da sind, damit die Menschen durch sie geläutert werden.52 In der Tat wird an einer anderen Stelle gegenüber der Frage, warum das Schlachten eines Tiers in möglichst schonender Weise geschehen müsse, auf das Gebot der Nächstenliebe hingewiesen, aus welcher ethischen Forderung man dies zu folgern habe.53 Von sehr veredelndem Einflusse war dieses Gebot besonders im ehelichen Leben, da es im Talmud als Quelle aller ethischen Regeln im ehelichen Leben dient.54 Und anders konnte es nicht sein, wenn man bedenkt, dass im Talmud unter dem Begriff der Nächstenliebe die Achtung vor seinem Nebenmenschen und seine Würdigung verstanden wird und dass eine Zuwiderhandlung gegen diesen Begriff der Nächsten­liebe eine Verletzung, eine Herabwürdigung des göttlichen Siegels, |35| welches jedem Menschen aufgedrückt ist, bedeutet.55 Und von diesem Begriff, d. h. der Achtung, der Würdigung seiner Nebenmenschen, ging auch Schimon ben Schetach aus, wie wir bereits gesehen haben, bei der Einsetzung der Kethuba, mittelst welcher das eheliche Leben sich würdiger, gesitteter und veredelnder gestalten soll.

Steine dort aufstellen, auf welche du die ganze Lehre schreiben sollst, und du sollst auf jenen Stein die Lehre gut erklärt aufschreiben“. 49 Ijob 28,11 50 ARN 6 (Die Lehrweise des R. Akiba)  : ‫למה הדבר דומה  ? לסתת שהיה מסתת בהרים פעם אחת נטל קרדומו בידו והלך וישב‬ ‫על ההר והיה מכה ממנו צרורות דקות ובאו בני אדם ואמרו לו מה אתה עושה  ? אמר להם אני עוקרו ומטילו לתוך הירדן אמרו לו אי‬ ‫אתה יכול לעקור את כל ההר הזה היה מסתת והולך עד שהגיע אצל סלע גדול נכנס תחתיו סתרו ועקרו והטילו אל הירדן וא"ל אין‬ ‫זה מקומך אלא מקום זה כך עשה ר' עקיבא לר' אליעזר ולר' יהושע אמר לו ר' טרפון עקיבא עליך הכתוב אומר מבכי נהרות חבש‬ .‫ותעלומה יוציא אור דברים המסותרים מבני אדם הוציאם רבי עקיבא לאורה‬ 51 Tan Tasria  : .‫שלא נתן הקב"ה את המצוות לישראל אלא לצרף אותן בהן ולכך אמר דוד אמרת ה' צרופה‬ 52 ExR 44 ‫רב אמר לא נתנו המצוות אלא לצרף בהן את הבריות וכי מאי אכפת ליה להקב"ה למי ששוחט מן הצואר או מי ששוחט מן‬ .‫העורף הוי אומר לא נתנו המצוות אלא לצרף בהן את הבריות‬ 53 bPes 75a, bSan 45b  : .‫ואהבת לרעך כמוך ברור לו מיתה יפה‬ 54 Vgl. bQid 41a  : .‫אסור לאדם שיקדש את האישה עד שיראנה שמא יראה בה דבר מגונה ותתגנה עליו‬ Ferner Nidda 17 a ‫ורחמנא אמר ואהבת לרעך כמוך אסור לו לאדם שישמש את מיטתו ביום שנאמר ואהבת לרעך כמוך מאי‬ .‫משמע  ? אמר אביי שמא יראה בה דבר מגונה ותתגנה עליו‬ 55 GenR 55  : ‫ר' עקיבא אומר ואהבת לרעך כמוך זה כלל גדול בתורה שלא תאמר הואיל ונתבזתי יתבזה חברי עמי הואיל ונתקללתי‬ .‫יתקלל חברי עמי אמר רבי תנחומא אם עשית כן דע למי אתה מבזה בדמות אלהים עשה אותו‬

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6. H. Lesser, Die Pflichten der Nächstenliebe (1853)56

(44) Wenn ich für mich bloß sorge, o sagt, was bin ich dann  ?57

Das Judentum macht uns zur heiligen Pflicht  : Wie wir in uns das Ebenbild Gottes achten und lieben müssen, so ist es also auch unsere Hauptpflicht ge­gen jeden Nebenmenschen, ihn als Bild Gottes wie uns selbst zu achten und zu lieben.“ Die Lehre Gottes durch Moses58 lau­tet  : „Liebe deinen Nächsten, wie du dich selbst liebst.“59 „Die treu sind in der Liebe, werden bei Gott weilen,“ und „Der wahre Anfang der Weisheit ist Verlangen nach Erkenntnis, das Ziel der Erkenntnis ist die Liebe, die Liebe aber führt zur Befolgung ihrer Gesetze, und die Befolgung ihrer Gesetze ist der Grund zur Unsterblichkeit.“ 60 – Dem täglichen Gebete Israels muss, nach der Lehre des Judentums, die bekannte Vorbereitungsformel vorangehen  : „Vor diesem Gebete zu Gott verpflichte ich mich das heilige Gebot Liebe deinen Nächsten wie dich selbst mit all meinen Kräften zu er- |45| füllen.“ – Rabbi Akiba lehrte in Talmud Jerus. Nedarim61 (also lange vor Christo)  : „Liebe deinen Näch­sten wie dich selbst, ist der größte Grundsatz im Gesetz.“ Im Talmud Tract. Sabbat62 heißt es  : Ein Heide kam zu dem weisen Pharisäer Hillel (lebte bekanntlich 50 Jahre vor Christo) und sagte  : Rabbi, ich will Jude werden unter der Bedingung, dass du mich das Gesetz lehrst in wenigen Minuten. Und Hillel sagte  : Was du nicht willst, das man dir tue, das tue auch deinem Nächsten nicht  ; dies ist der Haupttext  ; alles übrige ist Kommentar. Keine andern Worte als jene des Rabbi Akiba antwortete Chri­stus später einem Schriftgelehrten auf die Frage, welches das vornehmste Gebot im Gesetz sei  : „Du sollst lieben Gott u. s. w.“ „Das andere ist dem gleich  : Du sollst deinen Nächsten lie­ben als dich selbst. An diesen zwei Geboten hängen das ganze Gesetz und die Propheten.“63 Ebenso Mt 7,12, wo er eigentlich als Schluss der Berg­predigt als höchste Moral in den wenigen Worten jenes Rabbi Hillel alles umfasst  : „Alles nun, was Ihr wollet, das Euch die Leute tun sollen, das tut Ihr ihnen. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Die Nächstenliebe, die das Judentum lehrt, soll sich darin zeigen, dass wir, neben den Pflichten gegen uns selbst, auch unsern Nebenmenschen helfen  : 56 [H. Lesser, Glaubens- und Sittenlehre des Judentums und dessen Verhältniß zum Christenthum. Nebst Ur­ theilen rühmlichst bekannter christlicher Theologen über Judentum, etc. Colberg  : Selbstverlag 1853, hier  : 44–55 und 58–65] 57 mAv I,14 58 Lev 19,18 59 Weish 3,9 60 Weish 6,17.18 61 yNed IX,4 62 bShab 31b 63 Mt 22,36–40

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6. H. Lesser, Die Pflichten der Nächstenliebe (1853)

1) Zur Weisheit, dadurch, dass wir mit Vorsicht und Sanftmut ihn belehren, unterrichten, und so viel als uns möglich, seine Einsicht und Erkenntnis erweitern. „Die weiser machen, werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele tugendhaf­ter machen, wie die Sterne immer und ewig.“64 „Derjenige, der andere zu Wohltätigkeiten be­wegt, ist mehr als der Wohltäter selbst.“65 2) Zur Tugend, durch Rat und Beispiel, durch |46| sanfte Warnungen vor dem Bösen und durch Ermahnungen zum Guten. So rief David  :66 „Lehren will ich Abtrünnige deine Wege und Sünder sollen zurückkehren zu dir.“ „Der Frevler verführt seinen Näch­sten und leitet ihn auf unrechte Wege.“67 „Weise deinen Nebenmenschen zu Rechten.“68 „Wer jemand zur Sünde verführt, ist ärger als dessen Mörder.“69 3) Zur Erhaltung und Förderung seines kör­perlichen Wohls, dadurch, dass wir sein Leben und seine Gesundheit in allen Lagen zu erhalten helfen und nicht durch Mord, Beschädigung, Kränkung, Vernachlässigung verkürzen, ferner ihm zur Erwerbung und Erhaltung seines Vermögens mit unsern Kräften und Mitteln helfen, ihm lassen, was ihm gehört, ihm geben, was ihm zukommt, end­lich, wenn wir des Nächsten Ehre und guten Namen da­durch zu erhalten helfen, dass wir ihn so viel als möglich zu entschuldigen suchen und Gutes von ihm reden, wenn er gelästert und verleumdet wird.70 „Stehe nicht zurück bei der Gefahr deines Nächsten.“71 „Verflucht  ! wer seinen Nebenmenschen heimlich schlägt.“ „Du sollst nicht morden.“72 „Hasse deinen Bruder nicht im Herzen, zur Rede sollst du ihn stellen, aber trage ihm keine Sünde nach.“73 „Ihr sollt nicht stehlen, auch einer dem andern nichts ableug­nen und nicht lügen.“74 „Ihr sollt kein Unrecht tun im Gericht, oder mit Elle, Gewicht und Maß  ! Richtige Waage, richtiges Gewicht, richtiges Scheffel- und Kannenmaß müsst ihr haben  ; ich der Ewige euer Gott.“75 „Wenn einer dem andern etwas verkauft oder abkauft, so sollt ihr euch nicht übervorteilen.“76 „Du sollst die Grenze deines Nächsten nicht verrücken.“77 „Wer Ungerechtigkeit sät, wird Un- |47| glück ernten.“78 „Wer seinen Nächsten ver­achtet, ist unvernünftig.“79

64 Dan 12,3 65 bBB 9a 66 Ps 51,15 67 Spr 16,29 68 Lev 19,17 69 SifDtn 23,8 70 Lev 19,16 71 Dtn 27,24 72 Lev 19,7 73 Lev 19,11 74 Lev 21,35.36 75 Lev 25,14 76 Dtn 19,14 77 Spr 22,8 78 Spr 14,21 79 mAv II,15

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II. Liebe des Nächsten

„Die Ehre deines Nächsten muss dir so lieb sein als die Deinige.“80 „Gehe nicht als Anbringer81 unter deinem Volke her­um.“82 „Der Gerechte hasst lügenhaftes Wort  ; der Frevler verleumdet und schändet.“83 „Beurteile jeden Menschen billig.“84 „Verurteile deinen Nächsten nicht, bis du in seiner Lage bist.“85 „Fliegen sammeln sich, wo Aussatz ist, Arggesinnte spüren Fehlern nach. Wer seinen Nächsten billig beurteilt … von dem wird man auch Gutes reden.“ Die Achtung und Liebe, die wir jedem Nebenmenschen schuldig sind, soll sich ferner zeigen  : 4) In der Bescheidenheit, dass wir nämlich keinem Menschen mit Hochmut und stolzer Geringschätzung begegnen, sondern es jeden merken lassen, dass wir die Menschenwürde, das Ebenbild Gottes in ihm ehren, da­bei aber unsere eigene Menschenwürde nicht durch Schmeichelei und Kriecherei verachten. „Wer seinen Nebenmenschen gering schätzt, ist ein Sünder.“86 „Der Hochmütige ist dem Ewigen ein Abscheu.“87 „Stolz vor dem Fall, Hochmut vor dem Sturz.“88 5) In der Wahrheit und Gerechtigkeit, dass wir nämlich so reden, wie wir es im Herzen haben, und unser Reden und Tun zuverlässig, redlich und aufrichtig sei, und mit unseren Gedanken und Überzeugungen übereinstimme, gerecht und unparteiisch gegen alle, ohne Unterschied und Ansehen der Person, gerecht in Sinn und Wandel sein. „Dies ist, was ihr tun sollt  ! Redet Wahrheit einer mit dem andern  ! Wahrheit, Recht und Frieden führt in eure Tore ein. Böses gegen den Nächsten sinnt nicht im Herzen, und falschen Eid liebt nicht, denn alles |48| dies hasse ich, spricht der Ewige.“ 89 „Auf drei Dingen steht die sittliche Welt  : auf Wahrheit, Recht und Frieden.“90 „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du nacheilen, damit du lebst.“91 „Der Herr ist gerecht und liebt Gerechtigkeit, die Redlichen werden sein Antlitz schauen.“92 „Tut nicht Unrecht im Gericht.“93 „Richter und Beamte nach den Stämmen sollst du an alle Tore der Städte setzen, die der Ewige, dein Gott, dir geben wird, dass sie das Volk nach Gerechtigkeit richten. Du sollst das Recht nicht beugen, kein Ansehen der Person achten, und keine Bestechung annehmen, denn die Bestechung blendet die Augen der Weisen und verkehrt die Worte der Gerechten.“94 „Du sollst nicht lügen, nicht betrügen, nicht falsch schwören.“ 95 80 Lev 19,6 81 [Verläumder] 82 Spr 13,5 83 mAv I,6 84 mAv II,4 85 Sir 6,7.8 86 Spr 14,22 87 Spr 16,5. 88 Spr 16,18. 89 Sach 8,16.17 90 mAv I 91 Dtn 16,20 92 Ps 11,7 93 Lev 19,35 94 Dtn 16,18.19 95 Lev 19,11.12

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6. H. Lesser, Die Pflichten der Nächstenliebe (1853)

6) In der Friedfertigkeit, dass wir nämlich mit jedem Menschen in Einigkeit leben, Zank und Zwietracht zu ver­meiden suchen. „Liebet Wahrheit, liebet Frie­den.“96 „Sei ein Nachahmer Aarons  : liebe den Frieden, bestrebe dich Eintracht zu erhalten und sei ein Menschenfreund.“97 Hätten wir jemanden unversehens beleidigt, so müssen wir schnell, ehe Feindschaft einwurzelt, ihn wieder zu besänf­tigen suchen, und nicht zu stolz dazu sein, ihn um Verzei­ hung zu bitten. Abrahams Friedfertigkeit soll uns zum Vor­bild dienen, dass auch wir, wie er dem Lot, unsern Nebenmenschen öfters zurufen  : „Sind wir nicht Brüder  ! Willst du zur Rechten, so will ich zur Linken, willst du zur Linken, so will ich zur Rechten.“98 7) In der Barmherzigkeit gegen jeden Menschen, wie Gott gegen alle seine Geschöpfe gnädig und barmherzig ist, und zwar dadurch, dass wir mit Wohlwollen seine Not lindern und mit Freundlichkeit sein Leben zu erleichtern suchen. |49| „Wenn dein Bruder neben dir herunter kommt und seine Hand sinken lässt, so sollst du ihn unter­stützen.“99 „Wer des Armen spottet, lästert dessen Schöpfer.“100 „Heil dem, der vernünf­tig für den Armen sorgt, zur Zeit der Not wird ihm Gott helfen.“101 „Brich dem Hungrigen dein Brot“ u. s. w.102 „Der Gerechte fühlt das Leiden der Armen  ; der Frevler will dies Gefühl nicht kennen.“ „Öffne deine Hand deinem armen und dürftigen Mitbruder.“103 „Sei nicht hartherzig gegen deinen dürftigen Mitbürger, und dein Herz sei nicht mürrisch, wenn du ihm gibst.“104 „Der Arme darf kein Drohen hören.“105 „Seid aufmerksam auf die Kin­der der Armen.“106 „Unterlasse nicht, Kranke zu besuchen und erzeige den Toten Gnade.“107 „Auf dem Wege der Barmherzigkeit ist Leben, und ihr Pfad führt zur Unsterblichkeit  !“108 Aber nicht bloß gegen Menschen, sondern auch gegen Tiere gebietet das Judentum Mitleid und Barmherzigkeit, um auch darin dem allgütigen Schöpfer nachzuahmen. … „Menschen und Vieh hilfst du Ewiger.“109 „Er gibt dem Vieh sein Futter, den jungen Raben, wonach sie schreien.“110 „Der Fromme erbarmt sich seines Viehs, der Gottlose aber ist grausam.“111 „Es ist dem Israeliten streng verboten, Tiere unnützer Weise zu quälen und zu töten. Nur dann, wenn sie uns bei ihrem Leben schaden, oder durch ihren Tod nützen, ist es uns  96 Sach 8,19  97 mAv I,12  98 Gen 13,9  99 Lev 25,35 100 Spr 17,5 101 Ps 41,1 102 Spr 29,7 103 Dtn 15,11 104 Dtn 15,8 105 Spr 43,8 106 bNed 81 107 Sir 7,37.39 108 Spr 12,28 109 Ps 36,7 110 Ps 147,9 111 Ps 12,10

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II. Liebe des Nächsten

erlaubt, sie zu töten, aber auch dies mit so wenigen Qualen wie möglich. Wer aber ein Vergnügen daran fin­det, ein Tier ohne Nutzen zu töten, der macht sich des Na­mens Mensch unwürdig. Auch leblose Dinge verbietet das Judentum ohne Nutzen zu verderben oder zu vernichten, denn was dem einen Menschen nicht nützt, kann doch einem |50| andern zu Nutzen kommen.“112 Wenn uns andere wohltun, so soll sich unsere Men­schenachtung und Menschenliebe zeigen  : 8) In der Dankbarkeit, dass wir solches anerkennen, diese Anerkennung durch Wort und Tat beweisen und ewig zur Gegenliebe geneigt bleiben. „Wer Gutes mit Bösem vergilt, aus dessen Haus wird das Unglück nicht weichen.“ 113 Unsere Menschenachtung und Menschenliebe soll sich äußerlich und im Umgange zeigen  : 9) Durch ungeheuchelte Freundschaft, dass wir nämlich ohne Falschheit und mit herzlichem Wohl­wollen jedermann entgegenkommen, uns ihm dienstfertig und höflich zeigen. „Güte und Treue müssen dich nie verlassen, so findest du Gunst und Wohlge­fallen in Gottes Augen.“114 „Begegne jedem Men­schen mit Freundlichkeit.“ 115 „Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen, das Ansehen eines Alten verehren und dadurch Ehrfurcht bezeigen vor deinem Gott.“116 Auch das Gesetz der Nächstenliebe hat bei Israel seit Jahr­tausenden viele Früchte getragen. Liebe, reine Menschenliebe ist nie aus ihren Gemeinden gewichen, Liebe hat sie wiederum ver­einigt, wenn sie Hass, Vorurteil, Verfolgung auseinander trie­ben. Wer zählt die Liebeswerke, die Israeliten getan und gestiftet haben für Arme, Witwen und Waisen ohne Unterschied des Glaubens und des Volks. Aber auch Vaterlandsliebe be­währte Israel dem Land, das es geschützt und genährt hat. Gleiche Opfer mit allen Untertanen brachte es auf den Altar des Va­terlands. Auch Israel blutete, trug Wunden und Ehrenzeichen aus den Kämpfen mit den Feinden und Unterdrückern des Va­terlands, mit eben der Liebe, mit eben der Kraft, die ihm seine Religion gebietet. So sind also auch diese Lehren des Christentums dem A. T. entnommen. Wenn in der Bergpredigt117 gelehrt wird  : „Selig |51| sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen,“ so sind darin bloß die Worte jenes Rabbi Gamliel118 wiedergegeben. „Wer barmherzig ist gegen die Men­schen, der wird Barmherzigkeit finden im Himmel  !“ Ebenso fin­det sich im alten Testamente eine große Menge sehr schöner Lehren über Gerechtigkeit im Sinne der Aussprüche „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit.“119 So lehrt schon Salomon  : „Der da emsig sucht Gerechtigkeit und Liebe, der findet

112 Siehe Orech Majim 305, § 18,19,20  ; Dtn 22,6.7  ; Dtn 19,19.20. 113 Spr 17,13 114 Spr 3,3.4 115 mAv I 116 Lev 19,32 117 Mt 5,7 118 tShab 151,2 119 Mt 3,6

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6. H. Lesser, Die Pflichten der Nächstenliebe (1853)

Leben, Gerechtigkeit und Ehre.“120 „Freuen will ich mich in dem Ewigen, es froh­lockte meine Seele in meinem Gotte, denn er hat mich gekleidet in die Gewänder des Heils, in den Mantel der Gerechtigkeit mich gehüllt.“121 „Gerechtigkeit nahm ich zum Kleide, was kleidete mich wohl.“122 „Ich werde in Gerech­tigkeit schauen dein Angesicht, mich sättigen, erwachend, an deinem Anblick.“123 „Durst“ und „Sättigung“ ist ein öfter vor­kommendes Bild für das höchste geistige Verlangen nach Selig­keit. Mit der letzteren Stelle kann man zugleich Vers 8. im Kap. 5 der Bergpredigt vergleichen  : „Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Der Preis eines reinen Herzens kommt gleichfalls öfter im Alten Testamente vor, z. B. „Ein reines Herz schaff in mir, o Gott, und einen festen Geist erneuere in mir.“124 „Ja, gü­tig ist Gott Israels denen, die reines Herzens sind.“ „Ist einst dahin mein Fleisch und Herz, meines Herzens Fels und mein Anteil ist Gott ewiglich.“125 Die Nächstenliebe in besonderen Verbin­dungen. Das Judentum lehrt die Nächstenliebe auch in beson­dern Verbindungen und zwar  : 1) Als Treue, Eintracht, Achtung, Liebe und Nachsicht gegen Ehegatten, dass sie ihre Kinder gemein­sam erziehen und alles vermeiden, was wider den heiligen Bund der ehelichen Treue und Liebe läuft. „Du sollst |52| nicht ehebrechen.“ „Gott ist Zeuge zwischen dir und dem Weib deiner Jugend, sie ist die Gefährtin deines Lebens und das Weib deines Bundes … werde dem Weib deiner Jugend nicht untreu.“126 „Ich hasse die Ehescheidung, spricht der Herr, Gott Israels, und den, so Unrecht tut seiner Gattin.“127 „Ein biederes Weib tut ihrem Mann wohl alle ihre Tage und nie was zu leide.“128 „Besser ein Stück trockenes Brot in Frieden, als Gastmähler in einem Hause voll des Zankes.“129 2) Als Pflege, Zucht gegen Kinder. „Ich habe Abraham zum Freunde erwählt, und weiß, dass er seinen Kindern und seinem Hause gebieten wird, den Weg des Ewigen zu beobachten, Tugend und Gerechtigkeit zu üben.“130 […] „Unterrichte den Knaben nach seiner Fähig­keit  ; auch im Alter weicht er dann nicht von dieser Lehre.“131 „Wer sein Kind nicht ein Ge­werbe lernen lässt, ist als ob er es zur Dieberei anleitete.“132 3) Als Liebe, Dankbarkeit, Gehorsam, Hochachtung und Ehrerbietung der Kinder gegen die Eltern, die ihnen gleichsam Gottes Stellvertreter sind. „Ehre Vater und Mutter, damit 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132

Spr 21,21 Jes 61,10 Ijob 29,14 Ps 17,15 Ps 51,12 Ps 73,1.26 Mal 2,14 Mal 2,16 Spr 31,12 Spr 17,1 Gen 18,19 Spr 22,6 bQid 29

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II. Liebe des Nächsten

du lange lebest“ u. s. w. „Mache, dass Vater und Mutter sich deiner freuen und Freude erleben, die dich erzogen.“133 „Ein weises Kind erfreut seinen Vater, ein törichtes macht seiner Mutter Kummer.“134 „Gehorche deinem Vater, der dich erzeugt, und achte deine Mutter auch im hohen Alter noch.“135 „Mein Kind, merke auf die Lehre deines Vaters, vernachlässige deiner Mutter Unterricht nicht  ; |53| sie sind deinem Haupt zierliches Diadem, prächtiges Geschmeide deinem Halse,“ (bringt dir Freude und Ehre).136 „Verflucht sei, wer Vater und Mutter verächtlich hält  ; und das ganze Volk spreche  : Amen  !“137 4) Als Liebe, Dankbarkeit, Gehorsam und Ehr­furcht der Schüler gegen ihre Lehrer. „Die Ehrfurcht vor deinem Lehrer grenze an die Ehrfurcht vor dem Himmel.“138 „Joas war gut und glücklich, so lange sein Lehrer Jehojada lebte.“139 5) Als Liebe, Einigkeit, Treue, Achtung zwischen Geschwistern, Verwandten und Freunden. „Wie schön und lieblich ist’s, wenn Brüder in Ein­tracht zusammen leben. Denn daselbst befiehlt der Ewige Segen, Lebensfreude immerdar.“140 „Deinen Freund und deines Vaters Freund verlass’ nicht.“141 „Es gibt Freunde, die als Freunde sich nur stellen, es gibt aber auch manchen Freund, der treuer ist als ein leiblicher Bruder.“142 „Der Verleumder deckt Geheimnis auf, treues Gemüt verbirgt das Anvertraute.“143 6) Als Gerechtigkeit, Billigkeit, Schonung und erkenntliche Fürsorge der Dienstherrschaft gegen Untertanen und Diener. „Wenn ich je das Recht meines Knechtes oder meiner Magd verletzte, was würde ich tun und antworten, wenn Gott untersucht  ? Denn schuf er uns nicht beide  ? Bildete er uns im Mut­terleibe nicht gleich  ?“144 „Wehe dem, der sei­nen Nächsten umsonst arbeiten lässt und ihm seinen Lohn nicht gibt.“145 „Du darfst nicht mit Härte über den Dienstboten herrschen, du musst dich vor deinem Gotte fürchten.“146 „Wenn du den Dienstboten von |54| dir gehen lässt, so lass ihn nicht leer von dir ziehen. Gib ihm Geschenke mit von allem, womit der Ewige, dein Gott, dich gesegnet hat.“147 7) Als Ehrerbietung, willigen Gehorsam, (wenn die Herrschaft nicht befohlen, was der Religion und dem Gesetz zuwider ist) gewissenhafte Treue der Dienenden gegen Dienstherrschaft. „Der Sohn ehre seinen Vater, der Diener seinen Herrn.“148 Jakob sagte zu sei-

133 Spr 23,25 134 Spr 10,1 135 Spr 23,22 136 Spr 1,8 137 Dtn 27,16 138 mAv IV,12. 139 2 Chr 24 140 Ps 133,1.3 141 Spr 27,10 142 Spr 18,24 143 Spr 11,13 144 Ijob 22,13 145 Jer 22,13 146 Lev 25,43 147 Dtn 15,14 148 Mal 1,6

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6. H. Lesser, Die Pflichten der Nächstenliebe (1853)

nen Frauen  : „Ihr wisset, wie treu ich eurem Vater gedient habe.“149 „Wer seinem Herrn treulich dient, erlangt einst Ehre.“150 So hat schon das Judentum dem Menschen die innigsten und zartesten Familienverhältnisse, häusliche Tugenden zur heiligsten Pflicht gemacht. Dass dieser Geist der Familie im Judentum ein sehr kräftiger ist, dass in seinem Schoß die Familie einen lebensvollen Boden findet, ist zu bekannt, denn man rühmt dem Israeliten eine große Familienanhänglichkeit nach, und die öffent­lichen Statistiken erweisen diesen Ruhm hinlänglich. Denn Ehescheidungen und uneheliche Geburten sind bei ihnen sehr selten und Kindes- und Geschwisterliebe wird unaufhörlich mit den größten Opfern betätigt. Die Quelle aller dieser häuslichen Tugenden, der Quell aller der reinsten Lebensfreuden, zu allen Zeiten des Drucks, der Verachtung und Zurücksetzung Israels von der Au­ ßenwelt war, wie es allbekannt ist, das heilige Band, die Keuschheit und Reinheit der israelitischen Ehe  ; eine Tugend, die unter so vielen andern Tugenden Israels wohl die­jenige ist, welche allein von dem giftigen Hauch der Verleumdung unentweiht und unberührt geblieben ist. Jedoch wollte man be­haupten, die höhere Bedeutung der Ehe, ihre sittliche Natur sei nicht durch die jüdische Religion, sondern erst durch das Christentum gelehrt worden. Zum Beweis hat man die im jüdischen Eherecht einst gestattete Vielweiberei angeführt. Aber auch hier wird der Fehler begangen, das Recht mit der Religion zu ver­wechseln. Die Vielweiberei herrschte im Morgenlande zu allen Zeiten, die jüdische Religion fand sie dort vor, und konnte sie nicht beseitigen, so wenig wie die christliche Religion sie hat in |55| jenen Klimaten beseitigen können.151 Wie aber die jüdische Religion die Ehe aufzufassen lehrt, davon zeugt, dass die Prophe­ten, wenn sie von dem heiligen Bund sprachen, den Gott mit Israel für ewige Zeiten geschlossen hat, aus dem ganzen Bereich des irdischen Lebens kein schöneres Bild zu finden wußten, das all die Liebe und Heiligkeit, all die Innigkeit und Herzlichkeit dieses göttlichen Bundes wie mit einem Zauberschlag in des Men­schen Herzen hervorrufen soll, als das Bild von der Heilig­keit des ehelichen Bundes. In Spr. 2, 17. wird die Ehe „Bund Gottes“ genannt. Durch den Propheten Hosea152 sagt Gott zu Israel  : „Ich will mich mit dir vermäh­len auf ewig, mich mit dir vermählen durch Tugend und Gerechtigkeit, durch Liebe und Zärtlichkeit  ; ich will mich mit dir vermählen durch Treue, und du wirst Gott lieben.“ Die israelitische Ehe soll also auf den ewigen Grundsäulen ruhen, deren Namen sind  : Tugend, Gerechtigkeit, Liebe, Zärtlichkeit und 149 Gen 31,6 150 Spr 27,18 151 „Die Germanen lebten in einfacher Ehe schon, da sie noch Heiden waren  ; von christlichen Völkern aber leben bloß die germanischen und die ihnen mehr oder weniger stammesverwandten monogamisch  ; hier­ nach ist nicht dem Christenthum, sondern der germanischen Na­tur die Verbreitung der Monogamie zuzuschreiben, und ist grade von Juden der sittliche Sieg des Ueberganges von Polygamie in Monogamie errungen worden, als die Juden im Abendlande allge­mein der Vielweiberei streng entsagten und als Verbot sanctionierten.“ S. einen Vortrag zu Sab. Behar 1845 von Dr. Herzfeld, dessen treffende Bemerkungen ich hier mitunter anführe. [Erhalten unsere biblischen Schriften wirklich nicht die Lehren, welche ihnen häufig abgesprochen werden  ? Eine Predigt, gehalten am Sabbat Behar, 24. Mai d. J. von Dr. Levi Herzfeld, braunschweigischen Landrabbiner. Braunschweig 1845. Bei Meyer sen.] 152 Hos 2,21

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II. Liebe des Nächsten

Treue. Daher lautet auch die „Trauformel“ der israelitischen Ehe  : „Du sollst mir geheiligt sein nach dem Gesetze Mosis und Israel.“ An anderen Stellen lehrt das Judentum über die Ehe  : „Darum verlasse der Mann seinen Vater und seine Mutter und halte fest an seinem Weibe, dass sie werden zu einem Wesen.“153 „Ein Biederweib, wer sie findet, köstlicher denn Perlen ist ihr Preis. Sicher ruht in ihr des Gatten Herz, ihm fehlt nicht der Gewinn. Sie tut nur Gutes ihm, nie Böses, alle Tage ihres Lebens.“154 „Alle Güter der Erde und alle Vorzüge sind vergänglich, aber ein gottesfürchtiges Weib ist ewigen Preises wert.“155 – So hat das Judentum zuerst die hohe Würde der Frau anerkannt und ausgesprochen. – […]

153 Gen 2,24 154 Spr 31,10–12 155 Daselbst.

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7. Samuel David Luzzatto, Die Achtung des Nächsten als natürliche und geoffenbarte Moral (1870)156

|1| Da der Mensch von Natur aus mit physischer Empfindlichkeit begabt ist, so sind die von außer ihm sich befindlichen Gegen­ständen ausgehenden Eindrücke ihm entweder angenehm oder un­angenehm, woher sich eben dessen Zuneigung zu jenen und Ab­neigung gegen diese notwendigerweise herschreibt. Da er außerdem mit Verstand und Vernunft begabt ist, so richtet er seinen Blick auf die Zukunft. Die Güter oder diejenigen Gegenstände, die in ihm angenehme Empfindungen zu erzeugen geeignet sind, sich verschaffend, und die Übel oder diejenigen Dinge, die ihm schmerzliche und unliebsame Empfindungen zu bereiten fähig sind, fliehend. Übrigens berechnet der Mensch und wägt mit dem Verstan­d die Intensität und die Dauerhaftigkeit der Güter und der Übel ab und leistet Verzicht auf ein kleineres Vergnügen, das er als ein solches erkennt, welches ihm einen größeren Schmerz verur­sachen kann und setzt sich einem kleinern Übel aus, das die Ursache eines größeren Gutes für ihn sein kann. Bis daher ist der Mensch ausschließlich Freund seiner selbst. Wohl mag er sich gesellig und freundlich gegen seinen Nächsten |2| erweisen können, aber in Wirklichkeit wird er es nicht sein, außer nur insofern ihm seine Vernunft das fremde Wohlsein als nützlich und unentbehrlich zur Erlangung seines persönlichen Glücks darstellen wird. Sein Wohlwollen würde sich in Gleichgültigkeit oder gar in Abneigung verwandeln, so sich der Fall ereignet, dass des andern Vorteil mit dem eigenen im Gegen­satze zu sein sich zeigt. Er wird klug und weise, immerhin doch eigennützig sein. Der Mensch erhielt jedoch von der Natur auch noch eine andere Art Empfindlichkeit, die wir eine moralische oder gemütliche157 nennen dürfen. Diese moralische Sensibilität ist es, die uns einen innern Schmerz beim Anblicke oder bei der bloßen Vorstellung der Leiden anderer empfinden lässt  ; Vergnügen hingegen bei dem Anblick oder dem Gedanken, dass der andere von einem leiden­den Zustand befreit wird. Diese moralische Sensibilität ist es, die uns mit Wehmut bei der Wahrnehmung der ungerechten Verteilung der Güter und der Übel erfüllt, mit Freuden hingegen, wenn wir sie nach Gerechtigkeit verteilt wissen. Diese moralische Sensibilität ist es schließlich auch, die uns im geselligen Zustande zur Munterkeit stimmt, in der Abgeschlossenheit und Einsamkeit aber miss­ mutig macht, die uns ein Wohlbehagen empfinden lässt, dass andere uns in Ehren halten und uns hochschätzen. Diese Empfindungen des Herzens werden genannt oder können 156 [Samuel David Luzzatto, Israelitische Moral-Theologie. Vorlesungen. Aus dem Italienischen übersetzt von Dr. Lazar Elias Igel, Landes-Rabbiner der Bukowina zu Czernowitz. Neue Ausgabe. Breslau  : Schletter 1870, hier  : 1–13 [§ 1–25]. Das Werk erschien zuerst italienisch im Jahr 1862 unter dem Titel Lezioni di Teologia Morale israelitica bei Bianchi in Padua. Die deutsche Übersetzung durch Dr. Lazar Elias Igel erschien zuerst 1864 in Czernowitz bei Eckhardt, dann – offenbar auf Grund vieler Setzfehler – erneut 1870 in Breslau bei Schletter. Die Einteilung in Paragraphen ist aufgehoben worden.] 157 [von  : Gemüt]

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II. Liebe des Nächsten

genannt werden  : Gefühle. Diese sind in uns allgemein und vom Standpunkt des persönlichen Nutzens unabhängig, und werden sowohl bei Kindern des zartesten Alters als auch bei Menschen aller Zeiten und Orte angetroffen. Da die Seele vermittelst der Gefühle angenehm oder unan­genehm affiziert wird, gerade wie sie es durch die physischen Sinne wird, so geschieht es, dass der Mensch von Natur aus das Bestreben hat, behagliche und angenehme Gefühle sich zu verschaffen, schmerzliche und unangenehme zu vermeiden. Hieraus entstehen im Menschen einige natürliche moralische Tendenzen, die da sind  : |3| I. Das Mitleid, oder das Bestreben, das Leiden anderer zu beseitigen oder zu vermindern. II. Die Gerechtigkeit, oder das Bestreben, die gerechte Verteilung der Güter zu fördern. III. Die Geselligkeit, oder das Bestreben, in Gemeinschaft mit anderen Individuen des Menschengeschlechtes zu leben. IV. Die Ehrliebe, oder das Bestreben sich die Achtung anderer zu verschaffen. Der Mensch ist ferner mit dem Trieb begabt zu handeln oder seine eigenen Kräfte zu üben, und jene Dinge zu vollbringen, wozu er die Eignung hat oder zu haben glaubt. Die Philautie oder die Selbstliebe ist eine natürliche Folge der Empfindlichkeit. Denn Vergnügen und Schmerz zu empfinden und rührig und tätig zu sein, um das erstere sich zu verschaffen und das letztere zu vermeiden, sind unzertrennlich von mit willkürli­cher Bewegung und Tätigkeit begabten Wesen. Ohne die Em­pfindlichkeit oder die Philautie würde der Mensch in einer immerwährenden Untätigkeit verharren oder sich zwecklos und bloß von einem Beschäftigungsinstinkt angetrieben, herumbewegen. Allein eben diese Philautie selbst, obwohl eine einfache und eine Kraft, erzeugt im Menschen, in Folge der außerordentlichen Feinheit seines Gefühlsvermögens, welches – weit entfernt, sich in­nerhalb der Grenzen der physischen Empfindungen zu beschränken – ihn in durchwegs fremden und seiner physischen Individualität gleichgültigen Dingen Vergnügen und Schmerz finden lässt, die verschiedensten, ja sogar entgegengesetzten Wirkungen. Die Empfindlichkeit, insofern sie physischer Natur ist, erzeugt das Streben nach physischen Vergnügungen, das durchaus individuell und selbst­süchtig ist, insofern sie moralisch ist, gibt sie Raum zu einer edleren, zur Geselligkeit und Tugendübung fähigen Liebe unser selbst, zu deren Verzweigung die oben exponierten moralischen Ten- |4| denzen gehören. Es kann somit der Mensch als mit einer einzigen Trieb- oder bewegenden Kraft ausgerüstet angesehen werden, wel­che sich dann in verschiedene Kräfte teilt, die da sind  : Das Streben nach physischer Lust und die Bestrebungen nach morali­schen Freuden. Ferner ist die Vernunft – oder die Intelligenz und Vorsicht – die Leiterin aller menschlichen Tendenzen. Diese treibt an und für sich nicht zur Bewegung an, die nur das Produkt der Empfindungen oder Gefühle sein kann. Jedoch vergegenwärtigt sie dem Geiste vergangene und künftige Empfindungen und Gefühle und erzeugt hierdurch neue Empfindungen und Gefühle, die zu neuen Bewegungen und analogen Handlungen Veranlassung geben. Der Mensch, der mit all diesen Kräften und Bestrebungen ausgerüstet ist, hat in sich das ihm innewohnende Gesetz, welches ihm die Erhaltung seiner selbst und die Beförde­rung seines eigenen Wohlseins auferlegt, und ihm zugleich gebie­tet, den Leidenden zu helfen, 78

7. Samuel David Luzzatto, Die Achtung des Nächsten als natürliche und geoffenbarte Moral (1870)

die Gerechtigkeit zu lieben, gesellig zu sein, sich der Achtung anderer würdig zu machen und die eigenen Anlagen auszubilden. Dieses Gesetz wird Naturgesetz oder natürliche Moral genannt. Das Naturgesetz, obschon von allen Menschen mittels der Vernunft und des Gefühls zur Genüge gekannt und im Allgemei­nen von den Meisten befolgt, wenn es sich darum handelt, ein leidenschaftsloses Urteil über die Handlungen anderer zu fällen, wird dennoch in der täglichen Praxis zu oft vernachlässigt und übergangen, das heißt, das Naturgesetz entbehrt sehr oft der Wirksamkeit, um die Menschen auf der Bahn der Tugend zu erhalten. Teilweise Ursache dieser Unwirksamkeit ist das öftere Vor­herrschen irgendeiner der natürlichen Begierden, welche nicht sel- |5| ten auch ohne ein edles und gemeinnütziges Motiv das Übergewicht behauptet und alle anderen Tendenzen zum Schweigen bringt. Der Mensch sündigt alsdann, und da er während des Sündigens einem natürlichen Antriebe folgt, so kann er sich täuschen und meinen, dass er dem Naturgesetz gehorcht. Sehr oft jedoch sündigt der Mensch mit dem Bewusstsein der eigenen Schuld. Dann aber liegt die Ursache der Unwirk­samkeit der natürlichen Moral in einer ihr fehlenden Sanktion. Dem Naturgesetz fehlt eine hinreichende Sanktion, insofern als der Lohn und die Strafe, das Glück und das Unglück, wovon die Beobachtung und die Übertretung begleitet sind, sich im Allgemeinen nicht genug erkennen lassen und die scheinbare Wohl­fahrt der Lasterhaften und das scheinbare Elend der Guten die weniger Erfahrenen allzu oft irre führen. Wenngleich daher das Naturgesetz auch wirklich vermittels der wesentlichsten Belohnungen und Strafen sanktioniert ist, bleibt dennoch diese Sank­tion unwirksam, weil jene Belohnungen und Strafen nicht allge­mein erkannt werden und mehrere Male als solche sich nicht ein­mal von denen erkennen lassen, die hievon betroffen werden, und welche die Wirkungen derselben dem Zufalle, vielmehr als dem Naturgesetze, das heißt, der Allgerechtigkeit des Urhebers des Weltalls zuschreiben. Die Belohnungen und Strafen im künfti­gen Leben würden ferner, besehen mit dem bloßen natürlichen Licht, nicht zur Kenntnis der meisten Menschen gelangen. Dem Naturgesetz fehlt es endlich an einer Propädeutik oder einem vorbereitenden Unterricht. Wir tragen mit uns von Geburt, im Keim sozusagen, die tugendhaften Neigungen. Allein diese bedürfen einer weisen Belehrung und Anleitung, wo­durch sie sich ausbilden, entwickeln und über die entgegengesetz- |6| ten egoistischen Neigungen, deren Keime gleichfalls in uns vorhanden sind, die Oberhand gewinnen. Nun sind Erziehung und Unterricht das Werk der Menschen und nicht der Natur. Nur der ausdrückliche Wille Gottes – durch Vermittlung der Propheten geoffenbart – kann das Naturgesetz nach Möglichkeit wirk­sam machen, indem er erstens jener oben gedachten Täuschung keinen Raum verschafft. Denn wenn auch der Missetäter irrigerweise die eigenen Begierden mit den Vorschriften der Natur zusammenwürfeln und identifizieren kann, so wird er sie doch kei­neswegs mit dem ihnen offenbar widersprechenden positiven Ge­setz identifizieren können. Zweitens verschafft er dem Naturge­setz die wirksamste Sanktion, insofern der Lohn und die Strafe, die von Gott angekündigt werden, in Anbetracht seiner Allmacht ohne Wirkung nicht bleiben können. Weder darf der treue 79

II. Liebe des Nächsten

Beobach­ter Seiner Gesetze befürchten, Ihm unbekannt zu bleiben, noch darf der Sünder in Anbetracht der göttlichen Allwissenheit sich schmeicheln, unbemerkt zu werden. Endlich kann in ihm die nötige Propädeutik enthalten sein, die er auch in der Tat in sich enthält. Gleichwie das Naturgesetz oder die natürliche Moral  – jene näm­lich, die aus der menschlichen natürlichen Beschaffenheit hervor­geht, das heißt, der durch Vermittlung der von Gott erschaffenen Dinge ausgesprochene göttliche Wille  – dem Menschen das Anstre­ben seines eigenen Wohls ohne Schaden des andern, ja so­gar die Förderung der Wohlfahrt anderer mittels Aufopferung eines Teils seiner eigenen Wohlfahrt einflößt, so auferlegt ihm das Gesetz der Religion die religiöse Moral, oder der von Gott durch die Propheten ausgesprochene Wille die Beobachtung der geselligen Tugenden. Das Gesetz der Religion befiehlt nämlich, dass die durch das Band der Geselligkeit mit einander verknüpften Menschen vom Streben |7| für das allgemeine Beste beseelt seien, was so viel sagen will, dass jedes Individuum sein eigenes Heil ohne Beeinträchtigung des andern anstrebe, ja sogar mit Aufopferung eines Teils seines eigenen Wohlseins das des andern fördere. Menschlichkeit und Gerechtigkeit so wie alle geselligen vor­zugsweise von diesen abgeleiteten Tugenden auszuüben, ist des gött­lichen Gesetzes wesentlicher Inhalt. Der Weg des Herrn besteht eben in der Ausübung der Humanität und Gerechtigkeit, wie es uns die heilige Schrift von ihrer ersten Seite an lehrt. Im Buche Genesis158 heißt es  : Dass sie sich auf dem Wege des Herrn halten durch Übung der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Die Religion erkennt implizit das Gefühl als Grundlage der Moral. Ihr Streben geht dahin, die auf die Geselligkeit Bezug ha­benden Gefühle, wie die der Humanität, des Mitleids und der Barmherzigkeit, in uns wach zu erhalten. Sie ruft das Gefühl an, und macht es zu einem Attribut Gottes, damit die inneren Ge­fühle des Herzens unsererseits desto mehr geachtet und ausgebildet werden. Sie befiehlt dem Gläubiger, der die Bettdecke gepfändet hatte, sie dem Gepfändeten noch vor Nacht zurückzugeben, indem sie folgende Worte hinzufügt  : Weil sie seine einzige Hülle ist und sein (notwendiges) Kleid für seine Haut. Worauf wird er schlafen (wenn du sie ihm nicht zurückgibst)  ? Alsdann, wenn er zu mir schreien wird, so werde ich ihn erhören, denn ich bin barmherzig.159 Als sie befiehlt, den Fremden nicht zu kränken, so schärft sie dies mit folgenden Worten ein  : Ihr kennt doch das Gemüt des Fremden, da ihr selbst Fremde im Lande Ägypten gewesen seid.160 Wieder an einer andern Stelle, nachdem gesagt wurde, dass Gott der Gott der Götter ist und der Herr der Herren, ein großer, mächtiger und furchtbarer etc. |8| Gott ist, fügt sie hinzu, dass er Gerechtigkeit übt gegen den Wai­sen und die Witwe, dass er den Fremden liebt, um ihm Brot und Kleidung zu geben, und endlich mit den Worten schließt  : Und ihr sollet lieben den Fremden, weil ihr Fremde waret im Lande Ägypten.161 Sie empfiehlt, dass man gegen den Fremden und Waisen ja nicht ungerecht sei und das Kleid der Witwe 158 159 160 161

Gen 28,19 ‫ושמרו דרך ה' לעשות צדקה ומשפט‬ Ex 22,20 Ex 23,9 Dtn 10,19

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7. Samuel David Luzzatto, Die Achtung des Nächsten als natürliche und geoffenbarte Moral (1870)

nicht pfände, hinzufügend  : Und du sollst dich erinnern, dass du Sklave warst in Ägypten.162 Dass die Erinnerung an die eigenen überstandenen Leiden das natürliche Mitgefühl mit den Leiden anderer erhöht, ist jedermann bekannt. Non ignara mali, miseris succurere disco.163 […] Nur jenes Gefühl von Mitleid, welches der grausamsten Unmenschlichkeit Vorschub leistet, wird von ihr verdammt. Gottes Strafe, heißt es in der h. Schrift,164 wird jene Fami­lie treffen, die das Verbrechen eines ihrer Mitglieder verheimlicht, das eines seiner Kinder dem Molochdienste geopfert hätte. Die Wirkung der auf das Gefühl sich gründenden mosaischen Moral ist jene allgemeine, den Ruhm der Israeliten aller Jahrhunderte bil­dende Barmherzigkeit und Humanität. Nach einer verlorenen Schlacht sagen die Syrer zu ihrem eigenen König  : Wir wissen vom Hörensagen, dass die Könige der Israeliten gü­tig sind.165 Der Talmud166 sagt  : Die Israeliten un­terscheiden sich durch drei Merkmale  : Sie sind barmherzig, scham­haft und wohltätig. Ferner  :167 Wer kein Mitleid hat, ist kein Abkömmling Abrahams. In der Tat ist die Schmach aller alten Gesetzgebungen, die Tortur, ein der hebräi­schen Gesetzgebung, sowohl der mosaischen als rabbinischen, unbe- |9| kanntes Ding, und nur vom einzigen Herodes, einem Manne fremden Ursprungs, der den jüdischen Sitten feind und in allem ein Nachbeter der Römer war, angewendet worden. Sogar die im Pentateuch gegen die Schuldigen angeordneten Todesstrafen werden im traditionellen Gesetze mit aller Anstrengung gemäßigt. Und so ist es ein im Talmud gewöhnlicher Grundsatz  : ‫ואהבת לרעך כמוך ברור לו מיתה יפה‬ Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, für den Verbrecher wähle einen minder schweren Tod. […] Gott hat den Menschen zu keinem anderen Zweck seine Ge­bote gegeben als zum Wohle der Menschen selbst. Moses sagt  :168 Wohlan, Israel, was verlangt von dir der Herr, dein Gott  ? (Nichts anders) als den Herrn, deinen Gott zu fürchten, in seinen Wegen zu wandeln, ihn zu lieben, anzubeten mit ganzem Herzen und ganzer Seele, die Vorschriften des Herrn und dessen Anordnungen, die ich dir heute auferlege, zu be­obachten, (und dies) zu deinem Wohlergehen. Die göttlichen Vor­schriften sind, abgesehen von dem Lohn, den Gott an die Beobach­tung derselben in diesem und im jenseitigen Leben geknüpft hat, an und für sich die wirksame Ursache dieser Wohlfahrt, indem die Aus­übung der geselligen Tugenden nichts anderes als die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft und daher auch aller Individuen, aus der sie zusammengesetzt ist, erzeugen kann. Beobachtet, sagt Moses,169 meine Verordnungen und Gesetze, durch deren Anwendung der Mensch sich glücklich macht. An einer andern Stelle unterscheidet Moses klar – als zwei von einander unterschiedene Gegenstände – die mit der Beobach­tung des göttlichen Gesetzes verbundene Glückselig162 Dtn 24,17.18 163 [Elend ist mir nicht fremd, und ich lernte Leidenden beistehn. Vgl. Vergil, Aeneis, I, 630.] 164 Lev 20,5 165 1 Kön 20.31 166 bYev 79 167 bBes 32 168 Dtn 10,12.13 169 Lev 18,5

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II. Liebe des Nächsten

keit und das |10| Verdienst, das uns der Gehorsam gegen Gott verschafft. Wenn, heißt es,170 dein Sohn in Zukunft dich fragen wird und sagt  : Was bedeuten diese Verbote, Vorschriften und Gesetze, die Euch der Herr, unser Gott, auferlegt hat  ? Sollst du deinem Sohne sagen  : Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit starker Hand hinaus. Und er führte uns von dort hinaus, damit er uns hinbringe, uns zu geben das Land, welches er zugeschworen hat unseren Vätern. Der Herr befahl uns daher die Beobachtung aller dieser Vor­schriften zur Anbetung des Herrn, unsers Gottes, damit wir ewig glücklich sein sollen, um uns bis auf den heutigen Tag zu erhal­ten. Und wir werden vor dem Herrn, unserm Gott, ein Verdienst haben, wenn wir alle diese Vorschriften so beobachten werden, wie er sie uns gebot. Da Gott, wie es die heilige Schrift in mehreren Stellen be­stätigt, unsere dienstliche Verehrung nicht benötigt, und nichts von uns annehmen kann, so ist es klar, dass auch die den Gottesdienst betreffenden Gesetze den Zweck haben müssen, uns tugendhaft zu machen. Dies wird von denselben auf eine zweifache Art tatsächlich bezweckt  : a) dass in unserm Geiste der Begriff von Gott und der Vorsehung wach erhalten wird, ein Begriff, der allein geeignet ist, uns in den Stand zu setzen, beharrlich zu sein und in jedem Falle das Böse zu verabscheuen und in jeder Lage mit treuer Hingebung an Sittsamkeit und Tugend festzuhalten. b) dass wir uns daran gewöhnen, unsere Begierden zu zü­geln und freiwillig Entbehrungen zu ertragen, das einzige Mittel, wodurch der Mensch die Fertigkeit in der Ausübung der Tugend erlangt.171 […] Jeremias setzt den Ruhm des Menschen in das richtige Er­kennen Gottes, das Erkennen nämlich, sagt er,172 dass Gott jenes Wesen ist, dessen Handlungen Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit sind. Denn diese, schließt der Prophet, indem er Gott selbst sprechend anführt, diese Dinge sind es, die ich be­gehre (die ich nämlich von den Menschen geliebt und beobachtet zu werden wünsche). Dieser Satz beweist zuvörderst klar, dass die Erkenntnis, die man nach dem Willen Gottes von Ihm ha­ben soll, nicht seine Ehre, sondern unsere Besserung zum Zweck hat. Der Prophet spricht daher nicht vom Erkennen Got- |13| tes als eines großen, mächtigen, furchtbaren, sondern als eines gütigen und gerechten Wesens. Auch genügt es ihm nicht, bloß die Erkenntnis anzudeuten, die wir von Gott haben sollen, son­dern fügt noch hinzu  : Diese Dinge sind es, die ich begehre  ; d. h. die Erkenntnis Got­tes wird nicht um ihrer selbst willen verlangt. Wohl aber sind es Barmherzigkeit, Humanität, Gerechtigkeit, die von Gott gefor­dert werden. Besteht die Wichtigkeit der Erkenntnis Gottes in der Ausübung der Tu170 Dtn 6,20.25 171 Epictetos sagte  : Wer stets zwei Worte zu Herzen nimmt, wird sündenfrei sein, und ein sehr ruhiges Leben führen. Diese zwei Worte sind  : άνεχου καἰ απέχου sustine et abstine [Ertrage und Entsage]. (Aul. Gell. lib. 17. Cap. 19). [Aulus Gellius, Avli Gellii Noctes Atticae  : Lucidiores redditae, tum collatione veterum exemplarium, tum innumeris emendationibus ac coniecturis insigniorum aetatis nostrae criticoru(m)  ; Cum quinque indicibus perutilibus ac necessariis  ; Addita est praetereà interpretatio dictionum Graecarum. Bibliotheca Palatina 1592 (Nachdruck München [u.a.]  : Saur, 1990)] 172 Jer 9,23

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7. Samuel David Luzzatto, Die Achtung des Nächsten als natürliche und geoffenbarte Moral (1870)

gend, die er liebt, so sind es diese, die er will, nicht eine sterile Gotteserkenntnis. Zweitens wird hierdurch bewiesen, dass unsere Besserung, die Gott von uns verlangt, in den geselligen Tugenden der Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Menschenliebe besteht, dass diese es sind, die von Gott verlangt werden, und um derentwillen allein er von uns erkannt und ver­ehrt werden will.

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8. Samuel Holdheim, Nächstenliebe (1852)173 Kinder seid ihr des Ewigen eures Gottes, oder Das Gefühl der Kindschaft Gottes die Quelle von Wohltun und Menschenliebe.174

|90| Ein römischer Statthalter in Judäa namens Tinius Rufus fragte einst – so erzählt der Talmud – den Rabbi Akiba  :175 Wenn es wahr ist, dass euer Gott die Armen – liebt, warum überlässt er es den Reichen, sie zu ernähren und ernährt sie nicht lieber selbst  ? Es geschieht deshalb – antwortete Rabbi Akiba176 – um den Reichen und Glücklichen Gelegenheit zu geben, durch milde Werke der Liebe sich zu retten vor dem bösen, verhängnisvollen Gericht. Aber – entgegnete jener Statthalter – solches Wohltun an Armen, weit entfernt ein Verdienst und eine Tugend zu sein, müsste ja vielmehr euch zur Schuld und Empö­rung angerechnet werden vor dem göttlichen Richterstuhl  ! Und er führt zur Unterstützung seiner Ansicht folgendes Gleichnis an. Ein König zürnt über seinen Knecht und lässt ihn ins Gefängnis wer­fen mit dem strengen Befehl, dem Gefangenen weder Speise noch Trank darzureichen. Wenn nun jemand des leidenden Knechts sich erbarmt und gegen den Befehl des Königs ihn mit Nahrungs­ mitteln versieht, wird nicht der König, wenn er es erfährt, über den unberufenen Wohltäter in Zorn entbrennen  ? Und Israel – fügt er hinzu – wird ja in der Schrift ein Knecht Gottes ge- |91| nannt  : denn meine Knechte sind die Kinder Israel.177 Hierauf sprach Rabbi Akiba  : Ich will mit einem an­deren Gleichnis dir antworten. Ein irdischer König zürnt über seinen Sohn und lässt ihn ins Gefängnis werfen mit dem Befehl, ihm Speise und Trank zu entziehen. Da kommt des Königs Freund und verpflegt seinen verschmachtenden Sohn mit Nahrung. Wird der König, wenn er es erfährt, dem Freunde zürnen, dass er ihn in seinem Kind so hoch ehrt, in seinem Kind ihn selbst nicht leiden sehen kann, oder wird er nicht vielmehr den Freund für diesen Beweis von Liebe und Anhänglichkeit mit Geschenken reichlich belohnen  ? Und wir Israeliten  – fügt er hinzu  – wer­den in der Schrift Kinder Gottes genannt  :178 Kinder seid ihr des Ewigen eures Gottes.179 Aber, erwiderte jener Statthalter, die Schrift nennt euch bald Kinder, bald 173 [Samuel Holdheim, Kinder seid ihr des Ewigen eures Gottes oder Das Gefühl der Kindschaft Gottes die Quelle von Wohlthun und Menschenliebe (1852). In  : Samuel Holdheim, Predigten über die jüdische Religion. Ein Buch der religiösen Belehrung und Erbauung für’s jüdische Haus gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Zweiter Band. Dem um die Läuterung des Gottesdienstes und die Förderung der Religiosität in Israel hochverdienten Vorstande der jüdischen Reformgemeinde in Berlin hochachtungsvoll gewidmet. Berlin  : David 1853, 90–95] 174 Text  : Dtn 8,6 175 ‫אם אלהיכם אוהב את העניים מפני מה אינו מפרנסן‬ 176 ‫כדי שנתנצל אנו מדינה של גיהנם‬ 177 Lev 25,55 178 ‫בנים אתם לה' אלהיכם‬ 179 Dtn 14,1

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8. Samuel Holdheim, Nächstenliebe (1852)

Knechte Gottes. Es ist also offenbar, dass so ihr den Willen eures Gottes erfüllt, ihr seine Kinder, so ihr euch gegen seinen Willen empört, ihr seine Knechte genannt werdet. Euer gegenwärtiges Leiden und Unterdrücktsein unter den Völkern gibt Zeugnis wider euch, dass ihr im Zustande der Sündhaftigkeit und der Knecht­schaft Gottes euch befindet und jede Wohltat, die man euch er­wiese, jede Linderung eurer Leiden wäre daher eine Auflehnung gegen den göttlichen Willen. Hierauf belehrt ihn Rabbi Akiba indem er ihn auf die Worte des Propheten Jesaia hinweist  : brich dem Hungrigen dein Brot und die unterdrückten Armen bringe in dein Haus.180 Also auch den unterdrückten und gezüchtigten Armen,181 die ihr Leiden durch Empörung gegen den göttlichen Willen selbst verschuldet, auch diesen brich dein Brot.182 In solcher Weise haben die alten Mischnalehrer ihre Gedan­ken über Wohltun und Menschenliebe entwickelt und ausgesprochen. Wir finden in dieser Unterredung namentlich folgende drei leitende Hauptgedanken ausgedrückt, die unsere ernste Beachtung und Beherzigung verdienen. Erstens, dass alles Wohltun gegen Men­schen begründet sei in dem Gefühl der Kindschaft Gottes  ; zwei­tens, dass diese Kindschaft Gottes auch in demjenigen, welcher |92| sein Leiden selbst verschuldet, nicht ausgetilgt und aufgehoben sei  ; und drittens, dass Wohltun und Menschenliebe das Rettungs­mittel sei gegen den Tod. Diese drei Punkte lasst uns mit Benutzung der vielen Aus­sprüche der Väter näher beleuchten und an unserem Geiste vor­überführen. Gott gebe uns dazu seinen Segen  ! I. Der erste und letzte Grund alles Wohltuns und aller Men­schenliebe  – sagten wir  – sei das Gefühl der Kindschaft Gottes, die Erwägung, dass der, welcher leidet und dessen Leiden ich lin­dern kann, ein Kind Gottes, ein Geschöpf seiner Liebe sei, das er selbst ohne Mitgefühl, ohne Schmerz nicht leiden sehen kann, und dem ich selbst gleichsam wohl tue, indem ich sein leidendes Kind, den Gegenstand seiner zärtlichen Vaterliebe, von Schmerz befreie. So fasst die heilige Schrift das menschliche Wohltun auf  : Der leiht Gott, verpflichtet sich Gott, wer dem Armen wohltut.183 Ich weiß, meine Freunde, was gegen diese Vorstellungsweise eingewendet werden kann und eingewendet wird, dass man Gott, das heiligste Wesen, zum menschlich fühlen­den und menschlich leidenden Wesen herabsetzt, indem man ihm menschlich-weiche Empfindungen beimisst. Auch die Alten haben dies gefühlt und offen gestanden.184 Stände es nicht ausdrücklich in der Schrift geschrieben, man dürfte kaum wagen, es auszusprechen ‫כביכול עבד לוה לאיש מלוה‬, dass man durch Wohltun gegen die armen Menschenkinder Gott, den Vater, gleichsam zu Dank und Entgeltung verpflichtet.

180 181 182 183 184

Jes 58,7 ‫מרודים‬ bBB 10a Spr 19,17 ‫אלומלא מקרא כתוב אי אפשר לאמרו‬

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II. Liebe des Nächsten

Und dennoch ist dem also  ! Die Schrift hat recht und der Mensch kann das gött­liche Wesen nicht anders fühlen, nicht anders sich denken. Es gibt eine Art von Wohltun, das gleichsam aus edlem Instinkt entspringt, aus weichem Gemüt, das im Anblick menschlichen Lei­dens selbst leidet und gern eine Entbehrung sich auferlegt, um eines anderen Schmerz zu lindern. Es ist dies hochsinnig und edel, aber doch immer noch nicht die rechte Art des Wohltuns, so lange das höhere Bewusstsein, die Beziehung auf Gott fehlt, das |93| Bewusstsein, dass wir allesamt Kinder Gottes sind und als Söhne eines Vaters das gemeinschaftliche Erbe seiner Liebe unter uns zu verteilen haben, das Bewusstsein, welches Gott Wohltäter der Armen185, Vater der Waisen186, Be­schützer der Witwen187, Freund des Fremden und Verlassenen188 nennt, das Bewusstsein, dass wir alle Gott gegenüber arme Wai­sen, schutz- und rechtlose Witwen, verlassene Fremdlinge sind und nur durch seine Güte und Milde atmen, nur durch seine Gnade und Barmherzigkeit leben, und dass uns dieser Lebensodem aus­gehen müsste, so die Liebe uns fehlte, und dass wir der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit unwürdig wären, so wir sie nicht gegen seine Kinder ausübten. Nur wenn das Wohltun aus solchen Gefühlen und Gesinnungen entspringt, heißt es göttliches Wohltun, verdient es den Namen Religion. Liebe deinen Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst, ist das höchste Religions- und Moralprinzip des Judentums. In diesem Zusammenhang ist die Gottesliebe die Wurzel, der Stamm, die Näch­stenliebe entspricht den die Früchte bringenden Zweige am Lebensbaume der Religion. Nur wenn ich Gott mehr als mich selbst, nur wenn ich Gott über alles liebe, kann ich den Nächsten wie mich selbst lieben. Nur so ist es erklärlich, dass ein hervorragender Lehrer des Judentums, Hillel, die Nächstenliebe als den wesentlichsten Inhalt der Religion, alles Übrige nur als Ausführung und Aus­legung erklären konnte. Dies könnte nicht geschehen, wenn nicht die Nächstenliebe als die süßeste, edelste Frucht, die Liebe zu Gott mit ganzem Herzen aber als die tiefste Wurzel der Reli­gion aufgefaßt würde. Nur wenn wir deshalb den Nächsten wie uns selbst lieben, weil er ein Kind des Gottes ist, den wir über alles lieben müssen, ist es richtig gesagt, dass Nächstenliebe die ganze praktische Religion, die Betätigung und Ver­wirklichung unserer Gottesliebe, bedeutet. Herz, Seele, Gemüt, alle Mächte und Kräfte des Denkens, Empfindens und Fühlens gehören Gott. Sie sind der Tempel Gottes, der von sei­ner Ehre wiederhallt. Was aus dem Boden des Herzens als |94| Frucht hervorwächst, was aus dem inneren Seelengrund zur Tat sich emporringt, was aus dem Reich des Gemüts zum Lebens­werk sich herausgestaltet, das kann nur ein solches sein, welches dem Lebenskreis der praktischen Nächstenliebe angehört, welches davon Zeugnis gibt, dass wir uns selbst und mit uns die Menschenwelt als Kinder Gottes wissen und fühlen. Sehen wir nun wie die alten jüdischen Weisen dies in ihrer Art auszudrücken suchten. Rabbi Elaser sagt  : Gib ihm, Gott, was sein ist, denn du und was dein ist, sind 185 186 187 188

‫חונן דלים‬ ‫אבי יתומים‬ ‫דין אלמנות‬ ‫אוהב גר‬

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8. Samuel Holdheim, Nächstenliebe (1852)

sein.189 So sprach David  : Von dir ist alles, aus deiner Hand nehmen und geben wir es dir.190 Das stärkste Zeugnis davon, dass nach ihnen Wohltun und Menschenliebe aus dem Quell der Gottesliebe entspringen müsse und nur darum die praktische Re­ligion sei, gibt ihr Spruch  : Wer sein Auge vom Wohltun wegwendet, der wird als Götzen­diener und Gottesleugner betrachtet, ‫ כל המעלים עיניו מן הצדקה כאלו עובד עבודה זרה‬denn es heißt in der Schrift, wo vom Wohltun die Rede ist  : Hüte dich, du möchtest Nieder­trächtiges, Menschenfeindliches im Herzen haben.191 Dieses Wort ‫ בליעל‬Niederträchtiges wird an einem an­dern Ort der heiligen Schrift192 vom Götzendienst gebraucht und hat darum auch hier dieselbe Bedeutung.193 Ein Beweis, meine Freunde, des von uns im Namen des Judentums häufig ausgesprochenen Satzes  : Die Worte Höre Israel, der Ewige, unser Gott, ist ein einziger Gott in die Sprache des praktischen Lebens übersetzt, lauten  : Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die Worte Du sollst keine fremde Götter haben vor meinem Angesicht gleichfalls in die Sprache des Lebens übertragen, lauten  : Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Herzen.194 Reiner Glaube verwirklicht, heißt  : Menschenliebe, falscher Glaube betätigt, heißt  : Menschenhass. Humanität bedeutet das praktische Bekenntnis195 des einzigen |95| Gottes, Inhumanität das der Vielgötterei. Menschen wohl tun, heißt  : Gott bekennen, Menschen weh tun, heißt  : Gott leugnen.

189 190 191 192 193 194 195

‫תן לו משלו שאתה ושלך שלו‬ 1 Chr 29,14  ; Spr 3,7 ‫כי ממך הכל ומידך נתנו לך‬ Dtn 15,9 ‫בליעל‬ Dtn 13,14 bKet 68a: ‫מה להלן ע"ז אף כאן ע"ז‬ Lev 19,17 ‫הודאה מעשית‬

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III. DIE LIEBE ZU ANGEHÖRIGEN UND VERWANDTEN

9. Samuel David Luzzatto, Die Liebe zwischen Eltern, Kindern und Verwandten (1870)196 Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern |81| Die Liebe zu den eigenen Kindern ist zu sehr von der Na­tur und der Vernunft geboten, als dass sie durch irgend ein po­sitives Gesetz eingeschärft zu werden brauchte. Sie ist von der Natur geboten, durch deren Impuls wir, die Menschen, ebenso wie die vernunftlosen Tiere, die Nachkommen warm lieben und mit­tels jeder Sorgfalt, Anstrengung und jeden Opfers beschützen se­hen, wenigstens so lange als sie nicht im Stande sind, von selbst für ihre Erhaltung Sorge zu tragen. Und so ist es von der Vernunft geboten, die uns lehrt, dass niemand so viel Recht auf unsern Beistand hat als diejenigen, denen unser Wille die Existenz und alle Bedürfnisse, die daraus entstehen, gegeben hat. Der Talmud erklärt den Vater, so arm dieser auch sein mag, für verpflichtet, seine Kinder zu ernähren, ferner dass er da­zu seitens des Gerichts angehalten werden könne, wenn es erwiesen wird, dass er hierzu die Mittel besitzt. Sonst aber müsse die öffentli­che Sicherheitsbehörde für den Unterhalt dieser Kinder bedacht sein und müsse sich damit zufriedenstellen, es zur öffentlichen Kenntnis zu bringen, dass dieser Mann grausamer als die Raubvögel sei.197 |82| Das göttliche Gesetz hat den Eltern das Recht über Leben und Tod benommen, das seit alters her die Familienväter über alle Mitglieder der Familie ausübten, wie es aus dem Todesurteil, welches Judah gegen seine Schwiegertochter Tamar aussprach,198 hervorgeht. Das Gesetz überlässt den Eltern bloß das Recht, die eigenen Kinder vor den Gerichten anzuklagen, denen allein das Aussprechen eines Urteils über dieselben zu­stand.199 Die Schrift verpflichtet den Vater, die eigenen Kinder in den religiösen Pflichten zu unterweisen, indem er sich hierüber mit denselben beim Weilen zu Hause, beim Gehen auf dem Wege und beim Sichniederlegen und beim Aufstehen unterreden soll,200 so wie auch ihnen die Wunder, die die Mission des Moses beweisen, zu lehren.201 Da das Beispiel des Vaters und die Urteile desselben auf das Gemüt der Kinder durch ihre Natur den mäch­tigsten Eindruck üben, so ist die Beobachtung dieses Gesetzes die 196 [Samuel David Luzzatto, Israelitische Moral-Theologie. Vorlesungen. Aus dem Italienischen übersetzt von Dr. L. E. Igel, Landes-Rabbiner der Bukowina zu Czernowitz. Neue Ausgabe. Breslau  : Schletter’sche Buchhandlung 1870, 81–85 (§ 170–182), 87–92 (§ 183–195) und 93–94 (§ 196–200). Das Werk erschien zuerst italienisch im Jahr 1862 unter dem Titel Lezioni di Teologia Morale israelitica bei Bianchi in Padua. Die deutsche Übersetzung durch Dr. Lazar Elias Igel erschien zuerst 1864 in Czernowitz bei Eckhardt, dann offenbar auf Grund vieler Setzfehler erneut 1870 in Breslau bei Schletter. Die Einteilung in Paragraphen ist aufgehoben worden.] 197 bKet 49 198 Gen 38,24 199 Dtn 21,18–21 200 Dtn 6,7 201 Dtn 6,9

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sicherste Bürgschaft für die Frömmigkeit und Gesittung der Kin­der, und daher für die Wohlfahrt der Gesellschaft, und das Glück der Väter selbst. Vergebens wäre das Verlangen eines Vaters seine Kinder die Vorschriften der Religion und der Tugend be­folgen zu sehen, wenn hierin dessen Beispiel und Gespräche nicht deren Lehrer sind. Claz202 spricht sich hierüber wie folgt aus  : Der Mensch soll sich tadelnswerter Gespräche oder Handlungen in Ge­genwart seines Kindes enthalten. Und wenngleich dies an und für sich, sei es in Gegenwart oder in Abwesenheit des Kindes, ver- |83| werflich ist, so ist es um so verachtenswerter, wenn etwas Unanständiges vor dem Kinde begangen oder ausgesprochen wird, welches sich daran ein schlechtes Beispiel nehmen könnte, indem es dem Vater, wenn er dasselbe wegen irgend einer schlechten Tat zurechtwiese, alsdann ihm die nämliche, von ihm selbst began­gene Handlung vorwerfen würde. Es sagen daher unsere Weisen  : Schmücke dich selbst, dann denke andere zu schmücken. Ebenso ist es Pflicht des Vaters, wenn er hört, dass andere etwas Unge­ziemendes gesagt oder getan haben, dieses laut vor dem Kinde zu tadeln und seinen Abscheu hierüber erkennen zu lassen, damit es dagegen einen Ekel bekomme. Im Buche Chassidim203 heißt es  : Wenn der Mensch das Physische seiner Kinder liebt, liebt auch der Hund seine Jungen, so wie alle Tiere ihre Brut lieben, und kann hier der Text in Anwendung kommen.204 Der Mensch hat keinen Vorzug vor dem Tiere. Allein der Mensch soll als religiöses Wesen das Moralische seiner Kinder lieben. Denn so sich der Fall ereignen sollte, dass sich eines seiner Kin­der in einen finstern Ort zu begeben hätte, wo irgend welcher Unfall für dasselbe zu befürchten wäre, er es dahin, entweder durch seine Dienerschaft begleiten ließe, oder selbst begleiten würde, da­mit nicht dort sein Kind irgend welchen Schaden oder Schmerz erfahre. Um wie viel mehr soll er zum Vorteil des Geistes und der Moral seiner Kinder ein wachsames Auge halten, und um wie vielmehr befürchten und sich angelegen sein lassen, dass sie nicht in den Pfuhl des Lasters und der Sünde geraten. Die Lehrer der Mischna fügen für den Vater noch andere zwei Pflichten gegen seinen Sohn hinzu, nämlich ihn ein Hand­werk lernen zu lassen und sich angelegentlichst zu bestreben, ihn in den Stand der Ehe treten zu lassen. Einer derselben fügt noch die Pflicht hinzu, ihn die Kunst des Schwimmens lernen zu lassen. Ein anderer derselben bemerkt, dass, wer seinen Sohn ein Handwerk nicht lehrt, so sei das, als hätte er ihn zum Straßenräuber erzogen.205 |84| Die Betreibung der mechanischen Künste wird von den Leh­rern der Mischna und des Talmud anempfohlen und belobt. Ja, viele unter ihnen betrieben solche selbst. Die Mischna sagt  : Liebe die Arbeit.206 Der Talmud sagt, dass ein Handwerker, während er bei der Arbeit beschäftigt ist, nicht aufstehen dürfe, um einem Lehrer des heiligen Gesetzes Ehre zu erweisen. 202 Kap. 7. [Claz, auch R. Jehuda Galaz, bzw. R. Juda Klatz, Sefer Musar, erschienen im Jahr 1537 Constantinopel, mit 20 Kapiteln über moralische und politische Tugenden. Später neu aufgelegt in Mantua und Krakau.] 203 Sefer Chassidim § 577 204 Koh 3,19 205 bQid 29 206 mAv I  : ‫אהוב את המלאכה‬

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9. Samuel David Luzzatto, Die Liebe zwischen Eltern, Kindern und Verwandten (1870)

Im Talmud kommt folgender Sinnspruch vor  : Sieben Jahre dau­erte die Hungersnot, und nie ging sie vor der Tür eines Hand­werkers vorbei.207 Derjenige schadet der Gesellschaft und begeht einen Verrat an seinem eigenen Sohn, der, ohne dessen Neigung oder Anlage zu Rat zu ziehen, sondern von Eitelkeit oder sonst was anderem geleitet, ihn einem wissenschaftlichen Berufe eher als einem mecha­nischen widmet. Er schadet der Gesellschaft, indem ihr ein un­wissender, ja schädlicher Doktor geliefert, und ein nützlicher Handwerker entzogen wird. Er begeht einen Verrat an seinem Sohne, indem er dessen Jugend unter den Anstrengungen des Studiums, die nicht zum geringsten Nutzen desselben gereichen, aufreibt. Der Talmud lehrt, nicht eher in den Stand der Ehe zu tre­ten, als bis man sich die Mittel der Subsistenz verschafft hat.208 |85| Der Vater muss sich alle mögliche Mühe wegen der guten Versorgung seiner Töchter geben, sobald sie ins Heiratsalter gelangt sind. Er würde eine Unmenschlichkeit begehen, die die Ursache von Verbrechen sein könnte, so er seine junge Toch­ter an einen alten Mann verheiraten würde.209 Der Vater muss sich von jeder Art ungerechter Bevorzu­gung irgendeines seiner Kinder, die die Ursache unglückseli­ger Zerwürfnisse und langwieriger Gehässigkeiten werden kann, hüten.210 So sehr der Vater ein Recht auf den Gehorsam und die Ehr­furcht seiner Kinder hat, darf er doch dies nicht durch das Be­gehren von denselben zu lästig und zu beschwerlich fallenden Dingen missbrauchen, weil solches eine Herausforderung zum Un­gehorsam und zur Sünde wäre.211 Der Talmud bemerkt, dass das Schlagen eines bereits er­wachsenen Sohnes so viel heißt, als ein Hindernis vor einen Blinden legen, das heißt, dass der Vater, der so tut, an den Ausschreitungen, zu denen eine derartige Herausforderung den Sohn hinreißen kann, die Schuld trägt.212 Die Liebe der Kinder zu ihren Eltern |87| Die erste und natürlichste Zuneigung, die der Mensch emp­findet, ist zweifelsohne jene gegen die Eltern, und diese Liebe, in der Kindheit entstanden und von tausend Ursachen täglich ge­nährt und mit uns großgewachsen, kann auch überdies sehr schwer in uns ausgelöscht oder geschwächt werden. Durch das Gefühl der Gerechtigkeit ferner, welches uns Dankbarkeit gegen jeden unserer Wohltäter einflößt, werden wir bewogen, für un­sere El207 bSan 29  : .‫שב שני הוה כפנא ואבבא דאומנא לא חליף‬ 208 bSot 44  : ‫אשר בנה אשר נטע אשר ארש למדה תורה דרך ארץ שיבנה אדם בית ויטע כרם ואח"כ ישא אשה ואף שלמה אמר‬ .‫בחכמתו הכן בחוץ מלאכתך ועתדה בשדה לך אחר ובנית ביתך‬ 209 bSan 76  : ‫איזהו עני רשע‬-‫אל תהלל את בתך להזנותה ר' אליעזר אומר זה המשיא בתו לזקן ר' עקיבא אומר זה המשהא בתו בוגרת‬ .‫ערום זה המשהא בתו בוגרת‬ 210 bShab 10  : ‫לעולם אל ישנה אדם בנו בין הבנים שבשביל משקל שני סלעים מילת שנתן יעקב ליוסף יותר משאר בניו נתקנאו בו‬ .‫אחיו ונתגלגל הדבר וירדו אבותינו למצרים‬ 211 Sefer Chassidim § 567 .‫לא יצוה האב לבנו דברים הקשים וכבדים עליו לעשות פן ימנע מלעשותם ונמצא מחטיאו‬ 212 bMQ 17  : .‫ולפני עור לא תתן מכשול במכה בנו גדול הכתוב מדבר‬

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tern, die uns zu Gunsten so vielfache Mühen und so schwe­re Sorgen im Laufe vieler Jahre ausgestanden haben, ewige Dankbarkeit zu bewahren. Manches entmenschte Herz derjenigen, die mittels Sophismen die Grundfesten der menschlichen Gesellschaft umzuwühlen versuchen, wagte die Kinder zu lehren, dass sie keine Pflichten gegen ihre Eltern haben, welche aus keiner andern Absicht als aus jener der Befriedigung der eigenen wollüstigen Begierde bewogen wurden, denselben das Dasein zu geben. Dies mag seine Richtigkeit haben be­züglich jener Menschen ohne Moral, aus dem Trosse Epikurs, die, um sich nicht mit der Last der Kinder zu beladen, solche erzeu­gen, denen der eigene Vater unbekannt ist. Allein wer, geleitet |88| von der Religion und der Tugend, dem schweren Berufe des Ehe­standes und den unzähligen Sorgen der physischen und moralischen Erziehung seiner Kinder sich unterzieht, wird je sagen können, dass er beim Zeugen an nichts anderes, als an das eigene Ver­gnügen gedacht habe, das doch so leicht, ohne viele Sorgen, herbei geschafft werden kann  ? Auf die Vorschrift des Dekalogs Ehre deinen Vater und deine Mutter folgen diese Worte im Exodus  : Damit deine Tage verlängert werden auf der Erde, die der Herr dein Gott dir ge­ben wird. Und im Deuteronomium  : Damit deine Tage verlängert werden, und damit du glücklich seiest auf der Erde u. s. w. Diese Verheißungen wurden von den alten Rabbinen auf das Le­ben des Individuums – und zwar nach den einen in dieser Welt da und nach der anderen in der zukünftigen Welt – bezogen. Aben-Esra hingegen bezieht es auf die ganze Nation, nämlich auf ihre politische Unabhängigkeit. Gersonides fügt noch hinzu, dass die den Eltern erwiesene Ehrfurcht den wohlgeordneten Gang der häuslichen Gesellschaft erzeugt, der alsdann Anfang und Ursache der Unterordnung und der Harmonie in der bürgerlichen Gesellschaft und daher der Stärke und Unabhängigkeit der Nation ist. Anderswo empfiehlt die heilige Schrift,213 die Eltern zu fürchten (ehrfürchten), und verdammt den zum Tod, der sie schlägt214 oder ihnen flucht.215 Die ganze Nation sprach auf Befehl Gottes einen Fluch gegen den aus, der seinen Vater oder seine Mutter misshandelt.216 Salomon in den Sprüchen217 sagt  : Gehorche deinem Vater, der dich zeugte  ; verachte nicht deine Mutter, auch wenn sie alt ist. |89| Der Tor verschmäht die Zucht seines Vaters.218 Das Auge, welches den Vater verhöhnt und verschmäht der Mutter zu gehorchen, verdient von den Raben durchbohrt und von den jungen Adlern gefressen zu werden.219 Die Mischna stellt die Ehrfurcht gegen Eltern an die Spitze jener verdienstlichen Handlungen, wovon der Mensch die Früchte genießt in dieser Welt und wovon das Kapital ihm vollständig für das künftige Leben verbleibt.220 213 214 215 216 217 218 219 220

Lev 19,3 Ex 21,15 Ex 21,17 Dtn 27,16 Spr 23,22 Spr 25,5 Spr 30,17 yPea I

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9. Samuel David Luzzatto, Die Liebe zwischen Eltern, Kindern und Verwandten (1870)

Ein Lehrer der Mischna sagt  : Die Pflicht die Eltern zu ehren hat von Gott eine größere Ausdehnung erhalten, als die Pflicht Gott selbst zu ehren  ; weil alle Akte der Religion und der Barmherzigkeit für jedermann, bloß im Verhältnis zu den ihm zu Gebote stehenden Mitteln, bindend sind. Während die Pflichten ge­gen die Eltern unbedingt sind, zu deren Erfüllung das Kind auch alsdann verpflichtet ist, wenn es zum Behufe dessen betteln müsste.221 ‫תני ר' שמעון בן יוחאי גדול הוא כבוד אב ואם שהעדיפו הקב"ה יותר מכבודו נאמר כבד את אביך‬ ‫ואת אמד ונאמר כבד את ה' מהונך מה את מכבדו מהונך מפריש לקט שכחה פאה תרומה ומעשר ראשון ומעשר‬ ‫שני וחלה ומאכל את הרעבים ומשקה את הצמאים ומלביש ערומים עושה סוכה לולב שופר תפילין ציצית‬ ‫ומזוזה אם יש לך אתה חייב בכל אלו ואם לאו אין אתה חייב באחת מהן אבל כשהוא בא אצל כבוד אב ואם בין‬ .‫יש לך הון בין אין לך הון כבד את אביך ואפילו מחזר על הפתחים‬ Über die den Eltern schuldige Furcht und Ehre liefert der Talmud222 folgende Definition. Die Furcht besteht |90| darin, dass der Sohn auf der Stelle des (lebenden) Vaters – sei es zu Hause, oder außerhalb desselben  – nicht sitzen, ihm nicht widersprechen, so wie auch seine eigene Meinung in Bezug auf An­sichten, die der Vater gegen einen anderen behauptet, nicht äußern darf. Die Ehre besteht darin, dass der Sohn den Vater mit Lebensmitteln und Kleidungstücken zu versehen und ihn bei Verwaltung sei­ner Geschäfte zu vertreten habe. ‫איזהו מורא ואיזהו כבוד מורא לא עומד במקומו (פירש רש"י במקום המיוחד לאביו לעמוד‬ ‫שם בסור זקנים עם חבריו בעצה) ולא יושב במקומו ולא סותר את דבריו ולא מכריעו כבוד מאכיל ומשקה‬ ‫ ואם אין ממון לאב ויש ממון לבן כופין אותו‬,‫מלביש ומכסה (פירש הרמב"ם בהלכות ממרים פרק ו' משל אב‬ .‫וזן אביו ואמו כפי מה שהוא יכול) מכניס ומוציא‬ Der Talmud223 führt als Vorbild der kindlichen Ehrfurcht das Beispiel eines Nichtisraeliten namens Dama, Sohns des Nathina, an, der auf ein ihm sich dargebotenes einträgliches Handelsgeschäft verzichtete, um nicht seinen Vater vom Schlaf auf­zuwecken, unter dessen Kopfkissen die Schlüssel sich befanden, die er zur Bewerkstelligung jenes Verkaufs nötig hatte. Die Bestreitung der Bedürfnisse der Eltern ist, so sie nicht von einem liebreichen und ehrfurchtsvollen Benehmen begleitet ist, we­nig oder gar nicht verdienstlich. Der Talmud224 sagt  : Einer reicht seinem Vater die auserlesensten Speisen dar und verschafft sich die Hölle, und ein anderer verwendet ihn bei der Arbeit in der Mühle und erwirbt sich das Paradies, ein Sinnspruch, der im jerusalemischen Talmud225 mittels zwei folgender Tatsachen erläutert wird. Eines Tages fragte ihn der Vater, woher er die Mittel zur Bestreitung seiner Ausgaben hätte, und er antwor­tete ihm  : Alter, iss und schweige, es essen und schweigen auch die Hunde. Dieser da, der so vortrefflich seinen Vater bespeiste, ver­ schaffte sich die Hölle. Ein anderer war von Profession ein Müller. |91| Eines Tages wurden die zu dieser Zunft gehörenden Individuen zu irgendeiner öffentlichen Arbeit berufen, da sagte er zu seinem Vater  : Warte hier bei der Mühle und ich werde zu den öffentlichen Arbeiten gehen. Sollte 221 ebd. 222 bQid 31 223 bQid 31b 224 ib. 225 yPea I

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III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten

sich ereignen, dass ich geschlagen werde, so ist es mir lieber, dass ich es werde, als dass du geschlagen wirst. Sollte sich ereignen, dass ich irgendeine Beleidigung erfahre, so ist es für mich lieber, dass ich sie erfahre, als dass du sie erfährst. Dieser da, der ihn bei der Mühle verwendete, erwarb sich das Paradies. Die väterlichen Ratschläge befolgen ist der Weisheit Rat. Der Claz226 sagt zur Stelle in den Sprüchen  :227 Gehorche deinem Vater, denn da er dich gezeugt hat, so kann er nicht umhin, dich zu lieben und dir keinen andern Rat zu er­teilen als den, der zu deinem Wohle gereicht. Und er fügt hinzu, dass, in Folge der verschiedenen Beschaffenheit der zwei Alters­stufen, es geschehen könne, dass dem Jünglinge der Rat des Al­ten verächtlich und töricht erscheint, obgleich die Erfahrung ihn dann lehrt, dass jener Rat weise und trefflich, während die ei­gene Meinung eine törichte und tollkühne war. Die Ehrfurcht gegen die Eltern darf nicht so weit gehen, dass man dieselben auch da, wo es sich um unsittliche und irre­ligiöse Taten handelt, zum Muster nehme und ihnen Folge oder Gehorsam leiste.228 Auch verstorbene Eltern müssen geehrt werden.229 Das Buch Chassidim fügt230 hinzu, dass der Sohn seinen verstorbenen Vater sich so vorstellen müsse, als wenn er noch leben würde, und daher alles das unterlassen müsse, was ihm |92| beim Leben missfallen hätte. Denn die Seele überlebt den Körper und hat Kenntnis von den Dingen hienieden, wie es aus dem Texte des ersten Buches Samuel231 hervorgeht. Die Lehrer der Mischna empfehlen die Ehrfurcht vor dem Stiefvater, der Stiefmutter und dem ältern Bruder. ‫כבד את אביך ואת אמך את אביך זו אשת אביך את אמך זה בעל אמך וי"ו יתירה‬ .‫ לרבות אחיך הגדול‬232 Die Liebe zu Brüdern und Verwandten |93| Die Natur und zugleich die Religion empfehlen die brüderli­che Liebe. Das Gesetz empfiehlt die Leviratsehe,233 eine Anordnung, die zur Erhaltung des Andenkens eines ohne Nachkommen verstorbenen Bruders dient. 226 Claz, Cap V. [siehe oben Anm. 202] 227 Spr 23,22 228 Siehe bBM 32a. Einige spezielle, dahin ein­schlägige Fälle sind im Buche Chassidim §§ 561–564 zu lesen. 229 bQid 31  : .‫מכבדו בחייו ומכבדו במותו‬ 230 Sefer Chassidim § 571. 231 1 Sam 2,33  : Ein Prophet verkündet dem greisen Eli, dass das Hohepriestertum bei seiner Familie, zur Strafe der schweren Missbräuche, die seine Söhne bei Verrichtung des heiligen Dienstes verübten, nicht verbleiben werde, und fügt hierauf hinzu  : Ich werde es jedoch nicht geschehen lassen, dass es dir gänzlich an einem Mann am Altar fehle (das heisst, du wirst Nachkommen haben, die das Priestertum, nicht jedoch das Hohepriestertum bekleiden werden), wodurch deine Augen verschmachten werden und dein Gemüt sich betrüben wird. Der Verfasser des Buches Chassidim nimmt diese letzten Worte buchstäblich und bezieht sie auf die Seele Eli’s nach dem Tode desselben. Kimchi hingegen und andere Kommentatoren verstehen darunter, dass die Betrübnis der spätern Nachkommen hier figürlich dem verstorbenen Vater zugeschrieben wird, und deine Augen und deine Seele bedeuten hier die Augen und die Seele deiner Nachkommen. 232 Ket 103, 1 233 Dtn 25,5–10

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9. Samuel David Luzzatto, Die Liebe zwischen Eltern, Kindern und Verwandten (1870)

Dasselbe Gesetz verpflichtet – zur Ablösung eines wegen Armut an einen Nichtisraeliten sich zum Sklaven Verkauften,234 so wie auch zur Ablösung des von jemand aus Not verkauften unbeweglichen Grund und Bodens – den nächsten, die Mittel dazu besitzenden Anverwandten dieser Dürftigen.235 Salomon sagt  : Der Bruder (der Blutsverwandte) ist für Unglücksfälle geboren, das heißt  : um in Nöten zu helfen.236 |94| Das Buch Chassidim erzählt,237 dass jemand, dem die Kinder gestorben sind, nahe vor seinem Tode sagte  : Ich weiß, dass ich keine derartigen Sünden begangen habe, wodurch ich mir ein solches Unglück verdient gemacht hätte. Ich hatte jedoch eine Schwester, die, im blühenden Alter eine Witwe geworden, sich hätte verheiraten wollen, allein aus Schüchternheit nie ihren Wunsch äußerte. Ihr Stillschweigen benützend unterließ ich es, sie das zweite Mal in den Ehestand treten zu lassen. Gott be­strafte mich daher mit Recht, dass er mich meiner schon erwach­senen Kinder beraubte. Die Talmudisten238 wenden auf den, der sei­ne Nachkommen liebt, seine Anverwandten an sich nähert, die Tochter seiner Schwester heiratet und dem Armen eine Münze im Momente dringender Not leiht, den Text in Jesaias an  : Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten, du wirst schreien und er wird dir sagen  : Da bin ich.239

234 235 236 237 238 239

Lev 25,47–49 Lev 25,25 Spr 17,17  : Sefer Chassidim § 660 bYev 62,63 Jes 58,9  :

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10. Samuel Holdheim, Die Schonung der Familie (1849)240

Text  : Dtn 20,1–10. |256| Vor allem ist es die Familie, in deren Boden die Religion |257| ihre tiefsten Wurzeln schlägt und die Familie ist es wieder, die aus dem Boden der Religion ihre Lebensäste zieht, ihre höchste Weihe und Heiligung empfängt, und nicht umsonst haben die ältesten Propheten bald den Liebesbund zwischen Mann und Frau, bald den Liebes­bund zwischen Eltern und Kindern als das heilige Symbol des Liebesbundes zwischen Gott und Israel dargestellt und bezeichnet. Zur Familie gehört aber notwendig Haus und Herd, die Grün­dung einer selbstständigen Existenz, oder wie es bei den patriar­chalischen Sitten des biblischen Zeitalters der Fall war, ein eigenes Haus, ein eigener Weinberg. In der Reihenfolge unserer Text­verse  : wer ein Haus gebauet, einen Weinberg gepflanzt, einem Weibe sich verlobt, will die Schrift uns belehren – sagen die Alten – wie der Mensch bei der Gründung seines Lebensglücks zu Werke gehe, nämlich, dass er erst ein Haus sich baue, einen Weinberg sich pflanze und erst dann zum Schlussstein seines häuslichen Glücks ein Weib eheliche.241 Daher breitet die Religion ihr schützendes Dach über alles aus, was zur Familie gehört und ist von einer so tiefen Hochachtung gegen alle sie berührenden Lebensverhältnisse durchdrungen, dass sie zu ihrer Schonung zarte und milde Vorschriften aufstellt, die um ihres sittlichen Geistes willen noch heute volle Beachtung verdienen. Es ist in unserem Text von einem heiligen Krieg die Rede, den das Volk im Namen Gottes zu führen hatte, und der Priester wird angewiesen, das Volk anzureden und den glaubensvollen Mut und die Siegeshoffnung in ihm zu erwecken und zu beleben. Dieser gewiss hohen Pflicht des heiligen Kriegs gegenüber machen die Familie und die mit ihr in Beziehung stehenden Verhältnisse ihr Recht geltend. Wer ist, – musste dann dem Heere zugerufen wer­den – der ein neues Haus gebaut und es nicht eingeweiht, er gehe und kehre zurück, er möchte im Krieg sterben und ein an­derer das Haus einweihen. Und wer ist, der einen Weinberg gepflanzt und ihn noch nicht gelöst (um die Frucht genießen zu dürfen), er gehe und kehre zurück, er möchte im Krieg sterben und ein anderer ihn lösen (für sich genussfähig machen). Und |258| wer um eine Frau gefreit und sie noch nicht heimgeführt, er gehe und kehre zurück, er möchte im Kriege sterben und ein anderer um seine Frau freien und sie heimführen. Wer, meine Freunde, sich den Sinn bewahrt, das Zartsinnige dieser gesetzlichen Anordnungen zu empfinden, der wird gewiss mit uns übereinstimmen, dass selbst den noch 240 [Samuel Holdheim, Familie und Beruf (1849). In  : Samuel Holdheim, Predigten über die jüdische Religion. Ein Buch der religiösen Belehrung und Erbauung für’s jüdische Haus, gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Zweiter Band. Dem um die Läuterung des Gottesdienstes und die Förderung der Religiosität in Israel hochverdienten Vorstande der jüdischen Reformgemeinde in Berlin hochachtungsvoll gewidmet. Berlin  : David 1853, 256–264] 241 bSot 44a

