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German Pages [361] Year 2021
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY-NC-ND 4.0
© 2021 V&R unipress | Brill Deutschland GmbH ISBN-Print: 9783847112761 – ISBN E-Lib: 9783737012768
Bibliothek im Kontext
Band 4
Herausgegeben von Stefan Alker-Windbichler, Murray G. Hall und Markus Stumpf
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Brandtner, Ursula Georgy, Hans-Christoph Hobohm, Frank Möbus (†), Rudolf Mumenthaler, Oliver Rathkolb, Ulrich Johannes Schneider, Konrad Umlauf
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
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Markus Stumpf / Hans Petschar / Oliver Rathkolb (Hg.)
Nationalsozialismus digital Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS-Zeit im Netz
Mit 33 Abbildungen
V&R unipress Vienna University Press
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Zukunftsfonds der Republik Österreich, der Österreichischen Nationalbibliothek, der Stadt Wien Kultur (MA 7), der Universitätsbibliothek Wien, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und des Rektorats der Universität Wien. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Dieses Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND International 4.0 („Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen“) unter dem DOI 10.14220/9783737012768 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Titelblätter österreichischer Zeitungen vom 10. März 1938, ANNO: https://an no.onb.ac.at Lektorat: Jutta Fuchshuber, Markus Stumpf Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-0244 ISBN 978-3-7370-1276-8
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Inhalt
Geleitwort der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Begleitwort des Vizerektors für Digitalisierung und Wissenstransfer der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grußworte am Eröffnungsabend aus dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu diesem Buch
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zugänge und Fallbeispiele aus den Gedächtnisinstitutionen Museum und Archiv Hans Walter Hütter Objekte der Diktatur. Der Nationalsozialismus in musealen Zeugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Stefan Benedik / Monika Sommer Ein neues Zeitgeschichte-Museum: Bedingungen und Chancen einer transmedialen Vermittlung von NS-Geschichte . . . . . . . . . . . . . . .
35
Brigitte Rigele Alles für alle? Offener Zugang und Weiterverwendung in öffentlichen Archiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Claudia Kuretsidis-Haider Justizakten als Geschichtsquelle – Vom Umgang mit den Findhilfsmitteln und Beständen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am DÖW . . . . . .
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Inhalt
Maximilian Becker Die Quellenedition der Reden Adolf Hitlers 1933–1945 . . . . . . . . . . .
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Cord Pagenstecher Interview-Archive zum Nationalsozialismus. Die digitale Erschließung und Analyse von Oral History-Sammlungen am Beispiel des Online-Archivs Zwangsarbeit 1939–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Nationalsozialismus und Rechtsextremismus virtuell und in den sozialen Medien Bernhard Weidinger Neue Medien, alte Ideologie: Zur Nutzung des Internet durch – und seinen Funktionen für – die extreme Rechte am Beispiel Österreich . . . . 119 Karin Liebhart Nationalsozialismus „light“ – visuelle und diskursive Verweise in Social Media Auftritten der Neuen Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Eugen Pfister Spiel ohne Juden – Zur Darstellung des Holocausts in digitalen Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Barbara Schloßbauer Aus der Praxis von Stopline – Online-Meldestelle gegen nationalsozialistische Wiederbetätigung im Internet . . . . . . . . . . . . 177
Zugänge und Fallbeispiele aus der Gedächtnisinstitution Bibliothek Hans-Christoph Hobohm Zensur in der Digitalität – eine Überwindung der Moderne? Die Rolle der Bibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Hermann Rösch Informationsfreiheit versus Strafrecht? Benutzung und Digitalisierung nationalsozialistischer Zeitungen aus ethischer Sicht . . . . . . . . . . . . 205 Markus Stumpf Sinnvoll, angemessen und gerecht? Digitale Wiederveröffentlichung von NS-Schrifttum durch Bibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
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Inhalt
Klaus Ceynowa Problematische Inhalte als Open Data? Das Beispiel des Fotoarchivs Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Thomas Bürger NS-Zeitungen in der Deutschen Digitalen Bibliothek? Über Zugänge zu Propagandaquellen und Hindernisse politischer Bildung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Hans Petschar / Margot Werner / Christian Recht / Christa Müller Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit an der Österreichischen Nationalbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Edwin Klijn Dutch Nazi Heritage Online. Perspectives on How Heritage Institutions Deal with Publishing National Socialist Source Materials on the Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Christoph Hanzig / Martin Käseberg / Thomas Lindenberger / Michael Thoß Tiefenerschließung des „Mustergaus“ Sachsen: Die Datenbank zur Dresdner Tageszeitung Der Freiheitskampf (1930–1945) . . . . . . . . . . 329 Norman Domeier NS-Pressefotos und ihre transatlantische und globale Verbreitung 1942–45. Ein Plädoyer für die Digitalisierung der NS-Presse . . . . . . . . 343 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Kurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
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Geleitwort der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek
Für die Österreichische Nationalbibliothek war und ist ein verantwortungsvoller Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus im Internet ein ganz besonderes Anliegen. Ich freue mich daher sehr, dass es uns gelungen ist, zu diesem brisanten Thema gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien unter der Ägide von Herrn Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb und dem Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte, Herrn Mag. Markus Stumpf, MSc, sowie dem Direktor des Bildarchivs und der Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Dr. Hans Petschar, ein Symposium mit hochkarätigen internationalen Gästen zu organisieren, das im November 2019 in den Räumlichkeiten der Österreichischen Nationalbibliothek am Josefsplatz stattgefunden hat. Ziel des Symposiums war es, Informationen über den Umgang mit dem Nationalsozialismus im Internet auszutauschen, neue Denkansätze kennen zu lernen und Lösungsansätze für ein verantwortungsvolles Handeln zu erarbeiten. Die Beiträge in diesem Band geben ein lebendiges Bild von diesem Austausch. Sie lassen auch bereits beeindruckende neue Erkenntnisse sichtbar werden und zeigen konkrete praktische Umsetzungen der Empfehlungen auf. Seit nunmehr fast 20 Jahren verfolgt die Österreichische Nationalbibliothek das große Ziel, eine möglichst umfassende digitale Bibliothek aufzubauen, um ihre reichhaltigen Bestände einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In diesem Zeitraum wurden 600.000 urheberrechtsfreie Bücher, über 600.000 Bilder, Grafiken und historische Objekte sowie 21 Millionen historische Zeitungsseiten digitalisiert und online gestellt. Für das Thema besonders relevant ist das Zeitungsportal ANNO (AustriaN Newspapers Online, http://anno.onb.ac.at/), das täglich von rund 4.000 LeserInnen besucht wird. Die Österreichische Nationalbibliothek digitalisiert historische Zeitungsbestände mit einer Schutzgrenze von 70 Jahren und stellt diese digital zur Verfügung. Aktuell sind daher Zeitungen bis zum Erscheinungsjahr 1950 online zugänglich. Der Einstieg erfolgt über einen Kalender oder über den
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Geleitwort der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek
Titel der Zeitungen. Die Auswahl der Zeitungen erfolgt durch die Bibliothek unter besonderer Berücksichtigung der Wünsche von BenutzerInnen. Natürlich haben wir uns auch intensiv darüber Gedanken gemacht, wie wir mit den Zeitungsbeständen der Jahre 1938 bis 1945 verfahren sollen, da es gerade zu diesem Zeitraum viele Anfragen von LeserInnen und ForscherInnen gab. Nach Prüfung der Rechtsgrundlage haben wir uns entschlossen, die Zeitungsbestände von 1938 bis 1945 im digitalen Zeitungslesesaal ANNO uneingeschränkt zugänglich zu machen, gleichzeitig aber die Benützungsordnung der Bibliothek, um einen Disclaimer zur Distanzierung von bedenklichen Inhalten zu erweitern. Auf dieser Basis wurden Zeitungsbestände der genannten Jahre in das Zeitungsportal integriert und für die Benützung zur Verfügung gestellt. Insgesamt werden bis Ende 2020 170 Zeitungstitel mit über 50.000 Ausgaben und mehr als einer halben Million Seiten aus dieser Zeit online gestellt, die besonders intensiv genützt werden. Es wurden allerdings technische Vorkehrungen getroffen, um einen Massendownload von Beständen zu verhindern. Dies gilt auch für die Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachters von 1938 bis 1945, die aufgrund von Benutzerwünschen für Forschungszwecke digitalisiert und mit Zusatzinformationen versehen für Zwecke des privaten Studiums sowie für Forschung und Lehre zur Verfügung gestellt wurden (vgl. http://anno.onb.ac .at/info/vob_info.htm). Der vorangestellte Disclaimer dazu lautet: „Der Völkische Beobachter war von 1920 bis zum 30. April 1945 das publizistische Kampfblatt der NSDAP und das Flaggschiff der nationalsozialistischen Propaganda. Die Österreichische Nationalbibliothek distanziert sich ausdrücklich von allen nationalsozialistischen Inhalten und stellt die Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachters 1938–1945 ausschließlich für Zwecke des privaten Studiums sowie für die Forschung und Lehre zur Verfügung. Die Österreichische Nationalbibliothek weist ausdrücklich darauf hin, dass eine missbräuchliche Verwendung dieser Inhalte einen Straftatbestand darstellen kann.“
Gleichzeitig haben wir uns gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien entschlossen, den Umgang mit der NS-Zeit im Internet zum Thema einer breit geführten Diskussion zu machen, in der neben rechtlichen Fragen vor allem auch ethischen Gesichtspunkten ein entsprechender Raum geboten wird. Ich hoffe, dass die aus dem Symposium gewonnenen Erkenntnisse dazu beitragen können, zwei wichtige und nur scheinbar gegenläufige Ziele zu erreichen. Einerseits im Geiste eines verantwortungsbewussten Umgangs mit der Vergangenheit unsere demokratischen Grundwerte zu schützen und andererseits aber auch die Quellen aus der NS-Zeit der Öffentlichkeit und Forschung möglichst lückenlos zugänglich zu machen.
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Geleitwort der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek
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Gerade an der Österreichischen Nationalbibliothek sehen wir dazu eine ganz wesentliche Verpflichtung: Denn die politischen Verstrickungen und die ideologische Vereinnahmung der Nationalbibliothek in der Zeit des Nationalsozialismus waren weitreichend und beschämend. Die Aufarbeitung der NS-Zeit und der Verstrickung der Bibliothek in Schuld und Mittäterschaft erfolgte nach 1945 nur zögerlich. Erst im Jahr 2003 konnte die Österreichische Nationalbibliothek diese Versäumnisse mit der Veröffentlichung eines Provenienzberichtes auf der Grundlage des Kunstrückgabegesetzes von 1998 bereinigen. Über 50.000 unrechtmäßige Erwerbungen der NS-Zeit, die sich zu diesem Zeitpunkt immer noch in der Bibliothek befanden, wurden in diesem Bericht penibel aufgelistet. Sie wurden mittlerweile fast vollständig an die rechtmäßigen ErbInnen bzw. bei erblosen Objekten an den Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus zurückgegeben. Im Lichte derselben Verantwortung der Bibliothek gegenüber jenen, die die NS-Zeit noch miterlebt haben, aber auch gegenüber den nachfolgenden und noch kommenden Generationen, ist auch der Aufbau einer digitalen Bibliothek zu sehen. Dazu hat das Symposium zum Umgang mit dem Nationalsozialismus im Internet einen wichtigen Beitrag geleistet. Auf die erfreuliche Umsetzung einer Empfehlung darf ich abschließend verweisen: Als Gegengewicht zur gleichgeschalteten Presse der NS-Zeit der Jahre 1938 bis 1945 hat die Österreichische Nationalbibliothek 30 österreichische Exilzeitungen und Exilzeitschriften digitalisiert und in ihrem Zeitungsportal ANNO publiziert. Es sind besonders wertvolle Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, aber auch zu den Nöten, zu den Ängsten und zu den Kämpfen der österreichischen EmigrantInnen im Exil. Von nun an sind sie als unverzichtbare zeitgeschichtliche Quellen in ANNO und in unserem neuen Digitalen Lesesaal onb.digital für die Allgemeinheit sichtbar und verfügbar. Wien, im Juni 2020
Dr. Johanna Rachinger Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek
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Begleitwort des Vizerektors für Digitalisierung und Wissenstransfer der Universität Wien
Nationalsozialismus digital – als ich den Tagungstitel das erste Mal sah, lief mir ein Schauer den Rücken hinunter. Die Intention des Untertitels überzeugte mich jedoch sofort und ich sagte spontan zu, Grußworte zur Eröffnung der von der Österreichischen Nationalbibliothek und dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien veranstalteten Enquete zu sprechen. Der Begriff Digitalisierung wird in zwei Ausprägungen verwendet. Im engen Sinne (digitisation) ist der technische Prozess der Konversion analoger Signale in eine digitale Form gemeint, mit dem Information von ihrem physischen Träger entkoppelt und der Speicherung, Verarbeitung und Kommunikation durch Computer zugänglich gemacht wird. In diesem Sinne wird Digitalisierung seit der Erfindung des Computers betrieben und Bibliotheken haben die neuen Möglichkeiten der digitalen Speicherung und des universellen, jederzeitigen Zugangs sehr schnell erkannt und maßgeblich an der Entwicklung und Verbreitung entsprechender Standards, Werkzeuge und Systeme mitgewirkt. Im weiteren Sinne (digitalisation) umfasst die Digitalisierung die vielfältigen und weitreichenden Veränderungen, die mit der Aufnahme und Umsetzung digitaler Innovationen und ihren Wirkungen auf Individuen, Organisationen und die Gesellschaft verbunden sind. Diesem weiteren Sinne – Digitalisierung als digitale Transformation – widmen sich die Beiträge zu dieser Enquête, die in diesem Tagungsband zusammengeführt werden. Die digitale Transformation umfasst dabei den Aufbau organisationaler Ressourcen und Fähigkeiten, hier bei Bibliotheken, Archiven, Museen, Forschungseinrichtungen und Medien, um digitale Innovationen so umsetzen zu können, dass sie das jeweilige Leistungsangebot bereichern. Die digitale Transformation ist allerdings nicht auf die organisationale Ebene beschränkt, sondern entfaltet ihre Wirkung in der Verbreitung der Leistungsangebote dieser Institutionen im „digitalen Ökosystem“ der Bildung, der Wissenschaft und ganz generell im gesellschaftlichen Diskursraum. Mit dem Untertitelzusatz „im Netz“ erfolgt der Hinweis auf das Internet mit seinen prägenden Charakteristiken, etwa der Offenheit, der Nicht-Linearität und
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Begleitwort des Vizerektors für Digitalisierung und Wissenstransfer
der Dynamik. Die Offenheit ermöglicht das unmittelbare Teilen von Inhalten mit der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung – laut internetworldstats.com nutzten mit 30. Juni 2020 mehr als 4,8 der knapp 7,8 Milliarden Menschen das Internet und damit 62 % der Menschheit. Das Merkmal der Nicht-Linearität bezieht sich einerseits darauf, dass nicht nur die Nutzer*innen und ihre Geräte, sondern auch die Inhalte so miteinander vernetzt sind, dass die Interaktionsmuster der Nutzer*innen durch Datenräume nicht vordefiniert sind, sondern sich aus der Anwendung ergeben. Aus dem Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen entstehen für das Internet charakteristische Long Tail-Verteilungen für die Nutzung virtueller Güter. Virtuelle Gemeinschaften und (Bildungs-)Angebote für alle erdenklichen Interessen sind Beispiele für positive, Fake News und Shitstorms für negative Folgen. Die Dynamik des Internets bedeutet, dass viele Menschen und Organisationen mit hoher Kreativität digitale Innovationen weiterentwickeln; sie werden aufgenommen, vielfach wiederverwendet, kombiniert, verändert und neu zusammengesetzt und schaffen so die Basis für neue digitale Innovationen. Mit der breiteren Verfügbarkeit digitaler Technologien durchdringen diese immer stärker ganz generell das Funktionieren und das Zusammenwirken von Organisationen, Sektoren und der Gesellschaft als Ganzes. Die Digitalisierung ist ein universales Phänomen, dem sich die Bibliotheken, Archive, Museen, Forschungseinrichtungen und Medien nicht entziehen, welches sie zugleich kritisch begleiten und aktiv mitgestalten können. Beispielhaft für diese kritisch-konstruktive Haltung sei auf die Ringvorlesung „Digitale Transformationen“ hingewiesen, die im Rahmen des Erweiterungscurriculums „Digitalisierung verstehen und mitgestalten“ an der Universität Wien angeboten und teilweise auch als MOOC (massive open online course) mit dem Titel „Digitales Leben“ auf der Plattform imoox.at zugänglich ist. Grob lassen sich drei Perspektiven des Umgangs mit der Vernetzung unterscheiden, die teilweise komplementär, teilweise konfliktär sind: Connect and Control, also die Nutzung generierter Informationen zur Kontrolle der Vernetzten, Connect and Commerce, eine Vernetzung für den Handel und Wettbewerb, sowie Connect and Care, eine umsichtige Gestaltung digitaler Angebote zum Wohle der Menschen. Vielerorts entstehen Initiativen, die der letzteren Perspektive mehr Raum schenken und für eine den Menschen zugewandte Digitalisierung europäischen Stils eintreten, geprägt von Respekt und Verantwortung gegenüber allen Individuen in ihrer Diversität und der Bewahrung und Erschließung des kulturellen Erbes. Diese Enquête widmet sich dem Spannungsfeld aus dem ermöglichenden Charakter des Internets, durch das Vieles radikal zur Offenheit drängt, und dem verantwortungsvollen Umgang mit höchst problematischen, propagandistischen, verletzenden oder verhetzenden digitalen Inhalten. Sie verhandelt die berechtigten