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10. Samuel Holdheim, Die Schonung der Familie (1849)

so sehr veralteten Ge­setzen des Judentums ein hoher sittlicher Geist innewohnt, und dass dieser Geist, weit entfernt, dem Leben feindlich gegenüber zu treten, es vielmehr zu erfüllen und zu durchdringen, zu heiligen und zu verklären als seine höchste Aufgabe erkennt. Es musste freilich durch den Krieg, wie dies leider noch immer in unsern Tagen der Fall ist, viel Familienglück zerstört, viel Lebensfreude zertreten werden. Allein es zeugt von echter Weisheit und rein-menschlichem Zartsinn  – und dieses, meine Freunde, ist der erste Gedanke, auf den wir heute unser Augenmerk zu­nächst richten wollen – dass der Geist der Schonung sich vornehmlich den Pflanzstätten zuwendet, deren Keime im Aufblühen begriffen und deren Früchte noch nicht zum Genuss reif geworden sind. Wohl muss der Baum, wenn seine Wurzeln in der Erde Schoß altern und von Fäulnis ergriffen worden sind, allmählich dahinwelken, und wenn auch hier und da noch einzelne Schösslinge hervorsprießen, am Ende dennoch absterben. Wir sehen es gewiss nicht ohne Rührung, doch auch nicht ohne Trost im Hinblick auf die vielen Jahre seiner Fruchtbarkeit. Aber wir trauern, wenn der Sturm einen jungen, lebenskräftig aufstrebenden Stamm über seinen Wurzeln gebrochen und all die schönen Verheißungen mit einem Schlage vernichtet hat, die sein herrlicher Anblick gewährte. Wir trauern, wenn wir seine hoffnungsvollen Zweige ungenossen der Fäulnis preisgegeben sehen. Wir sehen gewiss nicht ohne ein wehmütiges Gefühl einen lebenssatten Greis aus der Mitte der Seinen scheiden, und wenn auch sein Lebenslauf vollendet und sein Lebenswerk vollbracht, so netzt doch unsere Träne der Rüh­rung sein frisches Grab. Aber es bricht uns das Herz, wenn der Lebensfaden nicht bis zu Ende ausgesponnen, sondern in der |259| Mitte gewaltsam zerrissen wird, wenn der lebensdurstige Mann von der Seite der jungen trauernden Gattin, wenn die Mutter aus dem Kreis ihrer kleinen Kinder, wenn der Vater aus dem Schoß seiner Familie frühzeitig gerissen wird. So gehört unsere Liebe in weit größerem Maße dem Werden als dem Gewordenen, so ist unsere Anhänglichkeit weit inniger und fester ge­knüpft an die Entwicklung als an die Vollendung. Für die im Blühen und im Zeitigen begriffenen Lebensverhältnisse fordert der Geist der Religion größere Weihe und Schonung als für die, deren Frucht schon genossen. Wer ist weise  ?242 – lautet ein Spruch der Väter. Die Antwort  : Der, welcher auf das Entstehen und Werden der Dinge merkt und achtet und diesem seine ganze Liebe und volle Teilnahme zuwendet. Dieser milde Sinn gegen das Werden bedingt das Gedeihen aller sittlich-reinen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse, deren Herd, Keim- und Mittelpunkt die Familie ist. Darum, wer ein Haus gebaut und es nicht geweiht, wer einen Weinberg gepflanzt und ihn nicht gelöst, wer eine Frau gefreit und sie nicht geehelicht, der sei der Kriegspflicht entbunden, er kehre heim und vollende den begonnenen Bau seines häuslichen Glücks. Das, meine Freunde, ist der erste allgemeine Grundgedanke unseres Textes. Und wie fruchtbar und lehrreich ist dieser Ge­danke  ! Der Krieg, von dem hier die Rede ist, der Krieg für die Erweiterung des Vaterlands, für die Ausdehnung seiner Grenzen, mag ehrenvoll sein. Aber die Geschichte lehrt, dass Völker, die sich ihm hingaben, an ihm zu Grunde gingen. Warum  ? Weil so viele Lebensverhältnisse im Aufblühen begriffen, in ihrer Blüte 242 ‫איזהו חכם‬

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III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten

geknickt, vieles, was dem leiblichen und geistigen Gedeihen eines Volks unentbehrlich ist, im Keim zerstört worden ist. Der Ehr­geiz weniger wurde aufgestachelt, die Ruhmsucht weniger befriedigt, aber das Wohl des Ganzen wurde den Winden und Stürmen preisgegeben. Wer ein Haus gebaut und es nicht geweiht, musste die Weihe desselben fremden, ungeweihten Händen über­lassen. Wer einen Weinberg gepflanzt und ihn nicht vollendet, musste ihn unvollendet liegen lassen. Wer einer Frau sich verlobt |260| und sie nicht heimgeführt, musste die heiligen Liebesbande sich lockern und zerreißen sehen. Das Glück einer Nation besteht in dem Ausbau ihrer innern sittlichen Größe und Vollkommenheit, in der Vollendung und Befestigung aller innern Rechtszustände, in der Sicherheit aller Besitz- und Familienverhältnisse. Werden diese in ihrer Entwicklung gehemmt und unterbrochen, in ihrem Aufblühen und Wachstum gestört, so muss alles Glück hinwelken und die Nation, noch so reich und mächtig nach außen, muss an ihrer inneren Armut verkommen und verderben. Und wie im Großen, so im Kleinen  ! Wie viele Menschen sehen wir nach Vermehrung und Erweiterung ihres Besitzes rast­los streben und jagen, aber ihre Pflege und Sorgfalt dem Besitztum entziehen, zu dem sie bereits den Grundstein gelegt, der aber ohne unausgesetzte warme Pflege und Sorgfalt, in seiner Entwicklung gestört, dem Untergang anheimfällt  ! Kaum ist ein Haus vollendet, wollen sie schon ein zweites aufbauen und geben um dieses willen die Vollendung jenes ersteren einem unsichern Schicksal preis. Wie viele sehen wir, die statt der Weihung ihres häus­lichen Glücks, das sie gegründet, obzuliegen, statt dieses auszu­bauen und zu vollenden und eine ununterbrochene Befriedigung innerhalb seiner geweihten Räume sich zu sichern, dieses begonnene häusliche Glück unvollendet und unentwickelt liegen lassen und einer Befriedigung außerhalb desselben vergebens nachjagen  ! Wie vielen andern, meine Freunde, fehlt die sittliche Kraft und Stärke, bei dem einmal ergriffenen Lebensberuf auszuharren und in ihm und durch ihn den Bau ihres Lebensglücks zu vollenden  ; wie viele, welche diesen vollendenden Ausbau vernachlässigen, sehen wir, von Beruf zu Beruf übergehen und so ihr Lebensglück den unsichern Wechselfällen und Schwankungen des Geschicks preisgeben  ! Gewiss, meine Freunde, in allen diesen und noch in vielen andern Beziehungen des Lebens stände es viel besser um das Glück der Völker und der Menschen, wenn unser Textgedanke überall eine größere und tiefere Beherzigung fände, der die zarteste Schonung gegen reifende Lebensverhältnisse gebietet, jede Störung und Unterbrechung derselben verbietet. |261| Und aus diesem ersten sittlichen Gedanken unseres Textes folgt naturgemäß ein zweiter gleich wichtiger. Wer ein Haus gebaut und es nicht geweiht, wer einen Weinberg gepflanzt und sich sein nicht gefreut, wer einer geliebten Frau sich verlobt und sie nicht zum Altar geführt, der gehe und kehre zurück, denn er möchte im Kriege sterben und ein anderer sein Haus sich weihen, seines Weinbergs sich freuen und seine verlobte Frau heimführen. Wie der milde Geist der Religion mit besonderer Vorliebe den noch nicht entwickelten und zur Vollendung gedie­henen Lebensverhältnissen sich zuwendet und jede Störung von ihnen abwendet, so fordert dieser Geist mit gleicher Strenge, dass jeder Mensch selbst den Grundstein zum Bau seines Lebensglücks lege, dass jeder die Freude nur 100

10. Samuel Holdheim, Die Schonung der Familie (1849)

aus dem Brunnen schöpfe, den er selbst gegraben, dass keiner die Frucht genieße von dem Baume, den er nicht selbst mit eigenem Schweiße gepflanzt. – Der große sittliche Schaden, den die Religion befürchtet und verhüten will, ist nicht allein der, dass der eine im Krieg sterben und den Lohn seiner Mühe nicht ernten, das wohlverdiente Glück seines Hauses, das er unter Mühe und Opfer aufgerichtet, nicht erreichen, die Freude seines Weinbergs, den er im Schweiße gepflanzt, nicht genießen, der Seligkeit mit einer Frau, um deren Liebe er geworben, nicht teilhaft werden wird. Nein, der nicht minder große sittliche Schaden ist auch der, dass ein anderer den Lohn fremden Schweißes ernten wird, dass ein anderer unverdienter Weise das Haus weihen, das er nicht gebaut, die Frucht des Weinberges genießen wird, den nicht er, den fremder Schweiß gepflanzt, die Frau heimfüh­ren wird, nach deren Liebe er nicht gerungen. – Steht darum die Entwicklung um so viel höher als die Vollendung, weil in ihr das tatkräftige sittliche Streben des Menschen in seiner ganzen jugendlichen Blüten- und Lebensfülle offener und reicher hervortritt, so steht der Genuss ohne Arbeit, die Ernte ohne Aus­saat um so viel tiefer. Und fürwahr, wenn in unserem ersten Textgedanken die große und bedeutsame Wahrheit enthalten ist, dass unsere Liebe |262| und Sorgfalt vorzüglich den zarten Blüten und Keimen reifender Verhältnisse zugewandt sein müsse, weil, wenn diese schonungslos behandelt würden, alle Aussicht und alle Hoffnung auf Ernte und Genuss vernichtet wäre, so liegt in unserem zweiten Text­gedanken der betrübende Aufschluss, warum unsere allgemeine und unsere besondere Wohlfahrt, obwohl so viele Hände an ihrem Aufbau seit undenklichen Zeiten rüstig arbeiten, immer nicht recht gedeihen will. Der Krebsschaden aller menschlichen Zustände, aller sittlichen Lebensverhältnisse ist der Hang so vieler Menschen nach Genuss ohne Schweiß, nach Glück ohne Verdienst, nach Ernte ohne Aussaat  ! Hier der Keimpunkt aller verbrecherischen Gelüste, hier der Fäulnis und Verderben erzeugende und bringende Ursprung, der alle unsere sittlichen Zustände vergiftet. Gott hat die Men­schen mit einem unauslöschlichen Trieb nach Glückseligkeit reich begabt und ihnen die Mittel nicht versagt, diesen Trieb zu stillen und ihm die Befriedigung zu verschaffen. Dass sie aber das rein-­menschliche Glück genießen, dass sie einer höhern sittlichen Lebensfreudigkeit teilhaft werden, sind sie dem in der sittlichen Weltordnung geltenden Gesetz unterworfen  : Kein Glück ohne Verdienst, kein Genuss ohne Arbeit, keine Freude ohne Opfer  ! Es ist wohl nicht ernstlich gemeint, wenn in unserem Texte die Befürchtung ausgesprochen wird, dass der eine vor seinem verdiente Glück sterben und ein anderer unverdient dieses Glücks Erbe sein würde. Nein, meine Freunde, nach der sittlichen An­sicht der Schrift kann das wahre Glück nur verdient, aber weder durch Raub noch durch Erbschaft erreicht werden  ! Denn geweiht und geheiligt ist der Genuss und die Freude nur für den, der ihren Quell gegraben. Es ist unmöglich, dass einer das Haus seines Näch­sten sich weihen oder ohne Weihe die reine häusliche Freude genieße  ; es ist unmöglich, dass jemand mit einer Frau der Seligkeit teilhaftig werde, deren Liebe um einen andern trauert. Allein das ist eben der Fluch, den die böse Tat erzeugt, dass wir nur fremdes Glück zerstören, aber nicht aus der Zerstörung fremden Glücks unser eigenes aufbauen können. Wir können wohl die aufblühenden Saaten niedertreten, aber ernten, |263| mit Freude ernten, können nur die, welche mit Tränen säten  ! 101

III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten

Dies, meine Freunde, sind die zwei sittlichen Grundgedanken un­seres Textes  : die zarteste Schonung für die noch nicht reif ge­wordene Lebensfrucht, die er uns empfiehlt, und die Mahnung, die er uns ans Herz legt, keine Frucht vom Baume zu brechen, den wir nicht gepflanzt haben. Und so wir in den Meeresgrund dieser Gedanken uns versenken, können wir manche köstliche Perle der sittlichen Belehrung für uns gewinnen. Wohl ist keiner unter uns, dem die letztere Mahnung mit besonderem Nachdruck brauchte ein­geschärft zu werden, aber für viele dürfte die erstere Aufforderung nicht überflüssig sein. Wohl streben wir alle, das Glück zu erreichen, wonach Gott uns den Trieb ins Herz gelegt, und wenden die Kraft an, die seine Vatergüte uns dazu verliehen hat. Fremdes Gut ist uns eben so heilig als unser eigenes, das durch uns für uns geweiht ist. Ob wir aber eben so bereitwillig und entschlossen sind, fremdes Glück, das im Aufblühen begriffen, zu fördern, frem­des Wohl zu dem der Grundstein gelegt ist, weiter emporzubringen, als wir unsere Hand von dessen Zerstörung zurückziehen  ? Ob wir in eben dem Maß, als wir jeder Gefährdung fremden Wohls uns selbst enthalten, auch jegliche Gefahr, von woher immer sie ihm drohen möge, von ihm abzuwenden bemüht sind  ? Das wäre die Frage. Siehe, mit besonderem Nachdruck werden die Pflanz- u ­ nd Bildungsstätten aller sittlichen Lebensverhältnisse unserer zar­testen Liebe und Fürsorge empfohlen. Prüfe dich, mein Freund, und frage dich, ob, so oft du einem strebsamen Jüngling begeg­net bist, der mit sittlichem Eifer und ausdauernder Mühe nach einer festen und gemeinnützigen Lebensstellung, nach einem würdigen Beruf ringt, in welchem er einst für sich und andere heilvoll wird wirken können, ob du dich von dem Anblick dieser aufgehenden Saat dich gerührt und bewogen fühltest, ihm unter die Arme zu greifen und zur Erreichung eines würdigen Lebensziels zu verhel­fen  ? Ganz ähnlich der Fall, von dem in unserem Text die Rede ist  : Würdest du hier einen Menschen sein Hans bauen, seinen Wein­garten pflanzen sehen, überfiele dich dann nicht die Sorge, er könnte im heili- |264| gen Krieg mit all’ den feindlichen Hindernissen und Schwierigkei­ten unterliegen und sein Haus könnte ungebaut, sein Weinberg unvoll­endet liegen bleiben  ? – Prüfe dich ferner, ob, so oft eine sittige, arbeitsame Jungfrau dir begegnet, die sich mit dem Mann ihrer Liebe verlobt, aber in Ermangelung dieses und jenes, was zur Aufrichtung einer bescheidenen Häuslichkeit notwendig ist, von ihm noch nicht zum Altar geführt werden konnte – frage dich, ob du von einem solchen Anblick ergriffen und bewogen fühltest, mild und zart über diese liebliche Pflanzung des schönsten Erdenglücks den Schirm deiner rettenden Liebe auszubreiten, damit die mit ihrem Schicksal Ringenden nicht im Kampf unterliegen und ein Lebensglück in seiner Entfaltung gehemmt und gestört, ein Liebes­band zerrissen werde, das zu seiner Vollendung nur noch der Weihe am Altar bedarf  ! Siehe, mit tiefer Weisheit hat uns die Religion die Liebe zum werdenden Glück der Menschen ans Herz gelegt  ! Ein gewordenes und vollendetes Glück zerstören wird nur die rohe Hand des Frevlers. Aber leider ist unser Pflichtgefühl nicht immer so lebendig rege, um dem werdenden Lebensglück so vieler Men­schen unsere volle Aufmerksamkeit und Fürsorge zuzuwenden. Das Vollendete zerstören ist eine böse Tat, die Vollendung stören eine böse Untat. Für den Schutz des Gewordenen sorgen die bürgerlichen Gesetze, die Schonung des Werdenden ist ein heiliges Gebot der Religion. 102

11. Samuel Holdheim, Liebe gegen Verstorbene (1850)243

|268| Die letzte Ehre, oder die Pflicht gegen die Verstorbenen, eine Folge der Pflicht gegen die Lebendigen. Zu den schönsten Tugenden, von welchen der Mensch die Früchte, gleichsam die Zinsen genießt in diesem Leben, während das Stammkapital ihm bleibend und unversehrt erhalten wird zum ewigen Lohne in der zukünftigen Welt,244 zählen die alten Weisen die Liebe und die Ehre, die wir üben gegen Verstorbene.245 Wie hoch sie diese Tugend achten, geht auch daraus hervor, dass sie sie mit den heiligsten Pflichten, die wir gegen die Lebenden zu erfüllen haben, wie246 Ehrfurcht und Liebe gegen Vater und Mutter,247 Wohltätigkeit und Menschenliebe in dem umfassendsten Sinne des Wortes,248 Krankenpflege,249 Frieden stiften zwischen Mensch und Mensch, dass sie sie, sage ich, mit diesen Pflichten in eine Reihe und auf gleiche Stufe stellen. Wenn sie aber am Schluss sagen,250 die Beschäftigung mit Gottes Wort und Lehre gehe über alles, so haben sie an einem andern Orte die Allge­meingültigkeit dieses Spruches dahin eingeschränkt, indem sie sagen  :251 die Lehre und die Erkenntnis seien darum so bedeutungsvoll, weil sie den Menschen führen und zur Übung und Tat brin­gen, und fügen noch besonders hinzu,252 |269| nicht die Erkenntnis sei die Hauptsache, sondern nur ein tätiges pflichtmäßiges Leben. Ich lenke heute Euren Blick, meine Freunde, auf diese  – wir dürfen sie so nennen  – echt israelitische Tugend, auf die Liebe und Ehre, die wir den Verstorbenen schuldig sind. Abraham, dessen Leben wir schon vielfältig als hohes und erhabenes Vorbild gewürdigt und betrachtet haben, er ist uns auch Muster und Vorbild dieser Tugend. Als seine geliebte Frau Sara, die mit ihm auf der langen und mühevollen Wanderschaft, Freud und Leid eines an Wechselfällen und Prüfungen reichen Lebens redlich geteilt hatte, als diese Frau seiner Jugend ihm starb, da kam er, um sie zu trauern und zu weinen. Nachdem diesem ersten Schmerzgefühl sein Recht geschehen war, kam die tätige Liebe und die Ehre gegen die Verstorbene an die Reihe. 243 [Samuel Holdheim, Die letzte Ehre (1850). In  : Samuel Holdheim, Neue Sammlung jüdischer Predigten, worunter über alle Feste des Jahres, gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Erster Band. Seinem würdigen Freunde und Amtsbruder Herrn Dr. David Einhorn, Rabbiner und Prediger der jüdischen Reformgemeinde zu Pesth, Hochehrwürden in Liebe und Hochachtung gewidmet. Berlin  : David 1852, 268–277] 244 ‫דברים שאדם אוכל פירותיהם בעולם הזה והקרן קימת לעולם הבא‬ 245 ‫הלוית המת‬ 246 ‫כבוד אב ואם‬ 247 ‫גמלת חסדים‬ 248 ‫בקור חולים‬ 249 ‫הבאת שלום בין אדם לחברו‬ 250 ‫ותלמוד תורה כנגד כלם‬ 251 ‫גדול הלמוד שמביא לידי מעשה‬ 252 ‫לא המדרש עיקר אלא המעשה‬

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III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten

Abraham stand auf – erzählt die Schrift – von dem Angesicht seiner Toten und sprach zu den Söhnen des Landes  : Ein Fremd­ling und Insass bin ich unter euch. Gebt mir eine Begräbnisstätte zum Besitz, dass ich meine Tote begrabe vor meinem Angesicht. Gewiss, meine Freunde, gehört diese tiefinnige Trauer Abra­ham’s um seine in hohem Alter noch jugendlich geliebte Frau, seine tätige Liebe, sie zu ehren im Tod und eine Grabstätte für sie um teuren Sold zu erwerben, gewiss gehört dies alles, von dem die Schrift nicht umsonst eine so ausführliche Kunde uns gibt, zu den schönsten Zügen im Lebensgemälde Abra­ ham’s. Doch haben wir’s nicht nötig allzulange bei ihm zu verweilen, denn diese Tugend hat sich als ein teurer Besitz in Israel vererbt und gehört zu seinen kostbarsten Eigentümlichkeiten, die es nie und nimmer veräußern kann und wird. Dass man trauert, weiß jeder von uns, der schon ein teures Leben verloren. Was das wie der Trauer betrifft, müssen wir uns heute mit der Bemerkung genügen lassen, dass es unmöglich und darum vergeblich sei, dem trauernden Herzen Gesetze vorzuschreiben, wie es trauern solle und durch welche Zeichen es seine innere Trauer nach außen hin kund geben möge. Das heißt sich in das innere Heiligtum des Herzens hineindrängen und ihm gleichsam die Laute seiner |270| Gefühle und Empfindungen vorschreiben.253 Leider haben sich in dieser Beziehung Gebräuche und Sitten unter uns vererbt, die nicht Abraham den Fels nennen, aus welchem sie gehauen, nicht Israel den Quell, aus dem sie geschöpft sind, Gebräuche, die den köstlichen Juwel in der Priesterkrone254 der israelitischen Reli­gion, fromme, schweigende Ergebung in den göttlichen Willen, wie Aaron sie übte, verunzieren und die auf ihrem tiefen Meeresgrund wachsende Perle des Unsterblichkeitsglaubens verunstalten. Davon, meine Freunde, will ich heute schweigen. Aber auf ein anderes will ich Eure Aufmerksamkeit hinlenken, auf die sittlichen Gedanken nämlich, die der hohen Pflicht gegen Verstorbene zu Grunde liegen. Diese lauten  : Alle Verpflichtung gegen die Verstorbenen ist nur eine Folge der Pflicht, die wir gegen die Lebendigen zu üben schuldig sind. Mit Zugrundelegung dieses Gedankens wollen wir unser Thema zuerst be­trachten  : 1) Wie wir uns gegen die Lebenden zu benehmen haben, damit wir gegen sie im Tod die letzte Pflicht erfüllen können, und dann, 2) Wie wir uns gegen sie zu benehmen haben, dass mit der letzten Ehre, die sie uns im Tod erweisen, ihre Ver­pflichtung gegen uns nicht erschöpft werde. I. Die Ehre, die wir den Toten erweisen, nennt der Sprach­gebrauch die letzte Ehre, und dies beweist, dass sie das letzte Glied einer großen Kette von Pflichten ist, die wir dem jetzt toten, einst lebendig gewesenen Menschen schuldig waren. Gegen den Toten als solchem haben wir keine Pflichten, können wir keine Pflichten haben. Der Tod ist unfruchtbar und kann sie nicht erzeugen und hervorbringen, nur das Leben ist fruchtbar und kann |271| 253 Siehe des Verfassers Votum über diesen Gegenstand in den Protokollen der dritten Rabbiner-Versammlung. S. 182–184. [Geiger, Abraham  ; Levy, M. A.: Protokolle der dritten Versammlung deutscher Rabbiner  : abgehalten zu Breslau, 13.–24. Juli 1846. Breslau  : Leuckart 1847, 181–182] 254 ‫כתר כהונה‬

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11. Samuel Holdheim, Liebe gegen Verstorbene (1850)

über sein eigenes Ziel hinaus verpflichten. Wir haben Pflichten gegen den Toten, aber nur in Rücksicht auf den einst Lebendigen, dem wir verschuldet und verpflichtet waren und es bleiben, bis wir auch die letzte Schuld abgetragen, die letzte Ehre ihm er­wiesen haben. Der Menschengeist ist ein göttlich-hohes, heiliges Wesen, der Leib dagegen ein irdisches und gemeines. Aber so lange dem irdischen Leib ein göttlicher Geist inne wohnt, ist auch er die Wohnung der unsterblichen Seele, der Tempel des göttlichen Geistes.255 Von der Tempel- und Opferstätte zu Jerusalem – sagen die Alten – dass man ihr noch jetzt, da sie verwüstet, all’ die Ehrfurcht bezeigen müsse, die man ihr einst in ihrer Blütezeit schuldig war, denn256 wenngleich zerstört, so ist sie noch immer im Besitz ihrer ehemaligen Heiligkeit geblieben. Bekanntlich hatte Mose, als er mit den Gesetzesta­feln vom Sinai herunterkam und das Volk in verwildertem Zu­stande vor einem goldenen Kalb tanzend vorfand, in der ersten Aufwallung seines edlen Zornes unterm Fuß des Berges die Tafeln zerbrochen und erst später auf göttliches Geheiß neue Ta­feln angefertigt, welche in der heiligen Bundeslade aufbewahrt wurden. Zu diesen neuen Tafeln mussten auch – nach einem Spruch der Alten  – die Trümmer der alten Tafeln hinzu­gelegt und mit jenen in derselben Bundeslade dem Volke aufbe­wahrt werden257, weil man auch dem zerstörten Heiligtum Ehrfurcht schuldig ist. So, meine Freunde, sind wir auch dem menschlichen Leichnam in Rücksicht auf seine ehemalige Würde, als er noch die Bundes­lade eines göttlichen Geistes war, das Heiligtum einer Menschen­seele beherbergte, Ehre und Achtung schuldig und sind dieser Schuld nicht eher entledigt, als bis wir auch die letzte bezahlt, die letzte Ehre ihm erwiesen haben. Wer auch die letzte Schuld bezahlt, der hat seine Verpflichtung vollkommen gelöst. Aber doch nur dann, wenn es nicht bloß der Zeit, sondern der Sache nach die letzte Schuld war, wenn nämlich allen früheren Verpflichtun­gen vollkommen genügt worden ist. Wenn ich gegen den lebenden |272| Menschen alle meine Schuldigkeit getan, dann kann ich ihm im Tod die letzte Ehre erweisen. Bin ich einer meiner Pflichten gegen ihn im Leben nicht nachgekommen, dann ist die, welche ich gegen den Toten erfülle, freilich in dem Sinne die letzte, dass ich keine gegen ihn mehr erfüllen kann, aber sie ist nicht die letzte in der Tat und in der Wahrheit. Es ist nicht der Rest, der die Summe meiner Pflichten erschöpft und mich gegen ihn aller meiner Verpflichtungen leer und ledig macht. Wer einem Verstorbenen die letzte Ehre, die letzte Liebe erweist, sich aber sagen muss, dass er ihm viel Ehre schuldig geblieben sei, viel Liebe nicht gezahlt habe, wer einen Toten zur letzten Ruhestätte begleitet und in sich den Vorwurf hören muss, den, welchen ich jetzt ehre, habe ich im Leben oft verleumdet, dem, welchem ich jetzt Liebe und Treue erweise, habe ich im Leben die Liebe versagt, die Treue gebrochen, dem, welchen ich jetzt zur Ruhe bringe, habe ich im Leben die Ruhe geraubt, den Frieden zerstört, dieser, meine Freunde, hat wahre Ursache zu trauern, nicht über den Verstorbenen. Nein, über sich, den Lebenden, dem ein gutes Teil seines Lebens 255 '‫משכן ה‬ 256 ‫אף על פי שחרב עדין בקדושתו עומד‬ 257 ‫לוחות ושברי לוחות היו מונחות בארון‬

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III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten

ins Grab gelegt wird. Der ehrliche, gewissenhafte Mensch trauert nicht so sehr, wenn ihm ein Schuldner stirbt und keine Erben hinterlässt, die ihres Vaters Schuld tilgen könnten, nein, meine Freunde, der ehrliche gewissenhafte Mensch trauert noch mehr, wenn ihm ein Gläubiger stirbt und ihm die Möglichkeit mit ins Grab nimmt, seine Schuld gegen ihn abzutragen. – Ja, meine Freunde, die Ehre und die Pflicht gegen die Ver­storbenen ist nur eine Folge und Fortsetzung der Ehre und der Pflicht, die wir den Lebendigen schuldig sind. Darum je größer die Summe der Pflichten gegen die Lebendigen, je größer die Liebe und die Ehre gegen sie im Tod. Eltern und Kinder, Gatte und Gattin, Freunde und Verwandte stehen sich im Leben viel näher, berühren sich viel häufiger und inniger, werden von stärkeren Kräf­ten angezogen, von festern Banden umschlungen, haben größere, umfassendere Pflichten gegeneinander zu erfüllen, darum ist der Schmerz im Tod ein so gewaltiger, darum die Liebe um so tätiger und erfinderischer, darum die Ehre um so zarter und empfind- |273| licher. Man fühlt die Größe und den Umfang der Pflichten gegen die Geliebten erst recht und lebendig in dem Augenblick, wo wir die letzte Pflicht, die letzte Schuld gegen sie abtragen, die letzte Liebe, die letzte Ehre ihnen erweisen sollen, und man fragt sich, ob es in der Tat die letzte sei, ob es der Schlussstein sei, mit dem wir den Bau unserer Pflichterfüllung vollenden, oder ob wir nicht Brücken zu bauen haben über reißende Ströme, gähnende Abgründe, die sich nie schließen werden. Wie es eine alte Regel ist, bekehre dich einen Tag vor deinem Tode, Wie wir uns stets an das Ende unseres Lebens mahnen sollen, so, meine Freunde, sollen wir auch an den Tod unserer geliebten Menschen mit Zittern denken, gegen die wir so tief verschuldet sind. Unser eigener Tod könnte uns schuldig ins Grab führen, der Tod unseres Nebenmenschen kann uns, was nicht minder schrecklich ist, den Rest un­seres Lebens schuldbeladen hinbringen lassen. Jakob wollte sich wegen des Todes seines geliebten Joseph nicht trösten lassen.258 Richtig bemerken die Alten  :259 Der Mensch ist für den Trost unempfänglich, wenn der für alle anderen Verstorbenen für ihn allein noch lebt, wenn sein Schuldbrief gegen ihn nicht getilgt ist.260 Nur wenn unser Schmerz ausschließlich dem Verstorbenen gilt, kann die Zeit den Schmerz verklären, nicht aber, wenn die Mahnungen des Toten die Trauer in unserem Herzen stets wieder erneuern. Darum nicht minder als deinen eigenen frühen Tod, fürchte den Tod deiner ge­liebten Nebenmenschen, die du vielleicht nicht genug geliebt und geehrt hast, wie du es ihnen schuldig bist. Fürchte den Tod der Armen und Dürftigen, deren Not du nicht gelindert, deren Last du nicht mitgetragen. Fürchte den Tod der Hungrigen, die du nicht gespeist, der Nackten, die du nicht gekleidet, der Elenden und Unglücklichen, deren Tränen du nicht getrocknet, deren Herzen du nicht erquickt, der Witwen und Waisen, deren Recht du nicht geschützt und vertreten, der gebeugten Seelen, die du nicht auf­gerichtet. Fürchte den Tod aller derer, denen du Liebe, Ehre, Milde, Schutz und Beistand schuldig bist und die dir genommen |274| werden können, ehe dein Schuldbrief zur Hälfte bezahlt ist. 258 Gen 37,35 259 ‫אין אדם יכול לקבל תנחומין על החי‬ 260 ‫שעל המת נגזרה גזרה שישתכח מן הלב ולא על החי‬

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11. Samuel Holdheim, Liebe gegen Verstorbene (1850)

Die Liebe gegen die Verstorbenen nennen die Alten die wahre, uneigennützige Liebe, weil sie auf jede Vergeltung verzichtet.261 Fürchte, dass deine Liebe gegen sie die unwahre eigennützige Liebe genannt werden müsste, dass du an den Toten gut zu machen haben würdest, was du an den Lebenden versäumst.  – Darum, meine Freunde, lasst uns alle die Wahrheit tief beherzigen, die Liebe gegen die Verstorbenen ist nur eine Folge unserer Schuld gegen die Lebenden, und dass, wenn unsere letzte Liebespflicht gegen die Toten eine Tugend genannt zu werden verdienen soll, sie in Wahrheit die letzte sein muss. II. Die letzte Pflicht kann nicht die schwerste Pflicht sein. Die Schwierigkeit besteht nur darin, gegen den Lebenden so zu han­deln, dass man ihm im Tode die letzte Liebespflicht erweisen könne. Wo sie in der Tat der letzte Ring in der Kette ist, die uns mit dem Verstorbenen verbindet, wo sie in Wahrheit den Schlussstein bildet in dem Bau unserer Pflichterfüllung, da können wir ruhig dem Toten und dem Tod ins Antlitz schauen, da sitzt die Liebe über uns zu Gericht und ihr Spruch lautet  : Gnade. Es obliegt uns aber, meine Freunde, die mit uns Lebenden in dem Maße gegen uns zu verpflichten, dass ihre Pflicht gegen uns weit, weit über unser Grab hinausreiche. Wie wir daher einerseits streben müssen, dass die Toten, die wir ehrenvoll bestatten, keine Forde­rung an uns mit in ihr Grab nehmen, so müssen wir andererseits darnach trachten, dass ein ehrenvolles Grab, eine Träne der Rüh­rung nicht alles und nicht das Letzte sei, das man uns im Tode erweise, dass vielmehr unser Name und unser Wirken fort­dauernd die uns Überlebenden zur Pflichterfüllung gegen uns auf­rufe, zur Liebe und Dankbarkeit gegen uns verschulde. Nehmen wir an, meine Freunde, es stirbt ein Leidender, den wir getröstet, ein Unglücklicher, den wir aufgerichtet, ein Hungriger, den wir gespeist, ein Nackter, den wir gekleidet, ein Irrender, den wir geleitet, ein |275| Wankender, den wir unterstützt, er stirbt, aber unsere Liebe stirbt nicht, sie lebt und geleitet ihn zur Friedensstätte, wo alles Leiden ein Ende hat. Wir dürfen dann sagen  : Wir erweisen ihm die letzte Ehre, die letzte Liebespflicht, seine Forderung haben wir ganz er­füllt, unser Schuldbrief ist getilgt. Wenn aber wir sterben und die Unglücklichen, deren Not wir gelindert, die Müden und Be­ladenen, deren Last wir mitgetragen, uns zu unserer Ruhestätte geleiten und Tränen der Dankbarkeit an unserem Grabe weinen, kann man denn sagen, dass sie uns die letzte Ehre, die letzte Liebe erwiesen, die letzte Pflicht gegen uns erfüllen  ? Nein, so oft sie an ihre Not und unsere Liebe, an ihr Elend und unsere Teilnahme, an ihr Unglück und unseren Beistand sich erinnern, werden sie in Liebe und Dankbarkeit unser gedenken und aus­rufen  :262 Das Andenken des Frommen sei gesegnet  ! Denken wir, meine Freunde, an unseren Gatten, mit dem wir Freud und Leid des Lebens teilen, denken wir an unsere Kinder, die wir wie der Adler seine Jungen auf unseren Flügeln über alle Gefahren und Abgründe des Lebens hinweg getragen, können wir von ihnen sagen, dass die Ehre, mit der sie uns zu unserer Ruhestätte tragen, dass die Tränen, 261 ‫חסד שעושים עם המתים חסד של אמת שאינו מצפה לתשלום גמול‬ 262 ‫זכר צדיק לברכה‬

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III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten

die sie an unserem offenen Grabe vergießen, die letzte Ehre, die letzten Tränen seien  ? Nun, meine Freunde, was wir unserem Gatten, was wir unseren Kindern, Eltern und Geschwistern sind, das können wir freilich nicht anderen Menschen sein. Jene haben das Recht der Erstgeburt auf unsere Teilnahme, ihnen gehört ein zweifacher Anteil von unserer Liebe. Aber wir dürfen auch den anderen ihr rechtmäßiges Erbe nicht kürzen und ihr Teil an unserer Liebe nicht schmälern. Kinder, Gat­ten und Freunde geleiten uns bis zu unserem Grabe. Und wenn sie auch den Schmerz mit sich heimführen in das verödete Haus und ihn tragen durch ihr an Freude ärmer gewordenes Leben, ein Zeugnis der Liebe, das wir als Denkmal für uns haben aufge­richtet in ihrem Herzen, so ragt doch dieses Denkmal nicht über die gewöhnliche Höhe hinaus, dass es auch in der Ferne könnte gesehen, so ist doch die Inschrift keine so glänzende, dass sie auch in geringer Entfernung mit freiem Auge könnte gelesen werden. |276| Das Gefühl der Dankbarkeit und der Liebe aber, das wir in dem Herzen fremder Menschen entzündet haben, die edlen Gedanken, die wir in ihrer Brust anregen, die frommen Handlungen, die wir an ihnen vollbringen, die schönen Beispiele, die wir ihnen geben, das, meine Freunde, sind Leichensteine und Denkmäler, die über die gewöhnliche Höhe hinaufreichen, deren glänzende Inschriften noch von späten Geschlechtern mit Rührung und Andacht gelesen werden. Ja, meine Freunde, schön und wahr sagten die alten Weisen  :263 „Den Frommen und Gerechten werden keine Leichensteine gesetzt, ihre Worte und ihre Taten, das sind ihre Denkmäler.“264 Von dem Tode des Königs Jechiskijahu sagt die Schrift  : „Er legte sich zu seinen Vätern und man begrub ihn auf der höchsten Stelle der Gräber der Söhne David’s, und Ehre taten sie ihm an bei seinem Tode, ganz Jehuda und die Bewohner Jerusalems.“265 Sinnig sagen die Alten266  : Die Ehre, die sie ihm antaten, bestand darin, sie legten das Buch des Gesetzes auf seinen Sarg und sprachen, der in diesem Sarge ruht, hat erfüllt, was in jenem Buche geschrieben steht  !“ Gegen solche Tote, meine Freunde, ist unsere Pflicht mit einer noch so ehrenvollen Bestattung nicht abgetan, unsere Schuld mit noch so heißen Tränen nicht bezahlt. Womit hat Jechiskijahu sich bleibende Denkmäler in Jehuda und Israel errichtet  ? Die Schrift erzählt, er war eifrig bemüht um die Wie­derherstellung des reinen Kultus des einzigen Gottes in Israel, er hat die Götzenaltäre schonungslos zertrümmert und die kupferne Schlange, die Mose errichtet, weil sie ihre zeitgemäße Bestimmung verloren hatte und ein Gegenstand des Aberglaubens unter dem Volk geworden war, zerstört. Zu den Priestern und Leviten sprach er  : Heiligt euch und heiligt das Haus des Ewigen, des Gottes eurer Väter und schaffet das Unreine hinweg aus |277| dem Heiligtum.267 Und die Zeitgenossen und die nachkommenden Geschlechter haben das An­denken des Königs Jechiskijahu mehr geehrt als das vieler seiner Vorgänger, indem sie seine Worte und 263 264 265 266 267

.‫אין עושין נפשות לצדיקים דבריהם הם זכרונם‬ yScheq IX 2 Chr 32,33 bBQ 14a  : .‫הניחו ספר תורה על מטתו ואמרו קיים זה מה שכתוב בזה‬ 2 Chr 29,5

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11. Samuel Holdheim, Liebe gegen Verstorbene (1850)

Werke in Ehren hielten und ihnen ein bleibendes Denkmal in ihrem Geist und in ihrem Herzen errichteten. „Ein Lehr- und Versammlungs­haus“ – sagen die Alten – „hatten sie an seinem Grabe er­richtet,268 und so oft sie da sich versammelten, brachten sie seine Lehren sich in Erinnerung.“269 In solcher Weise erhoben sie sein Andenken, mit solcher Tat hatten sie seinem Wirken ein Denkmal der Erinnerung geweiht, seine Worte und Lehren der Vergessenheit entrissen. So, meine Freunde, sollen auch wir die Toten ehren, die wir mit einem ehrenvollen Grabmal nicht genug zu ehren vermögen. So bezahlen wir unsere Schuld, die wir mit den salzigsten Tränen nicht genug bezahlen können. So geben wir Gelegenheit, dass man auch gegen uns nicht mit so geringer Ehre sich wird abfinden können, so errichten wir uns selbst ein Denkmal unter den Geschlechtern, die nach uns kommen, ein Denkmal, das sie ehren und segnen werden. Das gib uns Gott, in deiner Gnade, erfülle unseren schönsten Wunsch, dass wir sterben mögen den Tod der Gerechten, und dass unser Ende dem ihrigen gleich sein möge  ! Amen.

268 2 Chr 29,5 269 Ekha Zuta  : ‫וכשהיו הולכים שם היו אומרים למדנו‬

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12. Samson Raphael Hirsch, Die Achtung des Leichnams ‫( קבורה‬1837)270

|384| Auch selbst den Verbrechens halber Hingerichteten sollst du, sobald du von seinem Tode überzeugt bist, nicht über Sonnenuntergang über der Erde lassen.271 Im Toten sollst du nicht mehr den Verbrecher erkennen  ; denn auch die vollzogene Todesstrafe ist Gottes Strafe, wie jeder Tod Gottes Schickung ist. Denn Richter sind Stellvertreter Gottes auf Erden und Gottes Auftrag |385| voll­strecken sie, wenn sie das Recht seines Wortes verwalten. – Vom Verbrecher lehrt dich Thschbp auf jeden anderen Gestorbenen schließen, dass du ihn, sobald du von seinem Tode überzeugt bist, nicht über Sonnenuntergang, ohne Grund über der Erde behaltest, es sei denn, das längere Verweilen ist zu seiner würdigen Bestattung erforderlich. „Denn Staub bist du und zu Staub kehrest du wieder  !“ ist des Schöpfers Spruch über die Menschenhülle. Staub ist das Gerüst des Menschenkörpers. So lange er von Lebensgeist beseelt ist, ist er das Werkzeug des Menschengeistes zum Menschenwirken. Wenn aber die Seele entflohen ist und der Geist ist zu seiner geistigen Bestimmung zu Gott geeilt, dann soll auch der Körper seiner Erdbestimmung nicht vorenthalten bleiben, sondern der Erde und der Luft, dem Wasser und dem Feuer und allen übrigen Elementen zurückgeben, was er zur Menschenhüllebestimmung empfangen, auf dass es der neuen Lebensbildung im Reiche des Schöpfungs­haushalts diene. – An demselben Tage, an dem der Geist seiner Himmelsbestimmung zugeeilt ist, finde auch der Körper sich seiner Elementarbestimmung wiedergegeben. Und nur wenn zur Beschaffung des Nötigen und zur würdigen Be­stattung Zeit nötig ist, gehört noch der Körper insoweit der Persönlichkeit des entflohenen Menschen an, dem er im Leben als Werkzeug gedient, dass er so lange seiner Bestimmung vorenthalten bleiben darf, bis das jener Persönlichkeit Entsprechende herbeigeschafft werde. – Der Leichnam werde darum unter die Erde gebracht, und, wenn auch mit Bretterwänden umgeben, in Berührung mit der alles auflösenden und in ihren Mutterschoß wiederaufnehmenden Erde gesetzt. Also wäre das Beerdigen ein Gerechtwerden gegen den Menschenkörper und gegen die Elementarwelt in ihrer Forderung an den |386| Menschenkörper  ; also ist K’wuróh )‫(קבורה‬ eine Pflicht gegen den Toten und die Elementarwelt. Aber sie hat noch eine andere Seite und ist auch Pflicht gegen die überlebende Welt. Bisojaún )‫ (בזיון‬nämlich, eine Entwürdigung der Menschenpersönlichkeit wäre es nämlich, vor unseren Augen die Hülle, unter der wir nur allein hier auftreten, und die göttlichen Menschenstempel trägt, in dem Menschengemüte widrige Auflösung übergehen zu sehen. Die Achtung vor der Menschenhülle 270 [Samson Raphael Hirsch, ‫ שמשון רפאל הירש‬Versuche über Jissroëls Pflichten in der Zerstreuung zunächst für Jissroëls denkende Jünglinge und Jungfrauen. Altona  : Hammerich 1837, 384–397 [§ 418–430]. Die Einteilung in Kapitel und Paragraphen ist aufgehoben worden.] 271 Wenn sein wird an einem Menschen Sünde, die den Tod über ihn ausspricht, und er wird getötet, und du hängst ihn dann an einen Baum, sollst du nicht übernachten lassen seinen Leichnam am Baume  ; denn begraben musst du ihn an demselben Tage  ; denn Gottes Strafverhängnis ist auch der Gehenkte  ; und du sollst nicht verunreinigen deinen Boden, den Haschem, dein Gott, dir gibt zum Besitze. (Dtn 21,22)

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12. Samson Raphael Hirsch, Die Achtung des Leichnams ‫( קבורה‬1837)

soll nicht entwürdigt werden. Du sollst nie, so dir ein Mensch entgegentritt, in seiner Hülle das Leimengebilde, sondern die gottgestempelte Menschenhülle erscheinen sehen. Und auch Tumóh würde der Tote bringen dem Boden und seiner Umgebung. Darum kann auch keiner über sich verfügen, dass er des Begräbnisses, auf Zeit oder für immer, be­raubt bleiben wolle. Denn auch wenn er seiner Hülle nicht gerecht werden wollte, so haben doch die Überlebenden die Pflicht gegen sich selber und gegen die all­gemeine Menschheit zu erfüllen. Die nächste Pflicht des Begräbnisses liegt auf des Toten Erben. Hat er keine Erben, oder hinterläßt er kein Vermögen, so hat die Kosten des Begräbnisses die Gemeinde zu bestreiten. – Ist ein Toter in der Ge­meinde, so dürfen alle Glieder derselben keine Arbeit verrichten, bis der Tote mit allem Nötigen versehen ist. Während des Begräbnisses aber muss sich jeder unterbrechen, um die Leiche zu begleiten. Sobald ein Kind 30 Tage alt geworden, wird es in einem gehörigem Leichenzug begraben – hier und da ist es Sitte erst nach einem Jahre. Wer sich in seinem Leben losgesagt vom Gemeindeverband und die Lasten des Gemeinwesens mutwillig nicht mitgetragen, zu dessen würdiger Bestattung hat sich die Gemeinde nicht von ihren Beschäftigungen zu stören. – Keinem Toten werde etwas mehr als die gewöhnliche Sitte hergebracht, mit ins Grab gegeben oder seinetwegen vernichtet. – Totenhemden dürfen von Scha-atnes gemacht werden. – Ein Talliß wird dem Männlichen umgehüllt, doch die Zieziß entweder untauglich gemacht oder zusammen in die Eckenteile versteckt, symbolisch sagend, dass der Körper einem Gott dienenden Menschen gedient und jetzt sei für ihn die Zeit des Wirkens vorbei. – Selbst einem Fürsten in Jiss- |387| roel würde man nicht Gewänder von teuren Stoffen mitgeben. Alle werden in leinenen Gewändern begraben. In der Güte der Leinwand allein ist die Wahl gelassen. Darin mag der fromme, Auferstehung glaubende Sinn sich aussprechen, eine nicht ganz geringe Leinewandsorte zu nehmen, doch das Übermaß ist Übertretung des Vernichtungsverbots. Im Leben ist der Himmelsbürger, der Geist, und das Elementenkind, die Hülle, zum Bunde des Menschenlebens vereinigt. Im Tod steigt der Geist über’s Menschenleben und der Körper sinkt unter das Menschenleben. Daher darf weder er, der Körper, noch was absichtlich ihm im Tode mitge­geben worden, oder der Schmuck, der sich im Tode an seinen Körper befestigt befindet, weder unmittelbar noch mittelbar wieder in den Kreis reinmenschlichen Gebrauchs und Nutzens aufgenommen werden. Was aber nur dem Toten bestimmt, aber noch nicht ihm hingegeben, eben das, was ihn berührt, aber ihm nicht bestimmt worden, eben das alles, was zu seiner Reinigung u. s. w. gebraucht worden, ist zur Benutzung erlaubt. Alles einmal mobil Gewesene und als Grab Benutzte, also auch die einmal ausgegraben gewesene Erde, ist auf immer zu jeder anderen Nutznießung oßúr, eben so die Grab­steine, also, dass man sich auch des Sitzens auf Grabsteinen und des Überwegens über Gräber zu enthalten hat. Augen, Mund und allen offenstehenden Höhlungen wird die ruhende Stellung gegeben, sie werden geschlossen, Nägel, Haare geschnitten,272 der Körper rein gewaschen. Die Überlebenden sollen in der Bruderhülle noch den hingeschiedenen Brudermenschen ach272 Also heißt es im ‫י"ד‬, doch ist in Behandlung des Toten alles zu beachten, wie es ein Autorität habendes Herkommen als Sitte geheiligt hat.

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III. Die Liebe zu Angehörigen und Verwandten

ten und ihn nach Menschensitte behandeln. Aufs Haupt werden zerschlagene Eier mit ihren Schalen gestrichen, symbolisch sagend, dass sowohl im Menschenkreise Leben und Sterben Kreisgang halte, als auch Leben und Sterben selbst nur Kreisentwicklung sei, nur Art- und Form-Tausch des Seins. – Wenn gleich nötigenfalls Frauen sich mit Männerleichen beschäftigen dürfen, so sollen doch nie sich Männer mit Frauen­leichen beschäftigen. – Das An- |388| gesicht aller Leichen wird verhüllt. – Kinder unter 30 Tagen werden ohne gehörigen Sarg und ohne Leichengefolge beerdigt, über 30 Tage in einer Art Sarg mit gehörigem Gefolge, nach einem Jahre in gehörigem Sarg wie gewöhnlich, und die Gemeinde hat ihre Teilnahme an den Tag zu legen. – Ein unbeschnittener Knabe wird am Grabe mit Scherbe oder Glas (ohne B’rochóh) beschnitten und ihm ein Name gegeben. – Es ist schon bemerkt, dass der Tote unter die Erde gebracht und dort mindestens in unmittelbare Berührung mit der Erde gesetzt werde. Die Stellung ist die auf dem Rücken schlafende.  – Jeder Tote erhalte sein be­sonderes Grab. Zur Wand jeden Grabes bleiben mindestens 3 T’fochim. Kleine Kinder dürfen jedoch bei Vater, Mutter, Großvater und Großmutter (auch wohl bei ihren Geschwistern  ?) in ein Grab gelegt werden, überhaupt bei wem die Kleinen auch wohl im Leben zu schlafen pflegen. – Von dem Grabe, in welches der Tote einmal zu seinem Verbleiben begraben worden ist, darf er nur wieder ausgegraben werden, um ihn entweder ihn neben seine Familie oder nach Erez Jissroel zu bringen. War dies aber gleich Anfangs nicht zu seinem bleibenden Grabe bestimmt, so ist es auch zu andern Zwecken er­laubt. Ist das Grab vor dem Ausgraben oder vor Wasser nicht sicher, so ist es Pflicht, ihn auszugraben. Man führt keinen Toten aus einer Stadt, wo ein Be­gräbnisort ist, er habe es denn besonders verlangt. Bretter, die man auf dem Beß K’woraúß findet, rühre man nicht von der Stelle, da sie vom Sarg sein können. Nachdem das Grab geschlossen ist, darf es nicht wieder geöffnet werden. – Alles dies fließt aus der Achtung, die wir der Hülle verblichener Menschenbrüder schuldig sind. („363.) Man betrete kein Beß K’woraúß mit unbedeckten Th’fillin, Zieziß, mit Siefer Thaurúh, spreche kein Gebet, nichts Thaurúh wissenschaftliches auf demselben oder in 4 Ellen eines Toten (wenn nicht zur Ehre des Toten), alles, um nicht Lebensberufs-Erfüllung denen gegenüber zu zeigen, für welche die Zeit hieniedigen Menschenwirkens vorüber. 4 Ellen vom Beß K’woraúß oder Toten entfernt oder hinter einer Scheide­wand ist’s jedoch erlaubt. Jede unehrerbietige Handlung, jedes geringschätzige Behandeln, Essen, Trinken, Lesen, Rechnen u. s. w., ist auf dem Beß K’woraúß oßúr, eben so Vieh weiden, Darüberbewegung, Abmähen u. s. w. |389| Die Liebespflichten gegen die Lebenden gehen denen gegen Tote vor. Eine Leichenbegängnis steht einer Trauung nach. Aber Trauernde zu trösten und ihnen die Pflichten zu erzeigen, geht nach der Trauung der Hochzeitsfeier vor, wenn beide erfüllt werden können. Wo aber nur Eins, so geht auch da die Hochzeit­feier vor. Eben so geht Milóh dem Meß )‫ (מת‬vor. Meß Mizwóh aber, d. h. eine unversorgt liegende Leiche, geht allen Pflichten voran. – Unter allen Liebespflichten steht die gegen die zurückgelassene Hülle deines Bruders oben an. Es ist die letzte, die du ihm erzeigen kannst, und sie ist die Uneigennützigste. Wo du also einen Toten findest, dem es an dem Nötigen gebricht, da geht diese Pflicht allen Übrigen vor. – Selbst das Thauróhstudium muss zur Totenbegleitung unterbrochen wer112

12. Samson Raphael Hirsch, Die Achtung des Leichnams ‫( קבורה‬1837)

den. Das Thauróhunterricht der Jugend aber selbst zum Tempelbau nicht. Zum mindesten werden 4 Ellen begleitet. Vor jedem, den du diese oder eine andere Pflicht erfüllen siehst, zeige deine Achtung durch Aufstehen. – Über alles Nähere belehre dich )‫ (י"ד‬und über die in deiner Gemeinde durch Herkommen geheiligte Sitte.

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IV. HUMANITÄT

13. Sigismund Stern, Erziehung zur Humanität (1858)273

Die erste Jugend aller Religionen, aller Nationen und aller Stände soll dieselbe Erziehung haben. Denn was in allen gleich und für alle gleich unerlässlich ist – das allgemein Menschliche – soll in ihnen vor allem zur Geltung und Entwicklung gebracht werden. Lehrt also diese Jugend nur fest und scharf anschauen, klar und lebendig vorstellen, selbsttätig und folgerichtig denken. Lehrt sie, sich durch Wort und Schrift ihren Mitmenschen verständlich zu machen, Wort und Schrift ihrer Mitmenschen zu verstehen und das Notwendigste von den Zahlen und ihren Verhältnissen zu begreifen und zu anwenden, die ja, wie nichts anderes, für alle Religionen und Nationen dieselben sind. Lehrt sie menschlich zu empfinden und zu handeln und die menschlichen Pflichten gegen ihre Mitmenschen zu achten und zu üben. Gewöhnt sie an die Tugenden, die jeden Menschen zieren und deren Mangel jeden in der Achtung seiner Mitmenschen herabsetzt. Lehrt sie in ihren Eltern und Lehrern das Bild der höchsten menschlichen Vollkommenheit |7| würdigen und ehren, in ihren Geschwistern und Mitschülern ihre Nächsten lieben. Lehrt sie, in jedem Erwachsenen einen Vater und eine Mutter zu achten, in jedem Altersgenossen einen Bruder zu schätzen. Lehrt sie, auch in dem wenigen Tun, das ihnen obliegt, den Wert und die Heiligkeit der Pflichterfüllung zu achten, in dem wenigen, das ihr Eigentum bildet, den Wert der Ordnung und der Erhaltung zu schätzen und im Kleinsten wie im Größten das Gesetz der Wahrhaftigkeit zu ehren. – Wenn ihr diese Fähigkeiten in ihnen weckt, diese Kenntnisse ihnen aneignet, diese Tugenden in ihnen pflegt, so werdet ihr den sicheren Grund gelegt haben für alles, was das Leben von ihnen fordern kann, gleichviel zu welcher Religion sie sich bekennen, welcher Nation sie angehören, welchem Beruf sie sich widmen mögen. Dass dies erreicht werde, haben alle Eltern und Erzieher für alle Kinder anzustreben. Wie sie es erreichen sollen, muss sie das Verständnis des Kindes und seine Individualität, das Verständnis seiner Fähigkeiten und seines Charakters lehren. Wenn ihr aber eure Kinder lieb habt, ihr Väter und Mütter, ihr Lehrer und Erzieher, so lasst sie in diesem Lebensalter nichts wissen und nichts ahnen von allen trennenden und unterscheidenden Gegensätzen, welche Menschen von Menschen trennen und sondern. Ihr versündigt euch an dem werdenden Menschen, der sich seines menschlichen Daseins noch erst bewusst werden soll, wenn ihr ihn lehrt, sich als Juden im Gegensatz zum Christen, als Protestanten im Gegensatz zum Katholiken zu empfinden. Der enge Rahmen seiner Seele vermag in dem unterschiedslosen Bilde des Menschlichen noch nicht die Vorstellung des Mannigfaltigen, des Gegensätzlichen aufzunehmen. Was ihr ihm als etwas anderes erscheinen lasst, als er sich selber fühlt, muss für ihn aus dem Gebiet dieses 273 [Sigismund Stern, Die Elemente der sittlichen Erziehung  : Allgemein menschliche, religiöse, nationale und Berufsbildung. In  : Einladungsschrift zu der am 22., 23., 24. und 25. März [1858] stattfindenden öffentlichen Prüfung der Bürger- und Realschule der israelitischen Gemeinde. Frankfurt  : Adelmann 1858, 3–30, hier  : 6–14]

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IV. Humanität

Bilds heraustreten. Und dem Kind, das sich seiner selbst so wie es ist und sein kann, das sich als Christ, als Katholik bewusst ist, kann der Jude, der Protestant nicht als ein gleiches menschliches Wesen erscheinen. Und die Ungeheuerlichkeiten, die ihnen seine kindliche Phantasie andichtet, wird eine Missachtung |8| gegen seine andersglaubenden Mitmenschen in sein Herz pflanzen, die keine Belehrung späterer Jahre wieder verlöschen kann. – Aber wenn ihr auf der ersten Stufe der Erziehung alles vermeidet, was auf den Gegensatz der Bekenntnisse und der Religionsgemeinschaften führt, so fürchtet darum nicht, dass ihr dadurch die religiöse Entwicklung eurer Kinder überhaupt zurückhaltet. Denn verlasst euch darauf  : Die Selbstentfaltung des kindlichen Gemüts zum religiösen Ahnen und Erkennen wird nicht ausbleiben, wenn ihr nur bedacht seid, das Wahrhaft-Menschliche in ihm zu pflegen. Seine Fragen werden euch bald Gelegenheit bieten, seinem Geist und Gemüt die Richtung auf das Göttliche zu geben. Das Samenkorn der Religion liegt in jedem menschlichen Gemüt. Aber nur, wenn ihr es aus eigener Kraft keimen lasset, wird es sich zur Wunderblume wahrhafter Religiosität entfalten. Und wenn ich nicht anstehe zu behaupten, dass die besondere Pflege der Religion für dieses Lebensalter gefährlich und bedenklich sei, um wie viel weniger wird dem zarten Kinde schon gar die Vorstellung von dem Gegensatz der Nationen eingeimpft werden dürfen, für die sich in seinem Gemüt gar kein Verständnis findet. Nationalstolz, Nationalbewusstsein sind Begriffe, die für ihr Verständnis einer fortgeschrittenen geistigen und noch fortgeschritteneren sittlichen Reife bedürfen. In das unreife Gemüt eingepflanzt, müssen sie zur Nationaleitelkeit und zum Nationalhass werden. Ihr trübt die reinen Gemüter dieser Kinder nicht nur, wenn ihr ihnen von der Auserwähltheit eures Volks vor Gott oder von der Ausschließlichkeit eures Anrechts an die Seligkeit redet, sondern auch, wenn ihr frühzeitig ihren Sinn mit der Vorstellung von dem ausschließlichen Besitz der Tugenden erfüllt, die ihr als den Stolz eurer Nation betrachtet. Wollt ihr aber in diesem Lebensalter dennoch den Grund legen, auf dem ihr später das nationale Bewusstsein aufrichtet, so mögt ihr ihnen von den edlen Taten der Männer erzählen, die sich aus eurer Nation um die Menschheit verdient gemacht haben, aber nicht von Kriegen und Kämpfen, in denen sie andere Nationen niedergeworfen. Das |9| Wichtigste aber, was ihr für diesen Zweck zu tun habt, ist, sie mit der Erlernung fremder Sprachen zu verschonen, bevor sie in der eigenen mit Sicherheit denken und sich ausdrücken gelernt. Denn in dem unlösbaren Verwachsen unseres Denkens und Empfindens mit den Klängen der Muttersprache liegt das festeste Band, das uns an das Vaterland fesselt. Es bedarf keiner ferneren Erörterung, um zu beweisen, dass eine Erziehung, die dem Kind in diesem Lebensalter sogar schon den Gegensatz des Standes und der Lebensstellung fühlbar machte, das rein menschliche Empfinden desselben in noch viel beengendere Fesseln schlagen, die freie Entfaltung seiner edelsten Regungen noch gewaltsamer ersticken müsste, als die konfessionell-religiöse und die exklusiv-nationale Erziehung. Und am widersinnigsten würde es sein, wenn man auf dieser Stufe der Entwicklung schon etwas für die künftige Berufsbildung des Kindes glaubte tun zu müssen. Denn in diesem Lebensalter überhaupt schon dem Kinde einen Beruf voraus bestimmen wollen, und demnach seine geistige Entwicklung einseitig und ausschließlich auf dieses Ziel lenken, ist ein Frevel 118

13. Sigismund Stern, Erziehung zur Humanität (1858)

gegen das Anrecht des Kindes an die freie Entfaltung seiner Kräfte, an die selbsteigene Kundgebung der Richtung, nach der sich seine spätere Bildung besonders auszubreiten hat. Also für die erste Bildungsstufe eine gleiche, und wenn irgend möglich eine gemeinsame Bildung und Erziehung für alle. Keine Konfessionsschulen, keine nationale Erziehung, keine Schulen nach Standes- und Berufsunterschieden, sondern nichts als Volksund Elementarschulen. Oder wenn in den verschiedenen Schulen auch die Aufnahme von Kindern dieses Alters zulässig und notwendig ist, so dürfen die Klassen, die für diese Altersstufe bestimmt sind, nichts von den Sonderelementen und Sonderzwecken der höheren Klassen an sich tragen. Und ich wiederhole  : Das Ziel muss für alle dasselbe sein, nur Mittel und Weg, auf denen es erreicht werden soll, können nach den individuellen Eigentümlichkeiten der Kinder (die wohl auch in den Standesverhältnissen der Eltern begründet sein mögen) verschieden sein. Und nur |10| noch einen Unterschied möchte ich auf diesem Gebiet zugestehen. Je größer nämlich überhaupt die Bildungszeit eines Kindes wird sein können, um so weiter möge man die Zeit dieser allgemein menschlichen Erziehung ausdehnen, da gerade für diejenigen eine Befestigung auf diesem Boden nötig ist, die später in die Sphäre der höheren Gesellschaftsstufen, d. h. in die Region der mannigfachsten Gegensätze eintreten. Religiöse Erziehung, die nicht auf diesen Boden der allgemein-menschlichen Bildung gepflanzt ist und nicht fort und fort mit der Pflege und Entwicklung derselben Hand in Hand geht, wird entweder […] zur pietistischen Schwärmerei oder zum Dünkel der Rechtgläubigkeit und zum Fanatismus der Verketzerung führen.  – Aber die Erziehung des Menschen wird auch niemals zu ihrer sittlichen Vollendung gelangen, wenn nicht das religiöse Bedürfnis erwacht oder erweckt und gepflegt wird. Und die Erziehung, die in der Bildung und Pflege des Menschlichen nicht zur Religion kommt, hat eben das Höchste am Menschen nicht zur Entfaltung gebracht, nämlich das Bewusstsein von den Beziehungen und Bestimmungen, die ihn über die Grenzen des Menschlichen hinaus zur ahnungsvollen Gemeinschaft mit dem Unendlichen erheben. Wo diese Seite der höchsten menschlichen Bildung nicht gepflegt und entwickelt ist, wird statt der […] Schwärmerei der dürre und verknöchernde Materialismus das Denken und Tun des Menschen beherrschen, statt des Dünkels der Rechtgläubigkeit der gleich abstoßende Dünkel des Selbstgenügens hervortreten, und für den Fanatismus der Verketzerung wird sich gegen die Begeisterung und Hingebung der Andersdenkenden spottende Missachtung kehren. Die Religion soll den Menschen aus sich selbst heraus und über sich selbst emporheben, und ihn lehren, dass er eben so wenig den Zweck wie die Quelle seines Daseins in sich selber zu suchen habe. Sie soll ihn lehren, in allem was an ihn herantritt, im Gebiet des Menschenlebens, wie in der Natur, in der Geschichte wie in seinen eigenen Schicksalen, ein Höheres zu suchen, als sich in der unmittelbaren Er- |11| scheinung zu erkennen gibt, das Walten eines übermenschlichen, göttlichen Willens, und daher auch an sein eigenes Wollen und Tun diesen Maßstab des Höchsten und Unerreichbaren anzulegen. Die Religion soll uns in unseren Pflichten einen Ausfluss aus dem allgemeinen Weltgesetz Gottes, in unserm Lebensgenuß einen Anteil an dem allgemeinen Quell der Freude, in unseren Schmerz eine Unterordnung unter die allgemeine Notwendigkeit, in unserem Denken und 119

IV. Humanität

Empfinden einen Strahl der göttlichen Erkenntnis, in unserm ganzen Dasein eine mitwirkende Teilnahme an der Unendlichkeit des Lebens und Gestaltens erkennen lassen. Die Religion soll dem Baum unseres Lebens die Triebkraft nach oben und in die Weite geben. Sie soll seiner Blüte und seiner Frucht den Duft des göttlichen Atems verleihen, von dem er belebt und erfrischt wird. Aber sie soll darum seiner Wurzel nicht das Wachstum in die Tiefe entziehen, dass er den Boden der Erde nicht verliere, die ihm als die Stätte seines Daseins angewiesen ist, aus der er seine Lebenskraft schöpft und der er seine Frucht wiedergeben muss, wenn sie zur Saat neuen Lebens werden soll. Soll das alles dem Kind gelehrt werden, wenn es in das Lebensalter tritt, in welches wir den Anfang der religiösen Erziehung setzen zu müssen glaubten  ? Niemand wird hoffentlich meinen, dass das meine Ansicht sei. Aber der Erzieher, dem die Pflege dieser zarten Pflanze auf dem Boden des menschlichen Gemüts anvertraut ist, muss schon, wenn er die Saat ausstreut, wissen, welche Blüte und Frucht er dereinst von ihr erzielen wolle und könne. Das Kind hingegen wird die Lebensluft der Religion um so frischer und freudiger einatmen, an dem Licht ihrer Wahrheiten seinen Blick um so sicherer kräftigen, je unbewusster und unbefangener es in die Region eintritt, die sich vor ihm öffnet. Religiosität ist gleich der jungfräulichen Keuschheit nur so lange in ihrer ungetrübten Reinheit vorhanden, als wir sie besitzen, ohne von ihr zu wissen. In der geheimnisvollen Ahnung des Gemüts beruht ihre höchste, aber unbemerkt wirkende Kraft, die über alles Tun und Empfinden ihr verklärendes Licht ausgießt. |12| Darum hüte man sich auch in diesem immer noch zarten Lebensalter viel von Religion zu reden, Religion zu unterrichten oder gar lernen, memorieren zu lassen. Religion kann nur empfunden, angeschaut, gelebt, aber nicht gelernt werden. Der Erzieher wird daher seinen Zögling auf indirektem Wege zur Religion führen. Und das wird er erreichen, wenn er ihn aus dem Mittelpunkt des menschlichen Gebiets allmählich zum Göttlichen leitet. Er möge also seine Anschauung nicht mehr wie bisher auf das sinnlich Fassbare im einzelnen Gegenstand beschränken, sondern jene Unendlichkeit der Beziehungen vor dem Blick des Kindes zu erschließen beginnen, durch die auch das kleinste Wesen uns in die Sphäre der religiösen Erkenntnis, der religiösen Bewunderung einführt. Er wird ihm für Momente den Schleier der Unendlichkeit lüften, die ihn zur Ahnung des Unendlichen führt. Er wird ihn für seine Freuden und seine Schmerzen nach den Ursachen suchen lassen, die ihm einen ahnungsvollen Zusammenhang seines eigenen Lebens mit dem Schicksal seiner Mitmenschen, mit den Vorgängen in der Natur, mit der fernen Vergangenheit und der fernen Zukunft erkennen lassen, dass er in alledem den einen großen Gedanken des Weltenlenkers zu ahnen beginne. Er wird seine Seele darauf hinlenken zu begreifen, wie sein ganzes Leben ein ewiges Empfangen von Gütern und Genüssen ist, die er nicht sich selbst verdankt. Und wie daher auch all sein Tun von dem Streben geleitet sein müsse, einen Teil der großen Schuld abzutragen, zu der sich jeder Einzelne bekennen muss. Und er wird in dieser Weise ahnen lernen, dass sein eignes Schaffen und Walten nur als freier Anteil an dem Schaffen und Wirken der Menschheit von Wert sei, dass aber die ganze Menschheit eine Aufgabe zu erfüllen 120

13. Sigismund Stern, Erziehung zur Humanität (1858)

und zu lösen habe, die ihr von einem höheren Willen vorgeschrieben ist und dass dieser höchste Wille allen sein Gesetz und jedem Einzelnen seine Pflicht vorgezeichnet habe. – Es gehen diese Vorstellungen keineswegs über das Begriffsvermögen des Kindes hinaus, wenn auch die Form, in der es sie erfasst, eine ganz andere sein wird. Im Gegenteil keimen sie von selbst im kindlichen Gemüt und |13| verlangen nach ihrer Entfaltung. Denn wie leicht wird der Vater in seinem Kinde, der Erzieher in seinem Zögling die Vorstellung wecken können, dass die ganze Menschheit eine große Familie sei, dass jeder Mensch den andern als seinen Bruder zu betrachten habe und dass über alle und für alle ein Vater wacht und sorgt, mit gleicher Liebe und mit gleicher Treue wie des Kindes Vater und Mutter für ihn und für alle ihre Kinder. Wie die Geschichte nur aus der Familie die höheren sittlichen Gestaltungen des Staates und der menschlichen Gesellschaft hervorgehen lässt, so vermag auch das Kind zur sittlich-religiösen Erfassung dieser höheren Gemeinschaften und seiner eigenen Gemeinschaft mit denselben nur aus dem Leben in der Familie zu gelangen, das sich in seiner Seele zu immer weiteren Kreisen erweitert. Und so werden die Gefühle der Ehrfurcht und der Liebe, der Dankbarkeit und des Gehorsams gegen Vater und Mutter den natürlichen und gesunden Boden bilden, aus dem die Anbetung des Allvaters in seine Seele hineinwächst, sobald sie sich zur Ahnung des Unendlichen auftut. Ich weiß, dass mit alledem nur Religiosität, aber nicht Religion im Sinne der spezifischen Kirche, des spezifischen Bekenntnisses dem kindlichen Gemüte, geboten und eingepflanzt wird. – Nur Religiosität  ! Kann denn durch alle Religionen etwas Höheres gegeben werden als Religiosität  ? Und muss nicht wenigstens diese Religiosität, die das Herz des Kindes für das Gefühl seines unlösbaren Zusammenhangs mit der ganzen Menschheit, mit allen Kindern Gottes erschließt, die unverlierbare Grundlage aller Religionen und ihrer Sonderbekenntnisse sein  ? – Aber die Weltgeschichte und ihr göttlicher Lenker will noch die Sonderung der Religionen. Die Erziehung muss daher ihren Vorschriften folgen und jeden Zögling sanft und vorsichtig, aber fest und sicher in den Boden einpflanzen, auf dem er mit seiner ganzen Kraft Religion gewinnen und üben soll. – Aber lasst sie erst mit der ungetrübten Frische und Fülle des Empfindens in ihr Gemüt aufnehmen, was die Menschen eint und verbindet, ehe ihr ihnen gebt, was sie unterscheidet und sondert. Denn nur dann wird die |14| notwendige Sonderung nicht auch zur unseligen Trennung führen. Die Einführung der Jugend in das Gebiet der Sonderreligion kann und soll daher nur geschehen an der Hand der Geschichte, die ja glücklicher Weise für Jude und Christ, für Katholiken und Protestanten dieselbe ist. Wie reich der Quell der religiösen Belehrung in den Büchern der biblischen Geschichte fließt, und wie sie doch wieder einer jeden Religion und Konfession Gelegenheit bietet, den Zögling an dem Beispiel der Menschen und an der Deutung der Tatsachen in die Lehren der besondern Religion einzuführen, wird jeder Lehrer und Erzieher aus Erfahrung wissen. Aber sie bietet in ihrem Fortgang auch den bedeutsamen Anhalt, um den Zögling auf den historischen Boden der besonderen Religion zu führen, der er angehört, und das Bewusstsein ihres ununterbrochenen Zusammenhangs mit einer großen, durch ihr Alter heiligen und ehrfurchtgebietenden Vergangenheit zu wecken. 121

IV. Humanität

So kann und soll das religiöse Leben und Empfinden des Einzelnen in den Boden seiner Religionsgemeinschaft eingepflanzt und in demselben befestigt werden, ohne dass sich darum mit dieser Sonderung zugleich die Vorstellung der Trennung und des Gegensatzes verbindet. Und jetzt wird auch der Moment gekommen sein, mit welchem die geordnete Unterweisung des Zöglings in den Lehren und Vorschriften seiner Religion ihren Anfang nimmt und als Gegenstand des regelmäßigen Unterrichts den gebührenden Platz in den Elementen der Erziehung und Bildung einnimmt.

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14. Moritz Dessauer, Erziehung zur Humanität (1884)274 |202| Doch Ausnahmen und Abweichungen, welche in der biblischen Zeit die Angriffe der feindlichen Nachbarvölker wie der rohe Götzendienst, in der talmudischen und rabbinischen die Verfolgungen und Bedrückungen verursachten, können die, wie ich glaube, genügend nachgewiesene Tatsache nicht erschüttern, dass dem Judentum von Anfang an die Idee der Humanität, in ihrer weitesten Aus- |203| dehnung als ein hohes von dem Menschengeschlecht mehr und mehr zu erstrebendes Ziel vorgeschwebt hat. Die Mittel und Wege, welche zur allmählichen Verwirklichung dieser Idee führen sollen, ergeben sich alle aus dem Satz, der trotz der scheinbar entgegen gesetzten Erfahrung in unserer Gegenwart wahr und richtig bleibt  : Bildung macht human. Wenn wir dennoch viele sogenannte Gebildete in den Reihen unserer inhumanen Gegner finden, so besitzen sie eben die Bildung nicht, welche unsere Weisen verlangen, Tora mit Derech eres (Weltsitte). Diese vergleichen einen sogenannten gebildeten Menschen mit ungeziemendem Verhalten mit einem Palast, aus dessen Mitte Unrat hervorscheint.275 „Es gibt keine Weisheit“, sagen sie, „als die Weisheit des Sittlichen“.276 „Gott will das Herz.“ „Ohne sittliche Grundlage hat die Gelehrsamkeit keinen Wert“.277 Sie betonen also hauptsächlich die sittliche Bildung. Wer sich der Mühe unterzöge, eine Ethik des Judentums zu schreiben, der würde nicht nur eine schöne Blumenlese der gehaltvollsten Gedanken und Sentenzen, sondern auch anziehende Bilder sittlicher Hoheit und Gesinnungsgröße darreichen können. In den jüdischen Religionsschriften wurde niemals die Ethik des Judentums systematisch geordnet und gruppiert dargestellt, weil niemals auf den Verstand durch theoretische Unterweisung, sondern stets unmittelbar auf das Gemüt und die Gesinnung eingewirkt werden sollte. Die Sittlichkeit wird kurzweg als göttliches Gebot hingestellt. Die Kennzeichen der Sittlichkeit, die Liebe, die Milde, die Gerechtigkeit sollten aber nicht bloß augenblickliche Ergüsse einer edlen Gefühlswallung sein, die im nächsten Augenblicke wieder durch eine leidenschaftliche Gefühlserregung leicht in das Gegenteil umschlagen können. Nach Lessing278 ist der Übergang vom Guten zum Bösen der allerschnellste Teufel, schneller als die Pfeile der Pest, schneller als der Gedanke, schneller als die Rache. Liebe und Gerechtigkeit sollen vielmehr feste Entschlüsse des freien Willens, der bewussten Menschenpflicht sein. […] Die bewusste Menschenliebe darf nichts gemein haben mit wechselnden Stimmungen. Sie muss hervor wachsen als Blüte und Frucht einer gefestigten und sittlichen Bildung, sie muss vorgedrungen sein bis zu der Anlage des Menschen, […] von wo aus sie in bewusster Willensfreiheit sein Tun und Handeln leitet und beherrscht und in ununterbrochenem Fortschritt die Sitten adelt. 274 [Moritz Dessauer, Humanität im Judentum. Populärwissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über das Judentum für Gebildete aller Konfessionen, 4/1884, 147–151, 200–207, 231–233, hier  : 202–206] 275 DER Abschn. 3 276 ARN 28 277 mAv III 278 in seinem Faustfragment [ursprünglich in Teilen veröffentlicht in  : Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 17. Brief (16. Februar 1759, Berlin)]

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IV. Humanität

Darum ist in der Bibel die Beachtung der Sittlichkeit geradezu geboten, ebenso geboten wie die Gesetze und Rechte. Die jüdische allgemeine Menschenliebe, als Hauptgebot, sollte nicht dem Belieben jedes einzelnen überlassen bleiben, sie gehört zu den Pflichten der Religion. Das Gebot der Nächstenliebe steht deshalb in den mosaischen Büchern zwischen den bürgerlichen Gesetzen und strafrechtlichen Bestimmungen, um Tat und Gesinnung, Gesetz und Gesittung, Religion und Moral, Gebote des Rechts und Gebote der Sittlichkeit als gleichberechtigt und gleich verpflichtend hinzustellen. |204| Der Mensch soll nicht bloß einseitig seine Kräfte entwickeln, nicht bloß in Wissenschaften, Künsten und Fertigkeiten seine Stärke und seinen Stolz suchen, sondern in einer gründlichen Durchbildung aller Anlagen, sowohl der Seele als auch des Herzens, des Verstandes wie des Gefühls, besonders in der beharrlichen Übung der sittlichen Kraft. Denn nicht ein Volk, welches nur Künste und Wissenschaften pflegt, hat Bestand und Dauer – Beweis dafür sind die Griechen. Auch nicht ein Volk, unter dessen Tritt die Erde erzittert, weil es mit Gewalt, wie die Römer, die Staaten, nicht die Herzen erobert, sondern das Volk allein, welches Zucht und Ordnung, Sitte und Tugend, Religion und Gewissen als edelste Waffen im kulturellen Wettbewerb führt, das allein hat festen Bestand. Die Erziehung soll die so geartete sittliche Bildung eifrig erstreben. Auf welche Weise  ? Der Mensch soll sie zunächst erstreben durch unausgesetzte, sorgfältige Selbstveredelung. Wie ernst das israelitische Volk von Anfang an die Selbstveredelung auffasste, beweist der Umstand, dass es gleich nach der Befreiung aus Ägypten solche Gebote angenommen hat, die noch heute die Grundgesetze aller zivilisierten Staaten bilden, dass es damals schon, als noch überall Kastengeist, Sklaventum und Klassen- und Rassendünkel wie eine ewige Krankheit von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbten, die Milderung der Sklavengesetze und sehr weise, die niedrigen Klassen berücksichtigende Acker- und Armengesetze gut geheißen hatte. Einige biblische Gebote weisen ferner mit Nachdruck auf Unterricht und moralische Erziehung hin. Dem Vater wird die religiöse wie sittliche Selbstvervollkommnung wie die Erziehung seines Kindes wiederholt ans Herz gelegt. Wie der Jude die Liebe nicht bloß im Munde führen, sondern sie „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit großer Opferfähigkeit“ betätigen soll, so müsse er auch die Seele seines Kindes „früh und spät, beim Aufstehen und Niederlegen, zu Hause und auf der Reise“ zu bilden und zu veredeln trachten. „Seid heilig, denn heilig bin ich, der Ewige euer Gott.“ „Ein Volk von Priestern sollt ihr mir werden.“ „Vollkommen stehet da vor eurem Gotte.“ Zahlreiche Lehren und Satzungen betonen die Heiligung und Läuterung der Seele und des Herzens und bezwecken eine auf Vervollkommnung abzielende sittliche Lebensführung. „Wende der Sittenlehre dein Herz zu, der Erkenntnis dein Ohr.“279 „Wer Sitte liebt, liebt Erkenntnis.“280 „Erwerbt Erkenntnis lieber als gediegenes Gold.“281 „Aller Weisheit Anfang ist Gottesfurcht.“282 Nicht weniger ernst empfahl später die talmudische Zeit dem Israeliten die Selbstveredlung. Man kann sagen, noch ernster. Es klingt fast unglaublich, und dennoch ist es wahr, 279 280 281 282

Spr 23,12 Spr 12,1 Spr 8,10 Spr 35,33

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14. Moritz Dessauer, Erziehung zur Humanität (1884)

dass Israel wirklich ein Volk von Priestern geworden, in des Wortes edelster Bedeutung, von Priestern der Gelehrsamkeit. Kein Stand vom Fürsten (Nasi) bis zum Handwerker blieb unbeteiligt an dem Ausbau des Riesenwerks, Talmud genannt. Der Forscher- und Sammelfleiß von über zwanzig Geschlechtern liegt darin aufgespeichert. Und es sind nicht bloß Gesetzeserklärungen, Erweiterungen und Schranken, Verordnungen und Rechtsbestimmungen darin enthalten, sondern auch zahlreiche kernige Moralsprüche, markig ausgeprägte Charakter- und Sittenbilder, pädagogische Fingerzeige, Lehren über Zucht, Ordnung und Anstand, erzieherische Grundsätze einer echt sittlichen Bildung. Die gegenwärtigen Gegner des Talmud würden einen ganz andern Begriff von demselben empfangen, wenn sie nicht bloß blinde Nachtreter früherer Judenfeinde wären, nicht nur die Stoppeln auflesen würden, um sie in alle Winde hinauszustreuen, sondern eine gründliche Umschau in dieser reichen Schatzkammer |205| von edlen Früchten des Geistes hielten. In tausend verschiedenen Wendungen prägen uns die Talmudlehrer den Wert und die Notwendigkeit der wissenschaftlichen und sittlichen Bildung ein. Nur bei demjenigen, der in der Jugend seinen Geist gebildet, dringen die Kenntnisse in Fleisch und Blut ein. „Das in der Jugend Gelernte ist wie Siegelschrift tief eingegraben.“283 „Öffne deines Hauses Pforte Weisen zum Versammlungsorte, richte immer deine Schritte nach der Staubesspur ihrer Tritte, lechzend schlürfe ihre Lehren, stets bereit auf sie zu hören.“284 Bildung und Wissenschaft kann aber nur durch Willenskraft, Übung und Fleiß erworben werden. „Nicht oft“ sagen unsere Talmudlehrer, „sind die Kinder der Weisen ebenso hochbegabt, damit man nicht glaube, dass sich auch Wissenschaft und Bildung vererben.“285 „Wodurch bist du so gebildet geworden  ?“ wurde ein Weiser gefragt. „Weil ich mehr auf Licht verausgabt habe, als andere auf Wein“, war die treffende Antwort. Der Wetteifer im Studium wird der edelste Wetteifer genannt.286 „Es gibt keinen größeren Reichtum als den der Erkenntnis und keine größere Armut als da, wo sie mangelt.“287 „Wer Bildung mit Gottesfurcht und Tugend vereint, gleicht dem Meister, der sein Handwerkzeug nie vergisst.“288 „Wo die Gottesfurcht der Bildung vorangeht, nur da hat diese Wert und Bestand.“289 „Nicht in Worten besteht die Weisheit, sondern in Werken und edlen Handlungen.“290 Echte sittliche Bildung gedeiht und verbreitet sich aber nicht bloß durch das eifrige Streben des Menschen, sein Selbst zu vervollkommnen, sondern kräftiger und segensreicher da, wo man über das Selbst hinausgeht und mit dem Segen der Bildung und des humanen Geistes die Nebenmenschen zu beglücken strebt. Die Selbstveredlung finde ihre Bewährung und Erweiterung in der Menschenveredlung. Dies ist der sicherste Weg, um dem Ideal des allgemeinen Menschentums immer näher 283 mAv IV,20 u. a. a. O. 284 mAv I. Julius Dessauer [Die Fünf Bücher Moses. Nebst dem Raschi-Commentar, Punktirt, Leichtfasslich uebersetzt und mit Anmerkungen versehen, Budapest, 1863] 285 bNed 81 286 bBB 21 287 bKet 68 288 ARN 29. 289 mAv 290 bBekh 4 und ARN 12

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IV. Humanität

zu gelangen. Die Propheten, besonders Jesajas, schwärmten von diesem Zukunftsideal, da die Menschen nicht böse, nicht feindselig gegen einander handeln, weil die Erde voll sein wird der Erkenntnis und Bildung, die gleich wie Wasser den Meeresgrund bedecken.291 Unterweisung, Erziehung und Belehrung unserer Nebenmenschen gehören zu den Hauptgeboten unserer Religion. Ein Satz unseres täglichen Gebets lautet  : „Gib uns ins Herz, o Gott, zu verstehen und zu begreifen, zu lernen und zu lehren.“ „Die Einsichtigen“, heißt es in Daniel,292 „werden glänzen wie Himmelsglanz, die aber andere gebessert, wie die Sterne immer und ewig.“ „Größer ist das Verdienst dessen“, sagt ein Talmudlehrer, „der die Menge zu edlen Taten veranlasst, als dessen, der sie selbst übt.“293 Wie sehr die Lehre von der Menschenveredlung in das Fleisch und Blut des israelitischen Volkes gedrungen, nicht bloß theoretisch gutgeheißen, sondern praktisch betätigt wurde, das zeigt die sehr erfreuliche Tatsache, dass vom ersten Jahrhundert der üblichen Zeitrechnung an bis in die Gegenwart hinein die Lehrsäle der Rabbinen zu unentgeltlichem Unterricht offen standen. Seit der Entstehung der berühmten Hochschulen in Babylonien und Palästina hörte das Lernen und Lehren im Judentum nicht auf. Die Lehrhäuser waren oft von einer nach Tausenden zählenden Jüngerschar gefüllt. Mochten die Vandalen und Goten die Herzen erbeben lassen, mochten die Scharen der Kreuzzüge weit und breit Schrecken und Angst verbreiten und den Boden mit Blut tränken oder die Scheiterhaufen der Inquisitionsgerichte zur Ehre Gottes Menschen quälen und verbrennen. Israel saß ungebeugt und unent- |206| wegt in seinen Lehrhäusern und diente seinem Gotte auf edlere Weise durch Wecken und Bilden des Geistes. Mit seltener Hingebung saßen die Rabbinen täglich von früh bis Mittag auf dem Katheder und hielten sich für ihren Schweiß genügend belohnt, wenn sie eifrige und begeisterte Jünger fanden, die in ihren Bahnen weiter wandelten. Noch heute betrachten es viele fromme Rabbiner als unbesoldete Amtspflicht und als gottgefälliges Werk Jünger zu Gottesfurcht, Erkenntnis und Tugend heranzubilden. Jeder musste früher zum wenigsten die Bibel und die Religionssatzungen gelernt haben. Ein Talmudlehrer meint sogar, dass man als Unwissender nicht recht gottesfürchtig sein könne.294 Man ging von dem Grundsatze aus  : Das Wissen zerstört nicht, sondern fördert die Religion. Es darf jedoch, soll es die Menschen wahrhaft veredeln, nicht bloß eine einseitige Fachbildung sein, sondern es muss auch das Herz bilden, die Gesinnung adeln, auf das Gemüt wirken. Nicht einzelne Zweige der Wissenschaft, die noch keineswegs den Geist aus Beschränktheit und Vorurteil reißen, sondern neben diesen eine Durchbildung seiner moralischen Kräfte machen den gebildeten Menschen aus. Ein Gebildeter sollte eigentlich nur der genannt werden, wer neben sonstigen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eine tiefere sittliche Bildung besitzt.

291 ARN 11 292 ARN 12 293 bBB 9 294 mAv

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V. FREMDEN- UND FEINDESLIEBE

15. Joseph Samuel Bloch, Der Fremde – bei den Griechen, den Römern und den Juden (1884)295

|52| „Beuge nicht das Recht des Fremdlings  !“ Im heidnischen Altertum war der Fremde geradezu rechtlos, Römer und Griechen haben ihn als einen Feind angesehen und behandelt. Schon in ihrer Sprache kam diese inhumane Denkungsweise zum Ausdruck. Mit der Bezeichnung des Feindes benannte man den Fremden schlechthin. Das Lykurgische Gesetz hatte dieses Prinzip als öffentliches Recht sanktioniert, und in Sparta erhielt jeder Fremde nach kurzer Frist den Befehl, die Stadt zu verlassen. Ebenso wenig durfte ein Spartaner ohne staatliche Erlaubnis bei Todesstrafe im Ausland sich aufhalten. Nach dem Plane des Lykurg sollte das spartanische Volk für ewige Zeiten allen übrigen Menschen als Feind und Widersacher gegenüberstehen. Nicht freundlicher war Athen gegen den Fremden. Man sah in ihm den Barbaren, den Halbmenschen, den Feind, der zum Beherrscht-Werden da ist. Den Krieg gegen ihn lehrte man als einen Erwerbszweig.296 Erschien der Fremde in der Volksversammlung, so erlitt er die Todesstrafe. Später wurden die Fremden für Athen immer unentbehrlicher, man gewährte ihnen einen gewissen Schutz, doch taten sie gut, wenn sie zur Vorsicht unter den Stadtbürgern sich einen Schutzherrn wählten, um unter dessen Obhut ihre persönliche Freiheit und ihren Besitz zu stellen. Selbst der hellenische Fremde durfte kein Grundeigentum erwerben, keine Bürgerstochter heiraten  ; und jeder Grieche war, sobald er den Fuß aus den Mauern seiner Stadt und aus dem Gebiet seines kleinen Staates heraussetzte, ein |53| Fremder.297 So bedurfte es eines eigenen Staatsvertrages, damit die Bewohner zweier kretischer Städte mit einander heiraten durften. Nicht viel humaner waren die Römer. Die Fremden zu unterjochen, ihr Eigentum zu rauben, ihre Personen zu Sklaven zu machen, galt als römisches Recht. Später gestaltete sich ihre Lage um einiges günstiger. Dessen ungeachtet wurden sie mehrmals aus der Stadt gewiesen, konnten weder testieren, noch erben, noch gesetzlich eine Ehe eingehen. Noch zur Zeit Cicero’s wollte man durch ein Gesetz sämtliche Fremde aus der Stadt weisen.298 Nicht minder war bei den alten Deutschen der Fremde rechtlos. Die Lieblosigkeit gegen den Fremden ist ein durchgehender Charakterzug der heidnischen Völker. Die größten Kulturnationen mit ihren weit ausgedehnten Verbindungen, ungeachtet dass ihre Handelsflotte in allen Weltteilen heimisch war, konnten diese angeborene Engherzigkeit nicht ganz überwinden. 295 [Joseph Samuel Bloch, Über Heimats- und Armenrecht. Eine social-historische Studie (1884). In  : Bloch, J. S., Aus der Vergangenheit für die Gegenwart. Social- und literarhistorische Vorträge und Essays. Wien  : Engel 1886, 52–56] 296 Platon, πολιτεία Politeía (Staat) 373, 469ff 297 Böck, Staatshaushalt der Athener I,154. [Boeckh, August, Die Staatshaushaltung der Athener, 2 Bände, Berlin  : Realschulbuchhandlung 1817] 298 Cicero, De officiis I,3

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V. Fremden- und Feindesliebe

Das Altertum kennt nur eine einzige Gesetzgebung mit dem heiligen Prinzip und Grundrecht  : „Einerlei Recht und einerlei Gesetz sei für den Einheimischen und für den Fremden“.299 Palästina, das kleine, nur etwa 33 Meilen lange und etwa 29 Meilen breite Ländchen mit einer dichten Bevölkerung, welche ausschließlich auf den Ackerbau und die Erträgnisse des Bodens angewiesen war, beherbergte in seiner Blütezeit unter der Regierung Salomo’s 153.600 Fremde,300 ohne dass ungastliche Scheelsucht und spießbürgerlicher Neid bei den Einheimischen sich geregt hätten. Der Fremde war nicht bloß im Genuss der ihm gesetzlich garantierten, vollen Gleichberechtigung, es standen ihm auch alle Ämter und Würden des Staates offen. Am Hofe der Könige waren heidnische Fremde in Ämtern und in Würden  ;301 selbst den Thron musste erst ein spezielles Gesetz davor schützen, dass die Krone nicht auf das Haupt eines Fremdlings gerate.302 Bei der neuen Bodenverteilung nach der Restau- |54| ration des Staates hatte man die Fremden im Lande freiwillig bedacht.303 Als hätte der alte Gesetzgeber die elenden Armenbaracken und die dunstverpesteten Menschenzwinger, Arbeiterwohnungen genannt, vorgeahnt, verbot er speziell, dem Fremden schlechte, ungesunde Wohnungen in entfernten Winkeln anzuweisen.304 Der Ausländer, welcher bloß zeitweiligen Aufenthalt im Land nahm, um Geschäfte zu betreiben, musste für Darlehen Zins zahlen. Seine Schulden verjährten nicht im Erlassjahre  ; das war die einzige Rechtsungleichheit, welche das Gesetz zuließ.305 Fremde hingegen, welche dauernden Aufenthalt im Lande genommen, erhielten gleich den Einheimischen auf Gebot des Gesetzes Darlehen ohne Zinsen.306 War der Fremde verarmt, so durfte man ihn nicht aus der Stadt weisen, wie bei den Römern und Griechen, nicht in seine Heimat abschieben, wie bei den sonst gastlichen Wienern. Er hatte gleiches Anrecht und gleichen Anteil an dem Armenzehnt, an den Armengebühren der Äcker und der Erträgnisse des Feldes. Man musste ihm helfen in der Not, in der Gefahr ihn beschützen, sein Freund sein.307 „Du sollst den Fremdling lieben wie dich selber“, lautet wörtlich das Gesetz.308 „Er trägt gleich dir das menschliche Antlitz und ist ausgezeichnet durch das Ebenbild Gottes.“ „An deinen Freudentagen, wenn der Klang der Sichel den Segen des Feldes dir ankündet, vergiss nicht des verarmten Fremdlings“, mahnt der Gesetzgeber.309 Die Bedrückung der Fremden verpönt und ahndet er als Gotteslästerung.310 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310

Num 15,15  ; Lev 24,22  ; Ex 12,49  ; Dtn 1,16  ; Dtn 24,17 2 Chr 2,16 1 Sam 21,7  ; 1 Sam 22,9  ; 2 Sam 15,19  ; 2 Sam 11,3 Dtn 17,15. Ez 47,22 SifDtn 23 Dtn 23,7ff Lev 25,35 Dtn 17,19 Dtn 5,33 Lev 19,10  ; Dtn 24,1a Mal 3,5

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15. Joseph Samuel Bloch, Der Fremde – bei den Griechen, den Römern und den Juden (1884)

Wo er nur auf das Recht des Fremdlings zu reden kommt, schlägt er einen warmen Ton an, der in das Herz greift  : „Gleichwie der Ewige, dein Gott, der Herr aller Herren, der kein Ansehen der Person achtet, keine Unterscheidung unter den Menschen kennt, der da schützt das Recht der Waise und Witwe – er liebt den Fremdling, ihm zu spenden Brot und Kleid, also sollt ihr den Fremdling lieben, auch ihr wart ja einst Fremdlinge in Ägypten.“311 Und immer und immer wieder kommt der Gesetzgeber zurück, wieder|55| holt ohne Ermüdung seine rührenden Ermahnungen zur liebevollen Fürsorge für den notleidenden Fremdling.312 Kennt man das Verfahren der übrigen Völker jener Zeit und auch der späteren bis heute gegen Fremde und Nichtzuständige, dann begreift man, warum der semitische Gesetzgeber seine fremdenfreundlichen Vorschriften so ängstlich, so nachdrucksvoll ans Herz legt. […] Das stolze Bewusstsein des Unterschieds, in welchem der Hellene den anderen Menschen, den Barbaren, gegenübertrat, wurzelt in dem Vorzug seiner edleren Rasse, seiner vornehmeren Abstammung  ; er wusste nichts von der Zusammengehörigkeit der Völker zu einer Familie. Die Idee einer Blutsgemeinschaft mit den verachteten Barbaren würde er als infamierend von sich gewiesen haben. Die palästinensische Weltanschauung indessen wird von dem Gedanken beherrscht, dass alle Völkerstämme und Rassen, so feindselig sie sich oft einander gegenübertreten, von einem einzigen Elternpaare deszendieren. Von jener Höhe, von welcher die Völker des Erdballs als die Äste des einen Menschenstammes, als die verschiedenfarbig glänzenden Edelsteine der einen Schöpfungskrone sich entfalten, wird in keinem Menschen der Fremdling gesehen, sondern der Bruder.313 Sogar den Sklaven bezeichneten die Talmudisten als Menschenbruder.314 Darum ging der Hausherr dem Wanderer entgegen, um ihm uneigennützige Gastfreundschaft anzubieten, gleich dem Erzvater Abraham. Und das Nachgefühl der eigenen Schutzlosigkeit in Ägypten, die qualvolle, aber heilsame Erinnerung an die traurige Heimatlosigkeit während langer, grauenvoller Jahrhunderte – ward zur besten Lehrmeisterin großherziger Gastfreundschaft. Von der Intoleranz lernte man, wovor Duldung und Menschenachtung sich zu hüten haben, um dem Asylbedürftigen das Leid nicht zu verdoppeln. Darum wurde die Erinnerung an die düsteren Zeiten eigener Fremdheit immer wieder aufgefrischt, und ehe es dem Volke gegönnt war, einen |56| heimatlichen Boden zu betreten, musste es den Fluch vernehmen wider alle, „die da beugen das Recht des Fremdlings.“

311 312 313 314

Dtn 10,12 Ex 12,49  ; Lev 19,3  ; Lev 25,35  ; Num 15,15  ; Dtn 1,16  ; Dtn 17,27ff Gen 19,7  ; Gen 29,1  ; Num 20,14 bBQ 88

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16. Nachman Izaak Weinstein, Die Bedeutung von Rea (1891)315

|35| Es gibt auf allen Gebieten Leute, die, wenn sie selbst nicht im Stande sind, etwas Rechtes zu schaffen, sich alle mögliche Mühe geben und alle Mittel aufbieten, das, was der andere hervorgebracht, zu verdunkeln oder sonst in den Schatten zu stellen. Ebenso ergeht es dem Judentum mit seiner mosaischen Gesetzgebung. Gibt es denn ein edleres und erhabeneres Gebot als die Nächstenliebe, das nur zu diesem Zwecke aufgestellt ist, um die Menschheit würdiger und edler zu machen  ? Und doch wird auch an diesem Gesetz gemäkelt  : Unter dem Ausdruck Rea, welches beim Gebot der Nächsten­liebe vorkommt, soll, wie manche es durchaus haben wollen, nur Volksgenosse, also israelitischer Volksgenosse, zu verstehen sein, und nur diesem gegenüber hätte Mose das Gebot der Nächstenliebe aufgestellt, für einen anderen aber, der dem israelitischen Verbande nicht angehört, hätte dieses Gebot keine Gültigkeit. Obwohl wir hier auf die Stelle  :316 „Und wenn in eurem Land ein Fremdling wohnen wird, so sollst du ihn nicht zu übervorteilen suchen, sondern wie ein Bürger, wie einer von euch soll der Fremdling unter euch sein und du sollst ihn lieben wie dich selbst, da ihr selbst einst Fremdlinge im Lande Ägypten wart“, verweisen könnten, so will ich es doch versuchen, der Sache etwas mehr |36| auf den Grund zu gehen, um dieses Missverständnis ein für alle mal aus dem Weg zu schaffen317. Wie wird nun der Satz  : „Und wenn Leute unter sich Streit haben werden“ – hier ist also von Leuten überhaupt die Rede – „und der eine seinen Rea mit der Faust oder mit dem Steine schlagen wird“,318 zu behandeln sein  ? Ist hier auch unter dem Ausdruck Rea nur sein Volksgenosse zu verstehen, und nur einzig und allein, weil er sein Volksgenosse ist, hätte er gegen diesen Rea die Liebens­würdigkeit begangen, ihn durchzuprügeln  ? Oder wie ist dieser Satz zu verstehen  :319 „Und wenn einer mutwillig in meuch­lerischer Weise seinen Rea töten wird, so sollst du ihn selbst vom Altar herunter nehmen und töten.“320 Hat denn Mose nur gegen den Rea das Morden verboten  ? Das glaube ich, wird doch niemand zu behaupten wagen, denn in den zehn Geboten, wo das Verbot des Mordens vorkommt, kommt bei demselben der Ausdruck Rea gar nicht vor. Oder was machen wir mit der Stelle  : „Und wenn jemand seinen Rea hassen wird …“321  ? Ist es denn zum Hassen durchaus notwendig, dass der gehasste Rea ein Volksgenosse sein soll, oder muss er es vielleicht darum sein, weil es zum Schlusse des Satzes heißt  : „und er wird ihn ermorden“, und wir kommen somit zu demselben Widersinn, dass das mosaische Verbot des Mordes 315 [Nachman Izaak Weinstein, Geschichtliche Entwicklung des Gebotes der Nächstenliebe innerhalb des Judentums  : kritisch beleuchtet. Berlin  : Itzkowski 1891, 35–44] 316 In Lev 19,33 317 Vgl. übrigens Steinthal, Allgemeine Ethik S. 122 f. [Steinthal, Heymann, Allgemeine Ethik. Berlin  : Reimer 1885] 318 Ex 21,18 319 Ex 21,14 320 Ex 21,14 321 Dtn 19,11  :

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16. Nachman Izaak Weinstein, Die Bedeutung von Rea (1891)

nur auf die „Volksgenossen“ Bezug habe, alle übrigen Menschen aber, welche nicht Volks­ genossen sind, erwürgt werden dürfen  ? Wir lesen ferner, wo an Mose die Prophezeiung erging322, dass die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten nicht mit leeren Händen weggehen würden. Dann heißt es da, „eine jede Frau wird von ihrer Nachbarin und von ihrer Hausbewohnerin goldene und silberne Geräte leihen“. In Exodus 9,2 aber, wo diese Prophezeiung als Befehl an die Israeliten ergeht, heißt es  : „Sage dem Volke (Israel)  : und ein jeder |37| soll von seinem Rea und jede Frau von ihrer Reutha goldene und silberne Geräte leihen.“ Wir ersehen hieraus erstens, dass der Ausdruck Nachbar, Hauseinwohner und Rea Syno­nyme sind, zweitens, dass auch für einen Ägypter, der doch wahrlich kein israelitischer Volksgenosse ist, der Ausdruck Rea in Anwendung gebracht wird. Ja, noch mehr  ! Der Ausdruck Rea kommt in der Bibel selbst auf leblose Dinge in An­ wendung. An jener Stelle nämlich, wo dieser Ausdruck in der heiligen Schrift zuerst vorkommt, wird erzählt, wie der Ewige mit Abraham den Bund geschlossen und da wird Folgendes gesagt  : „Und Abraham brachte alle, diese (Tiere, wie sie der Ewige ihm befohlen), schnitt sie in der Mitte durch und legte jedes Stück seinem Rea gegenüber“.323 Dass hier unter dem Ausdruck Rea unmöglich Volksgenosse, sondern ausschließlich Nebenstück verstanden werden muss, ist wohl klar. Der Ausdruck Rea wird also hier nur zu diesem Zwecke gebraucht, um den Begriff Stück näher, nämlich durch den Begriff Neben zu bezeichnen, unbekümmert welcher Art und Gattung der betreffende Gegenstand ist. Wollen wir die Talmudisten sprechen lassen, denen doch wohl zuzutrauen ist, dass sie Hebräisch, die Bibel und den Sinn der mosaischen Gesetze verstanden haben, und von ihnen wollen wir hören, was Mose mit dem Ausdruck Rea bezeichnet hat  :324 „In der Schrift heißt es  : ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘ (Nächsten-Rea) Rabbi Akiba sagt  : das ist das höchste Prinzip (Kelall) in der Tora, Ben Asai sagt  : Der Vers  : ‚Das ist das Buch der Geburt des Menschen, im Ebenbilde Gottes hat er ihn geschaffen‘, ist ein höheres Prinzip der Tora.“325 Die Stelle im Midrasch rabba, die unten beigefügt ist, veranschaulicht uns am |38| besten den Unterschied zwischen dem Standpunkt, welchen R. Akiba und dem, welchen sein Schüler und College Ben Asai in Bezug auf das Hauptprinzip der mosaischen Gesetzgebung ein­nimmt.

322 Ex 3,21–22 323 Gen 15,10 324 Die bezeichnendste Stelle hierfür befindet sich im jerusalemischen Talmud Traktat yNed IX,4, im Midrasch BerR 54 und im Sifra zum Abschn. Keduschim 4. 325 yNed IX,4 und Sifra zum Abschn. Kedoschim 4 lautet die Stelle  : ,‫ואהבת לרעך כמוך זה כלל גדול בתורה בן עזאי אומר זה ספר תולדות אדם זה כלל גדול מזה‬ während GenR 24 lautet diese Stelle wie folgt  : ‫בן עזאי אומר זה ספר תולדות אדם זה כלל גדול בתורה ר' עקיבא אומר ואהבת לרעך כמוך זה כלל גדול בתורה שלא תאמר הואיל‬ .‫ונתבזתי יתבזה חברי עמי הואיל ונתקללתי יתקלל חברי עמי אמר ר' תנחומא אם עשית כן דע למי אתה מבזה בדמות אלהים עשה אותו‬ Alle Kommentatoren sind aber darüber einig, dass Ben Asai den Schluss des Verses, nämlich ‫ בצלם אלהים ברא אותו‬im Auge hatte.

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V. Fremden- und Feindesliebe

Dass aber R. Akiba die ideelle Auffassung des Ben Asai nicht fremd war, dass nämlich, wer einen Menschen, der das Ebenbild Gottes ist, entwürdigt, auch eine Blasphemie gegen Gott begehe, geht aus einer Stelle in Pirke Aboth hervor, wo R. Akiba sagt  : „Ein Liebling Gottes ist der Mensch, dass er im Ebenbilde Gottes geschaffen ist, eine beson­dere Liebe ist ihm dadurch erwiesen worden, dass Gott es ihm zum Bewusstsein brachte in dem Schriftworte  : ‚Im Ebenbilde Gottes hat er den Menschen erschaffen“.326 Dass aber unter dem Ausdruck Adam ein Mensch im allgemeinen und nicht bloß ein Jude zu verstehen ist, geht aus einer anderen Stelle hervor, in der es heißt  : „Die Schrift sagt  :327 Und ihr sollt hüten meine Gesetze und meine Verordnungen, die der Mensch zu befolgen hat, damit er durch sie leben könne.“ Hier wurde nicht der Ausdruck Priester, Levit oder Israelit gebraucht, sondern ha-Adam (der Mensch). Daraus ist zu ersehen, dass wenn sogar ein Nichtjude sich mit der Tora befasst, er so hoch wie der hohe Priester zu achten ist.328 Es ist daraus zu ersehen, dass wenigstens die Talmudisten unter dem Ausdruck Adam weder Priester noch Leviten noch Israeliten, sondern Mensch im Allgemeinen verstanden haben, und als R. Akiba sagte  : „dem Adam ist eine besondere Liebe erwiesen worden, damit, dass ihm die Lehre von der Ebenbild- |39| lichkeit offenbart wurde“, so hat er den Menschen im Allgemeinen vor Augen gehabt, ganz im Sinne seines Schülers Ben Asai. Allein R. Akiba war ein sehr praktischer und viel erfahrener Mann. Er schlug einen anderen Weg ein, er wollte, um sich einen Erfolg zu sichern, die Menschen stufenweise zum Ziele führen, er suchte daher, wie sein Vorgänger Hillel, die konkretere Seite der Nächstenliebe den Menschen zuerst beizubringen, um sie später für die ideellere Seite dieses Gebots, welche (…) den Begriff der messianischen Zeit in sich schließt, gewinnen zu können. Derselbe Unterschied, welcher zwischen Schammai und Hillel obwaltet, war auch in dieser Beziehung zwischen R. Akiba and Ben Asai vorhanden. Schammai und seine Nachfolger und ebenso Ben Asai waren sämtlich Idealisten. Wer sich von dem praktischen Sinn des Hillel in Bezug auf die Erziehung des Menschen über­zeugen will, der lese die S­ telle,329 wo drei Heiden von Hillel verlangten, dass er sie unter widersinnigen Bedingungen dem Judentum zuführe. Von Schammai wurden sie abgewiesen, während Hillel, der wohl wusste, dass die Forderungen dieser Heiden auf Unwissenheit beruhen, sie freundlich aufnahm und nach einiger Zeit, nachdem die drei Heiden ihre Unwissenheit eingesehen hatten, sie dazu bewog, ihre Bedingungen fallen zu lassen. Ebenso geschah es mit Akilas, der später die Tora in rühmlicher Weise ins Griechische übersetzt hat. Von R. Elieser, dem hartnäckigen Schammaiten, schroff abgewiesen, nahm ihn Josua ben Chananja, Hillels Anhänger, in sehr milder Weise auf, so dass erzählt wird, wenn nicht R. Josua auf ihn gewirkt hätte, so wäre der später so eifrige Jude Akilas nicht Jude geworden.330 Allein R. Josua ben Chananja kannte die Welt sehr gut, war ein sehr erfahrener 326 Spr 3,18 327 Lev 18,5 328 bBQ 38a und bSan 59a  : ‫תלמוד לומר אשר יעשה האדם וחי בהם כהנים לוים וישראלים לא נאמר אלא האדם הרי למדת‬ .‫שאפילו נכרי ועוסק בתורה הרי הוא ככהן גדול‬ 329 bShab 31a 330 BerR 70  : .‫אלולא אריכות פנים שהאריך ר' יהושע עם עקילס היה חוזר לסורו‬

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16. Nachman Izaak Weinstein, Die Bedeutung von Rea (1891)

Mann, so dass man von ihm sagte, mit dem Tode R. Josua ben Chananja’s seien die Männer von gutem Rate aus der Welt gegangen.331 Die Anhänger des Schammai ebenso wie Ben Asai lebten in einer idealen Welt und nahmen auf die wirkliche konkrete Welt wenig Rücksicht. Als man Ben Asai fragte, warum er nicht |40| heirate, (Ben Asai ist unverheiratet gestorben), da er doch selbst sagt, dass jeder, der nicht heiratet, sich des Vergehens des Blutvergießens schuldig macht, da durch die Ehelosigkeit die Welt entvölkert würde und dies der Menschheit Nachteil brachte, antwortete er  : Was kann ich tun, mein Ideal ist die Lehre, so mag die Welt durch andere erhalten werden.332 Dass aber die ganze Lehre samt aller Gesetze nur erst Mittel zur Existenz der Welt ist, scheint Ben Asai übersehen zu haben. Von Ben Asai wird übrigens im Talmud noch erzählt, dass er dem Essäismus nicht ganz abgeneigt war.333 Dass die Schammaiten aber auch Verächter der wirklichen Welt waren, geht aus einer anderen Stelle hervor  : „Zwei und ein halbes Jahr“, heißt es dort, „stritten die Schammaiten mit den Hilleliten. Die ersteren sagten  : Besser wär’s für den Menschen, dass er nicht geschaffen wäre (da an dieser Welt nichts gelegen ist), während die Hilleliten sagten  : Für den Menschen ist es besser, dass er geschaffen ist.“334 Den idealen Begriff des Gebotes  : Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, haben alle Talmudisten genau gekannt, und dieser Idealismus wurde von ihnen auch hoch gehalten. Allein als Vorstufe zu diesem Idealismus muss der konkretere Begriff des Gebotes voran gehen, um durch ihn später zum ideellen zu gelangen. Dieser ideelle Begriff ist sowohl im Talmud, als auch in der rabbinischen Literatur und selbst in der Bibel vertreten. Am deutlichsten spricht sich hierüber einer der hervorragendsten Religionsphilosophen Izchak Arama aus. In seinem berühmten Werke Akedath Izchak, das vom ganzen Judentum sehr verehrt wird, spiegelt sich eine tiefe Kenntnis vom Geiste der mosaischen Gesetzgebung. Seine Stellung zum Gebote  : Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ist für uns um so |41| wichtiger, als er den Kelch der bittersten Verfolgungen seitens der spanischen Inquisition bis auf die Neige geleert hatte und auch zu den vertriebenen Juden aus Spanien gehörte. Ihn wollen wir nun hören, was man unter dem hebräischen Ausdruck Rea, welcher im Gebote der Nächstenliebe vorkommt, zu verstehen hat. Er sagt in seinem eben erwähnten Werke hierüber Folgendes  : „Allein wie die Nächstenliebe sein muss, lehrt uns sehr deutlich die ganze Natur, gemäß welcher zweifelsohne die ganze Gesetzgebung unserer göttlichen Lehre aufgestellt wurde. Wir bemerken nämlich in der Natur, dass je ähnlicher zwei Geschöpfe einander sind, desto sympathischer und wohlwollender ist das Verhältnis unter ihnen. So z. B. ruft ein Baum, der Früchte trägt und gewissermaßen, wenn auch vegetarisch lebt, in Bezug auf seine Erhaltung bei uns mehr Sympathie hervor als Mineralien. Und so forderte auch die Schrift  : Du sollst das Leben eines fruchtbringenden Baumes nicht zerstören, denn der 331 tSot 15,3  : .‫משמת ר' יהושע בן חנניה בטלו אנשי עצה‬ 332 bYev 63b  : ‫ אמרו לו לבן עזאי יש נאה דורש‬.‫בן עזאי אומר כל יהודי שאינו עוסק בפריה ורביה כאלו שופך דמים וממעט הדמות‬ .‫ואין נאה מקיים אמר להם מה אעשה ונפשי חשקה בתורה אפשר לעולם שתתקים על ידי אחרים‬ 333 bBer 57b  : .‫הרואה בן עזאי בחלום יצפה לחסידות‬ 334 bEr 13b  : ‫שתי שנים ומחצה נחלקו בית שמאי ובית הלל הללו אומרים נוח לו לאדם שלא נברא יותר משנברא והללו אומרים נוח‬ .‫לו לאדם שנברא יותר משלא נברא‬

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V. Fremden- und Feindesliebe

fruchtbringende Baum gleicht gewissermaßen dem Menschen.335 Die Schonungsgebote aber gegen Tiere, welche letztere uns noch ähnlicher als die Pflanzen sind, treten in der Schrift noch intensiver hervor. So darf z. B. bei Tieren Mutter und Kind nicht an einem Tage geschlachtet werden336 – und ähnliches, wie es der Talmud337 ausführlich berichtet. Umso schärfer aber sind die Gebote in der heiligen Schrift in Bezug auf die Erhaltung und Schonung dem ganzen Menschengeschlecht gegenüber ohne Unterschied auf Verband und Religion, so dass der Mensch dem Menschen gegenüber der höchsten Liebe sich zu befleißigen habe. Und das ist auch die Absicht der Schrift, indem sie sagt  : Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, worunter die Liebe gegen die Gesamtheit, gegen die ganze Menschheit, zu verstehen ist.“338 In ähnlicher Weise drückt sich Arama an einer anderen Stelle aus, wo er Folgendes sagt  : „Und die Schrift schloss alle die Gebote, |42| welche das Verhältnis der Menschen untereinander regulieren sollen, mit einem wunderbaren Gebote ab, welches das vorzüglichste von allen übrigen ist, weil es alle übrigen in sich schließt, nämlich mit dem Gebote  : Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ein Gebot, das die Veredelung und die Feinheit des Herzens zum Ziele hat, denn“, fährt er fort, „das Gebot fordert die gleiche Liebe gegen den Nebenmenschen, wie wir sie zu uns selber hegen, und weil diese Handlungsweise, durch welche der Mensch mit dem Nebenmenschen eins wird, den Charakter der Brüderlichkeit an sich trägt, so ist es Sprachgebrauch in der heiligen Schrift, die Menschen insgesamt mit dem Namen Bruder zu bezeichnen. Dem gemäß sagt z. B. die Schrift339 wenn dein Bruder verarmen wird, oder (ibid.) lasse deinen Bruder mit dir leben, oder wenn dein Bruder sich dir vermieten wird.340 Und weil dieses Gebot über allen übrigen so erhaben ist, deshalb sagte Hillel,341 dass alle übrigen Gebote bloß ein Kommentar zu diesem einen sind.“342 335 336 337 338

Dtn 10,19 Lev 22,28 bBM 32b und 85a Akedat Izchak, Band 1, Cap. VIII, folio 64b editio Pressburg  : ‫ן איכות) בה המשפט פרסמו מאד טבע‬.( ‫אמנם אמות‬ ‫המציאות ונמשכה אחריו תורתנו האלהית בלי ספק והוא שנראה בחוש שכל עוד שנתדמו הנאהבים בענינים רבים לפיהן תתרבה‬ ‫ הלא תראה שבהיות לכל עץ נחמד למאכל קצת‬.‫אהבתם ותתחזק מדת החסד והרחמנות ביניהם ולפי מעוט הדמות לפי כן תתמעט‬ ‫דמיון לאדם בנפש הצומחת באמרו כי האדם עץ השדה כבר יפול הגו בעיני האדם להביט אליו בהשקפת השמירה ממה שישקיף על‬ ‫ וכבר באה הישרה האלהית לא תשחית את עצה לנדח עליו גרזן כי האדם הוא עץ השדה והנה הבעלי החיים להיותם מתד־‬.‫המחצבים‬ ‫מים בצומחת ובחיונות נתחזק בהם זה הענין עד שכבר יפול בהם צד חנינה ורחמנות וההצטער מצער בעלי חיים כמו שכתוב ורחמיו‬ ‫על כל מעשיו בפרק השוכר (בבא מציעא פ ה) והנה התורה הזהירה על זה בחוזק בשור ושה אותו ואת בנו (ויקרא כ"ב) וצער בעלי‬ ‫חיים דאורייתא ואין צריך לומר שחיוב ההשמר הזה בשיעור יתר מאד במין האדם ואף על פי שלא יהיה עמו שום ברית ודת…עד‬ ‫שאדם עם עצמו הוא תכלית האהבה ומדתה ולזה היתה מהחכמה התוריית לשער בה כל האוהבות והיא‬   .‫ ; אומר ואהבת לרעך…והאהבה אל הכלל והיא ממש טעם ואהבת לרעך כמוך‬Dtn 20,19  ; Ps 145,9 339 Lev 25,35 340 Dtn 26 341 bShab 31a 342 Akedat Izchak, Band III, Cap. 65, folio 88 editio Pressburg  : ‫וחתם כל אלו המצוות הבאות בדברים שבין אדם לחברו‬ ‫בזרוז נפלא שהוא כלל גדול ומעולה לכל התורה כלה ואמר ואהבת לרעך כמוך והוא תכלית טוהר הלב ונקיותו שיאהב האדם לזולתו‬ ‫כמותו והכונה שישים האדם אהבת עצמו המדה אשר בה ישער וימדוד אהבת כל בני אדם עד שלא יקבל שום אחד ממנו מה שלא‬ ‫ירצה לקבלו מזולתו ולזה אמרו זה כלל גדול בתורה דעלך סני לחברך לא תעבד ולפי שהמדה הקרובה אליו הוא ענין האחוה כי האח‬

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16. Nachman Izaak Weinstein, Die Bedeutung von Rea (1891)

Ich glaube hier zur Genüge dargetan zu haben, dass sowohl in der Schrift als auch im Talmud und der rabbinischen Literatur überhaupt unter dem Ausdruck Rea nicht ein Volksgenosse, sondern die Gesamtheit der Menschen überhaupt verstanden wird. Die Sache wird noch umso klarer, wenn man |43| den ideellen Standpunkt dieses Gebots, der in der ganzen jüdischen Literatur vertreten ist, berücksichtigt. Eine Stelle in Akedat Izchak hierüber lautet  : „Der Vers,343 wo der Ewige sagte  : ich will den Menschen nach meinem Ebenbilde und nach meiner Gestalt machen, und er soll das ganze Tierreich beherrschen, ist so zu verstehen, dass der Mensch dahin zu streben habe, dass das göttliche Siegel, das Ebenbild Gottes, das ihm aufgedrückt ist, nicht entwürdigt werde, sondern so bleibe, wie es aus des Schöpfers Hand hervorgegangen ist, d. h. er soll seine Vernunft über alle Teile und Kräfte seines Körpers herrschen lassen und dieselben der Vernunft vollständig unterwerfen, so dass alle nur im Dienste der vernünftigen Seele zu stehen und nur ihre Befehle zu vollziehen haben, damit dieselbe so rein zu­rückkehre, wie sie gekommen. Denn im Menschen sind manche Neigungen vorhanden, welche denen der Tiere, ja der wissenden Tiere ähnlich sind.“ In gleichem Sinne spricht sich auch Maimonides aus  :344 „Wenn nun die Seele alle tierischen Neigungen im Menschen bezwingt … so ist der göttliche Spruch345 ‚Ich will einen Menschen nach meinem Ebenbilde machen, und er soll das ganze Tierreich be­herrschen‘ zur Wahrheit geworden. Wenn aber der Mensch sein göttliches Ebenbild vor Erniedrigungen und Verunreinigungen nicht hütet, so hört die Herrschaft seiner Seele über den Körper auf, und die niederen und unlauteren Triebe des Körpers ziehen sie mit sich hinunter … Die messianische Zeit, von welcher der Prophet Jesaia am Anfang und am Schlusse seiner Prophezeiung spricht,346 ist nichts weiter als die Hinweisung auf eine Zeit, wo das Verderbliche in der Menschheit aufhören, und die menschliche Natur ihrem wahren Berufe, der Mensch zu seinem göttlichen Ebenbilde zurückgekehrt sein wird. So sagt z. B. Jesaia  :347 ‚Ich werde einen |44| neuen Himmel schaffen etc. und ich werde mich wieder an Jerusalem erfreuen, es wird dort niemand sein, der seine Jahre nicht ausleben wird … Das, was ein jeder bauen wird, wird ein anderer nicht bewohnen und das, was ein jeder pflanzen wird, wird ein anderer nicht genießen  ; denn es wird eine Zeit sein, wo Wolf und Lamm nebeneinander leben werden, wo der Löwe wie das Hausvieh Stroh essen wird, und der Schlange Speise wird Erde sein, nicht werden sie Schaden noch Böses auf meinem heiligen Berge mehr anrichten‘, denn348 ‚wie das Weltmeer die ganze Erde bedeckt, so wird auch die ganze Erde von der Erkenntnis Gottes erfüllt sein.‘“349

343 344 345 346 347 348 349

)‫ כי ימוך אחיך (ויקרא כ"ה) ומך אחיך (שם‬:  ‫אצל האדם הוא כעצמו ובשרו לזה היה המנהג בתורה להזכיר כלל האנשים בשם אחוה‬ .‫וחי אחיך עמך (שם) כי ימכר לך אחיך (דברים ט"ו) ולגודל זה הענין כולל הלל במצוה הזאת כל המצוות ואמר דאידך פירושא‬ Gen 1,26 in seinem Werke More Nebuchim Bd. III, cap. 5 Gen 1,29 vgl. Jes 11,6–9 Jes 65,17ff Jes 11,9 Akedat Izchak Band 1, Cap. 15, folio 110b Editio Pressburg  : ‫באמרו נעשה אדם בצלמנו (בראשית א') שהכונה‬ ‫שיהיה האדם שומר צלמו ודמותו המיוחד במה שתהיה נפשו השכלית היא המולכת על כל חלקי הגוף וכחותיו ומכנעת אותם הכנעה‬

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‫‪V. Fremden- und Feindesliebe‬‬

‫‪Hieraus ist, glaube ich, aller Welt klar, dass Mose sowie die Propheten niemals das Volk‬‬ ‫‪Israel allein, sondern stets die ganze Menschheit bei ihren Verkündigungen im Auge hat‬‬‫‪ten, und auch in der ganzen rabbinischen Literatur findet sich der Widerhall dieser Ver‬‬‫‪kündigungen.‬‬

‫גמורה בפניה עד שלא תהיה תקומה לשום אחד מהם כי אם לעבוד עבודתה ולשמור משמרתה להשיבה למעונה כמשפטה…כי על כן‬ ‫נמצא קצת אישי האדם נוטים אל טבע האריה וקצתם אל השור או אל הדוב בתכונתם כמו שזכר הרב המורה פרק ה' חלק ג'‪ .‬והנה‬ ‫כאשר תכבוש זאת הנפש זה חלק המורכב…והיא תהיה ראש ושולטת על כל אלו הכוחות הגופניות…כן נזכר וירדו בדגת הים וכו'‪.‬‬ ‫אמנם כאשר לא ישמור האדם צלמו ודמותו…אז כל הנמצאות הטבעיות פשוטות ומורכבות…יחשבוהו כאחד מהם וימרדו בו…‬ ‫וכמה נתיעד מפי ישעיהו בתחילת נבואותיו וסופן השבת תקון הטבע הזאת למקומה בשלמות האנשים אמר  ‪ :‬הנני בורא שמים חדשים‬ ‫וכו' וגלתי בירושלים לא יהיה משם עוד וכו' עד זאב וטלה ירעו כאחד ואריה כבקר יאכל תבן ונחש עפר לחמו לא ירעו ולא ישחיתו‬ ‫בכל הר קדשי כי מלאה הארץ דעה את ה' כמים לים מכסם‪.‬‬

‫‪138‬‬

17. Moritz Dessauer, Pflichten gegen den Nicht-Israeliten (1884)350

|148| Da nun das Judentum von dem Satz ausgeht, dass alle Menschen im Ebenbilde Gottes geschaffen sind, so braucht es eigentlich kaum noch gesagt zu werden, dass die Nächstenliebe, von welcher die mosaische Gesetzgebung spricht, gleichbedeutend ist mit allgemeiner Menschenliebe, dass die Liebe sich erstrecken soll auf alle Menschen ohne Unterschied der Klasse und Rasse. Unsere Religion lehrt demnach deutlich  : Das Ebenbild Gottes strebe dem Urbild nahe zu kommen. Wie Er versöhnlich, allbarmherzig, liebevoll gegen alle Wesen, so sei auch der Mensch voll Liebe, Güte und Milde gegen alles, was Menschenantlitz trägt. (…) Ein Gesetz sei für euch und den Fremdling, der sich da aufhält, eine ewige Satzung für alle Geschlechter, ihr und der Fremdling sollet gleich sein vor dem Ewigen. Ein Gesetz, ein Recht soll für euch wie für den Fremdling gelten.351 Indem die Lehre Mosis das Ebenbild Gottes auf das Urbild hinweist und die Gleichheit aller Menschen vor dem Ewigen betont, hebt sie den Israeliten auf einen erhabenen Standpunkt, zeigt sie ihm seine sittliche Grundanlage und Pflicht, sowohl sich selbst zu vervollkommnen als auch seine Nebenmenschen – und Nebenmenschen sind alle, die in Gottes Ebenbild geschaffen sind – zu veredeln, der Gottähnlichkeit immer näher zu bringen. Freilich hat der Mosaismus nicht immer und überall diesen erhabenen allgemeinen Standpunkt festhalten können. Freilich zeigen viele biblische Gesetze und Bestimmungen einen engeren Zuschnitt und haben lediglich die Israeliten in |149| Palästina im Auge. Das allgemeine Menschentum tritt oft gegen die individuelle Gestaltung und die Eigenartigkeit des Volkslebens in den Hintergrund. Meist hat der rohe Götzendienst der alten Zeit Schonung und Milde in Strenge und Härte verwandelt. Es ist eben das Los jeder, auch der erhabensten Idee, dass sie aus ihrer Gedankenhöhe auf den Boden der Wirklichkeit herabsteigend, dort von einer beengenden Atmosphäre umklammert wird und die Fülle ihrer ganzen Herrlichkeit zu dem geringen Maß der bestehenden Verhältnisse, der allgemeinen Fasslichkeit und Empfänglichkeit herabstimmen muss. Auch der Talmud, wer wird das leugnen, enthält manche Stellen, welche als eine Trübung des allgemeinen Menschentums erscheinen müssen. Aber daraus den Juden der Gegenwart einen Vorwurf machen, ist – sehr gelinde ausgedrückt – naiv, ebenso naiv als ihnen heute den Tod Jesus oder den heutigen Griechen den Tod des Sokrates zur Last zu legen. „Der Talmud und immer wieder der Talmud  !“ so etwa ruft Riesser aus352 … „Ist denn der Talmud allein übrig geblieben in der großen Sündflut, die in eurem Gedächtnis alle übrigen Erinnerungen aus der Geschichte der Religionen wegschwemmt  ? Oder schließt ihr ihn allein aus von der allgemeinen Amnestie, die ihr allen ähnlichen Erzeugnissen be350 [Moritz Dessauer, Humanität im Judentum. In  : Populärwissenschaftliche Monatsblätter, 4(1884)147–151, 200–207, 231–233, hier  : 148–150 und 200–202] 351 Num 15,15 352 [Gabriel Riesser, Kritische Beleuchtung der in den Jahren 1831 und 1832 in Deutschland vorgekommenen ständischen Verhandlungen über die Emancipation der Juden. Altona 1833, 17]

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V. Fremden- und Feindesliebe

willigt habt  ? Wenn ihr eure Religion, deren Hass Geschlechter erwürgt und Jahrhunderte mit Blut überschwemmt hat, eine Religion der Liebe nennt und leicht hinweggeht über jene Gräuel, als über Auswüchse, über das Erzeugnis menschlicher Zusätze zu der himmlischen Lehre, errötet ihr nicht, einem andern Glauben, dessen Bekenner Jahrhunderte die hilflosen Opfer des Fanatismus waren, vorzuwerfen, dass er einst auch andere Lehren als die der allgemeinen Menschenliebe gelehrt  ? … Warum sollen wir einzelner Härten wegen die Geschichte von zwei Jahrtausenden unseres Glaubens verleugnen und verdammen, da ihr doch von dem Erscheinen eures Glaubens das Heil der Welt datiert, unbekümmert um die Grausamkeiten und um die unmenschlichen Lehren, zu denen ihr die Veranlassung geworden  ?“ Bei Beurteilung engherziger Gedanken und Lehren in Bibel und Talmud muss man, wenn man nicht ein beschränktes, einseitiges Urteil fällen will, stets den krassesten Götzendienst des Altertums, später die Religionsverfolgungen als geschichtlichen Hintergrund fest im Auge behalten, immer jene von der jetzigen sehr verschiedenen Zeit in Betracht ziehen. Aber im Vordergrund stand und steht im Judentum die Liebe und das allgemeine Menschentum. Wenn in einer Zeit, wo noch Blutschande, Menschenopfer, Gewalt, Raub und Mord an der Tagesordnung waren, hin und wieder auch unliebsame Äußerungen gefallen sind, wer darf sich darüber wundern  ? Man muss sie als einzelne dunkle Punkte an dem reich besäten Sternenhimmel der mosaischen Humanitätslehre ansehen. Und wahrlich, vollbesät wie mit glänzenden Sternen der Himmel ist mit goldenen Worten der Duldung unsere Bibel. Kaum möchte man glauben, ein dreitausend Jahre altes Buch vor sich zu haben, wenn man darin neben dem Hauptgebot  : Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, Lehren und Mahnungen wie die folgenden liest  : „Den Fremdling in eurem Lande sollt ihr nicht unterdrücken. Du sollst ihn lieben wie dich selbst  ; denn Fremde seid auch ihr im Lande Ägypten gewesen“.353 „Ein Recht gelte für den Eingeborenen wie für den Fremdling.“ „Denn der Ewige, euer Gott, ist ein Gott aller Götter, weil er keinen Unterschied der Personen macht und unbestechlich ist. Er liebt auch den Fremdling, gibt ihm Speise und Kleidung. So liebt auch ihr |150| den Fremdling, denn Fremde seid ihr im Lande Ägypten gewesen.“ Vor dem Gesetze waren alle gleich.354 Einerlei Rechtsbestimmung schützte den Fremdling vor Beleidigung, Eigentums- oder Körperbeschädigung, vor Totschlag, Übervorteilung oder Unterdrückung, „Ihr sollet gerecht richten zwischen jedermann.“355 „Den Söhnen Israels wie dem Fremdling und Beisassen sollen die schützenden Zufluchtsstätten geöffnet sein.“356 „Der Fremdling in eurer Mitte oder wer immer unter euch lebt, wenn er bringt ein gottgenehmes Opfer, so sei sein Opfer dem eurigen gleich.“357 Es wird noch zu wiederholten Malen auf das Gemüt des Volkes eingewirkt, um diese Milde nicht nur in der Theorie gutzuheißen, sondern auch praktisch durchzuführen. „Ge353 354 355 356 357

Lev 19,33 Ex 12,49  ; Lev 24,22 Dtn 1,16 Num 25,15 Num 15,14

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17. Moritz Dessauer, Pflichten gegen den Nicht-Israeliten (1884)

denke,“ heißt es mehrmals, „dass du geknechtet warst im Lande Ägypten, und der Allgütige hat dich befreit, darum gebiete ich dir solches.“358 „Denn Fremde sind wir vor dir und Beisassen gleich unseren Vätern, flüchtige Schatten sind wir auf Erden, ohne Dauer.“359 Und diese Milde blieb nicht bloß Theorie. Tatsächlich gelangten Fremde im altisraelitischen Staate zu den höchsten Ämtern und Würden. Einen hohen militärischen Rang nahmen Uriah der Hethiter und der Anführer Ithai aus Gath ein. Wir finden ferner einen Jebusiter Arawna in hochgeachteter Stellung in Jerusalem. Bei der Tempeleinweihung zu Jerusalem betete Salomo ausdrücklich auch für die Fremden, die nicht vom Volke Israel stammten  : „Höre du im Himmel, deiner erhabenen Wohnung und gewähre ihm alles, um was der Fremde zu dir ruft.“360 In Salomos Zeit kamen in Folge der humanen Behandlung und Rechtsgleichheit aller Bürger 153600 Fremde nach Palästina, und diese waren nachher mit den Einwohnern des Landes so innig verwachsen, dass der Prophet Hesekiel sie selbst bei der Landesverteilung als vollständig gleichberechtigt betrachtet.361 In demselben Geiste wirkten und lehrten alle Propheten, vom ersten bis zum letzten. Jesaias ruft  : „Es spreche nicht der Fremdling  : Der Herr hat mich von seinem Volke abgesondert … Die Söhne der Fremde, die dem Ewigen sich anschließen, ihm zu dienen und seinen Namen zu lieben, die werde ich bringen zu meinem heiligen Berg, erfreue sie in meinem Haus, ihre Opfer nehme ich mit Wohlgefallen an. Denn mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker heißen.“ Die letzten Propheten Secharja und Maleachi mahnen noch ebenso eindringlich wie die früheren, Fremdlinge und Tagelöhner nicht zu bedrücken.362 Auch der Prophet Jona schließt mit der Mahnung, dass Gottesliebe sich über alle Geschöpfe, Menschen wie Tiere, selbst Sünder und Heiden erstrecke, und dass der Mensch mit gleicher Duldung und Schonung gegen die Mitmenschen und alle Geschöpfe verfahre. „Allgütig ist der Herr,“ ruft der Psalmist, „und seine Liebe erstreckt sich über alle seine Geschöpfe“. Man könnte diese Beweise für die Idee der Gleichheit und des allgemeinen Menschentums in dem Alten Testament noch zehnfach vermehren. Aber es geht schon aus den angeführten unwiderleglich hervor, dass diese Idee in der Bibel deutlich ausgesprochen und in den Gesetzen verkörpert wurde und später im jüdischen Staatsleben fest und tief wurzelte. Zu einer Zeit, als noch bei den übrigen Völkern, selbst bei den gebildeten Griechen und Römern der Fremde als Barbar, Sklave, Knecht, Niedriggeborner behandelt wurde, proklamierte das jüdische Gesetz die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, die Achtung vor jedem Menschenantlitz als Ebenbild Gottes. […] |200| Aber auch im viel verschrienen Talmud finden wir dieses humane Prinzip gewahrt, wenn auch zuweilen die Reibungen und Verfolgungen manchem Talmudlehrer ein herbes Wort hervorgepresst haben. Obzwar bei einem Riesenwerke, |201| worin sich sechs 358 359 360 361 362

Dtn 15,15  ; Dtn 24,22 1 Chr 29,15 1 Kön 8,41 Ez 47,21 Sach 7,10  ; Mal 3,5

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V. Fremden- und Feindesliebe

Jahrhunderte des Geistes- und Gemütslebens Israels, seiner Freuden und Hoffnungen, Schmerzen und Leiden, Sitten und Gebräuche abspiegeln, und wo die verschiedensten Gedankenerzeugnisse jenes großen Zeitraums, Moralsprüche, Sagen, Satzungen, Anordnungen, Allegorien und Erzählungen aufgespeichert liegen, von einem einheitlichen Prinzip, das wie ein roter Faden durch das ganze ginge, keine Rede sein kann. „Es ist demnach kein Wunder“, sagt ein bedeutender Historiker,363 „wenn in dieser Welt Erhabenes und Gemeines, Großes und Kleines, Ernstes und Lächerliches, der Altar und die Asche, Jüdisches und Heidnisches neben einander gefunden werden. Oft waren solche gehässigen Aussprüche, an welche sich der Judenhass anklammert, weiter nichts als Äußerungen eines augenblicklichen Unmuts, die einem einzelnen entfahren und von allzu eifrigen Jüngeren, welche keines der Worte von den verehrten Alten verloren gehen lassen mochten, aufbewahrt und dem Talmud einverleibt wurden. Sie werden aber reichlich von Lehren der Menschenliebe und des Wohlwollens gegen jedermann ohne Unterschied der Abstammung und Religion, die ebenfalls im Talmud aufbewahrt sind, aufgewogen.“ Einer der frühesten und angesehensten Talmudlehrer, Hillel, stellte den Grundsatz auf  : „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht  ; das ist ein Grundgesetz, von welchem alle übrigen Gesetze abgeleitet werden müssen.“364 Andere Stimmen lauten  : „Die Ehre deines Mitmenschen muss dir so lieb sein, wie die deinige.“365 „Bemühe dich, die Handlungen jedes Menschen zum Guten auszulegen.“366 „Begegne jedem Menschen mit Freundlichkeit.“367 „Die Frommen aller Völker haben Anteil an der Seligkeit.“368 „Auch der Nichtjude, der sich mit der Gotteslehre beschäftigt, ist dem Hohenpriester gleich.“369 „Jeder, der dem Götzendienst abhold ist, muss dem Juden gleich geachtet werden.“370 „Man darf niemals durch Schein und Täuschung von sich eine gute Meinung bei den Mitmenschen, Juden wie Nichtjuden, erwecken.“371 „Man soll gegen jedermann, auch gegen die Heiden, mit dem Friedensgruß zuvorkommen“,372 „den Frieden selbst mit Heiden pflegen.“373 Zum Psalm 15  : „Wer darf, o Herr  ! in deinem Zelte wohnen, wer auf deinem heiligen Berge weilen  ? Der redlich wandelt, Recht ausübt, von Herzen Wahrheit redet … Nie seinem Nächsten Böses tut, nie einen Nebenmenschen schmäht … Wer ohne Wucher Geld verleihet,“ bemerkt der Talmud  :374 „Damit ist derjenige gemeint, der auch dem Nichtis363 [Heinrich Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet. Vierter Band. Vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluss des Talmud. 2. Auflage. Leipzig  : Leiner 1866, 410] 364 bShab 31 365 mAv II,15 366 mAv I,6 367 mAv I,15 368 bSan 105 369 bSan 101 370 bMeg 13a. 371 bMeg 94 372 bBer 17,32,62 373 TanDtn 17 374 bMak 24a

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17. Moritz Dessauer, Pflichten gegen den Nicht-Israeliten (1884)

raeliten leiht, ohne Zins zu nehmen.“ „Feinde Israels hat es gegeben und gibt es noch, dass aber die Israeliten Feinde anderer Menschen wären, ist undenkbar.“375 Rabbi Akiba sprach  : „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, das ist ein Kardinalsatz der israelitischen Lehre.“ Ben Asai aber sagte  : „Dieses ist die Entstehungslehre des Menschengeschlechts, … das ist ein noch wichtigerer Grundsatz  ; denn darin wurzelt die gemeinsame Abstammung aller Menschen, die brüderliche Zusammengehörigkeit aller Söhne Adams.“ Alle Erdensöhne von einem Menschenpaar, Kinder eines Gottes, im gleichen Ebenbilde Gottes geschaffen, das sind deutliche Fingerzeige zur gegenseitigen Achtung und Liebe, Eintracht und Friedfertigkeit unter allen Menschenkindern, eine deutliche Verkündigung der Idee des allgemeinen Menschentums. Eine spätere Religionsschrift rechnet ausdrücklich zu den zehn Dingen, welche die zukünftige messianische Zeit kennzeichnen wird, die Harmonie unter allen Lebenden, die Menschenverbrüderung.376 Wenn wir nun auch im Talmud an verschiedenen Stellen Trübungen |202| und Abweichungen von diesem Hauptgrundsatz des Judentums finden, wenn die Idee des allgemeinen Menschentums nicht überall in ihrer Reinheit und Klarheit hervortritt, so teilte diese, wie wir bereits erinnert haben, das Los jeder Idee, beispielsweise der Idee der höchsten Tugend, der Einzigkeit und Urkörperlichkeit Gottes, die in der Wirklichkeit nie in ihrer Reinheit und Erhabenheit erstrahlten. Aber es geht doch aus den angeführten Beispielen unwiderleglich hervor, dass das Judentum das Ideal der unterschiedslosen Menschenliebe in sich trägt, und wenn irgendwo, so gilt hier das Wort  : „In großen Dingen ist es genug, gewollt und begonnen zu haben.“ Bibel und Talmud wollen, wie es jedes zweckmäßige Erziehungsbuch tut, das israelitische Volk von Stufe zu Stufe, von den einfachsten Begriffen bis zur tiefsten Erfassung des Gottesgedankens, des Tugendbegriffs und der Humanitätsidee leiten. Daher finden sich auch hie und da neben den erhabensten, lautersten Lehren noch manche Überreste engherziger Anschauungen und Anordnungen, die als Ausnahmen und Konzessionen an schwächere Begriffe, frühere Gewohnheiten und Sitten, keineswegs aber als leitende Grundsätze zu betrachten sind. Wir erinnern hier an das herrliche Gleichnis vom Schulkind, welches der Religionsphilosoph Bachia377 anführt. „Gott benahm sich gegen das israelitische Volk“, sagt er, „wie ein mitleidiger Vater sich gegen seinen jungen Sohn benimmt, wenn er ihn mit Sanftmut und Gelassenheit belehren will, wie es heißt  :378 Ein Knabe ist Israel, und ich liebe ihn. Gesetzt, ein Vater wollte sein Söhnchen in den Wissenschaften unterrichten, die ihn auf höhere Stufen bringen sollen, und er suchte ihn dazu zu überreden, indem er zu ihm spräche  : Ertrage geduldig die Beschwerlichkeiten des Unterrichts, damit du einst zu jenen hohen Stufen gelangst, so würde er weder hierzu Geduld haben, noch ihm überhaupt Gehör geben, weil er dies nicht recht begreifen würde. Sagte er ihm aber sogleich etwas Angenehmes zu, eine Speise oder einen Trank, ein schönes Kleid, einen hübschen Wagen oder ähnliche Dinge, drohte ihm zugleich mit etwas Schmerzhaf375 376 377 378

bScheb 35d Midrasch Rabba 131,2 Das auch Maimonides zitiert  : Herzenspflichten 4, 4 Hos 11,1

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V. Fremden- und Feindesliebe

tem, als mit Hunger, Schlägen, und suchte ihm durch handgreifliche Beweise wegen des Versprochenen eine vollkommene Überzeugung zu verschaffen, so würde es dem Knaben leicht werden, die Mühe des Lernens zu dulden und die Aufgaben und Arbeiten zu vollführen. Erreicht er alsdann das Jünglingsalter, und sein Verstand erlangt die nötige Reife, so sieht er alsbald von selbst ein, was mit seiner Belehrung bezweckt worden. Er richtet sein Streben jetzt ohne fremden Sporn auf den Unterricht und achtet jene Annehmlichkeiten gering, zu welchen er als Kind hingeeilt und die bloß aus Mitleid ihm vom Vater gewährt worden waren. Ebenso verfuhr der himmlische Vater, wenn er gewisse Gebote und Lehren, durch sofortige Belohnungen und Bestrafungen, Hoffnung oder Furcht seinem Volke einzuschärfen suchte, weil ihm wohl bekannt war, dass, wenn das Volk in seinem Dienste Festigkeit erlangt haben wird, dann seine Unwissenheit schwinden, es die Absicht rein und lauter erfassen und sich demgemäß betragen werde. Dasselbe ist in Hinsicht der in den heiligen Büchern vorkommenden, auf Körperlichkeit des Schöpfers und auf andere mangelhafte Anschauungen hindeutenden Ausdrücke der Fall.“ […]

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18. Joseph Levin Saalschütz, Feindesliebe (1838)379

|85| Unter den Irrtümern, die man öfter über die Lehrsätze der israelitischen Religion aussprechen hört, findet sich auch der, dass es dieser Religion an dem Gebote der Feindesliebe fehle. Umso erfreulicher ist es für den Israeliten, die schönen und über jede menschliche Engherzigkeit erhabenen Grundsätze zu überschauen, die das göttliche Gesetz ihm bietet und in deren Anerkennung und Ausführung große Männer seines Volkes ihm als Muster vorangingen. Das höchste Ideal sittlicher Vollkommenheit, welchem nachzustreben die Offenbarungslehre von den Israeliten fordert, findet sich in Gott selbst  : „Seid heilig, denn heilig bin ich.“380 Und so, wie wir allen sittlichen Pflichten im Beruf gegenüber gestellt werden, „die Wege Gottes zu wandeln“381 und uns zu seinem Ebenbilde zu verklären, so ist es auch die Nachahmung der Liebe Gottes, die von uns ganz besonders gefordert wird. Diese Liebe ist aber ohne jedwede Schranke, kein Teil der weiten Schöpfung entbehrt ihrer Segnungen  : „Gütig ist der Ewige gegen alle und sein Erbarmen waltet über alle seine Werke.“382 Sie schließt auch die unvernünftigen Geschöpfe von ihrer Sorgfalt nicht aus – „Alle harren sie auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit, du gibst ihnen, sie lesen’s auf, du öffnest deine Hand, sie werden des Guten satt“383 – und verspricht Segen dem Manne, der auch gegen das Tier er- |86| barmungsvoll ist.384 Sie macht keinen Unterschied unter den Menschen, aus welchem Stamm und Volk sie auch seien. Sie nachahmend, sollen auch wir hierin keinen Unterschied machen, gegen jedermann gerecht sein und den Fremden wie den Stammesgenossen lieben  : „Er schafft Recht dem Waisen und der Witwe und liebt den Fremdling und gibt ihm Brot und Kleidung. So liebt auch den Fremdling, denn Fremdlinge wart ihr im Lande Ägypten“,385 handelt so, wie ihr wünscht, dass euch geschehen wäre  : „Wenn ein Fremdling bei dir im Lande wohnen wird, so drückt ihn nicht. Gleich dem Einheimischen soll euch der Fremdling sein und sollst ihn lieben wie dich selbst.“386 Die hebräisch-biblischen Schriften lehren also keinen National-Gott, der sich mit seiner Liebe ausschließlich auf einen kleinen Teil des Menschengeschlechts beschränke, wie

379 [Joseph Levin Saalschütz, Die Feindesliebe nach Israelitischer Lehre. In  : Joseph Levin Saalschütz, Die geistige Ausbildung der israelitischen Jugend, im Lichte der Religion  : Reden und Einsegungs-Epiloge, nebst Vorbemerkungen und Beilagen, zur Geschichte und Organisation der Religions-Schule. Königsberg  : Unzer 1838, 85–93] 380 Lev 19,2 381 Dtn 30,16 382 Ps 145,9 383 Ps 104,27 384 Dtn 22,7 385 Dtn 10,18 386 Lev 19,33.34

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V. Fremden- und Feindesliebe

einige Archäologen geträumt haben. Auch Heiden wie z. B. Kyros,387 Naeman388 und (der Feind der Israeliten) Nebucadnezar389 werden Gesalbte, Diener Gottes genannt und genießen seines Beistandes. Vor ihm gibt nur das höhere Verdienst einen höhern Wert, und alle Menschen sind, als solche, berufen, sich der höchsten Gaben der göttlichen Liebe, hier und jenseits, würdig zu machen, sie alle sind Kinder Gottes. Auch im Talmud finden sich hierüber mehrere edle und freisinnige Äußerungen  : „Ein Heide, der Aufmerksamkeit wendet auf das Gesetz, ist gleichwie der Hohepriester, denn so heißt es  : Beobachtet meine Vorschriften, welche der Mensch üben soll, auf dass er durch sie lebe.“390 „Hier ist nicht gesagt worden  : welche die Priester, die Leviten, die Israeliten üben sollen, sondern der Mensch.“391 Und  : „die Frommen aller Völker haben Anteil am seligen Leben.“392 Da sich wahre Liebe des Mitmenschen nur auf Achtung desselben gründen kann, so sind Aussprüche dieser Art sehr wichtig, weil sie, frei von jedem Partikularismus, den Menschen als solchen in seine Rechte einsetzen. Diese Uneingeschränktheit der göttlichen Liebe zeigt sich endlich nach hebräischen Begriffen darin, dass auch die Sünder von derselben nicht ausgeschlossen sind. „Gnädig und erbarmungsvoll ist der Ewige, langmütig |87| und von großer Güte.“393 Er gab ihnen die Schrift und das Gewissen, um von ihnen geleitet zur Besserung zu gelangen. „Gütig und gerecht ist der Ewige, darum zeigt er den Sündern den rechten Weg“,394 denn er hasst nur die Sünde, aber erbarmt sich gern des Sünders  : „Verlange ich denn den Tod des Bösen, spricht Gott der Herr, und nicht, dass er von seinem Wandel umkehre und lebe  ?“395 Und die für jeden offene Hand Gottes in der Natur, die ihre reichen und schönen Gaben nicht weigert, wenn ein Sünder kommt, ist sie uns nicht das erhabenste Sinnbild einer auch gegen den Widersacher nicht beengten Liebe  ? Dies haben auch die Lehrer des Talmuds empfunden und auf eine ergreifende Weise ausgesprochen  : „Ein Tag, der Regen bringt, ist erhabener als die Auferstehung der Toten, denn diese ist nur dem Gerechten zum Heil, jener aber dem Bösen wie dem Gerechten.“396 Und dass die verzeihende Liebe Gottes ebenfalls nicht fragt, von welcher Abkunft der Sünder sei, auch hierüber belehren die heiligen Schriften uns ausdrücklich. Er erhört auch das Gebet des Heiden  : „Und auch den Fremden, der nicht von Deinem Volke Israel ist, du wirst ihn erhören und erfüllen alles, was der Fremde von dir erfleht“,397 er erhörte die heidnische Stadt Ninive und verzieh ihren Sünden, nachdem er sie selbst durch seinen Propheten zur Reue aufgefordert. „Gott erbarmt sich der Reuigen, von welchem Volk sie 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397

Jes 45,1 2 Kön 5,1 Jer 27,5 Lev 18,5 bSan 59,1 bSan 96,2 Ps 145,8 Ps 25,8 Ez 18,23 bTaan 7,1 1 Kön 8,41

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18. Joseph Levin Saalschütz, Feindesliebe (1838)

auch seien“,398 bemerkt Kimchi zu Jonas. – Diese erhabenste Seite der göttlichen Liebe ist es nun besonders, deren Nachahmung von dem Israeliten gefordert wird. Auch er soll seinem Widersacher und Feinde vergeben, ihn lieben und ihm wohl tun. Denn wenn es im dritten Buche Mose heißt  : Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst, so muss man sich erinnern, dass an jener Stelle eben von Feinden und Beleidigern und von einem offenen und edeln Betragen ihren Beleidigungen gegenüber die Rede sei und dass also jenes Gebot eben unsere Gesinnung gegen Feinde regeln soll  : „Hasse deinen Bruder nicht im Herzen. Zur Rede stellen magst du deinen Nächsten, aber trage ihm seinen Fehl nicht nach. Räche dich |88| nicht und bewahre keinen Zorn, liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“399 Die letzteren Worte in Verbindung mit den früheren wollen also offenbar nichts anderes sagen, als  : erhebe dich zu einer so innigen Liebe gegen deinen Mitmenschen, dass selbst Beleidigungen nicht im Stande seien, diese Grundstimmung deines Gemütes zu trüben. Trenne ihn von seinem Vergehen, tadle das letztere als einen Flecken, der ihm anhaftet, und liebe ihn selbst fort als deinen Bruder. Der Gesetzgeber geht also von der Idee aus, dass die vollkommene Nächstenliebe schon an und für sich die Feindesliebe mit einschließe, und Hillel hat Recht, in dem bekannten Gespräche mit dem Heiden dieses Gebot so zu paraphrasieren  : „was dir unangenehm ist“ (wohin demnach auch Nachtragen des Hasses, Rache u. dergl. gehört), „tue deinem Nächsten nicht,“400 um dann hinzuzufügen  : „hierin liegt das ganze Gesetz, alles übrige ist nur die weitere Entwicklung hiervon.“401 Einen guten Kommentar zu obiger Stelle, in dem angedeuteten Sinne, gibt der Verfasser der Sprüche  : „Hass erreget Streit, doch Liebe deckt alle Vergehen.“402 Dass wir den, der uns Böses getan, wirklich dennoch in die allgemeine Bruderliebe mit einschließen, sollen wir durch ihm zu beweisende Gefälligkeit und Hilfe in der Not zeigen  : „Triffst du das Rind deines Feindes, welches sich verirrt hat, so bringe es ihm wieder zurück. Siehst du das Lasttier deines Hassers unter der Bürde niedergestürzt, so hüte dich, es ihm allein zu überlassen, nur mit ihm zugleich kannst du davon gehen.“403 Die hier von Moses angegebenen Fälle mochten sich bei der damaligen Beschäftigungsweise der Israeliten, in einem Lande mit vielen Wäldern und unbequemen Gebirgspässen, häufig zutragen. Sie stehen natürlich nur als Beispiele für alle Fälle ähnlicher Art und sind übrigens sehr bedeutsam gewählt. Denn in dem ersten Beispiele übte der Israelit das Werk der Feindesliebe an einem abgelegenen Orte, wo das Unterlassen derselben unbemerkt blieb und er sich also dabei weder dem Tadel seiner Mitbürger noch einem größeren Hass dieses Feindes ausgesetzt hätte. Und gewiss ist das hier angegebene Ge- |89| schäft ein mühevolles und zeitraubendes. Im zweiten Beispiel kommt zum Opfer an Mühe und Zeit noch eine besondere Art von Selbstüberwindung, indem man hier mit dem Widersacher in einen nahen persönlichen 398 399 400 401 402 403

Kimchi zu Jonas Kap. 1 Lev 19,17f bShab 31a s. Raschi zu bShab 31a Spr 10,12 Ex 23,5

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V. Fremden- und Feindesliebe

Verkehr tritt und demselben vielleicht selbst zu der Meinung Anlass geben könnte, man wolle ihm schmeicheln. Alles dieses sollte den Edeln in seiner Pflicht nicht irre machen. „Sprich nicht  : Wie er mir getan, so will ich ihm tun, zurückgeben will ich jedermann nach seinem Betragen. Hungert deinen Feind, so gib ihm Brot, dürstet er, so reiche ihm einen Trunk. Denn du häufst glühende Kohlen auf sein Haupt (d. h. machst ihn schamrot) und der Ewige wird dir’s vergelten.“404 Worin diese Vergeltung mitunter bestehen könnte, wird in dem Vers selbst angedeutet  : Du machst, dass der Feind sich seines bisherigen Betragens gegen dich schämt, besiegst ihn also durch Edelmut und machst ihn dir zum Freunde. „Ein Held ist,“ sagten die Alten, „der seinen Feind sich zum Freunde macht,“405 und Sirach406 sagt, wir sollen an den Tod und unsere Sünden denken und andern vergeben, wie wir wünschen, dass uns vergeben werde  : „Vergib dem Nächsten sein Unrecht, dann werden, wenn du bittest, auch dir deine Sünden erlassen. Der Mensch, er hält gegen den Menschen Zorn, und von dem Herrn fordert er Vergebung, er, der selbst Fleisch ist, beharret im Zorn, und wer soll nun seine Sünden verzeihen  ? So gedenke an das Ende und lass ab von Feindschaft  !“407 |90| „Zur Rede stellen magst du deinen Nächsten“, sagt die mosaische Lehre in der oben angeführten Stelle. Auch dies finden wir bei Sirach weiter ausgeführt. „Wie viel schöner ist es, den Vorwurf auszusprechen, als heimlich zu zürnen  !“408 Denn diese Art, sich still mit einer Beleidigung herumzutragen, führt zunächst zu wirklichem Hass. Der empfundene Verdruss gräbt sich immer tiefer ins Herz, wenn man sich dessen nicht durch ein freies Wort entledigt. Auch ist das letztere, wie ebenfalls Sirach andeutet, der beste Weg, was bloßes Missverständnis war, bei Zeiten zu beseitigen, dergleichen schon oft, weil man schwieg, wo man hätte reden sollen, zur Feindschaft geführt hat. „Stelle den Freund zur Rede, vielleicht tat er’s nicht, und tat er’s etwa, dass er nicht fortfahre. Stelle den Nächsten zur Rede, vielleicht sagte er’s nicht, und wenn er’s sagte, dass er’s nicht wiederhole. Stelle ihn zur Rede, denn oft ist es leere Verleumdung, und nicht jedem Worte traue dein Herz. Mancher fehlt mit Worten, aber nicht mit dem Herzen, und gibt es einen, der nie fehlte mit seiner Zunge  ? Darum stelle den Nächsten zur Rede, und drohe nicht gleich, und gib, indem du den Zorn abtust, dem Gebot des Höchsten Raum.“409 Bei einem offenen, aufrichtigen Wesen, welches allein, wenn es auch zuweilen Schaden bringt, eines edeln Herzens würdig ist, kann kein tückisches Nachtragen, kein innerer, 404 Spr 24,29 405 ARN 23 406 Die apokryphischen Bücher, namentlich das Buch der Weisheit Salomonis und Sirach, deren Verfasser weise und fromme Israeliten waren, sind für die Israelitische Sittenlehre bisher noch zu wenig benutzt worden. Sind diese Bücher auch von den eigentlich biblischen unterschieden worden, so sind ihre Lehren doch denen der Schrift analog und aus denselben hergeflossen, und die Rückweisung auf sie kann also vollkommen dazu dienen, irgend welche sittliche Ansichten als in der Tat Israelitische zu bewähren. Dasselbe lässt sich auch von den vielen Kernsprüchen sagen, die sich unter den sogenannten Sprüchen der Väter und in den übrigen Abschnitten des Talmuds finden. 407 Sir 28,1 408 Sir 20,2 409 Sir 19,13

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18. Joseph Levin Saalschütz, Feindesliebe (1838)

tiefer Hass Wurzel schlagen. Daher wird auf Wahrheit und Aufrichtigkeit in der Schrift so viel Wert gelegt, und wunderbar schön spricht Salomo  : Wie im Wasser Angesicht gegen Angesicht, so sei des Menschen Herz gegen den Menschen,410 so wahr, so ungetrübt wie das Bild im hellen Spiegel des Wassers. „Sprecht Wahrheit einer zum andern, Wahrheit und Recht des Friedens richtet in euren Toren und Böses gedenkt einer dem andern nicht in euerm Herzen“,411 sagt der Prophet. So wie einerseits Offenheit, so ist andererseits wahre Demut die sicherste Bürgschaft der Feindesliebe, denn der Demutsvolle vertraut auf Gott und erträgt die Anfeindungen des Geschicks und der Menschen sanft und ohne Bitterkeit. Da- |91| her legt an vielen Stellen die Schrift auf Demut und Bescheidenheit einen so großen Wert. Recht, Liebe und Demut nennt der Prophet als die Basis aller Tugend und Gottesfurcht  : „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der Ewige von dir fordert  : nichts als Recht zu tun, Milde zu lieben und demütig zu wandeln mit deinem Gott.“412 Daher finden wir auch die Demut in so hohem Grade bei Männern, die in edlem Betragen bei erlittenen Beleidigungen uns als Muster vorangingen. Von Moses selbst, dessen Mund das göttliche Gesetz der Feindesliebe verkündigte, bezeugt die Schrift, bei Gelegenheit einer Beleidigung, die ihm von Mirjam und Aaron widerfährt, dass keiner auf Erden ihm an Demut glich.413 Joseph, der eine so edle Bescheidenheit entfaltet, da er vor Pharao steht, ertrug die Schmach eines mehrjährigen Kerkers, ohne seine rachsüchtige Angeberin zu verraten.414 Und wie betrug er sich später gegen seine Brüder, nachdem er ihre Gesinnungen erforscht hatte  ! Es ist nicht nur, dass er ihnen in der Tat verzieh, sie beschenkte und ihnen wohl tat, was wir hier hervorheben möchten, sondern dies reine, von nichts als Liebe durchdrungene Gemüt, das sich, als er sich ihnen zu erkennen gibt und er sie nach dem Tode des Vaters tröstet, in seinen Worten und in seinen Tränen auf eine so rührende Weise kund tut.415 Der tapfere, hochherzige David, von Saul unschuldig verfolgt, der ihn, koste es was es wolle, vernichten will, sah fast nur im Tod seines Feindes Rettung für das eigene Leben.416 Dieser Tod verschaffte ihm zugleich eine Krone. Und doch, da er ihn wiederholt in seine Gewalt bekam, schonte und schützte er ihn, und kein unehrerbietiges Wort vernahm der beschämte König.417 Ja, der junge Held wagte sein Leben, indem er sich in das Lager Sauls schlich, nur um diesen zu überzeugen, dass er nichts Böses gegen ihn im Sinn hätte. Und dies machte auch einen so tiefen Eindruck auf seinen erbitterten Feind, dass dessen letztes Wort an David ein Segen war.418 Wir bewundern Alexanders und Cäsars Tränen bei der 410 411 412 413 414 415 416 417 418

Spr 27,19 Sach 8,16–17 Mi 6,8 Num 12,3 Gen 39–41 Gen 45,2–15  ; Gen 50,15–20 1 Sam 24,9ff 1 Sam 26,7ff 1 Sam 26,25

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V. Fremden- und Feindesliebe

Leiche des Fein- |92| des. Aber wie wenig konnten sie Darius und Pompejus ihren Feind nennen, in dem Sinn, wie David den Saul. Und doch weinte auch David bei der Nachricht von Sauls Tode, und das schöne Trauerlied, das noch auf uns kam, verewigt seinen edlen Sinn und seinen Schmerz.419 – Steht nun hier David als ein Vorbild wahrer Feindesliebe da, so zeigt sich bei einer andern Gelegenheit seine tiefe Demut. Da er vor Absalom fliehen muss, steht Simei am Wege und wirft mit Steinen nach dem König und ergießt sich in Schmähreden. David aber erlaubt nicht, dass ihm ein Leid zugefügt werde. „Gott,“ sagt er zu seinen erbitterten Begleitern, „gibt ihm ein, den David zu schmähen, wer soll nun sagen  : warum tust du also  ?“420 Spricht also dieser königliche Sänger in einem seiner Psalmen  : „Ewiger, mein Gott, tat ich solches, ist Unrecht an meinen Händen, vergalt ich meinen Feinden Böses, oder drückte ich, die ohne Grund mir Hasser waren, so verfolge der Feind meine Seele und erreiche und trete zur Erde mein Leben und meine Ehre streck’ er in den Staub“, so sieht man, dass dies keine leeren Worte sind, und wie der wahre Israelit dachte und handelte.421 In einer solchen Sinnesart findet der demutsvolle Hiob, der bei allem bitteren Verlust noch immer Gott preist, der „es gegeben und wieder genommen“,422 den Trost für seine tiefen Leiden. „Ich freute mich“, ruft er sich im Schmerz zu, „über meines Feindes Unglück nicht und frohlockte nicht, wenn ihn ein Übel traf. Ich ließ meinen Mund nicht sündigen, dass er seiner Seele ein Leid anwünschte.“423 Und der Prophet spricht  : „Wohl dem Mann, wenn er Druck erträgt in seiner Jugend, wenn er einsam sitzt und schweigt und es über sich nimmt. Er drücke seinen Mund in den Staub (schweige zur Demütigung), vielleicht gibt’s noch Hoffnung. Er reiche seine Wange dem Schläger hin und sättige sich an Schmach.“424 Auch der Talmud stellt uns in demselben Hillel, der die Liebe für das erste der Gebote hält, ein Bild der Demut und Milde auf, die sich durch nichts schwankend machen lässt,425 und lehrt auch sonst unter anderm  : „Die, welche Schmach dulden und |93| nicht schmähen, die ihren Schimpf anhören und nicht erwidern, die Menschen lieben und sich der Prüfung freuen, von ihnen heißt es  : Die ihn lieben, sind wie die Sonne, welche aufgeht in ihrer Pracht,“ denn die Sonne geht den Bösen wie den Guten auf.426 Dies sind die Lehren, dies die Beispiele, die von Milde, Wohltätigkeit und Liebe gegen Feinde und den damit zusammenhängenden Pflichten dem Israeliten gegeben sind. Kann man wohl sagen, dass ihm die Feindesliebe eine fremde Tugend sei  ?

419 420 421 422 423 424 425 426

2 Sam 1,12.17ff 2 Sam 6,10 Ps 7,4–6 Ijob 1,21 Ijob 31,30 Thr 3,27. bShab 31a bShab 88b  ; Ri 5,31

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19. Hermann Cohen, Feindesliebe (1900)427

|99| Der Feind, den ich lieben soll, ist notwendigerweise der subjektive Feind, der mich hasst. Jedermann ist mein Nächster, den ich lieben soll. Und er kann nicht dadurch aufhören, mein Nächster zu sein, dass er seinerseits das Gebot der Nächstenliebe an mir verletzt. Ich darf niemanden hassen, niemanden zu meinem Feinde machen. Das Gebot der Fein­ desliebe erhebt sich sonach nicht aus dem idealen Boden der reinen, prinzipiellen Sittenlehre, sondern es gehört dem Boden der psychologischen Erfahrung und der geschichtlichen Wirklichkeit an. In der reinen Sittenlehre kann es nur den positiven, prinzipiellen Ausdruck der Nächstenliebe geben. Erwägen wir, welche Forderung die Feindesliebe, als eine Norm der angewandten Sittenlehre, in sich enthalten kann. 1) Die Liebe zu dem, der mich hasst, kann bedeuten, dass ich keinem Übelwollen gegen ihn Raum geben darf. Wenn es ihm nach irdischem Ermessen wohlergeht, so darf ich nicht Neid dagegen in mir aufkommen lassen. Und wenn ihn Unglück trifft, so darf das mir nicht Freude machen. Ich darf mein Selbstbewusstsein und auch mein Selbstgefühl nicht regulieren, nicht behaupten und nicht steigern wollen, ohne den Nächsten in mein Selbst einzuschließen – oder min­destens ohne mich selbst auf den Nächsten ständig zu beziehen. Die Freude, als der Ausdruck meines Lebens- und meines Selbstgefühls, darf nicht mich isoliert betreffen, sondern sie muss stets und in jeder Hinsicht der Ausdruck meines sittlichen Selbstbewusstseins sein, also des erweiterten Selbstgefühls, des Bewusstseins der menschlichen Gemeinschaft. Das ist der Weg, auf dem der Sporn der Lust abgestumpft, und die Freude, die ruhige, feste Heiterkeit zu einem ungefährlichen und untrüglichen Merkmal eines sittlichen Daseins und Lebensgefühls gemacht wird. Das Prinzip der Nächstenliebe gewinnt so die erweiterte Bedeutung, das Prinzip der Lust, das Prinzip des Eudämonismus zunichte zu machen. Es ist keine wahre Lust, keine Freudigkeit, die dem Bewusstsein |100| Kraft und Schwung verleihen könnte, wenn sie nur das vor­übergehende täuschende Wohlbehagen des sinnlichen Wechsels zum flüchtigen Ausdruck bringt. Die reine Freude erhöht, erweitert und befestigt das Individuum in der beständigen Korrelation mit dem Nächsten. Die griechische Sprache hat daher ein Wort für gehässig und neidisch (ἐπίφθονος). Und die positive Form des Neids ist die Schadenfreude. Unter den möglichen Anklagen, die Hiob gegen sich aus­denkt, fehlt nicht und nicht im packenden Zusammenhang die schwere Frage  : „Hätte ich mich gefreut über das Verderben meines Hassers und frohlockt, wenn ihn Unglück traf. Doch nicht gestattete ich meinem Gaumen zu sündigen, zu fordern durch Fluch sein Leben.“428 Hier heißt der Feind richtig und genau, der mich hasst, und das Wort für frohlocken, jauchzen, macht 427 [Hermann Cohen, Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch. Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1900, 75–132, hier  : 99–108] 428 Ijob 31,29f

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V. Fremden- und Feindesliebe

den Gegensatz schroff gegen den Kleinmut und den niedrigen Sinn, dem allein Schadenfreude entsteigen kann. Schlichter spricht der Spruchdichter den Ge­danken aus  : „Wenn dein Feind fällt, so freue dich nicht, und wenn er strauchelt, frohlocke nicht dein Herz.“429 Das Fallen, der Unfall ist das natürlichste, sinnlichste Zeichen für das menschliche Unglück. Das Straucheln, das Schwachwerden und Wanken deutet aber schon auf die sittliche Schwäche und Hinfälligkeit hin. Über beide Formen des Unglücks, das den Feind trifft, wird die Freude, die Schadenfreude untersagt. Der sittliche Begriff der Freude wird durch Neid und Schadenfreude aufgehoben. Der Affekt der Freude, die Tugend der Freude wird vernichtet durch die Lust am Unglück dessen, auf dem die Sünde lastet, mich zu hassen. Das Verbot des Neides und der Schadenfreude, die beide der negative und der positive Ausdruck desselben Ungefühls sind, ist die erste Bedeutung der Feindesliebe. 2) Die Liebe zu dem, der mich hasst, kann die Feindesliebe bedeuten, dass ich gegen den­jenigen, der mich hasst, kein Rachegefühl in mir aufkommen lasse. Die erste Reihe der großen moralischen Gedanken, die durch das Heilig sollt Ihr sein eingeleitet werden, enthält bei ihrem Abschluss durch das Gebot der Nächstenliebe im Vorderglied desselben Verses das Verbot  : Räche dich nicht und trage nicht nach.430 Der Talmud er­klärt den Unterschied beider Ausdrücke. Rache bedeutet  : Du |101| hast mir die Axt nicht geliehen, ich leihe sie dir nicht. Grollen, Nachtragen, eigentlich den Zorn aufbewahren, bedeutet  : Du hast mir die Axt nicht geliehen, ich aber leihe sie dir. Gegen beide Arten des Verfahrens richtet sich das doppelte Verbot, welches schlecht und recht der Nächstenliebe entspricht und keine Ausnahme von ihr zulässt. Wenn mein Nächster an mir zum Hasser wird, so darf ich nicht glauben, zur Rache berechtigt zu sein. Der Nächste fordert meine Hilfe und ich muss bereit sein, sie zu leisten. Einen Vorwand zur Berechtigung oder mindestens zur Entschuldigung des Rachegefühls bildet der Gedanke der Vergeltung, der als Prinzip des gesamten Rechts gilt. Und so kann das Rachegefühl, wie auch bei neueren Mora­listen, weil als ein Rechtsprinzip, so auch als ein sittliches Fundament erscheinen. Diese Verwechslung von Sittlichkeit und Recht ist sehr verhängnisvoll. Das Recht ist selbst erst auf die Sittlichkeit angewiesen, aus der sie ihre Grundsätze abzuleiten hat. Nicht darf umgekehrt die Sittlichkeit ihre Grundsätze vom Recht entlehnen. Die Sittlichkeit erkennt die Vergeltung nicht an und wehrt sie ab. „Sage nicht, ich will das Böse vergelten. Hoffe auf den Herrn, er wird dir helfen.“431 Dem Unrecht gegenüber, das in der Welt herrscht, halte die Hoffnung fest auf das Heil, welches im messianischen Zeitalter geweissagt ist, und auf den Fort­schritt der sittlichen Kultur, der durch die messianische Idee verbürgt ist. Die Vergeltung mag für das positive Recht gelten, welches unabhängig von deinem Selbstgefühl entscheidet. Deine eigene Sittlichkeit muss durch die messianische Zuversicht geleitet werden. Und diese Zuversicht beruht auf dem Begriff des Menschen als des Nächsten. „Sage nicht  : wie er mir getan, so will ich ihm tun, ich will dem Mann vergelten nach seinem

429 Spr 24,17 430 Lev 19,18 431 Spr 20,22

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19. Hermann Cohen, Feindesliebe (1900)

Tun.“432 Nicht das Verfahren deines Nächsten gegen dich darf die Norm deines Handelns gegen ihn sein. Darauf folgt in den Sprüchen die Fabel von dem Faulen. Das ist in der Tat die Maxime der Trägheit in der Weltgeschichte. Bei einer solchen Politik der Ver­geltung gäbe es keinen Fortschritt und keine Besserung. Nicht nach seinem Verdienste ist ein jeder zu behandeln, sondern nach der eigenen Würde, sagt Hamlet. Die Vergeltung macht |102| das fremde Verhalten zum Vorbild für das eigene Tun. Dabei geht die eigene Würde verloren, geschweige, dass die Würde des Nächsten gewahrt bliebe. Das ist der höhere Gesichtspunkt, der mit dem Verbot der Vergeltungsrache verknüpft erscheint. 3) Deiner eigenen Würde wegen muss daher die Feindesliebe fordern  : die Bereitwilligkeit zu positiver Hilfe­leistung. Sie wird an einem Beispiel eingeschärft. Das Vieh veranschaulicht den Besitz. „So du den Ochsen deines Feindes oder seinen Esel irrend triffst, so sollst du ihm den­selben zurückführen. So du den Esel deines Hassers siehst liegen unter seiner Last, so sollst du davon abstehen, ihn im Stiche zu lassen, sondern sollst ihm helfen, ihn frei zu machen.“433 Beide Beispiele sind bezeichnend und belehrend. Wenn der Ochse oder der Esel sich verirren, so wird die Aufmerksamkeit darauf vorgeschrieben. Es ist eine Schärfung der Achtsamkeit auf die Verhütung des Schadens. Und wenn der Esel unter seiner Last erliegt, so genügt es nicht, ihm aufzuhelfen und die Last ihm abzunehmen. Sondern denjenigen Teil derselben, der ihm zu schwer geworden, musst du deinem eigenen Tier aufladen, um den Feind vor Schaden zu schützen. Vornehmlich ist das Beispiel deshalb belehrend, weil am Vieh die Rache ein Lebewesen treffen würde. Und der Hinweis auf das Vieh gemahnt somit an den lebendigen Menschen. „Wenn es deinen Hasser hungert, so speise ihn mit Brot, und wenn ihn dürstet, so tränke ihn mit Wasser. Denn glühende Kohlen sammelst du auf sein Haupt, und der Herr wird dir vergelten.“434 Die glühenden Kohlen, die hier neben das Wasser gestellt werden, sind die Strafe, die der Feind aus deinem Wasser trinkt. Du sollst das Brot und das Wasser reichen dem Hungrigen. Dieses Beispiel vom Hunger erinnert an das gewaltige Wort des Propheten  : Fürwahr dem Hungrigen dein Brot brechen, das sei die Bedeutung des Fastens. „Und deinem Fleische sollst du dich nicht entziehen.“435 Dein Fleisch wird der Nächste hier genannt. Fleisch und Blut ist der durchgängige Ausdruck für den sterblichen Menschen und für die Gemeinschaft der Menschen in der Sprache unserer Ge­bete. Aber die feurigen Kohlen dürfen nicht ausschließlich |103| den Schmerz des Brennens erregen, sie müssen zugleich Wärme bringen und Licht entzünden. 4) Die Feindesliebe bedeutet die Schonung seiner Menschenwürde. Indem ich demjenigen Beistand leiste, der mich hasst, darf ich ihn nicht erniedrigen, und meine höhere moralische Stufe ihn fühlen lassen, indem ich ihm sage  : Du hast die Nächstenliebe verletzt, ich aber halte sie heilig. Das wäre eine schlechte Hilfe, die mit dem materiellen Beistand die seelische Erniedrigung verbindet. Diese Verbindung wäre ebenso falsch und wirkungslos 432 433 434 435

Spr 24,29 Ex 23,4.5 Spr 25,21 Jes 58,7

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V. Fremden- und Feindesliebe

wie entwürdigend und zwar zugleich für den, der sie ausübt. Es ist bei weitem nicht genug, den Groll des Schmerzes über das erlittene Unrecht und das Rachegefühl unter dem Vorwand der Vergeltung abzuschütteln. Und auch die Kraft, zu positiver Hilfsleistung sich aufzuraffen und die Verhütung des Schadens energisch zu betreiben erschöpft nicht den Sinn der Feindes­liebe. Der Begriff des Nächsten fordert die Achtung und die Schonung der Ehre und der Würde des Nächsten auch im Feinde und auch bei dem Beistand, den ich ihm leiste. Dieser Sinn der Feindesliebe wird besonders wichtig bei der ferneren Bedeutung derselben. 5) Die Feindesliebe bedeutet die Pflicht der Er­mahnung und der Zurechtweisung. Es genügt nicht, dass ich keine neidische Lust am Unglück des Feindes empfinde, noch auch, dass ich nicht den eiteln Vorwand mir vorspiegele, als ob sein Hass mir ein Recht zur Rache gäbe und in mir das Recht beleidigt sei, so dass nicht ich, sondern das Recht in mir Vergeltung übte. Noch auch, dass ich mich allezeit bereit zeige, seinen Schaden zu ver­ hüten und seinen Nutzen zu fördern, und dabei mich vorsich­tig gegen seine Ehre betrage und sie nicht zu verletzen suche. Ich muss positiv noch für seine Ehre, für die Förde­rung seiner sittlichen Wohlfahrt sorgen. Nach meiner be­scheidenen Kraft soll ich für seine sittliche Besserung Sorge tragen. Der Vers, der dem das Verbot der Rache und das Gebot der Nächstenliebe enthaltenden Verse unmittelbar vor­aufgeht, lautet  : „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in |104| deinem Herzen. Zurechtweisen sollst du deinen Nächsten, auf dass du nicht seinethalben Schuld tragest.“436 Wie das Gebot der Nächstenliebe sich anschließt an das Verbot der Rache und des Nachtragens, so wird die Pflicht der Ermahnung an das Verbot des Hasses angeknüpft. In der Tat  : Alle Wohltat, die dem Feinde erwiesen wird, würde ihm zum Gift, wenn die Zurechtweisung nicht zugleich die Heilung brächte. In ihr liegt die eigentliche Schwie­ rigkeit in dem Begriff der Feindesliebe. In ihr liegt die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und des geistlichen Hochmuts. Oft genug haben sich besonders die theologischen Moralisten an diesem zarten Punkte vergriffen. Hier kann die wahre Demut ihre Probe bestehen. Im Talmud hat eine Dame das lösende Wort gesprochen. Als Rabbi Meïr einmal von sittlicher Entrüstung über Böses, das Menschen ausgeübt, sich fortreißen ließ, da belehrte ihn Beruria, seine Frau, es „stehe nicht geschrieben  : Es mögen die Sünder ver­gehen  ; sondern die Sünden“. Diese Exegese muss die Losung sein auf diesem schlüpf­rigsten Gebiet der Feindesliebe. Denn psychologisch, wie ethisch, ist Zurechtweisung die schwerste ethische Aufgabe. Nur wer selbst im Vollbesitz der Tugend zu sein sich dünkt, kann unbefangen den andern strafen. Wer sich da­gegen von dem natürlichen und notwendigen Bewusstsein seiner eigenen Gebrechlichkeit leiten lässt, woher soll der den Mut nehmen, seinem Nächsten den Text zu lesen  ? Man meint zunächst, die Pflicht der Ermahnung setze unter den sozialen Schwierigkeiten und politischen Gefahren ein nicht unbeträchtliches Maß von Tapferkeit voraus. Das mag freilich auch richtig sein. Aber schwieriger noch ist die For­derung der Demut, welche unumgänglich und unersetzlich bei diesem Geschäft der Menschenbesserung und Bekehrung ist. 436 Lev 19,17

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19. Hermann Cohen, Feindesliebe (1900)

Die Liebe bei der Zurechtweisung muss jede Spur be­absichtigter Beschämung ausschließen. „Darfst du ihn etwa so zurechtweisen, dass sein Angesicht sich verändert  ? Es steht geschrieben  : Dass du nicht seinethalben Schuld tragest. Wer seinen Nächsten beschämt, hat keinen Teil am ewigen Leben.“ „Wer seinen Nächsten beschämt“ – wörtlich  : sein Angesicht weiß macht, das Blut aus den Wangen treibt – „ist als ein Blut- |105| vergießer zu betrachten.“437 So schließt der Talmud aus dem Nachsatz zum Gebot der Zurechtweisung. Vielleicht ist eine andere Deutung nicht ungegründet. Bei der Zurechtweisung soll man nicht die Schuld des ande­ren als eine isolierte betrachten, sondern im Lichte der allge­ meinen menschlichen Schwachheit. Du sollst die Schuld nicht auf ihn allein legen, sondern zugleich mit auf dich selbst nehmen und auf das allgemeine Menschenlos. Das ist die wahre Demut, die in dem Anrecht nicht aus­schließlich nach dem Sünder späht, sondern die Gesamtheit für die Fehler des Einzelnen mit verantwortlich macht. Und das ist auch das allein durchschlagende Mittel, den ganzen Begriff des Feindes aus der Welt zu schaffen. Dass man erkennen und begreifen lernt, in welches Netz von Ver­führung durch den Zufall der Geburt und den Notstand der sozialen Lage der schwache Mensch in all seiner Stärke verstrickt ist, so dass kein irdisches Auge sehen kann, wo der blinde Zwang für ihn aufhört und seine Freiheit anfängt. Und nicht nur allgemein und theoretisch ist das zu erkennen. Sondern – was das viel Schwierigere ist – in jedem einzelnen Falle muss es bedacht und beherzigt werden, dass wir kein Recht haben, irgend einen Menschen böse zu nennen. Nur das Böse sollen und dürfen wir vom Guten unterscheiden, aber nicht den Guten und den Bösen. Indem wir den Bösen verabschieden aus dem Lexikon unseres Gewissens, so allein befreien wir uns von dem Gespenst des Feindes. Und in solcher Demut allein können wir die Zurechtweisung üben, welche die Feindes­liebe fordert. So ist auch der Ausdruck der Feindesliebe zu verstehen, der die Zurechtweisung einleitet  : „Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Herzen.“ Du sollst nicht hassen. Denn der Hass ist der Widerspruch zur Liebe und somit zum Menschen als dem Nächsten. Der Mensch ist dein Bruder, wie Gott aller Menschen Vater ist. Wie Gott wie ein Vater liebt, so ist in jedem Menschen der Bruder zu er­kennen und zu lieben. Dem Menschen hat Gott das Herz gegeben. Es unterscheidet den Menschen vom Tiere. Es |106| ist der Ausdruck für seinen Geist und für sein Gemüt. Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Herzen. Du würdest sonst dein Herz verlieren. Das ist die Quint­essenz der Feindesliebe im Alten Testament. Die Bergpredigt macht einen Gegensatz geltend gegen den alten Bund, dessen Berechtigung nachzuweisen den Er­klärern schwer werden muss. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist  : Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch  : liebet eure Feinde u. s. w.“438 Zunächst ist zu bemerken, dass bei Lucas439 dieser Gegensatz nicht zum Ausdruck gebracht wird. Da nun im ganzen Alten Testament keine Stelle sich finden ließ, 437 bBM 55  ; mAv V 438 Mt 5,43f 439 Lk 6,27

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V. Fremden- und Feindesliebe

in welcher der Hass des Feindes empfohlen wurde, so erklärt sich, dass De Wette440 den Gegensatz ganz fallen lassen konnte.441 Andere Erklärer aber sahen sich wenigstens genötigt, die Worte es ist euch gesagt auf die mündliche Lehre zu beziehen. So weit dieselbe jetzt aber schriftlich im Talmud uns vorliegt, wissen wir, dass auch in dieser Form der An­griff falsch ist. Dass in einem Sprechsaal von Autoren aus mehreren Jahrhunderten vereinzelte Äußerungen sich auf­fi nden lassen, in denen Schmerz und Entrüstung zu scharfen und harten Ausdrücken der Abwehr geführt haben, das ist für jeden Kenner antiker und moderner Literatur selbstver­ständlich. Aber solche vereinzelten Meinungsäußerungen be­weisen nichts gegen den schriftstellerischen Charakter des ganzen weitschichtigen Werks und am allerwenigsten gegen den Wert der Entscheidungen, in denen das Recht und Ge­setz endgültig formuliert wird. Der Talmud hat nun aber vielmehr die Feindesliebe durch einen Begriff vertieft, welcher die psychologische Beseitigung der Feindschaft zu ermöglichen geeignet ist. Es ist das der Begriff des „grundlosen Hasses.“ |107| „Der grundlose Hass ist gleichwiegend mit Götzendienst, Blutschande und Mord. Des grundlosen Hasses wegen ist der zweite Tempel zerstört worden.“442 Man pflegte, heißt es daselbst, unter dem zweiten Tempel die Tora, die zeremoniellen Gesetze und die Liebespflichten, aber der grundlose Hass herrschte. So wird dieser gleichgesetzt den wichtigsten der sieben noachidischen Gebote. Und der noachidische Kodex, also die Grundlage der allgemeinen mensch­lichen Sittlichkeit, wird als das Fundament des National-Heiligtums erklärt. Ohne das Fundament der Sittlichkeit soll keine Religion als Judentum anerkannt werden. Und mehr als die Nächstenliebe ist der negative Ausdruck des grundlosen Hasses das entscheidende Symptom der menschlichen Sittlichkeit. Der grundlose Hass bedeutet nicht etwa eine besondere Bestreitung und Einschränkung des Hasses, als ob ein Grund, als ein Recht zum Hasse nur bisweilen fehlen könnte. Der Ausdruck will keineswegs etwa den Hass in begründeten und unbegründeten einteilen. Sondern der Hass überhaupt und an sich wird als grundlos bezeichnet. Von andern Sünden und Vergehungen, deren der Mensch fähig wird, sind Gründe und Veranlassungen anzuerkennen, nicht so vom Hass. Es ist ein psychologisches Problem, ob der Hass überhaupt eine psychologische Tatsache im menschlichen Gemüt ist, oder ob er nicht vielmehr durch andere Verirrungen verdeckt und verkappt ist. Der primitive Affekt des Hasses als einer selbstständigen, eigenen, von anderen Affekten unabhängigen Richtung des Gemütes ist in der Tat eine nicht bewiesene Annahme. Der Hass ist grundlos im menschlichen Gemüte. Daher macht der Talmud ihn zur eigentlichen Todsünde. Der Hass ist grundlos. Das ist das tiefste Wort, das über diese Verirrung des Gemütes gesprochen werden kann. Es 440 Lehrbuch der christlichen Sittenlehre 1833, 224. [Wilhelm Martin Leberecht Wette, Lehrbuch der christlichen Sittenlehre und der Geschichte derselben. Berlin  : Reimer 1833] 441 Dieser eigentliche Begründer der Bibelkritik in diesem Jahrhundert, übrigens aber auch ein klassischer und ein tragischer Zeuge der Feindesliebe, zitiert für dieselbe außer der Berg­predigt und Röm 12,20, wo nur ein Zitat aus den Sprüchen Salomons enthalten ist, nur Lev 19,18  ; Ex 23,4f  ; Ps 7,5  ; Spr 25,21. 442 bYom 9b

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19. Hermann Cohen, Feindesliebe (1900)

gibt keinen Grund zum Hass. Jeder scheinbare Grund ist ein Irrtum und eine Verirrung. Der Mensch ist zum Lieben da. Und wenn er hasst, so wird sein Dasein ver­geblich. Es ist nur satanische Dialektik, die ihm das Recht zum Hass vorspiegelt und die sein Gemüt in die Richtung zum Hass verrenkt. Belehrend ist es in unseren Gebeten, dass der Hass, um dessen Abwendung gebetet wird, als der |108| „grundlose Hass“ bezeichnet wird. In dieser Erkenntnis schon findet das Gebet seine Erfüllung. Indessen verdient die Frage doch schließlich noch eine kurze Erwägung, aus welchen Motiven der Angriff der Berg­predigt zu verstehen sein möchte. Das Gebet Jesu am Kreuze  : „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“,443 ist die Umschreibung des rabbinischen Grundgedankens vom „grundlosen Hass“, wie denn alle seine sonstigen Gebete entweder unmittelbar Psalmenworte sind oder dem Geiste der schriftlichen oder mündlichen Lehre angehören. Auch sind sie kurz und knapp nach der Vorschrift des Talmud  : „Er im Himmel und du auf der Erde, darum seien deiner Worte wenige.“ Aber die Tendenz der Oppo­sition gegen die alte Lehre – entgegen dem Ausspruch, dass Jesus nicht gekommen sei, das Gesetz abzuschaffen – ist kein hinreichender Grund. Auch die Hervorkehrung einer er­baulichen Liturgie für eine Art von ethischem Reformbund, wie sie in den Worten segnet, die euch fluchen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, gefunden werden könnte, erklärt die Schwere dieser Beschuldigung nicht. Am meisten dürfte sie verständlich werden aus dem Verhältnis der Lehre zu der Person des Lehrers. Im alten Bunde gibt es ein solches persönliches Verhältnis nicht. Mose und die Propheten bedeuten als Personen nichts im Verhältnis zu ihren Lehren. Aus ihnen redet stets nur Gott. Das einzige Vorbild ist der einzige, heilige Gott. Anders von Anfang an im Christentum. In Jesus wird im stoischen Stil des Zeitalters das Ideal eines Weisen aufgestellt. Und zu diesem Idealbild gehört die Freiheit von Affekten. In der Stoa tauchte daher der Ausdruck der Feindesliebe auf. Die Nächstenliebe erschien nicht mehr als genügsamer Ausdruck der Sittlichkeit. Auch die Liebe zu Gott ist nach Ritschl’s Urteil „sparsam“ im Neuen Testament. Die Liebe ist ein Affekt, und der Weise soll frei von Affekten sein. In der Feindesliebe heben sich die gegenseitigen Affekte der Liebe und des Hasses auf. So wird Jesus zum Prediger der Feindesliebe.