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Begleitwort des Vizerektors für Digitalisierung und Wissenstransfer
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Interessen nach Offenheit, etwa der Wissenschaft nach möglichst vollständigem Zugang zu forschungsrelevanten Gegenständen einerseits und der Ambition einer umsichtigen Gestaltung digitaler Angebote andererseits, die sich der Gefahren und möglichen unintendierten Wirkungen dieser Angebote bewusst ist. Im günstigen Falle bilden Bibliotheken, Archive, Museen, Forschungseinrichtungen und Medien mit digitalen Angeboten, geeignet kontextualisiert und erklärt, Anlaufpunkte der Orientierung und befördern den Diskurs über den Nationalsozialismus und die damit verbundenen abscheulichen Gräueltaten. Diese Institutionen können zusammen als „Stimmen der Vernunft“ in die Resonanzräume des Internets gegen die Polemik der „Schnellen und Lauten“ wirken, die diese öffentlichen Räume auch zur Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts nutzen. Im vorliegenden Tagungsband wird die kritische, transdisziplinäre Debatte zur zentralen Frage nach dem „richtigen“, das heißt verantwortungsvollen Umgang mit „toxischen“ Inhalten geführt. Sie widmet sich den rechtlichen und ethischen, aber auch organisatorischen, technischen, und gesellschaftlichen Aspekten dieser Frage. Ich wünsche diesem Tagungsband aufmerksame Leser*innen und der Debatte die erforderliche Gestaltungskraft, so dass daraus Impulse für den umsichtigen Umgang mit den Digitalisaten der NS-Zeit erwachsen. Wien, im Juli 2020
Univ.-Prof. Dr. Ronald Maier Vizerektor für Digitalisierung und Wissenstransfer der Universität Wien
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Grußworte am Eröffnungsabend aus dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung
Ich freue mich, eingeladen worden zu sein, die vor uns liegende Tagung zu eröffnen und auch daran teilnehmen zu dürfen. Eine Tagung, die sich einem – gerade speziell für Österreich – imminent wichtigen Thema widmet. Mir fällt dazu spontan „noch immer“ und „schon wieder“ ein. Wobei die beiden Aspekte vermutlich einander bedingen und daher so eng miteinander verschmolzen sind, dass man sie nicht trennen kann. In der Vergangenheit hatten wir die Sichtweise, dass das Narrativ der Gräuel, die man der jüdischen Bevölkerung angetan hat, ausreicht, um Nationalsozialismus für immer verschwinden zu lassen. Leider haben wir uns geirrt! Die Erzählungen, die Bilder, die Besuche in den Gedenkstätten reichen nicht aus. Weil sie offenbar in der Bildsprache soweit vom Heute entfernt sind, dass sie die jungen Menschen nur als historische Grauenhaftigkeit erreichen. Sie haben offenbar Schwierigkeiten diese Situationen ins Heute zu übersetzen und die Parallelen zu sehen. Es geht meines Erachtens darum, eine Sensibilität zu schaffen, was heute passiert und was das mit der Vergangenheit zu tun hat. Wie wird die Flüchtlingsbewegung rezipiert? Wie werden die Menschen heute attribuiert und wie ist das im Nationalsozialismus passiert? Mit welchen Eigenschaften werden heute Menschen islamischen Glaubens versehen und welche Parallelen gibt es zu den damaligen Attribuierungen der Menschen jüdischen Glaubens? Das Wichtige ist, einen Gegenwartsbezug der Ereignisse von damals zu jenen von heute herzustellen. Es ist allerdings auch erstaunlich, was alles in aller Öffentlichkeit passieren kann ohne ein Einschreiten der Behörden. Ich denke, Sie kennen die Beispiele alle und diese Widerlichkeiten möchte ich hier nicht anführen. Wir reden in Österreich gerne vom Kulturerbe, darüber wie sehr wir uns jenen Kunstschätzen verpflichtet fühlen sollten, die unsere Vorfahren geschaffen haben, ganz gleich wie sehr auch bei diesem Thema die appellative und die handelnde Ebene auseinanderklaffen mögen. Speziell wir Österreicherinnen und Österreicher haben aber auch ein Erbe der Geschichte. Da gibt es schöne, ruhmvolle aber auch
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Grußworte am Eröffnungsabend
grauenhafte, entsetzliche Ereignisse. Es ist unsere Pflicht, uns auch diesem Erbe zu stellen. Die Digitalisierung und das Internet führen zu Vernetzung und dem Austausch von Wissen, Daten, Musik, Kunst und Politik jedoch auch zu Zwietracht und Hass und sogenannten „alternativen Fakten“. In diesem Bereich erscheinen die sozialen Medien zunächst als modern und harmlos, ohne den hohen Grad der darin betriebenen Indoktrination zu bedenken. Das funktioniert deshalb so gut, weil viele Menschen sich nur mehr dieses Mediums bedienen und über die „Nudging“-Funktionen nur mehr eine Meinung, eine Sichtweise präsentiert bekommen. Es kommt uns allen eine besondere Verantwortung zu, darauf zu achten, dass unser antifaschistischer, demokratischer Grundkonsens nicht zu sehr unter Druck gerät. Diesen müssen wir verteidigen! Wieviel Blut ist in Europa geflossen, bis sich endlich die Sichtweise durchgesetzt hat, dass man über Probleme und Meinungsverschiedenheiten so lange reden muss, bis ein Konsens geschaffen wird. Dafür sind die alle uns bekannten Konsensbildungsmechanismen erschaffen worden. Demokratie kann ermüdend sein, aber sie ist nachhaltig – Hass und Unterdrückung sind es nicht. Jede ungerechte Behandlung hat klarerweise Auswirkungen auf das Opfer aber auch auf den Täter/die Täterin. Wir waren auch Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus und erst langsam und zaghaft begann sich das öffentliche Leben den Taten zu stellen. Erst dadurch können wir als die Erben der Täterinnen und Täter mit den Erben der Opfer einen Ausgleich verhandeln, was dazu führt, dass uns die Geschichte nicht mehr ständig einholt! Diese Tagung beschäftigt sich allerdings – und das ist gut so – nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart und Zukunft, nicht nur mit Österreich, sondern auch mit den Vernetzungen des Nationalsozialismus auf der Welt! Und daher mit mitunter völlig anderen Erscheinungsbildern. Jetzt gilt es einen Beitrag dazu leisten, die Verbreitung faschistischen, nationalsozialistischen Gedankenguts zu verhindern oder wenigstens zu erschweren. Ich wünsche uns allen eine angenehme Tagung und interessante Beratungen und Diskussionen. MinR Dr. Peter Seitz Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung
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Zu diesem Buch
Die digitale Revolution hat auch für die Zeitgeschichtsforschung ungeahnte Möglichkeiten geschaffen. Immer mehr – leider häufig kostenpflichtige – Datenbanken, aber auch Open Access Quellensammlungen wie die Online-Zeitungs- und Zeitschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (ANNO) haben den durchsuchbaren Quellenkorpus weltweit so ausgeweitet, dass es inzwischen neuer Methoden des qualitativen Text-Minings bedarf, um nicht in dieser Menge an Material unterzugehen. Neben dieser positiven Folge der Volltexterfassung, die auch zunehmend via Google Books und andere Institutionen wie Digital Archives weitere wichtige Sekundärliteratur in kürzester Zeit und bequem am Laptop zu Hause durchsuchbar machen, gibt es aber auch eine negative Entwicklung: Das World Wide Web wird zur größten Sammlung und Austauschbörse für antisemitische und xenophobe Darstellungen und Diskussionsforen, wo sich Weltverschwörungstheorien mit massiver gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit immer mehr ausbreiten. Daher sind bei der Veröffentlichung von Materialien aus der Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes besondere Kuratierung und Kontextualisierungen – sowohl aus dem Blickpunkt der politischen Bildung als auch aus rechtlicher Sicht – erforderlich. Markus Stumpf und Oliver Rathkolb haben im Rahmen des Projekts Forschungsplattform „Gaupresse“-Archiv Wien1 der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte und des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien die rechtlichen Rahmenbedingungen von Rechtsanwalt Mag. Michael Pilz prüfen lassen, da nationalsozialistische Propagandamaterialien und Reden der Wiener Gauleiter Josef Bürckel und Baldur von Schirach sowohl als Volltext als auch in Faksimile als Zeitungsausschnitt oder Redemanuskript zur Verfügung gestellt wurden. Rechtsanwalt Pilz analysierte daher die Auswirkungen des Verbotsgesetzes auf 1 Forschungsplattform „Gaupresse“-Archiv Wien, URL: https://www.ns-pressearchiv.at/projekt beschreibung (aufgerufen am 25. Mai 2021).
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derartige Publikationsvorhaben: „Das Verbotsgesetz (VG) verbietet in strafrechtlich pönalisierter Weise jede Form der Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinne, insbesondere auch durch Verbreiten von Schriften zur Verherrlichung der NSDAP und ihrer Einrichtungen (§ 3 d VG) oder der sonstigen Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinne (Auffangtatbestand des § 3 g VG). Nach § 3 h VG wird auch bestraft, wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder wer sonst öffentlich auf eine Weise, dass es vielen Menschen zugänglich wird, den nationalsozialistischen Völkermord oder andere nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost, gutheißt oder zu rechtfertigen sucht.“2 Seine Expertise war eindeutig und fungierte auch als Leitlinie für dieses Projekt: „Das Onlinestellen des Gaupressearchivs stellt keine strafrechtlich relevante Handlung im Sinne des Verbotsgesetzes dar, da die Intention der Veröffentlichung nicht auf die Wiederherstellung der NS-Herrschaft abzielt. Um jeden Zweifel auszuschließen, aber auch um eine verwaltungsstrafrechtliche Verantwortung mit Sicherheit zu vermeiden, empfehlen wir, die Intention der Veröffentlichung und die klare Abgrenzung von den Zielen und Inhalten des NSRegimes auch in geeigneter Weise im Rahmen der angebotenen Website zu dokumentieren und ersichtlich zu machen.“3 Im Rahmen der dreitägigen internationalen Tagung unter dem Titel „Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS-Zeit im Netz“, die die Österreichische Nationalbibliothek und das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien von 27.–29. November 2019 veranstaltet hat, sollten diese und vergleichbare Aspekte, die auch Urheberrechtsfragen thematisierten, umfassend diskutiert werden. Dabei wurden weitere rechtliche Fragestellungen durch zahlreiche auch föderale Archivgesetze, die neue EU-Datenschutzgrundverordnung u. a. ebenso diskutiert. In wie weit es möglich und sinnvoll ist mittels neuer Technologien die wissenschaftliche Kontextualisierung des NS-Propagandamaterials umzusetzen, ist ebenfalls noch ein offener Diskussionspunkt. Dabei standen auch internationale Projekte wie die Edition der Reden Adolf Hitlers, die am Institut für Zeitgeschichte in München bearbeitet werden, ebenso zur Diskussion wie Internetprojekte zur niederländischen Geschichte, mit dem Onlinestellen der Nazi-Propagandazeitschrift Signaal. Immer wieder spielten bei konkreten Archiv- und Dokumentationsbeispielen Fragen wie Bild- und Nutzungsrechte eine besondere Rolle. Spezifische Fragen der Auseinandersetzung mit audiovisuellen Artefakten und Quellen aus der NS2 Schreiben von Michael Pilz an Oliver Rathkolb, 01. 04. 2016. 3 Ebd.
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Zeit und deren digitale Präsentation bzw. missbräuchliche Verwendung durch Rechtsextremisten zeigten die Notwendigkeit einer internationalen Diskussion vor dem Hintergrund der breiten Aktivitäten von radikalen Gruppierungen im Internet. Während Facebook und WhatsApp aufgrund ihrer Zensurmaßnahmen nicht mehr durchlässig genug seien, bieten russische Angebote wie vk.com und der Messenger-Dienst Telegram Ausweichmöglichkeiten für neonazistische Betätigung. Im Zentrum der Schlussdiskussion stand die Frage nach Digital Ethics beim Umgang mit NS-Propaganda-Medien im Raum, wobei es beispielsweise zusätzliche rechtliche Rahmenbedingungen wie das Strafrecht, das Urheberrecht und den Jugendschutz gibt. Mehrfach wurde die Notwendigkeit des freien Zugangs zu Medien mit höchst problematischen Inhalten aus der nationalsozialistischen Zeit betont, aber zugleich auch die Wichtigkeit, dem Rezipienten und der Rezipientin Möglichkeiten der sprach- und bildkritischen Auswertung und Benützung zu geben. Der Ruf nach umfassender Medienkompetenz wurde in diesem Zusammenhang immer wieder laut, ebenso wie nach einem Ethikcode für Bibliotheken und Museen in Bezug auf den Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe. Wichtig ist es aber ebenso, umfassende Informationsmaterialsammlungen der Gegner des nationalsozialistischen Unrechtsregimes zu digitalisieren, um auch andere Inhalte und kritische Sichtweisen zugänglich und im Volltext durchsuchbar zu machen. Dies betrifft beispielsweise die deutschsprachigen ExilZeitschriften und -Zeitungen, aber wäre auch durch einen stärkeren Verbund mit der Presse- der Anti-Hitler-Koalition machbar Eine derartige internationale Interaktion fehlt. In diesem Sinne steht die Digitalisierung für den Zeitraum 1933–1939–1945 erst am Beginn und ist nach wie vor auf enge nationale Grenzen beschränkt, obwohl die digitalen Übersetzungsprogramme hier völlig neue Möglichkeiten bieten würden. Selbst in der EU fehlen nach interessanten ersten Versuchen zum Aufbau einer digitalen europäischen Bibliothek mit europeana.eu/de adäquate Ansätze um auch das Angebot der nicht-nationalsozialistischen Presse im digitalen Raum auszubauen. Auch fehlt es an einem Ansatz für einen freien Zugang zu der bereits erfolgten wissenschaftlichen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Wien, im Mai 2021
Markus Stumpf, Hans Petschar und Oliver Rathkolb
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Zugänge und Fallbeispiele aus den Gedächtnisinstitutionen Museum und Archiv
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Hans Walter Hütter
Objekte der Diktatur. Der Nationalsozialismus in musealen Zeugnissen
Zusammenfassung Der digitale Wandel hat auch die internationale Museumslandschaft erfasst. In allen Arbeitsbereichen – vom Sammeln und Bewahren über das Forschen bis zum Vermitteln und Ausstellen – eröffnen sich neue Perspektiven und stellen sich neue Herausforderungen: So macht es die moderne Datentechnik möglich, umfangreichste Sammlungsbestände in digitaler Form einem weltweiten Publikum zugänglich zu machen. Ihre Aussagekraft entfalten die historischen Objekte aber erst im Zusammenhang. Diesen herzustellen liegt in der Verantwortung der Museen – umso mehr, wenn es sich um materielle Zeugnisse von Unrecht, Diktatur und Verbrechen handelt. Werden die Exponate kontextualisiert und zueinander in Beziehung gesetzt, vergegenwärtigen sie vergangene Ereignisse und regen zur Reflexion an. Schlagwörter Museum, Objekt, Digitalisierung, Kontextualisierung Abstract Exhibits of Dictatorship. National Socialism on Display The digital revolution has arrived in the international museum world. Digitalization opens new perspectives and poses new challenges in all areas of museum work. Modern data technology makes it possible for a worldwide public to access the most comprehensive of collections. The significance of historical objects is, however, best understood in context. Creating this context is the responsibility of museums – all the more when dealing with material culture related to injustice, dictatorship and crime. Objects that are put into context and displayed in relation to one another make past events come to life and encourage historical thinking. Keywords Museum, Object, Digitalization, Contextualization
Hans Walter Hütter, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, E-Mail: [email protected]
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Hans Walter Hütter
Die Digitalisierung ist eine unabdingbare Aufgabe in der Gegenwart und für die Zukunft. Nicht zuletzt hat die „Corona-Krise“ im Frühsommer 2020 vielen vor Augen geführt, welche Herausforderungen, aber auch Perspektiven sich durch den digitalen Wandel ergeben. Dieser hat schon weit vor der Corona-Pandemie auch die internationale Museumslandschaft erfasst. Längst müssen sich museale Einrichtungen den Entwicklungen stellen und den digitalen Wandel aktiv gestalten. Das bedeutet vor allem, eine kompetente und reflektierte digitale Praxis auszubilden, um analoge und digitale Angebote möglichst nahtlos miteinander zu einem Gesamtbild zu verknüpfen. Dabei stellt sich diese Aufgabe in allen musealen Arbeitsbereichen: vom Ausstellen und Vermitteln über das Forschen bis zum Sammeln und Bewahren. Die moderne Datentechnik ermöglicht heute, umfangreiche Sammlungsbestände in digitaler Form einem weltweiten Publikum zugänglich zu machen. Ihre Aussagekraft entfalten historische Objekte allerdings erst im Präsentationszusammenhang. Diesen herzustellen, liegt in der Verantwortung der Museen – umso mehr, wenn es sich um materielle Zeugnisse von Unrecht, Diktatur und Verbrechen handelt. Werden die Exponate kontextualisiert und zueinander in Beziehung gesetzt, können sie vergangene Ereignisse vergegenwärtigen und zur Reflexion anregen. Anhand der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird dies im Folgenden beispielhaft verdeutlicht.