443 Lk 23,34

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20. Samson Raphael Hirsch, Die Missachtung anderer (1837)444 Lüge.445 |332| Gott, der den Menschen zur Gerechtigkeit geschaffen, d. h. dass er jedem Wesen und jedem Verhältnis der Wesen das lasse und spende, was ihnen als solchen gebührt, gab auch seinem Geist das Vermögen, dass in ihm sich die Wirklichkeit der Dinge und ihrer Verhältnisse, so weit es für das Leben der Ge­rechtigkeit ausreicht, abspiegeln, damit er zuvor die Wesen und ihre Verhältnisse erkenne und nach dem Erkannten ihnen das angedeihen lasse, was die Lehre der Gerechtigkeit für solche, wie er sie erkannt, als Recht ausspricht. Dieser Abdruck der Wirklichkeit im Geiste ist = Wahrheit. Wahrheit ist somit Bedingung |333| der Gerechtigkeit, denn nur nach dem Bilde, das von den Dingen und ihren Verhältnissen der Geist des Menschen erfasst, kann er gegen sie leben. Entspricht dieses Bild der Wirklichkeit nicht, so wird er anders gegen sie leben als ihnen gebührt – er wird ungerecht und somit kann, wenn nichts anderes, schon die Gerechtigkeit, zu der uns Gott ruft, Bürge sein, dass wir, so weit diese unsere Lebensaufgabe es heischt, in dem geistigen Abdruck der Dinge außer uns in unserm Innern die Wirklichkeit derselben zu erkennen ver­mögen. Wie aber Gott dem Menschengeist das Vermögen schenkte, dass in ihm die Wirklichkeit seiner äußeren Welt sich abspiegele, so schenke Er ihm auch das Vermögen, durch das mitteilende Wort die erkannte Wirklichkeit für andere er­kennbar zu machen, auf dass nicht nur von eigener Erfahrung der Mensch lebe, sondern der gesamte Menschenverein an der Bereicherung des menschlichen Geistes arbeite, der Einzelne Erbe der Geistesschätze der Gesamtmenschheit werden könne, und wie reicher an Wahrheit also auch reicher an Gerechtigkeit zu werden ver­möge und der Tat leben könne, wo er sonst der Erkenntnis leben müsste. So knüpfte Gott durch diesen herrlichsten Segen den Menschenverein mit dem Lebensband der spendenden und empfangenden Liebe und lehnte auch für das geistigste Gut, die Wahrheit, den Menschen an seinen Brudermenschen. – In Fluch verkehrt aber diesen herrlichsten Segen des Schöpfers derjenige, der statt treu in Wort abzudrücken, wie er die Wirklichkeit erkannt hat, ein falsches Bild davon mitteilt, auf dem nun fortlebt der Bruder und ungerecht wird gegen die Wesen ringsum, oder, anderes von ihnen erwartend, untergeht durch die Täuschung. Fluch bringt, wer, dem teuersten Anspruch, den Gott seinem Bruder an ihn verliehen, entgegen, die Wahrheit stiehlt seinem Nächsten, Fluch, wer |334| lügt. – Und wenn Vermögen nur Wert dadurch hat, dass es Mittel wird zu einem Leben der Gerechtigkeit, der Lügner aber die erste Bedingung dieser Gerechtigkeit, die Wahrheit, stiehlt und dafür die Lüge gibt und die Ungerechtigkeit gebiert, so ist der Lügner noch gefährlicher als der Dieb. Dieser nimmt nur die Mittel 444 [Samson Raphael Hirsch, ‫ שמשון רפאל הירש‬Versuche über Jissroëls Pflichten in der Zerstreuung zunächst für Jissroëls denkende Jünglinge und Jungfrauen. Altona  : Hammerich 1837, 332–362 [§ 368–395]. Die Einteilung in Kapitel und Paragraphen des Originals wurde aufgehoben.] 445 Lev 19,11  : Und leugnet nichts ab und lügt nicht einer wider den Andern  ; Ex 23,7  : Vom Worte der Lüge bleibe fern.

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20. Samson Raphael Hirsch, Die Missachtung anderer (1837)

zum Leben überhaupt, jener aber das Mittel zum gerechten Leben, dafür, so viel an ihm ist, Ungerechtigkeit erzeugend – und Unglück. Denn wie Gott das Höchste, die Lebensgerechtigkeit, an die Wahrheit knüpfte, so auch das Geringere, das Lebensglück. Denn, wie du die Dinge erkannt hast, also gibst du dich ihnen hin und wer sie dir anders zeigt als sie sind, raubt dir eine Stütze oder lässt auf Morsches dich stützen. – Aber, wie der Lügner dem andern unmittelbar Teures  – die Wahrheit, mittelbar das Teuerste – die Gerechtigkeit, entwendet, so tötet er auch un­mittelbar sich selber geistig, – denn er löscht das göttliche Ge­präge an sich aus, das ihn zum Menschen für den Menschen ge­schaffen. Jede, auch die kleinste, dir gleichgültig dünkende Lüge, ist Verrat an dem Menschenbruder, ist Raub seines Teuersten, ist Tötung deiner selbst.  – Hüte dich darum vor der kleinsten Abweichung von der Wahrheit, wie du sie erkannt hast. Fühlst du nicht, wie sich dein Inneres empört gegen jedes unwahre Wort, das deine Lippe zu sprechen versuchen will  ? Bei der ersten Lüge fühlst du es gewiss. O, dies Empören deiner selbst gegen dich selber mahnt dich, in dir selber nicht den Menschen zu töten, mahnt dich, dass Gott dich zur Wahrheit geschaffen wie sein Wort zur Wahrheit dich ruft.  – Wähne nicht, du könntest berechnen, welche Lüge für den Bruder unschädlich sei. Wenn auch in deinem kurzen Gesichtskreis dir der Schaden nicht erscheint, Unglück oder Unge­rechtigkeit kann sie in zehnter |335| Vermittlung im Lebenskreis deines Nächsten er­zeugen. Und bliebe auch dieses aus, dir selber hättest du jedenfalls den Menschen­charakter geraubt. – Lüge darum auch nicht zum Scherz, denn wer wollte eines kurzen Augenblicks des flüchtigen Vergnügens durch Schaden seines Nächsten und durch Tötung seines geistigen Selbsts erkaufen  ! – Und brächte dir auch die Wahrheit wohlverdienten Schaden, willst du Folgen eines Unrechts durch ein anderes Unrecht abwenden, und den Schaden nicht achten, den du selber und deinem Teuersten nimmst durch die Lüge  ? So ist die Wahrhaftigkeit schon an sich selber eine so hohe Forderung der Gerechtigkeit, und Lügen an sich selber schon so ein anderes und das Sich vernichtendes Verbrechen. Aber gleich schrecklich sind auch für die übrige Reinheit des Lebens die Folgen der Angewöhnung des Lügens und gleich segensreich die Folgen der Wahrhaftigkeit. Wenig, vielleicht keine Sünde wird begangen, ohne dass der Sünder sich vertröste, dass – wenn er etwa zur Rechenschaft ge­zogen würde – durch Lügen sich zu helfen wüsste. Und so muss der Entschluss zur Lüge fast jeder Sünde zur Seite gehen. Erhältst du dir darum die Wahrhaftigkeit, dass es dir unmöglich bleibt, von der Wahrheit zu weichen, ergehe es dir auch wie es wolle, so hast du in ihr selber einen Schild gegen viele Sünden. Je mehr du dich aber vertrauter machst mit der Lüge, umso mehr bahnst du dir selber den Weg zu jedem andern Bösen. Ihr darum, die ihr auf junge Gemüter Einfluss zu üben habt, dass ihr sie ausrüstet zum Leben der Gerechtigkeit, wacht darüber, dass ihnen der innere Schild bleibt, der sie schütze vor mancher Verirrung. Wacht darüber, dass sie aufrichtig, wahr und gerade bleiben, wie ihr Schöpfer sie bestimmte und dass sie die Lüge stärker fürchten als die härteste Strafe, die ihr über sie verhängen mögt. |336| Lüge über die Persönlichkeit desselben Menschen, gegen den du lügst, und die in der Regel darin besteht, ihm eine bessere Meinung von sich zu geben, als es der Wirklichkeit entspricht, heißt Schmeichelei  ; Lüge über deine eigene Persönlichkeit Heuchelei. 159

V. Fremden- und Feindesliebe

Wie aber keine Wahrheit nötiger ist als die in der Selbsterkenntnis und keine Täuschung schädlicher als eben da, so ist auch kaum irgendeine Lüge verderblicher als Schmeichelei. Und siehst du nun noch, weshalb gewöhnlich geschmeichelt wird, wie der Schmeichler des andern Sittlichkeit und die eigene Menschenwürde hinopfert, um von dem Geschmeichelten irgend ein Gut zu erlangen, wie er so dem andern Tugend und Gut zugleich stiehlt und sein ganzes Selbst vermäkelt eines gewöhnlich niedrigen Vorteils halber, so wird dir kein Lügner verächtlicher erscheinen als der Schmeichler. – Sei eingedenk deiner Menschenwürde, und könntest du Fürst werden durch Schmeichelei und müsstest Bettler in deiner Geradheit bleiben, – deine Menschenwürde habe dir mehr Wert als irgendein Gut, – bleibe Bettler – bleibe gerade – und werde kein kriechender Wurm. – Der Heuchler aber macht sich selber ganz, nicht nur sein Wort, auch seine Tat, sein ganzes Leben zu einer großen Lüge, um sich durch den Schein die Gesinnung andere zu gewinnen. Denn siehe, es hat Gott unser Herz also geschaffen, dass, außer der Liebe und Gerechtigkeit, die Er für alle Menschen von uns fordert, wir vor allem dem unser besonderes Wohl­wollen, unser Herz gleichsam schenken, in dem wir entweder das reine edle Menschtum verwirklicht sehen oder eine besondere Zuneigung gegen uns selbst zu erblicken glauben. Sprichst und handelst du nun so, dass du von dem einen oder dem andern uns die Meinung beibringst, aber Wort und Tat sind eben nur dieser Meinung halber gesprochen und getan, sind |337| nur Schein, nicht Ab­druck deiner Wirklichkeit, nicht wirklicher Ausdruck deiner wahren Gesinnung  : so stiehlst du unsere Gesinnung, unser Herz uns. Und diese Heuchelei vorzüglich ist es, die unsere Chachomim mit dem bezeichnenden Namen „G’newáß Dá-aß“ )‫(גניבת דעת‬, Gesinnungsdiebstahl, brandmarken, obgleich auch der Name überhaupt für Gedankendiebstahl – Lüge vorkommt. Und nicht nur vor einer dein ganzes Leben falschmünzenden Heuchelei warnen sie, sondern auch vor jeder einzelnen Heuchelhandlung, ja vor jedem Schein, der irgend einer Handlung gegen deinen Nächsten einen freundlicheren Anstrich gibt, als sie in Wirklichkeit verdient, warnen sie. Dass du z. B. deinen Freund nicht mit Einladungen und Anerbietungen überhäufst, von dem du weißt, dass er sie doch nicht annehme  ; z. B. ferner nicht ihn zu bewirten, ein Fass anbrichst, das du auch ohne seinen Besuch angebrochen hättest, und ihn nun in der Meinung lässt, es geschähe aus deiner Freude mit ihm u. dergl. m. Dass ferner jedes Lügen, jede Täuschung, jede Schmeichelei und Heuchelei gegen jeden Menschen, welcher Abstammung und welchen Glaubens auch immer, schändlich und verboten ist, bemerkt noch überdies das Gesetz, was sich auch von selbst verstanden hätte, da du deinem Nebenmenschen nicht als einem gewissen Menschen, sondern als Mensch Wahrheit schuldig bist. Für den Handelsverkehr wird dort noch, aus der Pflicht der Wahrhaftigkeit fließend, bemerkt, dass du keine Be­schaffenheit deiner Ware verschweigen dürfest, wenn du weißt, dein Käufer habe eine andere Meinung davon, selbst wenn diese Beschaffenheit den wirk­ lichen Wert nicht herabsetze, z. B. keinem Nichtjuden nichtgeschächtetes Fleisch stillschweigend verkaufen, da dieser voraussetzt, es sei nach jüdischem Gesetz ge­schächtet u. dergl. m. 160

20. Samson Raphael Hirsch, Die Missachtung anderer (1837)

Dem Ausspruch vom Worte der Lüge halte dich fern gemäß, warnen unsere Weisen noch namentlich davor, selbst nur durch Schweigen oder durch deine bloße Gegenwart die Lüge eines andern zu unterstützen  ; schweigend jemanden einen unwahren Ausspruch tun zu lassen, zu lügen, wäre es selbst um eine Wahrheit zu unterstützen u.s.w. Und sie mahnen dich, dir |338| selbst jedes Hindernis zur Erkenntnis der Wahrheit aus dem Wege zu räumen u.s.w.446 Eine feine Linie ziehen unsere Chachomim durch den Ausspruch  : „Immer sei der Mensch nicht schroff zum geselligen Anschluss an seine Brüder“ )‫(מעורב בין (הבריות‬, und lehren, welchen auch nur scheinbar verändernden Einfluss die Pflicht der Geselligkeit auf dies Verbot der Lüge übe  ; wie das Zusammen­leben der Menschen nicht möglich wäre, wenn jeder jedem unaufgefordert die Wahrheit sagte, wie er sie erkannt, und wie die Geselligkeit selbst eine Sprache überall eingeführt, die außer dem Kreis der Geselligkeit Lüge wäre, die aber im Kreis der Geselligkeit aufhört Lüge zu sein, eben weil der, gegen den du sie führst, im voraus gar nicht strikte Wahrheit erwartet. Es ist dies die Sprache der Höflichkeit, die, eben weil sie die Geselligkeit eingeführt, aufhört Lüge zu sein. Denn so wie die Gesellschaft überhaupt den Worten ihre Be­deutung erteilt, so kann sie auch für bestimmte Verhältnisse den Sinn der Rede allgemein verändern. Und eben so wie, wenn die Gesellschaft mit dem Worte „Ja“ verneinte, und mit „Nein“ bejahte, du mit diesen Worten denselben Sinn verbinden müsstest, eben so lässt dich die Gesellschaft z. B. mit dem Worte „Diener“ im geselligen Umgange durchaus nichts weiter als bloß Unfreundlich­keit verneinen, während es in allen übrigen Verhältnissen größte Abhängigkeit bezeichnen würde  ; und so mit allem, was Geselligkeit an Redensarten, Freundlichkeitserweisungen u. s. w. eingeführt hat. – Ebenso verzichtet im geselligen Um­ gange jeder darauf, dass ihm der andere unaufgefordert alles sage, zumal was er über ihn selber denke. Und so gilt da die Regel  : Was du sprichst, sei wahr, doch brauchst du nicht alles auszusprechen, was du für wahr hältst. Kein geselliger Verein würde bestehen, wenn jeder jedem z. B. beim Zusammenkommen aus eigenem |339| Antriebe alles sagen wollte, was er Nachteiliges an seinem Äußern, seiner Sprache, seiner Aufführung u. s. w. bemerkt. Und so hört dies Schweigen auf, Täuschung zu sein, eben weil jener in solchem Verhältnis gar nicht Be­lehrung erwartet und keineswegs durch dein Schweigen eine zu gute Meinung von sich bekäme, wie es z. B. der Fall wäre, wenn du im vertrauteren Zu­sammenleben deinen Bruder, Freund u. s. w. über seine Fehler unaufgeklärt ließest. – Diesen Bedingungen der Geselligkeit sich zu unterziehen und sie zu beobachten tut keinen Eintrag der Wahrhaftigkeit, ja ist Pflicht. Aber auch nur ein Schritt darüber, auch nur ein Schritt über das hinaus, was in deinem Ort Höflichkeit heißt, wird Schmeichelei, Heuchelei, und darum Sünde.447 – Über die Fälle, wo du deinen Nächsten im Begriff siehst, von der Wahr­heit, wenn du sie ihm sagen würdest, einen ungerechten Gebrauch zu machen, oder wo die Wahrheit deinem Nächsten schädlich wäre, z. B. wenn ein Mörder dich nach dem von ihm Verfolgten fragte oder ein Dieb nach Aufbewahrungsort von Eigentum oder ein gefährlich Kranker 446 (‫ ח"מ‬9.–17.–28.) 447 (‫ ח"מ‬228, 6.), (‫ א"ה‬65.), (‫ כתובות‬17, a.)

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V. Fremden- und Feindesliebe

nach einem Verwandten, der inzwischen ihm unbewusst gestorben u. dergl., sind dem Verf. wenig Aussprüche unserer Lehre bekannt. Doch dürfte es, nach Analogien zu schließen, kaum zweifelhaft bleiben, dass in allen diesen Fällen nicht nur die Wahrheit zu sagen Unrecht wäre, sondern es selbst Pflicht sein könne, Lügen zu sagen. Denn, wenn ich z. B. den Mörder selbst durch Tötung desselben vom Morde zurückhalten muss, den Dieb mindestens durch Schläge, dem gefährlichen Kranken das Leben zu erhalten einen großen Teil der Gebote außer Augen setzen darf (und dann auch muss), so darf ich nicht nur in allen diesen Fällen die Wahrheit nicht sagen, weil ich mich durch sie des Beitrags zum Morde, zum Diebstahl, zum Tode schuldig machen würde. |340| Sondern, wenn mein Schweigen selbst dazu beitragen würde, wäre es geradezu meine Pflicht zu lügen. – Eben so, lehren die Weisen, darf ich von der Wahrheit abweichen, wo sie Zwietracht, diesen Fluch alles Lebens, bringen würde zwischen Mensch und Mensch, oder, wo ich dadurch wieder Frieden, den Segen aller Segnungen, einführen kann, wo er geflohen ist. Ja, nach Einigen wäre es dann ebenfalls Pflicht. – Beschränkung, Druck und Kränkung. )'‫ הלבנת פנים וכו‬,‫ אונאת דברים‬,‫ ענוי‬,‫(איסור לחץ‬448 |341| Mit dem Dasein, das Gott einem Menschen schenkt, gibt Er ihm auch das Recht zur freien Entfaltung aller seiner Kräfte und die Pflicht, die Wirkungen und Äußerungen seiner Kräfte nach der Forderung der Gerechtigkeit zu regeln. So lange ein Mensch dieser Pflicht gehorcht, so lange er nur das sich aneignet, was ihm eben nach der Gerechtigkeit gebührt, und solange er das Angeeignete nach Pflicht der Gerechtigkeit verwendet und nur in der Bahn des Rechts sein Leben führt, so lange sollst du, wenn du auch Macht hast, ihm nicht beschränken diese Freiheit, ihn nicht zurückdrängen von den Wegen des Lebens, die Gott ihm als Menschen eröffnet, ihn nicht zurückweisen von einem Weg der Lebensentfaltung, den du dir gestattest, ihm nicht die Enge anweisen, die du als Recht für Freiheit hinnimmst, ihm nicht rechtliche Wege und Mittel zur Ernährung und zur Erfüllung seiner Menschenbestimmung beschränken, auf dass dir größerer Raum bleibe zur freudigeren Entfaltung. – Ist denn nicht Gottes die Erde  ? Ist Er es nicht, der Menschen einführt in sie und Recht gibt und Blüte und Gedeihen  ? Und hat Er dir mehr Anspruch gegeben an die Güter und Genüsse seiner Welt, dass du von Gewerbe und Rechtsgebrauch den Bruder zurückweist, der Mensch ist gleich dir  ? – Weil du die Macht hast  ? Soll denn Gewalt Richtmaß sein für Menschenwirken und nicht das Recht, das ewige, das Gott entstammende Recht, das allei448 Und Fremdling sollst du nicht kränken und nicht drängen, denn Fremdlinge seid ihr gewesen im Lande Mizrajim. Jede Witwe und Waise sollt ihr nicht drücken. Wenn du ihn gleichwohl drückst, – (denn sobald er aufschreit zu mir höre Ich sicherlich sein Geschrei) – so wird rege mein Zorn und ich erschlage euch durchs Schwert, dass eure Weiber Witwen bleiben und eure Kinder Waisen. (Ex 22,20)  ; Und wenn bei dir sich aufhält ein Fremder in eurem Lande, sollt ihr ihn nicht kränken. Wie der Eingeborne von euch sei euch der Fremde, der bei euch sich aufhält, und trage ihm Liebe wie dir selber. Denn Fremdlinge seid ihr gewesen im Lande Mizrájim, Ich, Haschem, sei euer Gott. (Lev 19,34)  ; Und kränket nicht einer den Andern, und fürchte dich vor deinem Gotte, denn Ich, Haschem, bin euer Gott. (Lev 35,17)  ; Zur Rede stellen sollst du deinen Mitmenschen, doch darob nicht Sünde auf dich laden. (Lev 19,17)

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20. Samson Raphael Hirsch, Die Missachtung anderer (1837)

nige Eigentum, das Gott dem Menschen mitgibt zur Erde, das Recht  : Mensch zu sein unter Menschen  ? Und den Freiheitsbrief, den Gott geschrieben, willst du zerreißen  ? Schiltst den Räuber, der Eigentum entreißt, und siehst nicht in dir selber größeren Räuber, da du das Recht entreißt, Bedingung alles Eigentums  ? |342| Dieses Beschränken der Wege und Mittel zur Menschenanbürgerung auf der Erde heißt ‫ לחץ‬Láchaz, Beschränkung. Daher beschränke, dränge keines meiner Kinder  ! ruft dir Gott zu in seiner Lehre, gestatte ihm, Mensch zu sein, wie du es dir als Recht forderst. – Und haben gleich die Künstlichkeit unserer Lebenswege und das Bedürfnis hie und da die Notwendigkeit erzeugt, dass dir’s zugestanden wird, den Bruder zurückzuweisen von dem Lebensweg, den du betreten hast. (‫ ח"מ‬156 a. E.) – O, so gebrauche doch nur selten und nur ungern diese Macht, vergiss nie, dass dies nicht Recht, dass es nur Notausspruch ist – vergiss nicht, dass die Thauróh spricht  : Du sollst niemanden den Lebensweg beengen  ! Aber – wenn du ihm auch nicht beschränkst die Wege und Mittel und ihn wandeln lässt auf der breiten Heerstraße des Rechts und sich Segen erringen, den Gott ihm spendet,  – dennoch kannst du mit deiner Gewalt treten zwischen den Segen und seinen Genuss, kannst ihm verkümmern das Dasein und Leben mit all seinem Segen, kannst ihn mit Pein und Qual und Leiden über­häufen, dass er nur mit Tränen genießt das Brot, das Gott ihm zum heitern Genuss gespendet, und er nur nach Seufzern zählt die Augenblicke seines Hier­seins. – Wehe dir, wenn du also missbrauchst das Mehr, das Gott dir gegeben, auf dass davon aus deiner Hand Segen erblühe den Brüdern, wenn du es missbrauchst, und drückst mit deiner Macht und abhängig sein lässt und schmerzlich fühlen lässt die Abhängigkeit – ‫ ענוי‬Innúj  ! Wehe, wenn eine Menschenseele dich anklagen darf vor Allrichters Thron, dich als den Räuber ihres Erdenglücks, dich als den Störer ihrer Lebensfreude, dich als den Quell ihrer Tränen  ! Gott, den du so hoch wähnst im Himmel, dass du mit dem Glück |343| seines Kindes spielen zu können vermeinst, Gott ist nahe, nahe jedem Gedrückten, sieht jede Träne, empfängt jeden Seufzer, – und Erhörung eilt herbei – und schmettert dich nieder – und auf steht der Gebeugte. – Vor allem warnt die Thauróh vor Bedrängung und Druck der Menschen, die eben ihrer Hilflosigkeit halber der Hilfe und der Aufrichtung anderer überwiesen sind, gegen welche der Missbrauch der Gewalt um so schrecklicher ist, als er leicht ist und nennt aus ihnen als Beispiel den Fremdling, die Witwe und Waise. Siehe den Fremdling  ! Vertrauensvoll tritt er ein in dein Land, in deine Stadt, in deinen Kreis, vertrauensvoll, Menschen zu finden, die in ihm den Menschen achten werden und ihm gönnen werden einen Fleck unter sich, wo er leben könne und menschlich leben. Er hat keinen andern Empfehlungsbrief als sein Menschenantlitz, keinen andern, der ihn einführt bei dir, als Gott, der in ihm sein Kind dir zugeführt und spricht  : „Er ist dir gleich, möge er Gleiches leisten, gönne ihm gleiches Recht – er ist mein Kind, meine Erde seine Heimat, wie dich rief Ich ihn zur heitern Lösung seiner Menschenaufgabe, – verkümmere ihm nicht dieses Recht, störe ihm nicht seine Lebensfreude, missbrauche seine Hilflosigkeit nicht, zeige, dass du in deinem Boden Gottes Erde fühlst, und in dem Menschen Gottes Kind.“ – Möge man in dir, dem Fremden, den Menschen nicht verkennen  ; Jissroel  ! du sollst ihn in keinem Fremdling verkennen. Du hast es in Mizrájim erfahren, dass Gott den Fremdling schützt. Als Beschützer des Fremdlings gegen des Einheimischen drängenden, drü163

V. Fremden- und Feindesliebe

ckenden Übermut, als Beschützer des Rechts gegen die Gewalt offenbarte zuerst sich dir Gott. Zeige, dass du Jissroel seist, achte heilig den Fremdling. |344| Und Witwe und Waise. – Es stirbt der Gatte und Vater, sterbend sieht er im Geist ohne Vertreter die Gattin, ohne Vater die Kinder. – Wem übergibt er sie vertrauensvoll  ? Gott nimmt sie auf, die Verlassenen, und spricht zur Menschengesellschaft, der nimmer sterbenden  : Sei Vertreter der Witwe, sei Vater der Waise, und jeder Einzelne, in dessen Kreis sie kommen, hat seinen Teil zu lösen an dieser Gesellschaftspflicht. Wenn aber die Gesellschaft und der Einzelne, statt im Waisen und der Witwe heilige, von Gott anvertraute Güter zu erblicken, in ihnen, den Vertreter- und Versorger-Beraubten, eine um so leichtere Beute sehen für ihre Gewalt, und sie hinausdrängen aus den Bahnen des Lebens, sie der Mittel zum Leben berauben und mit Leiden und Kummer ihren Lebensweg umdüstern, dann steht Gott auf, den sie vergessen, und zeigt, dass Er Annehmer sei der Witwe und Vater sei des Waisen (…) – Aber nicht nur Fremdling und Witwe und Waise, – Frauen, Gesinde, Arme, jeder Abhängige, jeder Unglückliche, jeder Leidende, steht unter besonderm Schutz des Allmächtigen, der der Schwachen Recht vertritt gegen des Stärkern Gewalt. Es ist kein Unterschied zwischen reich und arm in Bezug auf Witwe und Waisen, und ob die Waisen Vater oder Mutter verloren. So lange der Waise nicht seinen Angelegenheiten selbst vorstehen kann, heißt er in dieser Rücksicht Waise. Um einen Waisen zum Guten zu erziehen, darfst du wohl Strenge gebrauchen, aber sollst sie auch da milder behandeln, denn ihr Gemüt fühlt weicher. Und so gegen jeden Armen, Unglücklichen, Abhängigen. (‫ ח"מ‬228.) Aber meine nicht, dass nur mit Tat du dich versündigen könntest, du schon gerecht seist, wenn du nur in der Tat nicht deinen Nächsten drängst und drückst, in der Tat vermeidest, wehe |345| zu tun einem Menschen. – O, du kannst mit dem Worte, dem flüchtigen Worte, dem dir zur herrlichsten Segenswirkung geliehenen Worte, weher tun, tätlicher treffen, unheilbarer vernichten die Lebens­heiterkeit und Freude, als mit gewalttätiger, feindseligster Tat. Zart besaitet hat Gott das Gemüt des Menschen, dass es schmerzlich empfinde jede unsanfte Berührung und hat dieses zarte, empfindvolle Wesen gleichwohl zum Inhaber der heiligsten Güter des Menschen gesetzt und auch der Ehre und der Heiterkeit, der Achtung und der Liebe und jeden Genusses, den das Leben spendet, und jedes lohnenden seligen Gefühls und jeder Regung, die den Menschen knüpft ans Leben und an den Menschen. So lange Es klar und ungetrübt im Menschen webt, so lange, – unter den härtesten äußeren Schlägen, – ist glücklich doch der Mensch. Aber wo Es verwundet, Es getrübt, der Friede da gestört, – wie eine zerknickte Blume krankt und welkt der Mensch. Heilig sei dir dies innere Allerheiligste des Menschen, sei dir von Gott gewiesener Boden, darin du deinen schönsten Menschensegen pflanzen kannst, der Lehre und des Trostes, der Liebe und der Milde, – und dazu dir das edelste Geschenk – das Wort. – Aber wenn du nun dies Wort, das Leben und Segen bringen soll dem Brudergemüt, wenn du es umkehrst zur tödlich-spitzen Waffe, wenn du, dich zu vergnügen, statt Belehrung und Zurechtweisung zu geben dem Unerfahrenen und Minderklugen, ihn neckst und täuschst und in Verlegenheit setzt, wenn du des Unglücklichen spottest, dessen zer164

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rissenes Gemüt nach Trost von deinen Lippen lechzt, und mit unnützen Vorwürfen ihn überhäufst, – wenn du, selbst zur Zurechtweisung, statt milde und allein, den Bruder vor anderen beschämst, – wenn du mit Ekelnamen die Persönlichkeit deines Bruders herabwürdigst, – wenn du mit eisigem Hohn und glühendem Blick in Stachelwort spitzen Pfeil drückst in deines Bruders Gemüt |346| und dich freuest ob seiner Vernichtung vor dir – o, dann wage es nicht, zum Himmel zu blicken  ! Gott sieht das zuckende Brudergemüt unter deinen Rededolchen oder das erstarrte unter deinem eisigen, das gekränkte unter deinem Spott, – zu Ihm flüchtet das zurückgestoßene Gemüt. Offenen Eingang findet die Träne stets zu seinem Thron  – und du  ?  – der Allmächtige ist gerecht  ! Jüngling und Jungfrau Jissroels  ! Ihr, die ihr noch rein fühlt die Gottesgabe, denen noch weich schlägt das Herz, wachet über euer Wort, haltet es rein und geweiht dem Segen, und kein Gemüt blute krank von eurem Wort. Vor allem wiederum, wacht darüber in eurem Umgang mit Unglück­lichen, Abhängigen, Armen, Gesinde. Doppelt fühlen sie jeden leisen Anflug von Hohn, ja ihr gereiztes Gemüt fühlt oft Stachel, wo ihr gar keinen vermutet. Und vor allem ein weibliches Gemüt  ! Gedenkt der Aussprüche der Weisen, die, nachdem sie dem Aunoóh- (Kränkungs-) Verbot entsprechend jegliches Necken, Täuschen, Verlegenmachen, Sticheln, Spotten, Witzeln und Ekelbenennen als ver­boten aufführen, hinzufügen  : Schwerer noch als Beeinträchtigung im Handel u. s. w. ist die Kränkung im Worte. Jene trifft nur Vermögen, diese den ganzen Menschen. Jenes kann wieder gut gemacht werden, dieses kann es nicht. Und die Träne, die ein Gekränkter weint, findet leicht Stätte vor dem Thron des Allrichters. Ihn fürchtet, sein Auge schaut. (‫ ח"מ‬228.) – Wer, heißt es an anderem Orte, vor vielen seinen Nächsten beschämt, gleicht dem Mörder. Siehst du denn nicht, wie sein Blut fließt  ? – Drei steigen ins Ge Hínnaum hinab, aber nicht wieder herauf. Wer Ehe bricht, wer öffentlich seinen Nächsten beschämt und wer mit Spitznamen seinen Nächsten benennt.  – Wenn auch alle Pforten des Himmels geschlossen sind dem Gebete, für die Träne eines ge­ kränkten Gemüts ist keine Pforte geschlossen. – |347| Missbrauch der Schwachen. )‫(נתינת מכשול לפני עור‬449 In die Richtung des an Auge, Geist, oder Herzen Nichtsehenden lege keinen Anlass zum Straucheln und sprich nicht  : Wer sieht es  ? Ich, Haschem sehe es, mein Auge fürchte, wenn du ein Menschenauge nicht fürchtest. Dem an Auge Blinden. Lege ihm nichts in den Weg, worüber er straucheln könnte. Räume alles aus dem Wege, womit er, der Geschlagene, sich schaden könnte. Nicht der 449 Und vor Nichtsehenden sollst du kein Strauchelwerk legen, und dich fürchten vor deinem Gotte, Ich, Haschem  ! (Lev 19,14)  ; Verflucht  ! wer Blinde irre führt im Wege. (Dtn 27,18)  ; Wenn dich auffordert dein Bruder, der Sohn deiner Mutter, oder dein Sohn, oder deine Tochter, oder die Gattin deines Schooßes, oder dein Freund, den du wie deine Seele liebst, heimlich und spricht  : Laß uns gehen doch und dienen andern Göttern u. s. w. u. s. w. Und ganz Jissroel soll es hören und sich fürchten, und nie thue man mehr wie dieses Böse in deiner Mitte. (Dtn 13,12)

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V. Fremden- und Feindesliebe

Blinde nur, alle körperlich Geschlagenen und Körperschwachen, auch Kinder, sind dem Schutze der Gesunden, Starken und |348| Erwachsenen empfohlen. Missbrauche diese Vormundschaft nicht ihnen zum Schaden  ! Sei Auge dem Blinden, sei Stab dem Lahmen, sei Stütze dem Kranken, sei Führer dem Kind und dem Greis  ! – An Geist Blinden. An Geist ist blind jeder Nichteinsichtsvolle, Unerfahrene, ist auch die Jugend und Kindheit. – Du, dem Gott mehr Verstand und Einsicht verliehen, dem Er einen Geistesunmündigen zuführt oder den überhaupt einer seiner Brüder um Rat fragt, sei ihm Vormund mit deiner Einsicht zu seinem Vorteil und nicht zu seinem Schaden. Fürchte Gott, der Herz und Nieren prüft und deine geheimsten Gedanken kennt und schaut, ob du nach bester Einsicht rätst, als wäre es deine eigene Sache, oder ob du das Vertrauen missbrauchst zu seinem Schaden. – Eltern, Lehrer, Geschwister, Freunde eines Hauses und alle, die ihr mit Tat und Wort und Schrift auf junge Menschenseelen Einfluss übt, – sie sind blind im Geiste, an eurem Geist entzündet sich ihres Geistes Licht. Was ihr in Wort und Beispiel als wahr und gut ihnen zeigt und lehrt, werden sie lange Zeit als wahr und gut betrachten und ihr Leben darauf bauen, bis sie selbst prüfen können. Legt ihnen keinen Stein des Strauchelns in den Weg  ! – Wehe ihnen, wenn ihr es nicht redlich mit ihnen meint, wenn ihr Truglehre für die Wahrheit ihnen bietet, ihnen Böses für Gutes, Falsches für Wahres reicht, Nacht ihnen zum Tag und der Wahrheit Tag zur Nacht um­stempelt. Sie werden einst erwachen – und euch fluchen  – und diesen Fluch hört Gott  !  – Ihn fürchtet, wenn ihr Menschen nicht fürchtet. – Er schaut ins Herz. Dem Blinden an Herzen. An Herzen blind sind alle, deren Herz be­tört ist, leichtsinnig und geneigt zur Sünde, denen |349| nur Gelegenheit fehlt zur Sünde. Hüte dich, einem solchen Herzensblinden Gelegenheit zur Sünde zu geben, ihm den Weg zur Sünde zu weisen, zu erleichtern, ihn darin zu unter­stützen. Sprich nicht  : „Tue ich es  ? er kann es ja lassen  ;“ dein ist die Sünde, die er tut, denn du gibst die Gelegenheit dazu. Wiederum ihr alle, die ihr in Tat und Wort und Schrift Einfluss übt auf die Jugend, – vor allem an Herzen ist die Jugend blind, leicht geneigt das Feuer der Jugend zur Sünde und zur Sinnlichkeit, gleich offen dem Bösen wie dem Guten, denn eben deshalb sollt ihr sie leiten. In eurer Hand liegt es, ob ihr Herz ein Gottesgarten werde oder Unkraut darauf wuchere, – legt den Blinden keinen Strauchelstein in den Weg und räumt jeden aus ihrem Wege  ! – (…) Gott fordert Rechenschaft für die euch anvertrauten Menschenherzen,  – die Neigung, die noch in spätem Mannesalter zu eigenem, und zu ihrer Welt Verderben ausbricht, – steht auf eurer Rechnung, – und Fluch  ! schallt es vom Ewólberge nieder, Fluch dem, der Blinde irreführt im Wege  ! – Unterstütze und fördere überhaupt kein Unrecht. Verkaufe nichts, das Verbotenes oder Schädliches enthält, ohne dass es kenntlich ist. Verkaufe auch einem Nichtjissroel nichts, das auch nur Jissroel verboten ist, sobald es nicht kenntlich ist und du befürchten kannst, dass es einem Jissroel wieder zu Händen kommen könnte (‫ י"ד‬23, 57 u. sonst.). Verkaufe Waffen u. dergl. keinem, der nicht vom Staate zum Gebrauch von dergleichen Dingen befugt ist  : überhaupt nichts, von dem du vermuten kannst, dass es zum schlechten Zweck benutzt werden werde. (‫ י"ד‬151.) – Wo du kannst, räume selbst die Möglichkeit einer künftigen ge- |350| flissentlichen oder unabsichtlichen Sünde aus dem Wege deines Nächsten. 166

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Z. B. leihe nichts ohne Handschrift oder Zeugen, selbst dem Red­lichsten und dir Befreundetsten  ; er könnte es vergessen. (‫ ח"מ‬70.) – Nicht nur wer in Schriften das Laster und die Sinnlichkeit weckt, sondern auch wer solche Schriften durch Druck u. s. w. vervielfältigt, wer sie verbreitet, sündigt gegen dieses Verbot, und lädt den Fluch der Geschlechter auf sich. (‫ א"ח‬307, 16.) Aber am Schwärzesten steht in der Thauróh der gebrandmarkt da, der nicht nur die Sünde des anderen veranlasst und fördert, sondern selbst geradezu auffordert und verführt zur Sünde, der die Macht der Verwandtschaft, der Liebe, der Freundschaft und des Vertrauens auch nur versucht zu missbrauchen, um einen Menschen abzuführen von dem Wege Haschems, oder der durch seinen Einfluss den Kreis, in dem er lebt, seine Stadt, seine Gemeinde, vergiftet mit dem Gift der Sünde. – Wehe dir  ! Wehe  ! wenn auch nur eine Menschenseele dich anklagen darf vor Allrichters Thron, du habest ihr nicht Ehre, nicht Friede, nicht Freude geraubt – aber Gott und Sittlichkeit ihr gestohlen – und das Leben ihres Lebens also zerknickt. – Gott, der ein Gott der Liebe ist, der Erbarmen und Milde fordert von seinen Menschen für alle Geschöpfe, den Verführer allein nimmt Er aus dem Kreis des Erbarmens und der Milde und stellt ihn somit als den Gesunkensten, als den Bösesten dar, in sich selber ja Quelle des Bösen. Darum wachen wir über Blick und Miene, über Wort und Tat, nicht nur dass wir nicht straucheln, sondern dass wir andern nicht werden ein Stein des Anstoßes. Denn nicht nur des Verlustes der eigenen Gerechtigkeit wird uns Rechnung getan, sondern auch des Verlustes aller derjenigen, die durch uns mittelbar oder un­mittelbar geschwunden. |351| Verletzung der Ehre. )‫(לשון הרע רכילות‬450 Das Bild, das von einem Menschen in den Gemütern der übrigen lebt, heißt seine Ehre. – Nach diesem Bild wird auf ihn gewirkt und lässt man ihn auf sich wirken. Also schon deshalb ist die Ehre von so wichtigem, Platz anweisenden Einfluss. Aber von diesem Bilde sind auch die Gesinnungen, ist auch die Achtung und Liebe abhängig, die man einem Menschen zollt. Und nächst dem reinen Aufblick zu Gott und dem lohnenden Selbstbewusstsein gibt es für Menschen nichts erquickender Lohnendes, als die Anerkennung, als die Achtung und Liebe, die Menschen ihnen zollen. So wird Ehre Bedingung des Lebensglücks. Ja, der Mensch, dem die Selbstbeschauung zur Selbsterkenntnis so schwer wird, sieht noch am Leichtesten sich selber wie in einem Spiegel in diesem Bilde, das andere von ihm im Gemüte tragen. Und die Anhänglichkeit an dieses Bild ist so tiefeigentümlich, dass Menschen, die es nicht scheuen, ihre Wirklichkeit zu verunzieren und Gott- und Selbst-Bewusstsein nicht achten, doch um alles in der Welt streben, jenes Bild von sich rein zu erhalten. Und somit wird Ehre, wenn gleich ein unlauterer, doch ein nicht seltener Sporn zur Pflichterfüllung, woraus sich denn |352| auch wohl wirkliche Tugend erzeugt, wenn der Mensch von Schätzung des Anderer-Bewusstseins zur Schätzung des Gott- und 450 Du sollst nicht als Herumträger gehen unter deines Volkes Kreisen. (Lev 19,16)  ; Denkmal für Jissroels Söhne u.s.w. u.s.w. Und keiner mehr sei wie Kaúrach und wie seine Rotte  ! (Num 17,5)

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Selbst-Bewusstseins fortschreitet und seine Pflicht endlich als von Gott gesetzte Lebensaufgabe rein zu lieben lernt. So ist Ehre eine nicht geringe Bedingung des Lebens und der Lebensfreude, ja Sporn und Wächter der Tugend, und du sollst den Menschen in seiner Ehre, den Menschen in seinem Bilde achten und ihn nicht in diesem Bilde töten und so gefährden die heiligsten und teuersten Güter, die an diesem Bild hängen  ; sollst nichts Nachteiliges von ihm sprechen  ! Wäre es selbst Wahrheit, was du sprichst, wäre auch das Bild besser als die Wirklichkeit, freuen sollst du dich des und nicht auf eigene Hand Scharfrichteramt an ihm üben (so wenig du den schon vom Gericht zum Tode Verurteilten morden darfst). Freuen sollst du dich des und ihm nicht vielleicht noch den letzten Sporn zum Guten rauben. Selbst nur aufmerksam machen auf etwas Böses deines Nächsten, oder auch selbst nur zeigen, du könntest Böses von ihm mitteilen, wenn du nur wolltest, ist der Bösrede gleich. Aber von den Zügen des Bildes, das ein Mensch von dem andern im Gemüt trägt, die ihm den Bruder nicht nur allgemein, sondern in Bezug zu ihm selber zeigen, die der Ausdruck dessen sind, was ihm der Bruder war, ist und werden kann, ihm und allem, was er das Seinige nennt, davon hängt nicht nur des Einzelnen Leben und Lebensglück ab, daran hängt der Gesamtheit Heil und Segen, denn daran hängt der Segen alles Segens  – der Friede  ! – Sind diese Züge freundlich, enthalten sie nicht Schaden und Gefahr des eigenen Kreises. Dann gesellt sich freundlich der Mensch |353| zum Menschen, gönnt ihm gerne den Fleck neben sich auf Gottes Erde, sieht ihn gerne neben sich gedeihen, ja, freut sich dessen wie seiner selbst. Ungestört lebt jeder seiner Bestimmung, trägt und wird getragen und in kleinerem und größerem Kreise erscheint das Bild, zu dem Gott die Welt schuf, das Bild der ungestörten Entfaltung des Gesamtlebens, das Bild des Scholaúms )‫(שלום‬, des Friedens. – Wenn aber diese Züge feindlich sind, wenn sie den Bruder als des andern Lebenskreis vernichtend oder bedrohend zeigen, dann kehrt Hass ein, Hass, der auf Gottes weiter Erde nicht Raum findet für zwei Menschenwesen, Hass, der brütend sitzt über zu Grabe gegangene Vergangenheit und grübelt über die Schrecken, die drohen, – Hass, der das eigene Leben für nichts achtet, so lange der Gehasste Leben noch hat, – Hass, der sich selber vernichtet, wenn nur mit ihm das Gehasste in Vernichtung sinkt, – da schüttet Gott umsonst die Fülle seiner Segnungen aus. Die Menschen verkehren sie sich selber in Fluch, da ist Scholaúm geflohen. Statt eines schönen Kranzes des Friedens, worin jeder sich freut, durch eigene Zier den andern zu zieren, durch eigenes Leben des andern Leben zu verschönen, stehen die Menschen wie feindliche Dornen einander gegenüber )‫(שנאה‬, im Innern Verderben des andern brütend )‫(איבה‬. Also gebrochen die Kette, die den Menschen zum Menschen einen soll, – zerstört liegt Gottes Welt und Hass und Zwist walten zerstörend darin, von Menschen selber geladen, und erzeugen Raub und Mord und jegliches Verderben. Und gleichviel, ob in dem Allkreis der Menschenwelt, oder in einem der kleineren Kreise dieser Welt, in einem Lande, einer Stadt, einer Gemeinde, einer Familie, einem Hause, einem Freundschaftskreis, der zwei Menschengemüter umfängt. – Ruft darum Gottes Lehre Wehe  ! über dich aus, wenn du Makel wirfst an deines Bruders Bild in seines Bruders Ge- |354| müt, also wenn du Bösrede führst, so ruft sie dreimal Wehe  ! über dich aus, wenn du dich zum Unglücksengel umwandelst und irgend einem 168

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Menschen erzählst, was irgend ein Mensch Gehässiges über ihn gesprochen oder gedacht, auslöschest die freundlichen Züge des Bruderbildes und feindlich sie gestaltest, – oder auch nur unterhältst die feindlichen, statt durch Segensbemühen sie allmählich in freundliche umzuwandeln zu streben. – Dreimal Wehe  ! über dich, wenn du – selbst mit der Wahrheit – den Frieden scheuchst aus Land und Stadt, aus Familie und Haus, aus zwei Menschengemütern, die ohne dich friedlich gelebt oder bald wieder mit deinem Segensbemühen den Frieden gefunden hätten. Dreimal Wehe  ! über dich  : Du stehst als Feind da des Menschenglücks, als Feind da in Gottes Welt. Du bist der Fluch deines Kreises, vernichtet ist durch dich Einigkeit und Friede, Zutrauen und Liebe, Bedingungen jedes menschengesellschaftlichen Kreises und in deinem Gefolge Hass und Zwietracht, Fehde, Rache, Unglück und Ver­brechen. Du musst verschwinden aus dem Kreis der Menschen, wenn Heil wiederum einkehren soll. Darum hüte dich, dass du nicht Kaúrach wirst in deinem Kreis  ! Und nun – wenn so schrecklich ist die Sünde der Böszunge, so Verderb­liches sie bringt für Menschenleben und Tugend, Glück und Frieden, willst du gleichwohl nicht Acht haben auf deine Zunge, willst sprechen, was dir wohl gefällt, und selbst wenn es Ehre und Friede tötet entschuldigen  : Du habest es so bös nicht gemeint, habest gedankenlos zum Zeitvertreib ohne böse Absicht – bös geredet  ?  ! – Dürfen Menschen also mit Menschen-Glück und Frieden spielen  ? Tödlicher als der spitze Pfeil ist das Böswort, und da willst du ihn abdrücken, den Wortpfeil, und wenn er getroffen und wenn er getötet, kalt dich beruhigen  : Ich habe ja nur gespielt  !  !  ! Also warnt schon Jahrtau- |355| sende der Weisheit Wort – und warnt vergebens. Seit Jahrtausenden steht der Bösredner von deinen weisen Vätern als Gottesleugner gebrandmarkt, weil er den Richter leugnet, der auch ein flüchtiges Wort und flüchtigen Gedanken richtet, – ist die Bösrede ärger als Götzendienst, Unkeuschheitsverbrechen und Mord bezeichnet,  – ist dem Bösredner Anspruch auf Frieden der künftigen Welt abgesprochen, weil er den Frieden in dieser Welt gemordet, – und vergebens. Seit Jahrtausenden vergebens also genannt, bezeichnet und abgeurteilt, denn es wuchert noch heute keine Sünde mehr als diese. – Jüngling und Jungfrau, du, der du zum Jissroelleben erstarken willst, mit Fliehen dieser Sünde beginne die Selbsterhebung, eben weil sie so allgemein verbreitet, so leicht geübt wird, so wenig geachtet ist, so leicht Gelegenheit findet, – und doch so verderblich, so schrecklich ist. Sei Meister deiner Zunge  ! Nur der weisen, verständigen, heilbringenden Rede sei es geweiht, das göttliche Wort, – und wo du die nicht führen kannst – schweige  ! Schweigen lernt, Jünglinge und Jungfrauen meines Volkes, schweigen lernt, – und weist man euch als langweilige Gesellschafter zurück, weil eure Zunge nicht geläufig ist, Schwäche und Makel, Torheit und Sünde eurer Brüder und Schwestern witzig zum allgemeinen Besten zu geben, – lieber seid langweilige Gesellschafter, als zur Kurzweil Ehre und Frieden der Menschen töten zu können. Gesellschaften  ? Ja freilich ist es was Herrliches, wenn Menschen, ihrem Gewerbestreben enthoben, in dem ihnen nur das eigene Selbst Ziel ihres Wirkens ist, zusammen sich gesellen und in gemeinsamem Gespräch eine Lebensangelegenheit als gemeinsames Interesse besprechen und den Gemeinsinn wieder beleben, den das einzelne Brotstreben zurückgedrängt. Herrlich, wenn also Gesellschaften den Menschen dem Men169

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schen nähern und im Menschen den Bruder lehren. Dann sind Gesellschaften Hilfskreise der Gesamt-Menschengesellschaft. Wenn aber, statt ent- |356| fesselt zu sein vom Einzelstreben, man mit hinüber nimmt diese Selbstsucht in die Gesellschaft, ja dort noch entfesselter sie ausartet, und statt brüderlich zu schließen das brüderliche Band das niedrige Gemüt zur Erhöhung des kleinen Selbsts den Bruder bis zur Vernichtung verkleinert und nur die behagliche unbesorgte Ruhe den Einigungspunkt der Gesellschaft bildet, mit der man, spielend, zur Ertötung der Ehre und des Friedens eines Abwesenden beiträgt und an jedem Gegenwärtigen Makel abliest zur anderweitigen Gesellschaftslust, – Jüngling und Jungfrau  ! solche Gesellschaften, in denen der Mensch sich zur Kurzweil satanisch vergnügt – solche Gesellschaften meidet. Sie sind der Ruin der Gesellschaft. – Solchen Spieles seid nicht fähig  ! Und auf dass ihr nichts Böses sprecht von dem Nächsten, meidet überhaupt vom Nächsten in Gesellschaft zu sprechen, selbst Gutes nicht, ja man möchte sagen  : Das gar nicht  ; denn bei Gleichgültigem dürft ihr noch hoffen, dass eure Rede unbeachtet bleibe von niedrigen Gemütern. Mit Gutem aber setzt ihr sicherlich den Bruder zur Zielscheibe des Neides, der, zum Gegengewicht für euer Gutes, tausend Böses von eurem Bruder hervorlangen wird aus seiner Rüstkammer. – Wenn aber die gewöhnliche Bösrede in Zweiem zu wurzeln pflegt  : 1) in Unfähigkeit, außer der Brotbeschäftigung sich auch rein menschenwürdig zu beschäftigen und der daraus entspringenden Langeweile  ; 2) in der niedrigen Ge­mütsrichtung, die sich durch Verkleinerung des Nächsten zu heben strebt und sich freut, eine Schwäche oder Sünde vom Bruder nennen zu können, von der man selbst frei dasteht, so lehren unsere Weisen zur Verhütung jeden Aufkommens irgendeiner Neigung zur Bösrede  : 1) mit der Thauróhweisheit sich vertraut zu machen, dadurch einerseits stets Geistesbeschäftigung zu haben, wenn Nahrungs­beschäftigung ruht, vor allem aber, dadurch die umfassende |357| Aufgabe des Lebens kennen zu lernen, die Abscheu bringt vor solchem Treiben, und im Broterwerb nur Mittel zeigend, Ziel des Lebens aber Verwendung des ganzen Lebens in tätigem Gottesdienst keinen müßigen Augenblick lässt, der solch gefährlichem Spiel mit Ehre und Ruhe des Nächsten gegönnt sein könnte  ; 2) bescheidene Demut sich anzueignen, die viel zu viel Schwächen an sich kennt, als dass sie die eine fehlende erheben könnte, viel zu viel sich der eigenen Unvollkommenheit bewusst ist, als dass sie sich zur Richterin des Nächsten aufwerfen dürfte, die endlich viel zu sehr mit Selbstbearbeitung zum ewigen Selbstfortschritt be­schäftigt ist, als dass sie Zeit hätte zu müßigem Bemerken und Besprechen der Fehler des Nächsten. – Doch auch selbst für Ehre und Friede Gleichgültiges, das du von deinem Bruder gehört oder gesehen, darfst du nicht weiter erzählen, wenn du nicht fest überzeugt bist, er wünsche es weiter erzählt zu wissen oder er­laube es doch. Was Derartiges einer in Gegenwart Dreier getan oder gesprochen ohne Wunsch der Verschwiegenheit, ist als öffentlich geschehen zu be­trachten und darf weiter erzählt werden. Es hat dies jedoch auf Ehrenrühriges oder Friedenstörendes keinen Einfluss. –451 451 Vgl. '‫רמב'ם' הלכות דעות פ' ז‬

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20. Samson Raphael Hirsch, Die Missachtung anderer (1837)

Falsches Zeugnis )‫(עדות ומשפט‬452 So wie Haschem nicht dem Einzelnen, sondern der nicht sterbenden Ge­samtheit das Gesetz erteilte und aus den Händen der Gesamtheit der Einzelne die Thaurúh verbürgt erhält zur Richtschnur seines Lebens, also soll auch die Gesamtheit durch ihre Vertreter wachen über das Leben des Einzelnen, dass er nicht abweiche von jener Richtschnur, und wenn er abgewichen, an ihm das in Erfüllung gehen lassen, was eben das Wort der Gerechtigkeit ausspricht. Jene Vertreter der Gesamtheit als Träger des Gesetzes sind die Richter. Sie sollen der |359| Mund sein für die sprachlose Gerechtigkeit. Ihr Beruf ist die Anwendung des allgemeinen Gerechtigkeitsausspruchs auf jeden vorkommenden einzelnen Fall, und nur in so fern diesem Beruf der Richter treu bleibt, ist sein Wort Macht. Aber erst nach gesprochenem Wort, nach vollbrachter Tat steht der Einzelne vor dem Richter, und das Wort ist flüchtig, und die Tat selbst nur noch aus ihren Folgen etwa, als etwas Geschehenes erschließbar, nicht aber geschehend zu erkennen. Wie soll man festhalten das flüchtige Wort, wie bannen die vorübergehende Tat, dass gegenwärtig sie stehe vor dem Recht sprechenden Richter  ? – Da tritt das Zeugnis auf.453 Zeuge ist, wer gegenwärtig war beim Wort, als es gesprochen, bei der Tat, als sie vollbracht wurde, mit seinen Sinnen erfasste, mit seinem Geiste festhielt die Flüchtigen, und durchs Wort wieder ausspricht vor dem Richter, was er gesehen und gehört und so dem Vergänglichen Dauer gibt. – Es gibt daher wohl nichts im menschlichen Leben, wo also das Geschick des einen in die Hände des andern gelegt ist, als das Zeugnis und Urteil, nichts, wo höher der Mensch erscheint, denn als Zeuge und Richter, nirgends heiliger darum auch die Treue und Wahrheit als da und nirgends verderblicher der Missbrauch des geschenkten Zu­trauens als dort. Denn siehe  ! Wenn schon jede einzelne Ungerechtigkeit gegen Leben oder gegen Gesundheit oder Freiheit oder Vermögen oder Ehre oder Frieden deiner Brüder so schrecklich ist, so liegen ja oft, wenn du Richter oder Zeuge bist, sie allesamt in deinen Händen, hängen von einem Worte, von einer Silbe ab, darin du abweichst von Wahrheit und Recht, – und Stütze der Welt, göttlichster Mensch stehst du da, wenn dein Wort nur Ausspruch |360| der Wahrheit ist und des Rechts. – Wir können hier nicht alle die hierher gehörigen Pflichten entwickeln, zumal da in unserm Leben sie zu üben uns wenig Gelegenheit ist. Wir merken nur die beiden allgemeinen Sätze  : 452 Du sollst nicht aussprechen wider deinen Nächsten Zeugnis der Lüge. (Ex 20,13)  ;|358| Ihr sollt kein Unrecht tun im Rechtsausspruch  ! Du sollst nicht aufnehmen das Angesicht des Armen  ! Und du sollst nicht Achtung erzeigen dem Angesicht des Großen  ! In Gerechtigkeit sollst du richten deinen Nebenmenschen  ! (Lev 19,15)  ; Nimm nicht auf nichtigen Bericht  ! Vereinige deine Hand nicht mit dem Bösewicht zu sein Zeuge der Gewalttätigkeit. –Sei nicht nach der Mehrzahl zum Bösen und sage bei einer Streitsache nicht deine Meinung vom Recht abweichend, wenn gleich nach der Mehrzahl überall zu entscheiden ist. – Und dem Armen sollst du nicht Achtung bezeigen in seiner Streitsache. (Ex 23,1)  ; Du sollst nicht beugen Rechtsausspruch deines Dürftigen in seiner Streitsache  ; Und Bestechung sollst du nicht nehmen  ; denn die Bestechung blendet die Hellsehenden und krümmt die Worte der Gerechten  ; Hört beiderseits eure Brüder  ! Und sprecht richtend Gerechtigkeit aus zwischen Mann und seinem Bruder und seinem Fremden  ! Kennt kein Angesicht im Rechtsausspruch, Klein und Groß hört an  ! Es graue euch nicht vor irgendeinem Menschen, denn der Rechtsausspruch ist Gottes. (Dtn 1,16) 453 ‫  עוד‬von ‫ עד‬,‫ עדות‬: dauern, woher ‫  עֹוד‬: noch, und ‫  עֹודד‬: Dauer geben.

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V. Fremden- und Feindesliebe

Pflicht des Richters ist es, nichts mehr zu sein, aber auch nichts weniger als reines Organ des Gesetzes, und darum sich hoch und frei zu halten über Sache und Partei. Pflicht des Zeugen ist es, treu das Wahrgenommene nur auf den Grund der Wahrnehmung auszusprechen, nicht auf Schluss, auf Vermutung, sondern auf das, was seine gesunden Sinne ihm gebracht. – Alles Einzelne jedoch, wie der Richter sich rein zu halten habe über Partei und Sache, – wie er sich selbst jeden Anlass nehmen muss, um nicht der einen Seite mehr sich zuzuneigen, – wie er, selbst wo möglich bis auf Kleidung, die Parteien sich solle gleich erscheinen lassen, um ihren Stand zu vergessen,  – wie er nicht gegen einen auch nur freundlicher und höflicher sein darf, als gegen den andern, um keinen einzuschüchtern in seinem Vorbringen,  – wie er nicht den einen hören darf ohne den andern,  – wie Bestechung geben und nehmen, nicht nur an Geld, selbst auch nur an Gefälligkeit, an Wort, an Höflichkeit, Verbrechen ist, – wie bezahlter Urteilsspruch kein Rechtsspruch ist, – und bezahltes Zeugnis kein Zeugnis, – wie auch unnötige Kostenvermehrung Beraubung der Parteien ist, – wie er die Wahrheit, wie er sie erkannt, muss furchtlos, rücksichtslos wie die Wahrheit selbst aussprechen, – und alle die übrigen herrlichen Aussprüche, die den Richter lehren in Wahrheit seinen hohen Beruf zu erfüllen  : Schirmer des Rechts und der Wahrheit und des Friedens zu sein und der Menschenwelt die Gestaltung des Segens und des Friedens zu erhalten und zu fördern, zu der Gott sie schuf, – das |361| alles versäume der nicht zur heiligen Erfüllung aus dem Chaúschen Hammischpót zu erlernen, den das Leben etwa einmal zu so hoher Pflicht berufen mochte. Fluchen. )‫(איסור קללה‬454 Wenn die Bosheit an die Beschränktheit ihrer Macht anstößt und nicht in Tat vollbringen kann die Vernichtung des gehassten Gegenstands, dann drückt sich der Wille in Wort aus,  – und die Vernichtung, die sie ausführen möchte, aber nicht kann, wünscht sie in Wort dem Gegenstand an und ruft auch wohl die Allmacht der Allliebe zum Genossen ihrer Bosheit auf, zum Werkzeug ihrer Rache. Solcher Vernichtungsausspruch ist Fluch. Schrecklich erscheint der Mensch in Vollbringung einer bösen Tat, aber noch schrecklicher und grässlich erscheint er im Fluch, eben weil er dort auf die Grenze seiner Macht gewiesen ist, hier aber unbegrenzt die Bosheit sich äußern kann, so weit Einbildungskraft – die unendliche – und der Hass nur reicht. Hier darum sich die Bosheit zeigt, wie grässlich sie sein würde, wenn sie All­macht wäre, und das Geschick in Händen trüge. – Grässlich ist darum jedes Fluchen gegen Abwesende wie Anwesende, grässlicher, wenn du die Allmacht zur Hilfe |362| deiner Ohnmacht herbeirufst, am Grässlichsten, wenn du Fluch, den Wunsch der Vernichtung über die aussprichst, denen du selber das Dasein verdankst, und über die, die dir die Gesamtheit vertreten, durch die du bist, was du bist, über Vater und Mutter, über Richter, Obrigkeit und Fürst. – Fluche nicht  !455 454 Du sollst nicht dem Tauben fluchen. (Lev 19,14)  ; Richter sollst du nicht fluchen. (Ex 22,28)  ; Und wer Vater und Mutter flucht, soll getötet werden. (Ex 21,18) 455 ‫ ח"מ‬27.; ‫ י"ד‬241.

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21. Samson Raphael Hirsch, Hass und Rache (1837)456 Hass )‫ (שנאה‬457 Hass ist das Gefühl, dass das Dasein irgendeines Wesens unserem eigenen Dasein hinderlich sei, seine Vernichtung unser Dasein ergänzen würde. Mit anderen Worten – sich nicht ganz fühlen, so lange noch dies oder jenes da ist. – Es ist das Gefühl Tod, ja Umkehrung des menschlichen Herzens, das Gott zum allweiten Allumschluß aller Wesen geschaffen und das nun ein oder alle Wesen bis zum Wunsch ihres Nichtdaseins ausschließt, und nur sich umschließt, d. h. Stein wird. – Sobald du darum Hass gegen irgendein Wesen in dir aufkeimen siehst, sei überzeugt, du habest deine Lebensstufe eingebüßt. Trauriger Vorzug des Menschen  ! Alle Wesen buhlend lie­ben – und Wesen der eigenen Gattung hassen zu können  ! Es ent- |75| steht aber Hass zwischen Mensch und Mensch dadurch  : 1) dass einer wirklich mit frevelndem Wort oder frevelnder Tat den andern beeinträchtigt, also wirklich sein Dasein gefährdet hat  ; 2) dass beide in Erstrebung eines und desselben Guts sich be­gegnen, also sich scheinbar gegenseitig beschränken. – Das Gefühl soll nie in deinem Herzen gegen irgendeinen Menschen weilen. Es ist ja dein Bruder, Kind desselben Gottes, mit gleichen Ansprüchen ans Leben von Ihm ins Leben gesetzt. Wenn du ihn hasst, ihn weg wünscht, so hasst du, wünscht du auch Gottes Hand weg, die die Brüder neben dich gesetzt, auf dass du als Bruder sie achten sollst. – Selbst im Beleidiger vergiss nicht, dass es dein Bruder sei, – bedaure ihn, dass dein Bruder sich so verirren konnte, stelle ihn zur Rede, – und vergiss. Aber vor allem bedenke  : Ist’s nicht überhaupt nur Wahn, nur Lüge, dass das Dasein irgendeines Menschen deines beeinträchtige, seine Vernichtung zu deinem Heil notwendig wäre  ? Sind es denn Menschen, bist du es, ist er es, die ihr euch die Güter des Lebens verschafft  ? Könnt ihr mehr tun, als bloß das Samenkorn des Fleißes säen und den Sonnenstrahl des Segens von Oben er­warten  ? Ist’s denn nicht Gott, der der Verteiler aller Lebensgüter ist, Segen spendet oder Fluch den Bemühungen der Menschen  ? Und ist dessen Hand zu kurz, seine Liebe zu karg, dich und noch Millionen Brüder neben dir ins Leben zu führen, zu erhalten und des Lebens froh zu machen  ? Muss Er dir denn entziehen den Segen, den Er dem Bruder neben dir erteilt  ? Und wenn nun vernichtet wäre der Bruder – hinge nicht auch dann noch dein Gedeihen eben so von desselben allmächtigen Gottes Walten ab wie |76| jetzt  ? – O, wenn du es doch beherzigtest, wie die Anerkennung, die Gott dir bestimmt, dir wird, die Stelle, die Er dir bestimmt, die du einnehmen wirst, und du erhalten wirst die Summe von Gütern, die Er dir bestimmt. Und wenn auch Millionen neben 456 [Samson Raphael Hirsch, ‫ שמשון רפאל הירש‬Versuche über Jissroëls Pflichten in der Zerstreuung zunächst für Jissroëls denkende Jünglinge und Jungfrauen. Altona  : Hammerich 1837, 74–77 [§ 113–118]  ; 580–582 [§ 581]. Die Einteilung in Kapitel und Paragraphen im Original ist aufgehoben worden.] 457 Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Herzen. (Lev 19,17)

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V. Fremden- und Feindesliebe

dir nach Gleichem streben  : Was dir nicht wird, wird dir nicht deshalb nicht, weil auch ein anderer danach strebt, sondern weil Gottes weise Waltung dir’s nicht bestimmte. – Siehst du nicht, wie der Brot-, Ehre- und Glücks-Neid, der dich deinen Bruder hassen lässt, Gottesleugnung ist, Leugnung ist, dass Ein Gott es ist, dessen allgerechte Liebe allmächtig waltet über jeden Menschen und die Geschicke der Menschen bestimmt  ? – Neben Millionen Glückssaaten lege auch das Samenkorn deines Glücks und bete zu Gott, dass sie alle aufgehen zum Heil aller. Er ist reich genug an Liebe und Macht, solch reines Gebet zu erfüllen. Aber – es hat das Frevelwort, die Frevelhand deines Bru­ders die Fackel der Zerstörung in deines Lebens Glücksgebäude geworfen – sollst du ihn da nicht hassen  ? – hassen  ? Nein  ! Auch da verehre Gottes Waltung, die hoch über der Fas­sung menschlichen Gedankens des Bösen Verbrechen, Strafe und Züchtigung des zu Bessernden, erziehende Prüfung des Erziehungsfähigen sein lässt. Konnte vernichtet werden dein Glücksbau, wenn Gott es nicht zugelassen  ? – Würde es nicht vernichtet worden sein, wenn auch kein Verbrecher sein Verbrechen zum Werkzeug geliehen  ? Du nimm wie anderes Leiden auch solches hin aus Gottes Händen und benutze es zur eigenen Besserung oder Vollendung. Harre Gottes, der von Nacht zum Morgen, von Leiden zur Freude, vom Tode führt zum Leben. Ihm überlasse es, dass er dem Bösen des Bösen zeihe, – aber hasse nicht, – sündige nicht durch Hass. – Hat er denn dir gesündigt  ? das Deinige dir zertrümmert  ? |77| Hat er nicht gegen Gott gesündigt und an Gottes Heiligtum gelegt die frevelnde Hand  ? Das Böse hasse – aber nicht den Bösen. Nur da, wo ein Böser also sich mit dem Bösen vereint hat, dass er selbst dir als Quelle des Bösen dasteht, da wird’s schwer, das Böse vom Bösen auszuscheiden, den magst du hassen, – du hasst in ihm das Böse nur. – Ein solcher ist aber der, der vor dir als unverbesserlich, mit Bewusstsein und Absicht Böses übender Böse dasteht, von dessen Unverbesserlichkeit und Absichtlichkeit du dich durch wiederholtes, er­folgloses Warnen und Mahnen überzeugt hast. Vor allem aber der Verführer, der nicht nur selber bös den Keim des Bösen in andere legt und großzieht und entfaltet, Sittlichkeit und Göttlichkeit auch nur in eines Menschen Seele ertötet, ja nur zu ertöten sich bemüht, den hat der allliebende Gott selbst von der Liebe und dem Erbarmen des Menschenherzens ausgeschlossen, den darfst du nicht lieben, denn in ihm liebtest du die Sünde selber, zu deren Handlanger er sich geweiht.458 Rache. )‫(נקמה‬459 Aus dem großen Liebeszirkel, in den Gott alle deine Brüder zu dir ruft, schließe du keinen aus, am allerwenigsten den, der Unrecht dir getan, an Gesundheit, Vermögen, Ehre, Frieden, |581| Freude dir geschadet. – Nicht nur nichts Böses vergelte ihm, sondern Liebe erzeige ihm, die Liebe, die er ja nicht erst verdienen soll um dich, die Liebe, die Gott für ihn, als für sein Kind, von dir fordert. – Und übst du Liebe gegen ihn, übe sie aus vollem Herzen und gedenke dabei nicht seiner Lieblosigkeit gegen dich, dass du etwa in Wort oder in 458 Dtn 13,9 459 Du darfst dich nicht rächen  ! (Lev 19,18)  ; Triffst du den Ochsen deines Feindes oder seinen Esel verirrt, bring’ ihn, bring’ ihn ihm zurück (Ex 23,4)

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21. Samson Raphael Hirsch, Hass und Rache (1837)

Gedanken nur dich mit ihm vergleichst und zu ihm oder zu dir sprichst  : Siehe, ich bin ja nicht wie du  ! – Wisse es, Mensch mit dem heißen Blute, mit der gleich zur Rache gehobenen Hand, mit dem gleich zur Erwiderung ge­spitzten Wort, mit der gleich zur Vergeltung fertigen Tat, wisse es  ! wenn das gemordete Leben, wenn die zerrüttete Gesundheit, wenn der verstümmelte Körper, wenn das geschmälerte Vermögen, wenn die gekränkte Ehre, wenn die getrübte Freude, wenn der gescheuchte Friede deines Bruders, die du deiner Rachelust geopfert, wenn sie zu Gott aufschreien, oder, Mann mit dem Nachtgemüte, der du den Bruder, dem Hilfe von dir hätte werden können, dumpf von dir gewiesen, weil er dir nicht Liebe, weil er dir Hass geübt und seine Träne zu Gott weint – wisse es  ! in Gottes Richterauge wirst du nicht frei dein Auge aufschlagen und dich entschuldigend sprechen können  : „War er mir doch so  !“ Es war Mein Kind, spräche Gott, das du lieben solltest, weil du Mich liebest, nicht weil es dich liebt. – Und Vergeltung  ? War es dir etwa, dass er gesündigt  ? Was ist denn dein, das er beeinträchtigen konnte, das nicht Mein vielmehr ist, und wer gab dir Schwert und Waage Meiner Gerechtigkeit in Händen  ? – Wer, sprechen die Weisen, Unrecht leidet und nicht Unrecht tut, Beleidigungen hört und nicht erwidert, Pflicht aus Gottesliebe übt, und auch der Leiden als Erziehung und Prüfung sich freut, von ihm heißt es  : „Und die Ihn lieben – wie die Sonne hervorbricht mit ihrer heilenden Kraft,“ also sie aus der Hasser, der Neider und der Feinde Gewölk, siegend durch die Lichtkraft der Liebe, die ihnen |582| innewohnt. „Wahnsinniger  !“ aber rufen sie dem entgegen, der zur Rache sich anschickt, „wenn deine Linke die Rechte verwundet, soll dir aus Rache die Rechte die Linke verwunden“ und ist dein Bruder minder ein zu dir gehöriges Glied  ? Sind wir nicht alle Genossen eines Bundes, Kinder eines Hauses, Glieder eines Körpers, webt nicht in uns allen Ein göttlicher Hauch  ? Leiden wir nicht einer in des anderen Leiden, kranken in des Bruders Kränkung – und willst du so aus Rache dich selber verstümmeln  ? – Schauen wir auf Gott  ! Lernen wir von Ihm Unrecht verzeihen, von Ihm Bösen Gutes erzeigen, schließen wir unsere eigene Rechnung mit Gott ab, ehe wir mit dem Bruder rechten, und zeigt uns die eigene Rechnung uns nur von Gnade, von unverdienter Liebe getragen, so seien wir dem Bruder das, was Gott einem jeglichen von uns ist, und vergessen wir nicht, dass, was auch der Bruder uns geraubt, er uns nimmer so Hohes rauben konnte, als wir uns selber in dem rächenden Wort, in dem rächenden Schlag, in der rächenden Tat rauben. Vergängliches, Äußeres nahm er uns. In der Rache nehmen wir Ewiges, Inneres, Göttliches uns, denn wir hören auf, Nachbild unseres Gottes zu sein. –

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VI. DIE DEBATTE UM DIE TODESSTRAFE

22. Heinemann Vogelstein, Über die Abschaffung der Todesstrafe (1868)460

|87| Das heiligste aller Bücher, die Bibel, hat unstreitig auch das eigentümlichste Schicksal von allen erfahren. Oder ist es etwa nicht ein ganz besonderes Schicksal dieses Buches, dass seit Jahrtausenden seine Aussprüche zitiert werden einerseits zur Empfehlung alles Guten und Edlen, zur Förderung friedfertiger, liebevoller Gesin­nungen, und andererseits zur Erregung von Hass und Streit, zur Rechtfertigung von Grausamkeiten und Gewalttaten aller Art, zur Unterdrückung von Recht und Frei­heit  ? Mit der Bibel in der Hand treten die Vorkämpfer wahren Fortschritts kühnen Muts den lichtscheuen Bestrebungen ihrer Feinde entgegen und mit dem Hin­weis auf dieselbe Bibel wird der nur zu oft vom Erfolg gekrönte Versuch gemacht, jeden Fortschritt zu hemmen, sich der Einführung gerechter und heilsamer Zustände zu widersetzen, der Aufrechterhaltung veralteter und ver­ derblicher Einrichtungen Vorschub zu leisten. Wenn wir den Grund dieser seltsamen Erscheinungen zu erforschen uns bemühen, so dürften wir ihn – abgesehen von den Fällen, in welchen Böswilligkeit und Unehrlichkeit einzelne Verse aus der heiligen Schrift absichtlich ihrem Zusammen­hange entreißt und ihnen dadurch einen unrichtigen Sinn unterschiebt  – vorzugsweise in dem Umstände finden, dass man teils aus Unkenntnis, teils aus einer falschen Pietät viele in der Bibel unter bestimmten Voraussetzun­gen und für bestimmte Verhältnisse erlassene Vorschriften und Anordnungen ohne weiteres auf unsere völlig ver­änderten, ja oftmals geradezu entgegengesetzten Zustände anwenden zu können vermeint. Dies gilt in ganz besonders hohem Grade von allen in das Gebiet der Politik und des öffentlichen Rechts einschlägigen Bestimmungen der heiligen Schrift, und es heißt geradezu die Bibel in den Augen des Volkes herabwürdigen, wenn man, wie es noch jetzt in den meisten Staaten Europas von klerikaler |88| Seite geschieht, mit Bibelversen die Notwendigkeit oder Schädlichkeit einer politischen Maßregel zu beweisen sucht. Es trägt sicherlich nicht zur Hebung des Ansehens der Bibel bei, wenn man beispielsweise eine nach den heutigen Anschauungen völlig erlaubte Opposition gegen die Regierung eines Landes oder eine Kritik ihrer Maßnahmen durch den Hinweis auf die heilige Schrift, welche Gehorsam gegen die Staatsbehörden lehre, als gottlos und sündhaft darstellt. Diejenigen, welche so eifrige Klage führen über den Mangel an Religiosität, der unserer Zeit anhaftet, sind oftmals nicht frei zu sprechen von dem Vorwurfe, durch allzu großen Eifer für die Religion und durch willkürliche Erweiterung der Grenzen der Religion zum Verfall derselben wesentlich beigetragen zu haben. Wir sind nicht gewillt, an dieser Stelle das Thema über die Grenzen der Religion und Politik erschöpfend zu behan­deln, wollen aber an einem eklatanten Beispiel, der Frage über Abschaffung oder Beibehaltung der Todes­strafe, nachzuweisen versuchen, dass ohne große Vor­sicht und vor allem ohne genaue Kenntnis der biblischen Institutionen das Hin460 [Heinemann Vogelstein, Über die Abschaffung der Todesstrafe vom mosaisch-talmudischen Standpunkte. Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (Frankel), 17/1868, 87–97]

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

einziehen religiöser Momente in die Tagesfragen zu Unzuträglichkeiten, zu falschen, dem Geiste der Bibel direkt widersprechenden Schlüssen führt. Eklatant nennen wir dieses Beispiel, weil es auf den ersten Blick den Anschein hat, dass in dieser Frage – wir sprechen nur von der auf Mord gesetzten Todesstrafe – die Zeitumstände nichts geändert hätten und daher die biblische Vorschrift und Auffassung hierbei noch völlig maßgebend wäre. Der Mörder steht zu der menschlichen Gesellschaft noch heute in demselben feindlichen Verhält­nisse wie zur Zeit der mosaischen Gesetzgebung  ; warum sollte ihn nun nicht auch die Strafe treffen, die nach dem geoffenbarten Gesetze auf sein Verbrechen gesetzt ist  ? Diese mit einem gewissen Anschein von Berechtigung ausgesprochene Ansicht hören wir nicht nur aus dem Munde von Theologen, auch Juristen neigen derselben zu, und ein neuerer Kriminalist  – Professor Hälschner in Bonn461  – hat unumwunden erklärt, dass über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ein genügendes Urteil vom |89| Standpunkte der Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie überhaupt nicht gefällt werden könne. Das könne vielmehr nur geschehen, nachdem zuvor mehrere theologische Vorfragen erörtert worden seien. Wir teilen diese Ansicht nun ganz und gar nicht, sind vielmehr der Meinung, dass die Lösung dieser wichtigen Frage nicht unbeträchtlich er­schwert, dass der einzig richtige Standpunkt, von dem diese Frage behandelt werden muss, nämlich der Standpunkt des Rechts, der Zweckmäßigkeit und der Huma­nität verrückt wird, wenn man das Material zur Beant­wortung derselben aus den in der Bibel speziell für den jüdischen Staat erlassenen Rechtsvorschriften entlehnt. Wenn man der Religion eine entscheidende Stimme bei der Lösung von Rechtsfragen einräumen will, so muss man jedenfalls die besonderen Verhältnisse ins Auge fassen, welche für die biblischen Anordnungen maßgebend gewesen, darf aber keineswegs sklavisch den Buchstaben der heiligen Schrift allein befragen. Ist es nun in der Tat schon ausgemacht, dass – vom religiösen Standpunkte beurteilt – die Frage über die Beibehaltung oder die Ab­schaffung der Todesstrafe notwendig im Sinn derer beantwortet werden muss, welche sich der Aufhebung der Todesstrafe feindlich entgegenstellen  ? Es leuchtet ein, dass der kurze Wortlaut der heiligen Schrift uns nicht in den Stand setzen kann, hierüber ein richtiges Urteil abzugeben, dass wir vielmehr die praktische An­wendung, welche das biblische Gebot gefunden, die Art und Weise, wie es zur Ausführung gebracht wurde, und endlich die besonderen Verhältnisse berücksichtigen müssen, für die es gegeben ist. Aufschluss hierüber können uns nur der Talmud und die rabbinischen Schriften geben, die das Strafrecht der Juden behandeln, und wir lassen des­halb die wichtigsten Bestimmungen über die Anwendung der Todesstrafe nach talmudischen Grundsätzen462 hier folgen. |90| Auf vorsätzlichen Mord stand als gesetzliche Strafe der Tod. Keine Zufluchtsstätte war dem absichtlichen Mörder gewährt, ja selbst der Altar des Herrn bot ihm keine Frei461 [Hugo Hälschner, Das preußische Strafrecht. Zweiter Theil  : Den allgemeinen Theil derselben umfassend. Bonn  : Marcus 1858, 150] 462 Nach „Frankel, Der gerichtliche Beweis“. [Zacharias Frankel, Der gerichtliche Beweis nach mosaisch-talmudischen Rechte  : ein Beitrag zur Kenntniss des mosaisch-talmudischen Criminal- und Civilrechts. Nebst einer Untersuchung über Gesetzgebung hinsichtlich des Zeugnisses der Juden. Berlin  : Veit 1846]

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22. Heinemann Vogelstein, Über die Abschaffung der Todesstrafe (1868)

stätte. Aber zur Verhütung von Justizmorden hatte die Schrift die ausdrückliche Bestimmung erlassen, dass die Todesstrafe nur dann zu erkennen sei, wenn zwei Augenzeugen alle wesentlichen Momente der Tat mit angesehen hatten und den Verbrecher bestimmt wieder erkannten.463 Außerdem hat es die Bibel an verschiedenen Stellen464 den Richtern ans Herz gelegt, ein sehr strenges Zeugenverhör vorzunehmen, sodann die falsche Zeugenaussage mit derselben Strafe geahndet, die auf das bezeugte Verbrechen gesetzt war, und endlich den Zeugen aufgegeben, bei der Hinrichtung zugegen zu sein und das Urteil vollstrecken zu helfen. Nebenbei erwähnen wir noch, um falschen Anschauungen und Vorurteilen entge­genzutreten, dass von einer grausamen Hinrichtung in der Bibel nirgends die Rede ist, dass qualifizierte Todesstrafen, langsame, martervolle Exekutionen nicht gestattet waren, dass eine Verstümmelung der Leiche, ja, eine längere Zurschaustellung derselben als eine Entwürdigung des im Ebenbild Gottes erschaffenen Menschen betrachtet wurde, und dass auch der Verbrecher als unser Bruder angesehen werden sollte. Standesunterschiede gab es im Judentum nicht, ein Recht galt für alle, kein Amt und keine Würde schützte den Verbrecher. Rechtlos war niemand, auch der Sklave nicht, und der an einem Sklaven verübte Mord zog ebenso die Todesstrafe nach sich wie die Ermordung eines freien Mannes. Aus dem bisher Gesagten erhellt zur Genüge, dass eine strikte Befolgung der Vorschriften der heiligen Schrift die praktische Anwendung der Todesstrafe auf die allerseltensten Fälle reduzieren musste. Das Verbrechen schleicht im Dunkeln, die Gegenwart von Zeugen lässt den ver­brecherischen Gedanken nicht zur Ausführung kommen |91| und die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten musste eine so vollkommene, eine – wir dürfen sagen – fast untrügliche sein, wenn das „Schuldig“ ausgesprochen werden sollte. Und doch war der Gewissenhaftigkeit und ängstlichen Sorgfalt der späteren jüdischen Gesetzeslehre und Gesetzesbücher für das Leben des Angeklagten selbst durch diese Bestimmungen noch nicht Genüge geleistet. Die Bibel verlangt bei der Aburteilung eines Verbrechers nicht bloß den Nachweis der Culpa, sondern auch des Dolus, und dieser wird nach der Anschauung der Talmudisten erst dann für völlig geführt erachtet, wenn der Verbrecher vor der Ausübung seiner Tat ausdrücklich gewarnt und auf die für seine verbrecherische Handlung angesetzte Strafe aufmerksam gemacht worden war. We­nigstens hat die talmudische Spekulation zu diesem Re­sultat geführt und wenn auch nicht mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass zur Zeit, als das Strafrecht der Juden noch praktische Geltung hatte, die vorherige Ver­warnung des Verbrechers bei einem so schweren und von dem moralischen Gefühl eines jeden Menschen gleich sehr verurteilten Verbrechens wie der Mord als unerlässliche Bedingung zur Schuldigsprechung anerkannt wurde, so zeugt doch der Umstand, dass die Forschung zu einem solchen Resultate gelangen konnte, unserer Überzeugung nach unwiderleglich dafür, dass die Ge­setzeslehrer von der Zweckmäßigkeit der Todesstrafe keine hohe Meinung hatten, und dass sie, trotz ihrer überaus großen Verehrung für die biblischen Gebote, es mit ihrem religiösen Gewissen vereinigen zu können glaubten, das biblische Gebot möglichst zu modifizieren, ja, dass sie im Sinne der 463 [im Original  : recognoscirten] 464 Dtn 17,7  ; Dtn 19,19

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

heiligen Schrift zu handeln sich bewusst waren, wenn sie die bereits sehr verklausulierten Bestimmungen über die Anwendung der Todesstrafe noch mehr einschränkten. Sicherlich ist auch aus diesem Gesichtspunkt das Gesetz hervorgegangen,465 nach welchem die Todesstrafe an dem Mörder in dem Falle nicht zu |92| vollziehen sei, wenn der Ermordete nicht lebensfähig gewesen, wenn er mit einer Krankheit behaftet war, die notwendigerweise auch ohne gewaltsame Tötung in kurzer Zeit sein Ende hätte herbeiführen müssen. Die menschliche Gesellschaft war ja dann in Wahrheit nicht durch das verübte Verbrechen um ein Mitglied beraubt worden, Grund genug, um in einem solchen Falle die Strenge des Gesetzes nicht zur Anwendung zu bringen. Desgleichen soll nach talmudischem Grundsatze das Todesurteil nicht gesprochen werden, wenn der Tod des Mörders auf naturgemäßem Wege in Folge einer Krank­heit in kurzer Zeit eintreten muss. Denn wenn die Welt ja ohnehin durch die Hand der Vorsehung von diesem gemeinschädlichen Verbrecher befreit wird, weshalb soll die weltliche Gerichtsbarkeit durch eine gewaltsame Hinrichtung ihn um wenige Tage oder Wochen früher ins Grab befördern  ? Die Abneigung gegen die Todesstrafe war so groß, dass man das häufige Sprechen eines Todesurteils einem Gerichtshof als Vorwurf anrechnete. In der Mischna wird das Tribunal, das in sieben, und nach der Meinung eines Lehrers sogar in siebzig Jahren ein Todesurteil gesprochen, ein verderbliches (mörderisches) genannt. Ja, zwei berühmte, mit hoher Autorität be­kleidete Gesetzeslehrer, Rabbi Akiba und Rabbi Tarfon erklären ganz unumwunden, sie würden als Mitglieder eines peinlichen Gerichtshofs niemals die Todesstrafe verhängt haben. In dem Munde des Rabbi Akiba hat ein solcher Ausspruch eine ganz besondere Bedeutung. Wir dürfen ihn nicht als bloßes Resultat der Spekulation betrachten, das in der Praxis keine Anwendung gefunden haben würde. Rabbi Akiba war bekanntlich ein begeis­terter Anhänger Bar Kochba’s und zählte mit zu den Leitern des blutigen Aufstands, der unter Hadrian den Juden ihre politische Selbstständigkeit wieder verschaffen sollte. Er hegte die feste Hoffnung, den jüdischen Staat in seinem vollen Glanze wieder hergestellt und demzufolge auch das Kriminalrecht der Juden wieder in praktische Wirksamkeit treten zu sehen. Wenn er daher den erwähn­ten Ausspruch tat, so bezeichnete er damit die Norm, |93| nach welcher er in wenigen Jahren zu handeln entschlossen war. Und wenn auch die meisten Talmudlehrer dem Rabbi Akiba in diesem Punkte nicht zustimmen, so müssen wir doch allen nachrühmen, dass sie eine Ver­minderung der Todesstrafe sämtlich angestrebt, dass sie den Satz der heiligen Schrift die Gemeinde suche den Angeklagten zu retten in seiner weitesten Ausdehnung zur Geltung gebracht haben. Bevor wir jedoch aus dem Gesagten die Nutzanwen­dung für unsere Zeitverhältnisse ziehen, müssen wir einen dunklen Punkt beleuchten, der das ganze Straf­recht der Juden illusorisch zu machen scheint. Die Todes­strafe wurde, wie erwähnt, nur auf das durch Augen­zeugen bewiesene Verbrechen verhängt. Der vollkommenste Indizienbeweis, ja Selbstgeständnis, zogen die Todes­strafe nicht nach sich. Soll denn aber in einem solchen Falle das Verbrechen straflos bleiben  ? Darf die Rücksicht auf einen bei dem vollständigsten Indizienbeweis immerhin noch möglichen Irrtum in der Praxis so weit aus­gedehnt werden, dass der menschlichen Gesellschaft gegen heimliche Verbrecher kein Schutz ge465 bSan 78a

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22. Heinemann Vogelstein, Über die Abschaffung der Todesstrafe (1868)

währt werde  ? In der Bibel findet sich in der Tat keine Bestimmung für solche Fälle und man hat ihr diese Mangelhaftigkeit viel­fach zum Vorwurf angerechnet. Allein man darf nicht vergessen, dass die heilige Schrift nicht einen vollständigen Kriminal-Kodex liefern wollte, sie wollte nur die Theorie, die Grundsätze feststellen, nach denen der Richter zu verfahren habe, überließ aber die Erweiterung und Aus­führung ihrer Bestimmungen dem Ermessen und der Ein­sicht derjenigen Behörden, welche als Wächter des Ge­setzes und Hüter des Staates eingesetzt waren. Bei der offenbaren Abneigung des Gesetzgebers gegen eine häufige Anwendung der Todesstrafe war es zur Zeit der mosai­schen Gesetzgebung ja auch kaum möglich, eine geeignete Strafe für den Mörder festzusetzen, dessen Verbrechen zwar nicht durch Zeugen, wohl aber durch Indizien er­wiesen war. Außer der Todesstrafe finden wir in der Bibel für die Übertretung der Gebote nur noch eine einmalige körperliche Züchtigung und bei unfreiwilligem |94| Morde die Strafe der Verbannung in eine Freistatt fest­gesetzt. Es leuchtet ein, dass diese beiden Strafen für absichtlichen Mord nicht ausreichen, da durch sie ja keineswegs die Unschädlichmachung des Verbrechers er­reicht wird. Gefängnisse gab es im Altertum nicht, die Organisation des Staates war noch nicht so weit ge­diehen, dass man es wagen konnte, schwere Verbrecher jahrelang gefangen zu halten. Der ganze Verwaltungsapparat des Staates war zu einfach, um dergleichen zu ermöglichen. Dieser Umstand hat unseres Erachtens wesentlich dazu beigetragen, dass in den meisten alten Gesetzgebungen auch auf verhältnismäßig leichte Verbrechen die Todesstrafe, oder – was derselben gleichkommt – die Strafe der Verbannung gesetzt war. Die jüdische Lehre wollte aber die Todesstrafe beschränkt wissen, eine Verbannung aus dem Land konnte sie ebenfalls nicht verhängen, denn das hieße ja, den Verbrecher aus der religiösen Gemeinschaft ausschließen, ihn der höchsten Segnungen der Religion berauben. Dies wäre vom Stand­punkt des Judentums, das auch den Sünder als Bruder ansieht, eine noch härtere Strafe gewesen als selbst der Tod. Was blieb also anderes übrig, als den Gerichten oder den vollziehenden Gewalten die Bestimmung der Strafe anheimzugeben, die sie den Zeitverhältnissen entsprechend für angemessen hielten  ? Und die Praxis wusste auch bald dafür zu sorgen, dass das Verbrechen des Mordes nicht straflos blieb, auch wenn die zur Aus­sprechung des Todesurteils erforderlichen Beweise durch Augenzeugen nicht vorhanden waren. „Wer ohne Zeugen umgebracht hat (d. h. wer durch den Indizienbeweis als Mörder überführt ist), den sperrt man in ein enges Gefängnis und verabreicht ihm spärliche Kost u. s. w.“, setzt die Mischna fest. Man suchte also die menschliche Gesellschaft auf geräuschlosem Wege von dem Verbrecher zu befreien und wandte hierbei ein Mittel an, das zwar nach unserer Anschauung der Hinrichtung fast gleichkommt, das aber unter den damaligen Verhältnissen das einzig mögliche war, wenn man einerseits die Gesellschaft schützen und andererseits das Leben des Verbrechers |95| nicht direkt antasten wollte. Hätte man Gefängnisse wie die unseren gehabt, in denen der Verbrecher unbeschadet der öffentlichen Sicherheit sein Leben zubringen und sich noch nützlich machen kann, so hätte man unbedingt die durch Indizien überführten Mörder in denselben ihre Strafe verbüßen lassen. Ja, wir gehen noch einen Schritt weiter, wir halten es für sehr fraglich, ob die heilige Schrift bei ihrer Abneigung gegen die Todesstrafe über­haupt eine Hinrichtung vorge183

VI. Die Debatte um die Todesstrafe

schrieben hätte, wenn eine anderweitige Unschädlichmachung des Mörders und zu­gleich eine Befriedigung des öffentlichen Rechtsbewusstseins zu erzielen gewesen wäre. Es zwingt uns wenigstens nichts, diese Frage ohne weiteres zu bejahen. Die den Richtern so häufig anempfohlene Vorsicht bei der Sprechung eines Todesurteils und die seltene Verhängung der Todes­strafe bieten weit eher Anlass, die Frage im entgegen­gesetzten Sinne zu beantworten. Wir finden ja in der Bibel mehrere Rechtsvorschriften, die nur durch die Rücksicht auf die damaligen Zustände zu erklären sind. So wird z. B. niemand, der in den Geist der heiligen Schrift eingedrungen ist, bestreiten können, dass sie der Sklaverei abhold ist, dass sie die persönliche Freiheit als ein hohes, unschätzbares Gut auffasst, dass sie das Auf­geben der Freiheit missbilligt,466 und dieselbe einem anderen gewaltsam zu rauben, als ein todeswürdiges Ver­brechen ansieht. Und dennoch hebt sie in Anbetracht der Zeitverhältnisse die Sklaverei nicht völlig auf, begnügt sich vielmehr damit, das Los der Sklaven zu mildern, ihr Leben, ihre körperliche und geistige Wohlfahrt zu schützen, die Zeit ihrer Knechtschaft zu beschränken und vielfache Anordnungen zu ihren Gunsten zu treffen. Eine ähnliche Beurteilung, scheint uns, lassen die so sehr verklausulierten und eingeschränkten Bestimmungen hin­sichtlich der Todesstrafe zu, und wer sich aus religiösen Gründen der Abschaffung der Todesstrafe widersetzt, ver­kennt den humanen, Liebe atmenden Geist der Schrift |96| ebenso sehr wie einige fanatische christliche und jüdische Geistliche in Amerika, die noch vor wenig Jahren zum Gelächter der ganzen gebildeten Welt die Abschaffung der Sklaverei aus religiösen Gründen für unzulässig er­klärten. Zum Schluss wollen wir – da wir ja nicht die Absicht haben, alle juristischen und politischen Gründe für oder wider die Todesstrafe hier auseinanderzusetzen, uns viel­mehr darauf beschränken, die Frage über die Abschaffung der Todesstrafe lediglich vom Standpunkt des mosaisch-talmudischen Rechts zu besprechen – noch auf einige Umstände hinweisen, welche die Vollstreckung der Todes­strafe in heutiger Zeit viel barbarischer und ungerechter erscheinen lassen, als es im jüdischen Staate der Fall war. Nach dem jüdischen Kriminalrecht wurde der Mörder, wenn die Zeugen vernommen waren und die Schuld des Angeklagten hinlänglich dargetan hatten, als­bald verurteilt, und das Urteil in der kürzesten Zeit vollstreckt. Man ersparte dem Verbrecher eine längere Beraubung seiner Freiheit, man ersparte ihm all die un­säglichen Qualen und Marter, welche ihm die Gewissheit seines Schicksals verbunden mit der Verzögerung der Hinrichtung notwendig bereiten müssen. Man befolgte aufs Strengste den Grundsatz, dass der Tod genügende Strafe für das begangene Verbrechen sei, dass die gewaltsame Hinrichtung vollständige Sühne für das Unrecht gewähre, dass es zur Befriedigung des Rechtsbewusstseins hinreiche, den Verbrecher aus der Welt zu schaffen. In jetziger Zeit hingegen hat der Mörder zuerst eine lange Untersuchungshaft auszuhalten, bis die Anklage zur Aburteilung durch die Geschworenen reif befunden wird. Nach Verkündigung des Urteils, das ihm das Leben ab­spricht, vergehen wiederum mehrere Wochen, bis das Urteil rechtskräftig geworden. Sodann unterliegt es der Bestätigung von Seiten des Staatsoberhaupts, die oftmals erst nach Jahresfrist erfolgt. Ein kleiner Formfehler führt nicht selten die Vernichtung des Urteils herbei und mit dem Verbrecher wird noch 466 Ex 21,6

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22. Heinemann Vogelstein, Über die Abschaffung der Todesstrafe (1868)

einmal das ganze weitläufige Verfahren von Neuem begonnen. Noch einmal erwacht |97| in ihm die Hoffnung auf das Leben, noch einmal wird seine Hoffnung getäuscht, und nach mehrjährigem Kerker wird ihm endlich das Glück zuteil, sein Haupt auf den Block legen zu dürfen und sein Verbrechen zu sühnen. Wahrlich  ! alle Folter- und Marterwerkzeuge, mit denen man in früheren Jahrhunderten den Verbrecher peinigte, die grausamsten qualifizierten Todesstrafen, sie verlieren das Schreckliche, das ihnen anhaftete, wenn man an die Qualen denkt, die den Mörder in dem gegenwärtigen zivilisierten Zeitalter erwarten. Kein Verbrecher, und wäre er der verruchteste Bösewicht, hat durch seine Tat eine solche entsetzliche Peinigung verdient. Die Todes­strafe, in dieser Weise zur Anwendung gebracht, verliert ganz den Charakter einer Strafe und nimmt den der Rache und Wiedervergeltung an. Vom religiösen Standpunkte kann man daher der Aufrechterhaltung der Todesstrafe keineswegs Vorschub leisten, es sei denn, dass man dem Buchstaben der Schrift zuliebe ihren Geist zu verleugnen sich nicht scheut. Wer es aber als seine Aufgabe erkennt, religiöse Belehrung dem Volke zu erteilen, humane Gesinnungen zu verbreiten, die Sitten zu mildern und Unrecht zu verhüten – der suche den Teil des Volkes, der an Bluturteilen noch Gefallen findet, der die Hinrichtung des Mörders für notwendig erachtet zur Sühne des Unrechts, um es über die vielen Unzuträglichkeiten und Ungerechtigkeiten aufzuklären, welche die Aufrechthaltung der Todesstrafe nach sich zieht. Der suche den Vorkämpfern des Fortschritts die Wege zu bahnen und sein Scherflein beizutragen zur Abschaffung eines Gesetzes, das in der Vergangenheit notwendig gewesen, in der Gegenwart aber schäd­ lich ist.