Digitalstrategie im Museum am Beispiel der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Museen in Bonn, Leipzig und Berlin hat bereits früh auf die Veränderungen durch den digitalen Wandel reagiert. In den vergangenen Jahren hat sie eine Digitalisierungsstrategie erarbeitet und umgesetzt, die kontinuierlich weiterentwickelt wird. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen seit dem Frühjahr 2020 wird die digitale Praxis eine weitere Dynamisierung erleben. Grundlegend für die erfolgreiche Digitalstrategie in der Stiftung Haus der Geschichte war die Einrichtung einer Fachabteilung „Digitale Dienste“ im Jahr 2017. In ihr wurden alle Aufgabenbereiche der Stiftung zusammengefasst, die sich mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen. In der Abteilung ist sowohl die IT-Servertechnik wie auch der gesamte Service für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung wie auch für die Besucherinnen und Besucher zusammengefasst: Dazu gehören die Entwicklung und Wartung der stiftungseigenen Homepage, der Einsatz von audiovisuellen Medien in den Ausstellungen, die
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Objekte der Diktatur. Der Nationalsozialismus in musealen Zeugnissen
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Betreuung der Online-Datenbanken wie auch die Redaktion für Online-Dienste und Social-Media. Den historischen Datenbanken Lebendiges Museum Online (LeMO, https://www.dhm.de/lemo/) und Sammlungen im Internet (SINT, https:// sint.hdg.de/) kommt besondere Bedeutung zu. Aktuell wird das Zeitzeugenportal, in dem bereits mehr als 1.000 Beiträge von Zeitzeugeninterviews abrufbar sind, fortentwickelt und aktualisiert. Gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) arbeitet die Stiftung derzeit an intelligenten Lösungen für die Transkription von Zeitzeugeninterviews unter Berücksichtigung emotionaler Zugänge. Dieses innovative Projekt wird im Rahmen der Erforschung der künstlichen Intelligenz (KI) von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien großzügig finanziell unterstützt. Die Online-Angebote der Stiftung, wie die verschiedenen Homepages, Newsletter, Audioguides und Social-Media-Kanäle, wurden im März 2020 2,5 Millionen Mal besucht. In der Phase der Schließung der Museen während der „CoronaKrise“ stiegen die Zugriffe erneut erheblich. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die Ausstellungen und übrigen Angebote der Museen nicht persönlich wahrgenommen werden können. Andererseits lässt sich diese Steigerung aber auch mit den zusätzlichen, in dieser besonderen Situation entwickelten und angebotenen Online-Produkten erklären. So wurden beispielsweise unter den Hashtags „GeschichteFürZuhause“ und „GeschlossenAberAktiv“ vermehrt Beiträge zu Objekten und aus den Ausstellungen auf Instagram, Twitter und Facebook gepostet. Außerdem wurde ein wöchentlicher Podcast produziert, bei dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Objekte aus den Ausstellungen näher vorstellen.
Aufgabenfelder der Digitalisierung im Museum Digitalisierung im Museum bedeutet zum Ersten, unsere eigene interne Arbeit digital zu organisieren: Hierbei ist etwa an die hausinterne Datenbank zur Objektverwaltung zu denken. Kern dieser digitalen Strategie ist das vor mehr als einem Jahrzehnt entwickelte Integrierte Museumsmanagementsystem (IMS). Anfang 2020 wurde es vollständig überarbeitet und ist derzeit in umfangreicher Vernetzung in der fünften Version in Betrieb. Dazu gehört auch das mobile Arbeiten, dass den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor allem während der „Corona-Krise“ die Arbeit im Homeoffice ermöglichte. Digitalisierung im Museum bedeutet zum zweiten, digitale Angebote auch für externe Nutzerinnen und Nutzern bereit zu stellen, für Besucherinnen und Besucher, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Geschichtsinteressierte und viele andere. Denn zu den Aufgaben des Museums als moderne zeitgemäße
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Gedächtnisorganisation gehört nicht nur, die Bestände in Depots sicher aufzubewahren und sie von Zeit zu Zeit in Ausstellungen der Öffentlichkeit zu präsentieren, sondern dazu zählt ebenso, sie in digitalisierter Form jederzeit zugänglich zu machen. Die gesamten Bestände zu digitalisieren und der interessierten Öffentlichkeit im Netz bereit zu stellen, ist eine Aufgabe von besonderer Herausforderung. Nur die wenigsten Häuser, zumal die traditionsreichen und großen mit umfangreichen Sammlungen, können dies in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen leisten. Ohne zusätzlichen personellen, finanziellen und technischen Aufwand können daher bei weitem nicht alle Häuser online recherchierbare Sammlungsdatenbanken anbieten. Über die Homepage der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kann derzeit auf rund 80.000 Objekte zugegriffen werden, die umfänglich dokumentiert und immer auch mit einem Foto abgebildet sind. Neben den technischen, finanziellen und personellen Engpässen ist allerdings insbesondere bei zeithistorischen Sammlungen die Rechtsproblematik zu beachten. Bei vielen Objekten, Dokumenten und Fotos ist die Urheberschaft nicht eindeutig zu definieren, so dass der Präsentation jüngerer Museumsobjekte im Netz hierdurch Grenzen gesetzt sind. Zahlreiche Versuche in den vergangenen Jahren, in diesem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen sind bislang aus verschiedenen Gründen gescheitert. Eine Lösung, die Bibliotheken zumindest bei unklaren Rechtsverhältnissen Straffreiheit gewährt, gibt es für die Museen derzeit nicht. Hier bleibt den Museen und deren Verbänden eine wichtige Aufgabe, um diesen Gedächtniseinrichtungen eine umfängliche Mitwirkung an großen Datenbanken – zum Beispiel der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) oder der Europeana – zu ermöglichen. Diesen Überlegungen wären zahlreiche Facetten hinzuzufügen, die jedoch den Rahmen sprengen würden. Im Folgenden soll der Blick nun gelenkt werden auf den konkreten Umgang mit Objekten im Netz.
Objekte der Diktatur und ihre Präsentation Originale, Objekte, Dokumente und Fotos aus der Zeit des Nationalsozialismus, die den Schwerpunkt der nachfolgenden Überlegungen ausmachen, sind notwendigerweise immer analog. Sie sind also keine sogenannten digital born objects. Hingegen können Devotionalien zum Thema Nationalsozialismus, die in der Gegenwart angefertigt werden, durchaus digital sein. Diese Produkte stehen jedoch hier nicht im Mittelpunkt.
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Die Digitalisate analoger Objekte aus der Zeit des Nationalsozialismus dienen als Hilfsmittel, um der Aufgabe der Museen gerecht zu werden, das materielle Erbe einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Bereitstellung von Sammlungsbeständen in digitalisierter Form erfolgt auf der Basis substantieller Rahmenbedingungen: Zu entscheiden ist etwa, welche Digitalisate welchem Nutzerkreis zugänglich gemacht werden sollen. Auch hier ist zu unterscheiden zwischen interner und externer Nutzung. Während die interne Objektdatenbank idealerweise die kompletten Sammlungsbestände mit allen relevanten Informationen zum jeweiligen Objekt verzeichnen soll, gelten für die externe, öffentlich zugängliche Objektpräsentation im Internet andere einschränkende Kriterien. Zunächst sind, wie bereits oben dargelegt, urheberrechtliche Fragen zu beachten. Zweitens sind in der öffentlichen Datenbank deutlich weniger Daten als in der internen zu verzeichnen. So sind dort etwa keine personenbezogenen Daten zur Herkunft des Objektes abrufbar. Drittens sind, insbesondere bei Digitalisaten von Objekten, Dokumenten und Fotos aus der Zeit des Nationalsozialismus, weitere rechtliche Rahmenbedingungen zu beachten. Die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wird nach dem deutschen Strafrecht gemäß § 86 Strafgesetzbuch geahndet, der das „Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen“ beinhaltet.1 Dies betrifft Symbole ehemaliger nationalsozialistischer Vereinigungen: also etwa die Verwendung des Hakenkreuzes oder von Parolen wie „Heil Hitler“, „Sieg Heil“ oder „Meine Ehre heißt Treue“. Strafbar ist sowohl die Verbreitung derartiger Zeichen wie auch deren öffentliche Verwendung.2 Und dennoch finden sich sowohl in den Ausstellungen der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als auch in den öffentlichen OnlineDatenbanken Objekte, wie die Reichskriegsflagge des Kriegsschiffs Erich Steinbrinck, die nationalsozialistische Symbole zeigt. Möglich wird diese Präsentation, da zum Zwecke der „staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der
1 § 86 StGB, Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen. In: Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 3. März 2020 (BGBl. I S. 431) geändert worden ist, Dritter Teil: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, online unter http://www.gesetze -im-internet.de/stgb/__86.html (abgerufen am 06. 05. 2020). 2 § 86a StGB, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. In: ebd., online unter http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__86a.html (abgerufen am 06. 05. 2020).
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Geschichte“, die genannten Kennzeichen verwendet und abgebildet werden dürfen.3 Große Bedeutung bei der Präsentation von Objekten im Netz kommt auch den Sozialen Medien zu. Die Stiftung Haus der Geschichte betreibt die gängigen Social-Media-Kanäle – von Twitter und Instagram über Facebook und YouTube. Dort werden fast täglich Bilder von Objekten aus den Ausstellungen und Sammlungen gepostet und damit ebenso Digitalisate der Objekte ins Netz gestellt. So teilte die Stiftung beispielsweise anlässlich des 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 2020 regelmäßig Objekte zu diesem Thema mit der Online-Gemeinde, auch hier mit den nötigen Hintergrundinformationen und Kontextualisierungen.
Verantwortungsvoller Umgang mit Digitalisaten aus dem Nationalsozialismus Auf dieser Basis stellt sich die Frage, wie Museen mit Objekten, Dokumenten und Fotos aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur im Netz umgehen, um zu verhindern, dass Digitalisate in falsche Hände geraten. Bei der Stiftung Haus der Geschichte gilt grundsätzlich: Objekte aus dem Nationalsozialismus werden genauso behandelt, wie alle anderen in den Sammlungen der Stiftung. Für sie gelten dieselben Ansprüche, die stets bei der Objektpräsentation angelegt werden, sei es in analogen Ausstellungen, in Printpublikationen oder in digitalen Verwendungszusammenhängen. Dieser Anspruch besteht vor allem darin, dass diese Objekte, Dokumente und Fotos nicht allein stehen sollen, sondern immer kontextualisiert präsentiert werden. Sie werden stets eingeordnet in ihr historisches, politisches und gesellschaftliches Umfeld. Erst eine Einbettung in ihren Entstehungs- und Verwendungszusammenhang ermöglicht das Verständnis und die vertiefte Auseinandersetzung. Dieser Anspruch gilt ebenso für die Präsentation im Netz, denn Objekte aus verbrecherischen Systemen sollen nicht in den „Giftschrank“ weggesperrt werden. Aber sie erfordern zweifelsohne besonderes Fingerspitzengefühl und eine Beurteilung nach ethischen und moralischen Kriterien. „Kriterien“ sind in diesem Sinne keine allgemeinen Richtlinien, die wie ein Raster über jedes Objekt dieser Herkunft anzulegen sind. Vielmehr müssen etwa bei Objekten, die von Verbrechen und menschlichem Leid zeugen, von Fall zu Fall individuell Entscheidungen gefällt werden. In jedem Einzelfall ist zu fragen, ob die Präsentation 3 Siehe § 86 StGB, Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Abs. 3. In: ebd., online unter http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__86.html (abgerufen am 06. 05. 2020).
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Objekte der Diktatur. Der Nationalsozialismus in musealen Zeugnissen
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– sei es analog oder digital – im Sinne der Vermittlung ist. Auch online soll ein Objekt nie ohne Erläuterung, nie ohne Kontext stehen, sondern mindestens mit Schlagworten sowie mit erläuternden Sätzen versehen sein. Das sind die Mindestanforderungen, die an die Online-Präsentation von Objekten im Allgemeinen, in besonderer Weise jedoch von Überresten aus verbrecherischen Systemen und damit auch an den Nationalsozialismus zu stellen sind. Noch besser ist es, Objekte in eine digitale Datenbank, wie das Lebendige Museum Online, einzubetten. Dieses digitalbasierte Geschichtsportal, das die Stiftung Haus der Geschichte gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und dem Bundesarchiv in Koblenz betreibt, erfüllt den hohen Anspruch, den wir an die Präsentation von Objekten im Netz stellen. Hier wird stets Geschichte erzählt und Objekte werden immer in einem größeren Kontext präsentiert. Die Hintergrundinformationen sind immer auch mit Schlagworten zu verwandten Themen verknüpft, die zur weiteren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einladen. Auch in den Sozialen Medien werden Beiträge nie ohne die nötigen Kontexte verbreitet. Die Besonderheit ist hier, dass die Stiftung sofort auf mögliche Fragen und Anregungen, aber auch auf Angriffe und Falschaussagen reagieren kann. Sie steht in direktem Kontakt mit der Online-Community. Dies ist umso wichtiger, da die Stiftung vermehrt rechte Hetze auch in Bezug auf ihre eigenen Posts beobachtet. Um darauf angemessen reagieren zu können, hat die Stiftung u. a. einen internen Social-Media-Management-Leitfaden entwickelt und sich in Workshops mit anderen Institutionen darüber ausgetauscht.
Missbrauch verhindern Dennoch ist nicht zu verhindern, dass die Abbildung eines Objekts im Internet zu zweifelhaften, eventuell auch strafrechtlich zu ahndenden Zwecken missbraucht wird. Abbildungen mit verfassungsfeindlichen Inhalten können zwar mit Wasserzeichen o. ä. versehen werden, so wie es etwa in den Online-Objektdatenbanken der Stiftung Haus der Geschichte geschieht. Diese Maßnahme erschwert zumindest die zweifelhafte Verbreitung im Internet. Ein Kontext kann mitgeliefert und Zusammenhänge erklärt werden, um der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre zu dienen. Am Ende können Museen und andere Institutionen aber nicht vollkommen unterbinden, dass von ihnen zur Verfügung gestellte Digitalisate aus Museumssammlungen und Ausstellungen ohne die mitgelieferten Kontexte weiterverwendet oder gar in sachfremde Zusammenhänge gesetzt werden.
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Dazu müsste von einer öffentlichen Präsentation abgesehen werden. Doch ist dies keine Lösung, auch nicht im Falle von Objekten, Dokumenten und Fotos mit nationalsozialistischen Inhalten. Ohnehin – und dies ist nicht gering zu schätzen – wird das Bild des Nationalsozialismus im Internet viel stärker geprägt von anderen Playern als von Museen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Online-Spiele, YouTube-Kanäle oder Suchportale liefern unkontrollierbare Bilderfluten und virtuelle Welten, deren Inhalte kaum beherrschbar sind, auf keinen Fall von den Museen.
Fazit Historische Museen haben die Aufgabe und die Verantwortung, ihre Sammlungen und Objekte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, auch jene, die politische Ideologie, Leid und Verbrechen dokumentieren. Die Digitalisierung von Objekten und ihre Präsenz im Netz ist dabei eine zeitgemäße Lösung, über die traditionellen analogen Präsentationen hinaus Menschen in großem Umfang zu erreichen. Institutionen, die Digitalisate dieser Art online stellen, können de facto nicht verhindern, dass die Angebote für Zwecke und Ziele verwendet werden, die ausdrücklich nicht intendiert sind. Um Missbrauch vorzubeugen, können die präsentierten Objekte, Dokumente und Fotos mit Hintergrundinformationen und entsprechenden Kontexten erläutert werden. Zudem müssen Erläuterungen nach wissenschaftlichen Kriterien verfasst und überprüfbar sein. Insbesondere bei Relikten aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur sind besondere Sensibilität, hinreichende Kontextualisierung und Kommentierung unumgänglich notwendig!
Literatur Reinhard Bernbeck: Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte. Bielefeld: Transcript Verlag 2017. Gegen den Stand der Dinge. Objekte in Museen und Ausstellungen. Hg von Martina Grießer, Christine Haupt-Stummer, Renate Höllwart, Beatrice Jaschke, Monika Sommer, Nora Sternfeld, Luisa Ziaja. Berlin: De Gruyter 2016. Peter Haber: Digital Past. Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter. Oldenburg: München 2011. Digital Humanities. Eine Einführung. Hg. von Fotis Jannidis, Hubertus Kohle, Malte Rehbein. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017. Hier „Digitale Objekte“, S. 179–252. Simone Mergen: Digitale Medien in der Kulturvermittlung. In: Das erweiterte Museum. Medien. Technologie und Internet. Hg. von Sybille Greisinger, Regina Franken-Wen-
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delstorf, Christof Flügel, Christian Gries, Barbara Kappelmayr. Berlin, München: Deutscher Kunstverlag 2019 (= MuseumsBausteine, 19), S. 17–28. Hubertus Kohle: Museen digital. Eine Gedächtnisinstitution sucht den Anschluss an die Zukunft. Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2018. [digital publiziert bei HEIDELBERG UNIVERSITY PUBLISHING, DOI: https://doi.org/10.17885/heiup.365.5 15]. Katja Müller: Digitale Objekte – subjektive Materie. Zur Materialität digitalisierter Objekte in Museum und Archiv. In: Dinge als Herausforderung. Kontexte, Umgangsweisen und Umwertungen von Objekten. Hg. von Hans Peter Hahn, Friedemann Neumann. Bielefeld: Transcript Verlag 2018, S. 49–66. Ruth Rosenberger: Digitale Dienste im Museum. Strategie, Praxis und Struktur am Beispiel der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In: Museumskunde 84 (2019), S. 48–52. Anja Wohlfromm: Museum als Medium – Neue Medien in Museen. Überlegungen zu Strategien kultureller Repräsentation und ihre Beeinflussung durch digitale Medien. 2. Aufl. Köln: Halem 2005.
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Stefan Benedik / Monika Sommer1
Ein neues Zeitgeschichte-Museum: Bedingungen und Chancen einer transmedialen Vermittlung von NS-Geschichte
Zusammenfassung Seit dem Beginn der Musealisierung von NS-Geschichte ist der Widerspruch zwischen einer oft ungebrochenen Verlängerung von Ideologie und Propaganda in (materiellen wie virtuellen) Ausstellungen und einem teils aus politischer Vorsicht intransparenten Umgang mit gesammelten Objekten, die einen NS-Bezug aufweisen, charakteristisch. Das 2018 eröffnete Haus der Geschichte Österreich profitiert von einer Veränderung im Umgang mit solchen Fragen und greift als Museum des 21. Jahrhunderts die kritische Diskussion zur musealen Präsentation von Propaganda- und Gewaltobjekten auf. Der Beitrag reflektiert außerdem über den Aufbau einer Sammlung, in der Schenkungen von Objekten mit NSBezug großes Gewicht haben und skizziert Erfahrungen aus Projekten, die den materiellen und virtuellen Museumsraum verbinden und dem Ausstellungsformat der wachsenden Webausstellungen, die BesucherInnen eine unmittelbar eingreifende Rolle geben. Schlagwörter Museologie, NS-Geschichte, Österreich, Ausstellungen, Digitale Geschichtsvermittlung, Public History Abstract A New Museum of Contemporary History: Prerequisits and Opportunities of Communicating a History of National Socialist Rule across Media Boundaries The ways in which museums dealt with the history of National Socialism have been shaped by a contradiction: While in material as well as virtual exhibitions, curators and designers often perpetuated messages of violence and propaganda inherent in objects related to National Socialism, collections of the same objects are often hardly accessible – out of caution, as museums argue. The 2018 opened national museum of contemporary history in Austria, called House of Austrian History, profited from a recent shift of paradigms, and is thereby enabled to represent objects of propaganda and violence differently – as a museum of the 21st century. This paper reflects on that and, additionally, on the emerging collection, Stefan Benedik, Haus der Geschichte Österreich, E-Mail: [email protected], ORCID iD: https://orcid.org/0000-0003-3746-619X; Monika Sommer, Haus der Geschichte Österreich, E-Mail: [email protected] 1 Wir bedanken uns sehr herzlich bei allen LektorInnen und ReviewerInnen dieses Textes und besonders bei unserer Kollegin Tanja Jenni, die wichtige Inputs zu diesem Beitrag gegeben hat.
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Stefan Benedik / Monika Sommer
which features many objects related to the history of National Socialism. Finally, the authors relate their experiences in connecting material and virtual exhibition spaces. They suggest exhibitions of user generated content (UGC) which conceive of visitors as active participants with the agency to change how history is re-presented. Keywords Museology, History of National Socialism, Austria, Exhibitions, Digital Museology, Public History
Das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) ist ein zeitgeschichtliches Museum im Verbund der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB), das im November 2018 nach einer jahrzehntelangen Diskussion und einer sehr kurzen Gründungszeit von 18 Monaten mit seiner Hauptausstellung über das jüngste österreichische Jahrhundert2 eröffnet wurde. Wichtige Grundlagenarbeit für die inhaltliche Ausrichtung leistete ein 31-köpfiger internationaler wissenschaftlicher Beirat unter der Leitung des Wiener Zeithistorikers Oliver Rathkolb.3 Im entsprechenden Bundesmuseumsgesetz ist das Museum als ein „Diskussionsforum“ definiert, das heißt, dass die Institution auf diskursive und prozessorientierte Arbeit hin ausgerichtet ist, was sich konsequenterweise auch in einem hohen Stellenwert inklusive entsprechendem Ressourceneinsatz für die personale Kulturvermittlung widerspiegelt. Das Museum versteht sich als Dienstleister für die Gesellschaft und als Schnittstelle zwischen allgemeiner Öffentlichkeit, Anspruchsgruppen und Forschung, es schafft Angebote zur Orientierung in zeitgeschichtlichen Fragen und für eine möglichst breite Diskussion deren aktueller Relevanz. Als ein im 21. Jahrhundert gegründetes Museum ist neben dieser multidirektionalen Ausrichtung die Verschränkung von materiellen und virtuellen Museums- und Ausstellungsräumen eine der Grundsäulen der jungen Institution, die sich in ihrem Selbstverständnis fundamental unterscheidet von jenen Museen, die der Nationalismus des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat.4 Paradigmen der New Museology folgend reflektiert sich das Museums selbst und stellt – anders als viele Vorläuferprojekten und -institutionen – nicht politisch verantwortliche Männer und ihre Taten in den Mittelpunkt der erzählten Inhalte. Vielmehr will das neue Zeitgeschichte-Museum vermitteln, dass Geschichte dy2 Grundsätzlich zur Musealisierung von Zeitgeschichte in Österreich vgl. Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Hg. von Dirk Rupnow, Heidemarie Uhl. Wien: Böhlau 2011; Monika Sommer: Das Haus der Geschichte Österreich – ein Aufbruch ins Ungewisse. In: Steirisches Jahrbuch für Politik 2018. Hg. von Beatrix Karl, Wolfgang Mantl, Klaus Poier u. a. Wien-KölnWeimar: Böhlau, S. 111–116. 3 Änderung des Bundesmuseen-Gesetzes 2002, BGBl I Nr. 20/2016, S. 1–4. 4 Vgl. The Constituent Museum. Constellations of Knowledge, Politics and Mediation. Hg. von John Byrne, et al. Amsterdam: Valiz 2018.
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namisch und von (persönlichen) Erfahrungen und Interpretationen bestimmt ist – ein Museum ist dabei keine neutrale Institution, sondern prägt wesentlich mit, was als hegemoniale und marginalisierte Erinnerung wahrgenommen wird und kann umgekehrt die damit entstehenden Diskussionen fördern, produktiv kanalisieren und rahmen. Das Haus der Geschichte Österreich versteht sich daher als ein Ort der Demokratie und ihrer Vermittlung. Es gibt allerdings klare Grenzen des Verhandelbaren, denn das Museum hat auch eine unumstößliche Haltung und Verpflichtung zur Aufklärung. Zu den Aufgaben der Institution zählt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem zögerlichen Umgang der Zweiten Republik mit der Forderung nach schonungsloser Aufarbeitung der Involviertheit in den NS-Terror. Die Verpflichtung für dieses Themenumfeld hat drei Gründe: Erstens hat damit eine offizielle Ausstellung des Bundes erstmals die Position der NS-Herrschaft als integralem Teil der österreichischen Geschichte klargestellt, da lange Jahre argumentiert worden war, Österreich hätte formal 1938–1945 nicht existiert – übersehen wurde dabei, dass viele ÖsterreicherInnen allerdings Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus haben.5 Zweitens bietet damit eine an unterschiedliche Alters- und BesucherInnengruppen gerichtete Dauerausstellung in zentraler Lage in der Bundeshauptstadt einen Überblick über die Geschichte der NS-Herrschaft in ganz Österreich anhand von Objekten und vermittelt die Entwicklung von Erinnerungsdebatten, die für die Zweite Republik richtungsweisend waren. Drittens ist der Ort des Museums ein Auftrag: Das Haus der Geschichte Österreich befindet sich in der Neuen Burg am Heldenplatz und damit just an jenem Ort, der schon von der NS-Propaganda zur Ikone einer Umdeutung der NS-Machtergreifung in Österreich als „Volkserhebung“ inszeniert wurde. Das Gebäude selbst wurde dabei als Kulisse und Bühne zugleich genutzt, von der Adolf Hitler am 15. März 1938 vor einer frenetisch jubelnden Masse den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich lautstark bekannt gab – die Bilder gingen um die Welt und die Töne durch den Äther; sie wurden als Wendepunkt Teil eines kollektiven europäischen Gedächtnis, denn das Ereignis führte zur territorialen Erweiterung NS-Deutschlands und war gleichzeitig der Anlass zur – erstmaligen – Organisation und Zurschaustellung6 massenhafter Gewalt gegen Jüdinnen 5 Vgl. Ulrike Felber: Jubiläumsbilder. Drei Ausstellungen zum Staatsvertragsgedenken 2005. In: OeZG 17/1 (2006), S. 65–90, hier besonders S. 73–75; Heidrun Zettelbauer: Das Begehren nach musealer Repräsentation Geschlecht und Identita¨ t in musealen Inszenierungen zum ‚Gedankenjahr‘ 2005. In: OeZG 18/1 (2007), S. 137–153. 6 Vgl. Dieter Hecht, Elenore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch: „Anschluss“-Pogrom in Wien. In: Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien. Hg. von Dieter Hecht, Elenore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch, Heidemarie Uhl. Wien: mandelbaum verlag 2017, S. 16–41.
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und Juden in den Wiener „Anschlusspogromen“. Die Historikerin Heidemarie Uhl spricht vom Heldenplatz als einem „‚lieux de mémoires‘ der Schande“.7 Die Auseinandersetzung mit diesem konkreten (Medien-)Ereignis und darüber hinaus mit der Geschichte des Nationalsozialismus und seinen Spuren bis in die jüngste österreichische Zeitgeschichte ist ein Kernauftrag des Hauses, das in seiner Hauptausstellung einen Überblick über die letzten hundert Jahre der österreichischen Geschichte bietet. Wenn in diesem Band über „Nationalsozialismus digital“ reflektiert wird, so gilt es für das Beispiel eines Zeitgeschichtemuseums nicht allein darüber nachzudenken, welche Materialien durch Digitalisierung in welcher Weise neu veröffentlicht und zugänglich gemacht werden. Geboten erscheint uns vor allem, darüber nachzudenken, welche Bilder und Erzählungen in (materiellen oder virtuellen) Formaten der Geschichtsvermittlung mit NS-Bezug von uns AusstellungsmacherInnen kreiert werden, die dann als Ansichten materieller Ausstellungen, als Fotos von Objektinszenierungen oder Social-Media-Shares selbst wiederum verbreitet werden. Eine weitere Ebene bilden schließlich jene Bilder, die BesucherInnen selbst produzieren und jene Ansätze, mittels derer ein Museum der Gegenwart dadurch Auseinandersetzung in selbst gestalteten Foren katalysieren, partizipativere Formate realisieren und demokratischen Ansprüchen gerecht werden kann, also Inhalte in Abstimmung auf aktuelle Debatten dynamisch halten kann. Die Frage des Umgangs mit dem Thema Nationalsozialismus in einem jungen zeitgeschichtlichen Museum diskutieren wir im Folgenden daher auf drei Ebenen und machen die Positionierung des hdgö dazu ebenso transparent wie wir kurz auf Erfahrungen eingehen, die wir damit gemacht haben: a) die Möglichkeiten des Ausstellens, b) die Sammlung und digitale Plattformen/Medien, die Objekte der Sammlung präsentieren und c) die Etablierung neuer Formate der Auseinandersetzung mit Geschichte im virtuellen Raum.
Nationalsozialismus ausstellen Die Herausforderung, wie Nationalsozialismus und NS-Geschichte ausgestellt werden soll, stellt sich nicht erst im digitalen Raum, sondern ist schon in Fragen der Erzählung und Gestaltung im materiellen Museumsraum virulent, wobei für zeitgemäße museale Vermittlung ein Prinzip beide Bereiche verbindet: Es gilt, jene historischen Zeugnisse und Objekte, die als NS-Propagandamaterial produziert wurden, in dieser Funktion zu brechen und gleichsam distanzierend aus7 Heidemarie Uhl: Wien, Heldenplatz, 15. März 1938. In: The Voices. Hg. von Monika Sommer. Wien: Haus der Geschichte Österreich 2018, S. 18–35, hier S. 19.