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23. Julius Fürst, Das peinliche Rechtsverfahren im jüdischen Altertum (1870)467

|33| Das [israelitische] Strafverfahren ist schon als kulturgeschichtliches Denkmal merkwürdig. Es zeigt uns, wie bei noch kräftig pulsierendem Volksleben auf dem Grunde der Bibel unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung die Rechtsidee und deren Verwirklichung in ihren Folgerungen sich entwickelte. Denn dass es nicht die Einfälle eines geistreichen Kopfes sind (obwohl sie auch als solche merkwürdig genug wären, und einen Schluss gestatteten auf das Volk und die gesellschaftlichen Verhältnisse und sittlichen Zustände, aus welchen ein Mann hervorgegangen, der dies System erdacht hätte), ist ebenso ersichtlich, als dass dieses System nicht auf einmal fertig erstanden, sondern vielmehr das Ergebnis einer langen Entwicklung, das Ergebnis der Kulturarbeit eines Volkes ist. Man zog immer mehr, je nachdem das äußere Bedürfnis Lücken entdecken ließ oder das Nachdenken Mängel und Ab-­|34| weichungen von der Rechtsidee zeigte, die Folgerungen des Systems. Theorie und Praxis förderten die Entwicklung. Aber der Gegenstand ist von weit höherer als bloß kulturgeschichtlicher Bedeutung. Er ist von großer praktischer Tragweite. Es mögen nämlich diesem Rechtsverfahren vielleicht Einwürfe gemacht werden können in Betreff der praktischen Folgen in Ver­hinderung der Verbrechen. Es mögen begründete Zweifel erhoben werden, ob in unseren Gesellschaftsverhältnissen sich dasselbe streng durchführen lasse. Aber das ist von minderer Wichtigkeit. Ein Aufpfropfen fremden Rechts ist ohnehin schon eine Unnatur, und dem Rechtsbewusstsein und somit der sittlichen Entwicklung eines Volkes nicht förderlich. Obgleich, wenn denn doch ein frem­des Recht aufgepfropft werden musste, die Einführung obigen Rechtssystems sicher einen wohltätigeren Einfluss auf die Kultur des Abendlandes ausgeübt hätte als die Einführung des römi­schen Rechtes. Das Mittelalter mit seinen sogenannten Gottesurteilen, mit seinen Hexenverbrennungen, Folterqualen und in erfinderischer Grausamkeit ersonnenen Marterwerkzeugen, die bis in das vorige Jahrhundert noch ausgesprochenen gerichtlichen Strafen des Abschneidens der Nase, Zunge, der Ohren u. s. w. Alles das, was den Menschenfreund erröten macht, wäre der Menschheit erspart worden, nicht minder die in Folge dessen ein­getretene Verwilderung des Sinnes, so dass fast jedes Mitleid erstickt war und man Hunderte von Menschenleben mit viel kälterem Blute opferte als das Leben seines Viehs. Wie vielfach man auch die Bibel und ihre Gebote zum Maß­stab der jeweiligen öffentlichen und privaten Rechtsverhältnisse genommen, meist geschah es mit dem Streben, nicht das Unvoll­kommene in den heimischen Einrichtungen und Verhältnissen zu verbessern, sondern das Bestehende um jeden Preis zu recht- |35| fertigen. Und hier liegt die Bedeutung unseres Gegenstands. 467 [Julius Fürst, Das peinliche Rechtsverfahren im jüdischen Alterthume. Ein Beitrag zur Entscheidung der Frage über Aufhebung der Todesstrafe. Heidelberg  : Bassermann 1870, 33–48]

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23. Julius Fürst, Das peinliche Rechtsverfahren im jüdischen Altertum (1870)

Man war in diesen Verteidigungen des Bestehenden durch die Bibel meist sehr unglücklich. Denn was sollte die Bibel nicht alles beweisen  ? Welche Unbilden sollten von der heiligen Schrift nicht geheiligt sein  ? Die heilige Schrift, welche den Menschen ein Ebenbild Gottes nennt, nicht die einen aus dem Kopfe Brahma’s, die anderen aus dessen Armen, die letzten aus dem Staub seiner Füße geschaffen, also nicht die einen geschaffen zum Reiten und Treten, die anderen, um geritten und getreten zu werden, sondern alle Menschen als zu gleicher sittlicher und geistiger Ausbildung, zu gleichen Pflichten und Rechten berufen erklärt,468 sie sollte – so wollte man es – ein Gebot der unbedingten und unbeschränkten Fürstenmacht enthalten. Sie sollte die Trennung der Gesellschaft in Stände mit Vorrechten weniger zum Nachteil der Mehrheit und des ganzen enthalten. Die heilige Schrift, welche in folgerichtiger Ausführung der Lehre von den gleichen Pflichten und Rechten aller nicht nur die einzelnen Menschen zur Liebe und Hilfeleistung verpflichtet und denjenigen einen Gottesleugner nennt, welcher Liebe und Wohltätigkeit tatsächlich verleugnet, sondern welche auch die Gesellschaft für verbunden erklärt, durch staatliche und gesell- |36| schaftliche Einrichtungen dem Verarmten und Hilfsbedürftigen bei­zustehen, dass er wieder zu Besitz und genügendem Auskommen gelange  ;469 welche für den Armen statt des demütigenden Mitleids die Anerkennung seines Rechtes auf ungehemmte Entfaltung seiner Kräfte und auf einen entsprechenden Lohn der Arbeit und Genuss der Lebens­güter verlangt,470 sie sollte als Grund dienen, dass man das Recht auf selbstständigen genügenden Erwerb durch jahrelanges Warten auf den Tod so vieler Vormänner, (wie nach den Zunft- und Innungseinrichtungen) erst erringe. Die heilige Schrift, welche in derselben Folgerichtigkeit die bestehende Sklaverei in ­einen sechsjährigen Mietdienst umwandelte, welche verbietet selbst den heidnischen Sklaven eines Israeliten, von dem er entflohen, seinem Herrn wieder auszuliefern, sie wurde zur Verteidigung der Skla­verei und der Leibeigenschaft missbraucht, zur Verteidigung des Zwangs zur Auslieferung flüchtiger Sklaven. 468 So heißt es Mischna mSan IV,3  : „Aus der Schöpfung eines Menschen, von welchem alle anderen abstammen, kannst du lernen, dass wer einen Menschen tötet, so schuldig ist, als ob er eine ganze Menschheit mordete  ; wer Ein Menschenleben erhält, so verdienstlich ist, als ob er eine ganze Mensch­heit erhielte  : ferner, dass nicht einer berechtigt ist zu sagen, seine Ahnen seien vornehmer, als die andrer Menschen  ; in ihnen fließe edleres Blut  ; und dass man nicht zu dem Glauben komme, die tugend­haften Menschen seien Geschöpfe des guten Gottes, die sündhaften aber des bösen Gottes  ; Ein Gott hat sie alle geschaffen, und jeder ist verantwortlich für sein Tun.“ 469 Lev 25  ; Dtn 15 470 Die Schrift bezeichnet daher „Wohltätigkeit“ mit dem Worte, welches eigentlich „Gerechtigkeit“ (Zedaka) bedeutet, was die griechische Bibel­übersetzung mit Eleemosyne (Barmherzigkeit, Wohltätigkeit, Almosen) wieder­gibt. Die Menschenliebe wird somit als eine Forderung der Gerechtig­keit, als ein Anerkennen der grundsätzlich gleichen Ansprüche des Nebenmenschen dargestellt. Der Arme hat vermöge der grundsätzlichen Gleichberech­tigung ein Anrecht auf deine und der Gesellschaft Liebe und Beistand. Die Menschenliebe, selbst in ihrem höchsten Maße, ist nun die Erfüllung einer Pflicht der Gerechtigkeit. Daher auch Hillel (30 v. Chr.) das Gebot „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev 19,18) einem Heiden dahin er­läutert  : „Was du nicht willst, dass man dir tue, das tue deinem Nächsten nicht  ;“ du willst nicht, dass man eintretenden Falles in deinen Leiden, deiner Not dich hilflos und teilnahmslos lasse  ; also tue auch deinem Nächsten nicht.“

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

Und in gleicher Weise hat man sich auf die Bibel berufen, als ob dieselbe die Aufhebung der Todesstrafe verbiete. Von diesem Gesichtspunkte gewinnt unser Gegenstand eine erhöhte Bedeutung. Wir sehen hier ein Gemeinwesen, welches |37| grundsätzlich von der heiligen Schrift als Grundlage alles privaten und öffentlichen Rechts ausging, in seiner Rechtsgesetzgebung praktisch das biblische Gebot ausdeuten. Und diese Deutung, als historisch in Geltung gewesenes Recht, darf gegenüber dem Beharren auf dem Buchstaben eine höhere Geltung beanspruchen, weil sie aus dem Volksleben und der nationalen Entwicklung hervorgegangen ist, gleichwie die aus dem ureigenen Geist eines Volkes hervorgegangenen Rechtsgewohnheiten nur im Volk selbst und in der vom Volk geübten Anwendung ihre richtige Deutung finden. Man war sich bewusst, den Geist und Zusammenhang des Schriftwortes so am besten und gewissenhaftesten zu erfüllen, wenn man in den Schriftworten Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll durch Menschen vergossen werden  ; denn im Eben­bilde Gottes schuf er den Menschen471 den Nachdruck nicht darin gefunden, dass der Mord mit dem Tode bestraft werden sollte, sondern darin, dass die Schrift erklärt, das Leben jedes Menschen als Ebenbildes Gottes sei heilig, der Mord werde demgemäß von Gott geahndet und die menschliche Gesellschaft habe ebenso die Verpflichtung, den Mord auf ’s Strengste und Wirksamste zu bestrafen. Für eine Gesellschaft in den ersten Anfängen einer Kultur – wir müssen uns erinnern, dass das Gebot an die Noachiden gerichtet ist  –, lag ein bedeutender Fortschritt in der Anerkennung, dass die menschliche Gesellschaft verpflichtet ist, das Herrschen der rohen Gewalt durch die Macht des Gesetzes zu unterdrücken, das Leben auch des Schwachen gegenüber den Gewaltigen als unver­letzlich zu erklären und die Verletzung und Beraubung des Lebens eines jeden auf das Ernsteste zu ahnden. |38| Welche wirksamen Strafmittel gab es aber in solchen Fällen als die Todesstrafe  ? Wir verfallen nur zu häufig in den Fehler, wenn wir über uralte Zeiten urteilen, dass wir da unsere aus­gebildeten und verwickelten Staatseinrichtungen und Gesellschaftszustände im Auge haben. Ist es nicht natürlich, dass in dem Augenblick, wo die Ge­sellschaft den Mord nicht mehr als ehrenhaft, sondern als ein Verbrechen erkennt, und sich selbst zuerst von der Pflicht überzeugt den Mord zu bestrafen, dass man da nicht sogleich daran denkt, Zuchthäuser zu bauen, sondern dass man eben das rascheste und scheinbar wirksamste Strafmittel ergreift  ? Ist es gestattet, hieraus ein Verbot herzuleiten, die Todes­strafe jemals durch eine andere zu ersetzen  ? Wie hätte sich denn die Schrift anders ausdrücken können, wenn sie die Pflicht des Staates aussprechen wollte, die wirksamste Strafe gegen den Mord anzuwenden  ? Ein alter jüdischer Interpretationsgrundsatz lautet  : Die heilige Schrift spricht in der den Menschen verständlichen Redeweise.472 Wenn sie daher spricht von den vier Enden der 471 Gen 9,5.6 472 bMak 12a, bQid 17b und viele anderen Stellen. In bSuk 5a wird ein Wort des R. Jose angeführt, dass das Herabsteigen Gottes auf den Sinai ebenso wenig buchstäblich genommen werden dürfe, als das Aufsteigen Moscheh’s oder Elias gen Himmel.

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Erde, welche auf ihren Pfeilern ruhe, oder von dem wie eine Zeltdecke ausge­spannten Himmel oder von dem Sonnenball, der wie ein Held seine Bahn um die Erde durchläuft, so war man im jüdischen Altertum weit entfernt, in solchen Ausdrücken Glaubenssätze zu erblicken, welche also von der Wissenschaft nicht widerlegt werden könnten und dürften. Man sagte einfach  : Die heilige Schrift spricht in der den Menschen verständlichen Redeweise. |39| Hätten die biblischen Schriftsteller von dem Luftraum, von dem im Weltraum frei schwebenden Erdball gesprochen, sie wären eben nicht verstanden worden.473 Die Schrift wendet sich aber an den „Holzhauer und Wasserschöpfer so gut wie an Senatoren und Fürsten.“ Religion und Sittlichkeit will die Schrift lehren sowie die erhabene Idee, dass Gott der allweise und allheilige Schöpfer, Leiter und Gesetzgeber in der Natur und im Menschenleben ist. Und zu diesem Zwecke muss sie sich in der allen verständlichen Redeweise ausdrücken. Und ebenso musste die Schrift sagen Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen wieder vergossen werden, wenn sie überhaupt dahin verstanden werden wollte, dass der Mord auf das Strengste und Wirksamste bestraft werden müsse.474 Denn |40| andere Strafmittel für dieses und andere ähnliche schwere Ver­brechen gab es nicht. In einer Zeit, wo man sich selbst mit Zelten und Hütten begnügt, wo zum Teil ein wanderndes No­madenleben geführt wird (wie noch bei den Israeliten im ost­jordanischen Palästina und in den Triften von Efrajim und Juda) wird man doch nicht auf den Einfall kommen, Zuchthäuser zu bauen. Es war daher das Gebot der schweren Bestrafung des Mordes nur in dieser sinnlich greifbaren Ausdrucksweise allein verständlich. Denn die Alten drückten sich überhaupt mehr in plastischer, sinnlich anschaulicher Weise aus als begriffsmäßig, mehr den Gedanken durch ein Beispiel darstellend als in abstrakten allge­meinen Begriffen. Und wie man hier den allgemeinen Ge­danken der strengen Bestrafung des Mordes in jenem Bibelworte erblickte, so las man auch zugleich die 473 Bemerkenswert ist, dass in den Propheten und Hagiographen sehr häufig neben der Beibehaltung der der poetischen und sinnlichen Anschauung entliehenen Ausdrücke doch auf die strenge Gesetzlichkeit in der Natur hinge­wiesen wird. Insbesondere aber zeigt Jesaja und das Buch Hiob, wie Alles in der Natur nach bestimmten Gesetzen, Maßen und Zahlen vor sich gehe, nichts durch Zufall oder Willkür, und „werden dort viele Fragen vorgelegt, welche unsere heutige Physik in wissenschaftlicheren Ausdrücken zu formulieren, aber nicht befriedigend zu lösen vermag“. (Humboldt, Kosmos Bd. II S. 48.) [Alexander von Humboldt, Kosmos  – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Stuttgart  ; Tübingen  : Cotta 1845 bis 1862] Dort wird auch über die sinnliche Anschauung hinausgegangen, z. B. „er spannt den Norden aus über dem Leeren, hängt die Erde an Nichts“ (Ijob 28,7). Vgl. auch die großartige Anschauung der Gesetzmäßigkeit in der Natur im Cap. 38, 39, sowie Jesaja 40 u. a. St., oder Ijob 28,25  : „er gab dem Winde Gewicht, bestimmte das Wasser mit dem Maße, gab dem Regen sein Gesetz, dem Blitzstrahl seinen Weg“. 474 Es darf außerdem daran erinnert werden, dass in der Bibel gemäß jener plastisch sinnlichen, das Allgemeine in einzelnen Beispielen veranschau­lichenden Redeweise die Worte „Tod und Sterben“ häufig für „Strafe, Un­glück“ gebraucht werden. Eine der prägnantesten Stellen ist Dtn 30,15  : „Siehe, ich lege dir heute vor das Leben und das Gute, den Tod und das Böse“, oder die bereits oben angeführte Stelle Ex 24,16  : „Die Väter sollen nicht um der Kinder willen getötet werden, und die Kinder nicht nur ihrer Väter willen  ; jeder soll für seine eigene Sünde getötet werden“, aus welcher Stelle man auch das Verbot der Gütereinziehung der Verbrecher folgerte, also das Wort „töten“ für „Strafen“ im Allgemeinen auffasste.

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

Mahnung heraus, dass nur derjenige, welcher zweifellos und vollständig, so dass kein Irrtum obwaltet, des Mordes überwiesen ist, getötet werden soll. Den Zusatz denn im Eben­bilde Gottes hat er den Menschen erschaffen betrachtete man auch als eine Warnung für den Richter gegen Todesurteile ohne zwingende Beweise, auf bloße moralische Überzeugung oder Indizien gegründet. Weil der Mensch im Ebenbilde Gottes er­schaffen ist. Eben deshalb muss der Staat durch das Gesetz die sorgfältigsten Vorkehrungen treffen, um von den Gerichten und der Staatsgesellschaft die Schmach unschuldig vergossenen Blutes in den Formen des Rechts fernzuhalten. |41| Wie unendlich viel ist auf jenes Wort der Schrift, das die Bestrafung des Mordes befiehlt, gefrevelt worden  ! Die mittel­alterliche Justiz, welche durch die härtesten Qualen und Foltern Tausenden von Schuldlosen Geständnisse erpresste und diese Un­glücklichen auf ihr Geständnis mit dem Tod bestrafte, – berief sich auf die Bibel, welche die Todesstrafe gebiete. Und wenn man, erfinderisch in grausamen Hinrichtungsarten, räderte und vierteilte – man berief sich auf die Bibel, welche die Todesstrafe gebiete. Aber wohl hütete man sich, an jenes Gebot der Schrift zu erinnern, dass nur auf die Aussage zweier Zeugen wenigstens der des Todes Schuldige sterben solle, also nicht auf eigenes Geständnis, und am wenigsten auf Geständnis, durch die Folter erzwungen, und dazu war dieser Zeugenbeweis noch äußerst eingeschränkt. Sorgfältig vermied man es, an jenes Gebot der Schrift zu erinnern, welches befiehlt, die Zeugen gehörig zu erforschen, damit sie möglicher Weise eines falschen Zeugnisses überwiesen werden könnten. Mit der äußersten Sorgfalt vermied man an die biblische Vorschrift zu erinnern, dass das Verfahren öffentlich, die Namen der Zeugen und deren Aussagen bekannt gemacht werden müssten. Vielmehr verhehlte man oft Zeugen und Angeber und selbst den Gegenstand der Beschuldigung den zu folternden Unglück­lichen, hetzte Väter gegen Kinder, Kinder gegen Eltern, Gattin gegen Gatten, um einander anzugeben, welche nach der Schrift sämtlich unfähig waren, Zeugnis abzulegen. Und da beklagt man sich noch nach solchem Missbrauch der Schrift zu dem verwerflichsten Tun, dass die Bibel und die Religion in Missachtung komme, nachdem solches in ihrem Namen |42| und auf ihre Autorität geübt und gelehrt worden. Mit der größten Behutsamkeit vermied man, an das Gebot der Schrift zu erinnern Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,475 aus welchem Gebote die jüdische Rechtslehre folgerte, dass der Staat selbst an dem verurteilten Verbrecher Nächsten­liebe üben müsse, und daher keine grausame und entstellende Hin­richtungsart anwenden dürfe, sondern eine möglichst rasche und schmerzlose.476 475 Lev 19,18 476 Wenn daher die Schrift auf Blutschande den Tod durch Verbrennung setzt, so errichtete man nicht Scheiterhaufen, um langsam und qualvoll die Schuldigen zu Tode zu martern, sondern der Tod sollte in einem Augenblick durch Einwerfen eines glühenden Metallfadens in den Mund erfolgen, so dass augenblicklich Atem und Blutumlauf stockt  ; und so sollte der Tod des Steinigens durch Herabwerfen des Verurteilten von

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23. Julius Fürst, Das peinliche Rechtsverfahren im jüdischen Altertum (1870)

Und da wir nun durch die humanen Bestrebungen seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, durch die hervorragende Wirksamkeit Friedrichs II. von Preußen, Carl Friedrichs von Baden, Kaiser Josefs, welcher sogar die Todesstrafe aufhob, sowie durch die rühmlichen Bestrebungen anderer trefflicher deutscher Fürsten und deren Gesetzgebungen, und durch die Rückwirkung der französischen Revolution zur Ehre der Menschheit dahin gelangt sind, das Mittelalter in Staats- und Rechtseinrichtungen großenteils überwunden zu haben  ; ist es ebenso ungeeignet, sich auf den aus dem ganzen Zusammenhang der Rechtsverhältnisse und Rechtsregeln gerissenen Buchstaben der Schrift zu berufen, um die Todesstrafe als Pflicht darzustellen, ohne ebenfalls die Beweismittel ebenso einzuschränken, und Leben und Ehre des un­schuldig Angeklagten ebenso zu sichern, wie die Bibel es tut |43| und im Geiste derselben die spätere Rechtsentwicklung es fort­setzte, so dass faktisch die Todesstrafe aufhörte. Man hatte mit vollem Bewusstsein des Erfolgs die Todes­strafe fast unmöglich gemacht. Mochte ein Tyrann wie Alexander Jannäus mit seinen arabischen Soldtruppen das Volk morden lassen  : Er entging nicht dem Namen Doker (Mörder), welchen das Volk ihm gab. Mochte Herodes, feig und sklavisch nach außen, blutdürstig im Innern sein Volk wie seine Gattin und Kinder abschlachten lassen  : Das Volk nannte ihn einen idumäischen Sklaven, und der Abscheu des Volkes gegen Bluturteile musste dadurch nur immer mehr wachsen. Und wir verstehen, wie das Volk denjenigen Gerichtshof ein Blutgericht nannte, welcher in sieben Jahren ein Todesurteil gefällt hatte. Sicher ist, dass auch Christus, als er in Bezug auf die Ehe­brecherin sprach  : „Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie“, sich grundsätzlich gegen die Todesstrafe ausgesprochen. Wenn man nicht mit voreingenommenem Sinne und unter dem Einflusse der seit Jahrtausenden angewendeten Todesstrafe diese Stelle betrachtet hätte, so hätte ein jeder ohne Zweifel in diesem Wort eine Erklärung gegen die Todesstrafe erkannt. Nach den dargestellten geschichtlichen und rechtlichen Verhältnissen ist es auch gar nicht denkbar, dass er in diesen Dingen hinter die Entwicklung seiner Zeit zurückgegangen sein sollte. Und jedenfalls zeigt der andere Ausspruch  : „wer eines anderen Weib ansieht, dass er ihrer begehret, hat die Ehe gebrochen“, dass er deshalb die Todesstrafe gegen den vollzogenen Ehebruch missbilligt, also überhaupt gegen die Todesstrafe sich erklärt. Denn beide Aussprüche, indem sie die Schuldbarkeit der sündlichen Begierden und Gedanken erhöhen wollen, haben anderseits die Absicht, zu |44| einer milderen Verurteilung der Todsünden zu führen, welche nur dem Grade, nicht dem Wesen nach von jenen verschieden seien. Jedenfalls wollte er nicht, dass der Ehebruch ganz straflos sein solle. Dass ebenso wenig der Apostel Paulus mit den Worten Die Obrigkeit trägt das Schwert nicht umsonst, ein Verbot der Aufhebung der Todesstrafe oder auch nur eine Billigung der Todesstrafe beabsichtigte, ist an sich klar. Denn wenn die Staats­gewalt auch manchmal in die Lage kommt, Recht und Gesetz durch die bewaffnete Macht aufrecht zu erhalten, einer zwei Stock hohen Bühne erfolgen. Denn „liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“, d. h. wähle ihm eine möglichst schmerzlose und nicht entstellende Hinrichtungsart. Auch der Verbrecher ist dein Nächster. Talmud bSan 45 und 52.

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

so hält sie sich deswegen doch nicht für befugt, jeden Widersetzlichen mit dem Tode zu bestrafen. Aber der entscheidende Grund für Aufhebung der Todesstrafe ist der, dass es eine Strafe ist, welche, wenn irrtümlich verhängt und vollzogen, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Und dies berücksichtigt auch die Schrift und die auf ihr fußende Rechtsentwicklung. Wenn die öffentlichen Geschworenengerichte auch unendlich viel voraus haben vor dem früheren geheimen Inquisitionsver­fahren mit ständigen, durch Erwartung oder durch Furcht vor Zurücksetzung von oben abhängigen Richtern, so ist doch auch hier eine irrtümliche Verurteilung Unschuldiger nicht unmöglich. (…) Ja, als in der jüngst verflossenen Sitzung des englischen Unter­hauses in der Debatte über Aufhebung der Todesstrafe der Antragsteller behauptete, dass das Geschworenengericht in den letzten Gerichtssitzungen drei Unschuldige zum Tode verurteilt habe, erwiderte der Minister des Innern, dass nur einer der zum Tod Verurteilten wirklich schuldlos und |45| zwei derselben unzurechnungsfähig gewesen, dass aber alle drei von der Königin begnadigt worden. Ist also schon in ruhigen Zeiten die irrtümliche Verurteilung Unschuldiger auch jetzt noch ein öfter vorkommendes Übel, so ist es insbesondere in bewegten Zeiten der religiösen, politischen oder nationalen Aufregung, wo auch die Geschworenen oft unbewusst unter dem Einfluss der herrschenden Zeitströmungen stehen, ganz unvermeidlich, dass solche Verurteilungen Unschul­diger vorkommen. Es ist demnach die dringendste Pflicht der Gesetzgebung, solchen irrtümlichen Verurteilungen zum Tode, welche, da eine Revision des Urteils vor Vollstreckung desselben nicht möglich ist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können, einen starken Riegel vorzuschieben. Und dies kann nur dadurch geschehen, dass die Todesstrafe überhaupt gesetzlich aufgehoben wird. Freiheit und Ehre lassen sich nach erkanntem Irrtum wieder zurückgeben, das geraubte Leben nimmermehr. Die Geschichte gibt uns warnende Beispiele. Die zur Zeit Carls II. urteilenden englischen Geschworenengerichte waren durch die Einbildung der Gefährdung des protestantischen Glaubens so geblendet, dass sie die augenscheinlichsten Lügen des nichtswürdigen Titus Oates und seiner Genossen gläubig aufnahmen, dass kein Katholik in England, selbst der als höchst tugendhaft und achtbar in seinem Leben bekannt war, vor der Jury seines Lebens sicher war, dass das Blut Unschuldiger in Strömen floss.477 Denn in der Parteileidenschaft traut man dem Gegner selbst das Unwahrscheinlichste zu. |46| Die blutigen Assisen478 unter Jakob II., von Jeffreys geleitet, kennzeichnen sich schon durch diesen Namen, den ihnen das englische Volk gab. „Durch die Einschüchterung des Oberrichters warfen die Geschworenen endlich alle Bedenklichkeiten ab, so dass kein Whig mehr seines Lebens sicher war vor den Geschworenen. Jeffreys rühmte sich, 477 Macaulay, Gesch. Englands übers. v. Beseler, I, 254 ff [Thomas Babington Macaulay’s Geschichte von Eng­ land seit dem Regierungsantritte Jacob’s II. Deutsch von Wilhelm Beseler. Brauschweig  : Westermann 1852ff] 478 [Schwurgerichtsprozesse]

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23. Julius Fürst, Das peinliche Rechtsverfahren im jüdischen Altertum (1870)

mehr Hochverräter gehängt zu haben als alle seine Vorgänger seit sechshundert Jahren, seit der normannischen Eroberung“.479 Eine gleiche Erfahrung liefern die Urteile der französischen Revolutionstribunale in den Jahren 1793–1794. Es ist daher ein Verdienst, wodurch Lamartine seinem Namen ein unvergängliches Ruhmesdenkmal errichtet hat, dass er gerade in einer Zeit der fieberhaftesten Aufregung auf die edlen Regungen des Volkes wirkte und die Todesstrafe wenigstens für politische Verbrechen aufgehoben, beziehungsweise die Aufhebung vorge­schlagen und durchgesetzt hat. Erwäge man noch, dass selbst in gewöhnlichen Zeiten eine irrtümliche Verurteilung der Geschworenengerichte, sofern nicht Formfehler eine Kassation rechtfertigen, nicht reformiert werden kann, dass eine Revision des Unheils vor Vollstreckung desselben nach unseren gesetzlichen Einrichtungen fast eine Unmöglichkeit ist. Soll also der Gefahr eines Justizmordes und in aufgeregten Zeiten insbesondere der viel größeren und dringenderen Gefahr massenhafter Justizmorde, wo sehr häufig religiöse oder politische Parteileidenschaft das klare Recht und die gesunde Vernunft ver­dunkeln, für immer vorgebeugt werden, so ist die Aufhebung der Todesstrafe eine heilige, gebieterische Pflicht, eine Forderung der Religion und Sittlichkeit. |47| Es ist nach allem diesem im höchsten Grade ungerechtfertigt, wenn man mit Nichtbeachtung der Rechtsgarantien, welche die Bibel und die auf ihr fußende Rechtsentwicklung dem Ange­klagten bietet, als da sind die Art der Zusammensetzung des Gerichts, der Ausschluss jeder Beweiskraft von Indizien und Geständnis oder moralischer Überzeugung, das Erfordernis des streng juridischen, engbegrenzten Zeugenbeweises, die Bestimmungen über Beratung und Abstimmung, die Revision vor Vollstreckung des Urteils – welche Momente zusammengenommen ein Todesurteil fast unmöglich machten – wenn man sich auf ein aus dem ganzen Zusammenhang des Rechtsverfahrens herausgerissenes Gebot der Schrift beruft, um die Beibehaltung der Todesstrafe als Pflicht darstellen zu wollen. Wer das oben dargestellte, auf der Grundlage der Bibel entwickelte Rechtsverfahren kennen gelernt, wird die Über­zeugung nicht abweisen können, dass die Bibel in ihrem wahren Geist und im Zusammenhang aller bezüg­lichen Rechtsinstitutionen aufgefasst, die Aufhebung der Todesstrafe nicht nur nicht verbietet, vielmehr die Beibehaltung derselben unter unserem heutigen Strafverfahren, welches dem Irrtum und der Leidenschaft immer noch einigen Spielraum lässt, auf das Schärfste verurteilt. Die neuere Zeit, der man so vielfach Feindseligkeit gegen die Religion vorwirft, hat durch Aufhebung der Leibeigenschaft und Sklaverei, durch Aufhebung der Tortur und des geheimen Strafverfahrens, durch Entführung der Rechtsgleichheit aller Bürger, durch versuchte Lösung der Armen- und Arbeiterfrage, durch Sorge für Verbesserung der Gefängnisse, durch Einführung humaner Be­handlung der Strafgefangenen, durch Sorge für erweiterte Volks- |48| bildung ganz im Geist der Bibel gearbeitet und für Religion und 479 Macaulay, Gesch. Englands übers. v. Beseler, II, 404 [Thomas Babington Macaulay’s Geschichte von England seit dem Regierungsantritte Jacob’s II. Deutsch von Wilhelm Beseler. Brauschweig  : Westermann 1852ff]

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

Sittlichkeit unendlich mehr geleistet, als früher in Jahrhun­derten geschehen. Und sie wird auch noch diesen Sieg erringen, die Todesstrafe aus allen Gesetzbüchern der neueren Staaten auszumerzen, und auch hierin den Geist der Bibel, den Geist der Liebe, Wahrheit und Gerech­tigkeit zur vollen Geltung bringen.

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24. Alexander Friedländer, ‚Ich will nicht den Tod des Sünders  !‘480 (1847)481

Der Verfasser hat sich vor einigen Jahren in einem öffentlichen Blatt für die Todesstrafe ausgesprochen. Es freut ihn Gelegenheit zu finden, diese Ansicht zurückzunehmen. Er verzichtet in Gemäßheit des Zwecks dieser Broschüre auf eine so­genannte geschichtlich gelehrte Entwicklung und beschränkt sich auf eine im Geiste der Verhandlungen der Mehrheit des ersten Preußischen Landtags, d. h. im Geiste des Jahrhunderts gehaltene, kurze Begründung. Die bürgerliche Gesellschaft ist eine solidarisch haftende Gemeinschaft. Was der Einzelne ist, ist er nur durch sie, was er werden soll, wird er nur durch sie. Es muss daher die Gemeinschaft dem Ein­zelnen den Besitz und die Anwendung der Mittel zur Erreichung der Lebenszwecke, mit andern Worten seine Freiheit, die unverkümmerte Entfaltung und Bewahrheitung seiner Individualität sichern. Auf diese Weise gelangt der Einzelne zu seinem Recht, das eben nichts anderes ausdrückt, als den verwirklichten An­spruch eines jeden auf freie Existenz. Das ist die Grund­ lage des Staatslebens. Wer sie angreift, d. h. wer in dem Recht, nach einer althergeschleppten Ansicht nur die Schranke erblickt, die den Menschen vom Menschen trennt, wer in dem Gesetz nur den Befehlshaber sieht, der dem einen gegenüber dem andern das noli me tangere zuruft, der zerreißt, was ewig verbunden sein soll, der setzt an die Stelle der Liebe die Eigensucht, den Privatnutzen mit all seinen unglückseligen Folgen. Die Bedeutung des Rechts ist somit eine wesentlich positive und öffentliche  : Der Mensch als der Schöpfer seiner eige­nen freien Geisteswelt, die Freiheit des Einzelnen und dadurch die Freiheit der Gesamtheit. Dies ist aber auch das einzige Recht, das es gibt. Es um­fasst alles, die Rechte sind nur die Strahlen desselben. „Diese ein- |8| zig wahre Freiheit wird realisiert, indem ein jeder die Mittel für kulturmäßige Entwicklung als selbstständiges Individuum durch öffent­liches Recht besitzt und gesichert hat, indem er z. B. sein Haus nicht besitzt, weil es sein ist, weil er es hat, sondern weil ihm als Menschen eine Wohnung zukommt, indem er also auch sein Haus nicht verlieren kann, weil die Gesellschaft ihm, wenn es verbrennt oder einfällt, zu einem andern verhelfen muss.“ Dieser Charakter des Rechts mit seinen Wirkungen muss sich auch in der Strafe wiedererkennen lassen. So lange es Menschen mit menschlichen Leidenschaften gibt, solange wird es Verbrechen geben, d. h. tatsächliche Ein­griffe in das Recht. So lange es Verbrechen gibt, wird sich der Staat in die Notwendigkeit versetzt sehen, den Eigenwillen durch Zwang zu dämmen. Die Zeit, in welcher das Menschenge­schlecht durch Allgemeinheit der Bildung so weit 480 Ez 33,11 481 [Alexander Friedländer, Ein Wort an die zur Berathung des Strafgesetzbuchs zusammentretenden ständischen Ausschüsse Preußens. Brilon  : Friedländer 1847]

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

herangereift sein wird, dass ein Verbrechen sich durch sich selbst, d. h. durch die bloße Macht der öffentlichen Meinung unschädlich macht, scheint noch (…) fern zu liegen (…). Desto näher liegt jedem Denkenden die Frage  : Wie werden die Strafen menschlich  ? Die Geschichte ist in stetem Fluss. Ihre Dia­lektik zu verfolgen, ist die Aufgabe der Politik. Unser Strafsystem wird einer kommenden Zeit in nicht hellerem Lichte erscheinen als uns das der Vorzeit. Wir können nicht über uns hinaus, aber wir sollen auch nicht über uns hinaus. Beherzigen wir diese Wahr­heit, so wird es uns nicht schwer fallen, den Menschen als den Mittelpunkt der Geschichte auch im Strafrecht zur Geltung zu bringen. „Universitas delinquere nequit  !“482 Das Abstractum, die |9| Gesellschaft als Begriffsganzes, kann kein Verbrechen begehen. Ver­brecher können nur die einzelnen Individuen sein, aus denen jene besteht. Die Gesellschaft ist aber der Herd des Verbrechens, weil außerhalb ihrer, so wie kein Recht, so kein Unrecht da ist, weil jenseits des Vereins der Menschen der Einzelne „ein Tier oder ein Gott sein müsste.“ Ist die Gesellschaft oder, insofern sie durch sich selbst besteht und getragen wird, also souverän ist, der Staat die Mutter der Verbrechen, so darf sie, ein zweiter Kronos, nicht die eigenen Kinder verschlingen. Der Verbrecher, auch der verworfenste, gehört ihr an. Die Macht der Gesellschaft und ihre Verantwort­lichkeit für die Verbrecher sprechen sich am schlagendsten in der Er­scheinung aus, dass zu verschiedenen Zeiten gewisse Verbrechen, je nachdem der Strom der gesellschaftlichen Zustände eine andere Richtung nimmt, gewissermaßen chronisch werden. So ist im heutigen Frank­reich die Bestechung Mode. Oder steht Teste483] etwa isoliert da  ? Wer ist für die Verbrechen, die auf dem faulen Sumpfe des Proletariats wie giftige Pflanzen emporschießen, verantwortlich  ? Etwa nur jene zerlumpten Gestalten, denen durch bestehende Einrichtungen auch der lei­seste Ansatz zum Menschwerden geraubt ist  ? Indem nun der Staat das Verbrechen für einen krankhaften Auswuchs erkennt, hat er die Rolle des heilenden Arztes zu übernehmen. Das nächste ist, dass er die Epidemie der Verbrechen zu hemmen, d. h. ihre Quelle, die aus den sozialen Zuständen entsprin­gende Versunkenheit der Gesinnung, zu verstopfen sucht. Es wurde jüngsthin in einer Zeitung statistisch nachgewiesen, dass zwei Drittel der Ver­brecher den bildungslosen und verbildeten Schichten der Gesellschaft angehö­ren. Diese Zahlen sprechen für die Richtigkeit unserer Behauptung. Wenn |10| die Gesetze, welche die bürgerliche Gesellschaft regeln, nichts anderes sein werden, als die ausgesprochenen Regeln des Bewusstseins eines Volks, wenn die Gesetzbücher nichts anderes enthalten werden, als die Vor­schriften der vernünftigen, menschlichen Individualität, so fällt damit ein ganzes Heer von Verbrechen, die in den mangelhaften Einrich­tungen ihren Sitz haben. Was hat aber der Staat zu tun, wenn ein Verbrechen be­gangen ist  ? Er straft, d. h. er spricht aus, dass hier ein Eingriff in die Freiheit vorliegt und bringt den Verbrecher zum Bewusstsein über diese Handlung. Immer ist es der Widerspruch, gegen den er kämpft, nie die Person. So befriedigt er durch die Bestrafung einen doppelten Anspruch, einmal den der Gesamtheit auf Hebung der Störung, dann den des Verbrechers auf Anerkennung 482 [Älterer Rechtsgrundsatz, wonach Vergehen/Verbrechen nur an Einzelnen, nicht an Kollektiven geahndet werden können.] 483 [Jean-Baptiste Teste (1780–1852), ranghoher frz. Politiker, wurde 1847 der Bestechlichkeit überführt.]

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24. Alexander Friedländer, ‚Ich will nicht den Tod des Sünders  !‘ (1847)

seiner mensch­lichen Entwicklung. In dieser doppelten Beziehung will er die Frei­heit, er erhält sich und den Verbrecher. Indem so, nach Hegel, dem Verbrecher in der Strafe sein eigenes Recht wird, ist die Frage nach dem Recht des Staats zur Strafe eine müßige, denn sie beantwortet sich allgemein dadurch, dass der Staat, als die reale Existenz des Geistes eines Volks, alles darf und muss, was um der menschlich freien Entwicklung willen geschieht. Aber auch nur so weit geht seine Macht, jeder Schritt darüber hinaus ist vom Übel. Ist die Strafe somit ein Recht, so hat sie auch den Charakter des Rechts, d. h. den der Verwirklichung der Freiheit. So ist sie, wie jedes Recht, der erfüllte Anspruch der Menschheit. Sie trägt daher ihren Zweck in sich selbst, sie hat ihn nicht außer sich. Sie ist da für den Menschen, sie ist wie jede befriedigte vernünftige Anforderung Zweck des Staatslebens, nicht Mittel für etwas anderes. Soll sie aber dies sein, so muss sie auch durch und durch human sein, d. h. der Ausdruck einer sittlich freien Lebensanschauung. |11| Das bedeutungsvolle Ergebnis dieser Wahrheit ist folgendes  : Gestraft wird nicht, um irgend einer Abstraktion, irgend einer logischen Regel, irgend einem äußeren Zweck, irgend einer Autorität oder Gewalt Genüge zu leisten. Gestraft wird bloß im Interesse des Menschen, so gewiss man den Kranken heilt um seiner selbst willen, so gewiss eine ärztliche Kur Zweck und nicht Mittel ist. Die Strafe muss daher so beschaffen sein, dass sie den Menschen weder körperlich noch geistig vernichtet. Denn die Freiheit darf nur die Freiheit wollen. Auf das Einfachste kommt man immer zuletzt. Weil man das Verhältnis umkehrte und die Strafe bloß als eine gegen den Verbre­cher geschwungene Geißel, als die Zufügung eines Leides auffasste, quälte man sich darauf hin mit der Frage  : Warum leidet der Ver­brecher, zu welchem Zwecke straft man  ? So viel Zwecke sich mög­licher Weise denken ließen, so viel Antworten hatte man zur Hand. Daher entstanden die, wie Pilze aus der Erde schießenden, sogenannten Strafrechtstheorien, an denen sich unsere studiosi juris nutzlos die Zähne stumpf reiben. So wenig aber jemand irgendeine er­schöpfende spezielle Antwort auf die Frage zu geben weiß, zu welchem Zweck man den Wissenschaften obliegt, ebenso wenig lässt sich der Begriff der Strafe ideologisch feststellen. „Der Verbrecher wird nicht gestraft, damit er leidet, sondern er leidet, damit er gestraft (d. h. menschlich) werde“. Hegel erkannte das, indem er behauptete, dass der Begriff der Strafe alle Zwecke enthalte, also den ganzen Menschen erfasse. Den­noch war es gerade seine Philosophie, die, weil sie die Welt wie ein logisches Rechenexempel behandelte und an den leibhaftigen Menschen |12| nicht dachte, auch den Verbrecher der Dialektik opferte und so zu den alten Schultheorien eine neue hinzufügte. Während man vor ihm strafen ließ, um abzuschrecken, also den freien Menschen wie eine Vogelscheuche für freie Wesen behandelte, oder um ferneren Verbrechen zuvorzukommen (Präventionstheorie), also, das Wahrscheinliche zur Richtschnur nehmend, die ganze Zukunft eines Menschen berech­nen zu können glaubte, schlug er diese Betrachtungsweise mit dem aus dem Wesen seiner Philosophie folgenden Satze nieder  : Gestraft wird, um einen tatsächlichen Widerspruch aufzuheben. Das Ver­brechen ist dieser Widerspruch, es enthält daher auch seine Aufhebung, die Strafe, logisch in sich. Indem sie, als Negation von gleicher Schwere vernichtet, ist sie wesentlich Wiedervergeltung. Es gibt zwar dem Begriffe nach, objektiv nur ein Verbrechen, subjektiv aber, d. h. nach dem Maße der Verschuldung, verschiedene Verbrechen. Dadurch entsteht 197

VI. Die Debatte um die Todesstrafe

dann auch eine Stufenleiter von Strafen, ein Strafmaß. Zu bestimmen, wie viel Strafe auf ein Verbrechen geht, das fällt ins Gebiet endlicher Berechnung. Nur wo das Ver­brechen gegen den lebendigen Quell des Rechts, gegen ein Menschen­leben gerichtet ist, ist die Berechnung leicht und genau. Für den Tod der Tod  ! Diese kurze Skizze, in welcher Hegel mit seinem weitgreifenden Einfluss die bedeutendste Stelle einnimmt, hat uns an die Grenze geführt, über die wir hinaus müssen. Die Reise durch das Schatten­reich der Abstraktionen muss auch hier zu Ende gehen. Die Welt, das Leben lässt sich in kein Gehäuse philosophischer Begriffe einzwängen. Alle jene Theorien gehen an der Einseitigkeit zu Grunde, dass sie den Menschen einem selbstgeschaffenen Prinzip opfern, ihn wie eine |13| Maschine behandeln, dass sie einen einzelnen Gedanken und nicht die ganze menschliche Natur zu Grunde legen. Eine derartige Einseitigkeit ist nun namentlich der Begriff der Wiedervergeltung, die sich nur dem Namen, dem Grade nach nicht spezifisch von der Rache unterscheidet und uns an die Zeit der Kompositionen, Bußen, Wetten und Sühnegelder erinnert. Die Rache und ebenso die Wiedervergeltung, diese verfeinerte Rache, liegen außerhalb des Rechts, weil ihr Ziel kein menschliches, sondern ein persönliches ist. Das Persönliche, das Eigensinnige gehört dem Recht nicht an, denn das Recht soll ja die Laune, den Einzelwillen, der, eben weil er ein einzelner, ein falscher ist, durch die Vernunft in Schran­ken halten. Ob ich eine unrechtliche Handlung auf der Stelle erwidere oder ob das Gesetz vorschreibt  : „Aug um Aug, Zahn um Zahn“, ist der Sache nach dasselbe  ; ob dem Verbrecher im Sinne der eigentlichen Talion genau dasselbe widerfährt, was er getan, oder ob ihm nach dem feinern Zuschnitt Hegels quantitativ so wehe getan wird, wie er dem Verletzten tat, das begründet keinen wesentlichen Unterschied. Nie darf das Recht gegen den Verbrecher kämpfen – denn sonst begeht es ja selbst ein Verbrechen – sondern gegen die Hand­lung als den Ausfluss des verbrecherischen Willens. Es liegt viel Wahres in dem Sprichwort  : So jemand was begangen, So hasse nur die Tat, Den Menschen hasse nicht, Der sie begangen hat  ! – Die Handlung in ihren Folgen ist das zu Vernichtende. Da sie nicht ungeschehen gemacht werden kann, so tut der Staat, was in seiner Macht und seiner Befugnis liegt. Er bringt den irregewor- |14| denen, verbrecherischen Willen in das rechte Geleise. Er muss ein verlorenes Glied wieder erobern, dieses selbst, das sonst an den Fol­gen seiner Tat zu Grunde gehen würde, wieder in seine Men­schenwürde einsetzen, den auf eine Zeitlang für unmündig Erklärten wieder zum Bewusstsein seines Werts bringen. Das fordert der Verbrecher mit Recht, denn der Staat, der das bonum vacans an sich zieht, trägt auch das malum vacans  ! Liegt es also im Wesen der Strafe, den Menschen aufrecht zu halten, so darf sie ihn weder körperlich noch geistig vernichten. Deshalb sind alle jene Strafen begriffswidrig, welche das Leben, die Freiheit, die persönliche Geltung des Menschen zu Grunde richten. Deshalb sind mit einem Worte alle die Strafen zu verbannen, welche den Menschen bürgerlich oder natürlich töten. 198

24. Alexander Friedländer, ‚Ich will nicht den Tod des Sünders  !‘ (1847)

„Abschaffung der Todesstrafe  ! das ist ein Symbol von demselben Wert, als wenn man sagt  : gebt die Sklaven frei  ! Huldigt allen großen Aufgaben, welche das Jahrhundert gleichsam an die Spitze großer Mastbäume befestigt hat  !“484 |15| Jede Strafe ist zu verwerfen, vor deren Exekution es den Menschen schaudert, bei deren Anblick der Vernünftige zurückbebt, denn das Recht will nie das Unmenschliche. Die Todesstrafe ist aber eine solche. Sie ist unrechtlich und zweckwidrig. Sie ist unrechtlich, weil sie dem oben entwickelten Begriff der Strafe zuwider läuft. Es lässt sich aber auch gegen sie noch mit speziellen Gründen streiten, freilich nicht mit ­denen der Philantropen, wie Beccaria, der sie nicht wollte, weil bei Eingehung des Staats­ vertrags niemand sein volles Recht auf seine Person aufgegeben habe. Heutzutage glaubt niemand mehr an das Dogma vom contract social  ! So viel ist selbst unter den Verteidigern dieser Strafart auf­gemacht, dass sie nur für das eine Verbrechen, die Tötung, gelten könne. Dies haben wir daher ins Auge zu fassen. Was will der Staat bei einem begangenen Mord  ? Was er bei jedem begangenen Verbrechen will, das nämlich in der Person des Ge­mordeten verletzte Recht aller wieder herstellen. Der Getötete ist in seiner natürlichen Lebensentwickelung unterbrochen, ihm ist der Fa­den seiner Existenz abgeschnitten worden. Da glaubt man Gerech­tigkeit zu üben, wenn man auch des Mörders Lebensbaum umhaut  ! Was heißt denn Gerechtigkeit  ? Jedem das Seine geben  ! Wem gibt aber der Staat in diesem Falle das Seine  ? dem Gemordeten  ? Das ist nicht denkbar, denn nur der Lebende hat ein Recht. Oder etwa dem Staat  ? Das ist eben so wenig denkbar, denn der Staat, selbst ein Leben, kann nur Leben geben, nicht nehmen, weil das letz­tere seinem Wesen als einem sittlich freien Organismus widersprechen würde. Man könnte einwenden, die Tötung eines Mörders sei nicht zu vergleichen mit dem Totschlag des Gemordeten. Allein die- |16| ser Einwand zerfällt bei dem Gedanken, dass eine solche Wertschätzung ins Gebiet der Unmöglichkeit gehört. Wenn also weder der Gemordete noch der Staat eine Befrie­digung in der Todesstrafe findet, wer dann  ? Die Idee, antworten die spekulativen Philosophen. Aber was ist denn diese Idee  ? Ein fleisch- und blutloses Etwas, „ein leerer schmeichelnder Wahn.“ Mit demselben Rechte verbrannte man Hexen zum Frommen der Teufels­idee, mit dem man jetzt den Menschen dem Götzen eines logischen Begriffs schlachtet  ! Was bleibt also, wenn wir die Sache bei Licht betrachten  ? Rache, Wiedervergeltung. Das Recht, das ewige Recht ist aufgehoben, seine Wiederher­stellung à tout prix  ! So rufen die Advokaten des Beils. Aber seht ihr denn nicht ein, dass dieses Recht nicht aufgehoben werden kann durch ein einzelnes Faktum, dass der Staat bleibt und lebt, auch 484 Während wir dieses niederschreiben, bringt eine deutsche Zeitung fol­gende Nachricht. Rom, den 16. August. Die letzte uns zugegangene Florentinische Zeitung bringt die erfreuliche Nachricht, dass in Toskana die Todesstrafe ein für alle Mal abgeschafft ist. Schon Leopold I., Großvater des regie­renden Fürsten, verbannte sie  ; später ward sie wieder eingeführt, doch sehr selten angewendet, da nach dem Gesetze vom 2. August 1838 alle Richter des Tribunals ohne Ausnahme einstimmig das „Schuldig“ ausgesprochen haben mussten, falls sie vollstreckt werden sollte. Kein anderer italienischer Staat kann sich bis jetzt dieses Humanitätsfortschritts rühmen. Doch versichert man, dass Pius IX. beabsichtige, aus dem gegenwärtig entstehenden neuen römischen Kriminalgesetzbuch die Todesstrafe ebenfalls zu verbannen.“ Auch der kleine Freistaat San Marino will sich diesen Bestrebungen anschließen.

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VI. Die Debatte um die Todesstrafe

wenn eins seiner Glieder gefallen  ! Nur ein Mensch ist um seine Geschichte gebracht, nur einer hat in die Speichen der Räder des Staats eingegriffen, und diese Ohnmacht glaubt ihr durch Schwertstreich vollenden zu müssen  ? Ohnmächtigen reicht man ja sonst stär­kende Mittel, um sie ins Leben zu rufen, warum hier eine Ausnahme  ? Dass geschärfte, qualifizierte Todesstrafen noch unsittlicher sind, als unsittlich, leuchtet ein, wenn man festhält, dass sie nur die Qualen, nicht die Strafe erhöhen. Wer wird strafen, um zu martern  ? – Vom theoretischen Standpunkt hat man noch den Einwand vorgebracht, dass dem Staat, als dem absolut Höchsten, auch das Leben der Individuen gehöre. Wir wollen einmal einen Augenblick unsere obigen Erörterungen vergessen, was heißt denn  : Die Indivi­ duen müssen dem Staat ihr Leben weihen  ? Leben heißt handeln, |17| tätig sein  ! Seine Tatkraft, sein Gut und Blut soll jeder dem allgemeinen Wohl, dem Staat, als der unerlässlichen Bedingung unserer Existenz widmen. Aber wenn der Staat das Leben fordert, so fordert er nicht den Tod, denn Tod ist Vernichtung  ! Oder schickt er seine Soldaten in den Krieg, damit sie erschossen werden. Ist dies Erschossenwerden nicht ein Ausleben, Vollendung eines ehrenvollen Kampfes  ? – Die Todesstrafe ist aber nicht allein unrechtlich, sondern auch nach allen Erfahrungen unzweckmäßig. Man will die Todesstrafe nicht aufgeben wegen ihrer ab­schreckenden Kraft. Wäre die Abschreckungstheorie haltbarer als sie ist, so entstände dann noch die Frage, ob sie nach den bisherigen Erfahrungen diese Wirkung auch in der Tat hat  ? Das aber glau­ben wir verneinen zu dürfen. Bekanntlich hat in England, seitdem die Todesstrafe für manche Verbrechen abgeschafft wurde, die Zahl der Ver­brecher nicht zugenommen, ein Ergebnis, das sich auch in der Statistik der italienischen Staaten zeigt, die sie aus ihren Gesetzbüchern verwiesen haben. Der Verfasser selbst hat es erlebt, wie zwei Stunden nach einer Hinrichtung von einem Augenzeugen der Vollstreckung – un­weit der Richtstätte – ein Totschlag versucht wurde, so wie er auch mit eigenen Augen gesehen hat, dass von mehreren Bauernburschen, die ihr Mädchen auf dem Schoß hielten und dabei dem Weine tüchtig zusagten, die Handbewegung des köpfenden Nachrichters im Augenblicke der Vollziehung nachgeäfft wurde. Was von Verbrechen abhält, ist nicht die Furcht vor dem Ge­setze, das ohnmächtig ist, wenn ihm die Sitte Hohn spricht, sondern die als der Gesittung entspringende Furcht vor der Schande  ! Jede Hinrichtung, wenn sie, wie in den meisten Fällen, öffentlich |18| ist, gleicht einem Schauspiel, bei dem sogar das Beifallklatschen nicht fehlt, das der Fertigkeit des Scharfrichters gilt. Darum haben manche Volksvertreter in ständischen Beratungen für Heimlichkeit von Hinrichtungen gesprochen. Dadurch aber geben sie das glänzendste Zeugnis für die Unzweckmäßigkeit dieser Strafe. Denn wenn sie abschrecken soll, so muss das grässliche Schauspiel unter den Augen des Volks vor sich gehen und wenn das letztere wegen der entgegen gesetzten Wirkung zu gewagt ist, wenn die Strafe das Licht nicht ertragen kann, wenn die einzige Faser ihrer Existenz, die Abschreckung, reißt, dann fort mit ihr  ! Aber wen soll dann eigentlich die Todesstrafe abschrecken  ? Zartfühlende schüttelt der Klang des Armensünderglöckchens so frostig, dass sie nur um die Seelenpein des Sträflings 200

24. Alexander Friedländer, ‚Ich will nicht den Tod des Sünders  !‘ (1847)

beben. Der Gute be­darf der winkenden Zuchtrute nicht, der Rohe kennt nichts, was seine Nerven erschüttert. „Die Empörung des Gefühls, die einmal in der Menschheit gegen die Todesstrafe ausgebrochen ist, wird sich durch nichts mehr beschwichtigen lassen. Selbst gegen den verworfensten Verbrecher wird sich in sanften Gemütern (und in Kulturfragen siegen diese, nicht die schroffen) der Abscheu mildern, wenn man voraussetzen kann, dass der Elende sein Verbrechen durchschaut, es bereut und Monate, ja bei manchem schlechten Justizgang Jahre lang die Seelenangst um den künftigen Tod durch Henkershand aussteht. Diese Seelen­angst, dies innere Zittern und Beben, darin sollte eigentlich die wahre Abschreckung liegen. Allein wodurch soll man sie der Masse verständ­lich machen  ? Die Masse sieht nur den Tod, nicht die fürchterliche Seelenfolter einer Vorbereitung darauf. Die um sich greifende Bil­dung schlafft unsere Herzen nicht aus. Sie bringt es nicht mit sich, dass wir um ihretwillen gegen Tugend und Laster gleichgültig werden. |19| Was Victor Hugo über die letzten Tage eines Verurteilten und über die Grausamkeit der Todesstrafe gesprochen485, das ist wahrlich aus keinem feigen und in ernsten Dingen matten Herzen entstanden, sondern der Fieberfrost des moralischen Entsetzens schüttelte ihn, als er seinen Aufruf an die Gesetzgeber schrieb. Es ist die haarsträubende Wirkung einer Strafe, deren grässliche Nebenumstände die Phantasie des Dichters nicht erfand, sondern vielleicht allein sie vollkommen zu begreifen fähig war. Wenn er uns das Beispiel jenes fürchterlichen Verstümmelten anführt, bei dem zweimal selbst die Guillotine fehlte, der mit halb abgehackten Kopfe aufsprang und vor dem versammelten Publikum, über und über von Blut triefend, Gnade stehend die Hän­de ausstreckte – was sind dagegen alle eure spitzfindigen Deduktionen und Abschreckungstheorien  ?“486 – Jüngst konnte man in Hessen keinen finden, der das Amt des Henkers übernehmen wollte. Die Gesetzgeber mögen diesen Wink beherzigen und darin den entschiedensten Widerspruch des Jahrhun­derts gegen die Todesstrafe erkennen. Sie sollen dem Flügelschlag der Zeit lauschen. In der Schweiz lebte ein Mann, der sein ganzes Leben an die Propaganda gegen die Todesstrafe setzte  ! Ein Königreich für einen Verein solcher Männer, sicherlich ebenso heilsam, als ein Verein ge­gen Tierquälerei  !

485 [Vgl. Le dernier jour d’un condamné, 1829] 486 [Baron Edward Bulwer, Die Zeitgenossen  : ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere, Band 2, 2. Auflage. Übersetzt von Karl Gutzkow. Pforzheim  : Finck 1842, 118–119]

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VII. ACHTUNG DER TIERE UND PFLANZEN

25. Samson Raphael Hirsch, Achtung der Tiere und Pflanzen (1837).487

Vernichte nichts  ! ‫ בל תשחית‬488 |366| Selbst wenn du feindlich liegst gegen eine Stadt (…) und doch selbst dem Menschen zu schaden im Begriff bist, also gewiss auch den zur Persönlichkeit des Menschen gehörigen Besitz nicht höher zu achten hast, als den Menschen selbst, sollst du diesen Besitz nicht grund- und zwecklos zerstören. Ja du sollst selbst, wenn du Bäume fällen musst, weise sein in der Auswahl, nicht Fruchtbäume zum Holzzweck fällen, da ihr Stamm höhere Bestimmung trägt, wenn dir Holzbäume zu Gebote stehen, deren Stamm dir zum Holzzweck ge­geben ist  ; und von hier lässt dich für dein ganzes Leben und gegen jegliches dir hingegebene Wesen von der Erde, die sie alle trägt, bis zum Gewand, das du dir schon zur eigenen Hülle umgewandelt hast, der Gotteswarnruf ver­nehmen  : „Vernichte nichts  !“ Ja, „Vernichte nichts  !“ ist der erste und allgemeinste Gottesruf, der dir entgegentritt, Mensch, wenn du dich erblickst in deiner Herrschaft über die Erdwelt. Rings um dich siehst du Erde und Pflanze und Tier, ja Erde und Pflanze und Tier schon von deiner künstlichen Menschenkraft deinen Stempel tragend, von deiner Menschenhand, zu deinem Menschenzweck, in Wohnung und Kleidung und Nahrung und Werkzeug umgewandelt, und zum Besitz dir ange­eignet. – Da stehst du in Mitte deines Erdenreiches, sie alle Diener deiner Macht. – Da hebst du die Hand auf, zum kindischen Spiel, zum wahnwitzigen Wüten, willst zerstören, was du nur gebrauchen sollst, willst ver­nichten, was du nur verwenden sollst, willst, weil du in den Wesen unter dir nur eine rechtlose Sache erblickst und Gott nicht siehst, der ihre Persönlichkeit vertritt, willst, statt sie nur als Mittel weisen Menschenwirkens zu benutzen, sie die Macht deiner Willkürlaune fühlen lassen. Da tönt Gottes Ruf  : „Vernichte nichts  !“ „Sei Mensch  ! Nur wenn du zum weisen Menschen­zweck, von meiner Lehre Wort geheiligt, die Dinge um dich verwendest, bist du Mensch und hast das Recht über sie, das Ich dir, dem Menschen, ge- |367| g­ eben. Vernichtest du aber, zerstörst du, – vernichtend, zerstörend bist du nicht Mensch, bist du Tier, und hast du kein Recht an den Dingen um dich. Nur zum weisen Gebrauch lieh Ich sie dir, vergiss es nie, dass Ich sie dir lieh. Sobald du unweise damit haust, sei es das Größte oder Kleinste, begehst du Verrat an meiner Welt, begehst du Mord und Raub an meinem Eigentum, sündigst du gegen Mich  !“ Das ruft dir Gott zu und 487 [Samson Raphael Hirsch, ‫ שמשון רפאל הירש‬Versuche über Jissroëls Pflichten in der Zerstreuung zunächst für Jissroëls denkende Jünglinge und Jungfrauen. Altona  : Hammerich 1837, 366–384 [§ 366–417]. Die Einteilung in Abschnitte und Kapitel ist aufgehoben worden.] 488 Wenn du feindlich lagerst gegen eine Stadt viele Tage sie zu bekriegen und sie einzunehmen, sollst du ihren Baum nicht vernichten, an ihn die Axt zu schwenken  ; denn von ihm sollst du essen und ihn sollst du nicht fällen  ; wenn gleich der Mensch auch im Feldesbaum da ist, er darum wohl eingeht vor dir in die Feindseligkeit. Jedoch, kennst du einen Baum, dass er nicht Speise gewährender Baum ist, den magst du vernichten und fällen, und Belagerungswerk bauen gegen die Stadt, die mit dir Krieg führt, bis sie daniederstürzt. (Dtn 30,19)

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VII. Achtung der Tiere und Pflanzen

mit diesem Ruf vertritt Er Größtes und Kleinstes gegen dich, leiht Kleinstem wie Größtem ein Recht deiner Willkür gegenüber. Darum sprechen die Weisen  : Wer in seinem Zorne seine Kleider zerreißt, seine Geräte zertrümmert, sein Geld zerstreut, der sei in deinen Augen, als habe er schon Götzen gedient. Denn das ist die Weise der Leidenschaft, sie spricht heute  : „tu dies“, morgen  : „tu jenes“, bis sie den, der ihr Sklave ge­worden, auch zum Götzendienste bringt. Und wahrlich, es ist auch keiner dem Götzentum näher, als der, der also in den Dingen nicht das Geschöpf und Eigentum Gottes erkennen kann und sich mit der Macht auch das Recht zu haben dünkt, sie nach Willkür zu vernichten. Ja, er dient schon den mächtigsten Götzen in seinem Innern, dem Zorn, dem Hochmut, vor allem dem Ich, das sich in Leidenschaft als Herr der Dinge wähnen konnte. – 1. Also nichts Großes und Kleines, von dem Fruchtbaum, der noch späteste Enkel mit seinen Früchten laben kann, bis zum kleinsten, wenn nur gebrauchsfähigen Fadenende, kurz nichts, was noch irgend zu einem Gebrauche dienen kann, vernichte, ist das erste Schöpfungsverbot. 2. Aber Vernichten heißt nicht nur etwas zwecklos zu dem Gebrauch unfähig machen, zu dem es bestimmt ist, sondern auch irgend einen Zweck durch |368| Aufwand von Mehrerem und Wertvollerem erzielen, wo du mit wenigerem und Geringerem ausgereicht hättest oder dieser Zweck an Wert dem der Mittel nicht gleichkommt, heißt Vernichten. 3. Hingegen hört das Vernichten auf, Vernichten zu sein und wird selbst weises Schaffen, wenn das Vernichten selbst zu einem höheren, wertvolleren Zwecke nötig ist. – Beispiele  : Von 1. Überhaupt jedes zwecklose Zerstören. – Von 2. Einen Fruchtbaum fällen, um das Holz zu Balken zu gebrauchen, wo anderes ausreicht  ; einen Fruchtbaum fällen, einer bloßen Gartenverschönerung willen  ; eben so ein Werkzeug zum Wärmezweck verbrennen oder ein noch zu anderem Zweck Tüchtiges zum Lichtzweck anzünden  ; mehr verbrennen als nötig  ; mehr abnützen als nötig, mehr verzehren als nötig, u. dergl. m. – Von 3. Einen Fruchtbaum fällen, der anderen wertvolleren Pflanzungen Schaden bringt, oder dessen Stamm, als Holz benutzt, wertvoller ist als die Früchte, die zu erwarten sind, weshalb denn auch ein abgelebter Fruchtbaum, der nur wenige Früchte mehr trägt, als Holzbaum zu betrachten ist  ; bei Holz­mangel ein (Holz-)Gerät verbrennen, um den eigenen angegriffenen Körper vor Er­kältung zu schützen  ; Fruchtbäume fällen, um den Raum zum Hausbau zu benutzen u. dergl. m.489 Ein geringerer Grad von Vernichtung, aber gleichwohl zu meiden, ist Verschwendung, d. h. Entäußerung der dir gewordenen Mittel auf eine Weise, wo der zu erreichende Zweck dem Umfang der Entäußerung nicht ent­spricht  ; geringer, denn die Dinge an sich werden nicht vernichtet, gehen vielmehr an andere zur Benutzung über  ; aber gleichwohl Ver489 […] Siehe auch das Verbot der Gattungszweck­verstümmelung an einem Tier oder Vogel (Lev 22,24 und Lev 5,11ff).

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25. Samson Raphael Hirsch, Achtung der Tiere und Pflanzen (1837).

nichtung, weil sie dir ver­nichtet worden. Mit jedem kleinen und großen Gut, das Gott dir gewährt, wird dir die Pflicht, es zu Zwecken zu verwenden, worunter allerdings auch Entäußerung zu weisen Zwecken |369| gehört. Entäußerst du dich ihrer aber zu un­weisen Zwecken oder auch zu an sich löblichen Zwecken, aber in größerer Masse, als dem Zwecke angemessen, so vernichtest du dir Mittel zu weiseren, oder zu anderen weisen Zwecken, unnötiger Weise  ; wogegen die mögliche Benutzung derselben durch andere, für die du ja nicht einmal bürgen kannst, nicht auftreten kann, eben weil mit jedem Mittel dir die Pflicht wird, es weise zu verwenden. – Der Vernichtung noch viel näher kommt aber der Geiz, d. h. die Dinge, gleichsam als wäre ihr Besitz Zweck, nicht Mittel, nicht zu weisen, von der Pflicht geforderten Zwecken zu verwenden. Denn was der Geizige in seinen Schränken unbenutzt begraben hält, ist, wenigstens für seine Lebenszeit, für alle Menschen vernichtet. Rechne dazu noch, dass auf jedem unbenutzten Besitzteilchen die Schuld einer unerfüllten Pflicht lastet. Das ist also das erste Gesetz, das deiner Willkür gegen die Dinge ent­gegentritt  : Achte die Dinge als Gotteseigentum und benutze sie zu weisen Menschenzwecken menschlich weise. Vernichte nichts  ! Verschwende nichts  ! Geize nicht  ! Sei weise haushälterisch mit allen Mitteln, die Gott dir verleiht, und wandle sie in eine möglichst große Summe von Pflichter­füllungen um. – |371| „Meine Ordnungen beachte  !“490 ist der zweite Ruf, der dir ent­gegentönt, Mensch, in Gottes Schöpfung, wie der erste war  : „Vernichte nichts  !“ Die Ordnungen, die du von Gott in seine Welt für seine Welt gesetzt findest, sollst du nicht verletzen, sollst, sie achtend, dich hüten, dass die freie Benutzung und Umwandlung seiner Welt, die Er dir gestattet, nicht in gottvergessende, weltstörende Willkür ausarte. – |372| Lernen wir zuerst kennen die Schranken, die Gott, der Gesetzgeber der Weltordnung, uns zur Beachtung gesetzt und versuchen wir es dann, so weit wir, die wir, wenn wir auch alle 490 Meine Ordnungen beachtet  ! Dein Vieh sollst du nicht gatten in einander ausschließenden Gattungen, dein Feld sollst du nicht besäen mit einander ausschließenden Gattungen, und ein Gewand von einander ausschließenden Gattungen, Scha-atnes, soll nie kommen auf dich. (Lev 19,19) Du sollst nicht deinen Weinberg säen in einander ausschließenden Gattungen, sonst wird dem Genuß ausgeschlossen die Füllung, nämlich die Saat, die du säest, und der Ertrag des Weinbergs. – Du sollst nicht pflügen mit Ochs und Esel zusammen. Du sollst nicht dich bekleiden mit Scha-atnes, Wolle und Flachs zusammen. – (Dtn 23,9) Koche nicht Böckchen in seiner Muttermilch. (Ex 23,19) Es sprach es Gott, dass hervor treibe die Erde Getreide, Kraut, das Samen gibt, Fruchtbaum, der Frucht schafft für seine Gattung, in welcher sein Same ist über der Erde  ; da ward es so. Es trieb hinaus die Erde Getreide, seiner Gattung Samen gebendes Kraut, und fruchtschaffenden Baum, in welcher sein Same ist für seine Gattung  ; und es schaute es Gott an, dass es gut sei. (Gen 1,11) Es sprach es Gott, dass Sichbewegendes treiben die Wasser, sich selbständig Bewegendes, Leben habendes Wesen, und Auffliegendes, das sich fliegend erhebt über die Erde, an der Dünnung des Himmels. Also schuf Gott die großen Wundergeschöpfe und jedes lebendige auftretende Wesen, die zur Selbstbewegung austrieben die Wasser, für ihre Gattungen, und jeden geflügelten Vogel für seine Gattung, und es schaute es Gott an, dass es gut sei. Und es segnete sie Gott, sagend  : befruchtet euch und werdet viel, und füllet das Wasser in Meeren, und der Vogel mehre sich auf Erden. (Gen 1,20) Es sprach es Gott, dass hinaussetze die Erde lebenhabendes Wesen für seine Gattung, Vieh, und Auftretendes, und Erdentier für seine Gattung, da ward es so. Also bildete Gott das Erdentier für seine Gattung, und das Vieh für seine Gattung, und auch jeglich Bodentretendes für seine Gattung und es schaute es Gott an, dass es gut sei. (Gen 1,24)

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menschliche Kenntnis hätten, doch immer nur die äußere Erscheinung der Wesen kennten, nur wüßten, was sie uns sind, und daraus ahnen, was sie an sich seien, – versuchen wir es dann, so weit wir mit unseren beschränkten Kräften es vermögen, nur zur Verdeutlichung und zur Zu­sammenordnung von diesen Gesetzen einen menschlichen Begriff zu geben. Erstes Gesetz. Tiere verschiedener Gattung veranlasse nicht sich mit einander zu begatten, noch lasse dies durch einen andern be­wirken. Wenn selbst Tiere verschiedener Gattung einander ähnlich sind, zusammenleben, und, wenn gezwungen, sich fruchtbar begatten, wie Wolf und Hund, Dorfhund und Fuchs, Ziege und Reh, Gemse und Schaf, Pferd und Maultier, Maultier und Esel, so sind sie doch nicht miteinander zu gatten. Arten einer Gattung sind miteinander gattbar. Wo aber anatomisch sich wesentliche Verschiedenheiten zeigen, ist eine Verbindung unerlaubt, so Gans und wilde Gans u. s. w. – Die aus solcher widerstrebenden Verbindung Erzeugten sind mit Vater- oder Mutter-Gattung zu verbinden unerlaubt, aber untereinander bei gleichen Elternpaaren erlaubt, nicht aber bei ungleichen, also Maultier mit Maultier, und Maulesel mit Maulesel, nicht aber Maultier mit Maulesel und beide nicht mit Pferd und Esel.  – Das von einer widerstrebenden Begattung Erzeugte ist zum Gebrauch erlaubt, und wenn von zwei reinen Gattungen, auch zur Speise. – Eier von einem Vogel anderer Gattung aus­brüten lassen, ist nicht aus diesem Gesetz verboten. Zweites Gesetz. Pfropfe nicht Bäume verschiedener Gattung aufeinander, noch lasse dies durch andere bewirken. Ebenso nicht Kräuter auf Bäume, Bäume auf Kräuter, auch nicht Kräuter auf Kräuter verschiedener Gattung. Nichtfruchttragende Bäume (Holzbäume) sind aufeinander zu pfropfen erlaubt, nicht aber auf Fruchtbäume und umgekehrt. In ein gesenktes Wein-Reisig darüber gesäete Kräuter wurzeln zu lassen, ist auch oßúr, aber in Baumwurzel unter der Erde erlaubt. Äußere Ähnlichkeit bei Verschiedenartigkeit ist nicht zu be­rücksichtigen. Spielarten derselben Gattung sind gesetzlich auf einander zu |373| pfropfen erlaubt, doch da im gewöhnlichen Leben die Unterscheidung der Gattungen und Arten nicht genügend vorauszusetzen ist, wird geraten, sich überhaupt des Pfropfens zu enthalten. Auch nur ohne dein Zutun mit verschiedenen Gattungen Gepfropftes zu erhalten, ist verboten. Die Frucht eines gepfropften Baumes ist zum Genuss erlaubt, wie auch Zweige von ge­pfropften Bäumen weiter zu verpflanzen.491 Für Erez Jissroel ist gleichfalls verboten, zwei Kräuterarten in einem Wurf zu säen und überhaupt sie nur in solcher Entfernung nebeneinander zu säen erlaubt, dass sie beide nicht aus einem Orte Nahrung ziehen oder doch ihnen äußerlich jedem ein besonderer Ort zugeteilt erscheint. Doch dies Verbot gilt nur bei Kräutersamen, nicht aber bei Baumsamen.492 Ferner ist 491 ‫ י"ד‬295. 492 ‫ י"ד‬297.

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verboten, Weinsaat mit Saat von zwei Getreide- oder zwei anderen genieß­baren Kräuterarten in einem Wurf zu säen oder nebeneinander oder in einem Weinberg und wird dann das ganze nicht nur zur Speise, sondern zu jeglicher Nutznießung unerlaubt. – Außer in Erez Jissroel ist gesetzlich beides unverboten, doch das Verbot, Weinsaat mit zwei anderen Saaten in einem Wurf der Erde zu übergeben, ist in Folge von G’seróh auch außer Erez Jissroel in Kraft. Drittes Gesetz. Von Tieren zweierlei Gattung darfst du nicht zusammen eine Arbeit verrichten lassen, sie nicht zu gleicher Zeit zusammen das Geringste forttragen lassen, wäre es auch nur den Leitstrick. Du darfst an­einander gebundene Tiere verschiedener Gattung daher nicht einmal mit der Stimme zum Fortgehen treiben, nicht im Wagen sitzen, der von Tieren ver­ schiedener Gattung gezogen wird.493 Viertes Gesetz. Verhüllung oder Wärmung darfst du nicht mit einem von Wolle und Flachs verbundenen Zeuge |374| erreichen. Nur Schafwolle und Flachs sind in Verbindung oßúr, alle anderen Stoffe erlaubt. Eine solche Flachs- und Wolleverbindung heißt Scha-atnes.494 Es ist nach Auffassung der meisten495 nur entweder Wolle und Flachs zusammen gekrempelt, gesponnen und gewebt, oder einzeln gekrempelte, gesponnene und gedrehte Wolle mit einzeln verarbeitetem, gesponnenem und gedrehtem Flachs durch Weben, Nähen, Knüpfen u. s. w. fest verbunden oßúr. Jedoch sind alle übrigen Verbindungsarten, z. B. Wolle und Flachs bloß zusammen gekrempelt und gesponnen oder zum Filz verarbeitet ‫ מדרבנן‬oßúr. Nach Auffassung des ‫ רמבם‬ist jede Verbindungsweise schon nach der Thauröh oßúr. Auch nur ein fremdartiger Faden im ganzen Gewand macht das ganze Gewand oßúr. ‫ מדאוריתא‬ist nur Bekleidung oder Bedeckung zur Wärmung oßúr, ‫ מדרבנן‬auch Sitzen auf Scha-atnes, selbst mit nicht unmittelbarer Berührung, wenn auch in zehnter Vermittlung. Harte, nicht wärmende Stücke von Scha-atnes d’aurajßó sind oßúr zur Bedeckung aber erlaubt zum Sitzen, wenn nicht in unmittelbarer Berührung  ; von Scha-atnes d’rabonón selbst zur Bedeckung erlaubt. Alle Geräte, die leicht um die Hand oder sonst um den Körper geschlagen werden könnten, und wärmen, dürfen nicht aus Scha-atnes gemacht sein, wie etwa Hand- und Tischtücher, Gardinen u. dergl. – Nur zum Gewand­gebrauch sind diese Mischungen oßúr, nicht aber sie anzufertigen, oder zu sonstiger Benutzung. Fünftes Gesetz. Koche nicht Fleisch und Milch zusammen. Nur reiner Tiere Fleisch und reiner Tiere Milch zu kochen ist nach der Thauróh oßúr, und zwar nur reinen Viehs, wie etwa Ochse, Schaf, Ziege, 493 ‫ י"ד‬297 b. 494 ‫שעטנז‬ 495 ‫דאוריתא‬

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VII. Achtung der Tiere und Pflanzen

nicht aber reinen Wildes und Vogels. Des bösen Scheins halber ist aber auch Kochen des erlaubten Fleisches und von Milch außer in Krankheitsfällen untersagt. Fischfleisch in Milch zu kochen ist erlaubt. Nur das Kochen der lebend der Euter entzogenen Milch ist oßúr. Nach der Thauróh ist nur Durchdringung von Fleisch und Milch durch Feuer untersagt, Midderabbonón jegliche Durchdringung, z. B. durch Salzen, Beizen, Einweichen u. s. w.496 Hier nur das Verbot des Kochens an sich, ohne Rück- |375| sicht zu welchem Zweck  ; also auch für einen Nichtjuden darfst du nicht Fleisch und Milch zusammen kochen. Fassen wir alle diese Gesetze zusammen, die uns Gott, der Ordner der Welt, in seiner Welt zu beachten gesetzt  : Was ergibt sich vielleicht aus dem Anblick dieser Bestimmungen und aus überkommenen Andeutungen der Weisen  ? Siehe dich um, Mensch, tönt es uns hier entgegen, siehe dich um im großen Haushalt deiner Erdwelt. Siehe da, wie jedem Wesen, das sich entwickelnd lebt, von Gott das große Gesetz  : „für seine Gattung  !“ eingeschrieben ist, nach dem es alles, was es sich aneignet aus der Bruderschöpfung, zuerst in ihm ent­sprechende Nahrung umwandelt, sein Selbst vergrößernd, und dann den Überschuss der ihm entsprechenden Kräfte zur Erzeugung eines ihm gleichen Wesens verwendet. Wie also jedes sich entwickelnde Wesen, Pflanze und Tier, sich lebt und seiner Gattung. Siehe es und achte dies Gesetz, wenn du menschlich wirkend zur Vollendung deines Menschenlebens eingreifst in diesen Entwicklungsgang, ihn zu deinem Zwecke hilfreich zu fördern. Vergiss nicht, dass Gott dich zu diesem Beruf nur gesetzt, der Erdenwelt zu dienen und sie schützend zu pflegen, nicht aber mit deiner Selbstsucht störend einzutreten in diesen Ordnungs­gang der Entwicklung. Vergiss es nicht und leite nicht die seiner Gattung bestimmten Kräfte eines Schöpfungswesens zur Erhaltung einer anderen Gattung über. Zwei sich einander fremde Gattungen heißen aber in dieser Beziehung Kilájim )‫(כלאים‬, von ‫כלא‬, sperren, weil Gottes Schöpfungs­gesetz sie gegen einander geschlossen hat, und nur gezwungen sie ihre Kräfte einigen. – Als solches Einzelwesen, begabt mit Entwicklungskräften für sich und seine Gattung, steht dir das selbständige Tier da und die dem mütter­lichen Schoß der Erde ent- |376| wachsenen Bäume und Pflanzen. Mischen und Pfropfen verschiedengattiger Tiere und Pflanzen ist Höhnung dieses Schöpfungsgesetzes.  – Wir unterscheiden aber Pflanzen, die auf gewöhnlich dauerndem Stamm Zweige und Blätter treiben  : Bäume und solche, die gewöhnlich alljährlich neu ohne Stamm der Erde entsprossen, und deren Stamm eigentlich nur Blattstiel ist, die übrigen Pflanzen. Der Stamm der Bäume ist eigentlich das Einzelwesen, ein Behälter von Kräften für’s Selbst- und Gattungs-Leben. Ihm entspricht für die übrige Pflanzenwelt die Erde selbst, und so gäbe es für die übrigen Pflanzen noch eine Mischung, nämlich die Kräfte eines, einer bestimmten Gattung angehörigen Erdflecks, auf andere Gattung durch Zugleich- oder Zunahesäen überzu­leiten, wenn – nicht die Gesamt-Erde ein Einzelwesen wäre, die gemeinsame Mutter, auf die alle Gattungen gleichen Anspruch haben. In der Erde gibt’s daher keine Mischung, und selbst die Baumwurzel gehört der Erde an. – Jedoch im Lande Jissroels, das an sich durch eigentümliche Bestimmung als eigen­ 496 ‫ י"ד‬87. Die Mischung von Fleisch und Milch wird, wie die Weinbergsmischung, nicht nur zur Speise, sondern zu jeglicher Benutzung oßúr […].

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tümliche Einzelheit dasteht und das Jissroel als Boden seiner eigentümlichen Lebens-Erfüllung gegeben ist, sollst du auch in deiner Bearbeitung dieses Bodens jenes Schöpfungsgesetzes Achtung darstellen, aber freilich nur für die Darstellung und darum weder zwei verschiedenartige Gattungen der übrigen Pflanzen zusammensäen, noch die eine in den Raum, den die andere durch deine Bestimmung oder durch ihr eigenes Wachstum beherrscht. Für Baumsamen findet dieses nicht Statt, eben weil diese im Stamm sich selbständig der Erde entwinden. (Vgl. Erstes und zweites Gesetz.) Wie du aber in Erez Jissroel in Bezug auf den Boden selbst nur für die Darstellung im Menschenleben jenes Schöpfungsgesetz achten sollst, also sollst du es überall, in Bezug |377| auf Tier und Pflanze selbst in Benutzung der­selben zu deinem Dienste (zu Arbeit), zu deiner Verhüllung und Wärmung (zu Kleidung) und zu deiner Erhaltung (zu Nahrung) darstellen. Tiere, die Gottes Schöpfungsgesetz nicht zur Wirksamkeit im Weltdienst eint, sollst du nicht zur Wirksamkeit in deinem Dienste einen. (Vgl. Drittes Gesetz.) Wie Gott die Wesen in Gattungen teilte, also schied Er seine Wesenschar in größere Kreise, in Reiche, jedem Reich besonderen Charakter auf­drückend, für jedes besondere Teile seiner Erde Mutter, und lässt durch sie – beuge dich Mensch  ! – dich, der du die Erdwelt zu beherrschen vermeinst, in deinem eigensten Leben bis in deine Gemüts- und Geistesrichtung beherrscht werden. Je nachdem das eine oder das andere Reich dich vornehmlich an deinem Ort in der Erdwelt umgibt, prägen sie dir die Richtung deiner Lebensweise, deiner Tätigkeiten. Empfindungen, Bestrebungen und damit Gesinnung und Denk­weise. So stehen dir vorzüglich das Tierreich einerseits – andrerseits das Reich der Pflanzen da, jedes deinen kleinsten Bedürfnissen genügend, als Nahrung, als Werkzeug, als Kleidung, aber je nachdem du dem einen oder dem andern überwiesen bist, bis ins Innerste deines Wesens dich eigentümlich gestaltend. Vor allem in der Jugend der Menschenwelt, wo noch nicht der Mensch selber sich den Boden künstlich umgewandelt hatte und noch nicht der Allaustausch die Eigentümlichkeiten verwischte, also dass der erste Gegensatz und mit ihm der erste Grund zur Menschengeschichte in Scheidung der dem Besitz sich anklammernden und äußere Künstlichkeit entwickelnden Ackerbaumenschen und der, der freieren, und mehr inneren Entfaltung verbleibenden Viehzuchtmenschen auseinandertrat.497 – In deiner Kleidung nun, dem nächsten Schutz und der Darstellung deiner Persönlichkeit, tue kund, wie du von dieser Ordnung und durch sie von Gott in der Entfaltung deines Menschen- |378| lebens dich beherrscht fühlst, und wenn du von dem durch das eine Reich dir gewährten Gewandstoff dich kleiden willst oder schützen, liefere das andere Reich mit seinem Gewandstoff keinen Beitrag. Als eigens zum Gewandzweck von beiden Reichen gewährte Stoffe stehen dir aber überall in der Lehre Wolle und Flachs ausschließlich anerkannt da. Nur der, die Gesamtheit als Einheit vorstellende, alle Gegensätze in seinem Berufe vermittelnde Priester hatte im Gewand Wolle und Flachs gemischt. (Vgl. Viertes Gesetz.) Und endlich dieses Gesetz der Scheidung, wie du es im ganzen äußeren Erscheinen der ganzen gegliederten Welt erblickst, dasselbe ist’s auch, das die Stoffe beherrscht in der 497 ‫ הבל‬,‫ קין‬u. ff

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VII. Achtung der Tiere und Pflanzen

inneren Einzelwelt der Einzelwesen. „Aneignen zur Scheidung“ ist der Begriff alles inneren Lebens. Bei dem Verfahren, durch welches du äußere, deiner körperlichen Aneignung gehörende Stoffe künstlich sich durchdringen lässt, bekunde, dass du auch in dem inneren organischen Leben Gottes Ordnung achtest und mische nicht, was der innere Organismus zu größten Gegensätzen geschieden. Es gibt aber vielleicht nicht größere Gegensätze als Fleisch und Milch, jenes dem eigenen tierischen Selbst gehörend, dieses zur Erhaltung der Gattung ausgeschieden. (Vgl. Fünftes Gesetz.) Dies sind Gedanken, die sich uns bei Beachtung dieser Gesetze darbieten. Mögen wir aber auch weit ab von der Wahrheit mit diesen Gedanken stehen, nicht diese, und nicht andere menschliche Gedanken sind es, die unsere Ver­pflichtung begründen. Gott ist uns Gesetzgeber des Lebens, Er, der Ordner der Welt, hat durch diese Gesetze unserer Willkür Schranke gesetzt in Behandlung seiner Welt. – Wer will sie brechen, diese Schranken, ungerecht werden gegen Gottes Welt, – und in Gottes Welt, Gottes Gesetz vergessen  ? Ganz besonders aber mögen und vielleicht sollen diese Gesetze bei unserem ganzen Verkehr mit der Tier- und Pflanzenwelt und unserer Tätigkeit in derselben, bei unserer Viehzucht, unserem Landbau, unserer Arbeit, unserer Kleidung, unserer Nahrung uns die Wahrung gegenwärtig halten, dass das Gottes-Gesetz nicht erst mit dem Menschen und Juden beginne, dass es dem Bestande und der Ent­wicklung alles organischen Lebens zu Grunde liege und dass das in der Thauróh für die Menschheit und Jissroel niedergelegte Gottesgesetz nichts anderes ist als der göttliche ‫למינו‬-Ausspruch fürs Menschen- und Jissroelleben, auf dass wir in freier Pflicht-Treue die Gottesbestimmung erfüllen, welche alle anderen Gattungen der irdischen Wesen, ohne abzuirren, in ihrem Sein und Schaffen zur Verwirklichung bringen. |379| Der Buchstabe und Thschbp498 lehren  : 1) dass diese Pflicht nur bei zum Genuss erlaubten Vögeln und Jungen Statt findet  ; 2) selbst bei einem Jungen oder einem Ei  ; 3) nur bei herrenlosen, noch der freien Schöpfung angehörigen  ; 4) dass die Pflicht obliegt, die Mutter aus der Hand frei fliegen zu lassen, aber einmal der Hand entflogen, darf sie gleich wiederum zum Eigentum genommen werden  ; 5) wenn wieder aufs Nest geflogen, tritt wieder die Pflicht ein  ; 6) wenn aber inzwischen die Jungen einen Herrn bekommen, fällt diese Pflicht aus  ; 7) sind die Eier verdorben oder die Jungen nicht lebensfähig oder bedürfen sie der Mutter nicht mehr, so findet die Pflicht nicht statt  ; 8) sitzt sie nicht auf, sondern zwischen den Jungen oder den Eiern, findet die Pflicht ebenfalls nicht statt  ; 9) die Aneignung oder das Lassen der Jungen ist gleichgültig, nachdem die Mutter weggeschickt. |380| Aus dem allen scheint sich der Sinn des Gebots also aussprechen zu lassen  : 498 Wenn geführt wird Nest reinen Vogels in deine Richtung im Wege auf irgend einem Baume oder auf der Erde, aufblühende Junge oder Eier, und die Mutter ruhend auf den aufblühenden Jungen oder auf den Eiern, sollst du nicht nehmen die Mutter auf den Jungen. Vielmehr freischicken sollst du die Mutter, und die Jungen magst du dir nehmen, darob wird dir Gutes werden, und du wirst Zeiten durchdauern. (Dtn 22,6)

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25. Samson Raphael Hirsch, Achtung der Tiere und Pflanzen (1837).

Du, dem Gott frei gegeben hat die Schöpfung zur Aneignung für deinen Genuss, habe Achtung vor dieser Schöpfung, wo sie nicht dir, sondern dem Weltzwecke dient, und trifft sich dir Gelegenheit, dir einen für deinen Genuss tauglichen Vogel anzueignen, aber du findest ihn in freier Schöpfung, dem Weltzwecke dienend, in dem Augenblicke achte in ihm den Schöpfungs­diener. Eigne ihn dir nicht an in dem Augenblick, wo er seiner Gattung dient, vielmehr zeige, dass du Macht über ihn hast, und nimm ihn auf, aber auch dass du ihn achtest – und lasse ihn frei. Dann, wenn du, von Selbstsucht frei, in dem Geschöpfe Schöpfungsdiener achtest, wird auch Gott die Schöpfung in dir den Gottesdiener im Chor der Schöpfung achten und gerne zu deinem Heil wirken lassen, und du dauerst ewige Zeiten durch – du erblickst gewiss auch in dir den Gottesdiener – nicht zu deinem – sondern zum Weltenzweck, und wirkst als solcher.499 – Merke ferner noch  : Taubenschlagtauben, in Mauern nistende Vögel, Gänse und Hühner, wenn sie im Freien nisten, gehören zu den herrenlosen in diesem Betracht, doch tritt nur dann die Pflicht ein, wenn die Mutter nach dem Eierlegen nie von ihnen weggeflogen ist, sonst, wenn nämlich der Ort einen Herrn hat, fallen mit dem Ort auch die Eier dem Herrn zu und gehören nicht mehr der freien Schöpfung an. – Überall, wenn auch nicht auf Reisen, wo du sie herrenlos findest, tritt die Pflicht ein. – Du darfst der Mutter nicht etwa vor dem Fliegenlassen die Flügel zum Fliegen untauglich machen. Hast du es getan, so musst du sie pflegen, bis sie heilen, und sie dann frei |381| schicken. – Wenn Männchen auf dem Nest ruhen oder ein unreines Weibchen auf reinen Jungen oder umgekehrt, findet die Pflicht nicht statt. Reine Vögel verschiedener Gattung sind zweifelhaft, deshalb ist die Pflicht aus Zweifel zu üben. Wenn die Mutter über dem Nest fliegt und das Nest von oben berührt, so findet die Pflicht statt, nicht aber wenn nur von der Seite. Das Muttertier und sein Junges500 von dem reinen Vieh, also von Rind­vieh, Schaf und Ziege, in einem Tage durch Sch’chitóh501 zu töten, verbietet dies Gesetz. Beim männlichen Tiere und seinem Jungen ist es zweifelhaft. Beim Wild und Vogel findet es nicht statt. Es ist gleich oßúr, das Muttertier nach dem Jungen, oder dieses nach jenem zu schlachten. Der hier gemeinte Tag beginnt mit der Nacht und endet mit dem Tag. Sobald der Tag, an dem das eine geschächtet ward, vorüber ist, darf das andere geschächtet werden. Wenn auch von einem andern das eine geschächtet worden, darfst du an demselben Tage das andere nicht schächten. Nur Schächten ist oßúr, jede andere Tötung ist erlaubt.502 |382| Keine Geschöpfe503 bedürfen wohl mehr des schützenden göttlichen Worts gegen die Willkür der Menschen, als die gleich ihnen mit Empfindung und Trieben begabten und dabei mit ihrem Körper und seinen Kräften dem Menschen dienstbaren Tiere. – Ihnen gegenüber vergisst der Mensch so leicht, dass der ver­wundete Tiermuskel wie die 499 Vergleiche nun dies Gesetz mit dem Achtung vor Menscheneltern gebietenden Gebote, wo gleich lohnende Zukunft fast mit gleichen Worten ausgesprochen […]  : sieh Kap. 73. 500 ‫ אתו ואת בנו‬Und Ochs oder Lamm, es und sein Junges sollt ihr nicht schlachten an einem Tage. (Dtn 22,28) 501 ‫שחיטה‬ 502 ‫ י"ד‬16. 503 ‫ צער בעלי חיים ואיסר חסימה‬Wenn du siehst deines Hassers Esel erliegend unter seiner Last, und wolltest unterlassen sie ihm zu lösen  : so löse sie wohl mit ihm. (Ex 23,5)  ; Verschließe nicht den Mund dem Stiere, wenn er drischt. (Dtn 25,4)

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VII. Achtung der Tiere und Pflanzen

menschliche zuckt, ein mißhandelter Tiernerv wie der menschliche krankt, für Schnitt und Stoß und Schlag, für Mühe, Angst und Anstrengung, für Hunger und Durst das Tierwesen wie das menschliche empfindlich ist, – vergisst es, – und, bald aus Eigennutz bald zur Befriedigung einer Grille, bald in Gedankenlosigkeit,  – ja, selbst zur Befriedigung roher satanischer Lust  – wird der Mensch Torturhenker der ihm nur zur Vollbringung menschlich weiser Zwecke untergeordneten Tierseele. Siehe  ! Da tritt dir Haschems Lehre entgegen und verpflichtet dich, nicht nur keinem Tiere einen unnützen Schmerz zu bringen, sondern504 selbst wo du auch ein ohne deine Schuld leidendes |383| Tier erblickst, beizuspringen und wenn du kannst, das Leiden zu mildern, zu heben. Denn in dem ersten obigen Gesetze der Lastlösung weist aus den einzelnen Bestimmungen desselben Thschbp, wenn eine Liebespflicht gegen den verlegenen Tierbesitzer besteht, so vor allem die Pflicht gegen das leidende Tier nach. Auch ohne Herr oder wo derselbe aus eigenem Verschulden des Überladens den Fall herbeigezogen, ja, selbst wenn er selber untätig dabei sitzen bleiben will, bist du gegen das Tier verpflichtet, ihm seine Last zu lösen.505 Und so stellt auch, in Bezug auf M’lochaúß am Schabbóß und Jaúm tauw, das Gesetz ein leidendes Tier überall dem nichtgefährlich kranken Menschen in so fern gleich, dass zu dessen Hilfe M’lochaúß d’rabbonón erlaubt sind.506 – Geschweige denn, dass du nur zum vernünftigen Menschenzweck dem Tier Schmerz bringen und seine Kräfte anstrengen dürfest und auch dann auf die schmerzloseste, am wenigsten quälende Weise, dass du dem Tiere, das dir dient, nicht unmäßige Lasten aufladest, es nicht unausgesetzt, ohne Rast arbeiten lässt oder ihm die gehörige Nahrung versagst. Vor allem Ihr, die Ihr junge Gemüter eurer Fürsorge anvertraut seht, wacht darüber, dass sie in dem kleinsten und größten Tier das wie sie von Gott zur Lebensfreude berufene und mit Empfindung begabte Wesen achten lernen und vergesst nicht, dass der Bube, der sich mit roher Lust an dem Zappeln eines verstümmelten Käfers, an der Angst eines gequälten Tiers weiden kann, auch bald gegen Menschenschmerz stumpf sein wird. – Im zweiten Gesetze fordert Gott als Recht der Tiere, das Tier, das für dich an Feldfrüchten arbeitet, ehe sie die letzte Vollendung in deinem Besitztum er­halten haben, (was sich daran herausstellt, ob ihnen noch Maaßer- oder Challóh-pflichtigkeit bevorsteht), also, von der Spende des Bodens, bis sie völlig |384| dein ist, ungestört von den Früchten essen zu lassen, in dem Augenblick, da es an ihnen arbeitet, es sei beim Dreschen, Lasttragen oder wie immer sonst. Und auf welche Weise auch du es am Essen derselben verhindern magst, wenn auch nur durch Zuruf oder mittelbar durch Angst, Durst oder unnötige Trennung von der Frucht sündigst du gegen dieses Verbot, das gleichsam dem Tier, das dir in Besitznahme der Früchte der Erde behilflich ist, ein Anrecht an die Frucht während seines Dienstes erteilt. Nur wenn ihm die Frucht schädlich wäre, darfst du es hindern.

504 Dies gehört eigentlich in die Klasse Mizwaúß, denn es ist Pflicht der Liebe gegen ein leidendes Tier. 505 ‫ ח"מ‬272 506 ‫ א"ח‬305, 19 u. 20.

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26. Moritz Ehrentheil, Mensch und Tier. Gegen die Tierquälerei (1887)507

|61| Der Ewige ist allen gut und es erstreckt sich seine Barmherzigkeit auf alle seine Ge­schöpfe.508 Der Mensch, dem vermöge seiner Gottähnlichkeit die Herrschaft über die Welt und alle Geschöpfe übertragen wurde, über­nahm mit den Herrscher-Rechten folgerichtig auch die entspre­chenden Herrscher-Pflichten, die vorzüglich darin bestehen, den ihm untergeordneten Geschöpfen nicht bloß kein Leid zuzu­fügen, sondern sie auch möglichst schonend zu behandeln und ihr physisches Gedeihen zu fördern. Hierdurch bekundet der Mensch seine Gottähnlichkeit, da des Ewigen Barmherzigkeit sich eben auf alle seine Geschöpfe erstreckt. Im Grunde genommen schärft die Bibel selbst leblosen Dingen gegenüber Schonung und Erhaltung ein, ver­bietet sie ja ausdrücklich die Vernichtung von Fruchtbäumen selbst in Feindesland.509 Noch weiter geht hie­rin der Talmud, der sein diesfälliges Verbot der Zerstörung nicht auf die Pflanzenwelt beschränkt, sondern die Vernichtung oder Schädigung jeglichen Nutz- oder Wertgegenstandes in geradezu hyperbolischer Ausdrucksweise ablehnt510. Der Tal­mud verkündet nämlich  : Wer im Zorn ein Gefäß zerbricht oder ein Kleid zerreißt, begeht gleichsam einen Götzendienst.511 Doch kehren wir zu den Äußerungen über die schonende Be­handlung der Tiere zurück, die uns von Bibel und Tal­mud in gleich nachdrücklicher Weise empfohlen wird. Es gehören hierher unter anderem folgende biblische Vorschriften  : Du darfst während des Dreschens dem Tier das Maul nicht verschließen.512 – Du musst einem unter sei­ner Last hinfallenden Tier aufhelfen.513  – Du |62| darfst kein Tier verschneiden oder sonst wie verstümmeln.514  – Tiere verschiedener Gattung dürfen nicht zusammen­gespannt werden.515 – Mutter und Kind der Tiere dürfen nicht an einem Tage geschlachtet werden.516 – Beim Auffinden eines Vogelnestes muss die Mutter freigelas­sen werden, bevor man sich die Küchlein aneignet.517  – Am Sabbat und an Festtagen muss man auch den Arbeitstieren Ruhe gönnen.518 507 [Moritz Ehrentheil, Der Geist des Talmud. Quellengemäße Darstellung der talmudischen Anschauung über Gott, Mensch, Staat, Justizwesen, Nächstenliebe, Wohltätigkeit, Armen-Pflege, Verhalten gegen die Heiden, Thierquälerei, Arbeit, Erziehung und Unterricht, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Beschränkung der Todesstrafe, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit etc. etc. Für die intelligenten Classen aller Confessionen. Budapest  : Burian 1887, 61–66] 508 Ps 145,9 509 Dtn 20,19 510 [für  : perhorresziert] 511 bPes 118 512 Dtn 25,4 513 Ex 23,5 514 Lev 22,24 515 Lev 19,19 516 Lev 22,28 517 Dtn 22,6 518 Ex 20,10

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VII. Achtung der Tiere und Pflanzen

Die Lehre von der schonenden Behandlung der Tiere war schon im biblischen Zeitalter so tief in das allgemeine Volksbewusstsein eingedrungen, dass man jedem, der sich hiergegen etwas zu Schulden kommen ließ, auch gegen die Menschen, ja gegen die eigenen Verwandten Gefühl- und Herzlosigkeit zutraute. So heißt es  : Der Gerechte schont seines Viehs, der Frevler dagegen ist auch gegen Verwandte grausam.519 Nun mögen hier noch einige diesfälligen Aussprüche aus dem Talmud und dem verwandten Schrifttume folgen. Jede Art von Tierquälerei, wie Tiergefechte, Jagden etc. sind unstatthaft.520 – Man muss auch ein Tier von seinen Leiden zu befreien suchen und ist in diesem Falle selbst die Umgehung gewisser rabbinischer Verbote zulässig.521 – Bevor man sich zur Tafel begibt, verabreiche man dem Vieh das Futter.522 – Als Gott Moses und David zu Führern erkor, rief er  : „Diese haben auch die Tiere mit Barmherzigkeit behandelt, sie mögen daher Hirten meines Volkes sein  !“523 Die eben erwähnte Moses-Sage ist geradezu von überaus rührender Natürlichkeit. Sie lautet wie folgt  : Als Moses nach seiner Flucht aus Ägypten in der Nähe der Wüste die Schafe seines Schwiegervaters weidete, ver­lief sich ein Lämmchen von der Herde. Moses begab sich auf die Suche nach dem Lämmchen, welches er an einem kühlen Platz fand, bei einer frischen Quelle seinen Durst stillend. Moses |63| erbarmte sich des müden Lämmchens, nahm es auf seine Arme und trug es zur Herde zurück. – Da sprach Gott zu ihm  : „Da du ein solch treuer Hirte einer Schaf-Herde bist, so wirst du wohl auch meine Schäflein, das Volk Israel, mit Schonung und Liebe behandeln. Sei du daher der treue Hirt meines Vol­kes  !“524 Auch nachstehende Sage hat bloß die Tendenz, die Scho­nung für die Tiere möglichst eindringlich einzuschärfen  ; sie lautet  : Rabbi Jehuda Hanassi war mit einem schweren Leiden behaftet, von dem er erst nach 13 Jahren kuriert wurde. Dieser Krankheit, berichtet die Sage, verfiel der erwähnte gelehrte Synhed­ralpräsident deshalb, weil er in einem Falle gegen ein Tier zu wenig Zartsinn bekundete. Ein Kalb wurde nämlich zur Schlachtbank geführt, es lief davon und steckte den Kopf unter den Man­tel des Gelehrten, als wollte es dessen Schutz anflehen. Doch der Rabbi stieß das Tier mit den Worten zurück  : „Geh’, das ist ja doch deine Bestimmung  !“ – Gleich darauf wurde er von einer heftigen Krankheit heimgesucht, die so lange währte, bis der Gelehrte Gelegenheit fand, den begangenen Fehler wieder gut­zumachen. Etwa 13 Jahre später entdeckte nämlich die Magd anlässlich einer Ausräumung im Hause ein Loch mit jungen Wieseln. Sie wollte die Tiere ins Wasser werfen, doch Rabbi Jehuda rief ihr zu  : „Lass’ doch  ! Es heißt ja  : Des Ewigen Barm­herzigkeit erstreckt sich auf alle seine Geschöpfe  !“525 519 520 521 522 523 524 525

Spr 12,10 bBM 23,33. bShab 128. bGit 64. ExR Abschn. 2. ExR Abschn. 2. bBM 85.

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26. Moritz Ehrentheil, Mensch und Tier. Gegen die Tierquälerei (1887)

Es ist hieraus zu ersehen, wie tief der Abscheu gegen Tierquälerei in der öffentlichen Meinung schon des alten Judentums wurzelte, da man Krankheiten dem Mangel an Zart­ sinn, die Genesung dagegen der Schonung gegen die Tiere zuschrieb. Von ganz gleicher Tendenz ist auch eine Sage über Alexander den Großen, die wie folgt lautet  : Alexander kam hinter den Bergen der Finsternis in ein |64| Land, wo er dessen Könige einen Besuch abstattete. Während die­ses Besuches erschienen zwei Männer vor dem Könige mit einem eigentümlichen Prozess. Der eine sagte  : „Ich habe von diesem meinem Gegner eine Baustelle gekauft. Beim Wegräumen des Schuttes fand ich jedoch einen Schatz. Da ich nur die Baustelle gekauft, nicht aber auch den Schatz, so bitte ich, meinen Gegner zur Entgegennahme dieses Schatzes zu verurteilen  !“ – Der andere replizierte hierauf  : „Majestät  ! Als ich die Baustelle verkauft habe, war alles mit inbegriffen, was auf und in derselben sich befindet. Der Schatz gehört also meinem Gegner, und mein Gewissen lässt es nicht zu, dass ich das Eigentum eines anderen annehme  !“ Der König schlichtete diesen Prozess auf sehr kluge Weise. Von den beiden streitenden Männern hatte nämlich der eine einen jungen Sohn, der andere dagegen eine junge Tochter. Der König riet daher, dass die Kinder einander heiraten sollen und der strittige Schatz dem jungen Ehepaare als Heiratsgut aus­geliefert werden möge. Die Streitenden entfernten sich nun voll­kommen befriedigt von diesem weisen Urteilsspruch. Alexander drückte über den Vorfall sein tiefes Erstaunen aus, indem er sagte  : „Welch’ sonderbare Sitten herrschen doch hier  ! Bei uns würde man beide Männer ohne weiteres hinrichten lassen, weil sie den Schatz nicht sogleich dem König ausgeliefert haben, dem derselbe von Rechtswegen doch gehört  !“ Nun entspann sich zwischen den beiden Herrschern fol­gender Dialog  : Der König  : Regnet es bei euch  ?   Alexander  : Gewiss regnet es  ! Der König  : Scheint bei euch die Sonne  ?   Alexander  : Ganz so wie hier  ! Der König  : Gibts bei euch auch Vieh  ?   Alexander  : Allerdings  ! Der König  : Nun, dieser letzte Punkt erklärt mir alles. |65| Die Menschen bei euch, die so ungerecht denken und handeln, verdienen weder Regen noch Sonnenschein. Diese himmlischen Gaben werden eurer Gegend nur des unschuldigen Viehs wegen zu Teil.526 Wir müssen hier zum Schluss dieses Kapitels noch ganz besonders auf jene talmudischen und rabbinischen Be­stimmungen hinweisen, welche die Tötungs-Art der Tiere betreffen. Es wird nämlich vorgeschrieben, dass das Schlachten am Halse vollzogen werde mit einem scharfen und glatten Mes­ser, welches auch nicht die geringste Scharte haben darf. Es wird jeder Unbefangene auch in diesen minutiösen Vorschriften abgesehen von 526 bTam 4  ; GenR

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VII. Achtung der Tiere und Pflanzen

anderen Gründen wohl die Fürsorge erblicken, beim jüdisch-rituellen Schlachten die Tierquälerei zu vermeiden. Es muss Obiges umso mehr betont werden, als der Gegen­stand namentlich in Deutschland seit einem Decennium einen aktuellen Charakter gewonnen hat. Die Tierschutzvereine bestürmten nämlich den deutschen Reichstag mit Petitionen wegen gesetzlicher Untersagung der jüdisch-rituellen Schlachtmethode, da diese angeblich eine Tierquälerei involviere. In der Sitzung des deutschen Parlaments vom 18. Mai 1887 kam die Petition des Tierschutzverbandes gegen die jüdische Schlachtmethode zur Er­ledigung.527 Der Gegenstand rief in allen jüdischen Kreisen eine solch’ tiefe Aufregung hervor, dass gegen das Ansinnen der Tierschütz­ler nicht weniger als 2025 Gegenpetitionen jüdischer Gemeinden ein­liefen. War ja an den Bestrebungen der Tierschützler die anti­semitische Spitze nur sehr schlecht verhüllt. Man wollte ganz ein­fach den Juden das Wohnen in Deutschland durch Untersagung des jüdisch-rituellen Schlachtens zur Unmöglichkeit machen. Im In­teresse der historischen Wahrheit möge hier hervorgehoben werden, dass Windt­ horst, Miquel528 und Brömel |66| förmlich wetteifernd für die jüdische Schlachtmethode eintraten, indem sie sich hierbei auf die Gutachten der hervorragendsten Fachmänner beriefen, welche diese Tötungs-Art als den humanitären Grundsätzen entsprechend bezeichneten. Nur der Antisemit Böckel529 spie Feuer und Flammen, indem er rief  : „Das Judentum verdient keine Berücksichtigung, da es keine Konfession, sondern bloß eine Rasse bildet  !“ – Das Parlament ging über die Forderungen der Tierschützler, insofern sie sich auf das „rituelle Schlachten“ bezogen, zur Tagesordnung über, doch wurde die Petition dem Reichskanzler zur Erwägung überwiesen. Das ist eine Tatsache, die für unsere Tage in gleichem Maße ärgerlich und beschämend ist. – Wir haben zur Genüge den Beweis erbracht, wie eben der Geist des Judentums, wie er in Bibel und Talmud zum Ausdrucke gelangt, die Tierquälerei entschieden ablehnt,530 dagegen die höchste Schonung und Milde auch gegen Tiere aufs angelegentlichste einschärft. Es ist merkwürdig, dass die Feinde Israels dasselbe gerade der angeblichen Verletzung einer solchen Tugend zeihen, die eben auf jüdischem Boden entsprungen und auch in ihren ersten Anfängen als Geistes-Eigentum des jüdischen Volkes, der jüdischen Moral- und Sittenlehre, anerkannt werden muss. Während die Bibel den „Noachiden“ bloß den Genuss des Fleisches von lebenden Tieren untersagte, schärfte sie den Juden die schonungsvollste Schlachtmethode ein  !

527 [Vgl. Die Reichstags-Verhandlung (am 18. Mai 1887) über das jüdisch-rituelle Schlachten  : (Stenographischer Bericht). Bern  : Stämpfli 1891] 528 [Bei der Reichstagswahl 1887 als Abgeordnete gewählt  : für Stettin Max Broemel, DFP  ; für Meppen, Lingen, Bentheim, Aschendorf, Hümmling Ludwig Windthorst, Zentrum  ; für Kaiserslautern, Kirchheimbolanden Johannes Miquel, NLP.] 529 [Bei der Reichstagswahl 1887 als Abgeordnete gewählt  : für Marburg, Frankenberg, Kirchhain Otto Böckel. Als erster Abgeordneter bezeichnete Böckel sich selbst primär als ‚Antisemit‘.] 530 [für  : perhorresziert]

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VIII. VERSÖHNUNG

27. Samuel Holdheim, Buße und Versöhnung (1853)531

|215| I. Nach einer uralten Institution des Judentums musste der, welcher das Unglück hatte, ein Menschenleben unversehens zu töten, nach einer der zu solchem Zweck errichteten Freiund Zufluchtsstätten sich flüchten, wo er vor den Verfolgungen des Bluträchers sicher gestellt war. Er durfte sein Asyl nicht eher verlassen ‫עד מות כהן הגדול‬, als bis der Hohepriester starb. Selbst der Tod der nächsten Verwandten des Getöteten konnte den Vertriebenen aus dem Ort seiner Verbannung nicht erlösen. – Und dieses, meine Freunde, zeugt von einem hohen Geist sittlichen Ernstes, mit welchem das Judentum jede Schuld, auch die nicht mit Vorsatz verübte, rügt. Es gehört zu dem Charakter des Judentums, dass es eine Kategorie von Sünden kennt, die im sittlichen Reich der Dinge scheinbar gar nicht existieren, ich meine die aus Versehen ‫ בשגגה‬und ohne Willensfreiheit begangenen Sünden, für welche das mosaische Gesetz eine Sühne durch Opfer vorschreibt. Es ist nach ihm das Verhältnis des Menschen zu Gott von so zarter Natur, von so empfindlicher Organisation, dass es auch durch unwissentlich begangene Fehler leicht verletzt wird und eine Versöhnung erfor­derlich macht. In unseren ältesten Gebeten sprechen wir es aus  : |216| ‫„ הזדונות והשגגות אתה מכיר הרצון והאונס הגלוים והנסתרים לפניך הם גלוים וידועים‬die mutwilligen wie die aus Irrtum begangenen Sünden kennst du, das Freiwillige wie das Unfreiwillige, das Öffentliche wie das Verborgene, vor dir ist alles klar und offenbar  !“ Und der Psalmist betet  : „Verirrungen, wer merkt sie  ? von verborgenen Sünden mache mich rein. Auch vor mutwilligen Sünden behüte deinen Knecht, dass sie mich nicht beherrschen. Dann bin ich ohne Fehl und rein von großen Vergehungen.“ Auch im Talmud findet man den schönen Spruch  : ‫אע"פ שאין אדם נתפס על צערו אעפ"כ מחיצה עושה בינו לבין אביו‬ ‫„ שבשמים‬Obgleich der Mensch nicht für das verantwortlich gemacht werden kann, was er in einem großen Seelenschmerz begangen, so bildet dies doch eine Scheidewand zwischen ihm und seinem Vater im Himmel, so hat er doch immer das Bewusstsein einer Schuld auf der Seele und ist der Sühne bedürftig.“ Am deutlichsten aber ist dieser wahrhaft religiöse Gedanke in der erwähnten Institution ausgeprägt. Der unvorsätzliche Mörder ‫מכה נפש בשגגה‬, der das Unglück hatte, unfreiwillig ein Menschen­leben zu vernichten, soll die Größe dieses Unglücks so lebhaft als möglich fühlen und es durch ein schweres Opfer, durch das Herausgerissenwerden aus der lieblichen Heimat und durch die Verbannung in die Fremde sühnen und büßen. Er darf die Grenze seines Asyls nicht verlassen, selbst wenn die mutmaßlichen Bluträcher gestorben und er von deren Nachstellungen nichts zu fürchten hat. Denn nicht auf den Schutz 531 [Samuel Holdheim, Wem gilt unsere Reinigung  ? Am Versöhnungsfest (1853). In  : Samuel Holdheim, Predigten über die jüdische Religion. Gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Dritter Band. Dem Altmeister der jüdischen Kanzelberedtsamkeit, Herrn Dr. Gotthold Salomon, Prediger am neuen israelitischen Tempel zu Hamburg Hochehrwürden in Hochachtung und Liebe gewidmet. Berlin  : Julius Springer 1855, 215–224]

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VIII. Versöhnung

vor dem äußern Feind allein ist es hier abgesehen, sondern es soll auch der innere Vorwurf des Ge­wissens zum Schweigen gebracht, die eigene Seelentrauer über das durch unsere Hand, wenn auch nicht durch unseren Willen ver­gossene Menschenblut beschwichtigt und gesühnt werden. So milde und versöhnend nach der einen Seite, so streng ernst ist der Geist des Judentums nach der anderen Seite hin. Der menschliche Richter darf nur den mit Freiheit und Bewusstsein begangenen Frevel ahnden und muss seinen strafenden Arm niederhalten, wenn nicht die Absicht der vollbrachten Tat sonnenklar erwiesen ist. Ein anderes ist es mit dem inneren Richter, mit dem herzens- |217| kundigen Gott, der mit dem Licht seines allwissenden Auges die geheimen Kammern unseres Herzens durchspäht und jede verbor­gene Falte unserer Seele durchforscht und prüft, ob nicht Makel und Schuld an uns haftet. Dieses durch unsere Hände vergossene Bruderblut ist freilich nicht die Frucht eines bösen Willens. Ob aber nicht unsere ganze Lage und Stellung, unsere Verhältnisse und Beziehungen zu dieser Tat, unser Zusammentreffen mit dem Erschlagenen an diesem Orte dennoch das Resultat einer Sünde gleichsam der entfernte Reflex eines bösen Gedankens, das letzte Glied einer großen Kette von Ursachen und Wirkungen sind, wovon der erste Ring ein böser Wille war  ? Wer vermag das zu beurteilen außer dem allwissenden Gott und dessen Nachhall in un­serem Herzen  ? Und zugegeben, es wäre dieses eine Mal eine ver­derbliche Tat ohne bösen Willen gewesen, prüfen wir uns, wie viele Mal ein böser Wille in uns herrschte, ohne dass eine Tat ihm folgte. Wollen wir für Taten ohne bösen Willen die Verantwortlichkeit ablehnen, nun, so müssen wir sie für böse Absichten ohne Taten übernehmen  ! Jawohl, meine Freunde, es liegt eine große niederschlagende Wahrheit in dem Wort der alten Weisen  : ‫ אדם מועד לעולם בין שוגג בין מזיד בין ער בין ישן‬Der Mensch ist immer als verwarnt und deshalb als verantwortlich für jeden Schaden anzusehen und kann niemals die Urheberschaft und Verantwortung für Menschenverletzungen von sich weisen, ob er freioder unfreiwillig, schlafend oder wachend gehandelt  ; wie nicht minder in dem Spruch  : ‫„ כל שחבתי בשמרתי הכשרתי את נזקו‬Von allem, was ich zu hüten verpflichtet bin, trage ich die Schuld, wenn es auch ohne meinen Willen Schaden anrichtet.“ Wir haben sehr oft eine bestimmte Tat nicht beabsichtigt, aber dennoch alles herbeigeführt, wovon diese Tat nach einem geheimen Spiel von Ursachen und Wirkungen die notwendige Folge war. Kein Vater lehrt seinen Sohn, die Hand nach fremdem Eigentum auszustrecken, keine Mutter unterweist ihre Tochter, Zucht und Sitte zu vergessen, und dennoch können sie sich nicht immer freisprechen, wenn das eine oder das andere der Fall ist. Sie haben freilich dieses be- |218| stimmte Böse nicht gewollt. Aber sie haben die ihrer Hut anver­trauten Kinder nicht frühzeitig gewöhnt, die sträflichen Gelüste ihrer Herzen zu beherrschen und zu unterdrücken. Sie haben, von falscher Liebe und Eitelkeit verführt, ihre bösen Gelüste vielleicht selbst genährt und gefördert, die später zu Verbrechen wurden. Und gesetzt, wir wären in der Tat in diesem einen Fall ganz unschuldig, sind wir es immer gewesen  ? Nach einem alten mo­saischen Gesetz musste die des Ehebruchs verdächtige Frau die Prüfungswasser trinken und aus dem Munde des Priesters eine Beschwörungsformel ihrer Unschuld vernehmen, die sie mit einem „zwiefachen Amen“ zu beantworten hatte. Die Beschwörung des Priesters bezog sich freilich nur auf den einen, bestimmten 222

27. Samuel Holdheim, Buße und Versöhnung (1853)

Fall, der den Verdacht gegen sie erregte. Aber das aus der tiefen Seele der Schwörenden selbst hervortönende zwiefache Amen bezog sich  – nach einer sinnigen Auslegung der Alten – auf alle Fälle. ‫ אמן מאיש זה אמן מאיש אחר‬Und wehe ihr, wenn sie in dem einen Fall unschuldig, in einem andern Fall aber schuldig war  ! – Das, meine Freunde, ist der tiefere Sinn der Worte  : ‫ לפני מי אתם מטהרים‬Vor wem wollt ihr euch reinigen  ! Wir stehen mit unserer Seele vor dem allwissenden Gott. Haben wir auch keine Schuld auf unserem Gewissen, für die uns ein menschlicher Richter, ein menschlicher Priester zur Verantwortung ziehen kann, ‫ נחפשה דרכינו ונחקורה‬lasst uns unsere Wege untersuchen und prüfen, ob wir auch vor Gott hintreten können mit dem Bekenntnis  : „Mein Herz ist rein, meine Seele frei von Schuld  !“ Vor wem wollt Ihr Euch reinigen, vor Eurem Vater im Himmel  ! Ein je liebreicherer Vater, ein umso strengerer Richter muss er sein. Er spricht zu uns  : Alles, was ihr gegen mich allein gefrevelt und gesündigt habt ‫עברות‬ ‫שבין אדם למקום‬, will ich, euer Vater, gern vergessen und vergeben ‫ ;  יה"כ מכפר‬was ihr aber gegen meine geliebten Kinder verschuldet habt ‫עברות שבין אדם לחברו‬, kann ich, ihr Vater, nicht vergeben, die müsst ihr von meinen verletzten Kindern selbst er­stehen und bewirken ‫עד שירצה את חברו‬. Und wie, meine Freunde, wenn der schwer verletzte Bruder schon an seinen Wunden ge- |219| storben und unsere Schuld ins Grab mitgenommen hat, wie dann  ? Wie viele trübselige Verhältnisse des Lebens könnte ich euch nennen, die mit dem Tode endigen und wovon wir die Todesursache auf unserem Gewissen haben, indem wir durch Verletzung, Kränkung, Verleumdung, Beraubung den ersten Todeskeim in eines Menschen Herz gepflanzt  ! Wir waschen zwar unsere Hände in Unschuld und sprechen mit den Ältesten in Israel  : „Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen.“ Aber nur deshalb, weil ‫„ ועינינו לא ראו‬un­sere Augen haben es nicht gesehen“, weil unsere von Selbstsucht geblendeten Augen den ganzen verborgenen Zusammenhang von Ursachen and Wirkungen nicht übersehen, weil wir beim letzten Glied der vor unsern Augen zerrissenen Kette den ersten Ring längst vergessen haben  ! Vor wem wollt ihr rein werden, vor eurem Vater im Himmel  ! Ist es nicht eigen, meine Freunde, Rabbi Akiba will uns zur strengen Selbstprüfung ermuntern, und doch nennt er Gott nicht Richter, sondern Vater  ! Meint ihr, es wäre dies zufällig  ? Nein, es geschieht mit gutem Grund. Vor Gott, dem Richter, dem strengen unparteiischen Richter, müssten wir freilich den Blick voll Scham und Reue zur Erde niedersenken und dürften nicht wagen das Auge zu erheben, bis er ein Mitleiden mit unserem tiefen Schmerz fühlt und sich unser wieder erbarmt. Aber noch viel furchtbarer muss für uns der Anblick eines Vaters, des weisen liebevollen Vaters der von uns so schwer gekränkten Kinder sein  ! Wer wollte in solchem Falle nicht lieber vor den Richter als vor den Vater hintreten oder wer wollte nicht jeden andern als den Vater der von uns beleidigten Kinder zum Richter über uns bestellt wissen  ! Darum beherzige ein jeder von uns das Wort der Weisheit  : Wem gilt unsere Reinigung  ? unserem Vater im Himmel  ! Das Judentum bannt den heidnischen Geist der Rache und gebietet seinen Kindern die Versöhnung. Aber es will, dass diese himmlische Frucht mit reiner Hand gepflückt, mit reiner Seele genossen werde. Diese himmlische Frucht der Versöhnung, sie verwandelt sich in ein Giftkraut für den, der mit unreinem Herzen sie 223

VIII. Versöhnung

empfängt, „Ein Quell Israels ist der Herr  ; wie der Wasser- |220| quell den irdischen Leib, so reinigt Gott unsern Geist.“ Der, welcher mit schuldigem Bewusstsein gegen den unversöhnten Bruder den Versöhnungstag feiert, ist ‫„ טובל ושרץ בידו‬ein Mensch, der in dem Reinigungsquell badend, den Quell mit seinem Schmutz ver­unreinigt.“ II. Fühlen wir uns, meine Freunde, niedergebeugt von der Macht des einen Worts  : Wem gilt unsere Reinigung  ? so lasst uns jetzt uns erheben an der Kraft des andern Wortes  : ‫מי מטהר‬ ‫„ אתכם אביכם שבשמים‬Wer macht euch rein, euer Vater im Himmel  !“ ‫מיום שחרב בה"מ אין דורש ואין מבקש ואין שואל ואנו אין לנו על מי להשען אלא על אבינו שבשמים‬ „Von dem Tage an – sagt Rabbi Pinchas, Sohn des Jair – da der Tempel zerstört worden, gibt es keine Fürbitte und keine Fürsprache und keine Verwendung mehr und wir haben niemanden, auf den wir uns stützen könnten als auf unsern Vater im Himmel.“ Rabbi Akiba, kurz nach der Tempelzerstörung lebend, tat gewiss seinen Ausspruch im Hinblick auf seine Zeit, wo so manches fromme Gemüt ohne Opfer und ohne Hohenpriester die Kraft des Versöhnungstags gebrochen glaubte. Darum tröstete er  : Wer macht euch rein, wer besitzt allein die Macht und die Kraft, euch von der Sünde Schuld zu reinigen  ? – Euer Vater im Himmel  ! Die Lehre des Judentums von Buße und Versöhnung ist das Grundwesen nicht nur unserer Religion, sondern all der Re­ligionen, die dem Mutterschoß der unseren entstammt sind. Da das Judentum eine historische Religion von beinahe vier Jahrtausenden ist und seine Lehren und Anschauungen nicht nur in­nerlich von Stufe zu Stufe sich höher entfaltet und ausgebildet haben, sondern auch bald auf dieser, bald auf jener Bildungsstufe in die verschiedensten Länder und Himmelsstriche versetzt und ver­pflanzt worden sind, so gibt es unter den Bekennern des Judentums leider nur wenige, die auf ihrem eigenen Grund und Boden heimisch und eingeweiht sind, nur wenige, welche die großen und glänzenden Vorzüge ihrer Religion zu schätzen und zu würdigen |221| wissen. Sie gleichen jenen Unkundigen, welche in fremden Ländern die Erzeugnisse des Bodens oder der Kunst ihres eigenen Landes mit schwerem Gold bezahlen, um ihren Lieben in der Heimat ein wegen seiner Seltenheit wertvolles Geschenk mitzubringen, ohne zu ahnen, dass es in ihrer nächsten Nähe gewachsen oder er­zeugt worden ist. – Ganz besonders gilt dies von der Lehre von der Versöhnung. Das alte Judentum knüpft die Versöhnung bald an ein Opfer, bald an den Priester, und – es wird seltsam klingen – auch an den Tod des Hohenpriesters. Der wegen eines unvorsätzlichen Mordes Verbannte durfte sein Asyl nicht verlassen und in die Heimat zurückkehren ‫ עד מות כהן הגדול‬als bis der Hohepriester starb. Der Umstand, dass der Mann mit dem heiligen Salböl auf dem Haupt, in dessen Hände das Werk der Versöhnung gegeben war, dass der Hohepriester mit seinem Tode den Vertriebenen aus seinem Asyl erlöste, hat die jüdische Versöhnungslehre tief beschattet und zu so vielen Missverständnissen Anlass gegeben, dass wir es für unsere Pflicht halten, das Licht des Judentums über sie leuchten zu lassen. Die Beziehung, in welcher der Tod des Hohenpriesters zu dem unvorsätzlichen Mörder stehen soll, ist eines der schwierigsten Rätsel, an dessen Lösung die Auslegungskunst verschiedener Zeitalter sich versucht hat. 224

27. Samuel Holdheim, Buße und Versöhnung (1853)

Am glücklichsten scheint uns die Erklärung des geistesgewaltigen Mai­monides den rechten Sinn getroffen zu haben. Der Mensch – sagt er – empfindet den Schmerz eines einzigen kranken Gliedes weniger, wenn der ganze Körper in einem leidenden Zustand sich befindet. So empfindet auch der einzelne Mensch sein besonderes, persönliches Seelenleiden weit weniger, wenn das ganze Volk, dessen Glied er ist, von einem großen Schmerz ergriffen ist. Der Tod des Hohenpriesters, der geliebtesten und geachtetsten Persön­lichkeit, gleichsam des denkenden Kopfes und des fühlenden Herzens des jüdischen Volks, hat in dessen Mitte einen so tiefen und le­bendigen Schmerz hervorgerufen, dass jedes einzelne seiner Glieder mit gleicher Stärke sich derart davon getroffen fühlte, dass sein eigenes persönliches Wehe darüber verstummte. Wer über den Tod eines teuren Verwandten trauerte, der sah seinen Schmerz |222| in dem allgemeinen und großen Nationalschmerz untergehen. Der Bluträcher, dessen Herz über das von Menschenhand vergossene Blut seines Verwandten vor Rache glühte, sah sein Gemüt sich beruhigen. Das Gefühl der Rache – ein Kind der Selbstsucht, des Schmerzes über persönlichen Verlust, starb in der allgemeinen Trauer eines ganzen Volkes über den Tod des Hohenpriesters. Die Quelle dieser Trauer war die reine Liebe, ihre Wirkung die Versöhnung. Für den Vertriebenen war keine Verfolgung von Seiten des Bluträchers mehr zu fürchten und er durfte, nachdem das Leiden der Verbannung seine Schuld gesühnt hatte, sein Asyl ver­ lassen und in die Heimat zurückkehren. Das, meine Freunde, bedeutet die Versöhnung durch den Tod des Hohenpriesters  ! Kein anderer als Gott kann uns versöhnen, aber er bewirkt die Versöhnung durch die Liebe und durch den läuternden und verklärenden Schmerz, den die Liebe empfindet, wenn der teure Gegenstand ihr entrissen wird. – Die Liebe des Volkes zu seinem Hohenpriester, dem sichtbaren Träger seiner geistig-sittlichen Größe und Herrlichkeit, hatte das Volk zu einem edlen Organismus vereinigt und verbunden und der Schmerz, den dessen Tod hervorrief, wirkte wie ein stillender Balsam heilend und tröstend auf jede Wunde und jedes Wehe, das seine Glieder empfanden. Der Mann, in dessen Hände das Werk der Versöhnung gegeben war, er übte es mit seinem Leben und darum auch mit seinem Tode. Das ist der Sinn des Spruches der Alten  : ‫„ מיתת צדיקים מכפרת‬Der Tod der Frommen und Gerechten bewirkt Sündenvergebung und Versöhnung  !“ Es ist nicht der Tod in dem Sinne von „Opfertod“, sondern die Liebe, die bei ihrem Tode in dem ganzen Volke wachgerufen und der große und allgemeine Schmerz, den man über ihren Tod empfindet, welcher sühnend und läuternd wirkt. Ja, es ist vollkommen wahr, was die Alten ferner sagen  : ‫גדולים‬ ‫„ צדיקים במיתתן יותר מבחייהן‬Die Frommen und Gerechten sind größer in ihrem Tode als in ihrem Leben.“ Die Liebe des Volkes, deren Gegenstand sie waren, ist am größten und am innigsten in dem Augenblick des Verlustes. In gleichem Maße wächst der Schmerz, den die Liebe empfindet. |223| Darum die Macht der Versöhnung bei ihrem Tode größer ist als bei ihrem Leben  ! Das, meine Freunde, ist die jüdische Lehre von der Versöhnung. Sie hat wie die Gotteslehre des Judentums nichts Sonderbares und nichts Wunderbares, nichts Befremdendes und nichts Myste­riöses, sondern Klares, Lichtes, Reinmenschliches. Sie liegt in dem Worte  : Wer macht euch rein  ? Euer Vater im Himmel  ! Kein anderer kann Euch reinigen 225

VIII. Versöhnung

und versöhnen als Gott. – Haben wir wohl erwogen den strengen Ernst der Worte  : Wem gilt unsere Reinigung  ? so können wir Trost und Beruhigung schöpfen aus dem Gedanken  : Wer reinigt uns  ? Es war niemals das tierische Opfer, dessen Blut auf dem Altar vergossen ward, sondern die schmerzliche Erinnerung der Seele bei solchem Anblick an die eigene Blutschuld, die an ihr haftet, das tiefe Wehe, das sie durch­schauerte bei dem Innewerden, wie sie selbst aus tausend geheimen Wunden blutet. – Wer reinigt uns  ? Es war niemals der Hohe­priester mit seinen heiligen Gewändern, sondern der Bund des Lebens und des Friedens, in dem er mit Gott stand, die Lehre der Wahrheit in seinem Munde, das Arg- und Falschlose auf seinen Lippen. – Wer reinigt uns  ? Es war niemals der Tod des Hohenpriesters als der „Opfertod“ des Gerechten für die Schul­digen, sondern dessen Wandel in Frieden und Gerechtigkeit, der eine heilige Liebe im Herzen des Volks entzündete, und der heilige Schmerz, den sein Tod erweckte. – Wer reinigt uns  ? Wir haben keine Opfer und keine Priester und keine Priesterkronen mehr, aber wir haben unseren Gott und Vater, auf den allein wir uns stützen und lehnen, und wir haben eine Gotteslehre, deren Krone alle andern beschattet, und diese Gotteslehre mahnt uns  : Sei ein Schüler Aarons, des Hohenpriesters, entzünde die Liebe im Herzen der Menschen bei deinem Leben, dass sie als Fackel der Versöhnung leuchte bei deinem Tode, liebe den Frieden und suche den Frieden, liebe die Menschen und bringe sie nah’ der Gotteslehre  ! Das ist unsere Versöhnungslehre, die uns hebt und tröstet  ! Stimmen wir daher auch gern ein in den heiligen Ruf unserer Glaubensbrüder  : ‫ אשרי עין ראתה כל אלה‬Heil dem Auge, das den |224| Hohenpriester in seinem glänzenden Schmuck gesehen  ! so können wir doch mit ihnen über das Erbleichen dieses Glanzes nicht trauern. Wir freuen uns vielmehr, dass der Sieg der Versöh­nungslehre des Judentums über den heidnischen Geist der Rache den Krieg verscheucht und mit dem Krieg die blanken Waffen und das glänzende Gerüst entbehrlich geworden.  – Wir haben keine Priester unter uns und über uns mehr  ; aber Gott ist unser Hohe­priester ‫אלהיכם כהן גדול הוא‬, der mit seinem „Leben“ uns er­löst, mit seiner unsterblichen Liebe uns sühnt und reinigt. Und wir selbst sind eine Gemeinde von Priestern geworden. So sei denn der Bund Gottes, der Bund des Lebens und des Friedens mit uns geknüpft, die Lehre sei in unserem Munde und jeder von uns ein Friedensbote des Gottes der Heerscharen  !

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28. Hermann Cohen, Buße und Versöhnung (1890–1892)532

|125| Die Idee der Versöhnung bezieht sich auf drei Hauptgebiete der menschlichen Kultur  : auf die Religion, die Sittlichkeit in Recht und Staat und auf die Kunst. Denn sie bedeutet erstens die Versöhnung zwischen Mensch und Gott, zweitens zwischen Mensch und Mensch und drittens die Versöhnung des Menschen mit sich selbst. Diese drei Arten lassen sich jedoch nur begrifflich unterscheiden, nicht sachlich trennen. Nur in Vereinigung vollziehen sie die Aufgabe der Versöhnung. Im Ursprung der Kultur sehen wir daher auch die Anfänge der Sittlichkeit verbunden mit der Religion am Problem der Tragödie arbeiten. So führen die Anfänge der mit der Kunst verbundenen Religion auf einen Ur­zustand der Sittlichkeit zurück, der für die dreifache Bedeutung der Versöhnung charakteristisch ist. Der Fortschritt der griechischen Religion hängt mit der Aus­bildung der sogenannten orphischen Theologie zusammen. Diese aber ist nicht unabhängig von der orientalischen Spekulation. Und wir können auch in den Anfängen der israelitischen Ge­schichte wie bei den Griechen eine Stufe erkennen, auf welcher der Gedanke der Versöhnung noch nicht vorhanden ist. Wie die Griechen jener Urzeit sich unbefangen der Lust und Freude vor ihren Göttern hingeben, so freuen sich auch die Israeliten in den Anfängen ihres Kultus nicht nur vor ihrem Gotte als viel­mehr mit ihm. Diese Anfänge bilden die erste Stufe des Opferkultus. Der Ursprung des Opfers liegt nicht in dem Gedanken, die Gottheit, die durch menschliches Unrecht verletzt ist, durch eine Gabe als ein Zeichen der Reue zu versöhnen, sondern in dem naiven Gefühl der Gemeinschaft der Menschen mit ihren Göttern. Wie die Glieder einer Familie und eines Stammes mit­einander schmausen, so ist die erste Form des Opfers ein Mahl. Nicht Entsagung wird dabei geübt, sondern Verschwendung, als |126| Schaustellung von Kraft und Besitz. Höchstens können die Opfer dazu dienen, in den Bund, welchen die Gäste bei diesen Opfer­mahlen untereinander schließen, auch Gott mit einzuschließen. So entsteht auf dieser Stufe des Opfers der Gedanke des Bundes. In dieser ganzen breiten Mythenschicht ist das Opfer noch außer Zusammenhang mit der Versöhnung, die noch nicht da ist. Der Gott, mit dem, nicht dem geopfert wird, ist nicht Zielpunkt der Versöhnung. Der Mensch denkt sich noch eins mit seinem Gott, weil er noch nicht entzweit ist mit sich selbst. Erst muss er zwei Seelen in der eigenen Brust fühlen lernen, um als ein höheres Wesen Gott von sich zu trennen und um dadurch wieder die verlorene Einheit in sich selbst zu finden. Die Propheten sind es, welche diesen Zwiespalt des Menschen mit sich selbst erwecken. Aber der Widerspruch im Menschen selbst war nicht der erste Angriff ihrer Sittenpredigt. Im Zusammenhang mit der großen Politik eifern sie gegen das bürger­liche Unrecht, su532 [Hermann Cohen, Die Versöhnungsidee (1890–1892). In  : Hermann Cohens Jüdische Schriften, erster Band  : Ethische und religiöse Grundfragen. Berlin  : Schwetschke & Sohn 1924, 125–139]

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VIII. Versöhnung

chen also den Widerspruch fühlbar zu machen, in dem der Mensch zum Menschen steht. So kommen sie zum An­griff auf das nationale Opfer. Nicht etwa einen Missbrauch des Opfers geißelt Amos. Sein Stachel trifft den Widerspruch in dieser Art von Gottesdienst überhaupt. In der ganzen Lebens­führung des Menschen soll die Verehrung Gottes zum wahr­haften Ausdruck kommen. Gegen diese neue Ansicht vom Gottes­dienst tritt das Opfer in grellen Kontrast. Und als das Opfer später den blutigen Charakter der Furcht und der Entsagung an­nimmt, da wird der Eifer der Propheten umso bitterer. Im Gegensatz gegen das Böse als eine Macht im Wesen der Gott­heit kommt der prophetische Gott zu seiner wahren Reife. Gott ist nicht nur der Allmächtige, sondern einer, der Gerechtigkeit und Liebe übt und Gerechtigkeit und Liebe fordert und nichts anderes. Der einzige Gott fordert keinen sogenannten Gottes­ dienst für sich selbst, sondern allein und ausschließlich Recht und Sittlichkeit. Die Propheten bekämpfen das Opfer kraft der sittlichen Ideen der Zehn Gebote. In deren Mittelpunkt steht das Gesetz des Sabbat, der Eckstein sozialer Sittlichkeit, auf dass dein Sklave und deine Sklavin ruhe gleich wie du. Vom Opfer, das am Sabbat gebracht werde, schweigen die Zehn Gebote, wie sie vom ganzen Opferkultus nichts wissen. Die prophetische Gottesidee entdeckt |127| eine neue Sünde und eine neue Sühne, die monotheistische Versöhnung. Sie hat zur Voraussetzung die Erkenntnis des Unrechts im Verhältnis der Menschen untereinander. Dieses Unrecht gegen die Menschen ist das Unrecht gegen Gott. Die Versöhnung mit dem neuen, dem wahren Gott erfolgt dadurch allein, dass Neid und Hass unter den Menschen beseitigt werden. Diese Laster spalten den Menschen in zwei Seelen oder zwei Triebe. Die Ver­söhnung von Mensch und Mensch führt zur Versöhnung des Men­schen mit sich selbst. Und in diesen beiden Arten der Versöhnung vollzieht sich die prophetische Idee der Versöhnung des Menschen mit Gott. Indessen lässt es sich historisch verstehen, dass auf eine so radikale Weise die prophetische Versöhnungsidee sich nicht durch­zusetzen vermochte. Der große Aufschwung, den das Volk und seine Propheten im Exil nahmen, ist begleitet von einem ener­gischen Interesse für den priesterlichen Kultus. Es wäre aber unhistorisch gedacht, wenn wir in dieser Richtung auf den Kultus schlechterdings nur ein Hemmnis der prophetischen Sittlichkeits-Lehre sehen wollten. Die unbefangene Prüfung des Tatbestandes lässt deutlich Licht und Schatten in dieser prophetischen Entwicklung erkennen. Ist doch der erste Urheber derselben der Priester und Prophet Hesekiel. Er läutert einen Grundbegriff in der Ansicht von der Versöhnung, einen Begriff, der im Dekalog selbst noch nicht zu unzweideutiger Bestimmung gekommen war. „Denn ich … bin ein eifriger Gott, der die Sünden der Väter an den Kindern ahndet am dritten und vierten Geschlecht, wenn auch sie mich hassen.“ So übersetzt die gesamte jüdische Tradition nach der Erklärung des Talmud  : „wenn sie in ihren Händen das Werk ihrer Väter ergreifen“. Die Übersetzung „derer, die mich hassen“ ergibt sich auch aus dem Zusammenhang als eine falsche. Die Steigerung schon spricht gegen sie  : „der aber Liebe erweist ins tausendste Geschlecht denen, die mich lieben“. Die Liebe bis ins tausendste, die Strafe nicht über das vierte Geschlecht hinaus. Der wahre Gott ist ein Gott der Liebe. Immerhin aber besteht hier doch noch die Spur eines Zusammenhanges zwischen dem Verhalten des 228

28. Hermann Cohen, Buße und Versöhnung (1890–1892)

einzelnen und dem Schicksal der Geschlechter. Das ist der mythisch-tragische Gedanke von dem Zusammenhang der Familien in Schuld und Leiden. Dieser Urgedanke, den auch |128| die neuere Zeit von der Antike aufgenommen, er sollte entwurzelt werden. Es war bereits Sprichwort in Jerusalem  : „Die Väter haben unreife Trauben gegessen, und die Zähne der Kinder werden stumpf davon.“ Gegen diese Volksweisheit eifert Hesekiel. Der Sohn leidet nicht für den Vater, der Vater nicht für den Sohn. Dem schlechten Sohne des tugendhaften Vaters geht es übel, dem guten eines schlechten wohl. „Die Seele, welche sündigt, sie soll sterben.“ Auf diesem Gedanken beruht die Sittenlehre des Selbstbewusstseins. Die Erfassung dieses Gedankens ist der fundamentalste Fortschritt der ganzen Versöhnungslehre. Die Seele, das ist die Person, das Individuum. Die Person unterscheidet den Menschen von einem Glied in der Kette seines Geschlechtes. Durch die Sünde wurde dieser Begriff des sittlichen Individuums entdeckt. Er wurde für die Tugend entdeckt, aber in der Tugend konnte er nicht entdeckt werden. Das ist das große ethische Ver­dienst in dem Satze  : „die Seele, welche sündigt …“ Das In­dividuum sündigt. Die Sünde fordert ein Individuum. Und so kann diese Seele, diese Person, dieses Individuum auch die Kraft und die Freiheit zur Sittlichkeit erlangen. Der Mann, welcher eine so tiefe Reform der Volksmoral durchführte, war zugleich der Urheber des Opferkultus als des Tempeldienstes, in dem die politische Form des alten Judentums bestand. Von dieser Tatsache sollte die Bibelkritik aus­gehen. Es ist wahr, dass die Opfer nunmehr mit der peinlichen Genauigkeit eines kirchlichen Zeremoniells bestimmt wurden, nach Ort und Zeit, nach Stoff und Handlung. Es ist wahr, dass das Opfer dadurch als das Hauptgeschäft des ganzen religiösen Daseins erscheinen konnte. Aber es ist dadurch zugleich der Gedanke in Fleisch und Blut übergegangen, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Gott nicht in einer festlichen Feierstunde und nicht nach zufälligem persönlichem Anlass sich bilden dürfe, sondern beständig das Leben des Menschen erfüllen müsse. Die Sünde suchte die Sühne durch Opfer in der Richtung auf Gott. Der Gottesdienst des Opfers sollte die Sittlichkeit schärfen, die Erkenntnis der Sünde als der Vorbedingung zur Sittlichkeit. Wir finden daher in Verbindung mit dem neuen Opferdienst andere neue Mittel des Gottesdienstes zur Förderung der Sittlichkeit. In dieser Zeit möchte das Gebet entstanden sein, wel- |129| ches in den Psalmen den mächtigsten Ausdruck des menschlichen Gemüts erobert hat. Es gibt keinen schwereren Kampf für das menschliche Herz, als den, der Zweifel erregt, als wäre all unser Glaube an die Macht des Guten eitel Wahn und alle un­sere Hoffnung auf den Sieg der Wahrheit Illusion. Zu dieser Höhe der sittlichen Zuversicht führt das Gebet empor. Gott ist der Fels, an den sich die sittliche Fernsicht klammert. Dieser Bedeutung des Gebetes für die Verwirklichung des Guten auf Erden entspricht die Wortbedeutung  : ringen, kämpfen, daher auch einschreiten, wie ein Anwalt. Das Wort hat dieselbe Bedeutung wie die Wurzel im Worte Israel. Ringen der zwei Seelen in der Brust des Menschen, der zweifelnden, realistischen und der an die Verwirklichung der Idee glaubenden – das ist das Gebet. Dieses Gebet fehlt dem Polytheisten, obschon keine histo­rische Form so starr ist, dass sie nicht Keime einer anderen Form aufkommen ließe. Der Grieche trifft eine Auswahl unter den Göttern, an welchen Gott das jeweilige Gebet sich am passend­sten richten dürfte. 229

VIII. Versöhnung

Solche Erwägung zerstört die Weihe des Gemüts. Auch der Tempel ist nicht für die Betenden da – die hätten nicht Platz darin –, sondern für das Götterbild. Und so viele der Tempel und der Vorplätze für das Opfer es gab, die menschliche Person konnte in ihnen allen nicht ihre eigene Einheit finden. Diese Einheit der Seele ist die Losung des Gebets. Die Vielheit der Orte ließ die Einheit nicht zum Vor­schein kommen. Der erste große Schritt, den die neue Opfergesetzgebung tat, war das Verbot des Höhen­ kultus und die Beschränkung des Opferdienstes auf Jerusalem. Freilich war diese religiöse Tat zunächst eine nationale. Die Sehnsucht der Verbannten nach Heimat und Vaterland hat sie veranlasst. Aber sie ist doch auch aus einer Gesinnung heraus entsprungen, welche des Opfers sich zu entwöhnen bereits angefangen hatte, denn im Exil fanden die Versammlungen am Sabbat statt und waren Gottesdienste ohne Opfer. Es ist daher zugleich ein Zeichen der Loslösung von jener heidnischen Iden­tität zwischen Gottesdienst und Opfer  : dass nur in Jerusalem und nur im Tempel dort das Opfern fortan gestattet sein, an jedem anderen Orte aber als Götzendienst gelten sollte. Zugleich unter der Macht dieser neuen Gesinnung erstreben die Propheten des |130| Exils die Wiederherstellung des Einheitsstaats auf der Grund­lage der Einheit des Kultus. Sie haben dabei die Aristokratie der Priester nicht lahm legen können, die sie daher von neuem bekämpfen müssen. Aber es befestigt sich so ihr Grundgedanke  : „Ihr sollt mir ein Priesterreich sein und ein heilig Volk.“ Im Prinzip ist der Unterschied zwischen Priester und Laie erstickt  : „Es werde das Volk wie der Priester.“ Die Organisation des Priesterkultus trug die Keime seiner Selbstauflösung in sich. Die Entwicklung der Messiasidee hat dabei wesentlich mitgewirkt, die Berufung aller Völker zum neuen Gottesdienste. In Jerusalem nur soll eine Stätte sein, aber alle Völker sollen dahin wall­fahrten. So wird Jerusalem durch den geographischen Umfang als lokaler Inhalt tatsächlich aufgehoben. Es wird zum Ver­einigungspunkt der monotheistischen Menschheit. „Mein Haus, ein Haus des Gebets für alle Völker soll es genannt werden.“ Nach dem Talmud werden 70 Fest-Ganzopfer angeordnet für die 70 Völkerschaften. So wird der Partikularismus der nationalen Einheit, der durch die einheitliche Opferstätte gekräftigt werden sollte, durch das Zusammenwirken des Messianismus mit der Opfergesetzgebung zugleich wieder erschüttert. Und so ist hier ein grundlegender Begriff zustande gekommen. Das Volk sollte verjüngt werden. Entstanden aber ist die Gemeinde. Die Gemeinde Gottes ist nicht nur der Sonderbund der Gläubigen. Sie ist im prophetischen Begriffe die Vereinigung der Menschen über Stände und Völker zur Einheit des Gewissens, zur Einheit der sittlichen Menschheit. Das Anstößigste in dem ganzen Opferinstitut ist der Priester selbst als Stand und Kaste, und zumal der Hohepriester mit seiner politischen Macht. Aber auch hier hat das scheinbare Hemmnis der freien Sittlichkeit zur tiefsten Förderung derselben geführt. Da der Priester nämlich allein bei dem Opfer fungierte, so trat die opfernde Privatperson dadurch in den Hintergrund. Sie braucht nicht einmal dabei zu sein. Anscheinend wird dadurch der Zusammenhang zwischen der Sünde und dem Opfer gelockert. Der Mensch trat zurück hinter den Priester. Aber der Priester war nicht allein Priester, sondern zugleich Arzt und öffentlicher Aufsichtsbeamter der großen hygienischen Maß­nahmen, die daher im Zusammenhang mit dem Opferkultus ent­standen. Von Anfang an war er der Richter. 230

28. Hermann Cohen, Buße und Versöhnung (1890–1892)

Und so übernahm |131| er nun hier in einer neuen Form das Amt des Strafrichters, eines negativen und doch nicht eines freisprechenden. Den Zweck aller Strafe sollte er zur Darstellung bringen  : die Besserung und die Versöhnung. Das irdische Gericht wurde nicht abgeschafft, aber man darf darum nicht etwa denken, der Priester-Richter trete nur da als Ergänzung für den Strafrichter ein, wo das Ver­gehen den sakralen Hokuspokus betraf. Es bildet sich vielmehr aus diesem Zeremoniell ein Grundbegriff des sittlichen Bewusstseins, der Begriff der Schegaga, der Sünde ohne Wissen. Es ist nicht etwa Unkunde des Gesetzes, was diese bedeutet, son­dern der Ausschluss der Absicht. Den ersten Anlass zu diesem Gedanken mag das Geschehnis gebildet haben, dass man von einem Verbrechen den Täter nicht kannte. Nach antikem Glauben bedarf in solchem Falle der Ort der Reinigung. Auch im Penta­teuch ist die Bedeutung der Schegaga aus solchem Anlass zu erkennen. Allmählich aber hat er weitergeführt wie zu der Ein­richtung von Zufluchtsstätten für den, der aus solchem Anlass Mörder geworden. So bereitete sich eine dritte Stufe in der Entwicklung dieses Begriffs vor. Zuerst ist die Sünde aus Un­wissenheit diejenige, welche heimlich, ohne Mitwissen der Gemeinde geschehen ist. Auf der zweiten Stufe möchte sie die­jenige bedeuten, welche der Mensch ohne Absicht begangen, wobei er sich entweiht fühlt und sich eigentlich doch nicht an­zuklagen vermag. Die Befreiung von dieser Last und Angst des Gewissens konnte nur auf der dritten Stufe, die ihr Licht zurückwarf, ganz gelingen. Sind nicht aus einem höheren Gesichtspunkte alle Sünden der Menschen mehr oder weniger unwissentliche  ? Ist nicht in allen mehr oder weniger das Wissen durch Leidenschaft verdunkelt oder überhaupt nicht zur Frei­heit entwickelt  ? Es ist das freilich ein zweischneidiger Gedanke, der dem Leichtsinn und der Selbstgefälligkeit das Tor öffnet und die Verantwortlichkeit zu hintertreiben scheint. Aber es ist doch eben auch der Gedanke des Sokrates, mit dem die wissenschaftliche Ethik beginnt. Nicht minder aber ist es auch der Gedanke der prophetischen Religion. Gott vertritt Recht und Gerechtigkeit, ebenso aber auch Liebe und Versöhnung. Die Gerechtigkeit fordert die Strafe, die Liebe die Versöhnung. Es würde ein Widerspruch darin und somit im Wesen Gottes liegen, wenn ihn der Gedanke nicht aufhöbe, dass alles Vergehen, |132| so sehr es Strafe verdient, doch nur Versehen sei, also Versöhnung duldet. Zur Durchführung dieses Nichtigkeits-Einwandes höchster Instanz, welchen die Schegaga bildet, ist aber kein Gerichtshof kompetent. Diese Revision liegt jenseits der Methodik der Justiz. Das äußerliche Opferwesen hat einen deutlich erkennbaren An­teil an der politischen Darstellung dieses tiefsten Gedankens menschlicher Moral wie nicht minder der Gottesidee selbst. Diese Bedeutung der Schegaga als der Sünde aus menschlicher Schwachheit konnte nur dadurch gegen die Gefahr der Selbstbeschönigung geschützt werden, dass ein anderer Lebensbegriff der Religion ihr zur Seite trat. In demselben 18. Kapitel, in welchem Hesekiel den Begriff des Individuums für Sünde und Tugend feststellt, da lehrt er zugleich die Voraussetzung aller menschlichen Tugend, nämlich die Buße. Unser deutsches Wort ist irre­führend. Es ist juristischen Ursprungs und entspricht dem, was Chattath früher war, bevor es zum Sündopfer wurde, nämlich Löse­geld. Das hebräische Wort für Buße, Teschuba, bedeutet Umkehr, Abkehr, Rückkehr zum Guten, 231

VIII. Versöhnung

Einkehr in sich selbst. Der Ur­heber des Opferkultus ist der Verkündiger der Lehre von der Buße als der entscheidenden Tat alles Gottesdienstes und aller Sittlichkeit. Hier handelt es sich um das Grundproblem der reinen Sitt­lichkeit, um die Versöhnung des Menschen mit sich selbst. Dürfte und müsste der Mensch seine Fehler lediglich als die Schwächen seiner Natur beurteilen, so wäre er nicht der Urheber seiner Handlungen, so hätte er nicht ein sittliches Selbstbewusstsein. Dieses hat er nur – sofern er es haben will  – durch Freiheit und Selbstzurechnung erobert und behauptet. Daher ist der bild­ liche Ausdruck, die Umkehr von dem bisherigen Weg, so lichtvoll. Nicht das Sinnen und Grübeln, geschweige das Sprechen über die Sünde und nicht die behagliche Reue, die auf Erlass rechnet, vielmehr in der Umkehr beginnt die Buße. Aber der Weg besagt mehr. Er ist die Zusammenfassung der Handlungen, die Wege Gottes, der Weg des Menschen. Die echte Buße geht nicht auf Einzelnes, sie erkennt die einzelnen Handlungen im Zusammenhang des Wollens und des Tuns in der Einheit des Menschen. Kein Unrecht ist isoliert im menschlichen Wesen. Die Buße ist der Wegweiser, der das Einzelne eingliedert in die Regel des Lebensweges. Die Er­neuerung des ganzen Wesens, das neue Herz und das neue Gemüt, |133| das ist die Losung der Buße. So vertritt die Buße die Aufgabe des Selbstbewusstseins in der Religion. In unserer gesamten religiösen Verfassung und Literatur bildet die Buße den Schwerpunkt. An dem Ausspruch Kains Meine Sünde ist größer, denn dass sie ertragen werden könnte, erkennt der Talmud seine Reue und lässt ihn sagen  : „Herr der Welt, Himmel und Erde kannst du tragen und nicht meine Sünde  ?“ Dieses prometheische Wort spricht das Selbstbewusstsein der Buße, ihrer Kraft und ihres Sieges aus. Die Buße und die Tora, beide sind nach einem tiefen Wort des Talmud vor der Weltschöpfung geschaffen. Buße und Erkenntnis sind die Vorbedingungen der sittlichen Welt. Unter den Festen, die im Exil zu eigentlicher Bedeutung aus­gewachsen sind, steht obenan der Versöhnungstag, der zum Wahr­zeichen des Judentums geworden ist. Und doch war er ursprüng­lich ein heidnisches Opferfest, worüber noch die Mischna uns be­ lehrt. Aber dass er zu dem geworden ist, was er uns bedeutet, das ist doch im letzten Grunde der Opfergesetzgebung zu ver­danken, mit ihrer energischen Richtung auf die Buße im Geiste der Propheten. Der Prophetenabschnitt des Vormittags geißelt das Fasten, bei dem du nicht dem Hungrigen dein Brot brichst und deinem Fleische dich entziehst. Das wird nicht als eine Polemik gegen den Fasttag unseres Jom Kippur, wie er allgemein geworden ist, gefühlt. So eins fühlen wir uns an diesem Tage mit dem Geiste des Propheten. Der Prophetenabschnitt des Nach­mittags proklamiert in rührender Naivität, wie das auserwählte Volk über die Heiden denkt. Jona weissagt, dass sein Gott Mit­leid empfinde über das sündige Ninive. Es hat Buße getan. Das ist die Vesperstimmung. In der Neïla beherrscht Hesekiel das Hauptgebet mit seinem Grundgedanken. Die Perspektive aber entwirft das Morgengebet  : „Gib die Ehrfurcht vor dir über alles, was du geschaffen, dass dich anbeten alle Erschaffenen, und dass sie selbst sich zusammentun allesamt in einen Bund.“ Dieser eine Bund der messianischen Zeit entsteht, wenn alle Menschen selbst ihn bilden. Dieser von den Menschen selbst zu schließende Bund ist die Verwandlung und das Ziel des Bundes, den Gott einst mit Israel geschlossen hat. Der Tag der Buße ist der Tag dieses Bundes. Daher sind unsere Feste der Buße messianische Feste im strengen Sinne. 232

28. Hermann Cohen, Buße und Versöhnung (1890–1892)

Sie haben den Gedanken, dass die Synagoge |134| des Ghetto einstmals zum Tempel der Menschheit sich öffnen und sich läutern werde, in die Inbrunst des Gebetes verflochten, in die Verkettung von Gebeten, die vom Abend zum Abend dauern. Und bei der Eröffnung des Festes wird das Wort ausgerufen, das unter allen Leiden der Verfolgung im messianischen Geiste verstanden wurde  : „Es werde verziehen der ganzen Gemeinde Israels und dem Fremdling, der unter ihnen weilt  ; denn dem ganzen Volke gilt die Schegaga.“ Auf die Erklärung der Sünde als Schegaga gründet sich die Hoffnung auf Versöhnung. Indessen hat man über der messianischen Fernsicht nicht verabsäumt, die nächsten Pflichten einzuschärfen. Im alten Gebet­buch steht voran der Satz des Talmud, dass der Versöhnungstag die Sünden von Mensch zu Mensch nur dann versöhnt, wenn der Mensch vorher seinen Nächsten versöhnt hat. Die Ver­söhnung zwischen Mensch und Mensch ist die Voraussetzung, die Vorbedingung zur Versöhnung mit Gott. Im Talmud wird die Frage erörtert, ob das Sündenbekenntnis vor der Gemeinde abgelegt werden soll. Es ist von weltgeschicht­licher Bedeutung, dass die Entscheidung dafür gefallen ist und keine Beichte aufkommen konnte. Das Individuum sündigt, aber es bekennt seine Sünde im Chorus der Gemeinde. Die Herrlichkeit Gottes bekennen wir in dem Bekenntnis unserer Sünde. Unsere menschliche Sündhaftigkeit bekennen wir  ; wir suchen nicht Ablass für eine einzelne Tat. Das Sündenbekenntnis ist breit aus­gesponnen, aber es findet sich keine einzige leise Andeutung von der Übertretung eines Zeremonialgesetzes. Nur die Ver­hältnisse der Menschen untereinander und des Menschen zu sich selbst sind in den Al Chet zu Worte gekommen  : die Demut, die Gewissenhaftigkeit in Bezug auf Ruf und Ehre des Nächsten. In der Sünde des Gedankens wurzelt die des bösen Triebes und der bösen Zunge. Der Hochmut wird gezeichnet und die Verleumdung wird nicht nur durch die Stumpfheit des Herzens getroffen, sondern durch ein tiefes Wort, das nicht genug be­wundert, nicht tief genug beherzigt werden kann  : der Hass wird als eitler, grundloser Hass bezeichnet. Nirgends wird eine Sünde gegen Gott genannt, nur die der Entweihung des göttlichen Namens. Sie ist die Kehrseite der kardinalen Tugend, der Heiligung des göttlichen Namens. Diese aber ist zugleich die höchste mensch­liche Tugend. Sie bedeutet in der Sprache unserer Religion die |135| Anerkennung des Gottesreiches, das ist des Sittengesetzes. Diese Anerkennung ist der Inhalt der Anbetung, der Aboda, welche den Höhepunkt des Tages bildet mit ihrer messianischen Zuversicht. Mit diesem Hymnus im Herzen, dem Schluss aller unserer Ge­bete, sind das ganze Mittelalter hindurch ungezählte Tausende den Märtyrertod gestorben. Zu der menschlichen Schwachheit, die in dem Sündenbekenntnis so scharf und genau durchgeprüft wird, bildet das Gedächtnis der Märtyrer einen ergreifenden Kontrast. Wir sind jetzt bei dem Punkte angelangt, der die Versöhnung mit Gott betrifft. Wir haben gesehen, dass das Opfer den tiefen Gedanken der Schegaga geschaffen hat. Für den Frevel, der mit Bewusstsein begangen war, gab es kein Opfer. Auf der Schegaga ruht auch der Versöhnungstag. Wirkliches Unrecht sühnt er nicht. Von der Pflicht der Versöhnung mit den Menschen entbindet er nicht. Der Sünden gegen Gott aber wird in dem Sündenbekenntnis gar nicht gedacht. Sollte etwa die Meinung sein, dass es solche Sünden überhaupt nicht gäbe  ? Was bedeutet dann aber die Ver­söhnung mit Gott  ? 233

VIII. Versöhnung

Wenn alle Irrgänge des menschlichen Herzens durchmustert sind und aufrichtige Buße für neue Kraft zum sittlichen Kampf gesorgt hat, dann meint man, sage der Moralist, jeder Skrupel sei fortan selbstquälerische Grübelei und unfruchtbare Schwär­merei. Ein solcher nüchterner Moralismus vertritt jedoch keines­wegs den tiefsten Standpunkt der Ethik. Es ist ein Vorurteil, dass nur die Religion die Schranken der menschlichen Tugend zur Anerkenntnis brächte. Die menschliche Sittenlehre beruht zwar auf dem Prinzip, dass das Sittengesetz das Selbsterzeugnis der Vernunft sei. Aber nicht minder bringt die Ethik anderer­seits den Gedanken zu Ausdruck und Folge  : dass alle mensch­liche Tugend unzulänglich sei. Alle Gebote der Sittlichkeit sind und bleiben Aufgaben, die nur annäherungsweise zu lösen sind. In diesem Punkte also besteht keine Differenz zwischen Religion und Sittlichkeit. Die Unterscheidung entsteht vielmehr erst darin, dass die Religion diesen Gedanken zu ihrer Voraussetzung hat. Daher ist ihr die Sittlichkeit nicht sowohl die Selbstoffenbarung des menschlichen Geistes, als vielmehr die Offenbarung Gottes. Daher leitet sie alle Versöhnung der Menschen untereinander und des Menschen mit sich selbst aus der Versöhnung des Menschen mit |136| Gott ab. Hier liegen die großen Gefahren der einseitigen Religiosität, sofern sie mehr das andächtige Schwärmen als das gute Handeln fördern. Zugleich aber liegen hier die Wurzeln ihrer Weltmacht und wahrlich auch die guten. In der Versöhnung mit Gott sucht der Mensch nicht sowohl die Ergänzung seiner Kraft, als viel­mehr den Grund seiner Schwäche  : Er deklariert seine Endlichkeit. Im Talmud spinnt sich eine Diskussion an das Bibelwort an  : „Besser, der Mensch wäre nicht geboren, als dass er geboren ist.“ Die Entscheidung zwischen Hillel und Schamai wird in dem Satze gegeben  : „Da der Mensch geboren ist, so muss er sein Heil in der Buße suchen.“ Die Buße hat das Bild geschaffen von dem göttlichen Gerichte. Das Sündenbekenntnis ist die Rechenschaft, die der Mensch vor Gott ablegt. Der Versöhnungstag ist der Tag des Gerichts. Gott ist der Richter. Und der büßende Mensch wird gerichtet und versöhnt. Es gibt keinen Verdammten. Es ist sehr lehrreich, dass am Versöhnungstage, der doch der Tag des Gerichts ist, die feierliche Anrufung Gottes nach den Worten geschieht, welche als die dreizehn Eigenschaften Gottes bezeichnet werden  : „barmherzig und gnädig usw., er bewahrt die Liebe ins tausendste Geschlecht, vergibt Missetat und Sünde.“ Und während es in der Urschrift weiter heißt  : „lasset aber nicht ungestraft“, so wird für die gottesdienstliche Formel der Wort­laut abgebrochen, und das beibehaltene Wort ‫ ונקה‬als die 13. Eigenschaft positiv genommen, so dass es nunmehr heißt  : „und er macht schuldlos.“ An dem Tage, der der Gerechtigkeit ge­stiftet ist, soll nur die Barmherzigkeit angerufen werden. Beide sind identisch. Daher gibt es keine Verdammnis und keine ewigen Höllenstrafen. Der Gedanke daran wird verworfen. Auch die Strafe ist Gnade. Sie besteht in den Leiden der Liebe. Gott richtet über den Menschen, der Fleisch und Blut, Staub und Asche ist. Die Gnade Gottes ist der Wechselbegriff zur Menschenschwäche. Die Mitteilung der Gnade ist an keine weitere Veranstaltung ge­knüpft. Jede Vermittlung der Gnade wird nicht nur verworfen, sondern als nicht sinngemäß verworfen. Die Gnade Gottes voll­zieht an und für sich das Verhältnis zum Menschen. Es darf keinen Mittler für dieses an sich bestehende Verhältnis geben. Die Unmittelbarkeit 234

28. Hermann Cohen, Buße und Versöhnung (1890–1892)

Gottes ist der Grundbegriff der Erlösung und Versöhnung. Gott ist die Liebe  – er hat nichts weiter zu tun, um sie mitzuteilen. Und die Menschen haben nichts anderes zu tun |137| als die Buße mit ihren Folgen und Zeugnissen, um der Gnade teilhaft zu werden. Der Begriff Gottes, als der Liebe, schließt den Mittler aus. Und ebenso widerspricht der Begriff des Menschen nach seinem Verhältnis zu Gott dem Begriff eines Mittlers. Die Unmittelbarkeit Gottes fordert die unmittelbare, selbständige Sittlichkeit des Menschen. An diesem Zielpunkt unserer Betrachtung haben wir nun des Einflusses zu gedenken, den selbst auf diese innerste Ent­wicklung der jüdischen Religion das Opferwesen gehabt hat. Der Mensch, sagten wir früher, trete zurück hinter den Priester. Aber nicht allein der Mensch tritt zurück, sondern auch Gott. Der Prie­ster opfert, und der Priester sühnt. Ein Verhältnis zwischen Mensch und Gott wird dabei nicht dargestellt. So lernte der Israelit von der Vorstellung sich entwöhnen, dass Gott ein Partner sei bei seiner Opfergabe. Beim Opfer steht ihm nur das Ver­hältnis zum Priester vor Augen. Der hilft ihm bei seiner heidnisch-menschlichen Art, Entsagung zu üben und Dankbarkeit und Reue zu betätigen. Gott aber bleibt dabei aus dem Spiele. Gott tritt erst in das Verhältnis ein, wenn er Buße tut. In der Heiligen Schrift wird an keiner Stelle Gott als der Sühner beim Opfer be­zeichnet, sondern allein der Priester. Die andere Devise des Ver­söhnungstages nächst der von Schegaga lautet  : „denn an diesem Tage wird er euch sühnen, um euch zu reinigen von allen euren Sünden. Vor dem Ewigen sollt ihr rein sein.“ Dieser Er ist nicht Gott, sondern der Hohepriester. Er sühnt. Gott ist es, vor dem die Reinheit sich vollziehen soll. Gott ist der Zielpunkt der Rei­nigung und der Buße. Er ist der Gott der Liebe. Das Opfer erweckt und erwirbt die Liebe nicht. Das Opfer ist keine Genug­tuung für seine Strafgerechtigkeit. Er ist vollständig latent beim Opfer. Beim Opfer fungiert der Priester. Diese Steigerung der Reinigung des Priesters zu der Reinheit vor Gott ist der eigenen sittlichen Arbeit des Menschen zu­statten gekommen. Nicht schon durch das Opfer des Priesters wird der Mensch rein, sondern erst vor Gott, d. h. durch sein eigenes heiliges Streben, die Reinheit zu erringen. In diesem Streben vollzieht er das Verhältnis zu Gott, wird Gott sein Ideal. Die Mischna hat das Bewusstsein des Judentums von seiner weltgeschichtlichen Wahrheit in dem Satze formuliert  : „Heil euch, Israel, wer reinigt euch und vor wem reinigt ihr selbst euch  ? – |138| es ist euer Vater im Himmel.“ Der Nachsatz ist die Korrektur des Vordersatzes. Nur durch Selbstreinigung kann die Reinheit vor Gott zustande kommen. Das Gebot der Heiligkeit folgt auch in der Tora auf das Gebot der Selbstheiligung. „Und ihr selbst sollt euch heiligen, und ihr werdet heilig sein.“ Aus diesem Gesichtspunkt fasst Maimonides das ganze Zeremonialgesetz auf. Am Opfer hat sich diese Ansicht wundersam bewährt. Der Opferdienst hat aufgehört, man darf sagen, nicht weil der Tempel zerstört wurde, sondern weil er selbst innerlich sich überlebt hatte. Und er bildet in unseren Gebeten nur eine verklungene Sage aus der nationalen Vergangenheit. Das Christentum aber hat den Gedanken des Opfers zur Grundlage seiner Versöhnung gemacht. In ihm opfert sich Gott, um den Menschen zu erlösen. In Messe und Abendmahl ist dieses Opfer Gottes der Inhalt. Und so ist der Gedanke des Opfers der wichtigste Inhalt alles christlichen Gottesdienstes. Unser Gottesdienst ruht auf dem 235

VIII. Versöhnung

Glauben an den Gott der Liebe, dessen Wesen die Liebe ist, und der dem Gedanken des Opfers entrückt ist. Als die Jünger um die rauchende Tempelwüste klagen, be­lehrt sie Rabbi Jochanan ben Sakkai, dass an Stelle des Altars sie die Werke der Liebe besitzen. Und er bittet nicht um Erhaltung des Tempels, sondern um die Erlaubnis zur Errichtung eines Lehrhauses in Jamnia. Die Lehre und die Buße haben den Opferdienst erledigt. Mose kam mit den zweiten Gesetzestafeln am Versöhnungstage vom Sinai herab. So ausdrücklich wird die Versöhnung als Zweck der Lehre bezeichnet. Und die Lehre muss mit der ganzen Energie des Geistes erarbeitet werden. „Das Studium der Lehre übertrifft alle guten Werke.“ Die Lehre bildet die Vermittlung zwischen Mensch und Gott, wie die Vernunft des Menschen göttlichen Ursprungs ist. „Die Seele des Allmächtigen macht sie vernünf­tig.“ Nach diesem Satz des Hiob konnten Ibn Esra und Maimo­nides sagen  : „Der Mittler zwischen Gott und Mensch ist die Vernunft.“ So wird die Frömmigkeit der Vernunft und der Wissenschaft nicht entgegengesetzt. „Auf drei Dingen besteht die Welt  : auf der Tora, dem Gottesdienst, das ist die Buße, und den Werken der Liebe.“ Gegen die Kraft der Buße ist der Glaube zurückgetreten. Er bedeutet nach der hebräischen Wurzel die Treue, die Festigkeit der Gesinnung. Dieser Wurzel |139| gehört das Amen an, das die Welt durchklingt. Die Lehre und die Buße sind die Quellen, aus denen notwendig die Werke der Liebe entspringen. Wir haben keinen Priester. „Der Tisch in jedem Hause sühnt.“ Der Tisch der (…) Familien­sitte, der zugleich der Tisch der Wohltätigkeit ist, er ist der jüdische Altar geworden. (…)

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29. Samuel Holdheim, Barmherzigkeit gegen die Schuldigen (1850)533

Text  : Dtn 21,1–9. Bei dem Morgen-Gottesdienst des Versöhnungstags |140| Viele Menschen empfinden einen – sie nennen es – natür­lichen Abscheu, unter Gräbern zu wandeln. Der Anblick des Todes ist für sie ein widerwärtiger, das Gefühl der Vergänglich­keit ein peinliches, und sie nennen gewiss den einen Sonderling, der an Grabstätten gern weilt, der sich dem Strom der Empfindung, der dort rascher und lebendiger fließt, mit sinnendem Wohlgefallen überlässt. Aber schon der älteste Prediger sagte  : „Besser ist’s ein Trauerhaus besuchen denn ein Festmahl, denn jenes ist das Ende aller Menschen, was der Lebendige sich zu Herzen nehmen soll  !“ Wem der Todesgedanke ein schmerzlicher, das Gefühl, dass wir sterblich sind, ein peinliches, dessen Lebensempfindung ist eine unnatürliche, dessen Sterblichkeitsgefühl in der Tat ein trauriges. Das menschliche Leben hat den tierischen Tod nicht zu fürchten. Er kann die Lebensflamme auslöschen, aber der Licht­- und Lebensstrom, den sie einmal ausgegossen und welcher ins Unendliche gehend immer weiter zündet und immer weiter leuchtet, ist der Todesgewalt nicht überantwortet. Der Tod ist das Ende von jedes Menschen Wirken, aber nicht das Ende seiner Wirk­samkeit. Es kann der Mensch hier zu leben und zu wirken aufhören, doch was er erlebt und erwirkt, ist unaufhörlich. Was empfinden die Menschen, wenn sie an Häusern vor­übergehen, in welchen Menschen zu Verbrechern geworden, wie die wilden Tiere eingesperrt und gefesselt sich befinden  ? Viele, wenn nicht die meisten Menschen empfinden ein behagliches Gefühl |141| der Ruhe und der Sicherheit. Die Feinde unseres Glückes, die Störer unseres Friedens, da sind sie unschädlich gemacht. Aber feiner und edler fühlende Menschen werden hier unter den Gräbern lebendig toter Menschen, an den Leichensteinen moralisch vernich­teter Existenzen ein wahres Gefühl der Trauer und des Schmerzes empfinden. Es sind Menschen, geborene Engel wie wir, aber durch Sünde und Leidenschaft zu wilden Tieren herabgesunken  ! Die Grabeshügel geliebter Toten lassen den Schmerz unseres Verlustes uns fühlen. Die wir betrauern, sind uns, nicht sich selbst verloren. Aber diese traurigen Denkmäler von dem Verlust so vieler Menschenseelen, von der Vernichtung des menschlichen Geistes, das ist ein wahrhaft schaudererregender Anblick. Können, dürfen wir es bei diesem Gefühl des jammervollen Mitleids mit so vielen gefallenen Brüdern bewenden lassen  ? Sollte nicht bei solch traurigem Anblick noch ein ande533 [Samuel Holdheim, Die Mitschuld (1850) In  : Samuel Holdheim, Neue Sammlung jüdischer Predigten, worunter über alle Feste des Jahres, gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Erster Band. Seinem würdigen Freunde und Amtsbruder Herrn Dr. David Einhorn, Rabbiner und Prediger der jüdischen Reformgemeinde zu Pesth, Hochehrwürden in Liebe und Hochachtung gewidmet. Berlin  : David 1852, 140–150]

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VIII. Versöhnung

res Gefühl in unserm Innern sich regen, das noch peinlicher, noch mahnender an unsere Seele sich drängt  ? Sollte nicht in irgendeinem verborgenen Winkel unseres Herzens die Frage entstehen, ob wir nicht eine, mehr oder minder entfernte Mitschuld an diesem traurigen Zustand so vieler Menschen auf unserm Gewissen hätten  ? Wir sehen hier, ähnlich dem in unserem Text beschriebenen Vorgang, gefallene Engel, erschlagene Brüder.534 Was sie zum Fall gebracht, was ihre Menschenwürde getötet, ist uns unbekannt und verborgen. Dürfen wir, wie einst die Ältesten in Israel, unsere Hände in Unschuld waschen und über dem darzubringenden Versöhnungsopfer sprechen  :535 „unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen und unsere Augen haben es nicht gesehen  ?“ Im ältesten Judentum und auch in den aus seinem Schoß entsprossenen, mit ihm am nächsten verwandten Religionen ist der Gedanke vorherrschend, dass ein Mensch durch seine Sündhaftigkeit andere Menschen versündigen und ihren Tod verschulden könne, und wieder, dass ein Mensch durch seine Tugend, gleichsam durch einen Überschuss von Verdienst, den er selbst nicht verzehren kann, andere Menschen vom Tod retten und erlösen könne. Letzteres ist wie |142| bekannt der Gedanke von536 dem Verdienste der Erzväter. Ersteres widerhallt am heutigen Tage gar oft in den Synagogen  :537 unsere Väter haben ge­ sündigt und sie sind nicht mehr und wir müssen ihre Schuld tragen. Wir, meine Freunde, weisen diese Gedanken in das Reich der Vorurteile. Wir wissen, dass jeder Mensch nur um seines Verdienstes willen lebe, nur um seiner Schuld willen sterbe. Ausdrücklich lehrt der Prophet Hesekiel  :538 „Der Sohn leide nicht um des Vaters und der Vater nicht um des Sohnes Sünde willen, die Seele, die gesündigt, sterbe“. Sollte aber nicht dennoch dieses Vorurteil nur das Frührot, gleichsam der noch nicht ganz entwickelte Keim eines wahren religiösen Gedankens sein, dass die Tugendhaftigkeit eines Menschen bei andern Menschen Tugend weckt und dadurch ihren sittlichen Tod verhütet, die Sündhaftigkeit eines Menschen bei andern Menschen Sünde erzeugt und somit ihren sittlichen Tod verschuldet  ? Das, meine Freunde, verdient unsere ernsteste Erwägung, zumal an einem Tage, der durch seine Bedeutung als Tag der Sühne und der Buße, der Reue und der Zerknirschung, ins­besondere durch seinen Namen539 Tag des Selbstgerichts und der innern Rechtfertigung vor Gott es bezeugt und bekundet, dass er Gedanken und Gefühle der ernstesten Art in uns zu erwecken und hervorzurufen bestimmt ist. Lasst uns darum heute den Gedanken der Mitschuld aller an den Sünden und Verbrechen jedes Einzelnen wie auch das Verhältnis dieser Mitschuld zum Gegenstand einer näheren Untersuchung machen. Es dürfte so manche Mahnung zur Selbstprüfung daran sich knüpfen, die immer und besonders heute unserer vollen Beherzi­gung wert ist. Möge solche Prüfung uns immer zur Erkenntnis oder doch zur Läuterung unserer Unschuld führen  ! Amen. 534 535 536 537 538 539

‫לא נודע מי הכהו‬ ‫ידינו לא שפכה את הדם הזה ועינינו לא ראו‬ ‫זכות אבות‬ ‫אבותינו חטאו ואינם ואנחנו עונותיהם סבלנו‬ Ez 18,20  : ‫בן לא ישא בעון האב ואב לא ישא בעון הבן הנפש החטאת תמות‬ ‫יום הדין‬

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29. Samuel Holdheim, Barmherzigkeit gegen die Schuldigen (1850)

I. Dass jeder Einzelne von dem Verbrechen, das in der Mitte eines ganzen Volkes verübt wird, mehr oder minder in seiner sittlichen Persönlichkeit mit berührt werde, dass eine Art von |143| innerer wechselseitiger Beziehung, eine gewisse gegenseitige moralische Verantwortlichkeit zwischen allen Gliedern eines Körpers obwalte, das hätten wir zuerst in Kürze zu beweisen. Viele werden dies geradezu in Abrede stellen und jede Verantwortlichkeit ent­schieden ablehnen, ja, sich nicht wenig verletzt fühlen, wenn ihnen eine Mitschuld an Verbrechen aufgebürdet würde, die ihren tiefsten Abscheu erregen. Allein sind die, welche dieses mit anscheinend so edler Entrüstung tun, auch immer eben so bereit, jeden per­sönlichen Anteil an Tugenden abzulehnen, die ihr Volk schmücken, jeden Zusammenhang zwischen sich und den großen Männern, die ihr Geschlecht, ihr Zeitalter hervorgebracht hat, zurückzuweisen, jede innere Beziehung zwischen sich und dem ehrenhaften Charakter, der ehrenfesten Gesinnung ihres Volks zu verleugnen  ? Nun, ist das eine wahr, so kann das andere nicht falsch sein. Fühlen wir uns persönlich geehrt durch die Tugenden, die aus unserer Mitte hervorblühen, wollen wir das Gefühl edlen Stolzes, das unsere Brust hebt, nicht unterdrücken, wenn wir an Denkmälern vorübergehen, die den großen Männern unseres Volks errichtet worden sind, nun, so müssen wir unser Auge beschämt niedersen­ken, wenn es den Stätten der öffentlichen Schmach begegnet, wo Menschen, Kinder unseres Volks, wie wilde Tiere hinter Mauern und Riegeln bewacht werden müssen. Wollen wir die Gemein­schaft zwischen uns und Tugenden, die wir nicht selbst geübt, nicht leugnen, nun, so müssen wir eine Art Mitschuld an Verbrechen, die wir nicht selbst begangen, anerkennen. Fürwahr, meine Freunde, es ehrt den hohen Geist der Ge­rechtigkeit, den das älteste mosaische Gesetz atmet, dass es ein Sühnopfer für das ganze Volk vorschreibt wegen des in seiner Mitte vergossenen unschuldigen Blutes. Es ehrt den zarten Rechtssinn dieser uralten Gesetzgebung, dass sie bei jedem Einzelnen eine Mitschuld an dem begangenen Frevel für möglich hält und darum das Gewissen jedes Einzelnen wach ruft, sich zu prüfen, ob er imstande ist, einzustimmen in die Ehrenerklärung seiner Ältesten  : „Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen und unsere Augen haben es nicht gesehen.“ Was jeder einzelne |144| Mensch im Kleinen, das ist ein ganzes Volk im Großen, ein lebendiger Organismus, ein Leib, eine Seele. Wie der ganze Körper durch ein wundes Glied schmerzhaft durchzuckt wird, so wird ein ganzes Volk befleckt durch das Verbrechen eines seiner Glieder. Die Tugenden weniger werfen einen hellen Glanz, die Laster weniger werfen einen trüben Schein über ein ganzes Volk. Wenn nun jener uns freut und ehrt, so müssen wir über diesen trauern und erröten. Das ist eine Wahrheit, die wir nicht leugnen können. Um sie aber zu unserer Besserung fruchtbar zu machen, wollen wir die wechselseitigen Beziehungen und die gegenseitigen Einwirkungen der Menschen aufeinander näher ins Auge fassen, um über das Verhältnis unserer Mitschuld bestimmtere Vorstellungen zu gewinnen. II. Zunächst müssen wir uns prüfen, ob nicht unser Beispiel den ersten Anlass zu einer verbrecherischen Gesinnung unseres Neben­menschen gegeben haben könnte, ob nicht 239

VIII. Versöhnung

wir selbst mit unsern Händen das verhängnisvolle Samenkorn in den Schoß eines un­serer Nebenmenschen geworfen, welches die fluchbeladene Frucht getrieben hat. Und wer kann sagen,540 mein Herz ist ge­läutert,541 ich bin frei von Sünde  ? Wer mag von sich behaupten, er habe nie durch eigene Sünde andere Menschen zur Sünde gereizt  ? Er kann seine Sünde längst gebüßt und ver­gessen haben, während sein Beispiel bei anderen Verderben bringend fortwuchert. Es ist wahr, meine Freunde, und der Prophet hat recht  : Der Vater stirbt nicht um des Sohnes und der Sohn nicht um des Vaters, ein jeder stirbt um seiner eigenen Sünde willen. Können wir’s aber wissen, ob die Sünde, um deren willen ein anderer stirbt, wenngleich die seine, nicht auch die unsere ist, ob sie nicht erst die unsere war, ehe sie die seine geworden, ob sie nicht durch uns die seine geworden  ? Ich will vorläufig von allen menschlichen Verbindungen absehen und nur die eine zwischen Eltern und Kindern ins Auge fassen. Ich frage Euch, |145| Väter und Mütter, wenn Euch ein Sohn, eine Tochter um ihrer Sünde willen stirbt, könnt Ihr es wissen und sagen, es sei nur ihre Sünde und nicht auch die Eure  ? Vermögt Ihr’s, die geistige und sittliche Urheberschaft dieser Sünde von Euch abzu­lehnen und ihre ganze Schwere auf das Haupt Eurer Kinder zu wälzen  ? Tut Ihr desgleichen und seid Ihr immer bereit dazu, wenn Eure Kinder, mit Tugend und Ehre geschmückt, eine Zierde ihres Geschlechts sind und die Menschen Euch preisend und seg­ nend ausrufen,542 heil der Mutter, die sie geboren,543 heil dem Vater, der sie erzogen  ? Wollt Ihr auch dann nicht für die Erzeuger ihrer Tugend gelten, Eure Kinder nicht für die Erben Eurer Tugend gelten lassen  ? Fürwahr, streng aber gerecht ist der Geist des alten jüdischen Gesetzes, welches die Strafe an der geschändeten Tochter vor der Türe ihres väter­lichen Hauses zu vollziehen befiehlt544, um den Eltern zuzurufen  :545 Seht die böse Frucht, die ihr groß gezogen  !546 Doch angenommen, wir hätten nie selbst einen Frevel be­gangen, der andere zu einem ähnlichen Frevel reizen konnte. Aber meine Freunde, nicht immer wird aus einer fertigen Frucht eine ähnliche erzeugt, sondern aus dem Samen, welcher die Frucht ge­trieben, wird eine ähnliche geboren. Ein Verbrechen wird bei noch unverdorbenen Menschen eher Abscheu als Nachahmung hervorrufen. Aber die Lust, der Zauber des Genusses ist ein schlafendes Kind im Herzen des Menschen. Diese wird durch die angeschaute Befriedigung aus ihrem Schlafe erweckt. Diese schleicht sich, ein heimlich Gift, in die Adern des Menschen ein, weckt wilde Triebe, feurige Wünsche, entzündet flammende Begierden, heftige Leidenschaften. Der ruhige Seelenspiegel wird ein reißender Strom, das Pflichtgefühl, ein schwankend Boot, schlägt um, das Verbrechen ist geboren, und wir, die unschuldigen, sind die schuldigen Urheber desselben. 540 541 542 543 544 545 546

‫זכיתי לבבי‬ ‫טהרתי מחטאתי‬ ‫אשרי שזה ילד‬ ‫אשרי שזה גדל‬ Dtn 22,21  : ‫סוקלין אתה על פתח בית אביה‬ ‫ראו גדולים שגדלתם‬ bKet 45a

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29. Samuel Holdheim, Barmherzigkeit gegen die Schuldigen (1850)

Es ist wahr, es kann kein Mensch wissen, was er durch sein Beispiel gewirkt, wo er edle Gefühle geweckt, reine Gesinnungen hervorgerufen, wo er böse Begierden entflammt, wilde Leidenschaften |146| entfesselt. Er ist sich selbst ein Rätsel, er weiß in sich selbst nicht zu unterscheiden zwischen den Gefühlsströmen, die in ihm selbst entsprungen und dem, was er aus fremden Gewässern in sich aufgenommen. Wie sollte er wissen, was andere durch ihn empfangen, was andere durch ihn geworden  ! Er sieht hier eine Tugend lieblich blühen und ahnt nicht, dass seine Hand sie gepflanzt. Er sieht dort ein Laster in schrecklicher üppiger Fülle wuchern und weiß nicht, dass er dessen Wurzelkeime in seinem Gemüt trägt. Von allem, was in der menschlichen Gesellschaft Großes und Edles geschieht, würde in der Einsamkeit eines Menschen keine Spur zu finden sein. Es ist alles das Ergebnis zusammenwirkender Kräfte, die wie Tropfen zu Tropfen in ein Weltmeer zu­sammenfließen. Jeder hat seinen Beitrag dazu geliefert, keinem kann sein Anteil versagt werden. Sollte aber dies nur vom Guten und nicht auch vom Bösen gelten  ?547 Sollten wir für unsere Mitwirkung zur Tugend unseren Anteil hinnehmen, für das Verbrechen jede Verantwortung ablehnen  ? Nein, mein Freund, prüfe Dich selbst, gehe in Deine vergangenen Tage zurück, in die Zeit Deiner Kindheit, als Dein Herz noch weich und zart jedem Eindruck offen stand. Erinnere Dich, wie das Beispiel deiner Eltern auf Dich im Guten wie im Bösen gewirkt, danach bemesse die Wirkung deines Beispiels auf deine Kinder. – Aber nicht bloß mit Deinen Eltern und mit Deinen Kindern stehst Du in solcher Wechselwirkung, sondern mit allen Menschen, welche engere oder weitere Beziehungen zu Dir hatten. Darum bleibe nicht bei diesem engen Familienverhältnis stehen, sondern richte den Blick auf den weiten Menschenkreis hin und siehe, was Du Gutes und Böses je von andern Menschen gelernt, was Du durch andere geworden. Danach bemesse, was andere von Dir gelernt, was andere durch Dich geworden. O, es schätzt niemand den Einfluss gering, den er auf andere, den andere auf ihn ausüben. Mit Recht sagen die alten Weisen  :548 „Immer betrachte sich der Mensch und mit sich die ganze Menschenwelt, als schwankten sie auf der Waagschale des göttlichen Gerichtes zwischen Schuld und Unschuld“  ;549 |147| „mit einer einzigen Tugend die er übt, gibt er für sich und die gesamte Menschenwelt der Waagschale der Unschuld das Übergewicht, mit einer einzigen Sünde macht er die der Schuld überwiegen.“550 Fürwahr, meine Freunde, wenn wir die Lebensgeschichte eines bedeutenden Verbrechers scharf ins Auge fassen, wenn wir die man­nigfachen Seelenzustände durch ihren ganzen Entwicklungsgang bis zu ihrem Höhepunkt verfolgen, so müssen wir sagen, an diesem Verbrecher haben tausend Hände mitgearbeitet, ehe er das ge­worden, was er jetzt ist  ! Wir können der niederschlagenden Wahr­heit dieses Urteils uns nicht entziehen, weil wir dasselbe fällen müssen, wenn wir an der Lebensgeschichte eines großen Mannes uns erbauen und erheben. Aber wenn wir hier unserer tätigen Mitwirkung, unseres persönlichen An547 548 549 550

‫את הטוב נקבל ואת הרע לא נקבל‬ ‫לעולם יראה אדם את עצמו ואת כל העולם כלו כאלו חציו חיב וחציו זכאי‬ ‫עשה מצוה אחת מכריע את עצמו ואת כל העולם כלו לכף זכות עשה עבירה אחת מכריע כו' לכף חובה‬ bQid 40b

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VIII. Versöhnung

teils uns freuen, sollen wir dort darüber ernstlich trauern, den Verbrecher nicht als ein uns fremdes Scheusal betrachten, sondern als eine blutende Wunde, die wir in unserem eigenen Herzen tragen. – Ja, meine Freunde, wenn in dem leuchtenden Lebensgemälde großer tugendhafter Menschen nach dem Zeugnis der Menschengeschichte der Einfluss der Mütter, wie dieser für ihr ganzes Leben entscheidend war, besonders gerühmt und gewürdigt wird, so sollte in dem schwarzen Lebensgemälde eines gefallenen Menschen der mütter­liche Einfluss nicht außer Berechnung und Zusammenhang bleiben. Ein Wort des weisen Salomo findet hier seine Stelle. Der Frauen Weisheit baut und webt ein schützendes Zelt über eines Menschen Leben, aber die Törin zerstört es mit ihrer Hand. Soviel der mütterliche Einfluss tugendhafter Frauen edlen Zart­sinn für alles Reine und Schöne in den Herzen ihrer Kinder gepflanzt und gepflegt hat, so viele böse Flammen wilder Leidenschaften hat mütterliche Eitelkeit angezündet, so viele schlechte Begierden, unreine Wünsche hat weibliche Torheit erzeugt und genährt, die später zu Verbrechen wurden. Darum mögen alle, insbesondere die Mütter, denen an allem Großen und Edlen, das die Menschheit ziert, ein zwiefaches Anteil zugerechnet wird, darum |148| mögen diese bei dem dunklen Gemälde, das ein beschämendes Ge­fühl in uns erweckt, sich prüfen, ob ihre Hände rein seien, ob sie sich sagen können  : Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, unsere Augen haben es nicht gesehen  ! Unser Thema, meine Freunde, ist wohl geeignet, ernste Ge­danken und Gefühle der wahren Buße immer, zumal am heutigen Tage der Herzensläuterung in uns hervorzurufen. Es ist ein echt jüdisches Thema und doch hat es nur den Menschen zum Gegenstand  ! Ein beschämendes Gefühl für die, die heute über den Israeliten den Menschen, über den Versöhnungstag die Versöhnung, über die Sünden der Väter die ihrer Kinder vergessen. Es wäre gut, wenn über dieses Thema oft und wie­der, in Schulen und Tempeln, in den Straßen und auf den Dächern gepredigt würde, wenn jedem Menschen nicht an friedlichen Grab­stätten im Anblick des leiblichen Todes, nein, an den öffentlichen Marktplätzen im Gewühle des Lebens und im Anblick des mo­ralischen Todes, den diese Plätze so oft uns bieten, wenn da ihm zugerufen würde  : Mensch, du stehst mit deiner Tugend wie mit deinem Laster nicht vereinzelt da. Als organisches Glied des großen ganzen trägst du eine höhere Verantwortlichkeit, nicht bloß für alles, was du für dich getan und gewirkt, sondern auch für alles fremde Tun und Wirken, wovon du die erste oder die letzte Ursache bist.551 Wenn einer aus der Gesellschaft stirbt – sagen die Alten – soll die ganze Ge­sellschaft besorgt sein, ob sie nicht durch ihre Sünden den Tod des Einzelnen mitverschuldet habe. Und sie führen ein Gleichnis an.552 Die menschliche Gesellschaft sei mit einem Gemäuer zu vergleichen, dessen Steine lose zusammengefügt. Wird ein Stein herausgerissen, fällt der ganze Bau zusammen. Die Alten dach­ten hierbei an das Versündigen, an die Möglichkeit, dass die einen mit ihrer Sünde eines anderen Tod verschuldet haben könn­ten. Besser passt dieses Gleichnis auf den moralischen Tod eines Menschen. Die lose zusammengefüg551 ‫אחד מחבורה שמת תדאג כל החבורה‬ 552 ‫למה הדבר דומה לגל של אבנים כיון שנתרועע אבן אחת נתרועע כל הבנין כלה‬

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29. Samuel Holdheim, Barmherzigkeit gegen die Schuldigen (1850)

ten Bausteine, wo einer durch den andern gehalten und getragen wird, sind ein sprechendes Bild |149| der gegenseitigen Verantwortlichkeit der Menschen. Der Ver­brecher, das ist der aus dem gesellschaftlichen Bau herausgerissene Stein, welcher den ganzen Bau bedroht und gefährdet. Darum soll nicht der leibliche, sondern der moralische Tod eines Men­schen die ganze Gesellschaft mit Sorge und Bekümmernis erfüllen. Wegen des leiblichen Todes beruhigt uns der Gedanke an des Verstorbenen unsterbliches Wirken. Im Anblick des moralischen Todes soll der Gedanke uns bekümmern, dass unser böses Beispiel, das in unserem Herzen vielleicht ein Grab der Vergessenheit zu­deckt, in anderen Herzen mörderisch zu wirken nicht aufhört. Die Unsterblichkeit unserer Tugend, das ist unser Trost, unser Segen, die Unsterblichkeit der Sünde, das unser Kummer, unser Fluch  ! Es ist gut, meine Freunde, dass wir wieder dahin gekommen sind, wo das mosaische Gesetz vor Jahrtausenden war, die tiefen Wunden der menschlichen Gesellschaft, das richterliche Urteil über Verbrechen nicht mehr hinter Schloss und Riegel dem Auge des Volks zu verbergen, sondern die Pforten und Zugänge zu dem Tempel der Gerechtigkeit dem Volk zu öffnen, damit jedermann aus dem Volk Gelegenheit habe zur Selbstprüfung  : Unsere Hände haben das Blut nicht vergossen und unsere Augen haben es nicht gesehen. – Noch ein größerer Fortschritt unserer Zeit ist es, dass jedermann aus dem Volke zum Richter über seinen Bruder be­stellt wird, damit, wenn er nach Eid und Pflicht ihn verurteilen muss, er sich selbst frage, ob seine Hände rein sind von solchem Frevel, ob, wenn auch keine fremden, doch seine eigenen Augen nicht das­selbe Verbrechen gesehen, um deswillen er den Bruder wie einen lose gewordenen Stein aus dem Gemäuer herausreißt. Beherzigens­wert ist das Wort, welches die Alten in dieser Beziehung aus­sprachen  :553 Das in unserem Text vorgeschriebene Sühnopfer gilt vornehmlich den Hartherzigen, den Mitleidslosen, den jeder rein menschlichen Teilnahme ver­schlossenen Seelen. Denn es steht geschrieben  : Die Ältesten sollen sprechen  : Unsere Hände haben das Blut nicht vergossen. Wie wäre es denkbar, dass die Ältesten in Israel einen Mord auf der Seele hätten  ?554 Aber der |150| Sinn dieser Worte ist  : Unsere Hände waren nicht mitleidslos verschlossen, als ein Durstiger um Beistand und Rettung uns an­flehte, dass er aus Not und Verzweiflung ein Verbrecher werden musste. Unsere Augen haben es nicht gesehen  ; das heißt  :555 Wir haben den verwahrlosten Menschen nicht gesehen und ihn ohne sorgsame Pflege und Teilnahme gelassen, dass er auf dem abschüssigen Wege des Verder­bens sich ganz verirren und verlieren musste. So, meine Freunde, haben schon die Alten die Mah­nungen unseres Textes der ernsten Beherzigung anempfohlen. Mögen sie für uns nicht vergebens ausgesprochen sein  ! Mögen wir mit ernstem aber ruhigem Blick, eingedenk, dass der Tod kein sittliches Übel sei, dem scheidenden Bruder ins verklärte Antlitz schauen. Mögen wir aber, wo wir einem gefallenen Men­schen begegnen, nicht gleichgültig und teilnahmslos an ihm vorüber­gehen, sondern helfen, retten, was wir noch retten können, und wo wir’s nicht vermögen, von 553 ‫אין עגלה ערופה באה אלא בשביל צרי עין‬ 554 ‫אלא לא בא לידינו ופטרנוהו בלא מזונות‬ 555 ‫לא ראנוהו ולא הנחנוהו בלא לויה‬

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VIII. Versöhnung

wahrer Trauer uns ergriffen, zur ernsten Selbstprüfung und Selbstläuterung uns aufgefordert fühlen, auf dass wir dereinst vor dem ewigen Richter sprechen dürfen  : Unsere Hände haben kein Blut vergossen, wir haben kein Leben gekürzt, keine Unschuld vergiftet, keine Ehre gemordet, keinen guten Ruf befleckt, unsere Augen haben keinen Frevel gesehen, unsere Ohren keine Verleumdung gehört und sich weg gewendet und das in seinem Blute sich wälzende Opfer seinem Schicksal überlassen.556 Vergib deinem Volke Israel und der ganzen Menschenwelt,557 die du erlöst hast, o Herr, und hilf jedem, dass er tue,558 was recht und wohlgefällig in deinen Augen ist. Amen  !