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bzw. darzustellen. Dies trifft auf NS-Fahnen, Weihnachtskugeln oder Kerzenständer mit Hakenkreuzen gleichermaßen zu wie auf den Völkischen Beobachter und das Kinoformat der NS-Wochenschauen. Es ist die Aufgabe einer kritischen Museumspraxis – so unser Appell und Anspruch – den BesucherInnen analytische Zugänge zu eröffnen und zumindest zu versuchen, sie nicht ungebrochen dem Bann faschistischer Bildsprache auszusetzen bzw. die Form und die Inhalte von NS-Objekten zu perpetuieren. Es ist darüber hinaus kein oberflächliches Anliegen, neue Ästhetiken zu ergründen und auszuprobieren, denn besonders bei NS-bezogenen Thematiken konstituiert die Ergründung neuer gestalterischer Wege des Ausstellens, die nicht der Zeit des Dargestellten verhaftet sind, ein wichtiges inhaltliches Ziel. Leider wird in der Praxis nur allzu oft auf die in der nationalsozialistischen Propaganda verwendeten Farben Rot, Weiß und Schwarz zurückgegriffen, womit die Formensprache der Exponate gespiegelt oder sogar reproduziert wird – um nur ein Beispiel zu erwähnen. Eine weitere, oft angewandte Praxis ist die Verwendung der Farben Schwarz oder Grau, um die Metapher der „dunklen Zeit“ zu verdeutlichen, was einem aufklärerischen Ansatz widerspricht und ein Verstehen hemmt, zumal Emotionalisierung verhindert, dass erklärende Fragen gestellt werden können. Auch wenn das Arbeiten mit affektiven Wahrnehmungsaspekten nicht nur legitim, sondern wichtig ist, verhindert der Schwerpunkt auf nur diesen Aspekt, selbst die grundlegendste Differenzierung zu vermitteln. Vielmehr gehen TäterInnen- und Opferschaft, Radikalisierung und deren Hintergründe im sprichwörtlichen Grau unter, die Desensibilisierung gegenüber Gewalt als Selbstzweck wird verlängert und die für Österreich besonders relevante Vorstellung von 1945 als einer „Stunde Null“ wird affirmativ verstärkt, womit gesellschaftliche wie personelle Kontinuitäten, die eben eine „dunkle Zeit“ nicht einfach abgrenzbar machen, ausgeblendet werden. Gerade beim Thema Nationalsozialismus ist es die Erwartungshaltung einer kritischen Öffentlichkeit an Museen, dass NS-bezogene Objekte kuratorisch und gestalterisch so kontexualisiert präsentiert werden, dass für inhaltliche oder gestalterische Aspekte rechtsextremer Selbstdarstellung wie Personenkult, Gewaltästhetisierung bzw. faschistische Formensprache empfängliche Personen die Inszenierung bzw. die präsentierten musealen Objekte nicht als Bestätigung ihrer Weltanschauung instrumentalisieren können. Darüber hinaus muss es ein zentrales ethisches Anliegen sein, Opfer in der Darstellung nicht zu erniedrigen, Gewalt nicht zu ästhetisieren und ideologische Botschaften nicht zu verlängern. Als Versuch einer kritischen museologischen Praxis hat das hdgö in seiner Hauptausstellung beispielsweise entschieden, keine Fotografien der NS-Propaganda zu verwenden und weiters in einem bildanalytisch angelegten Ausstellungsteil anhand von Aufnahmen von AmateurInnen genau die Fragen danach zu stellen, wie gewaltvolle oder extrem ausgrenzende Vorstellungen geprägt und repräsentiert werden und welche Rolle bottom-up-Prozesse hier einnehmen.
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Durch die Verwendung von privaten Fotos und Filmen kann die Relevanz von Bildproduktion als Teil von Ideologiearbeit und die Rolle von „kleinen Leuten“ in der Übernahme, Verbreitung und Absicherung von nationalsozialistischen Erzählungen und Rhetoriken vermittelt werden. Zweitens haben wir uns dazu entschlossen, Propaganda-Plakate als Reproduktionen in Originalgröße wiederzugeben, in der Gestaltung aber zu brechen, sodass sie den Raum nicht dominieren, sondern „nach innen“ gekehrt den BesucherInnen eine konkrete Beschäftigung abverlangen und nicht unbemerkt, subliminal wirken. Indem die Montage in der Ausstellung in den Vordergrund gebracht wurde, das Objekt selbst von der tragenden Leiste einer Würfelkonstruktion unterbrochen wird, entsteht eine Störung der Bildsprache, ohne den Inhalt zu verstecken. Ein drittes zentrales Element ist die Entscheidung, im Zusammenhang mit Massenverbrechen, besonders der Shoa, der Unsichtbarkeit der scheinbar namenlosen Masse konkrete Gesichter und Geschichten entgegenzusetzen und vor allem Objekte, die Opfer wiederum erniedrigen (besonders gilt das für Fotos von nackten oder getöteten Menschen) nicht auszustellen. Der Archäologe Reinhard Bernbeck hat die grundsätzliche Problematik, die alle Objekttypen betrifft, für Fotografien in der folgenden Form auf den Punkt gebracht: „Fotos haben also gerade dann, wenn sie Opfer ablichten und von Tätern stammen, den Effekt einer Verdopplung des Verbrechens. […] Zudem verstetigen solcherlei Bilder den Zeitpunkt der Gewalt, ob Erniedrigung oder Lebensauslöschung, und zwingen die BetrachterInnen dazu, den Standpunkt der Täter einzunehmen. Beides sind hochproblematische Effekte. […] Fotos mit gequälten und erniedrigten Menschen sollten, so der Tenor dieses Standpunkts, nur dann öffentlich benutzt werden, wenn die Absicht eine deutlich aufklärerische oder pädagogische ist.“8 Anders als angenommen werden könnte, reduziert ein Verzicht auf solche Fotografien eben nicht die Anzahl von Objekten, die Evidenzcharakter haben, es hebt aber deren Rezeptions- und Deutungsgeschichte hervor. Außerdem werden NS-Verbrechen damit ausgehend von den Geschichten der Opfer erzählt und die Handlungsmacht der TäterInnen betont. Die Erfahrungen mit solchen Zugängen im hdgö sind ungeteilt positiv, weil selbst die Irritation von BesucherInnen, die beispielsweise die großformatige Wiedergabe von KZ-Befreiungsfotografien vermissen, zum entscheidenden Anlass für eine Auseinandersetzung mit dem Team des Hauses werden kann. Für genau solche Situationen der spontanen Vermittlung sind permanent KollegInnen vor Ort in der Hauptausstellung, die solche Eindrücke oder davon ausgelöste Emotionen zum Anlass für ein Gespräch über Zugänge zu und Wahrnehmung von Geschichte nehmen können, was dem gesetzlichen Auftrag des Hauses als Diskussionsforum gerecht wird. Schließlich 8 Reinhard Bernbeck: Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte. Bielefeld: transcript 2017, S. 65.
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ist es ja die Aufgabe eines Museums in der Gegenwart grundsätzlich, nicht mehr abschließende Erzählungen auszustellen, sondern „noch viel mehr als bisher, wäre es […] wünschenswert, dass die Museen ihre Arbeitsweisen offen legten, die Konstruiertheit von Geschichte beim Namen nennen und nicht den Anspruch aufrecht zu erhalten versuchen, auf alle Fragen abgeschlossene Antworten zu finden“9, wie Susanne Hagemann als Vertreterin einer kritischen Museologie fordert.
Nationalsozialismus sammeln Als erstes zeitgeschichtliches Museum des Bundes arbeiten wir am Aufbau einer Sammlung zu Österreichs jüngster Geschichte. Der Bestand umfasst Zeugnisse der Politikgeschichte, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, Alltagsgeschichte, Erinnerungskultur, Sport- und Wirtschaftsgeschichte – dokumentiert durch dreidimensionale Objekte, Dokumente, Fotografien, Kunst und Bücher sowie digitales Material. Ein zentraler Anspruch unserer Museumsarbeit ist es, die Geschichte Österreichs in einen europäischen und globalen Kontext zu setzen. Darüber hinaus verstehen wir es als Auftrag des Hauses der Geschichte Österreich, neben historischen Artefakten auch tagesaktuell zu sammeln: Geschichte passiert immer gerade jetzt – deshalb arbeiten wir daran, die Gegenwart für die Zukunft zu dokumentieren, für die Wissenschaft aufzubereiten und Vergangenheit und Gegenwart durch Ausstellungen im Museum und im Web zugänglich zu machen. Neben der Annahme von Schenkungen verfolgen wir dazu die partizipative Methode des Rapid Response Sammelns, um sowohl in Bezug auf vertretene Perspektiven, Objekttypen und referenzierte Prozesse multidimensionale Bestände aufzubauen. Dabei suchen wir auf Basis unserer Sammlungsstrategie zeitgenössische Objekte aktiv in der Öffentlichkeit und nehmen sie unmittelbar als Sammlungsgut ins Museum auf. So bezieht das Haus der Geschichte Österreich die Stimmen und Meinungen von Zivilgesellschaft und breiter Öffentlichkeit mit ein und ist am Puls der Zeit, legt aber auch einen Schwerpunkt auf Objekte, denen eine gewisse Prozesshaftigkeit immanent ist. Die so im Entstehen begriffene Sammlung des hdgö hält mit Stand Oktober 2020 bei einer Zahl von ca. 3.500 Objekten (eingerechnet auch noch nicht erschlossene Konvolute, woraus die Menge an Einzelobjekten deutlich höher anzusetzen ist). In den Anfängen konnten zwei Privatsammlungen erworben werden, die beide 9 Susanne Hagemann: Museale Narrationen lokaler NS-Geschichte – „Auch in Paderborn kam es zu antisemitischen Ausschreitungen“ und „Männer starben als Soldaten bei der Wehrmacht“. In: Storyline. Narrationen im Museum, schnittpunkt – ausstellungstheorie & praxis. Hg. von Charlotte Martinz-Turek, Monika Sommer-Sieghart. Wien: turia+kant 2009, S. 93–100.
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private und offizielle Objekte aus dem Umfeld aller politischen Parteien Österreichs seit der Ausrufung der Republik 1918 als Schwerpunkt hatten und gemeinsam ca. 750 Stück umfassen, der weit überwiegende Großteil der seither erweiterten Sammlung kam als Schenkung an das junge Haus. Ein guter Teil dieser Objektgruppe wiederum umfasst Dingrelikte aus der Zeit des Nationalsozialismus oder mit Bezug darauf – wobei erwähnt werden muss, dass wir es uns zum Grundsatz gemacht haben, NS-Relikte ausschließlich als Schenkung anzunehmen. Wie alle anderen Objekte auch, werden NS-Objekte in der Sammlungsdatenbank erfasst und dokumentiert, wobei sich die Beschreibung, Beschlagwortung und Art der Objektfotografie nicht von der Methode der Erfassung von Objekten aus anderen historischen Epochen unterscheidet – auch das eine Herangehensweise, die nach Vergleichen mit anderen Geschichtsmuseen und in gemeinsamer Diskussion im Haus der Geschichte festgelegt wurde.10 Umso wichtiger ist, neue Wege des (materielle wie digitalen) Ausstellens NSbezogenen Exponaten zu finden und sehr sensibel die oft eingeforderte Kontextualisierung zu reflektieren. Ein erster Anlauf dazu ist bereits in Arbeit: 2021 wird sich das Haus der Geschichte Österreich in einer Sonderausstellung der Frage widmen, welche Objekte mit NS-Bezug dem Museum in den wenigen Monaten seiner Existenz aus der Bevölkerung angeboten wurden, welche angenommen oder abgelehnt wurden und welche (Provenienz-)Geschichten sie erzählen. Wir verstehen diese Spezialschau als Labor für mögliche Weiterentwicklungen einer Ausstellungs- und Sammlungspraxis – ein herausforderndes Thema, dem sich Bibliotheken und Museen aktuell gleichermaßen zu stellen haben. Der Aufnahme von NS-Objekten in Webressourcen, also ihrer Veröffentlichung in Online-Datenbanken oder anderen Open-Access-Formaten stehen viele Museen aber auch Bibliotheken mit Vorsicht und Skepsis gegenüber, wird doch vermutet, dass eine uninformierte oder gar missbräuchliche Verwendung Resultate hätte, die der Absicht von Bildungsinstitutionen widersprechen und sogar eine Unterstützung von rechtsextremen Positionen erlauben würde. Ein hilfreicher Ausweg aus dieser Debatte kann in einem Verständnis von solchen Online-Veröffentlichungen als eben nicht unmittelbare Verbreitung des Objektes per se, sondern als Format, das eine Auseinandersetzung und Kontextualisierung der Objektmerkmale und -geschichte erzwingt, liegen. Objektdigitalisate oder -fotografien sind nur eine Information von vielen, die geboten werden können. Schließlich „erlauben technische Möglichkeiten auch eine detailliertere Betrach-
10 Herzlichen Dank an die kritischen Gespräche mit vielen KollegInnen, vor allem an Birgit Johler und Laura Langeder.
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tung, umfassendere Beschreibungen und andere Sichtweisen.“11 Dazu ist entscheidend, das Objekt eben nicht wiederzugeben, sondern kuratorisch einzubetten und eine klare, erklärende Einbettung auch in einer kurzen Beschreibung anzubieten (alleine durch Wahl des Objekttitels, der Beschlagwortung und dem Kommentar) und nur jene Objektdatensätze nicht zu veröffentlichen, bei denen ein nicht zu klärender Kontext zu Mutmaßungen und Missverständnissen führen könnte. Schließlich können Museen durch solche Angebote nicht nur gewinnen, sondern könnten auch einen entscheidenden Beitrag zur Differenzierung von öffentlich-medialen Debatten über die NS-Herrschaft und populärkulturellen Darstellungen des Nationalsozialismus leisten. Digitale Plattformen von Museen stellen ohne Ausnahme Formate mit großen Barrieren nach „außen“, besonders gegenüber einer nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit, dar, während beispielsweise Filmmaterial aus der NS-Propaganda, das durch seine Medialität eine große Anziehungskraft entwickelt, in den am meisten frequentierten Plattformen des Web völlig offen und oft affirmativ kommentiert zur Verfügung steht. Wenn Museen Orte mit Relevanz für öffentliche Auseinandersetzung sein wollen, ist ein offensiver Umgang mit diesem Startnachteil im Grunde alternativlos. Durch die Leistung einer Kontextualisierung können Museen einer kritischinteressierten Öffentlichkeit einen großen Mehrwert bieten, wenn sie ihre Sammlungen digitalisiert eben nicht nur zur Recherche für ein Fachpublikum anbieten, sondern (durch die Zugänglichkeit der Sprache, Klarheit der Kommentierung und Materialauswahl) für eine niederschwellige Auseinandersetzung öffnen. Das hdgö hat diesen Weg noch vor sich (in Hinblick auf den Aufwand der Aufbereitung), sieht einen transparenten Umgang mit der Sammlung – noch während sie im Aufbau ist – aber als wichtiges Element, um den Anspruch der Demokratisierung der Public History als Institution einlösen zu können. Damit könnte das Sammeln zu einem öffentlichen Prozess werden, an dem alle Interessierten teilhaben und, in einem nächsten Schritt, auch mitwirken, können. Ganz grundsätzlich, aber gerade im Zusammenhang mit NS-Objekten hat der „Giftschrank“ als Prinzip in institutionellen Sammlungen ausgedient. Im Kontext von zunehmend durch Algorithmen aufbereitete Informationen könnten die Alleinstellungsmerkmale musealer Sammlungen im Spannungsfeld zwischen Evidenz und Storytelling ein wichtiges Instrument zur Verteidigung von aufklärerischen Ansätzen und zur Fundierung kritischer, aber auch anregender, Diskussion sein. 11 Katja Müller: Digitale Objekte – subjektive Materie. Zur Materialität digitalisierter Objekte in Museum und Archiv. In: Dinge als Herausforderung. Kontexte, Umgangsweisen und Umwertungen von Objekten. Hg. von Hans Peter Hahn, Friedemann Neumann. Bielefeld: transcript 2018, S. 49–66, hier S. 53.