556 ‫כפר לעמך ישראל‬ 557 '‫אשר פדית ה‬ 558 '‫הישר בעיני ה‬

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IX. WOHLTÄTIGKEIT

30. Meyer Kayserling, Wohltätigkeit (1882)559

|58| Menschenliebe und Wohltun ziehen sich wie ein goldener Faden durch die ganze mosaische Lehre, welche in ihren Vorschriften voll Rücksicht und Zartsinn ist gegen die Armen und Verlassenen560 und bestrebt, durch eine Reihe von Gesetzen die Armut zu verhindern und die Not zu lindern.561 Sie schärft es jedem ihrer Bekenner ein  : „Verhärte nicht dein Herz und verschließe nicht deine Hand vor deinem dürftigen Bruder, sondern öffnen sollst du ihm deine Hand und leihen sollst du ihm, soviel als hinreicht für seinen Mangel, was ihm gebricht. Geben sollst du ihm und in deinem Herzen nicht leid sein lassen, was du ihm gibst, denn um dessentwillen wird der Ewige, dein Gott, dich segnen in all deinem Werk und in allem Schaffen deiner Hand.“562 |59| Wohltun beruht somit auch auf der gesellschaftlichen Grundlage der Gegenseitigkeit. Die gleichmäßige Verteilung des irdischen Besitzes ist ein leerer Traum. Die Armut liegt außerhalb der Menschen und kommt oft unverschuldet, unbewusst. „Reiche und Arme werden sich immer begegnen“, denn „Gott macht arm und reich“, das Weltrad steht nie still, „das Geschick dreht sich beständig.“563 Alles in der Natur beruht auf Gegenseitigkeit  : „Auch Arme und Reiche hat Gott geschaffen, damit jene durch diese ernährt werden, diese durch jene sich ein Verdienst erwerben“. „Größer noch ist die Wohltat, welche der Reiche durch den Armen empfängt,“ sagen die Lehrer des Talmud, „als diejenige, welche er ihm spendet, weil ihm Gelegenheit geboten wird, sich seines Glückes würdig und seinem Gott dankbar zu zeigen.“564 „Wer sein Auge von Wohltun und der Betätigung der Menschenliebe wegwendet“, lautet ein Ausspruch des Talmud, „wird als Götzendiener und Gottesleugner betrachtet“,565 denn er erkennt Gott nicht als den an, der das Obereigentum über alles Vermögen hat, der alles dem Menschen gibt und alles ihm nehmen kann. Darum mahnt auch ein Lehrer des Talmud  : „Gib Gott von dem Seinigen, denn du und alles, was du dein nennst, gehört ihm“,566 wie schon der Dichterkönig David sagt  : „Von dir kommt alles und aus deiner Hand haben wir dir gegeben.“567 „Wohltun“, sagt der Talmud, „ist das erhaltende Salz für den Reichtum“, sonst ist er ohne Dauer und geht schnell in Fäulnis über, d. h. er verschwindet.568 559 [Meyer Kayserling, Das Moralgesetz des Judentums in Beziehung auf Familie, Staat Gesellschaft. Als Manuskript gedruckt. Wien  : Waizner 1882, 58–66] 560 Dtn 24, 6.10.11.17  ; Ex 22,25 561 Ex 23,11  ; Lev 19,9.10  ; Lev 23,22  ; Dtn 24,19.20  ; Dtn 26,12 u. a. m. 562 Dtn 15,7ff 563 bShab 151b  : ‫גלגל הוא שחוזר בעולם‬ 564 Yalq 2,976  :   ‫ כדי שיהיו מתפרנסין אלו מאלו‬,‫ ; עשה הקב"ה עניים ועשירים כדי שיהו זכין אלו לאלו‬LevR p. 34  : ‫יותר ממה שבעל‬ ‫הבית עושה עם העני העני עושה עם בעל הבית‬ 565 bKet 68a  ; bBB 10a  : ‫ ;  כל המעלים עיניו מן הצדקה כאילו עובד עבודת אלילים‬KohZ 7,1  : ‫כל הכופר בגמ"ח כאילו כופר בעיקר‬ 566 mAv III,8  : ‫תן לו משלו שאתה ושלך שלו‬ 567 1 Chr 29,14 568 bKet 66b  : ‫מלח ממון חסר ואמרי לה חסד‬

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IX. Wohltätigkeit

In unzähligen Aussprüchen wird die Wohltätigkeit in der heiligen Schrift und im Talmud dem Bekenner des Judentums ans Herz gelegt und als Inbegriff aller Tugenden gepriesen. Sie „wiegt alle übrigen Gebote auf “,569 „steht höher als alle Opfer“,570 „wer sie übt, erfüllt gewissermaßen die ganze Welt mit göttlicher Gnade“571, selbst die Ruchlosen können durch Wohltätigkeit des Gottesglanzes gleichsam teilhaftig werden.572 In der Wohltätigkeit und Menschenliebe beruht nach der Anschauung der Religion des Judentums der würdigste Gebrauch des Lebens. Wer sie übt, dem verheißt sie reichen Gottessegen,573 „wer ihr nachjagt, findet Wohlwollen, Ehre, Lebensglück,574 |60| ein glückliches Alter.575 Wohltätigkeit bringt Sühne für die Sünden,576 „wendet das böse Verhängnis ab“,577 „rettet vom Tode“, siegt über den Tod und tritt als Fürsprecherin im Jenseits auf.578 Der Wohltätige fördert den Frieden unter den Menschen,579 ja er stiftet gleichsam Frieden zwischen dem Armen und dem Allvater im Himmel. „Wenn der Unglückliche im Kampfe mit Not und Entbehrung gegen die Vorsehung murrt und spricht  : Bin ich nicht auch ein Geschöpf Gottes  ? Warum waltet ein so großer Unterschied zwischen mir und meinem im Wohlstande lebenden Bruder  ? Er wohnt in einem Hause, das sein Eigentum ist, und ich schmachte in dieser elenden Hütte, die nicht mir gehört. Er schläft im weichen Bette und ich liege auf hartem Boden  ! – so beschwichtigt der Wohltätige durch seine Hilfe des Armen Klage, so dass er ihn mit seinem Schöpfer aussöhnt und Frieden zwischen ihm und Gott stiftet.“580 Anderen zu helfen und wohl zu tun ist eines jeden Menschen Pflicht, sogar der Arme, der selbst von Almosen lebt, darf sich ihr nicht entziehen.581 Die Wohltätigkeit ist unbegrenzt und soll den Kräften und Verhältnissen gemäß geübt werden. Durch Wohltun wird niemand arm, erleidet niemand Schaden. „Siehst Du jemanden, der in reichem Maße Wohltätigkeit übt, so wisse,“ sagt ein Lehrer des Talmud, „dass er an Vermögen zunimmt. Derjenige aber, der seine Hand von den Armen abzieht und mit seinen Gaben kargt, dessen Vermögen vermindert sich.“582 Nicht auf die Größe der Gabe, sondern auf die Größe des damit gebrachten Opfers kommt es bei wohltätigen Handlungen hauptsächlich an. Das Verdienstliche derselben liegt in der Lauterkeit der Absicht und in der Freudigkeit, mit der das Wohltun geschieht  : 569 bBB 9a  : ‫ ;  שקולה צדקה כנגד כל המצות‬yPea I,1  : ‫צדקה וגמילות חסדים שקולות כנגד כל מצותיה של תורה‬ 570 bSuk 49b  : ‫גדול העושה צדקה יותר מכל הקרבנות‬ 571 bSuk 49b  : ‫כל העושה צדקה ומשפט כאילו מלא כל העולם חסד‬ 572 MTeh zu Ps 40,14  : ‫אפילו רשעים ואין בהם אלא זכות של צדקה בלבד זוכין ומקבלין פני שכינה‬ 573 Dtn 15,10. 574 Spr 21,21 575 Spr 16,31 576 MekhY p. 10 577 bRHSh 16b 578 Spr 10,2  ; Spr 11,4  ; bBB 10a 579 mAv II,8  : ‫מרבה צדקה מרבה שלום‬ 580 LevR p. 34  ; Yalq 2,356 581 bGit 7b  : ‫אפילו עני המתפרנס מן הצדקה יעשה צדקה‬ 582 Yalq 2,947.

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30. Meyer Kayserling, Wohltätigkeit (1882)

„Nach der Liebe, welche ihr innewohnt, wird die Wohltätigkeit belohnt.“583 Darum soll jede Hilfe und Unterstützung dem Bedürftigen mit frohem Herzen und wohlwollendem Blicke, immer in freundlicher Weise gereicht werden. „Neige dem Armen dein Ohr, antworte ihm freundlich und mit Sanftmut“  !584 „Wenig gibt, wer viel gibt, aber mit Unwillen, viel hingegen der, welcher wenig gibt, aber mit frohem Herzen.“585 „Wer dem Armen mit Unwillen oder gar in beschämender Weise eine Gabe |61| reicht und wäre sie noch so groß, dem“, so lehrt Maimonides, „geht der Lohn des Gebens verloren.“586 Besonders verdienstlich ist die im Geheimen geübte Wohltätigkeit, so dass Geber und Empfänger sich gar nicht kennen und nennen, oder dass der Geber den Empfänger kennt, aber von ihm nicht gekannt ist.587 „Wer im Geheimen wohl tut, der ist größer als Moses, der große Lehrer.“588 Der wahrhafte Segen besteht nach dem Ausspruche des Talmud „nicht in dem, was gewogen, gemessen oder gezählt wird, sondern in der Gabe, welche dem Auge verborgen ist.“589 „Wer aber öffentlich dem Armen eine Gabe reicht und ihn dadurch beschämt, es wäre weit besser, er hätte nichts gegeben.“590 „Wehe  !“, ruft Maimonides über den aus, „der den Armen beschämt, der den Armen, der ohnehin schon gebeugt ist, hart anfährt.“591 „Wenn du dem Armen eine Gabe reichst“, mahnt der Spruchdichter, „kränke ihn nicht mit Worten, oft ist ein freundliches Wort besser als eine Gabe. Bei dem mildtätigen Manne ist beides zugleich.“592 „Wer dem Dürftigen eine Gabe reicht, empfängt einen sechsfachen Segen“, lehrt der Talmud, „wer ihm aber seine Teilnahme bezeugt, ihm Mut und Trost zuspricht, dessen Segen wird ein weit größerer sein“593, nach der Verheißung des Propheten  : „wenn deine Seele dem Hungrigen spendet und du auch die bedrückte Seele sättigst, so strahlt im Finstern dein Licht auf und deine Dunkelheit wie Mittag.“594 „Lass dein Haus weit geöffnet sein, damit die Armen wie Kinder deines Hauses werden“  ! lautet die Mahnung eines alten Lehrers des Talmud595, denn „das Haus, das der Mildtätigkeit verschlossen bleibt, wird dem Arzte geöffnet werden“, droht ein anderer Lehrer des Talmud.596 Kein Armer darf abgewiesen werden. Wer um eine Gabe bittet, wer die Hand ausstreckt um zu nehmen, dem muss man nach der Vorschrift des Talmud geben, ohne Unterschied des Stammes und des Bekenntnisses, je nach Umständen und Verhältnissen, denn auch im bSuk 49b  : ‫אין ברכה משתלמת אלא לפי חסד שבה‬ Sir 4,8. bBB 10b. Maimonides, Hilchot Matnot Aniyim XI,4  : ‫כל הנותן צדקה לעני בסבר פנים רעות ופניו כבושות בקרקע אפילו נתן לו‬ ‫אלף זהובים אבד זכותו והפסידה‬ 587 bBB 10b  ; Maimonides, Hilchot Matnot Aniyim XI,8. 588 bBB 9b  : ‫גדול העושה צדקה בסתר יותר ממשה רבינו‬ 589 bTaan 8b  ; bBM 42a  : ‫אין הברכה מצויה לא בדבר השקול ולא בדבר המדוד ולא בדבר המנוי אלא בדבר הסמוי מן העין‬ 590 bChag 5a  ; bShab 104a 591 Maimonides, Hilchot Matnot Aniyim XI,5  : ‫אוי למי שהכלים את העני אוי לו‬ 592 Sir 18,14.16 593 bBB 9b  : ‫כל הנותן פרוטה לעני מתברך בו' ברכות והמפייסו בדברים מתברך בי"א ברכות‬ 594 Jes 58,10 595 mAv I,5  : ‫יהי ביתך פתוח לרוחה ויהיו עניים בני ביתך‬ 596 PesR p. 11  : ‫הפתח שאינו פתוח למצוה פתוח לרופא‬ 583 584 585 586

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IX. Wohltätigkeit

Wohltun gibt es Stufen und Rangordnungen, muss die größere oder geringere Würdigkeit und Bedürftigkeit in Betracht gezogen werden. Arme Verwandte genießen den Vorzug vor Fremden  : „Deinem Fleische darfst du dich nicht entziehen“597  ; die Hausarmen gehen den Armen der Stadt, diese denen der Fremde voran  ; der Ge- |62| lehrte muss vor dem Unwissenden, der Kranke vor dem Gesunden, der Hungrige vor dem dürftig Bekleideten berücksichtigt werden.598 Als ein hohes Verdienst rechnet der Talmud die Erhaltung und Erziehung von Waisen an. „Wer ein armes hilfloses Waisenkind pflegt, erzieht und versorgt, der übt fortwährend Wohltätigkeit und es wird ihm angerechnet, als ob er das Kind selbst gezeugt und geboren hätte.“599 Von den verschiedenen Graden der Wohltätigkeit gilt nach der mosaischen Lehre und dem Talmud als der Höchste, den Verarmenden zu stützen, ihm zur rechten Zeit die Mittel zu verschaffen, sein Erwerb und seine Arbeit fortzusetzen. „Wenn dein Bruder verarmt und seine Hand neben dir erschlafft, so halte ihn aufrecht“, gebietet die mosaische Lehre, „ob fremd oder einheimisch, damit er mit dir lebe.“600 „Leihe deinem Nächsten, wenn er in Not ist“, mahnt der Spruchdichter, „leihe, aber sei nicht Bürge, die Bürgschaft hat schon viele zu Grunde gerichtet. Wer sich in Bürgschaft stürzt, ist ein Frevler.“601 „Weit edler handelt, wer durch unverzinsliches Darlehen aufhilft, als wer durch ein Almosen unterstützt“, lautet ein Ausspruch des Talmud, „und wer Geld zum Geschäfte vorschießt, wirkt am ersprießlichsten.“602 Der Talmud, der voll Rücksicht und Zartsinn gegen die Notleidenden ist und immer die Wohltätigkeit als edle Menschentat preist, fordert auch, dass die Verhältnisse, in welcher der Hilfsbedürftige sich befand, stets berücksichtigt und er in den Stand gesetzt werde, seinen früheren Gewohnheiten gemäß leben zu können.“603 Die Lehrer des Talmud selbst gingen mit dem Beispiel in der edelsten Weise voran. Mar Ukba’s Sohn hatte einem armen Schützling die Unterstützung, welche sein Vater ihm jährlich zuwendete, übergeben. Nach seiner Heimkehr erzählte er dem Vater, dass dieser Arme sich Ausgaben gestatte, die ihm nicht zukämen und dass es bei ihm selbst an trefflichem Weine nicht fehle. „Vergiss nicht, mein Sohn“, antwortete ihm Mar Ukba, „diese Familie war einst sehr reich, sie kann ihr früheres Leben nicht vergessen. Mit der geringfügigen Summe, die sie von uns erhält, kann sie nicht auskommen, hier ist eine größere, beeile dich und bringe sie ihr.“604 Wohltätigkeit ist eine Aussaat, welche reiche Früchte bringt  : Sie trägt den Lohn in sich selbst. „Wer |63| mildtätig gegen Arme ist, der leiht gleichsam Gott, dieser wird die Wohltat ihm vergelten.“605 597 598 599 600 601 602 603 604 605

Jes 58,7  : ‫ומבשרך לא תתעלם‬ bBM 71a  ; bBB 9a  ; bKet 67ab, bHor 13a bKet 50a  : ;‫ זה המגדל יתום ויתומה בתוך ביתו ומשיאן‬,‫   אשרי שמרי משפט עשה צדקה בכל עת‬ bMeg 13a  ; bSan 19b  : ‫כל המגדל יתום ויתומה בתוך ביתו מעלה עליו הכתוב כאילו ילדו‬ Lev 25,35 Sir 29,2.18  ; Spr 17,18 bShab 63a  : ‫גדול המלוה יותר מן העושה צדקה ומטיל בכיס יותר מכולן‬ bKet 67b  : ‫אפילו סוס לרכוב עליו ועבד לרוץ לפניו‬ bKet 67b SifDtn 277

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30. Meyer Kayserling, Wohltätigkeit (1882)

„Wie aber der Wohltätige in seinem Herzen Gott danken soll, dass er ihn in den Stand gesetzt hat, anderen zu helfen, so muss nach der Vorschrift des Talmud auch der, der die Wohltat empfängt, nicht allein die ihm gebotene Hilfe, sondern auch die Liebe, welche in der Gewährung derselben sich ausdrückt, zu schätzen wissen. Er soll Erkenntlichkeit und Gegenliebe, d. h. Dankbarkeit beweisen. Dankbarkeit ist Liebespflicht, ebenso groß als Tugend, wie Undankbarkeit ein Laster ist. Die mosaische Lehre warnt vor diesem Laster  : „Den Ägypter sollst du nicht verabscheuen, denn als Fremder warst du in seinem Lande“,606 und der Talmud mahnt  : „In den Brunnen, woraus du einmal getrunken, wirf keinen Stein.“607 „Hat dir dein Nächster Linsen zu essen gegeben, so bleibst du ihm, selbst wenn du ihn später mit Fleisch speist, immer noch zu Dank verpflichtet, weil er mit dem Wohltun begonnen.“608 Der macht sich des schwärzesten Undanks schuldig, der das, was ihm in der Not zu seiner Hilfe und Rettung geliehen wurde, nicht sobald die Verhältnisse es ihm ermöglichen, zurückerstattet. „Leihe deinem Nächsten, wenn er in Not ist, gib aber auch deinem Nächsten zu gehöriger Zeit zurück. Viele betrachten das Darlehen als einen Fund und bereiten denen Kummer, welche sie unterstützt haben. Bis er es empfangen, küsst er seinem Nächsten die Hand und spricht mit demütiger Stimme. Kommt aber die Zeit der Rückgabe, so verschiebt er diese von einem Tag zum andern, bringt allerlei Entschuldigungen für seine Nachlässigkeit vor, klagt auch wohl die böse Zeit an – er beraubt ihn seines Gelds und wird noch obendrein sein Feind, ohne Grund. Indes habe Nachsicht mit dem Armen und lass ihn nicht umsonst auf deine Wohltätigkeit warten.“609 Undank und öfter erfahrene Täuschungen dürfen den Menschen in den wohltätigen Bestrebungen nicht schwankend machen und die Furcht vor Betrügern darf die Liebe zum Wohltun nicht erkalten lassen. „Gäbe es nicht auch betrügerische Bettler“, sagt ein Lehrer des Talmud, „so würde der Mensch täglich der Sünde verfallen.“610 |64| Darum ist es besser, wiederholt getäuscht zu werden, als einem Unglücklichen die Hilfe zu versagen. Nachdrücklichst warnt der Talmud, Almosen anzusprechen und anzunehmen, so lange nicht die äußerste Notwendigkeit dazu zwingt. Der Mensch soll sich der unwürdigsten Arbeit unterziehen,611 soll, was Speise und Kleidung betrifft, den Sabbat zum Werkeltage machen, ehe er andere um Hilfe anspricht.612 Wer Almosen annimmt, ohne sie nötig zu haben, der, lehrt der Talmud, stirbt nicht, ohne sie in Wirklichkeit nötig zu haben,613 und wer, um das Mitleid anderer zu erregen, sich blind oder lahm stellt, der stirbt nicht, ohne mit dem angedichteten Gebrechen behaftet zu sein.614 Wer sich aber kärglich nährt, nur 606 607 608 609 610 611 612 613

Dtn 23,8 bBQ 92b  : ‫בירא דשתית מיניה לא תשדי ביה קלא‬ Yalq II,956  : ‫אם קבלך חברך בעדשים תחילה וקבלתו בבשר עד עכשיו הוא מתבקש אצלך למה שהוא גמול עליך תחילה‬ Sir 29,2ff bKet 68a  : ‫בואו ונחזיק טובה לרמאין שאילמלא הן היינו חוטאין בכל יום‬ bBB 110a  ; bPes 113a bShab 118a  ; bPes 112a  : ‫עשה שבתך חול ואל תצטרך לבריות‬ yPea VIII,9  : ‫ ;  כל מי שאינו צריך ליטול ונוטל אינו נפטר מן העולם עד שיצטרך לבריות‬bKet 68a  : ‫המקבל צדקה ואין צריך לכך‬ ‫סופו אינו נפטר מן העולם עד שיבא לידי כך‬ 614 yPea VIII,9  ; bKet 68a

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IX. Wohltätigkeit

um anderen nicht zur Last zu fallen, der, verheißt der Talmud, stirbt nicht, ohne dass er andere ernähren kann.615 Doch darf die Scheu vor Almosen nicht übertrieben werden, denn wer sich in großer Not befindet und die Annahme von Unterstützung verweigert, lädt Blutschuld auf sich.616 Schön ist es, Wohltaten zu üben, noch schöner und verdienstlicher jedoch, andere zum Wohltun zu veranlassen.617 Derjenige, der selbst stets hilfreich gegen andere ist und sich um Förderung allgemeiner Wohltätigkeit bemüht, der ist der wahrhaft Fromme,618 er leuchtet wie ein Gestirn am Firmament619. Wer hingegen selbst nichts gibt und auch nicht will, dass andere Wohltaten üben, der ist ein Ruchloser.620 Die Gabe und Unterstützung, welche dem Armen und Dürftigen gereicht wird, ist noch nicht die volle Liebe. Die Religion des Judentums, welche die sittliche Vollendung ihrer Bekenner zum höchsten Ziele hat, fordert die Wohltätigkeit als Heiligung, als Betätigung der Liebe, diese aber beschränkt sich nicht auf die Hilfe mit Geld und Gut, sondern zieht alles in ihren Bereich, wodurch dem Nächsten Beweise der Liebe und Fürsorge, des Mitgefühls und der Teilnahme gegeben werden. – Der Bekenner des Judentums soll, indem er Gott als das Ideal des Lebens nachahmt, den Spuren seiner Liebe, Milde und |65| Barmherzigkeit folgend, gleichsam in seinen Wegen wandeln  :621 Kranken Teilnahme bezeigen, Trauernde trösten, Tote bestatten, d. h. Liebeswerke üben.622 Wohltun als Werk der Menschenliebe, ohne Aussicht und Hoffnung auf Vergeltung, Humanität im weitesten Sinne des Wortes, steht höher als die Hilfe durch Almosen und Unterstützung  : „Wohltätigkeit übt der Mensch nur mit Geld und äußerem Gut, mit dem Liebesdienste gibt er zugleich von seinem ganzen Wesen und Sein. Jene ist nur für Arme, das Liebeswerk für den Reichen wie für den Bettler. Wohltätigkeit kann nur gegen Lebende, das Liebeswerk aber gegen Lebende wie gegen Tote geübt werden.623 Liebeswerke sind Aussaat und Ernte zugleich und gehören zu jenen Tugenden, welche außer der Belohnung im Jenseits schon hienieden Segen bringen,624 Segen, welchen noch die spätesten Nachkommen genießen.625 Nach der Vorschrift des Talmud müssen die Liebeswerke, die Ausstattung armer Bräute, Gastfreundschaft, Krankenpflege und Krankenbesuch, die Beerdigung der Toten, das Trösten Trauernder und alle die mannigfachen Verzweigungen, in welchen die Übung jeyPea VIII  : ‫כל מי שצריך ליטול ואינו נוטל אינו מת מן הזקנה עד שיפרנס אחרים משלו‬ yPea VIII  : ‫כל מי שצריך ואינו נוטל הרי זה שופך דמים‬ bBB 9a  : ‫גדול המעשה יותר מן העושה‬ mAv V,16  : ‫יתן ויתנו אחרים חסיד‬ bBB 8b mAv V,16  : ‫לא יתן ולא יתנו אחרים רשע‬ Dtn 13,5 bSot 14a  : ‫הלך אחר מדותיו של הקב"ה מה הוא מלביש ערומים אף אתה הלבש ערומים הקב"ה ביקר חולים אף אתה בקר חולים‬ ‫הקב"ה ניחם אבלים אף אתה נחם אבלים הקב"ה קבר מתים אף אתה קבור מתים‬ 623 bSuk 49b  ; yPea I,1  ; Yalq 2,859  : ‫בשלשה דברים גדולה גמילות חסדים יותר מן הצדקה צדקה בממונו ג"ח בין בגופו בין‬ ‫בממונו צדקה לעניים ג"ח בין לעניים בין לעשירים צדקה לחיים ג"ח בין לחיים בין למתים‬ 624 yPea I,1  ; bShab 127a  : ‫אלו דברים שאדם אוכל פירותיהם בעולם הזה והקרן קיימת לו לעולם הבא כבוד אב ואם וגמילות‬ …‫חסדים‬ 625 MTeh zu Psalm 103,17  : ‫החסד מן העולם ועד העולם אבל הצדקה עד שלשה דורות‬ 615 616 617 618 619 620 621 622

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30. Meyer Kayserling, Wohltätigkeit (1882)

ner Pflichten im Leben vorkommen, von jedem geübt werden, gegen Freund und gegen Feind, gegen Juden wie gegen Nichtjuden. „Immerhin übe Liebeswerk auch gegen den, der dir wehe getan  !“ mahnt der Talmud626 und lehrt als gesetzliche Bestimmung  : „Man besuche die heidnischen Kranken mit den jüdischen, bestatte die heidnischen Toten mit den jüdischen, um den Weg des Friedens zu wandeln, um des Geistes der mosaischen Lehre willen.627 Hoch preist der Talmud die Gastfreundschaft, eine Tugend, in der Abraham dem jüdischen Stamm als Muster voranleuchtet und in der sich die jüdische Frau von jeher besonders ausgezeichnet hat. Er hält sie für verdienstlicher als den frühzeitigen Besuch des Lehrhauses, schätzt sie höher als den Empfang der Gottesmajestät.628 Zu einer heiligen Pflicht der Menschenliebe macht der Talmud den Besuch und die Pflege der Kranken ohne Unterschied des Standes und des Bekenntnisses. Unbegrenzt ist der dafür |66| verheißene Lohn. „Wer den Kranken besucht, befreit ihn von einem Teil seines Leidens, wer es unterlässt und die Teilnahme ihm versagt, ist gleichsam ein Mörder.“629 Eine heilige Pflicht der Menschenliebe ist die Bestattung und Begleitung der Toten  : „Wer sich von der Begleitung einer Leiche abwendet“, lehrt der Talmud, „der spottet seines Schöpfers.“630 „Bezeige dich wohltätig gegen jedes lebendige Wesen“, mahnt der Spruchdichter, „und auch den Toten versage deine Wohltat nicht. Entziehe dich nicht dem Weinenden und trauere mit dem Trauernden. Säume nicht, die Kranken zu besuchen, denn wegen solcher Handlungen wirst du geliebt werden.“631 Werktätige Menschenliebe bildete immer das charakteristische Kennzeichen des jüdischen Stammes.

626 Midrasch Leolam  ; in  : Bet ha-Midrasch von Adolph Jellinek, Band III, 113)  : ‫לעולם יגמול אדם חסד אפילו עם‬ ‫[ מי שהרע לו‬Jellinek, Adolph, Bet ha-Midrasch  ; Sammlung kleiner Midraschim und vermischter Abhandlungen aus der älteren jüdischen Literatur …  ; Nach Hs. u. Druckwerken gesammelt und nebst Einleitung). Wien  : Winter 1853–1877 (Band 3  : Midrasch Wajisâu, Eldad ha-Dani, II. Recension, Alfabet-Midrasch des R. Akiba, I. Recension, II. Recension, Apokalypse des Elia, Abschnitte über den Messias, Mysterien des R. Simon ben Jochai, Die großen Hechalot, Midrasch Leolam, Midrasch Gadol u-Gedola, Schilderung des Paradieses II, Messias-hagada, Beschreibung der Stiftshütte, Das Noah-Buch, Preis der Engel, Midrasch Tadsche)] 627 bGit 61a  : ‫מבקרין חולי נכרים עם חולי ישראל וקוברין מתי נכרים עם מתי ישראל מפני דרכי שלום‬ 628 bShab 127a  : ‫גדולה הכנסת אורחין יותר מהשכמת בית המדרש…מהקבלת פני שכינה‬ 629 bNed 39b  : ‫ ;  כל המבקר חולה נוטל אחד משישים בצערו‬bNed 40a  : ‫כל מי שאין מבקר חולים כאילו שופך דמים‬ 630 bBer 18a  : ‫כל הרואה המת ואינו מלוהו עובר משום לועג לרש חרף עושהו‬ 631 Sir 7,33ff

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31. Heinrich Galandauer, Wohltätigkeit (1891)632

|98| Wir haben bisher darzutun gesucht, welche Pflichten der Reiche jenen Armen gegenüber zu üben hat, welche die Kraft und die Gelegenheit haben, dem obersten sozialen Prinzip, der Pflicht zur Arbeitsamkeit gerecht zu werden, und wie durch die Ergebnisse, welche aus den bisher zitierten Stellen hervorgehen, die Unterschiede zwischen Lohnherrn und Taglöhner, zwischen Herrn und Sklaven, und zwischen Gläubiger und Schuldner nach Möglichkeit aufgehoben und ausgeglichen erscheinen. Es erübrigt sich, nun noch zu untersuchen, welche Pflichten der Reiche solchen Armen gegenüber zu erfüllen hat, welche nicht die Kraft oder Fähigkeit besitzen, die oberste soziale Pflicht, die Pflicht zur Arbeit auszuüben, oder denen es an Gelegenheit fehlt, ihre Fähigkeit zu entfalten, und wie durch diese Pflichterfüllung des Reichen solchen Armen gegenüber die sozialen Gegensätze auch zwi- |99| schen diesen beiden gesellschaftlichen Extremen nach Möglichkeit ausgeglichen werden können. Wir haben bereits oben ausgeführt, dass die unberechtigte Inanspruchnahme der Wohltätigkeit zu dem höchsten Vergehen gegen die erste soziale Pflicht, zur Trägheit und Faulheit führt, und dass, so lange der Mensch die Kraft zur Arbeit besitzt, er der Gesellschaft nicht zur Last fallen darf. Wir haben daher, wenn wir im Folgenden von Armen und Dürftigen sprechen werden, nur diejenigen im Auge, welchen durch Unglück jede Fähigkeit und jede Gelegenheit genommen ist, sich der Arbeit zu widmen, und welche demzufolge auch das volle Recht auf die Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen besitzen  ! Von Betrügern, Simulanten und Heuchlern soll hier nicht die Rede sein. Um das Recht eines solch’ Unglücklichen auf die Wohltätigkeit der Gesellschaft völlig und ganz zu erkennen, müssen wir uns das Gemüt eines solchen Menschen vergegenwärtigen. Stellen wir uns ein vernunftbegabtes Wesen vor, das sich seiner Pflicht vollkommen bewusst ist  ; es blickt um sich, alles arbeitet, schaffet, tut, wirket, strebet, ein solcher Mensch fühlt den Drang in sich, es den andern gleich zu tun, seinem Leben eine Bedeutung, einen Zweck zu geben, sich seinen Mitmenschen nützlich zu machen, sich hervorzutun, etwas zu leisten, etwas zu sein  ; er rafft sich auf mit der ganzen Kraft seines Willens, ringt sich empor, um sein Pflichtbewusstsein zu betätigen, und da er nun glaubt, den Anlauf hierzu nehmen zu können, sinkt er ohnmächtig zurück, seine Kräfte versagen ihm den Dienst, die Welt ist für ihn verschlossen, jeder Weg, der zur Tätigkeit führt, verrammelt, und er bleibt zur Untätigkeit verdammt. Welch’ ein Jammer für den Menschen, wenn er noch dazu Talent und Fähigkeit besitzt und es ihm an jeder Kraft oder Gelegenheit fehlt, sein Können frei zu entfalten |100| und seinem innern Drang Befriedigung zu verschaffen  ! Nun stellen wir uns das Gemüt eines solchen Menschen vor, wenn er noch dazu arm ist, und er in Folge seines Unglückes die Güte und die Barmherzigkeit anderer anrufen muss, um sein Dasein fristen zu können, mit welch’ bitteren Gefühlen, mit welch’ schmerzvollen Empfindungen mag er dies tun. Er, der das Bewusstsein hat, dass er durch sein Tun andere 632 [Heinrich Galandauer, Der Socialismus in Bibel und Talmud. Mainz  : Wirth 1891, 98–106]

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31. Heinrich Galandauer, Wohltätigkeit (1891)

beglücken könnte, muss nun von der Wohltat anderer abhängig sein, er, der das Wohl anderer fördern könnte, muss nun die Gaben anderer in Anspruch nehmen  ; jeder kann sich in seinem Berufe erheben, sich zur Geltung bringen, nur er allein ist ohne Beruf  ; er sieht eine Gesellschaft glücklicher, tätiger, schaffensfreudiger Menschen um sich, von welcher er kein Mitglied ist. So beiläufig mögen die Gefühle eines Unglücklichen sein, dem es an Kraft oder Gelegenheit fehlt, die Pflicht zur Arbeit zu erfüllen. Auch der Talmud schildert in sehr düstern Farben den Gemütszustand eines Armen, der auf die Hilfe anderer angewiesen ist  : Sobald der Mensch der Wohltätigkeit bedarf, heißt es daselbst, verändert sich der Ausdruck seines Angesichts.633 Das Leben eines Armen, der auf die Gaben anderer warten muss, ist kein Leben.634 Wer auf die Mahlzeit an einem fremden Tische angewiesen ist, dem erscheint die Welt wie verfinstert.635 Was soll der Mensch beginnen, der durch Krankheit oder Alter oder durch sonstiges Unglück verhindert ist, seinem |101| Berufe nachzugehen, soll er Hungers sterben  ?636 Unter allen Armen aber ist der Kranke der Ärmste.637 Deshalb gilt es als heiligste Pflicht, diesem vom Geschick so schwer Getroffenen mit Liebe und Barmherzigkeit die nötige Wohltat angedeihen zu lassen. Was nun die Bibel betrifft, so ist sie in erster Linie bestrebt, die Verarmung im Hebräerstaate nach Möglichkeit aufzuhalten, durch die gleiche Verteilung des Landes, durch das Schuldenerlassgesetz, durch die Institution des Jubeljahres, wodurch der Eigentümer seinen Besitz nicht so leicht verlieren könnte u.s.w.638 Ist aber die Armut schon vorhanden, so sorgt die Bibel in vielfacher Weise für den Dürftigen  ; wir brauchen nur auf die Gesetze hinzuweisen, dass alle drei Jahre der zehnte Teil des Bodenertrags dem Armen gehörte, dass er die Nachlese auf dem Felde, im Weingarten und auf dem Ölbaume, das Erträgnis des Schemita- und Jubeljahres für sich in Anspruch nehmen konnte, dass er das Recht hatte, in das Feld und in den Weinberg des Reichen zu gehen und sich dort nach Herzenslust satt zu essen, dass er zu allen Festen als gleichberechtigter Teilnehmer zugezogen werden musste, und dass es überhaupt geboten war, ihn zu unterstützen und zu erhalten  ; aus allen diesen Gesetzen (…)|102| ist die Fürsorge der Bibel für die Armen zu ersehen. Aber abgesehen von diesen Geboten, ist auch im Hebräerstaate durch öffentliche Anstalten und durch die Privatwohltätigkeit in dem ausgiebigsten Maße für die Unterhaltung der Armen gesorgt worden. Schon in jener alten Zeit des Talmuds hatten die Hebräer treffliche und gut eingerichtete öffentliche Wohltätigkeitsanstalten, welche den antiken, zivilisierten Völkern fremd 633 634 635 636 637 638

bBer 6b .)‫כיון שנצטרך אדם לבריות פניו משתנות (ברכות דף ע"ב‬ bBes 32b  : .)‫ ע"ב‬,‫ת"ר ג' חייהן אינם חיים ואחד מהם המצפה לשלחן חבירו (ביצה דף ל"ב‬ bBes 32b  : .)‫כל המצפה על שולחן אחרים עולם חשך בעדו (שם‬ bQid 82a  : .)‫ ע"א‬,‫כשאדם בא לידי חולה או לידי זקנה או לידי יסורין ואינ יכול לעסוק במלאכתו הרי הוא מת ברעב (קידושין פ"ב‬ bNed 40a  : .)‫אין דל אלא חולה (נדרים דף מ' ע"א‬ Nirgends besaßen Bürger ihre Güter mit mehr Recht als die Untertanen des Hebräerstaates, die den gleichen Teil an Land und Feld besahen wie das Staatsoberhaupt, und wo jeder für alle Zeiten Besitzer seines Anteils blieb, denn wenn jemand aus Armut seinen Acker oder sein Grundstück ver­kaufen musste, so war der Käufer verpflichtet das gekaufte Gut mit dem Eintritt des Jubeljahres wieder dem Verkäufer vollständig zurückzugeben. (Spinoza, Tractatus theologico-politicus K. 17)

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IX. Wohltätigkeit

zu sein schienen, und die nur der modernen Welt bekannt sind. So gab es in Palästina öffentliche Speiseanstalten mit dem Namen Tamchui639 durch welche die Armen täglich zwei Mahlzeiten erhielten.640 Ferner gab es daselbst öffentliche Geldinstitute zum Zwecke der Wohltätigkeit mit dem Namen Kupa, durch welche die Armen Geld zu ihrer Ernährung für die ganze Woche erhielten.641 Auch gab es Bekleidungsanstalten, wie auch Beerdigungsvereine für die Armen. Es war zur Erhaltung derselben folgende Verordnung getroffen  : Jeder bemittelte Bürger, der 30 Tage in einem Orte wohnte, war bemüßigt, zur Speiseanstalt beizutragen, nach 3 Monaten musste er zu dem Geldinstitute, nach 6 Monaten zu dem Bekleidungs- und nach 9 Monaten zu dem Bestattungsverein beisteuern.642 Allein die öffentliche Wohltätigkeit ist durchaus nicht geeignet, in umfassender, durchgreifender Weise die |103| Not der Armen zu lindern, und ihre Bedürfnisse selbst die allernötigsten nach allen Richtungen hin zu befriedigen. Öffentliche Institute sind hierzu nicht ausreichend. Oft müssen Notleidende dort zurückgewiesen werden, weil sie nicht diejenigen Eigenschaften nachweisen können, von welchen die Unterstützung der Anstalt bedingt ist, oft sind die Mittel derselben unzureichend, oft sind andere Ursachen vorhanden, durch welche der Arme keine Wohltätigkeit finden kann. Es ist darum nebst der öffentlichen Wohltätigkeit, von dringendster Notwendigkeit auch die Privatwohltätigkeit zu üben, wenn die sozialen Gegensätze zwischen arm und reich nach Möglichkeit gemildert werden sollen. Eines Tages, so erzählt der Talmud, kam eine Frau zu Benjamin, dem Frommen, welcher Vorsteher einer Wohltätigkeitsanstalt war, und sprach zu ihm  : Rabbi, unterstütze mich in meiner Not. Hierauf sprach dieser  : Ich schwöre Dir, dass die Anstaltskasse leer ist. Die Frau aber entgegnete, wenn dem so ist, so müssen ich und meine sieben Kinder sterben. Da stand der Rabbi auf und unterstützte sie von seinem Gelde.643 Wer nur einem einzigen Notleidenden hilft und ihn erhält, der hat sich ein Verdienst erworben, wie wenn er eine ganze Welt erhalten würde.644 Wer einem Armen eine Wohltat erweist, der macht sich gleichsam zum Gläubiger Gottes. Wenn dieser Ausspruch nicht in der |104| heiligen Schrift stünde, dürfte er gar nicht ausgesprochen werden  ; es ist so, als wäre Gott dadurch ein untertäniger Schuldner dem menschlichen Gläubiger.645 Selbst durch die kleinste Gabe erwirkt man sich die Gnade Gottes, und er wendet dem Geber huldreichst sein Antlitz zu.646 Wer nur einen Pfennig den Armen spendet, der wird mit sechs Segnungen beglückt.647 Es heißt, Er bekleidet sich mit Wohltätigkeit wie mit 639 640 641 642 643

644 645 646 647

‫תמחוי‬ bShab 118a  ; Raschi zu bShab 118a  : .)‫ רש"י שם‬,‫ ע"א‬,‫ קערה גדולה היא וכו' (שבת קי"ח‬:  ‫תמחוי‬ Daselbst  : .)‫ מעות הן לפרנס עניים (שם רש"י‬:  ‫קופה‬ bBB 8a  : .)‫ ע"א‬,'‫ ששה לכסות תשעה לקבורה (בבא בתרא דף ח‬,‫ שלשה חדשים לקופה‬,‫שלושים יום לתמחוי‬ bBB 11a  : ‫ פעם אחת באתה אשה לפניו בשני בצורת אמרה לו רבי‬,‫אמרו עליו על בנימין הצדיק שהיה ממונה על קופה של צדקה‬ ‫פרנסני אמר לה העבודה שאין בקופה של צדקה כלום אמרה לו רבי אם אין אתה פרנסני הרי אשה ושבעה בניה מתים עמד ופרנסה‬ .)‫ ע"א‬,‫משלו (בבא בתרא י"א‬ bBB 11a  : .)‫כל המקיים נפש אחת מישראל כאילו קיים עולם מלא (שם‬ bBB 10a  : .)‫ ע"א‬,'‫ אלמלא מקרא כתוב אי אפשר לאמרו כביכול עבד לוה לאיש מלוה (שם י‬:  ‫מלוה ה' חונן דל‬ bBB 10a  : .)‫אדם נותן פרוטה לעני זוכה ומקבל פני שכינה (שם‬ bBB 9  : .)'‫כל הנותן פרוטה לעני מתברך בשש ברכות (שם ט‬

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31. Heinrich Galandauer, Wohltätigkeit (1891)

einem Panzer  : wie der Panzer aus vielen Schuppen besteht, so stellt Gott alle kleinen milden Gaben zusammen und macht daraus eine große Rechnung.648 Wer nach Wohltätigkeit strebt, dem gibt auch Gott die Mittel sie auszuüben.649 Wer den Menschen Mitleid und Barmherzigkeit erzeugt, mit dem übt auch Gott Gnade und Erbarmen, wenn er in Bedrängnis kommt.650 Was der Mensch an Wohltätigkeit übt, ist wie der Same, den der Landmann ausstreut, er erhält sie dann mehrfach, von Gott zurück.651 In welch’ ausgiebiger Weise und allen Bedürfnissen des Armen entsprechend die Wohltätigkeit geübt werden muss, ohne dass der Wohltäter erst nach dem Vorleben oder nach den |105| Verhältnissen des zu Unterstützenden zu fragen das Recht hat, geht aus dem Folgenden hervor  : Einem Armen, der von Ort zu Ort wandert, darf nicht weniger als ein Laib Brot gegeben werden  ; will er im Orte übernachten, muss er Geld für Nachtquartier bekommen  ; ist es Sabbat, so erhält er Speisen für drei Mahlzeiten.652 Siehst Du einen Nackten, so bekleide ihn sogleich, einen Hungrigen, so sättige ihn sofort.653 Die Unterstützung des Armen darf nicht in erniedrigender, sondern sie muss in ehrender Weise für denselben geübt werden. Viel verdienstvoller aber als alle Wohltätigkeit ist, dem Armen Geld zu leihen, damit er sich einen Lebensunterhalt in Unabhängigkeit gründen kann.654 Wenn in Bezug auf Mildtätigkeit kein Unterschied gemacht wird zwischen den Einheimischen und Fremden, so soll beim Geldverleihen der Einheimische immer bevorzugt werden.655 Geradezu rührend ist in diesem Punkte folgende Verordnung im hebräischen Religionskodex  : Man ist verpflichtet, den Armen nach seinem Charakter und nach seinem Stande in würdiger Weise zu unterstützen, und wenn er keine milden Gaben annehmen will, so soll man ihm die Mittel zu einem Erwerb oder zu einem Geschäfte |106| geben, und für ihn Waren für billigen Preis einkaufen und dann ihm dieselben wieder zu einem teuren, hohen Preis abkaufen.656 Durch solche Gesetze, durch solche Sitten und Bräuche sollen nun auch die Gegensätze zwischen den Ärmsten und Reichsten, zwischen den Niedrigsten und Höchsten gemildert und nach Möglichkeit ausgeglichen werden.

648 bBB 9  : ‫ מה שריון כל קליפה וקליפה מצטרפת לשריון אף צדקה כל פרוטה ופרוטה מצטרפת לחשבון גדול‬:  ‫לובש צדקה כשריון‬ .)‫(שם‬ 649 bBB 9  : .)‫כל הרודף אחר צדקה הקב"ה ממציא לו מעות ועושה בהן צדקה (שם‬ 650 bShab 151b  : .)‫ ע"ב‬,‫כל המרחם על הבריות מרחמים עליו מן השמים (שבת קנ"א‬ 651 bAZ 5b  : .)‫ ע"ב‬,'‫אין זריעה אלא צדקה (עבודה זרה דף ה‬ 652 bShab 118 und yPea VIII  : ‫ לן נותנין לו פרנסת לינה ואם שבת נותנין‬,‫אין פוחתין לעני העובר ממקום למקום מככר בפונדיון‬ .)'‫ ופאה פרק ח‬,‫לו מזון ג' סעודות (שבת דף קי"ח‬ 653 bBB 9a  : .)‫ ע"א‬,'‫ כי תראה לאלתר (בבא בתרא דף ט‬:  ‫ כי תראה ערום וכיסיתו‬,‫ פרוס לאלתר‬:  ‫הלא פרס לרעב לחמך‬ 654 bShab 63a  : .)‫ ע"א‬,‫גדול המלוה יותר מן העושה צדקה (שבת ס"ג‬ 655 bBM 31b  : ‫ אם כסף‬.)‫ ע"ב‬,‫ אין לי אלא לעניי עירך לעניי עיר אחרת מניין ת"ל פתוח תפתח מ"מ (בבא מציעא ל"א‬:  ‫פתוח תפתח‬ .)‫ עניי עירך קודמין (שם קי"ד‬,‫ עניי עירך ועניי עיר אחרת‬,‫ עני קודם‬,‫ עני ועשיר‬,‫ עמי קודם‬,‫ עמי ונכרי‬:  ‫תלוה‬ 656 Jore Deah, Hilchot Zedaka 253,11  : ‫חייבין לתת לו לפי כבודו ואם אינו רוצה לקבל מתעסקין לסחור לו סחורה בזול וקונין‬ .)‫ סעיף י"א‬,‫ מהלכות צדקה סימן רנ"ג‬,‫ממנו ביוקר (יורה דעה‬

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32. Moritz Ehrentheil, Wohltätigkeit versus Selbsthilfe (1887)657

|30| Verstocke nicht dein Herz und verschließe deine Hand nicht vor deinem dürftigen Bruder  ! 658 Schon in der Bibel werden mannigfache Einrichtungen vor­geschrieben, die dahin zielen, dass nicht bloß für die Armen-Pflege, sondern auch gegen das Überhandnehmen und die Verbreitung der Armut gleichsam – von Staats wegen gesorgt werde. Zu diesen Einrichtungen gehörten folgende Bestimmungen  : 1. Die Getreide-Enden von den vier Winkeln des Feldes bei der Ernte nicht abzuschneiden, sondern sie den Armen zu überlassen,659 – 2. die zufällig auf dem Felde vergessene Garbe nicht zu holen,660 – 3. die Nach­lese auf Äckern, Ölbäumen und Weinbergen dem Fremdling, den Witwen und Waisen freizugeben,661 – 4. im 7. Jahre (Sabbat-Jahre) den Ertrag des Nachwuchses auf den Brachfeldern nicht einzuernten, sondern ihn freizulassen,662 – 5. den Zehnten der Ernte an die Armen abzuliefern.663 Dies waren die auf die Armen-Pflege abzielenden Vorschriften. Andere Einrichtungen wurden eingeführt, um die Überhand­nahme der Verarmung nach Möglichkeit hintanzuhalten. Hierher ge­hört die Bestimmung, dass der Landbesitz nicht für immer ver­kauft werden durfte, sondern im Jubel-Jahre restituiert werden musste.664 Ferner die Bestimmung, wonach ein Individuum, welches aus Not zum Knecht sich verkaufte, im 7. Jahre in Freiheit gesetzt werden musste.665 Diese Verfügungen dürften so ziemlich ausgereicht haben, um während des Bestandes des jüdischen Staatswesens das Umsich­greifen der Bettelei zu verhüten. Der Talmud berichtet übrigens auch von einer eigen­artigen Institution, die noch während des Bestandes des zweiten |31| Tempels ins Leben trat. Eine Kammer des Tempelgebäudes, die unter dem Namen Zelle der Verschwiegenen bekannt war, hatte nämlich die Bestimmung, dass man dort Almosen für die verschämten Armen von vornehmer Abstam657 [Moritz Ehrentheil, Der Geist des Talmud. Quellengemäße Darstellung der talmudischen Anschauung über Gott, Mensch, Staat, Justizwesen, Nächstenliebe, Wohlthätigkeit, Armen-Pflege, Verhalten gegen die Heiden, Thierquälerei, Arbeit, Erziehung und Unterricht, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Beschränkung der Todesstrafe, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit etc. etc. Für die intelligenten Classen aller Confessionen. Budapest  : Burian 1887, 30–33  ; 52–56  ; 103–110] 658 Dtn 15,17 659 Lev 19,9  ; Lev 23,22 660 Lev 23,22 661 Dtn 29,19–22 662 Lev 25 663 Dtn 14,28 664 Lev 25 665 Ex 21,2

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32. Moritz Ehrentheil, Wohltätigkeit versus Selbsthilfe (1887)

mung hineinlegte. – Nach Auflösung des Staates, als ein großer Teil des Volkes verarmte und die biblischen Vorschriften im Interesse der Armen-Pflege nicht mehr ausgeführt werden konnten, wurde die erwähnte Institution wesentlich erweitert. Es wurden näm­lich für ganz Arme zwei Sammlungen veranstaltet. Die eine, unter dem Namen Almosen-Schüssel, befasste sich mit der täglichen Verteilung gesammelter Speisen. Es war diese Institution also gleichsam die erste Volks-Küche. – Die Uran­fänge unserer modernen Volks-Küchen, die als hohe Errungen­schaft des neuzeitlichen humanitären Sinns bezeichnet werden, sind sonach schon vor circa 2000 Jahren im Schoß des Judentums entstanden. – Die zweite Sammlung führte den Namen Büchse  ; diese hatte die Aufgabe, Gelder zu sammeln und allwöchentlich an die Armen zur Verteilung zu bringen. Es waren die Männer des Talmud, die nach dem Untergang des jüdischen Staates, in dessen Folge die biblischen Vorschriften betreffend die Armen-Pflege außer Kraft gesetzt wurden, neue entsprechende Einrichtungen getroffen, welche die alten mindestens teilweise ersetzen sollten. Und die Talmud-Lehrer gingen an dieses Werk mit umso größerem Eifer, als sie gleich der Bibel im Menschen das Ebenbild Gottes, die Gottähnlichkeit, schätzten und würdigten. Wie durfte aber ein Wesen, das im Ebenbilde Gottes geschaffen wurde, dem Elende und der Not hilflos überlassen werden  ! Und da sieht man wieder, welche heilsame Wirkung die jüdische Auffassung von der Würde des Menschen auf das soziale Leben übte  ! – Dass das Heidentum total unfähig war, sich auf jenes hohe Niveau zu schwingen, auch in dem Armen und Notdürftigen die ihm innewohnende Menschenwürde zu respektieren, das geht deutlich aus folgender talmudischen Erzählung hervor  : |32| Der römische Feldherr Tinius Rufus war erstaunt über die enormen Opfer, welche die Juden im Interesse der Armen-Pflege brachten. Er sagte daher zu Rabbi Akiba  : „Wenn euer Gott die Armen liebt, warum ernährt er sie denn nicht selbst  ?“ – Rabbi Akiba erwiderte  : „Gott überlässt dieses Geschäft deshalb uns, damit wir den Armen wohl tun und durch dieses Verdienst der Hölle Strafen entkommen  !“  – „Nicht doch  !“  – entgegnete Rufus. – „Das kann kein Ver­dienst sein  ! Wenn ein König über einen Sklaven eine Züchtigung verhängt, wird er es denn jemandem als Verdienst anrechnen, der gegen seinen Willen den Sklaven befreien will  !“ – Rabbi Akiba erwiderte nun lächelnd  : „Dein Gleichnis beruht auf falscher Grundlage. Du hättest nämlich Recht, wären die Unglücklichen wirklich nur als Sklaven zu betrachten. Dem ist aber nicht so, da wir nach jüdischer Auffassung in den Armen und Dürftigen keine Sklaven, sondern Kinder Gottes erblicken. Wenn nun ein König über seinen Sohn harte Strafen verhängt hat, so wird er gewiss dem nicht zürnen, der diesen Fürsten-Sprössling während seiner Leidenszeit mit Speise und Trank versorgte  !“666 Im Geiste des Talmud wird übrigens die Armut gar nicht als Strafe aufgefasst, sondern als Mittel zu unserer Läuterung und Besserung. In diesem Sinne lautet der Ausspruch  : „Der Arme wird durch seine Armut geläutert, damit er nicht den Strafen der Hölle verfalle  !“667 666 bBB 10a 667 bYev 102

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IX. Wohltätigkeit

Es ist von hohem Interesse zu erfahren, welches Gewicht im Talmud auf eine gewissenhafte Verwaltung der Spenden für die Armen gelegt wird. Wir wollen nur einige hierauf bezügliche Stellen hier folgen lassen  : Zur Verwaltung der Almosen-Schüssel und der Büchse wurden gewöhnlich drei Männer gewählt, die durch Recht­schaffenheit, Gelehrsamkeit und Frömmigkeit sich auszeichneten |33| und des allgemeinen Vertrauens sich erfreuten.668 – Man gebe keinen Sus in die Almosen-Büchse, wenn nicht ein Mann von der Charakterreinheit des R. Chanina ben Teradjon deren Verwaltung in Händen hat  !669 – Während der Sammlung muss alles vermieden werden, was zu einer Verdächtigung Anlass bieten könnte. Die Almosen-Sammler dürfen sich während dieser Tätigkeit von einander nicht trennen. Das Geld, das sie zufällig finden oder einnehmen, dürfen sie nicht in die Tasche stecken, sondern müssen es sogleich in die Büchse werfen  !670 – Die Verteilung dieser Spenden musste in Gegenwart dreier Männer, Almo­sen-Vorsteher genannt, vor sich gehen.671 Man ersieht hieraus, in welch minutiöser Weise im Tal­mud auch für eine gewissenhafte Verwaltung der Armenspen­den vorgesorgt wurde. Wir wollen nur noch ein für allemal bemerken, dass die Armen-Pflege auch auf die Heiden sich erstreckte, wie dies auch bezüglich jeden Aktes der Wohltätigkeit und des Wohltuns der Fall ist. Das ist übrigens nur die natürliche Konsequenz der jüdischen Auffassung von der Gottähnlichkeit aller Menschen. (…) |52|672 Und ich habe keinen Gerechten gesehen, so verlassen, dass seine Kinder um Brot betteln  !673 Wir haben bereits in verschiedenen Kapiteln die heilige Pflicht der Wohltätigkeit gegen Arme und Dürftige eingehend und erschöpfend erörtert. Andererseits haben wir aber auch in einem eigenen Kapitel auf die von Bibel und Talmud viel­fach eingeschärfte Pflicht zur Arbeit ebenfalls in nachdrücklicher Weise hingewiesen. Wir müssen wiederholen  : Der Geist des Judentums erblickt in der Arbeit keine Erniedrigung des Men­schen, sondern im Gegenteile die sittliche Erhebung über alle anderen Geschöpfe, die auch ohne Arbeit, namentlich ohne indi­viduelle fruchtbare Tätigkeit in dem großen Bereiche der Natur ihre Existenzbedingungen finden. Indem der Mensch durch geistige und physische Tätigkeit für seine Selbsterhaltung, für seine Fort­dauer, für die stete Ersetzung und Erneuerung der durch den Verbrennungsprozess des Lebens absorbierten Stoffe selbst sorgt, so wird er gleichsam zum Mitschöpfer seiner selbst. Diese Schöpferkraft des Menschen bekundet sich auch in den neuen Werten, die er durch Arbeit der Natur abringt und ge­wissermaßen schafft. Der Mensch erhöht mithin eben durch die Arbeit seine geistige Nähe zu Gott, dem Schöpfer des Weltalls  ! Wie erniedrigend ist es dagegen für den im Ebenbilde Gottes geschaffenen Menschen, die materiellen Bedingungen seines Fortbestands von der Unterstützung anderer erwarten 668 669 670 671 672 673

yPea VII bBB 10a bBB 10a [Schulchan Aruch  :Jore Deah  :Hilchot Zedaka] Jore deah 256 Gegen das Almosennehmen. Ps 37,25

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32. Moritz Ehrentheil, Wohltätigkeit versus Selbsthilfe (1887)

zu müssen  ! Die Talmud-Lehrer mahnten daher wiederholt gegen die Zudringlichkeit um Almosen. Hier nur einige diesfällige Aussprüche  : Wer der Almosen nicht bedarf und solche dennoch nimmt, stirbt nicht früher, bis er in dem Maße verarmt, dass er dersel­ben wirklich bedarf. Wer dagegen auf Almosen tatsächlich |53| angewiesen ist und dieselben gleichwohl zurückweist, dem wird es noch im Alter beschieden sein, selbst Almosen verteilen zu kön­nen.674  – Wer weder lahm noch blind, noch mit einem sonstigen körperlichen Gebrechen behaftet ist, ein solches jedoch simuliert, um des Almosens teilhaftig zu werden, der stirbt nicht früher, bis er das bloß simulierte Gebre­chen wirklich aufzuweisen hat.675 – Verrichte welch’ geringe Arbeit immer, wenn sie gleich deiner Standesehre nicht entspricht, damit du nur nicht auf fremde Unterstützung ange­wiesen seiest  !676 – Mache in Bezug auf deine Bedürfnisse deinen Sabbat zum Wochentage und falle anderen nicht zur Last  !677 – Wer Speisen für zwei Mahlzei­ten hat, nehme nicht von der Schüssel-Sammlung. Wer Speisen für drei Mahlzeiten hat, nehme nichts von der täglichen Speiseverteilung. Wer Speisen für vierzehn Mahlzeiten hat, nehme auch nichts von der wöchentlichen Almosen-Verteilung, und wer endlich 50 Sus besitzt und mit diesem Betrage ein Geschäftchen betreibt, der nehme überhaupt kein Almosen  !678 Der Talmud hat eine äußerst anziehende Allegorie, die da­hin zielt, das Gefühl innerer Aversion gegen die Fristung der Existenz durch fremde Unterstützung recht nachdrücklich zu wecken. Diese lautet  : Noa schickte eine Taube aus der Arche, um zu erfahren, ob die Sintflut schon in dem Maße geschwunden war, dass das Pflanzenreich sich zu neuem Leben entwickeln könne  ? Die Taube kehrte zurück mit einem Ölblatte im Munde. Sie wollte hiermit andeuten  : „Mir ist jede Nahrung lieber, selbst wäre sie so bitter wie ein Ölblatt aus Gottes Hand, als die süßeste Speise aus der Hand des Menschen, die mir während der Dauer der Sintflut in der Arche zuteil geworden.“679 Es wird namentlich der Gelehrte eindringlich gewarnt, im Interesse seines Ansehens und der integren Aufrechthaltung sei- |54| ner Autorität von einem Unwissenden eine Gabe anzunehmen. Die diesfällige Mahnung, ein Ausfluss praktischer Erfahrung, lautet wie folgt  : Der Gelehrte erscheint in den Augen des Un­wissenden wie ein goldenes Gerät. Hat derselbe sich jedoch einmal mit dem Ignoranten in ein Gespräch eingelassen, so sinkt die frühere Wertschätzung beträchtlich und er wird nur noch als ein silbernes Gerät geschätzt. Nimmt endlich der Ge­lehrte von einem Ignoranten eine Gabe an, so wird er von diesem nur noch als ein irdenes Gefäß betrachtet, wel­ches, wenn einmal gebrochen, als völlig unbrauchbar, einfach auf den Misthaufen gelangt  ! Warum man überhaupt jeder Gabe, jeder Einladung zu einem Mahl aus dem Wege gehe, das wird mit möglichster An­schaulichkeit motiviert durch nachstehende Erzählung  : 674 675 676 677 678 679

yPea VIII  ; m IX m IX bBB 110 bBB 110 [Schulchan Aruch  :Jore Deah] Jore Deah 253 bEr 18

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IX. Wohltätigkeit

Rabbi Pinchas ben Jair gehörte zu den größten Talmud-Lehrern, der jedoch nicht bloß wegen seiner umfassenden Gelehrsamkeit, sondern in vielleicht noch höherem Maße in Folge seiner Frömmigkeit und Menschenliebe eine allgemein gefeierte Persönlichkeit war. Die Auslösung von Gefangenen bildete eine der schönsten Aufgaben seines dem Dienst Gottes geweihten Lebens. Dieser ernährte sich seit seiner frühesten Kindheit von sei­ner Hände Arbeit und nahm nie von irgendjemandem eine Gabe oder eine Einladung zum Mahl an. Auf einer seiner Rei­sen zum Zweck der Auslösung von Gefangenen führte ihn der Weg vor die Wohnung des damaligen Synhedrial-Präsidenten R. Jehuda vorbei. Dieser eilte dem frommen Mann ent­gegen und lud denselben ein, in seinem Hause etwas zu genie­ßen. Der fromme Pilger lehnte ausnahmsweise diese Einladung nicht ab. R. Jehuda war hierüber so hoch erfreut, dass durch sein strahlendes Antlitz die freudige Erregung auch von R. Pin­chas bemerkt wurde. Dieser sagte daher  : „Warum bist du so überrascht  ? Glaubst du denn, ich hätte jeden Genuss bei einem Glaubensgenossen durch ein Gelübde mir versagt  ? Gott bewahre  ! Dem ist nicht so  ! Allein Israel ist ein gar heiliges Volk. |55| Es existieren unter unseren Glaubensgenossen nämlich viele, die gerne geben, ohne die Mittel zu besitzen. Es existieren wieder andere, welche die Mittel besitzen, doch nicht gerne geben. Anders jedoch verhält es sich bei dir  : Du besitzt die Mittel und auch das Herz zu geben, weshalb für mich kein Grund vor­handen zur Ablehnung deiner Einladung  !“ Diese Auseinandersetzung des R. Pinchas ben Jair er­heischt eine klare Darstellung, da sie selbst vielen Autoritäten auf talmudischem Gebiete aus älterer und neuerer Zeit ziemlich dunkel geblieben. In der Tat scheinen die beiden Aus­sprüche  : „Israel ist ein heilig Volk“  : ferner  : „Es existieren unter unseren Glaubensgenossen auch solche, welche über die nötigen Mittel verfügen, doch kein Herz haben zu geben“ einen inneren Widerspruch zu enthalten  ! Und doch ist der Sinn ganz einfach. Der fromme Gelehrte, der sein ableh­ nendes Verhalten bei einer ihm dargebotenen Gabe oder bei ei­ner ihm zuteil gewordenen Einladung zu motivieren suchte, wollte nämlich folgendes sagen  : „Bei anderen Völkern ist vorauszusetzen, dass wenn jemand etwas gibt, er hierzu die Mittel und auch das Herz besitzt, da für ihn ja zu einer diesfälligen Leistung kein zwingendes Motiv vorhanden. Was dieser mithin aus freiem Willen tut, kann gewiss nicht als ‚schweres Opfer’ betrachtet werden. – Anders jedoch verhält es sich bei Israel, wel­ches ein heiliges Volk ist  ! Da muss man beim Empfang ei­ner Gabe oder bei der Annahme einer Einladung sehr zurückhal­tend sein, da diese Leistung für den Betreffenden oft ein ‚schwe­res Opfer’ bedeutet. Es existieren manche, welche keine Mittel besitzen und aus Frömmigkeit dennoch geben. Sie bringen hierbei also ein schweres Opfer. In gleicher Weise existieren manche, welche wohl über ausreichende Mittel verfügen, allein in Folge ihres geizigen Naturells nicht gerne geben. Gleichwohl geben auch diese aus Frömmigkeit, wie sehr schwer sie die­ses Opfer in Folge ihres sehr bedauerlichen, krankhaften Geizes auch empfinden, denn Israel ist eben ein heiliges |56| Volk, welches die größte Selbstverleugnung sich auferlegt, um das Gebot der Nächstenliebe und der Gastfreundschaft zu üben. Nun will ich aber nicht, dass jemand meinetwegen sich ein schwe­res Opfer auferlege. Das ist der Grund meiner Zurückhaltung in Bezug auf irgendeinen Genuss bei einem Fremden. Nach­dem aber in Bezug auf dich solche Rücksichten nicht obwalten, nehme ich deine Entladung gerne an  !“ 262

32. Moritz Ehrentheil, Wohltätigkeit versus Selbsthilfe (1887)

Obwohl die Talmud-Lehrer durch ihre Mahnungen die Zudringlichkeit zu den Almosen hintanzuhalten suchten, warnten sie gleichwohl andererseits, dass niemand in das entgegengesetzte Extrem gerate. Sie betrachteten es als Sünde, wenn jemand sich lieber abhärmt, um nur kein Almosen anzunehmen. Ein hierauf bezüglicher Ausspruch lautet  : „Wer der Almosen bedarf und sich abhärmt, begeht gleichsam einen Mord gegen sich selbst. Sein eigenes Leben verachtet er, wie kann ein solcher das eines anderen lieben  !“680 Man sieht, dass der Talmud das Verfahren eines stolzen Armen, der da darbt und dennoch jede Unterstützung zu­rückweist, gleichsam als Selbstmord qualifiziert. (…) |103|681 Vertraut nicht auf die Fürsten, nicht auf einen Menschensohn, bei dem keine Hilfe  !682 Mit dem Ausdrucke Selbsthilfe werden im Deutschen zwei Begriffe bezeichnet, von denen der eine im Judentum seit je auf das entschiedenste abgelehnt wird,683 während der andere mit eben solcher Entschiedenheit anempfohlen und eingeschärft wurde. Es wird nämlich mit dem Aus­druck Selbsthilfe jedes Verfahren bezeichnet, durch welches jemand mittels Eigenmacht wegen einer wirklichen oder vermeintlichen Rechtsverletzung sich Genugtuung verschafft oder den Genuss und die Ausübung einer ihm bestrittenen Befugnis sich wahrt. Eine Selbsthilfe dieser Art, die ein Ausfluss des alten Faustrechts ist, wird heutzutage in keinem zivilisierten Staate mehr geduldet, wo für die Wiederherstellung des gestörten Rechtszustands nur die bestehenden Gesetze Kraft und Autorität besitzen, während das eigen­mächtige Eingreifen des Privaten einer Strafe unterwor­fen ist. Bei den alten Römern war eine Selbsthilfe durch eigenmächtiges Vorgehen einer streitenden Partei schon im hohen Altertum bei schweren Strafen untersagt. In Deutsch­land, wo die Selbsthilfe mit bewaffneter Hand Jahrhunderte |104| lang als aushilfsweises Rechtsmittel gestattet war, stellte erst der sogenannte Ewige Frieden von 1495 mit dem Verbot jedwe­der Selbsthilfe die bürgerliche Ordnung wieder her. Im Judentum, wo die Institution der Rechtspflege sogar der Gründung des Staates voranging, war selbstverständlich die eigenmächtige Selbsthilfe nie gestattet. In der Bibel sind die Strafen für die verschiedenen Rechtsverletzungen genau normiert, doch können diese Bestimmungen nur durch das kompetente Ge­richt ausgesprochen und exekutiert werden. Selbst die Blutrache, welche die Verwandten im grauen Altertum an dem Mörder oder eigentlich Totschläger eines Familienangehörigen übten und im Grunde genommen nur eine Art Selbstjustiz im weiteren Sinne des Wortes bildete, suchte die Bibel zu beseiti­gen durch Errichtung der sogenannten Zufluchtsstädte. Nur in einem Falle war die Selbsthilfe gestattet, nämlich wo sie als Notwehr auftrat, um etwa einen nächtlichen Einbre­cher, der auf frischer Tat ertappt wurde, festzuhalten, da bei einem solchen auch die Intention zur Verübung eines Mordes vorausgesetzt werden kann.684 Wie gesagt, mit Aus­nahme der Notwehr wurde die Selbsthilfe durch Gewaltmittel im Judentum nie geduldet. 680 681 682 683 684

yPea VI Die Selbsthilfe. – Gegen das Vertrauen auf die Großen. Ps 146,3 [für  : perhorresziert] Ex 22,1

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IX. Wohltätigkeit

Nun wird aber mit dem Ausdrucke Selbsthilfe auch das Bestreben bezeichnet, nur die eigene Arbeit als die eigentliche Existenzgrundlage zu betrachten und jede Unterstützung aus Staatsmitteln wie überhaupt jede Aushilfe seitens anderer abzulehnen. Die Selbsthilfe dieser Art ist geradezu ein Gedanke, der vorzüglich auf jüdischem Boden frühzeitig Gestaltung und Verkörperung gewinnen konnte. In allen anderen Staaten des Altertums mit ihrem Sklaventum und ihrem beengenden Kastenwesen wurde dem einzelnen Individuum die physische Mög­lichkeit und sittliche Energie zur Selbsthilfe im Vorhinein entzo­gen. Wo die Arbeit nicht frei ist, erscheint eine Entfaltung der |105| menschlichen Kräfte mithin aber auch der Selbsthilfe-Gedanke als absolut ausgeschlossen. Vom Sklaven ist überhaupt nicht zu reden, da er des freien Verfügungsrechts über seine eigene Person, über sein Tun und Lassen vollständig beraubt war. In etwas milderer Form tritt uns wohl die Freiheitsbeschränkung im so­genannten Kastenwesen der alten Staaten entgegen. Da hatte das Individuum innerhalb einer bestimmten Tätigkeitssphäre einen ziemlich weiten Spielraum. Wir wären fast geneigt, im Kastenwesen die höchste Potenz der Arbeitsteilung, angeblich eine geistige Errungenschaft unserer Zeit zu erblicken. Der Hauptvorteil der Arbeitsteilung besteht unter anderem ganz vorzüglich darin, dass das Individuum, welches ein ganzes Men­schenleben hindurch seine Gesamttätigkeit auf die Anfertigung vielleicht nur des einen Teils eines Rockknopfes konzent­riert, auf diesem beschränkten Gebiete notwendig die höchste Tüchtigkeit erlangen müsse. In noch höherem Maße dürfte sich dieser Vorteil in der Institution des Kastenwesens gezeigt haben, wo jede Profession gleichsam erblich war und der Enkel die Gedankenarbeit und Kunstfertigkeit seiner Ahnen praktisch verwerten und daher auch noch einen bedeutenden Schritt nach vorwärts tun konnte. Und es ist unstreitig nur dem Systeme des Kastenwesens zu verdanken, wenn manche Zweige der In­dustrie und Kunst in den alten Staaten eine Höhe erreichten, die uns auch heute noch in tiefe Bewunderung versetzt. Nun, Industrie und Kunst haben durch das Kastenwesen allerdings gewonnen, aber doch nur auf Kosten des Menschen, der durch die Macht der Despotie in das beengende Kastenwesen hineingezwängt war und zum Bewusstsein seiner höheren Würde und zur Erringung einer seiner Individualität entsprechenden Tätigkeitssphäre nicht ge­langen konnte. Der Mensch wurde zu einer kunstreichen Maschine degradiert, die eben Produkte von möglichst vollendeter Form lieferte. Ebenso wenig konnte der Gedanke der Selbsthilfe später in jenen Staaten auftauchen und mit Erfolg nach Verwirkli- |106| chung ringen, in denen die Institution der sogenannten Leibeigenschaft eine vorherrschende und durchgreifende Staatseinrichtung bildete. Durfte doch der Leibeigene den ihm anvertrauten Hof oder seinen Wohnort nicht verlassen. Begab er sich in ein Verhältnis, welches ihm die Erfüllung seiner Pflichten als Leibeige­ner unmöglich machte, so konnte ihn der Herr zurückfordern. Seine Kinder konnten ohne Einwilligung des Leibherrn keine andere Lebensart wählen als die, worin sie geboren wa­ren. Er konnte im Todesfall über seinen Nachlass nicht letztwillig verfügen, da alles dem Leibherrn gehörte, wie dies im hohen Altertum beim Sklaven der Fall war. Es liegt auf der Hand, dass unter derartigen Verhältnissen die Menschen nur schwer zu der Höhe der Erkenntnis ihres Werts sich emporarbeiten konn­ten, nachdem sie unzählige Generationen hindurch systematisch in knechtischer Abhängigkeit gehalten 264

32. Moritz Ehrentheil, Wohltätigkeit versus Selbsthilfe (1887)

wurden. Seit je als Leibeigene unter der Botmäßigkeit eines ‚Herrn‘ und gleichsam von seiner Gnade lebend, konnte in der Brust solcher Menschen der Gedanke der Gründung einer selbstständigen Existenz durch Selbsthilfe nur nach und nach zum Durchbruch gelangen. Ganz anders jedoch waren die Verhältnisse im jüdischen Staate, wo durch die von Gott gegebene Verfassung eine Des­potie nach dem Muster anderer orientalischer Staaten nicht platzgreifen konnte, da das Staatsoberhaupt den Gesetzen sich fügen musste. Kraft der Lehre von der Gottähnlichkeit aller Menschen und deren Abkunft von einem Stammvater man­gelte sowohl dem Sklaventum als auch dem Kastenwesen und der Leibeigenschaft der eigentliche Boden. Die natürlichen und notwendigen Konsequenzen der Gottähnlichkeit und der gleichen Abstammung aller Menschen waren (…) Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Im jüdischen Staate konnte daher jeder einen Wirkungskreis frei wählen, der seiner individuellen Neigung, seinen physischen Kräf­ten und seinen geistigen Fähigkeiten entsprach. Unter solchen günstigen staatlichen und sozialen Verhältnissen wurde das Indivi|107| duum bald seiner höheren Menschenwürde inne. Es mochte von niemandem abhängig sein, sondern strebte vielmehr dahin, durch Selbsthilfe, d. h. durch freie Arbeit, sich eine menschenwürdige Existenz zu gründen. Moses, der die Israeliten aus Ägypten herausführte, einem Staate, der das Sklaventum und das Kastenwesen zur Basis hatte und in welchem die Volksmassen in ihrer Existenz von einigen wenigen Großen abhingen, wollte einen Staat errichten, der von all diesen Erbübeln der alten Staaten frei sein soll. Er wollte die Juden zu einem Volke erziehen, welches nicht bloß in seiner Gesamtheit, sondern in jedem Einzelnen seiner Mit­glieder der lebendige Ausdruck vollständiger Freiheit sei  ! Und um dieser Freiheit nicht verlustig zu gehen, wurden, abgesehen von anderen vorbeugenden Bestimmungen, die Liebe zur Arbeit und die Aversion gegen die Annahme von Unterstützungen so nachdrücklichst eingeschärft. Ist es ja nur einzig und allein die Arbeit, die Selbsthilfe, die uns vor der Gefahr schützen kann, in das Verhältnis der Ab­hängigkeit zu irgendeinem Großen zu geraten. Der Psalmist ruft uns zu  : „Vertraut doch nicht auf die Fürsten, nicht auf einen Menschensohn, bei dem keine Hilfe  !“685 Noch schärfer sprechen sich über diesen Punkt die Talmud-Lehrer aus. Ein hierauf bezüglicher Ausspruch lautet  : Seid behutsam den Trägern der Herrschaft gegenüber, denn nur zum eigenen Nutzen ziehen sie einen Menschen an sich. Nur im Moment ihres Vorteils erscheinen sie als Freunde. Befindet sich jedoch der Mensch in einer Notlage, da stehen sie ihm nim­mer bei.686 Es wäre überflüssig, hier eine größere Reihe biblischer und talmudischer Aussprüche zu reproduzieren, welche dem Menschen einschärfen, die eigene Kraft in dem Maße zu entfalten, um nicht auf die trügerische Hilfe der Großen angewiesen |108| zu sein. Wir wollen uns hier bloß auf die Mitteilung zweier höchst anmutiger Fabeln beschränken. Die eine spielt auf das bekannte Festmahl an, welches Ahasveros, der mächtige König von Persien und Medien, seinen Völkern bereitet hatte.687 Diese Fa­bel lautet  : 685 Ps 146,3 686 mAv II,3 687 Est 1

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IX. Wohltätigkeit

Der Löwe gab einst den Tieren eine Mahlzeit. Die Bedachung der Laube, in welcher gespeist wurde, war aus den Fellen erlegter Tiere angefertigt. Während der Mahlzeit woll­ ten die Gäste sich durch Gesang erheitern. Der Fuchs wurde auf­gefordert, ein Liedchen anzustimmen. Der schlaue Fuchs, welcher allein die Gefährlichkeit der Situation zu beurteilen wusste und auch seine Tischgenossen hierauf aufmerksam machen wollte, sagte nun  : „Werdet ihr mir aber auch im Chore nachsingen  ?“ – „Gewiss  !“ – erscholl es von allen Seiten. Während der Fuchs nun den Blick nach der unheimlichen Bedachung der Laube richtete, sang er  : „Was wir jetzt dort oben sehen, Wird der Wirt auch an uns begehen  !“688 Das heißt  : Der Freundlichkeit der Großen ist nicht zu trauen. Die Tiere, aus deren Fellen die Bedachung dieser Laube angefertigt wurde, waren wahrscheinlich ebenfalls zu einem Festmahle geladen, aber nur zu dem Zwecke, um ihnen, den Unglücklichen, das Fell über die Ohren zu ziehen. Uns dürfte es ebenfalls in gleicher Weise schlimm ergehen. Zeigen sich die Großen einmal freundlich, so werden sie hierbei gewiss nur von niedrigem Ei­ gennutz geleitet. Die zweite Fabel hatte zum Ziele, einen Aufstand des jüdischen Volkes hintanzuhalten, welches erbittert war, dass der römische Kaiser Hadrian sein gegebenes Versprechen nicht einlöste. Kaum hatten sich nämlich die verheerenden Kriegsstürme der Römer, die mit der Auflösung des jüdischen Staates, der Zerstö­rung Jerusalems und dem Niederbrennen des Gottestempels |109| schlossen, gelegt, da drohte wieder ein Aufstand seitens der Ju­den, obwohl das Volk an den erhaltenen Wunden noch immer blutete. Die drückenden Steuern unter den Kaisern Domi­tian und Nerva, ferner die erfahrene Täuschung über die den Juden gemachten Versprechungen unter Trajan und Hadrian, die Erleichterung der Lasten und die Wieder­erbauung des Tempels in Jerusalem betreffend, hatten neuerdings das Volk zum Krieg entflammt. Es war in der Ebene Rimon, wo das wegen der Zurückziehung des Versprechens in Angelegenheit des Wiederaufbaus des zerstörten Tempels erbitterte Volk sich versammelte und in wilder Aufregung und Verzweiflung zu den Waffen greifen wollte. Da erschien der gelehrte und sehr populäre Gerichtspräsident Rabbi Josua ben Chananja in der Versammlung, dem es gelang, die aufgeregte Menge durch den Vortrag einer Fabel zu be­schwichtigen, welche wie folgt lautete  : Einem Löwen blieb einst beim gierigen Verschlingen der Beute ein Knochen im Halse stecken. Er versprach einen hohen Lohn demjenigen, der ihm diesen Knochen aus dem Halse ziehen würde. Es kam nun der Nilreiher (Kore) mit seinem langen Schnabel und zog dem Löwen den Knochen glücklich heraus. Selbstverständlich forderte der Nilreiher nunmehr das im Vorhinein festgesetzte ärztliche Honorar für die glücklich gelungene Operation. Doch der Löwe, der sein Versprechen nicht einhielt, erwiderte  : „Gehe und schätze dich glücklich, dass du im Rachen des Löwen warst und gleichwohl unversehrt davon gekommen bist  !“ 688 EstR 7

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32. Moritz Ehrentheil, Wohltätigkeit versus Selbsthilfe (1887)

Ganz so, schloss der gelehrte Rabbi seinen Vortrag, verhält es sich mit uns. Wenn Kaiser Hadrian sein Versprechen uns gegenüber auch nicht einlöst, dürfen wir uns deshalb nicht aufregen. Wir müssen ordentlich froh sein, den Kopf aus dem Ra­chen Roms unversehrt herausgezogen zu haben.689 Das Volk beruhigte sich und ging friedlich auseinander. |110| Es hat nunmehr aus eigener Erfahrung die alte Wahrheit ge­lernt, dass man auf die Großen und deren Verhei­ßungen nicht bauen darf. Nur eines kann den Einzelnen, kann ein ganzes Volk retten  : die Selbsthilfe  !

689 GenR 64

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33. Samuel Holdheim, Wohltätigkeit als Scheintugend (1854)690

|227| Ihr wisst, meine Freunde, dass jede Stufe der menschlichen Gesittung ihre eigentümlichen physischen Krankheiten mit sich führt. Auch die Bildung hat ihre eigentümliche Krankheit, das ist der Schein der Bildung. Auch die Tugend hat ihre Übel, es ist die Scheinheiligkeit. Das Wissen bringt Ehre, Unwissenheit Schande. Jeder strebt nach Wissen, und wer es nicht erreichen kann, täuscht durch den Schein. Tugend und feine Sitte, der Ausdruck des innern Seelenadels, des süßen Wohllauts und Einklangs edler Empfindungen sind die Zierde hervorragender, mit inneren Vorzügen begabter Menschen. Wer sollte nicht dafür gelten, zu diesen Edeln gezählt sein wollen  ? (…) Gemeinnützige, edle Bestrebungen für die Förderung des ge­meinen Wohls, mühe- und aufopferungsvolle Wirksamkeit zur Stütze für unmündige Kinder und hinfällige Greise, für kranke Arme und schutzlose Witwen, Heil dem Menschen, dessen Seele von so edeln Bedürfnissen durchdrungen, dessen Tatkraft so heil­vollen Zwecken geweiht ist. Je gebildeter das Zeitalter, je mehr Ehre und Achtung wird dem gezollt werden, der in edler Uneigennützigkeit seine Zeit und seine Kraft dem Wohl seiner Brüder opfert. Aber diese Ehre und Achtung ist die gefährlichste Schlinge der Versuchung für alle diejenigen, deren Natur sich nicht von so edlen Sympathien durchdrungen fühlt und die doch nicht auf die Ehre der Menschen, die sie einbringt, verzichten können, sei es aus Ehrgeiz oder weil sie die Quelle materieller Vorteile bietet, denen zu entsagen sie sich noch weniger stark fühlen. Was ist die Folge hiervon  ? Sie wetteifern mit allen Edeln und Vor- |228| trefflichen um den Preis der Tugend, um den Lohn der Liebe und – erringen ihn. Sie gleichen jenen edlen Naturen äußerlich auf ein Haar, während ihr Inneres mit übertünchten Gräbern zu vergleichen ist, die von Moder und Leichengeruch erfüllt sind. In allen diesen und ähnlichen Beziehungen ruft die Religion uns zu  :691 Vergesst nicht, vor wem ihr rein werden wollt  ! Die kurzsichtigen Menschen könnt ihr täuschen, nicht den allwissenden Gott. Das schwache Auge der Sterblichen könnt ihr blenden, nicht das hellsehende, euer Inneres wie einen Tautropfen durchschauende Auge Gottes. Der Menschen Gunst und Ehre könnt ihr durch fein berechnete List und Schlauheit erschlei­chen, nicht die Liebe und die Ehre des Höchsten. Ihr könnt mit dem Truggewebe des Scheins euch umhüllen, damit die Menschen eure wahre Gestalt nicht erkennen, aber vor dem Blick Gottes zerreißt dieses Spinngewebe und wie der erste Sünder steht auch ihr dann in eurer Nacktheit da, so dass ihr vor Scham in die Erde sinken möchtet. 690 [Samuel Holdheim, Der Feind des Guten ist nicht das Böse, sondern der Schein des Guten. Am Versöhnungstage (1854) In  : Samuel Holdheim, Predigten über die jüdische Religion. Gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Dritter Band. Dem Altmeister der jüdischen Kanzelberedtsamkeit, Herrn Dr. Gotthold Salomon, Prediger am neuen israelitischen Tempel zu Hamburg, Hochehrwürden in Hochachtung und Liebe gewidmet. Berlin  : Springer 1855, 225–235] 691 ‫לפני מי אתם מטהרים‬

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33. Samuel Holdheim, Wohltätigkeit als Scheintugend (1854)

Man kann mir hierauf entgegnen  : Du willst den Schein gänzlich vernichtet und verbannt wissen unter den Menschen. Nun, so sei gefasst, auf all das Gute zu verzichten, das durch den Schein bewirkt wird. Tausende von Hungrigen werden gespeist, von Nackten gekleidet, von Obdachlosen geschützt, von Witwen und Waisen, Kranken und Greisen gepflegt und ernährt, die alle dem Elend preisgegeben sein müssten, wenn die tausend regen Hände, die, wenn auch nicht von ganz reinen Triebfedern bestimmt, aber doch immer zu ihrem Wohl in Bewegung gesetzt sind, müßig im Schoß ruhten. (…) |229| Dass dieser Einwurf viel Scheinbares für sich hat, ist gewiss. Dennoch kann die Religion von ihrer unerbittlichen Logik nicht nachlassen und muss auch diesen Schein von Wahrheit vernichten. Bleiben wir bei unserem Gleichnis stehen. Nicht nur das eigene, sondern auch das erborgte Licht, der Schein, wirkt wohltätig, aber doch nur dann, nachdem das wirkliche Licht aus unserem Gesichtskreis entschwunden ist und sich zurückgezogen hat und den Schein walten lässt. Bei Tage kann der blasse Mond- und Sternenglanz nicht leuchten. Und so kann auch der Schein der Tugend nur da wohltuend wirken, wo die Tugend sich zurückgezogen und verborgen hat. Wo sie in ihrer lichten Gestalt auf­tritt, da muss der Tugendschein erblassen und verschwinden. Wer ist aber schuld daran, dass die Tugend sich zurückziehen und das Feld ihrer segensreichen Tätigkeit fremden Händen (…) überlassen muss  ? Der Schein, der sie unkenntlich macht und sie selbst verdrängt, indem er ihre Erkennungszeichen an sich reißt, ihre Gewänder borgt und am Himmel der Menschheit allerlei Luftspiegelungen entstehen lässt, die das getäuschte Auge für Sonnen hält. (…) Ist es aber also, dass die wohltätige Wirksamkeit des Scheins nur dadurch bedingt und möglich ist, dass die Tugend aus ihrem eigenen Haus vertrieben wird, so sind wir überzeugt, dass die Ernte des Guten tausendfältig mehr lohnen würde, wenn all’ die Lohnarbeiter sich zurückzögen und die Eigentümer den Boden ihrer segensreichen Wirksamkeit mit eigenen Händen bestellten. Es können die hab­süchtigen Pflanzer mit dem Blut ihrer Sklaven sich mästen und an dem, was der Schweiß der Unglücklichen zu Tage fördert, sich bereichern. Doch die Pflanzstätten der menschlichen Glückseligkeit im Großen und Ganzen werden sicherlich nur dann am besten |230| gedeihen, wenn sie von dem Schweiß der edlen uneigennützigen Arbeiter getränkt und befruchtet werden. Doch es ist möglich, dass wir in diesem Punkte uns irren und vom sogenannten praktischen Standpunkt aus widerlegt werden können. Vergessen wir aber nicht, dass wir im Namen der Re­ligion sprechen und ihre Forderung an den Menschen zu vertreten und geltend zu machen haben. Und in dieser Stellung und Eigen­schaft haben wir nicht zu rechnen und zu berechnen, ob nicht auch der Schein neben der Tugend Lohn und Vorteil bringt, sondern den Schein als etwas Ungöttliches und Unwürdiges rücksichtslos anzugreifen, in dem festen Glauben, dass dasjenige, was Religion und Tugend als ihren schlimmsten Feind betrachten, nicht Segen bringen kann, sondern an Fluch wuchern muss. Wir haben nur eure Stellung zu Gott fest ins Auge zu fassen und im Hinblick auf diese euch die Worte zuzurufen  : Wisst, vor wem ihr rein werden wollt, vor eurem Vater im Himmel  ! Vor Gott gilt nichts anderes als ein reines Herz und ein lauterer Sinn. „Wer darf ersteigen den Berg des Herrn und wer kann weilen an seinem heiligen Ort  ? Wer reiner Hände 269

IX. Wohltätigkeit

und lauteren Herzens ist.“ Von dem allein ist gesagt  : „Er trägt den Segen vom Herrn und Gerechtigkeit vom Gott seines Heils.“ Vor Gott dem Allreinen und Allheiligen gilt nichts als reine Absicht, heiliger Wille. Eine Frau – heißt es in einer alten jüdischen Sage – trug ein Bündel Reisig in der einen und hielt einen Krug Wasser in der andern Hand, und als man sie fragte, was sie mit beiden beginnen wolle, antwortete sie  : Mit dem Bündel Reisig will ich das Paradies in Brand stecken und mit dem Krug Wasser will ich das Feuer der Hölle auslöschen, damit fortan niemand Gutes tue aus Hoffnung auf Paradiesesfreuden und niemand das Böse meide aus Furcht vor der Hölle Strafen. Das Gute tun um des Guten, das Böse meiden um des Bösen willen, das allein ist Tugend. Und mit dem Geist dieser Sage stimmt vollkommen überein jener bekannte Spruch der Väter  : „Seid nicht wie die Knechte, die dem Herrn dienen um des Lohnes willen,“ 692 sondern |231| „Gottesfurcht sei auf euch“, Gottesfurcht sei die einzige Triebfeder eurer Handlungsweise, denn693 der einzige Lohn der Tugend ist die Tugend, die Strafe des Lasters das Laster. Dieser Ausspruch, meine Freunde, bezeichnet die sittliche Höhe des Judentums  ! Der Gewinn, dass manches Böse aus Furcht vor Strafe unterdrückt wird, wird leider durch den unberechenbaren Schaden reichlich aufgewogen, dass die anscheinend besten Handlungen der Menschen durch Lohnsucht in ihrer Wurzel vergiftet werden. Wir geben zu, bei dem herr­schenden Mangel an Begeisterung unter den Menschen, das Gute um des Guten willen anzustreben, dürfte manches gute Werk gänzlich unterbleiben, würde nicht die lohn- und gewinnsüchtige Heuchelei sich seiner bemächtigen, um ein ergiebiges Feld für ihre reichen Ernten zu finden. Allein besser wäre es, das Gute unter­ bliebe ganz und gar, als dass der Fluch der Unredlichkeit und der Heuchelei wie Mehltau auf seinen Früchten hafte. So stark war hierin der Glaube und der sittliche Charakter der Alten, dass sie den kühnen Ausspruch taten  :694 „Besser das Böse um des Bösen, als das Gute nicht um des Guten willen  !“ Besser Finsternis als Irrlichter, besser Hunger als Gift, besser Armut als Schuldenlast  ! So selten das Gute, so häufig das Böse unter den Menschen zu finden ist, so würde dennoch die Kraft des Guten die Macht des Bösen bekämpfen und besiegen, wenn das Gute keinen anderen Feind zu bekämpfen und zu besiegen hätte als das Böse. Allein der gefährlichste Feind des Guten ist nicht das Böse, sondern der Schein des Gu­ten, die Lohn-, Gewinn- und Ehrsucht, die heuchlerisch und gleißnerisch das Gewand des Guten sich umwirft und für sein Wesen sich ausgibt. Das Samenkorn des Guten würde auch bei geringem Ertrag reichlich lohnen, würde es nicht von dem überwuchernden Unkraut, das noch üppiger als das Samenkorn wächst, blüht und gedeiht und täuschend den Segen des Guten nachahmt, erdrückt werden. Die Scheinheiligkeit, sagt ein weiser Mann, ist eine öffentliche Huldigung, die das Laster der Tugend darbringt. Allein mit dieser falschen Huldigung gräbt sie der |232| Tugend eine Grube und legt ihren Freunden die gefährlichsten Fallstricke. In dem offenen Kampf des Guten mit dem Bösen würde es dem Guten an Freunden und Bundesgenossen nicht 692 ‫ויהי מורא שמים עליכם‬ 693 ‫ששכר מצוה מצוה ושכר עברה עברה‬ 694 ‫גדולה עברה לשמה ממצוה שלא לשמה‬

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33. Samuel Holdheim, Wohltätigkeit als Scheintugend (1854)

fehlen, die für dasselbe das Leben lassen würden. Aber die Lohn- und Gewinnsucht, die in den Schein des Guten sich hüllt, raubt dem Guten seine besten Freunde, entführt ihm seine treuesten Bundesgenossen, entwendet ihm seine begeistertsten Anhänger und führt sie in den Kampf gegen das Gute. Darum muss das Gute unterliegen in dem ungleichen Kampf mit dem Bösen und unsere Alten haben fürwahr ein großes Wort ausgesprochen  :695 „Der Messias würde nicht eher kommen, als in einem Zeitalter, welches ganz schuldig oder ganz unschuldig ist.“ Der Messias, d. h. das messianische Ziel der Menschheit, der Sieg des Guten über das Böse wird nicht eher eintreten, als bis es unter den Menschen nur entschieden gute und entschieden böse Charaktere geben wird und die Heuchelei und die Scheinheiligkeit nicht mehr dem Scheine nach die Schar der Guten verstärken und vermehren, der Sache nach sie vermindern und verzehren wird. Der Feind des Guten ist nicht das Böse, sondern der Schein des Guten  ! Das Böse ist so hässlich und widerwärtig, dass nur die kranke, verdorbene Seele daran Geschmack und Wohlgefallen finden kann. Das edlere Gefühl stößt es verletzend ab. Aber der Schein des Guten besticht und verblendet gerade die feineren Seelen, die edleren Naturen, und sucht sich unter diesen reinen Seelen die Opfer aus, die es auf den schmutzigen Altären den Götzen seiner bösen Gelüste hinschlachtet. Darum warnt die Religion vor nichts so sehr als vor sinnlicher Bestechung  ! „Denn die Bestechung“, lehrt sie, „blendet das Auge der Klugen und verdreht das Urteil der Gerechten.“ Ja, meine Freunde, Gott hat es so weise eingerichtet, dass nur das, was in seinem Namen in reiner Absicht angestrebt wird, Dauer und Bestand haben könne, was aber angeblich unter seinem Namen, im Grunde aber auf Rechnung der Selbstsucht und des Eigennutzes unternommen und ausgeführt wird, das trägt den |233| Keim der Fäulnis und der Verwesung in sich und muss früher oder später ein Opfer des Todes werden.696 „Wer kann Reines aus Unreinem schaffen“, eine gesunde Frucht aus giftiger Wurzel ziehen  ? „Kein Einziger  !“ Wäre es möglich, dass die Heuchelei und Scheinheiligkeit, die das Edelste und Reinste nur als Mittel für ihre selbstsüchtigen Zwecke gebraucht und er­niedrigt, dauernden Erfolg und Segen haben könnte, wir müssten an der Gottheit und in unserem Glauben an ihre Gerechtigkeit und Reinheit irre werden. Darum lehrten die alten Weisen  : „Alle, die mit dem öffentlichen Gemeinwohl sich beschäftigen, sollen es tun, lediglich um Gotteswillen,697 denn nur dann steht ihnen die Frömmigkeit der Väter zur Seite, und was sie wirken, ist von dauerndem Bestand und Segen.“ Die Frömmigkeit der Väter  ! Wenn wir, meine Freunde, in unsern Gebeten häufig der reinen Frömmigkeit und Gottesfurcht der Väter gedenken und dabei von ‫ זכות אבות‬reden, nämlich, dass das „Verdienst der Väter“ auch uns, ihren Söhnen und Enkeln zu Gute kommen und beistehen möge, so meinen wir nichts anderes, als dass das fromme Beispiel unserer ältesten Vor­fahren uns zum Muster und Vorbild diene, dass wir an ihrer Tugend uns erheben und zur Nacheiferung uns angetrieben fühlen. 695 ‫אין בן דוד בא אלא בדור שכלו חיב או כלו זכאי‬ 696 ‫מי יתן טהור מטמא לא אחד‬ 697 ‫שזכות אברהם מסייעתם וצדקתם עומדת לעד‬

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IX. Wohltätigkeit

Die Väter haben bei unsäglichen Leiden und bitteren Verfolgungen mit edler uneigennütziger Liebe für das öffentliche Gemeinwohl der Gesamtheit sich aufgeopfert und darum für die Erhaltung des Judentums in schwerer Leidenszeit so wunderbar und segens­reich gewirkt. Wenn diese Liebe der Väter auch die Söhne be­geistert, dann ist das „Verdienst der Väter“ ein kräftiger Beistand der Kinder. Schön und treffend antworten die Alten auf die Frage  :698 „Wie kommt es, dass den Vätern in alter Zeit so häufig Wunder geschehen sind und die späteren Zeitalter – namentlich das gegenwärtige – so arm an Wundern sind  ?“699 „Den Vätern in alter Zeit – sagen sie – die sich in reiner uneigennütziger Liebe und Hingebung aufopferten um der Heiligung des göttlichen |234| Namens willen, sind Wunder geschehen, nämlich die haben Wun­derbares, scheinbar Unmögliches wirken können. Die tatenarme Gegenwart, der die edle Kraft der Begeisterung und der reine Opfermut fehlt, die in der Gestalt einer heiligen Sache im Sold der Selbstsucht arbeitet und der Befriedigung eigennütziger Wünsche dient, wie sollte die Wunder bewirken können  ! Darum lautet ein anderer Spruch der Väter  : Jede Vereinigung von Kräften und Bestrebungen, die um Gottes willen entsteht, hat Bestand, die nicht um Gottes willen wirkt, geht unter. Je reiner, je heiliger und edler eine Sache, umso empfänglicher ist sie für jeden leisen An­hauch der unreinen Selbstsucht. Wie der fein geschliffene Spiegel weiblicher Ehre und Unschuld von dem leisesten Hauche befleckt und verunreinigt wird, so die Reinheit derer, die mit göttlichen Angelegenheiten sich beschäftigen. Vor wem wollt ihr euch reinigen, vor eurem Vater im Himmel  ! Hütet euch vor Selbsttäuschung, vor eingebildeter Frömmigkeit und Sittlichkeit. Wie leicht sind wir geneigt, uns für edler, besser und moralischer zu halten als wir sind. „Trügerisch“ – sagt der Prophet – „ist das menschliche Herz gar sehr und schwach, wer kann es ergründen  !“ Wir bilden uns oft ein, Sonnen gehen leuchtend und strahlend über unserem Haupt auf und nieder und wir selbst seien der stolze feste Mittelpunkt, um welchen ein ganzer Himmel mit zahllosen Gestirnen in ewigen Bahnen ihren wunder­baren Kreislauf vollenden. Aber der Himmel in uns und über uns war im tiefen Stillstand und nur die Erde unter uns und das irdische Verlangen in uns in Bewegung begriffen. In dem Augenblick, als der bewegende Trieb, die menschliche Leidenschaft, die Ehrsucht, die Herrschsucht, die Ruhmsucht oder die Habsucht ruht, oder vielmehr, nicht mehr hier, sondern anderswo bessere, fettere Weide sucht, reichere Befriedigung findet, in demselben Augenblick geschieht ein zweites Wunder  : wie zu Josua’s Zeiten steht die Sonne still mitten in ihrem Laufe zu Gideon und der Mond im Tale Ajalon  ! Heiliger Gott und Vater  ! Auf dem stürmischen Meere dieses Lebens ist die Tugend der einzige Rettungsanker, der die Menschheit |235| vor Untergang und Verderben schützt und schirmt. Aber nur Reinheit der Absicht, Lauterkeit der Gesinnung ist der feste Boden, in welchen der Rettungsanker geworfen werden kann. Auf dem schlammigen und sumpfigen Grunde der Selbstsucht und des Eigennutzes, da ist kein Halt und keine Sicherheit. Darum wollen die Irrfahrten nicht enden, der ersehnte Hafen des Friedens und der Versöhnung sich nicht blicken lassen. 698 ‫מ"ש ראשונים דמתרחיש להו ניסא ומש אנן דלא מתרחיש לן ניסא‬ 699 ‫קמאי הוו קא מסרי נפשייהו אקדושת השם אנן לא מסרינן נפשי' אקדושת השם‬

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Aber in deiner Hand, o Gott, liegen die Geschicke der Menschheit. Durch läuternde Prüfung führst du sie von Stufe zu Stufe dem Ziele sittlicher Vollkommenheit immer näher und jedes Geschlecht preist deinen Namen. Immer edler wird der Mensch, immer glücklicher die Menschheit, immer lauterer der Sinn, immer reiner die Tat, immer fester der Grund, immer sicherer die Rettung und immer näher der Friede und die Versöhnung bei dir, o Gott des Friedens und der Versöhnung  !

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Quellenverzeichnis 1 Chr 29,14 85, 245 1 Chr 29,15 139 1 Kön 8,41 139, 144 1 Kön 20.31 79 1 Sam 2,33 94 1 Sam 15,22.23 39 1 Sam 21,7 128 1 Sam 22,9 128 1 Sam 24,9ff 147 1 Sam 26,7ff 147 1 Sam 26,25 147 2 Chr 2,16 128 2 Chr 24 72 2 Chr 29,5 106, 107 2 Chr 32,33 106 2 Kön 5,1 144 2 Kön 22,8–10 62 2 Sam 1,12.17ff 148 2 Sam 6,10 148 2 Sam 11,3 128 2 Sam 15,19 128 ARN 6 63, 65 ARN 11 124 ARN 12 123, 124 ARN 18 64 ARN 23 146 ARN 28 121 ARN 29 123 ARN 37 63 bAZ 5b 255 bBB 8a 254 bBB 8b 250 bBB 9 124, 254, 255 bBB 9a 67, 246, 248, 250, 255 bBB 9b 247 bBB 10a 83, 245, 246, 254, 257, 258 bBB 10b 247 bBB 11a 254 bBB 21 123 bBB 110 259 bBB 110a 249 bBekh 4 123 bBer 6b 253 bBer 17,32,62 140 bBer 18a 251 bBes 32 79

bBes 32b 253 bBM 23,33 214 bBM 31b 255 bBM 32a 94 bBM 32b 134 bBM 42a 247 bBM 55 153 bBM 71a 248 bBM 85 214 bBM 85a 134 bBQ 14a 106 bBQ 38a 132 bBQ 88 129 bBQ 89a 61 bBQ 92b 249 bChag 5a 247 bEr 18 259 bEr 22a 54 bEr 54b 64 BerR 54 131 BerR 70 132 bGit 7b 246 bGit 61a 251 bGit 64 214 bHor 13a 248 bKet 60 bKet 45a 238 bKet 49 89 bKet 50a 248 bKet 66b 245 bKet 67ab 248 bKet 67b 248 bKet 68 123 bKet 68a 85, 245, 249 bMak 12a 186 bMak 24a 140 bMeg 13a 140, 248 bMeg 94 140 bMen 69a 64 bMQ 17 91 bNed 39b 251 bNed 40a 251, 253 bNed 81 69, 123 bPes 66a 64 bPes 69b 64 bPes 75a 65

275

Quellenverzeichnis bPes 112a 249 bPes 113a 249 bPes 118 213 bQid 17b 186 bQid 29 71, 90 bQid 31 93, 94 bQid 31b 93 bQid 40b 239 bQid 41a 65 bQid 82a 253 bRHSh 16b 246 bSan 19b 248 bSan 29 91 bSan 45 189 bSan 45b 65 bSan 52 189 bSan 59,1 144 bSan 59a 132 bSan 76 91 bSan 78a 180 bSan 86a 63 bSan 96,2 144 bSan 101 140 bSan 105 140 bSan 111a.b 54 bScheb 35d 141 bShab 10 91 bshab 31 140 bShab 31a 132, 134, 145, 148 bShab 31b 66 bShab 63a 248, 255 bShab 88b 148 bShab 104a 247 bShab 118 255 bShab 118a 249, 254 bShab 127a 250, 251 bShab 128 214 bShab 130a 64 bShab 151b 245, 255 bSot 14a 250 bSot 44 91 bSot 44a 96 bSuk 5a 186 bSuk 20a 62 bSuk 49b 246, 247, 250 bTaan 7,1 144 bTaan 8b 247 bTam 4 215 bTem 14b 63 Buch Chassidim 94

Buch Chassidim § 561–564 94 Buch Chassidim § 567 91 Buch Chassidim § 571 94 Buch Chassidim § 577 90 Buch Chassidim § 660 95 bYev 62,63 95 bYev 63b 133 bYev 79 79 bYev 102 257 bYom 9b 154 Dan 12,3 67 DER Abschn. 3 121 Dtn 1,16 128, 129, 138, 169 Dtn 5,10 48 Dtn 5,33 128 Dtn 6,7 89 Dtn 6,9 89 Dtn 6,12 51 Dtn 6,20.25 80 Dtn 8,6 82 Dtn 10,12 129 Dtn 10,12.13 48, 79 Dtn 10,18 143 Dtn 10,19 78, 133 Dtn 13,5 250 Dtn 13,9 172 Dtn 13,12 163 Dtn 13,14 85 Dtn 14,1 82 Dtn 14,28 256 Dtn 15 69, 72, 139, 185, 256 Dtn 15,7ff 245 Dtn 15,8 69 Dtn 15,9 85 Dtn 15,10 246 Dtn 15,11 69 Dtn 15,14 72 Dtn 15,15 139 Dtn 15,17 256 Dtn 16,18.19 68 Dtn 16, 20 68 Dtn 17,7 179 Dtn 17,15 128 Dtn 17,19 128 Dtn 17,27ff 129 Dtn 19,11 130 Dtn 19,14 50, 67 Dtn 19,19 179 Dtn 19,19.20 70 Dtn 20,1–10 96

276

Quellenverzeichnis Dtn 20,19 134, 213 Dtn 21,1–9 235 Dtn 21,18–21 89 Dtn 21,18ff 50 Dtn 21,22 108 Dtn 22,6 210, 213 Dtn 22,6.7 70 Dtn 22,7 143 Dtn 22,21 238 Dtn 22,28 211 Dtn 23,7ff 128 Dtn 23,8 249 Dtn 23,9 205 Dtn 24,1a 128 Dtn 24, 6.10.11.17 245 Dtn 24,17 128 Dtn 24,17.18 79 Dtn 24,19.20 245 Dtn 24,22 139 Dtn 25,4 211, 213 Dtn 25,5–10 94 Dtn 26 134 Dtn 26,12 245 Dtn 27,2–3 64 Dtn 27,16 72, 92 Dtn 27,18 163 Dtn 27,24 67 Dtn 29,19–22 256 Dtn 30,15 187 Dtn 30,16 143 Dtn 30,19 203 Dtn 32,4 53 Ekha Zuta 107 Est 1 263 Est 4,14 39 EstR 7 264 Ex 3,21–22 131 Ex 9,2 131 Ex 12,49 128, 129, 138 Ex 20,6 48 Ex 20,10 213 Ex 20,13 169 Ex 21,2 256 Ex 21,6 182 Ex 21,14 130 Ex 21,15 92 Ex 21,17 92 Ex 21,18 130, 170 Ex 22,1 261 Ex 22,20 78, 160

Ex 22,25 245 Ex 22,28 170 Ex 23,1 169 Ex 23,4 172 Ex 23,4.5 151 Ex 23,5 145, 211, 213 Ex 23,7 156 Ex 23,9 78 Ex 23,11 245 Ex 23,19 205 Ex 24,16 187 Ex 34,6 54 Ex 34,6.7 55 ExR 41 63 ExR 44 65 ExR Abschn. 2 214 Ez 3,18–22 55 Ez 7,4.27 55 Ez 18 55 Ez 18,20 236 Ez 18,23 144 Ez 33,11 55, 193 Ez 33,11–20 55 Ez 47,21 139 Ez 47,22 128 Gen 1,11 205 Gen 1,20 205 Gen 1,24 205 Gen 1,26 135 Gen 1,29 135 Gen 2,24 74 Gen 9,5.6 186 Gen 13,9 69 Gen 15,10 131 Gen 18,19 71 Gen 19,7 129 Gen 29,1 129 Gen 31,6 73 Gen 37,35 104 Gen 38,24 89 Gen 39–41 147 Gen 45,2–15 147 Gen 50,15–20 147 GenR 65, 131, 215 GenR 24 131 GenR 55 65 GenR 64 265 Hos 2,21 73 Hos 11,1 141 Ijob 1,21 148

277

Quellenverzeichnis Ijob 11,9 63 Ijob 22,13 72 Ijob 28,7 187 Ijob 28,11 65 Ijob 28,25 187 Ijob 29,14 71 Ijob 31,29f 149 Ijob 31,30 148 Jer 9,23 80 Jer 18,7–10 55 Jer 22,13 72 Jer 27,5 144 Jer 32,19 55 Jes 3,10.11 55 Jes 11,6–9 135 Jes 11,9 135 Jes 40 187 Jes 45,1 144 Jes 58,7 83, 151, 248 Jes 58,9 95 Jes 58,10 247 Jes 61,10 71 Jes 65,17ff 135 Kimchi zu Jonas Kap. 1 145 Koh 3,19 90 KohZ 7,1 245 Lev 5,11ff 204 Lev 14,17 50 Lev 18,5 79, 132, 144 Lev 19,1 49 Lev 19,2 143 Lev 19,3 92, 129 Lev 19,6 68 Lev 19,7 67 Lev 19,9.10 245, 256 Lev 19,10 128 Lev 19,11 67, 156 Lev 19,11.12 68 Lev 19,14 163, 170 Lev 19,15 169 Lev 19,16 67, 165 Lev 19,17 67, 85, 152, 160, 171 Lev 19,17.18. 145 Lev 19,18 66, 150, 154, 172, 185, 188 Lev 19,19 205, 213 Lev 19,32 70 Lev 19,33 130, 138 Lev 19,33.34 143 Lev 19,34 160 Lev 19,35 68

Lev 20,5 79 Lev 21,35.36 67 Lev 22,24 204, 213 Lev 22,28 134, 213 Lev 23,22 245, 256 Lev 24,22 128, 138 Lev 25 67, 69, 72, 82, 95, 128, 129, 134, 185 Lev 25,14 67 Lev 25,25 95 Lev 25,35 69, 128, 129, 134, 248, 256 Lev 25,43 72 Lev 25,47–49 95 Lev 25,55 82 Lev 35,17 160 Lk 6,27 153 Lk 23,34 155 Mal 1,6 72 Mal 2,14 71 Mal 2,16 71 Mal 3,5 128, 139 mAv 61, 66 – 70, 72, 90, 121, 123, 124 mAv I 66, 68 – 70, 90 mAv I,4 123 mAv I,5 247 mAv I,6 68, 140 mAv I,12 69 mAv I,14 66 mAv I,15 140 mAv II,3 263 mAv II,4 68 mAv II,8 246 mAv II,15 67, 140 mAv II,16 61 mAv III 121 mAv III,8 245 mAv IV,12 72 mAv IV,20 123 mAv V 153 mAv V,16 250 MegTaan 4 63 MegTaan 10 63 MekhY p.10 246 Mi 6,8 147 Midrasch Leolam 251 m IX 259 mSan IV,3 185 Mt 3,6 70 Mt 5,7 70 Mt 5,43f 153 Mt 7,12 66

278

Quellenverzeichnis Mt 22,36–40 66 MTeh zu Ps 40,14 246 MTeh zu Ps 103,17 250 Neh 8,8 63 Num 12,3 147 Num 15,14 138 Num 15,15 128, 129, 137 Num 17,5 165 Num 20,14 129 Num 25,15 138 PesR p. 11 247 Ps 7,4–6 148 Ps 7,5 154 Ps 11,7 68 Ps 12,10 69 Ps 17,15 71 Ps 25,8 144 Ps 36,7 69 Ps 37,25 258 Ps 41,1 69 Ps 51,12 71 Ps 51,15 67 Ps 73,1.26 71 Ps 104,27 143 Ps 119,160 53, 54 Ps 133,1.3 72 Ps 145,8 144 Ps 145,9 134, 143, 213 Ps 146,3 261, 263 Ps 147,9 69 Raschi zu bShab 31a 145 Raschi zu bShab 118a 254 Raschi zu Ex 34,6 54 Ri 5,31 148 Röm 12,20 154 Sach 7,10 139 Sach 8,16–17 147 Sach 8,16.17 68 Sach 8,19 69 SifDtn 23 128 SifDtn 23,8 67 SifDtn 32,4 53 SifDtn 277 248 Sifra zum Abschn. Haasinu 64 Sifra zum Abschn. Kedoschim 4 131 Sifra zum Abschn. Schoftim 64 Sifre Ekeb 62 Sir 4,8 247 Sir 6,7.8 68 Sir 7,33ff 251

Sir 7,37.39 69 Sir 18,14.16 247 Sir 19,13 146 Sir 20,2 146 Sir 28,1 146 Sir 29,2.18 248 Sir 29,2ff 249 Spr 1,8 72 Spr 3,3.4 70 Spr 3,7 85 Spr 3,18 132 Spr 8,10 122 Spr 8,22 ff 55 Spr 10,1 72 Spr 10,2 246 Spr 10,12 145 Spr 11,4 246 Spr 11,13 72 Spr 12,1 122 Spr 12,10 214 Spr 12,28 69 Spr 13,5 68 Spr 14,21 67 Spr 14,22 68 Spr 16,5 68 Spr 16,18 68 Spr 16,29 67 Spr 16, 31 246 Spr 17,5 69 Spr 17,13 70, 71 Spr 17,17 95 Spr 17,18 248 Spr 18,24 72 Spr 19,17 83 Spr 20,22 150Q Spr 21,21 71, 246 Spr 22,6 71 Spr 22,8 67 Spr 23,12 122 Spr 23,22 72, 92, 94 Spr 23,25 72 Spr 24,17 150 Spr 24,29 146, 151 Spr 25,5 92 Spr 25,21 151, 154 Spr 27,10 72 Spr 27,18 73 Spr 27,19 147 Spr 29,7 69 Spr 30,17 92 Spr 31,10–12 74

279

Quellenverzeichnis Spr 31,12 71 Spr 35,33 122 Spr 43,8 69 TanDtn 17 140 Tan Tasria 65 Thr 3,27 148 tSabim 1 64 tShab 151,2 70 tSot 15,3 132 WaR p. 34 245, 246 Weish 3,9 66 Weish 6,17.18 66 Yalq 2,356 246 Yalq 2,859 250 Yalq 2,947 246

Yalq 2,976 245 Yalq II,956 249 yBer I,6 60 yNed IX,1 131 yNed IX,4 66, 131 yPea I 92, 93 yPea I,1 246, 250 yPea VI 261 yPea VII 258 yPea VIII 255, 259 yPea VIII,9 249, 250 yPes VI,1 59 yScheq IX 106 yShevi VI,2 64 ySuk II 60

280

Zitatindex Hebräische Bibel Tora/Pentateuch

20 70; 16,18.19 70; 17,15 130; 17,19 130; 17,27ff 131; 17,7 181; 19,11 132; 19,14 52, 69; 19,19 181; 19,19.20 72; 20,1-10 98; 20,19 136, 215; 21,18-21 91; 21,18ff 52; 21,1-9 237; 21,22 110; 22,21 240; 22,28 213; 22,6 212, 215; 22,6.7 72; 22,7 145; 23,7ff 130; 23,8 251; 23,9 207; 24, 6.10.11.17 247; 24,17 130; 24,17.18 81; 24,19.20 247; 24,1a 130; 24,22 141; 25,4 213, 215; 25,5-10 96; 26 136; 26,12 247; 27,16 74, 94; 27,18 165; 27,2-3 66; 27,24 69; 29,19-22 258; 30,15 189; 30,16 145; 30,19 205; 32,4 55.

Genesis 1,11 207; 1,20 207; 1,24 207; 1,26 137; 1,29 137; 2,24 76; 9,5.6 188; 13,9 71; 15,10 133; 18,19 73; 19,7 131; 28,19 80; 29,1 131; 31,6 75; 37,35 106; 38,24 91; 39-41 149; 45,2-15 149; 50,1520 149. Exodus 3,21-22 133; 9,2 133; 12,49 130, 131, 140; 20,10 215; 20,13 171; 20,6 50; 21,14 132; 21,15 94; 21,17 94; 21,18 132, 172; 21,2 258; 21,6 184; 22,1 263; 22,20 80, 162; 22,25 247; 22,28 172; 23,1 171; 23,11 247; 23,19 207; 23,4 174; 23,4.5 153; 23,4f 156; 23,5 147, 213, 215; 23,7 158; 23,9 80; 24,16 189 34,6 56; 34,6.7 57. Levitikus 5,11ff 206; 14,17 52; 18,5 81, 134, 146; 19,1 51; 19,10 130; 19,11 69, 158; 19,11.12 70; 19,14 165, 172; 19,15 171; 19,16 69, 167; 19,17 69, 87, 154, 162, 173 19,17.18. 147; 19,18 68, 152, 156, 174, 187, 190; 19,19 207, 215; 19,2 145; 19,3 94, 131; 19,32 72; 19,33 132, 140; 19,33.34 145; 19,34 162; 19,35 70; 19,6 70; 19,7 69; 19,9.10 247, 258; 20,5 81; 21,35.36 69; 22,24 206, 215; 22,28 136, 215; 23,22 247, 258; 24,22 130, 140; 25 69, 71, 74, 84, 97, 130, 131, 136, 187; 25,14 69; 25,25 97; 25,35 71, 130, 131, 136, 250, 258; 25,43 74; 25,47-49 97; 25,55 84; 35,17 162. Numeri 12,3 149; 15,14 140; 15,15 130, 131, 139; 17,5 167; 20,14 131; 25,15 140. Deuteronomium 1,16 130, 131, 140, 171; 5,10 50; 5,33 130; 6,12 53; 6,20.25 82; 6,7 91; 6,9 91; 8,6 84; 10,12 131; 10,12.13 50, 81; 10,18 145; 10,19 80, 135; 13,12 165; 13,14 87; 13,5 252; 13,9 174; 14,1 84; 14,28 258; 15 71, 74, 141, 187, 258; 15,10 248; 15,11 71; 15,14 74; 15,15 141; 15,17 258; 15,7ff 247; 15,8 71; 15,9 87; 16,

Propheten Richter 5,31 150. Samuel 1 Samuel 2,33 96; 15,22.23 41; 21,7 130; 22,9 130; 24,9ff 149; 26,25 149; 26,7ff 149. 2 Samuel 1,12.17ff 150; 6,10 150; 11,3 130; 15,19 130. Könige 1 Könige 8,41 141, 146; 20.31 81. 2 Könige 5,1 146; 22,8-10 64. Jesaia 3,10.11 57; 11,6-9 137; 11,9 137; 40 189; 45,1 146; 58,10 249; 58,7 85, 153, 250; 58,9 97; 61,10 73; 65,17ff 137. Jeremia Jer 9,23 82; 18,7-10 57; 22,13 74; 27,5 146; 32,19 57. Ezekiel 7,4.27 57; 18 57; 18,20 238; 18,23 146; 3,1822 57; 33,11 57, 195; 33,11-20 57; 47,21 141; 47,22 130.

281

Zitatindex Hosea Hos 2,21 75; 11,1 143. Micha Mi 6,8 149. Sacharia Sach 7,10 141; 8,16.17 70; 8,16-17 149; 8,19 71. Maleachi Mal 1,6 74; 2,14 73; 2,16 73; 3,5 130, 141.

Schriftwerke Psalmen 7,4-6 150; 7,5 156; 11,7 70; 12,10 71; 17,15 73; 25,8 146; 36,7 71; 37,25 260; 41,1 71; 51,12 73; 51,15 69; 73,1.26 73; 104,27 145; 119,160 55, 56; 133,1.3 74; 145,8 146; 145,9 136, 145, 215; 146,3 263, 265; 147,9 71. Sprüche/Proverbia 1,8 74; 3,18 134; 3,3.4 72; 3,7 87; 8,10 124; 8,22 ff 57; 10,1 74; 10,12 147; 10,2 248; 11,13 74; 11,4 248; 12,1 124; 12,10 216; 12,28 71; 13,5 70; 14,21 69; 14,22 70; 16, 31 248; 16,18 70; 16,29 69; 16,5 70; 17,13 72, 73; 17,17 97; 17,18 250; 17,5 71; 18,24 74; 19,17 85; 20,22 152; 21,21 73, 248; 22,6 73; 22,8 69; 23,12 124; 23,22 74, 94, 96; 23,25 74; 24,17 152; 24,29 148, 153; 25,21 153, 156; 25,5 94; 27,10 74; 27,18 75; 27,19 149; 29,7 71; 30,17 94; 31,1012 76; 31,12 73; 35,33 124; 43,8 71. Ijob 1,21 150; 11,9 65; 22,13 74; 28,11 67; 28,25 189; 28,7 189; 29,14 73; 31,29f 151; 31,30 150.

Kohelet/Prediger 3,19 92 Esther 1 265; 4,14 41. Daniel 12,3 69. Nehemia 8,8 65. Chronikbücher 1 Chronik 29,14 87, 247; 29,15 141. 2 Chronik 2,16 130; 24 74; 29,5 108, 109; 32,33 108.

Apokryphen Weisheit 3,9 68; 6,17.18 68. Sirach 4,8 249; 6,7.8 70; 7,33ff 253; 7,37.39 71; 18,14.16 249; 19,13 148; 20,2 148; 28,1 148; 29,2.18 250; 29,2ff 251.

Neues Testament Matthäus 3,6 72; 5,43f 155; 5,7 72; 7,12 68; 22,36-40 68. Lukas 6,27 155; 23,34 157. Römerbrief 12,20 156.

Rabbinische Literatur Mischna mAvot 63, 68 – 72, 74, 92, 123, 125, 126; I 68, 70 – 72, 92; I,12 71; I,14 68; I,15 142; I,4 125; I,5 249; I,6 70, 142; II,15 69, 142; II,16 63; II,3 265; II,4 70; II,8 248; III 123; III,8 247; IV,12 74; IV,20 125; V 155; V,16 252. mSan IV,3 187.

Tosefta tSabim l 66. tShab 151,2 72. tSot 15,3 134. Palästinische/Jerusalemische Gemara jBer I,6 62. jNed IX,1 133; IX,4 68, 133.

282

Zitatindex jPea I 94, 95; I,1 248, 252; VI 263; VII 260; VIII 257, 261; VIII,9 251, 252; VI,1 61. jSche IX 108. jShevi VI,2 66. jSuk II 62. Babylonische Gemara Aboda Zara (AZ) 5b 257. Baba Batra (BB) 8a 256; 8b 252; 9 126, 256, 257; 9a 69, 248, 250, 252, 257; 9b 249; 10b 249; 110 261; 110a 251; 10a 85, 247, 248, 256, 259, 260; 11a 256; 21 125. Baba Metsia (BM) 23,33 216; 31b 257; 32a 96; 32b 136; 42a 249; 55 155; 71a 250; 85 216; 85a 136. Baba Qamma (BQ) 14a 108; 38a 134; 88 131; 89a 63; 92b 251. Bekhorot (Bekh) 4 125. Berakhot (Ber) 17,32,62 142; 6b 255; 18a 253; 57b 135. Jebamot (Yev) 62,63 97; 63b 135; 79 81; 102 259. Betsa (Bes) 32 81; 32b 255. Chagia (Chag) 5a 249. Erubin (Er) 13b 135; 18 261; 22a 56; 54b 66. Gittin (Git) 61a 253; 64 216; 7b 248. Horajot (Hor) 13a 250. Joma (Yom) 9b 156. Ketubbot (Ket) 62; 45a 240; 49 91; 50a 250; 66b 247; 67ab 250; 67b 250; 68 125; 68a 87, 247, 251. Makkot (Mak) 12a 188; 24a 142. Megilla (Meg) 13a 142, 250; 94 142. Menachot (Men) 69a 66. Moed (M) 17 93. Nedarim (Ned) 39b 253; 40a 253, 255; 81 71, 125. Pesachim (Pes) 66a 66; 69b 66; 75a 67; 112a 251; 113a 251; 118 215. Qidduschin (Qid) 17b 188; 29 73, 92; 31 95, 96; 31b 95; 40b 241; 41a 67; 82a 255. Rosch ha-Schana (RHSh) 16b 248. Sanhedrin (San) 19b 250; 29 93; 45 190; 45b 67;

52 190; 59,1 146; 59a 134; 76 93; 78a 182; 86a 65; 96,2 146; 101 142; 105 142; 111a.b 56. Schabbat (Shab) 10 93; 31 142; 31a 134, 136, 147, 150; 31b 68; 63a 250, 257; 88b 150; 104a 249; 118 257; 118a 251, 256; 127a 252, 253; 128 216; 130a 66; 151b 247, 257. Schebiit (Scheb) 35d 143. Sota (Sot) 14a 252; 44 93; 44a 98. Sukka (Suk) 5a 188; 20a 64; 49b 248, 249, 252. Taanit (Taan) 7,1 146; 8b 249. Tamid (Tam) 4 217. Temurot (Tem) 14b 65. Midrasch ARN 6 65, 67; 11 126; 12 125, 126; 23 148; 28 123; 29 125; 37 65. DER Abschn. 3 123. Ekha Zuta 109. EstR 7 266. ExR 41 65; 44 67; Abschn. 2 216. GenR/BerR 54 133; 67, 133, 217; 24 133; 55 67; 64 267; 70 134. KohZ 7,1 247. MegTaan 10 65; 4 65. MekhY p.10 248. Midrasch Leolam 253. MTeh zu Ps 103,17 252; zu Ps 40,14 248. PesR p. 11 249. SifDtn 23 130; 23,8 69; 277 250; 32,4 55. Sifra 65. Sifra zum Abschn. Haasinu 66. Sifra zum Abschn. Kedoschim 4 133. Sifra zum Abschn. Schoftim 66. Sifre Ekeb 64. Tan Dtn 17 142. Tan Tasria 67. WaR p. 34 247, 248. Yal 2,356 248; 2,859 252; 2,947 248; 2,976 247; 2,956 251.

Autoren bis 18. Jahrhundert Nicht-jüdische Autoren Aulus Gellius, Avli Gellii Noctes Atticae. Lucidiores redditae, tum collatione veterum exemplarium, tum innumeris emendationibus ac coniecturis insigniorum aetatis nostrae criticoru[m] ; Cum quinque indicibus perutilibus ac necessariis ; Addita

est praetereà interpretatio dictionum Graecarum. Bibliotheca Palatina 1592 82. Cicero, Marcus Tullius De officiis I,3 129. Lessing, Gotthold Ephraim, Faustfragment, aus Briefe, die Neueste Litteratur betreffend 123. Platon, Politeía 373, 469ff 129.

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Zitatindex Vergil, Aeneis I, 630 81. Jüdische Autoren Arama, Isaac ben Moses; Pollak, Ḥayim Yosef, Sefer Akedat Yizchak. Pressburg : Kittseer, 1849 136, 137 Caro, Joseph, Schulchan Aruch, Jore Deah 111, 113, 166, 172, 208–210, 213, 257, 253 261, 253,11 257, 256 260; Choschen haMischpat 161, 161–167, 172, 214. Galaz, Jehuda, Sefer Musar (ersch. 1537 in Constantinopel) 92, 96.

Jehuda ben Samuel he-Chasid, Sefer Chassidim § 561–564 96; § 567 93; § 571 96; § 577 92; § 660 97. Kimchi zu Jona Kap. 1 147. Maimonides, Herzenspflichten 4, 4 143; Hilchot Matnot Aniyim XI,4, XI,5, XI,8 249; More Nebuchim III,5 137. Raschi zu Ex 34,6 56. Raschi zu bShab 31a 147; 118a 256. Spinoza, Tractatus theologico-politicus, Kapitel 17 255.

Autoren 19. Jahrhundert Nicht-jüdische Autoren Boeckh, August, Die Staatshaushaltung der Athener, 2 Bände, Berlin : Realschulbuchhandlung 1817 129 Bulwer, Baron Edward, Die Zeitgenossen : ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Band 2, 2. Auflage. Übersetzt von Karl Gutzkow. Pforzheim : Finck 1842 201 Hälschner, Hugo, Das preußische Strafrecht. Zweiter Theil : Den allgemeinen Theil derselben umfassend. Bonn : Marcus 1858 180 Macaulay, Thomas Babington, Geschichte von England seit dem Regierungsantritte Jacob’s II. Deutsch von Wilhelm Beseler. Brauschweig : Westermann 1852ff 192, 193 Wette, Wilhelm Martin Leberecht, Lehrbuch der christlichen Sittenlehre und der Geschichte derselben. Berlin : Reimer 1833 156 Jüdische Autoren Dessauer, Julius, Die Fünf Bücher Moses. Nebst dem

Raschi-Commentar, Punktirt, Leichtfasslich uebersetzt und mit Anmerkungen versehen. Budapest 1863 125 Geiger, Abraham; Levy, M. A., Protokolle der dritten Versammlung deutscher Rabbiner: abgehalten zu Breslau, 13.–24. Juli 1846. Breslau : Leuckart 1847 104 Jellinek, Adolph, Bet ha-Midrasch. Leipzig/Wien 1853–1877 253 Riesser, Gabriel, Kritische Beleuchtung der in den Jahren 1831 und 1832 in Deutschland vorgekommenen ständischen Verhandlungen über die Emancipation der Juden. Altona : Hammerich 1833 139 Steinthal, Heymann, Allgemeine Ethik. Berlin : Reimer 1885 132 Frankel, Zacharias, Der gerichtliche Beweis nach mosaisch-talmudischen Rechte : ein Beitrag zur Kenntniss des mosaisch-talmudischen Criminalund Civilrechts. Nebst einer Untersuchung über Gesetzgebung hinsichtlich des Zeugnisses der Juden. Berlin : Veit 1846 180

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Sach- und Personenindex Aaron (Bruder des Moses und der Mirjam, Begründer des Priestertums – Kohen, Kohanim) 71, 104, 149, 226 Abahu (Amoräer der 3. Generation, 3. Jh.) 65 Aben-Esra (Rabbi Abraham Ibn Ezra – Exeget, Dichter und Philosoph, 1089–1164) ‫ רבי אברהם בן מאיר אבן עזרא‬94, 236 Aberglaube 42, 108 Abraham ‫ אברהם‬71, 73, 81, 103, 104, 131, 133, 253 Absalom (Sohn Davids, 2 Sam 13–19) ‫ אבשלום‬150 Adam 134 Ahasveros (persischer Herrscher im Buch Esther) ‫ אחשוורוש‬265 Ajalon (Tal zwischen Jerusalem und der Küste) ‫ עמק איילון‬272 Akiba (Tannait der 3. Generation, 1./2 Jh.) ‫רבי עקיבא‬ 64 – 68, 84, 85, 133, 134, 143, 182, 223, 224, 253, 259 Akilas (Gelehrter des 2.Jhs.) 134 Al Chet (Gebet, Sündenbekenntnis) 233 Alexander der Große (356–323 v.d.Z.) 149, 217 Alexander Jannäus (127–76 v.d.Z., hasmonäischer König und Hoherpriester) ‫ אלכסנדר ינאי‬191 Amerika 184 Amos (Prophet im Nordreich, 8. Jh. v.d.Z., biblisches Buch) ‫ עמוס‬228 Arama, Isaak (Spanien 1420–1494, Verfasser von Aqedat Jizchak [Bindung Isaaks], Predigten zur Tora) ‫ עקדת יצחק‬135 – 137 Arawna (jebusitischer König, 2 Sam 24,16 ff.) ‫ארוונה‬ 141 Arbeit, Arbeiter 42, 64, 92, 95, 101, 111, 187, 209, 212, 215, 235, 250, 251, 254, 255, 258, 260 – 262, 264, 265, 269 Auferstehung 111, 146 Aufrichtigkeit 70, 117, 142, 159 – 161, 166, 215, 258 Augustinus (354–430), christl. Kirchenlehrer 49 Aunoóh (ona’ah, Kränkung, Täuschung) ‫ הונאה‬,‫אונאה‬ 165 Babylon, babylonisch 64, 67, 126 Bachia (Philosoph, Spanien, 11. Jh.) 143 Baden, Karl Friedrich von (1728–1811) 191 Bar Kochba (Befehlshaber im Aufstand gegen die römische Besatzung im 2. Jh.) ‫ שמעון בר כוכבא‬182 Barmherzigkeit 52, 56, 58, 71, 72, 80 – 83, 86, 95,

145, 167, 174, 187, 215, 216, 234, 252, 254, 255, 257 dem Sünder gegenüber 45, 48, 56, 57, 69, 81, 109, 141, 146, 155, 159, 175, 183, 201, 234, 235, 248 Beccaria (italienischer Rechtsphilosoph und Strafrechtler, 1738–1794) ‫ סזרה בקריה‬199 Bene Bethera (Familie von Weisen, die ca. 100 Jahre vor der Zerstörung des Zweiten Tempels die religiöse Führung übernahm) ‫ בני בתירה‬61 Beruria (Gattin des Rabbi Meir, berühmt durch Klugheit, Protagonistin talmudischer Erzählungen) ‫ ברוריא‬,‫ ברוריה‬154 Bescheidenheit 70, 149, 215, 258 Besitz, Vermögen 69, 77, 100 Beß K’woraúß (bet k’warot, Friedhof) ‫ בית קברות‬112 Bildung, Erziehung 41, 44, 74, 79, 92, 94, 117 – 126, 134, 143, 144, 195, 201, 215, 236, 250, 258, 268 Bisojaún (bisajon, Schmach, Entwürdigung) ‫ ןויזב‬110 Brahma, hinduistische Gottheit 187 B’rochóh (Beracha, Segen, Benediktion) ‫ בזיון‬112 Buße 43, 184, 185, 221, 224, 228, 229, 231, 232, 234 – 236, 238, 242, 248 Cäsar, Gaius Julius (100–44 v.d.Z.) 149 Chachomim (Chachamim, Weise, Gelehrte, Tradenten der Lehre) ‫ חכמים‬160, 161 Challóh (Spendenpflicht, Gebot der Abgabe an einen Kohen [Hohen Priester], Num 15, 20) ‫ חלה‬214 Chanina ben Teradjon (Tannait, Märtyrer) ‫רבי חנינא‬ ‫ בן תרדיון‬260 Charles II. (1630–1685), König von England, Schottland und Irland 192 Chattath (Sühnopfer) ‫ חטאת‬231 Chaúschen Hammischpót (Choschen Hamischpat, Teil des halachischen Systems, benannt nach Exodus 28, 29) ‫ חשן המשפט‬172 Christ, Christen 117, 118, 121 Christentum 72, 157, 235 Bergpredigt 68, 72, 73, 155 – 157 Funktion des Opfers 235 Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung 43, 44, 140 Kritik am 42, 43, 48, 49 Nächstenliebe als ‚Gesinnung‘ 43, 45, 47, 48, 119 Neues Testament 157 Schöpfen aus jüdischen Quellen 68, 72, 75 Christliche Dissidenten 42

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Sach- und Personenindex Cicero, Marcus Tullius (106–43 v.d.Z.) 129 Claz = siehe Galaz, Jehuda Dama (talmudische Figur, Beispiel der Eltern-Ehrung) ‫ דמא בן נתינה‬95 Dankbarkeit 72 – 74, 93, 107, 108, 121, 235, 251 Darius (549–486 v. Chr. König des persischen Großreichs) ‫ דריווש הראשון‬150 David (ca. 1000 v.d.Z., König von Juda und Israel) ‫דוד‬ 50, 69, 87, 91, 98, 103, 108, 149, 150, 216, 237, 247 Demut 43, 149, 150, 154, 155, 170, 233 Derech erets (weltliche Bildung, Sitte, Umgangsformen) ‫ דרך ארץ‬123 Domitian, Titus Flavius (51–96 v.d.Z.), röm. Kaiser 266 Efrajim (einer der zwölf Stämme, benannt nach dem zweiten Sohn Josephs) ‫ אפרים‬189 Ehe 62, 63, 67, 73, 75, 76, 92 – 94, 98, 99, 107, 108, 165, 190, 191 Ehebruch 73, 191, 222 Ehelosigkeit 135 Ehescheidung 73, 75 Kethuba (Ehevertrag) 63, 67 Leviratsehe 96 Trauformel 76 uneheliche Kinder 75 Vielweiberei 75 Ehre 52, 69, 70, 73, 75, 82, 86, 92, 95, 103 – 109, 112, 126, 142, 150, 154, 164, 167 – 171, 174, 191, 192, 233, 240, 244, 248, 268, 272 Ehrfurcht 47, 52, 72, 74, 93 – 96, 103, 105, 121, 232 Elasar (Tannait) ‫ אלעזר בן יהודה איש ברתותא‬86 Elieser ben Hyrkanos (Tannait der 2. Generation) ‫רבי‬ ‫ אליעזר בן הורקנוס‬63, 67 Epikur (341–270 v.d.Z.), griech. Philosoph 94 Erkenntnis 42, 43, 56, 68, 69, 82, 103, 120, 124 – 126, 157, 158, 161, 228, 229, 232, 238, 264 Esra (Neugestalter des Judentums, kehrte 458 v.d.Z. aus Babylon nach Jerusalem zurück) 64 Essäismus, von Essäer, dissidente Gruppe des antiken Judentums mit asketischer Ausrichtung 135 Esther (Heldin des nach ihr benannten biblischen Buches) 41 Ethik, ‚Sittlichkeit‘ 46 – 48, 50, 52, 56, 62, 63, 68, 70, 75, 81, 82, 92, 98, 100 – 102, 104, 111, 113, 117 – 119, 121, 123 – 126, 132, 139, 142, 143, 145, 148, 151, 152, 154, 156, 157, 160, 167, 174, 185 – 187, 189, 193, 194, 200, 217, 218, 221,

222,225, 227 – 232, 234, 235, 238 – 240, 243, 252, 257, 264, 270, 272, 273 Böse, das 56, 69, 70, 72, 76, 82, 123, 137, 142, 146, 147, 149, 150, 152, 154, 155, 159, 166 – 168, 170, 171, 174, 189, 222, 228, 241, 268, 270, 271 Gute, das 43, 48, 69, 70, 72, 76, 77, 123, 142, 145, 149, 150, 155, 164, 166, 168, 170, 175, 179, 189, 212, 229, 231, 241, 268 – 271 Eudämonismus 78, 151, 152, 227, 240 Ewólberge (Berg Ejbal nördlich der Stadt Sichem) 166 Fanatismus 119, 140 Fluch, Fluchen 94, 101, 131, 151, 158, 162, 166 – 169, 172, 243, 269, 270 Folter 81, 185, 186, 190, 193 Fortschritt 123, 152, 153, 179, 185, 188, 227, 229, 243 Französische Revolution 191, 193 Frau, Frauen 62, 63, 73, 75, 76, 93, 98 – 104, 106, 112, 133, 164, 165, 169, 170, 190, 191, 222, 242, 253, 256, 270 Freiheit 46, 50, 51, 55, 129, 141, 155, 157, 162, 163, 171, 179, 184, 192, 195 – 198, 215, 222, 229, 231, 232, 258, 265 Freude 46, 74, 100, 101, 108, 119, 151, 152, 160, 164, 167, 174, 227 Frieden, Friedfertigkeit 70, 71, 73, 74, 103, 105, 142, 143, 149, 162, 164, 167 – 172, 174, 175, 179, 226, 248, 253, 263, 272, 273 Friedrich II. (= Friedrich der Große) (1712–1786), preuß. König 191 Frömmigkeit 48, 49, 52, 53, 57, 92, 236, 260, 262, 271, 272 Galaz, Jehuda 92, 96 Gastfreundschaft 131, 252, 253, 262 Ge Hínnaum (Tal bei Jerusalem, ‚Hölle‘) ‫ גיהנום‬165 Gebet, Gebete 43, 44, 53, 68, 112, 146, 153, 157, 165, 174, 229, 233 Gefühl, Gefühle 41, 47, 49, 51 – 53, 56, 58, 62, 71, 77 – 81, 85, 93, 99, 104, 108, 121, 124, 164, 173, 181, 201, 211, 216, 225, 227, 237 – 239, 241, 242, 254, 255, 261, 268, 271 Gehorsam 41, 43, 45, 50 – 53, 73, 74, 82, 93, 96, 121, 179 Geist 41, 42, 51, 52, 55 – 58, 61, 73, 75, 99, 100, 105, 109 – 111, 118, 125, 126, 155, 158, 164 – 166, 184, 185, 188, 193, 215, 218, 221, 222, 226, 239, 258, 260, 270 Gelehrsamkeit 123, 125, 260, 262

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Sach- und Personenindex Gemeinschaft 47, 48, 78, 119, 121, 151, 153, 183, 195, 227, 239 Gemüt 49 – 51, 57, 58, 74, 80, 86, 96, 118, 120, 121, 123, 126, 140, 147, 149, 155 – 157, 164, 165, 167, 168, 170, 211, 224, 225, 229, 230, 232, 241, 254 Gerechtigkeit/Recht 48, 55 – 58, 70, 72 – 75, 77 – 80, 82, 83, 91, 93, 97, 106, 108, 110, 123, 124, 129 – 131, 139, 140, 142, 145, 147, 149, 151, 152, 154 – 156, 158 – 160, 162 – 164, 167, 171, 172, 175, 179 – 181, 186 – 188, 190, 191, 193 – 199, 205, 206, 214, 226 – 228, 231, 234, 239, 241, 243, 254, 255, 270, 271 als Gottesdienst 48, 49, 52 Arbeit und Lohn 74, 101, 146, 187, 193, 254, 269 Darlehen, Schulden, Zins 103, 130, 142, 143, 250, 251, 255, 257, 270 Gläubiger, Pfändung 80, 81, 106, 254, 256 Grundbesitz 124, 141, 255, 258, 269 Handel, Kauf und Verkauf 69, 70, 95, 129, 132, 140, 160, 165, 166, 217, 258 Maße und Gewichte 69 Jubeljahr 255, 258 Strafe und Belohnung 42, 50 – 53, 56, 79, 81, 96, 110, 144, 153, 159, 174, 180 – 186, 188, 189, 192, 195 – 201, 228, 231, 234, 240, 263, 270 Unrecht 48, 55, 69, 70, 73, 77, 148, 150, 152, 154, 158, 159, 161, 162, 166, 171, 174, 175, 184, 185, 196, 199, 227, 228, 232, 233 Germanen 129 Gersonides (Levi ben Gerschom, 1288–1344, Mathematiker, Arzt, Philosoph) ‫ לוי בן גרשום‬94 Geselligkeit 77, 78, 80, 81, 83, 161 Gesellschaft 48, 92 – 94, 121, 161, 164, 170, 180, 182, 183, 187, 188, 195, 196, 241 – 243, 247, 254, 255 Gesinnung, Gesinnungen 51 – 53, 56, 86, 123, 124, 126, 147, 149, 160, 167, 179, 185, 196, 211, 230, 236, 239, 241, 272 Gesundheit, körperliche 69, 171, 174, 175 Gewalt 44, 50, 53, 124, 140, 149, 162 – 164, 179, 188 Gewissen 53, 124, 146, 181, 217, 222, 223, 230, 231, 238, 239 Gideon (Gibeon, nach Josua) eine der vier Städte der Hewiter [Chivi]) ‫ גבעון‬272 Glaube, Glauben 56, 68, 72, 87, 160, 187, 192, 229, 236, 270, 271 Gleichheit 44, 47, 48, 131, 139 – 141, 143, 145, 173, 187, 193, 215, 258, 265 unter ‚Rassen‘ 47, 124, 131, 142 Verurteilung von Ständen und Kasten 46, 47, 124, 181, 187, 230, 264, 265

Glück, Glückseligkeit 46, 77, 79, 82, 84, 92, 98 – 102, 159, 163, 167 – 169, 174, 185, 248, 269 Goten 126 Gottesebenbildlichkeit 46, 47, 49, 51, 67, 68, 70, 85, 130, 133, 134, 137, 139, 141, 143, 145, 181, 187, 188, 190, 215, 259, 260, 265 Gotteserkenntnis 42, 43, 57, 82, 83, 120, 137 Gottesfurcht 53, 124 – 126, 149, 270, 271 Gotteslehre 42, 47, 48, 228 Ablehnung eines Mittlers 42, 234 – 236 Bilderverbot 42 Bund mit Israel 43, 46, 73, 75, 98, 133, 155, 157, 226, 227, 232 Gottesliebe 50 – 53, 68, 75, 86, 87, 141, 157, 175 Götzendienst 41, 42, 81, 87, 108, 123, 139, 140, 142, 156, 169, 199, 206, 215, 230, 247, 271 Griechisches Altertum 46, 124, 129, 130, 141, 227, 229 Ausblendung des Mitmenschen 46 Fremde, Feinde, Barbaren 129, 131, 141 Individualismus der Starken und Klugen 46, 264 Lykurg, Lykurgisches Gesetz 129 Religion 227, 229 Sparta 129 und das Judentum 47 G’seróh (Geserah, Verhängnis, unheilvolle Entscheidung) ‫ גזרה‬209 Güte 56, 72, 86, 139, 146, 254 Hadrian, Aelius Hadrianus (76–138), röm. Kaiser 182, 266, 267 Halacha, Halachot (wörtlich  : der zu gehende Weg  ; das gesamte Gefüge von Gesetz und Recht, bzw. der einzelnen Ge- und Verbote) ‫ הלכות‬,‫ הלכה‬61, 64 – 66 Hamlet 153 Handwerk, Handwerker 92, 93, 125 Hass 63, 66, 69, 72, 87, 132, 140, 147 – 157, 168, 169, 172 – 175, 179, 213, 228, 233 Hebräisch 81, 133, 135, 145, 146, 236, 257 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) 197, 198 Heiden 63, 68, 75, 134, 141, 142, 146, 147, 187, 215, 232, 258 – 260 Heiligkeit 51 – 53, 75, 105, 117, 235 Herodes (seit 37 v.d.Z. König von Judäa) ‫ הורדוס‬81, 191 Herz 45, 50, 52, 53, 55 – 58, 69 – 71, 73, 76, 77, 80, 86, 87, 94, 99, 102, 104, 118, 121, 123, 124, 126, 131, 136, 147 – 149, 152, 155, 160, 165, 166, 181,

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Sach- und Personenindex 223, 225, 226, 229, 232, 233, 240, 241, 247, 248, 258, 262, 269, 272 Hesekiel (Jecheskel, Ezechiel, ca. 600–560 v.d.Z., Prophet, biblisches Buch) ‫ יחזקאל‬141, 228, 229, 231, 232, 238 Hessen 201 Heuchelei 43, 159 – 161, 270, 271 Hillel (Weiser und Schriftausleger, ca. 1.Jh. v.d.Z.) ‫ הילל‬,‫ הלל‬51, 57, 61 – 65, 68, 86, 134 – 136, 142, 147, 150, 187, 234 Hiob (Job, Ijob, Hauptfigur des gleichnamigen Buches) 150, 151, 189, 236 Hochmut 70, 206, 233 Höflichkeit 161, 172 Hohepriester 142, 146, 221, 224 – 226, 230, 235 Hölle 95, 259, 270 Höre Israel (Sch’ma Jisrael, das Glaubensbekenntnis, Dtn 6,4ff) 62, 87 Hosea (Prophet, biblisches Buch) 75 Hugo, Victor (1802–1885) 201 Le dernier jour d’un condamné 201 Idealismus 135 Inquisition 126, 135 Israel 41 – 46, 50, 52, 53, 64, 72, 75, 81, 84, 98, 104, 108, 125, 126, 133, 138, 141, 143, 146, 216, 223, 229, 232, 235, 238, 243, 244, 262 Israelit, Israeliten 42, 46, 50 – 52, 61, 68, 71 – 73, 75, 81, 84, 124, 133, 134, 139, 140, 142, 143, 145 – 148, 150, 187, 189, 224, 227, 233, 235, 242, 265 Italien 200 Ithai (biblische Figur, 2 Sam 15, 18–23) 141 Jakob (Erzvater, Gen 25–50) ‫ יעקב‬74, 106 Jakob II. (James II, 1633–1701, pro-katholischer König Englands, Irlands und Schottlands in den Jahren 1685–1688/9) 192 Jamnia (Jawne, Jabne, Ort südlich von Jaffo, wichtig für die Regeneration des Judentums nach der Tempelzerstörung  ; siehe Jochanan ben Sakkai 236 Jaúm tauw (Jom Tow, (Halb-)Feiertag) ‫ יום טוב‬214 Jechiskijahu (Hiskia, 8. Jh. v.d.Z., König von Juda) 108 Jeffreys, George (1645–1689) Ankläger und Kanzler unter Jakob II. 192 Jehuda Hanassi (‚der Fürst‘, Tannait der letzten Generation, 2. Jh., an der Endredaktion der Mischna beteiligt, gest. 217 d.Z.) ‫ יהודה הנשיא‬216 Jehuda ‫ רבי יהודה בן אלעאי‬66, 108, 262 Jellinek, Adolph (1821[1820]–1893), Herausgeber

kleinerer Midraschim 253 Jenseits 81, 94, 103, 248, 252 Jeremia (Prophet, biblisches Buch, 7. Jh. v.d.Z.) ‫ירמיהו‬ 82 Jerusalem 105, 108, 137, 141, 229, 230, 266 Jesaia (Prophet, biblisches Buch, 8. Jh. v.d.Z.) ‫ישעיהו‬ 85, 97, 126, 137, 141 Jesus 68, 139, 157, 191 Jissroel (Israel) ‫ ישראל‬112, 163 – 166, 208, 209, 211, 212 Joas (2 Kön 11) ‫ יואש‬74 Jochanan ben Sakkai (bedeutende Persönlichkeit zur Zeit der Zerstörung des Zweiten Tempels, 1. Jh., Begründer des Lehrhauses von Jamnia/Jawne) ‫ יוחנן בן זכאי‬236 Jochanan, Hoherpriester 61 – 63 Jom Kippur (Tag der Entsühnung, Versöhnungstag) ‫ יום כיפור‬43, 224, 232 – 234, 237, 242 Jona (Titelfigur des biblischen Buchs) 141, 232 Jordan 66 Josef II. (1741–1790), römisch-deutscher bzw. österr. Kaiser 191 Joseph 106, 129, 145, 149 Josua ben Chananja (Tannait der 2. Generation) ‫ יהושע בן חנניה‬63, 67, 134, 266 Juda (einer der zwölf Stämme, Südreich, Gen 49, 8–10) ‫ יהודה‬189 Judaea (Region westlich des Jordans, Bezeichnung der römischen Provinz) ‫ יהודה‬84 Judah (Sohn Jakobs, Gen 37–38 u. 43) ‫ יהודה‬91 Judenfeindliche Aussagen 218 der strafende Gott 50 der Tierschutzbewegung 218 Gesetzesreligion 50, 52 sklavischer Gehorsam 50, 52 Judentum 41 – 53, 55 – 58, 61 – 64, 68, 71 – 73, 75, 76, 86, 87, 99, 123, 126, 132, 134, 135, 139, 140, 143, 148, 156, 179, 181, 183, 217, 218, 221 – 226, 229, 232, 235, 238, 247, 248,250, 252, 253, 259, 260, 263, 270, 272 und moderner Sozialstaat 45, 46, 48, 49, 51, 124, 193 Jüdische Geschichte Bar Kochba-Aufstand unter Hadrian 182 Knechtschaft und Sklaverei in Ägypten 43, 80 – 82, 124, 131 – 133, 140, 141, 145, 216, 251, 265 Spanien 135 Zerstörung des jüdischen Reichs 53 Zerstörung des zweiten Tempels 156, 224, 266

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Sach- und Personenindex Kain (erster Sohn von Adam und Eva, Gen 4) ‫ קין‬232 Katholik, Katholiken 117, 118, 121, 192 Kaúrach (Korach, biblischer Rebell) 167, 169 Keuschheit 51, 75, 120 Kilájim (Kreuzung, Mischung, Lev 19, 19) ‫ כלאיים‬210 Kirche 53, 121 Kränkung 69, 96, 140, 147 – 149, 162, 165, 175, 223 Kreuzzüge 126 Krieg, Kriegsdienst 72, 98 – 102, 118, 129, 200, 205, 226, 266 Künste 92, 124 K’wuróh (Begräbnis) ‫ קבורה‬110 Kyros II. (590[580]–530 v.d.Z.), persischer König 146 Lácha(t)z (Beschränkung, Druck) ‫ לחץ‬163 Lamartine, Alphonse de (1790–1869), frz. Schriftsteller und Politiker 193 Langmut 56 Leiden 71, 77, 78, 81, 85, 86, 107, 142, 150, 163, 164, 174, 175, 187, 214, 216, 225, 229, 233, 234, 272 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781) 123 Levit, Leviten (einer der Stämme Israels, ohne Landbesitz, Funktionen im Tempeldienst, vgl. Num 18,23) 108, 134, 146 Liebesgebot 43, 45, 47, 50 – 59, 63, 64, 68, 70, 72 – 75, 78, 81, 84 – 87, 91 – 93, 96, 99, 101 – 108, 121, 123, 124, 134 – 136, 139 – 141, 143, 145 – 147, 149 – 152, 155, 157, 158, 160, 162, 164, 167, 169, 174, 175, 184, 187, 190, 194, 195, 214, 216, 221, 222, 225, 226, 228, 231, 234 – 237, 249, 251, 252, 255, 268, 272 die Alten 72, 74, 166, 269 Familie 75, 81, 91, 96, 98, 99, 112, 121, 168, 169, 247 Freunde 72, 74, 167, 168 gegenüber Abhängigen 72, 74, 161, 164, 165, 181, 228, 254, 255 Geschwister 47, 52, 69, 71, 74, 75, 87, 96, 97, 108, 112, 117, 131, 136, 147, 154, 155, 158, 159, 161 – 163, 165, 168, 170, 171, 173 – 175, 183, 223, 224, 243, 250, 258 Kinder, Ausbildung 73, 75, 81, 91 – 94, 117 – 121, 124, 144, 162, 163 Lehrer und Vorbilder 74, 117 Vater und Mutter 52, 73, 74, 91, 93 – 96, 98, 103, 106, 108, 117, 119, 121, 166, 172, 190, 240, 241 Verwandte 74, 88, 91, 96, 97, 162, 216, 221, 225 Lot (Neffe Abrahams, Gen 19) ‫ לוט‬71 Lüge 62, 69, 70, 158 – 162, 171, 173, 192

Ma’aßer (Abgabe des Zehnten der Ernte, Num 18, 21–24) ‫ מעשר‬214 Maimonides (R. ben Maimon, Rambam, Arzt, bedeutendster Philosoph und Gelehrter, 1140–1205) 137, 143, 225, 235, 236, 249 Maleachi (Prophet, biblisches Buch) 141 Mar Ukba (babylonischer Amoräer) ‫ מר עוקבא‬250 Materialismus 119 Mechilta (früher Midrasch, Auslegung des Buches Exodus) ‫ מכילתא‬65 Meïr (Tannait der 3./4. Generation, Schüler des R. Akiba) ‫ רבי מאיר‬154 Menschenrechte 46 – 48, 57 Menschenwürde 46, 47, 67, 70, 72, 105, 153, 160, 198, 238, 259, 265 Menschheit/Völker der Welt 45 – 48, 64, 67, 78, 81, 100, 111, 118, 120, 121, 123, 131, 132, 134 – 141, 143, 145, 158, 170, 186, 187, 191, 195, 197, 201, 212, 230, 233, 242, 244, 269, 271 – 273 Menschlichkeit, Humanität 80 – 82, 87, 115, 117 – 119, 123, 125, 139 – 141, 143, 168, 180, 184, 185, 191, 197, 252 Unmenschlichkeit 81, 87, 93, 123, 129, 199 Meß (Met, Toter) ‫ תמ‬112 Meß Mizwóh (Pflicht, einen unversorgten Toten zu begraben) ‫ מת מצווה‬112 Messianismus 134, 137, 143, 152, 230, 232, 233, 253, 271 Midderabbonón (die nachbiblischen Gesetze der rabbinischen Weisen) ‫ מדרבנן‬210 Milde 52, 86, 106, 123, 139 – 141, 149, 150, 164, 167, 218, 252 Milóh (Brit Milah, Beschneidung) ‫ ברית מילה‬,‫מילה‬ 112 Mirjam (Schwester Moses und Arons, Prophetin) 149 Mischna (‚Lehre‘, ‚Wiederholung‘, Sammlung des jüdischen Rechts der Tanaiten, redigiert ca. 200 d.Z., Grundlage des Talmud) ‫ משנה‬61, 64, 65, 85, 92, 94 – 96, 182, 183, 187, 232, 235 Mitleid 71, 78, 80, 81, 85, 186, 187, 232, 237, 251, 257 Mittelalter 186, 191, 233 M’lochaúß (m’lachot, Tätigkeiten) ‫ מלאכות‬214 Moral 48, 53, 68, 77 – 80, 91, 92, 94, 98, 100, 124, 126, 152, 153, 181, 190, 201, 231, 239, 242 Mordechai (rettende Figur im Buch Esther) ‫ מרדכי‬41 Mose 53, 65, 68, 76, 81, 91, 105, 108, 125, 132, 133, 138, 139, 147, 149, 157, 216, 236, 249, 265 Nächstenliebe 43, 44, 46 – 51, 57, 61 – 64, 66 – 74,

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77, 78, 81, 83, 85 – 87, 101, 103, 117, 120, 123, 124, 132 – 136, 139 – 143, 146 – 148, 151 – 162, 164 – 166, 168, 170, 171, 187, 190, 215, 233, 247, 248, 250 – 254, 258, 262 Behinderte 52, 166 Feind, Feinde 47, 71, 127, 129, 143, 145 – 157, 169, 174, 175, 253, 268, 269 Fremde, Ausländer 47, 80, 86, 104, 129 – 132, 139 – 141, 145, 146, 162 – 164, 171, 233, 250, 257, 258, 262 der Begriff ‚Rea‘ 132, 133, 135, 137 Nebenmensch 49, 62, 67 – 71, 106, 125, 126, 136, 139, 142, 160, 171, 187, 239, 240 Nichtisraeliten 42, 97, 134, 139, 142, 143, 160, 166, 210, 253 Naeman (biblische Figur) ‫ נעמן‬146 Nas(s)i (Oberhaupt) ‫ נשיא‬61, 125 Nathina (Vater von Dama, s. dort) ‫ נתינה‬95 Nation, Nationen 94, 100, 117, 118, 124, 179, 194, 264, 265 Natur 46, 53, 55, 57, 75, 77 – 79, 91, 96, 119, 120, 135, 146, 189, 198, 247, 260 Nebucadnezar (König von Babylon, 7–6 Jh. v. Chr.) ‫ נבוכדנאצר‬146 Neid 130, 151, 152, 170, 174, 175, 228 Neïla (abschließendes Gebet des Jom Kippur) 232 Nerva, Marcus Cocceius (30-98) röm. Kaiser 266 Ninive 146, 232 Noah (biblische Figur, Gen 6-9) ‫ חנ‬261 Oates, Titus (1649–1705), protestantischer Verschwörungstheoretiker 192 Offenbarung 46, 57, 58, 145, 234 Opfer 41 – 43, 72, 101, 221, 224, 226 – 230, 232, 233, 235, 236, 248, 259, 262 oßúr (assur, Verbotenes) ‫ אסור‬111, 112, 208 – 210, 213 Palästina 126, 130, 139, 141, 189, 256 Patriotismus, Vaterlandsliebe 72, 99, 118 Paulus (von Tarsus), Apostel 191 Pessach (Fest des Auszugs aus Ägypten, Fest der ­ungesäuerten Brote, Wallfahrtsfest, Ex 12, 27) ‫ פסח‬43 Pflanzen 120, 136, 196, 203, 205, 210, 211 Flachs 207, 209, 211 Fruchtbäume 205 – 208, 215 Holzbäume 205, 206, 208 Kräuter 208 Nutzpflanzen 211, 212

Pfropfverbot 208, 210 Samen und Saaten 208 Pflichten, Pflicht (zum Handeln) 41 – 45, 48, 53, 55, 68, 75, 91, 92, 94, 95, 98, 103 – 108, 110 – 113, 117, 119, 121, 123 – 125, 139, 145, 148, 150, 154, 158, 160 – 162, 167, 168, 171 – 173, 175, 187, 188, 191 – 193, 205, 207, 212,213, 214, 215, 224, 233, 243, 248, 253 – 255, 260, 264 Pharisäer (politisch-religiöse Strömung) ‫ פרושים‬68 Pinchas ben Jair (Tannait der vierten Generation, 2. Jh.) ‫ רבי פנחס בן יאיר‬224, 262 Platon 129 Pompejus, Gnaeus (106–48 v.d.Z.), röm. Politiker 150 Priester 61 – 63, 98, 108, 124, 125, 134, 146, 211, 222 – 224, 226, 228, 230, 231, 235, 236 Propheten 46, 47, 51, 58, 68, 75, 79, 80, 82, 85, 96, 98, 126, 137, 138, 141, 146, 149, 150, 153, 157, 189, 227, 228, 230, 232, 238, 240, 249, 272 Protestant, Protestanten 117, 118, 121 Psalmen 49, 55, 141, 150, 157, 221, 229, 265 Rab (Abba Aricha, Gründer der Akademie von Sura-­ Babylonien) ‫ רב – אבא בר איבו – אבא אריכא‬67 Rabban Gamliel (Tannait, 1. Jh.) ‫ רבן גמליאל‬72 Rabbiner 77, 91, 94, 103, 104, 126, 237 Rache 57, 66, 107, 123, 147, 148, 152 – 154, 169, 172 – 175, 185, 198, 199, 223, 225, 226 Reichtum, die Reichen 84, 247, 252, 254, 255 Reinheit 43, 52, 75, 120, 143, 235, 271, 272 Reinigung 43, 44, 111, 221, 223, 224, 226, 231, 235 Religion, Religiosität 41 – 45, 47 – 53, 55 – 57, 61, 72, 74, 75, 80, 84, 86, 87, 91, 92, 94 – 96, 98 – 102, 104, 117 – 122, 124, 126, 136, 139, 140, 142, 145, 156, 179 – 181, 183 – 185, 189, 190, 192, 193, 221, 224, 227, 229 – 235, 238, 248, 268, 269, 271 Religionen. ‚Bekenntnisse‘ 42, 117, 118, 121, 122, 139, 218, 224, 238 Reue 146, 223, 227, 232, 235, 238 Richter, Gericht 43, 69, 70, 91, 107, 110, 168, 169, 171, 172, 181, 183, 190, 199, 222, 223, 230, 231, 243, 244, 263 Angeklagter 181, 182, 184, 191, 193 Bestechung 70, 171, 172, 196, 271 Diebstahl, Raub 48, 69, 73, 101, 140, 168, 205 Funktion des Asyls 140, 221, 224, 225, 231 Meineid 70 Mord, Mörder 43, 66, 69, 72, 132, 140, 156, 159, 161, 162, 165, 168, 169, 180 – 185, 188, 189, 191, 199, 205, 221, 224, 231, 243, 263

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Rechte 48, 63, 124, 146, 180, 195, 199 Selbstjustiz 263 Todesstrafe 81, 91, 110, 129, 146, 168, 177, 179 – 186, 188, 190 – 195, 199 – 201, 215, 258 Verbrechen, Verbrecher 41, 44, 48, 81, 93, 110, 159, 169, 172, 174, 180 – 186, 188 – 190, 193, 195 – 201, 222, 231, 238 – 243 Zeugen, Zeugnis 73, 156, 171, 172, 181 – 184, 190, 200 Riesser, Gabriel (1806–1863) 139 Rimon (Tal im unteren Galiläa nach Bereschit-Rabba 64, 10) ‫ עמק בית רימון‬266 Römisches Altertum 81, 124, 129, 141, 263, 266 Fremde, Ausländer, Sklaven 129, 130, 141 Rosch ha-Schana (Neujahrsfest) ‫ ראש השנה‬43 Rufus (Tinius), Statthalter in Palästina unter Hadrian (76–138) 84, 259 Ruhmsucht 100, 272 Sabbat 42, 43, 45, 75, 215, 228, 230, 251, 257, 261 soziale Funktion 42 Salomo (Sohn Davids, König des vereinten Königreichs Israel, um 1000 v. Chr.) ‫ שלמה‬72, 94, 97, 130, 141, 149, 221, 242, 268 Samuel (biblisches Buch) ‫ שמואל‬41, 91, 96, 98, 103, 221, 237, 268 Sanftmut 69, 143, 249 Sara (Erzmutter, Gen 11,29–23,19) 103 Saul (erster König Israels, 1 Sam 18, 9) ‫ שאול‬149, 150 Scha’atnes d’rabonón (aus Wolle und Flachs hergestelltes Kleidungsstück) 111, 207, 209 Schabbóß (Schabbat, Sabbat) ‫ שבת‬214 Schammai (Weiser, 1. Jh. v. d.Z., Gegenspieler Hillels) 62, 63, 66, 134, 135, 234 Schaphan (biblische Figur, 2 Kön 22) ‫ שפן‬64 Schawuot (Wochenfest, Erntefest, Fest der Torahgabe, Ex 34, 22) ‫ שבועות‬43 Sch’chitóh (Schechita, Schlachtung) ‫ שחיטה‬213 Schegaga (Fahrlässigkeit, ohne Vorsatz) ‫ שגגה‬231, 233, 235 Scheinheiligkeit 268, 270, 271 Schimon ben Jochai (Tannait, 2. Jh., Schüler von R. Akiba) ‫ רבי שמעון בר יוחאי‬66 Schimon ben Schetach (Gelehrter zur Zeit Alexander Jannäus) 61, 64, 65, 67 Schmeichelei 70, 159 – 161 Scholaúm (Schalom, Frieden) ‫ שלום‬168 Schonung, Rücksicht 74, 98 – 100, 102, 136, 139, 141, 153, 154, 215 – 218 Schöpfer, Schöpfung, Geschöpfe 58, 71, 85, 110, 135,

137, 139, 141, 144, 145, 158, 159, 167, 187, 189, 206, 207, 212, 213, 215, 216, 248, 260 Schöpfung 46, 187 Schulchan Aruch (Der gedeckte Tisch, wichtiges halachisches Werk des R. Josef Caro (1488–1575), vierfach gegliedert) 257, 260, 261 Schuld, Unschuld 56, 79, 84, 93, 105 – 109, 120, 154, 155, 181, 184, 207, 214, 221 – 225, 229, 238, 241, 244, 272 Schwärmerei 57, 119, 123, 234 Schweiz 201 Secharja (Prophet, biblisches Buch) ‫ זכריה‬141 Seele 41, 49, 50, 53, 56, 73, 78, 81, 86, 96, 105, 110, 117, 120, 121, 124, 137, 150, 163, 165, 167, 174, 221 – 223, 226, 229, 230, 236, 238, 239, 243, 249, 268, 271 Sefer Thaurúh (Sefer Torah, Thora-Rolle) ‫ספר תורה‬ 112 Selbstliebe, Philautie 78 Sifra (halachischer Midrasch zum Buch Lev) ‫ספרא‬ 65, 66, 133 Sifri (Midrasch zu Num und Dtn) ‫ ירפס‬55, 58, 65, 133, 143, 253 Simei (Schim’i, biblische Figur, 2 Sam 16) ‫שמעי בן‬ ‫ גרא‬150 Simon ben Asai (Tannait der 3. Generation, 2. Jh.) ‫ שמעון בן עזאי‬47, 133 – 135, 143 Sinai (Berg, Wüste) ‫ סיני‬105, 188, 236 Sirach (Ben-Sira, außerkanonisches Buch der Sittenlehre, ca. 2./3. Jh. v.d.Z.) ‫ בן סירא‬148 Sklaverei, Leibeigenschaft 43, 82, 97, 124, 129, 131, 181, 184, 187, 193, 199, 259, 264, 265, 269 Sokrates 139, 231 Spinoza, Baruch (Benedikt) (1632–1677) 47, 255 Sprache, Fremd-/Mutter- 118 Staat 53, 121, 129, 130, 183, 188, 190, 195, 196, 198 – 200, 215, 227, 247, 258, 259, 263, 265 Stoa 157 Stolz 70, 118, 124 Sukkot (Laubhüttenfest) ‫ סוכות‬43 Sünde 41, 69, 79, 85, 92, 93, 110, 146, 152, 159, 161, 162, 166, 167, 169, 170, 174, 189, 191, 201, 222, 224, 228 – 234, 237 – 243, 251, 263, 270 Sünder 56, 69 – 71, 79, 80, 102, 216, 250 Synhedrion (Sanhedrin, oberste Gerichtsinstanz des antiken Judentums) ‫ סנהדרין‬61, 62, 64, 65, 262 Talliß (Tallit, Gebetsmantel) ‫ טלית‬111 Talmud 56, 64, 65, 67, 68, 81, 84, 91 – 93, 95, 97, 123 – 125, 131, 133 – 137, 139 – 143, 146, 148, 150,

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Sach- und Personenindex 152, 154 – 157, 179 – 181, 184, 190, 215 – 218, 221, 228, 230, 232 – 234, 247 – 256, 258 – 261, 263 Talmudlehrer 125, 126, 141, 142, 182, 262, 265 Talmudschulen 67 Tamar (biblische Frauengestalt, Gen 38) ‫ תמר‬91 Tarfon (Tannait der 2. Generation, 1. Jh.) ‫רבי טרפון‬ 67, 182 Teschuba (Umkehr, Buße) ‫ תשובה‬231 Teste, Jean-Baptiste (1780–1852) 196 T’fochim (Teffachim, altes Längenmaß) ‫ טפחים‬112 Thaurúh (Torah) ‫ תורה‬112, 163, 167, 170, 171, 209, 210, 212 Theokratie 52, 53, 142, 180, 182, 259, 266 Th’fillin (Gebetsriemen, Phylakterion) ‫ תפילין‬112 Thschbp (Tho’rasche-b’eal-peh, die mündliche Torah, Gesamtheit aller Kommentare und Gesetze, Entfaltung und Aktualisierung der schriftlichen Torah) ‫פה‬-‫ תורה שבעל‬110, 212, 214 Tiere 71, 72, 91, 92, 112, 133, 136, 137, 141, 145, 153, 155, 186, 196, 203, 205 – 218, 266 Arbeitstiere 209, 211, 214, 215 Barmherzigkeit gegen 52, 71 Begattungsverbote 208, 210, 215 Fisch 210 Fleisch und Milch 209, 210, 212 Gänse und Hühner 213 Nutztiere 211, 213, 214 Rinder 213 Schächten 67, 136, 213, 215, 217, 218 Reichstagsdebatte vom 18. Mai 1887 218 Schafe und Ziegen 213 Schafwolle 209 Tierquälerei 71, 201, 214 – 218 Vögel 52, 212, 213, 215 Torah, mosaisches Gesetz 44, 46, 47, 50 – 52, 56, 57, 61 – 68, 72, 73, 80, 81, 117, 123, 124, 126, 130, 132 – 135, 139 – 141, 143, 146, 147, 155 – 157, 160, 171, 179 – 184, 186 – 191, 193, 194, 198,‫ש‬214, 215, 218, 225, 228, 231, 232, 235, 236, 254, 255, 258 – 260, 263 Dekalog 132, 228 Gebot, Gebote 46, 48, 50 – 53, 63, 64, 66 – 68, 81, 102, 123, 124, 130, 132, 135, 136, 144, 145, 147, 148, 150 – 152, 154, 155, 162, 181, 183, 186 – 190, 193, 205, 213, 234, 235, 248, 255, 262 noachidische Gebote 156, 188, 218 Pflicht zur kritischen Untersuchung 55, 56, 62, 66 Tosefta (tannaitische Sammlung, die Mischna ergänzend) ‫ תוספתא‬65 Trajan, Marcus Ulpius (53–117) röm. Kaiser 266

Treue 45, 47, 53, 55, 68, 72 – 75, 105, 121, 158, 171, 172, 212, 236 Triebe, Begierden 78, 79, 82, 94, 101, 102, 137, 191, 222, 228, 240 – 242, 271 Lehre von den 2 Trieben 229, 233 Tugend, Tugenden 50, 69, 73, 75, 79 – 84, 92, 94, 103, 104, 107, 117, 118, 124 – 126, 143, 149, 150, 152, 154, 160, 167 – 169, 192, 201, 218, 229, 231, 233, 234, 238 – 243, 248, 251 – 253, 268 – 272 Tumóh (tum’ah, Unreinheit) ‫ טומאה‬111 Unendlichkeit 50, 119 – 121 Unsterblichkeit 68, 71, 104, 105, 226, 243 Uriah, der Hethiter (biblische Figur, 2 Sam 23, 39) ‫ אוריה החתי‬141 Vandalen 126 Verachtung 69, 263 Vergil 81 Verleumdung 69, 70, 74, 75, 105, 148, 168 – 170, 223, 233, 244 Vernunft 56, 77 – 79, 91, 137, 193, 198, 234, 236 Versöhnung, Versöhnungslehre 43, 220, 221, 223 – 229, 231 – 236, 242, 272, 273 Verstand 55 – 57, 77, 123, 124, 144, 166 Vorsicht 69, 78, 184 Wahrheit 51, 53 – 56, 58, 70, 71, 101, 105, 107, 120, 137, 142, 149, 158 – 162, 166, 168, 169, 171, 172, 182, 194, 196, 197, 212, 218, 222, 226, 229, 235, 239, 241, 267, 269 Wahrsagerei 41 Weisheit 56, 57, 68, 69, 96, 99, 102, 123 – 125, 148, 169, 223, 242 Willensfreiheit 48, 57, 123, 221 Wissenschaft, Wissenschaften 93, 124 – 126, 143, 179, 189, 197, 236 Wohlwollen 48, 71, 72, 77, 142, 160, 248, 266 Zaddik – der Gerechte/Fromme 48, 57, 70, 71, 108, 109, 142, 146, 159, 171, 216, 225, 226, 252, 260, 271 Zauberei 42 Zedaka 44, 48, 49 arme Bräute 44, 252 Armenbüchse 44, 256, 259, 260 Armenfürsorge 44, 45, 71, 72, 84 – 86, 97, 106, 124, 130, 131, 164, 165, 171, 187, 193, 243, 247 – 252, 254 – 260 arme Reisende 44, 131, 140 Asylbedürftige 131

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Sach- und Personenindex Brautleute 44 Gefangene 44, 262 Kinder der Armen 71 Kranke 44, 71, 103, 166, 252, 253, 269 Not 48, 63, 71, 97, 106, 107, 130, 147, 187, 243, 247, 248, 250 – 252, 256, 258, 259 Selbsthilfe 258, 263 – 265, 267 Tamchui 44, 256, 259 – 261 Trauernde 45, 252, 253 Verstorbene 44, 71, 96, 103 – 108, 110, 111, 252, 253 Waisen 44, 45, 72, 80, 86, 106, 131, 145, 162 – 164, 250, 258, 269

Witwen 72, 80, 86, 97, 106, 131, 145, 162 – 164, 258, 268, 269 Wohltätigkeit, Wohltäter 44, 45, 69, 72, 81, 84 – 87, 93, 103, 150, 187, 215, 236, 246 – 261, 263, 269 Würde der Armen 45, 71 Zieziß (Zizit – an den Ecken des Gebetsmantels ­[Tallit] befestigte ‚Schaufäden‘) ‫ ציצית‬111, 112 Zorn 84, 147, 148, 152, 162, 206, 215 Zuverlässigkeit 70 Zwietracht 71, 162, 169

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Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts  : Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft Die Begriffe Staat, Nation, Gesellschaft bezeichnen zentrale Themenfelder, zu denen sich deutsch-jüdische Autoren – als Juden – seit der Aufklärung und während des gesamten 19. Jahrhunderts schriftstellerisch äußerten. An die deutsche Mehrheitsgesellschaft ge­wandt, skizzierten sie zutiefst engagiert und in beispielloser Breite und Vielfalt die sozial­ethischen Grundlagen, auf denen ein demokratisches Deutschland erstehen sollte, als Bei­spiel für Europa und die Welt. Sie bekräftigten damit mit großem Nachdruck das Jahrtausende gewachsene, ethische Erbe des Judentums selbst, das in diesem Deutschland endlich anerkannt und zu neuem Leben erweckt weiden sollte. Adressat waren die christlichen Hierarchien und die zumeist repressiv eingestellten bürgerlichen Eliten und Obrigkeiten in Deutschland. Nicht zuletzt mit dem Schlagwort vom .christlichen Staat‘ sperrten diese sich gegen die politische und soziale Gleichberech­tigung der Juden bis weit ins wilhelminische Kaiserreich. Damit aber wurde der ur­sprünglich theologische Anti-Judaismus säkularisiert und institutionalisiert. Viele deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts haben dagegen die christliche Seite an die Übernahme der jüdischen Ethik schon durch das frühe Christentum erinnert und bestimmten in der jüdischen Vision der gerechten Gesellschaft das Projekt der Mo­derne. Vor dem Hintergrund der Debatte um Differenz und Konvergenz zwischen Judentum und Christentum plädierten sie für das Zusammenrücken von Judentum und Christentum um das Zentrum der gemeinsamen Ethik, für die gemeinsame Arbeit an der neuen Ge­sellschaft und für die universalistische Vollendung der ethischen Mission der monotheis­tischen Schwesterreligionen. In diesem Zusammenhang unternahmen es viele deutsch­jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts, insbesondere die ethischen und sozialethischen An­schauungen des Judentums zu erläutern. Dabei stellten sie die Jahrtausende gewachsene ethische Tradition des Judentums in unmittelbare Beziehung zur modernen Wertedebat­te, insbesondere zur Vereinbarkeit von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Schon vor 1871 und erst recht danach ignorierte die deutsche Mehrheitskultur, ins­ besondere aber auch die deutsche akademische Geschichtsschreibung, diese visionären Beiträge. Gershom Scholem prangerte 1962 die in Deutschland über viele Generationen wirksame Dialogverweigerung der jüdischen Minderheit gegenüber an und bezeichnete den gesellschaftspolitischen Diskurs deutscher Juden als „bedeutendes Phänomen“, dessen Analyse er anmahnte. Daran anknüpfend hat ein interdisziplinäres Team des Duisburger Instituts für Sprachund Sozialforschung und des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen eine solche Analyse im Rahmen eines diskurs­ historischen Forschungsprojekts (2005–2006) unternommen, wobei zwischen 1848 und 294

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1871 publizierte Schriften untersucht wurden. Die Ergebnisse wurden im folgenden Band veröffentlicht  : Michael Brocke, Margarete Jäger, Siegfried Jäger, Jobst Paul, Iris Tonks  : Visionen der gerechten Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2009 Die vorliegende Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft basiert konzeptionell und hinsichtlich der Textauswahl auf dem er­ wähnten Forschungsprojekt. Die Herausgeber wollen wichtige deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts zu Wort kommen lassen, in der Hoffnung auf eine heutige kulturelle und gesellschaftliche Rezeption, die ihnen in Deutschland so lange verwehrt war.

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DEUTSCH-JÜDISCHE AUTOREN DES 19. JAHRHUNDERTS SCHRIF TEN ZU STA AT, NATION, GESELLSCHAF T. WERK AUSGABEN HERAUSGEGEBEN VON MICHAEL BROCKE, SIEGFRIED JÄGER UND JOBST PAUL

EINE AUSWAHL

BD. 2 | SAUL ASCHER AUSGEWÄHLTE WERKE BD. 1 | ELIAS GRÜNEBAUM

HG. VON RENATE BEST

DIE SITTENLEHRE DES JUDENTHUMS

2010. 326 S. GB.

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NACHWEISE ÜBER DIE ENTSTEHUNG

AUSGEWÄHLTE WERKE

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TEILBAND 1

UND DESSEN VERHÄLTNISS ZUM

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