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Die Erinnerung an den Nationalsozialismus partizipativ verhandeln Schon in der Vorbereitungsphase seiner Eröffnung hat das Haus der Geschichte Österreich mit einer Schwerpunktsetzung in der digitalen Public History reagiert und eine Webplattform entwickelt, die auch zur Ergründung der Möglichkeiten im Bereich der digitalen Geschichtsvermittlung und als Zeichen der Publikumsorientierung angelegt ist. So möchten wir als Museum neue Formen der Auseinandersetzung mit Geschichte und Antworten auf die großen Fragen in der Museumspraxis zum Abbau von Barrieren und dem adäquaten Nutzen von digitalen Medien ausprobieren und BesucherInnen Möglichkeiten der Involvierung in das Museum als Prozess bieten. Zentral ist, dass alle der entwickelten Angebote im Web als Erweiterung der physischen Ausstellung in der Neuen Burg am Wiener Heldenplatz zu verstehen sind oder sich jedenfalls in irgendeiner Form auf den materiellen Raum beziehen. Die Erfahrungen mit solchen Webausstellungen sind für das hdgö bislang äußerst erfreulich. Beispielsweise wurde eine interaktive Landkarte mit dem Titel Europa der Diktaturen (diktaturen.hdgoe.at) auch in neu approbierten Schulbüchern eingebaut. Dahinter steckt eine Datenbank, die in enger Abstimmung mit dem Lehrplan für Neue Mittelschule (NMS)/Allgemeinbildende höhere Schule (AHS) erstellt und sprachlich wie inhaltlich auf das Niveau von 13–14jährigen abgestimmt ist. Das Tool ermöglicht, die entstehenden diktatorischen Regime im Europa von 1914–1945 zu vergleichen. Charakteristisch für die Aktivitäten des hdgö ist die Vielschichtigkeit als Effekt der BesucherInnen-Orientierung. Beispielsweise finden sich in dieser Landkarte unter einer einfach verstehbaren ersten Ebene eine Reihe von Vertiefungsebenen – entsprechend dem Interesse und Vorwissen der BesucherInnen. Ebenso paradigmatisch ist, dass das Modul nicht nur in der Ausstellung im materiellen Raum, sondern auch im Digitalen frei (ohne User-Anmeldung) zur Verfügung steht. Ein Besuch ist also nicht an einen Ortswechsel und den Erwerb eines Tickets gebunden. Neuland hat das hdgö wohl mit seiner mehrfachen Umsetzung von Ausstellungsbereichen auf Basis von User Generated Content (UGC) betreten. Solche wachsenden Webausstellungen (oder Webausstellungen zum Mitmachen) entstehen also erst durch die UserInnen, von denen die Objekte und Beschreibungen kommen. Damit wurden digitale Medien als Vehikel zur Dynamisierung eingesetzt, die es erlauben, eine einmal eröffnete Ausstellung dennoch veränderlich zu halten, indem BesucherInnen aktiv dazu eingeladen werden, eine bestehende Auswahl an digitalen Objekten um ihre eigenen zu ergänzen (womit die Ausstellung permanent wächst). Die Beiträge von UserInnen sind nach der Prüfung durch eine/n KuratorIn sowohl im Web als auch in der Ausstellung ohne Verzögerung zu sehen. Die Kriterien für Ein- oder Ausschluss von Beiträgen sind
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klare, leicht verständlich formulierte inhaltliche Bedingungen in Bezug auf Thema, Zeitraum und Region sowie die Übereinstimmung mit rechtlichen Rahmenbedingungen (UrheberInnenrecht, Personenschutz, Datenschutz) und die Festlegung auf Grenzen der Meinungsäußerung.12 Der zentrale Angelpunkt in der Konzeption dieser Ausstellungsformate war, partizipative Ansätze zu finden, die Narrative (und die Objektlage) in einer Ausstellung tatsächlich verändern und erweitern können und möglichst accessible konzipiert bzw. für eine möglichst große Anzahl Menschen leicht erreichbar und bedienbar sind. Die Erfahrung aus der Aufbauphase des hdgö hat gezeigt, dass die Sorge, dass die Moderation und Begleitung solcher offen und partizipativ angelegten Elemente im Web nicht nur arbeitsintensiv sein könnte, sondern der erwartete Überhang von digitalem Vandalismus oder NonsenseEinreichungen die Mühe nicht wert wäre, bislang völlig unbegründet war. Angesichts dessen, haben wir eine zusätzliche Erweiterung solcher wachsenden UGC-Ausstellungen um ein Thema gewagt, in dem tatsächlich kontroversielle Positionen vertreten werden. Damit haben wir auf Rückmeldungen und Eindrücke aus der Vermittlungsarbeit reagiert: Seit unserer Eröffnung lädt das hdgö BesucherInnen dazu ein, direkt am Zugang zum Altan der Neuen Burg, oft „Hitlerbalkon“ genannt, abzustimmen, ob dieser öffentlich zugänglich sein sollte. Einerseits spricht sich bislang täglich eine überwältigende Mehrheit dafür aus, andererseits reagierten aber immer wieder BesucherInnen mit der Nachfrage auf diese in den Raum gestellte Möglichkeit, wie wir denn als Team des hdgö mit dem Ort umgehen würden, könnte er aktuell benutzt werden. Daraufhin hat das Museum in Zusammenarbeit von KuratorInnen und Vermittlung versucht, ein Format zu entwickeln, in dem genau diese Frage in möglichst offener Form und nicht nur von uns, sondern von allen Interessierten, diskutiert werden kann. Wir haben den Jahrestag der Hitler-Rede an diesem Platz 2019 dazu genutzt, aufzurufen, Ideen für eine zukünftige Nutzung dieses zentralen Ortes der österreichischen Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft in visueller Form beizutragen (heldenplatz.hdgoe.at). Obwohl im Fall dieser der Kontext einer UGC-Sammlung völlig anders war, nämlich erstens explizit gedenkpolitisch mit dem Bezug auf eine bislang schon hoch politisiert verlaufende Debatte und die wachsende Webausstellung zweitens nicht auf eine einfache Erweiterung um Objekte mit lebenserzählendem Charakter, sondern eine tatsächliche Konfrontation unterschiedlicher Vorstellungen 12 „Das Webportal des hdgö ist getragen von Respekt für andere Menschen und der Toleranz. Beleidigungen, Diffamierungen, Bedrohungen, persönliche Angriffe, hetzerische Äußerungen sowie die Diskriminierung von Personen aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Nationalität, körperlichen Verfassung, sexuellen Orientierung, des Geschlechts oder des Alters werden auf unseren Portalen nicht geduldet.“ URL: https://hdgoe.at/Nutzungsbedingungen (abgerufen am 06. 11. 2020).
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abzielte und sich daher das Narrativ der Ausstellung permanent fundamental veränderte, haben sich auch hier die entwickelten Formate bewährt: Die Zielsetzung einer Demokratisierung der Debatte über die Zukunft des Altans der Neuen Burg wurde erreicht – nicht nur durch die breite Rezeption in der österreichischen Presse, sondern durch die Einreichung von hunderten Beiträgen von UserInnen, denen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den komplexen Fragen nicht abgesprochen werden kann und die sich teils auch aufeinander beziehen. Ebenso überzeugend ist die Gegenprobe: Nur dreimal wurden Beiträge nicht veröffentlicht, weil sie die gesetzten Rahmenbedingungen für Einreichungen nicht einhielten (NS-Symbolik darf nicht verwendet werden) bzw. nicht den Nutzungsbedingungen entsprachen (antisemitische Hetze).
Zusammenfassung Die aktuelle Auseinandersetzung um die digitale Repräsentation von NS-Geschichte und vor allem die virtuelle Medialisierung von Objekten mit NS-Bezug bringt einen zentralen Wendepunkt im Umgang mit Nationalsozialismus und Gewaltgeschichte generell zum Vorschein. Seit der Musealisierung der NS-Herrschaft wurden damit zusammenhängende Objekte, auch Propaganda, häufig ungebrochen ausgestellt, immer im Vertrauen, dass der museale Raum per se eine kritische Brechung dar- oder herstellen würde. Gleichzeitig wurden aber besonders solche oder ähnliche Objekte jenseits von Ausstellungen vor einer Öffentlichkeit verborgen. Dass in den letzten Jahren tatsächlich alle Bildungsinstitutionen ihre teils reservierte Haltung gegenüber dem digitalen Raum aufgeben, birgt die große Chance, diesen Widerspruch produktiv aufzulösen und Wege zu ergründen, wie Bildungsauftrag mit demokratischen Ansätzen verbunden werden kann. Zentrale Versprechen des Web sind es schließlich, eine breite Zugänglichkeit zu erlauben und Menschen unmittelbar zu erreichen, sogar zufällig. Wenn Museen diese Herausforderungen offensiv annehmen, können sie nur gewinnen und vor allem die Qualität und Differenziertheit von Public History, von erinnerungsoder geschichtspolitischen Auseinandersetzungen entscheidend erhöhen.
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Brigitte Rigele
Alles für alle? Offener Zugang und Weiterverwendung in öffentlichen Archiven
Zusammenfassung In den letzten 30 Jahren orientierte sich der Schwerpunkt der Arbeit in öffentlichen Archiven zunehmend an den Bedürfnissen der Nutzenden und Informationssuchenden. Offener Zugang und eine kostengünstige Weiterverwendung von Archivgut ohne Einschränkungen rücken an die Spitze der Serviceangebote. Rechtliche und organisatorische Regelungen wie Archivgesetzte aber auch die Public Sector Information (PSI) Richtlinie der EU, schaffen dafür klare Rahmenbedingungen. Für Archive wird durch den derzeitigen Kulturwandel die digitale Bereitstellung von Informationen essenziell. Aktuelle Überlegungen zum Zugang wie auch Strategien zur Digitalisierung von Archivgut sollen am Beispiel des Wiener Stadt- und Landesarchivs gezeigt werden. Schlagwörter offener Zugang, Nutzung, Archivgut, Informationsfreiheit, Digitalisierung, Schutzfristen Abstract Everything for Everyone? Open Access and Reuse of Documents in Public Austria Archives English: In the last 30 years, the focus of work in public archives has increasingly been oriented towards the needs of users and those seeking information. Open access and inexpensive re-use of archive material without restrictions are moving to the top of the service offerings. Legal and organizational regulations such as archive laws but also the Public Sector Information (PSI) directive of the EU, create clear framework conditions for this. Due to the current cultural change, the digital provision of information is essential for archives. Current considerations on access as well as strategies for the digitalization of archival material will be shown using the example of the Vienna City and Provincial Archives. Keywords Open Access, Reuse, Archival Material, Freedom of Information, Digitalization, Data Protection
Brigitte Rigele, Wiener Stadt- und Landesarchiv, E-Mail: [email protected]
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Brigitte Rigele
Einleitung Seit den 1980er-Jahren haben sich Archive geöffnet: Der Zugang und die Nutzung der Bestände traten in den Fokus der ArchivarInnen; rechtliche Änderungen und die Technik unterstützten sie dabei. Es wurde mit aufwendigen digitalen Erschließungsarbeiten begonnen. Erfolgte vorerst die Veröffentlichung der Metadaten über die Quellen, die in den Depots und Speichern als Register, Protokolle oder Akten vorhanden sind1, in gedruckten Inventaren oder auf Homepages, werden diese seit 20 Jahren durch die „lebenden“ und laufend erweiterten digitalen Archivinformationssystemen abgelöst. Diese stehen über zusätzliche Tools auch für Bestellungen und online Nutzung zur Verfügung und können zukünftig für individuelle virtuelle Lesesäle ausgebaut werden. Standardisierte internationale Erschließungsstandards für Archive helfen Quellen strukturiert zu erfassen und zu finden. Vieles über die Bestände, deren Aufbau und deren Inhalt findet sich heute im Internet und lässt sich digital suchen. Diese Auffindbarkeit setzt die für Archivbestände besonders aufwändige Erschließung voraus. Die Nutzung dieser Erschließungsdaten im Internet steht von Seiten der Archive uneingeschränkt für alle offen und soll einen transparenten Überblick über die vorhandenen Quellen bieten. Offener Zugang entspricht heute den öffentlichen Erwartungen. Was nicht im Netz zu finden ist, existiert womöglich für BenutzerInnen nicht oder anders gesagt, wenn Forschende etwas im Netz nicht finden, suchen sie sich möglicherweise ein anderes Thema.2 BenutzerInnen erwarten nicht nur die Erschließungsdaten, sondern auch die Dokumente online lesen zu können und am besten direkt verbunden mit den Erschließungsdaten. Womit wir schon beim Desiderat eines virtuellen Lesesaals wären, der für Archivgut mit seinen komplexen Zugangsregeln in Österreich noch in der Zukunft liegt. Leichter Zugang und einfache Recherche sind als Folge der knappen Zeit- und Kostenreserven jedenfalls gefragt. Den Zugängen und den Nutzungsbedingungen, die der Schlüssel für die Frage der Weiterverwendung von Archivgut sind, werde ich mich im Folgenden mit Schwerpunkt Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA) zuwenden. Öffentliche Archive beschäftigen sich aus ihrem Entstehungszusammenhang heraus vor allem mit nicht öffentlichem Schriftgut von Verwaltungen und Gerichten inklusive der vielen für Forschende interessanten Beilagen an Plänen, Fotos und persönlichen Stellungnahmen. Im Gegensatz zu Büchern und Zeitungen ist dieses weder veröffentlicht, noch war es entsprechend seiner Entste1 Zur rechtlichen Problematik mit Fotobeständen siehe den Beitrag von Klaus Ceynowa Problematische Inhalte als Open Data? Das Beispiel des Fotoarchivs Hoffmann in diesem Band. 2 Vgl. Kate Theimer: Partizipation als Zukunft der Archive. In: Archivar 71 (2018), H. 1, S. 7.
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hung jemals zur Veröffentlichung vorgesehen. Vielfach ist daher für das Schriftgut des 20. Jahrhunderts eine systematische Digitalisierung mit dem Ziel der freien Verfügbarkeit im Netz noch gar nicht möglich. Archive im Speziellen stehen vor massiven rechtlichen Herausforderungen hinsichtlich der Veröffentlichung vieler ihrer zeitgeschichtlichen Quellen, völlig unabhängig davon, ob sie selbst diese veröffentlichen möchten oder ihre NutzerInnen. Wie alle Kulturinstitutionen digitalisieren und veröffentlichen auch die Archive seit mindestens 25 Jahren in steigendem Ausmaß ihre Bestände, da es sich bekanntermaßen um eine Win-win-Situation handelt. Veröffentlichte Quellen bedeuten mehr Zugriffe, bessere Awareness des Archivs im Netz bedeutet, dass der Bedarf an notwendigen Ressourcen besser an Stakeholder kommuniziert werden kann. Allerdings tangiert das im WStLA nur in geringem Maße die Bestände der Zeitgeschichte. Diese werden zwar in großen Mengen für ForscherInnen on demand gescannt, von Seiten des Archivs haben jedoch im Sinne des Nutzens für möglichst viele Personen all jene Bestände Priorität, die vom Archiv sofort öffentlich zur Verfügung gestellt werden können. Gerade bei den zeitgeschichtlichen Beständen muss meistens ein ganzes Bündel an rechtlichen Fragen im Vorfeld geklärt werden. Je kleiner dieses Bündel ist, desto besser stehen die Chancen auf Realisierung. Es ist genau die Klärung dieser rechtlichen Fragen, die vielfach die budgetären und zeitlichen Ressourcen des Archivs sprengt.3 Die Voraussetzungen in Archiven stellen sich hinsichtlich Digitalisierung anders dar als für die gedruckten Bestände von Bibliotheken. Der Prozess des Scannens ist bei Akten wesentlich aufwendiger und kostenintensiver als jener bei Büchern (wie etwa kein automatisches Blättern, unterschiedliche Formate innerhalb eines Aktes, wesentlich aufwendigere Erschließung). Daher hält sich der Andrang von Public Private Partnership Angeboten in Grenzen und betrifft meist nur systematisch gegliederte Bestände in Buchform wie Matriken. Der größte Teil des Archivguts ist nicht digitalisiert, und wird auch so bald nicht digitalisiert sein. Die großen öffentlichen Geldgeber für Großprojekte der Archivgutsicherung und -zugänglichkeit, wie in anderen EU Staaten, sind in Österreich auch nicht in Sicht. Das Amsterdamer Stadtarchiv, eines der digitalen Vorzeigearchive in den Niederlanden hat gerade einmal 15 % seiner Bestände bereits digitalisiert.4 Angestrebt wird derzeit in größeren deutschen Archiven mittelfristig 1–7 % des Gesamtbestandes.5 Zeitpunkt und Umfang von 3 Vgl. Fred van Kann: Vollständige Online-Dienste. In: Archivar 71 (2018), H. 1, S. 25. 4 Vgl. Marc Holtman, Digitisation based on industrial principles. A new vision for the quality management of mass digitisation projects, Version 1.1.-e, Hg. von Gemeente Amsterdam Stadsarchief, September 2017, Seite 3. https://tinyurl.com/yaa5fysm (abgerufen am 28. September 2020). 5 Vgl. Gerald Maier, Christina Wolf, Umsetzung der Digitalisierungsstrategie im Landesarchiv Baden-Württemberg. In: Archivar 68 (2015), H. 3, S.234.
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der Veröffentlichung sowohl der Erschließungsdaten wie auch der Digitalisate hängen dann allerdings auch von den jeweils geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen ab.
Rechtliche Rahmenbedingungen Öffentliche Archive bewegen sich immer im Spannungsfeld von Forschungsfreiheit, Informationsfreiheit, Archivrecht, Datenschutz und Urheberrecht. Diesbezügliche Fragen zu den Beständen der Zeitgeschichte, beispielsweise, wer zur Einsichtnahme berechtigt ist und was davon veröffentlicht werden kann, betrafen viele Jahre fast ausschließlich zeitgeschichtliche ForscherInnen. In diesem Zusammenhang entstand auch die schon länger laufende Diskussion über die öffentliche Nennung von Namen mit dem Abwägen von Schaden für Opfer oder dem Schutz von TäterInnen, die sich rechtlich und ethisch mit den Folgen beschäftigt.6 Neu hinzu kommt jetzt die Frage nach der Verantwortung bei online gestelltem retrodigitalisiertem Material aus der Zeit des Nationalsozialismus. Keine Institution will Material für eine Wiederbetätigung liefern. Auslöser dafür sind einerseits die von wissenschaftlichen Institutionen wachsenden Angebote an online bereitgestellten Unterlagen zur Zeitgeschichte und andererseits die Erkenntnis und die Erfahrung, dass sich einmal veröffentliche Quellen unweigerlich und unwiederbringlich verselbständigen. Sobald ein Zugang gegeben ist, besteht die Möglichkeit einer weiteren Verwendung, im positiven wie im negativen Sinn. Als ein Beispiel von vielen kann hier auf das Fotoalbum von Josef Weiszl (1912–1981) verwiesen werden, das u. a. den Abtransport von Juden und Jüdinnen aus der Sperlgasse im 2. Bezirk zeigt und in einem Strafakt des Volksgerichts 1955 als Beweisstück7 beiliegt. Die Bilder des Albums wurden im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit8 korrekt zitiert ins Netz gestellt, sind jetzt jedoch auch bei Pinterst mit anderen NS-Schergen unter „Entdecke Ideen zu erster Weltkrieg“ zu finden.9 Veröffentlicht werden können ohne größeren Aufwand nur jene Bestände, die als gemeinfrei gelten oder öffentlich sind, also jene Unterlagen der Behörden, bei denen keine rechtlichen Beschränkungen den Zugang und die Nutzung behin6 Vgl. zuletzt Franz-Stefan Meissel: Klio und das Recht der Namen. In: Zeitgeschichtsforschung im Spannungsfeld von Archiv-, Datenschutzrecht- und Urheberrecht. Hg. von Iris Eisenberg, Daniel Ennöckl, Ilse Reiter-Zatloukal, Wien: Verlag Österreich 2018. ebenda: S. 183–204, hier S. 183f. 7 Vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Volksgericht, A1 – Strafakten: Vg 8e Vr 871/55. 8 Vgl. https://www.oeaw.ac.at/?id=4610 (abgerufen am 4. 9. 2020). 9 Vgl. https://www.pinterest.com/pin/719098265474995157/ (abgerufen am 27. 11. 2019).
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dern.10 Einschränkungen betreffen fast ausschließlich die Bestände der Zeitgeschichte und werden das auch noch längerfristig tun. Diese beginnen mit den in den Archivgesetzen festgelegten allgemeinen Schutzfristen, die in Österreich zwischen 20 und 50 Jahren liegen, meist jedoch für Veröffentlichungen eine geringe Rolle spielen.11 Wesentlich gravierender machen sich Urheberrechte und Datenschutz bemerkbar.
Archivgesetze Historisch gesehen ist deren rechtliche Entwicklung in Österreich relativ jung und reicht in das Jahr 1997 zurück. Sie setzte mit dem Kärntner Archivgesetz12 einen ersten Meilenstein am Ende einer lange andauernde Diskussion über die Regelung von Zugang und Nutzung von Archivgut und erfüllte sowohl ein Desiderat der zeitgeschichtlichen ForscherInnen als auch der Archivcommunity.13 Da in Österreich weder ein Informationszugangsgesetz noch ein Informationsfreiheitsgesetz existiert, werden die Zugänge zu öffentlichem Archivgut ausschließlich über die Archivgesetze geregelt. Neben dem Bundesarchivgesetz verfügen derzeit acht Länder über ein eigenes Landesarchivgesetz, die auch das kommunale Schriftgut ihres Bundeslandes in unterschiedlichem Maße miteinbeziehen. Das relative neue Vorarlberger Archivgesetz aus 2016, das sich schlank und knapp präsentiert, passte sich in Erwartung eines in Planung befindlichem Informationsfreiheitsgesetzes sprachlich bereits an und regelte neben der Sicherung von Archivgut nicht mehr die Nutzung, sondern den Zugang zum Archivgut.14 Im Leitbild des Internationalen Archivrats heißt es hinsichtlich Zugang: „Der freie Zugang zu Archiven bereichert unser Wissen über die menschliche Gesellschaft, fördert die Demokratie, schützt die Bürgerrechte und verbessert die Lebensqualität.“ Allerdings musste er auch anerkennen, dass bestimmte Be10 Vgl. Beispielsweise Informationsdatenbank des Wiener Landtages und Gemeinderates: https://www.wien.gv.at/infodat/ (abgerufen am 27. 11. 2019). 11 Vgl. Josef Pauser: Zwischen Arcanum Imperii und Transparenz. Archivrechtliche Rahmenbedingungen der zeitgeschichtlichen Forschung. In: Zeitgeschichtsforschung im Spannungsfeld von Archiv-, Datenschutz- und Urheberrecht. Hg. von Iris Eisenberger, Daniel Ennöckl, Ilse Reiter-Zatloukal. Wien: Verlag Österreich 2018, S. 58. 12 Vgl. Kärntner Archivgesetz: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrK& Gesetzesnummer=10000219 (abgerufen am 6. 9. 2020). 13 Ausführlich hat sich Ulrich Nachbaur am österreichischen Archivtag 2017 in Bregenz dem Thema Zugang gewidmet. Vgl. Ulrich Nachbaur: Das Vorarlberger Archivgesetz. Archivische Informationsfreiheit in Österreich. In: Scrinium 72 (2018), S. 20–32. 14 Vgl. Vorarlberger Archivgesetz: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=L rVbg&Gesetzesnummer=20000872 (abgerufen am 03. 04. 2020).
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schränkungen notwendig sein können: „Die Archivarinnen und Archivare fördern eine Haltung der Offenheit, wie sie auch die gesetzlich und durch andere Regulierungen geforderten Beschränkungen der Nicht-Zugänglichkeit befolgen, seien es solche, die ethisch gefordert sind oder solche, die ein Schenker verlangt hat.“15
Informationsweiterverwendungsgesetze Die Public Sector Information (PSI) Richtlinie 2013/37/EU16 legte den Mitgliedstaaten der EU die Verpflichtung auf, grundsätzlich alle „allgemein zugänglichen“ Dokumente der öffentlichen Verwaltung weiterverwendbar zu machen und umfasste erstmalig auch Kultureinrichtungen, wie Bibliotheken, Archive und Museen.17 Ziel war es, unter anderem Digitalisierungsprojekte voranzutreiben und das verwahrte Material der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ausnahmen betreffen Dokumente, die nicht oder nur eingeschränkt (z. B. Nachweis eines besonderen Interesses) zugänglich sind. Die Weiterverwendung bleibt daher weiter vom Zugang abhängig.18 Umgesetzt wurde sie in Österreich mit dem Informationsweiterverwendungsgesetz19 2015, auch diesem folgen entsprechend der föderalen Struktur die einzelnen Landesgesetze mit unterschiedlicher Ausprägung.20 Archive sind derzeit gerade in Bezug auf die PSI Richtlinie gefordert die Bedingungen der Weiterverwendung einerseits transparent zu gestalten und andererseits Rahmenbedingungen für die Weiterverwendung für private oder kommerzielle Zwecke festzulegen. Konkret finden sich die näheren Bestimmungen über die Nutzung und die Weiterverwendung in den Archiv- oder Be-
15 Diese Grundsätze wurden am 10. September 2012 vom Internationalen Archivrat verabschiedet, http://www.ica.org/en/principles-access-archives (abgerufen am 07. 04. 2020). 16 Richtlinie 2013/37/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Änderung der Richtlinie 2003/98/EG über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A320 13L0037 (abgerufen am 07. 04. 2020). 17 Vgl. Josef Pauser: Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors unter besonderer Berücksichtigung der Situation von Archiven und Bibliotheken nach der PSI Richtlinie von 2013. In: Scrinium 72 (2018), S. 45; hier sind auch die Ausnahmen aufgezählt. 18 Auf die Frage der Rechte des geistigen Eigentums gehe ich hier nicht näher ein, dazu aber ausführlich Pauser: Weiterverwendung von Informationen (Anm. 17), S. 51f. 19 Bundesgesetz über die Weiterverwendung von Informationen öffentlicher Stellen (Informationsweiterverwendungsgesetz – IWG) BGBL I Nr. 76/2015; aktuelle Fassung: https://www.ri s.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004375(abgerufen am 06. 04. 2020). 20 Gute Zusammenfassung bei Pauser: Weiterverwendung von Informationen (Anm. 17), S. 48– 52.
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nutzungsordnungen21, die veröffentlicht sind, für alle gleich gelten und die Weiterverwendung nicht unnötig einschränken sollen.22 Bei Verletzung der Benutzungsordnung schließen Archive Haftungen gegenüber Ansprüchen von Dritten aus. Für Klagen gegen missbräuchliche Verwendung wie Urheberrechtsverletzungen oder die Verletzung von Persönlichkeitsrechten steht Betroffenen der zivilrechtliche Weg offen, Klagen nach Mediengesetz23 oder Urheberrechtsgesetz24 sind jedoch im Archivbereich sowohl bei BenutzerInnen wie bei Archiven selbst bisher allerdings selten. Der Schlüssel zur Veröffentlichung liegt demnach beim Zugang zum Archivgut und den Bedingungen der Weiterverwendung. Klare Zugangsregelung und Weiterverwendungsbedingungen sind von Archiven transparent zu kommunizieren, nicht primär um Missbrauch zu verhindern, sondern um Missverständnissen vorzubeugen und Haftungsfragen auszuschließen. Denn ist ein digitalisiertes Dokument einmal im Internet veröffentlicht, verabschiedet sich das Archiv wie alle anderen Institutionen auch praktisch von jeglicher kontrollierbaren Steuerung.
Datenschutzgrundverordnung Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)25 2016 regelt wie auch schon das Datenschutzgesetz26 davor den Umgang mit personenbezogenen Daten und ist daher für den Zugang zu zeitgeschichtlichen Quellen hinsichtlich Daten beson21 Beispiel Wien: Verordnung des Magistrats der Stadt Wien, mit der eine Benützungsordnung für das WStLA erlassen wird. https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Gemeinderecht/GEMRE_ WI_90101_I130_020_2015/GEMRE_WI_90101_I130_020_2015.html (abgerufen am 03. 04. 2020). Vgl. dazu auch: Michaela Laichmann, Susanne Fröhlich, Christoph Haidacher, Karin Sperl und Pia Wallnig: Richtlinie und Empfehlung für Archive im öffentlichen Bereich: Archivnutzung und Tarife. In: Scrinium 73 (2019), S. 120–127. 22 Vgl. §9 des Informationsweiterverwendungsgesetzes BGBl I Nr. 135/2005 in der aktuellen Fassung: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetze snummer=20004375 (abgerufen am 25. 05. 2020). 23 Vgl. Bundesgesetz über die Presse und andere publizistische Medien (Mediengesetz – MedienG) BGBl Nr. 314/1981 in der aktuellen Fassung: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFas sung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000719 (abgerufen am 03.04. 2020). 24 Trifft vor allem Archivgut aus dem Bereich der Sammlungen und Nachlässen. Erst in den letzten Jahren klären Archive im Zuge der Übernahmen, wenn möglich, die Rechtslage bezüglich Urheberschaft und schließen konkrete Vereinbarungen hinsichtlich einer Weiterverwendung ab. Siehe dazu Pauser: Weiterverwendung von Informationen (Anm. 17), S. 52. 25 Vgl. Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=celex%3A32016R0679 (abgerufen am 06. 04. 2020).
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derer Kategorien (sensibler Daten) ein ständiger Begleiter von Archiven und Forschenden. Ähnliche Fragestellungen, wie zu der Verwendung von Digitalisaten, ergeben sich auch zu den online bereitgestellten Erschließungsdaten. Auch diese werden, sobald sie veröffentlicht sind, meist ohne Quellenangabe weiterverwendet. Bis in welche Tiefe sind erschlossene Bestände daher zu veröffentlichen? Wo darf der Kontext der Daten nicht verloren gehen? Gerade bei Erschließungsdaten im Archivinformationssystem zu Beständen der Zeitgeschichte, die eine Suche wesentlich erleichtern, folgt der Frage nach der Tiefenerschließung gleich die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Veröffentlichung. Soll und wenn ja, wann kann die Einzelaktenerschließung beispielsweise bei Strafakten oder Krankengeschichten erfolgen? Ab wann sind diese zu veröffentlichen ohne postmortale Persönlichkeitsrechte zu berühren und wie kann Datenmissbrauch verhindert werden? Interessant wird dies auch in Zukunft, wenn erschließende Metadaten von den Aktenproduzierenden Stellen bereits in digitaler Form an die Archive übermittelt werden. Auch dafür werden Regelungen im virtuellen Lesesaal zu treffen sein. Feststellbar ist jedenfalls eine allgemein gesteigerte Sensibilität hinsichtlich des Umgangs mit personenbezogenen Daten, sobald diese digital vorliegen. Schon die von der Öffentlichkeit geforderte und von Archiven selbst so bezeichnete „öffentliche Zugänglichkeit“ kann falsch interpretiert werden, wie sich gerade unlängst im Zusammenhang mit Krankengeschichten zeigte. Deren nicht anonymisierte Übernahme in öffentliche Archive wurde als unvereinbar mit der Wahrung von Persönlichkeitsrechten und Datenschutz gesehen.27 Diesen Standpunkt zur Verteidigung der ärztlichen Schweigepflicht hielten ArchivarInnen spätestens seit den Diskussionen in den 1990er- Jahren und der dank Archivgesetzen erfolgreich erkämpften Übernahme von Psychiatrie-Krankengeschichten der NS-Zeit vor 20 Jahren für überwunden. Eine anonymisierte Übernahme dieser zeitgeschichtlich relevanten Zeugnisse hätte wohl den historischen Wert der Quelle zerstört. Für Archive und auch für Forschende ist die neue DSGVO daher auch aufgrund der darin enthaltenen Ausnahmebestimmung von Bedeutung, dass personenbezogener Daten, die verpflichtend nach einer bestimmtes Zeit zu löschen wären, bei Archivwürdigkeit für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke jedoch archiviert werden können und der
26 Vgl. Bundesgesetz zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten (Datenschutzgesetz – DSG), BGBL I Nr. 165/1999 in der aktuellen Fassung: https:// www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=bundesnormen&Gesetzesnummer=1000 1597 (abgerufen am 14. 04. 2020). 27 Vgl. Reinhard Hübelbauer: Durchbrechung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht durch Archivrecht?. In: Zeitschrift für Gesundheitsrecht (2018), H. 4, S. 147.
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Forschung weiter zur Verfügung stehen.28 Das Recht auf Löschen und das Recht auf Informationszugang bleibt jedenfalls weiter in einem Spannungsverhältnis, in dem sich Archive bewegen müssen.
Zugang und Weiterverwendung Zwei Fragen sind vor jeder Veröffentlichung zu klären: Erstens, wie ist der Zugang geregelt? Und zweitens, was sind die Voraussetzungen für eine Weiterverwendung? Archive sind grundsätzlich für alle zu den gleichen Bedingungen zugänglich. Sie werden jedoch von unterschiedlichen Benutzergruppen konsultiert. Die österreichischen Archivgesetze berücksichtigen das mit differenzierten Zugangsbestimmungen, zum Beispiel Regeln für das allgemeine Publikum, für Forschende, für Betroffene etc. Wenn Archivgut nach Prüfung einem Benutzenden der Kategorie allgemeines Publikum freigegeben ist, dann steht es für alle offen zur Einsicht zur Verfügung. Generell ist der Zugang erst nach Ablauf der archivischen Schutzfrist möglich. Weitere Einschränkungen betreffen Übergabevereinbarungen von SchenkerInnen, konservatorische Auflagen, Beschränkungen bei personenbezogenen Daten und anderes. Eine gesetzliche Auflage ist auch die persönliche Einsicht vor Ort, die mit Ausweispflicht und einer Kenntnisnahme der Benutzungsordnung verbunden ist. Eine Verkürzung der Schutzfrist für wissenschaftliche Forschungen kann zweckgebunden beantragt werden. Jegliche Einsicht in Archivgut inkludiert dann auch die Möglichkeit Reproduktionen anzufertigen. BenutzerInnen können ihren Bedarf an digitalen Kopien über das Scannen on demand oder das Angebot des selbstständigen Scannens oder Fotografierens im Lesesaal decken. Auch bei diesen Prozessen ist jeweils eine Identifizierung erforderlich, entweder bei der Einsicht im Lesesaal oder durch Bekanntgabe der Daten bei Auftragsvergabe per Email. Die Weiterverwendung von Archivgut ist im WStLA unter Nennung der Herkunftsbezeichnung des Archivs gebühren- und genehmigungsfrei und inkludiert auch dessen Veröffentlichung. Auch eine Weiterverwendung für kommerzielle Nutzung ist frei, allerdings noch genehmigungspflichtig. Dem Archiv ist in diesem Fall der Verwendungszweck zu nennen. Der entsprechende Antrag zur kommerziellen Weiterverwendung von reproduziertem Archivgut steht auf
28 Vgl. DSGVO (wie FN 25): https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=celex%3A3 2016R0679 (abgerufen am 06. 04. 2020); Art. 5 Abs. 1 litt. b und e, Art. 9 Abs. 2 lit. j sowie Art. 89 Abs. 3.
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der Homepage zum Download zur Verfügung.29 Einschränkungen sind jedoch möglich, Informationen dazu finden sich in der im Internet abrufbaren Benutzungsordnung und im Archivinformationssystem (AIS) konkret und detailliert bei jedem Bestand. Für Bestände mit personenbezogenen Daten lebender Personen ist eine Einsicht für wissenschaftliche Forschung nur mit Bescheid zur Schutzfristverkürzung möglich. Die hier verwendeten personenbezogenen Daten dürfen gemäß Bescheid zwar eingesehen und digitalisiert werden, über das angeführte Projekt hinaus jedoch weder weiterverwendet noch weitergegeben werden und sind nach Abschluss des Projekts zu löschen.30 Die Datenhoheit innerhalb der Schutzfristen muss beim Archiv bleiben. Kontrollmöglichkeiten über Art und Weise der Weiterverwendung sind, sobald eine Reproduktion stattgefunden hat, beschränkt. Der Schritt zur einfachen Handhabung von Reproduktionsmöglichkeiten ist im WStLA bewusst im Sinne der Nutzungsfreundlichkeit gesetzt worden. Die Eigenverantwortung der NutzerInnen ist dadurch jedoch sicher stärker gefragt. Im Lesesaal werden jährlich ca. 49.000 Digitalisate durch NutzerInnen angefertigt. Die Zahl der Fotografien (meist mit dem Handy) ist unbekannt, aber ebenfalls sehr hoch. Wie diese weiterverwendet werden, liegt trotz Regelungen praktisch nicht mehr im Einflussbereich des Archivs. Im Moment einer Veröffentlichung durch NutzerInnen im Internet verselbständigen sich diese Quellen und entziehen sich jegliche Kontrolle sowohl durch das Archiv als auch durch die ErstnutzerInnen hinsichtlich ihrer weiteren Verwendung.
Digitalisierungsstrategie Wie bereits in der Einleitung erwähnt, priorisiert das WStLA in seiner Strategie jenes Archivgut, welches frei weiterverwendbar ist und sofort im Internet veröffentlicht werden kann. Gleiches gilt auch für Bestände mit schlechtem Gesamtzustand, die aus konservatorischen Gründen gesichert werden müssen. Priorisiert werden in dieser Gruppe wiederum Bestände, die einer starken Nachfrage und einer hohen Nutzungsfrequenz unterliegen. Im Rahmen dieser 29 Vgl. Antrag auf Weiterverwendung: http://www.wien.gv.at/amtshelfer/kultur/archiv/forsch ung/weiterverwendung.html (abgerufen am 19. 11. 2019). 30 Die Auflage zur Schutzfristverkürzung lautet: „Eine Weitergabe der bei diesen Arbeiten aus den Archivbeständen ermittelten personenbezogenen Daten an Dritte, ebenso die Weitergabe von im Rahmen der Bearbeitung angefertigten Reproduktionen personenbezogener Unterlagen an Dritte, ausgenommen zum Zweck der Archivierung, ist unzulässig.“ Unter Archivierung ist jene im öffentlichen Interesse gemäß DSGVO zu verstehen. Vgl. Antrag zur Verkürzung der Schutzfrist: https://www.wien.gv.at/amtshelfer/kultur/archiv/forschung/sch utzfristverkuerzung.html (abgerufen am 6. 09. 2020).
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Sicherheitsdigitalisierung werden rechtliche Einschränkungen der Weiterverwendung in Kauf genommen, wie beispielsweise bei Filmen31 oder Dias, deren Erhalt im Original gefährdet ist.32 In diesen Fällen wird die Finanzierung wird von der Stadt Wien zur Verfügung gestellt. Als zweite Schiene neben der Eigenfinanzierung laufen weitere Digitalisierungsprojekte zu zeitgeschichtlichen Quellen über Kooperationen, wie beispielsweise jene für Gerichtsakten, mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), oder jene über die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus mit Yad Vashem. Die Akten dienen Forschungs- und Dokumentationszwecken, eine generelle Veröffentlichung ist hier auch noch nicht möglich.
Veröffentlichungen Vom WStLA hergestellte Digitalisate werden für die Weiterverwendung unter der Lizenz CC-By-NC-ND 4.0 zur Verfügung gestellt. Dieselben Weiterverwendungsbedingungen gelten auch auf den archiveigenen Plattformen im Internet. Entsprechend der eigenen Digitalisierungsstrategie wird Archivgut in großem Umfang vor allem im AIS veröffentlicht. Der Zugang über das AIS hat den Vorteil, dass nicht nur kleine zeit- oder themenbezogene Quellen, sondern das gesamte Archivgut, ob analog, digitalisiert oder digital in einem System mit einer Oberfläche zur Verfügung steht.33 Digitalisiertes Archivgut wird an die erläuternden Erschließungsdaten angehängt. Das bietet derzeit die beste Möglichkeit auch bei Einzelstücken auf die verschiedenen Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten hinzuweisen. Hier können sowohl gemeinfreie Unterlagen in hoher Qualität zum Downloaden wie auch noch Schutzfristen (meist Urheberrecht) unterliegende Unterlagen in niedriger Auflösung dank Katalogfreiheit in einem System angeboten werden. Zeitgeschichtliche Bestände, die datenschutzrechtlichen Beschränkungen unterliegen, werden bei einer Schutzfrist von 110 Jahren jedoch noch eine zeitlang auf sich warten lassen. Online Zugang zu Archivgut, welches einer Nutzungsbeschränkung oder Schutzfristen unterliegt, ist als Konzept eines 31 Eine Veröffentlichung aller Filme ist aufgrund ungeklärter Urheberrechtsfragen nicht möglich. Einige konnten aber in einer wissenschaftlichen Kooperation zumindest Ausschnittsweise als wissenschaftliche Zitate zur Verfügung gestellt werden. Vgl. http://mediawien-film. at/ (abgerufen am 20. 05. 2020). 32 Ca. 3 % des Archivbudgets wurde dafür in den letzten Jahren aufgewendet. Zum Beispiel: Drei Filmbestände bestehend aus 1.700 Titeln mit teilweise ungeklärten Rechten: Mediawien, Wochenschau und NS-Archiv. 33 Vgl. Jonas Arnold, Christoph Baumgartner, David Gubler, Jörg Lang, Lambert Kansy, Stefan Kwasnitza: Konzept und Anforderung virtueller Lesesaal, Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare 2015: http://vsa-aas.ch/wp-content/uploads/2016/04/Konzept_und_A nforderungskatalog_Virtueller_Lesesaal.pdf (abgerufen am 14. 05. 2020).
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digitalen Lesesaals zwar im Fokus der zukünftigen Planung und Weiterentwicklungsstrategie des AIS, aber noch etliche Schritte von einer Realisierung entfernt.34 Als derzeit mögliche Alternative hat sich vor allem bei themenbezogener Suche eine Verknüpfung mit dem digitalen Wien Geschichte Wiki als der führenden Plattform zur Stadtgeschichte als zielführend erwiesen.35 Synergieeffekte ergeben sich hier unter anderem aus der Trefferanzeige von Archivmaterial durch Einsatz der Google Suche. Als erfolgreiches Beispiel mit vielen Zugriffen der letzten Zeit kann auf den Beitrag zu den Trümmerfrauen verwiesen werden.36
Schutz von Archivgut bei der Weiterverwendung Einerseits gelten die schon erwähnten Haftungs- und Schadenersatzverpflichtungen, die Archive von ihren BenutzerInnen fordern, die sich vor allem auf die missbräuchliche Verwendung von Archivgut im Zuge von Veröffentlichung und auf Schadensforderungen von Dritten beziehen.37 Ähnliche Formulierungen finden sich bei eigenen Veröffentlichungen im Internet bei den Nutzungsbedingungen im Impressum.38 Andererseits übermittelt das Archiv bei Anfragen und Bestellungen von Reproduktionen, die elektronisch zugestellt werden, keine Dokumente mit sensiblen personenbezogenen Daten per Email. Alle Digitalisate, die Daten besonderer Kategorien enthalten, werden ausschließlich über die gesicherte Cloud der Stadt (enterprise cloud storage) zur Verfügung gestellt. Konkreter eingehen möchte ich abschließend auf jene Veröffentlichungen, bei denen sich das Archiv entschieden hat ganz explizit auf das Verbot einer miss34 Vgl. dazu Gerald Maier, Christina Wolf: Umsetzung der Digitalisierungsstrategie im Landesarchiv Baden-Württemberg. In: Archivar, Zeitschrift für Archivwesen, 68 (2015), H. 3, S. 233–237. 35 Vgl. WAIS: https://www.intern.magwien.gv.at/actaproweb2/benutzung/index.xhtml (abgerufen am 22. 05. 2020); Wien Geschichte Wiki: https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Wien _Geschichte_Wiki (abgerufen am 22. 05. 2020). Auf der Wissensplattform des Wien Geschichte Wikis werden nur Vorschaubilder gebracht bzw. erfolgt von hier aus die Verlinkung in unser Archivinformationssystem. 36 Vgl. https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Tr%C3%BCmmerfrauen (abgerufen am 22. 05. 2020). 37 Beispielsweise Archivordnung für das Niederösterreichische Landesarchiv §18: http://www. noe.gv.at/noe/Landesarchiv/Archivordnung.html (abgerufen am 20. 05. 2020). 38 Beispiel Wien Geschichte Wiki (wie Anm. 35): „Bei Zuwiderhandeln gegen Bestimmungen dieser Nutzungsbedingungen behält sich die Stadt Wien rechtliche Schritte vor. Im Falle von Rechtsstreitigkeiten ist das sachlich zuständige Gericht am Sitz der Stadt Wien, Wien 1., Rathaus, ausschließlich zuständig. Es gilt die Anwendung österreichischen Rechtes als vereinbart.“
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bräuchlichen Verwendung hinzuweisen. Als prominentes Beispiel sollen dazu die Wappen der Stadt Wien herangezogen werden. Da das WStLA über die Rechte an den Bezirkswappen verfügt, stellt es diese digital zur freien Weiterverwendung über Download zur Verfügung. Um klar die Grenzen der Nutzung aufzuzeigen, orientiert sich das WStLA dabei textlich an den Nutzungsbestimmungen der OGD-Seite (open government data) der Stadt Wien: „Die Grafiken dürfen nicht für Anwendungen oder Veröffentlichungen verwendet werden, die kriminelle, illegale, rassistische, diskriminierende, verleumderische, pornographische, sexistische oder homophobe Aktivitäten unterstützen oder zu solchen Aktivitäten anstiften.“39 Dieser Text wurde mit Verweis auf die Lizenz direkt unter die Abbildung platziert und sowohl durch einen Rahmen wie auch farblich hervorgehoben.40 Als technische Sicherung werden darüber hinaus zur leichteren Nachverfolgung der Herkunft bei jedem veröffentlichten Digitalisat im Standard des International Press Telecommunications Council (IPTC) die Metadaten des Bildes hinterlegt, die zumindest das Archiv als Quellenhinweis, meist aber auch Lizenzangaben und Signatur enthalten. Diese IPTC hinterlegten Metadaten finden sich auch bei allen vom Archiv hergestellten Digitalisaten, die BenutzerInnen zur Veröffentlichung im Internet zur Verfügung gestellt werden. Eine weitere Sicherheitsschranke wird bei jenem Archivmaterial eingesetzt, das im AIS aufgrund der Nachfrage, der besseren Nutzungsmöglichkeit und aus konservatorischen Gründen veröffentlicht wird, obwohl die Urheberrechte ungeklärt sind. Hier werden im AIS nur Vorschaubilder unter Berufung auf die Katalogfreiheit veröffentlicht. Bestes Beispiel dafür ist die kürzlich übernommene Flugblattsammlung des Wiener Gauarchivs.41 Diese Serie beinhaltet fast ausnahmslos Flugblätter. Vereinzelt kommen zudem Broschüren und Flugschriften vor. Es finden sich aber auch Einladungen und kleinere Streuzettel sowie einige wenige Plakate unter den Unterlagen, wobei hier der Übergang zwischen Streuzetteln, Flugblättern und Plakaten fließend ist. Der Inhalt ist zumeist propagandistischer Art und stammt von so gut wie allen größeren in Österreich vor 1933 vertretenen Parteien. Da eine Nutzung dieser Serie nicht ausreichend durch die erschließenden Metadaten möglich ist, die Nachfrage stieg und der Zustand ein dauerndes Ausheben nicht erlaubte, digitalisierte das WStLA die Serie komplett und stellte 39 Vgl. https://digitales.wien.gv.at/site/open-data/ogd-nutzungsbedingungen/ (abgerufen am: 14. 05. 2020). 40 Vgl. https://www.wien.gv.at/bezirke/bezirkswappen/index.html (abgerufen am 14. 05. 2020). 41 Siehe Abbildung 1 und WStLA, Gauarchiv: Dokumentation, A2: Flugblattsammlung 1941– 1943 https://www.wien.gv.at/actaproweb2/benutzung/archive.xhtml?id=Ser+++++0327192 C-FCB4-4F09-93D2-333BC5D63B00lanm08wuj#Ser_____0327192C-FCB4-4F09-93D2-333B C5D63B00lanm08wuj (abgerufen am 14. 05. 2020).
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Brigitte Rigele
sie online zur Verfügung. Da die Werknutzungsrechte nicht zu klären waren, ist die Werknutzung auf freie Werknutzungsarten gemäß Urheberrechtsgesetz (Katalogfreiheit)42 beschränkt. Sowohl in Hinblick auf den Inhalt als auch um deutlich auf die eingeschränkte Weiterverwendung hinzuweisen, fiel die Entscheidung in diesem Fall – auch um Missbrauch im Sinne der Wiederbetätigung zu erschweren – die Digitalisate zusätzlich zu den ausführlichen Nutzungsbedingungen in den Erschließungsdaten und den IPTC Daten noch mit Wasserzeichen zu versehen.
Zusammenfassung Archive müssen sich aktiv mit der Frage auseinandersetzen, wie die künftige Nutzung und der Zugang gestaltet werden soll. Von Seiten der Archive ist zwischen der Anforderung der NutzerInnen alles digitalisiert bereitzustellen und dem was rechtlich möglich ist abzuwägen und eine Balance zu finden, wie Archivgut effizient digital bereitgestellt werden kann. Für das Archivgut des 20. Jahrhunderts und der NS Zeit steht der öffentlichen Forderung nach freiem Zugang über den Weg veröffentlichter Bestände noch in vielen Bereichen rechtliche Einschränkungen entgegen. Neben der schon länger bekannten und viel diskutierten Problematik des Urheberrechts, betrifft es für die Zeit des Nationalsozialismus und danach das umfangreiche Schriftgut, das immer noch personenbezogene Daten Lebender oder möglicherweise auch sensible Daten Verstorbener enthalten kann. Hier werden weiter Einzelfallprüfungen des Zugangs notwendig sein, die gegen eine Gesamtveröffentlichung des Materials von Seiten der Archive sprechen. Die spannenden Fragen „Wie offen kann der offene Zugang sein?“ und „Wer trägt die Verantwortung für die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben?“ werden auch in der Archivcommunity aktuell gestellt.43 Klar ist, dass es diverse technische und rechtliche Möglichkeiten gibt, Veröffentlichungen zu schützen, einen bewusst herbeigeführten Missbrauch werden diese nicht verhindern können. Dennoch dürfen Veröffentlichungen von frei zugänglichem Archivmaterial im 42 Vgl. Bundesgesetz über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Kunst und über verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz). §54 (1). BGBL 111/1936 in der gültigen Fassung. 43 Diesen Fragen widmet sich auch die neue open acess Zeitschrift: „Recht und Zugang“ (RuZ). erschienen im Normos Verlag. Vgl. dazu auch Andreas Nestl: Zugang im Archiv. Möglichkeiten und Grenzen für ein offenes Archiv im digitalen Zeitalter. In: RuZ 1 (2020), H.1, S. 1–5. https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2699-1284-2020-1-5/zugang-im-archiv-moeglichkei ten-und-grenzen-fuer-ein-offenes-archiv-im-digitalen-zeitalter-jahrgang-1-2020-heft-1 (abgerufen am 25. 05. 2020).
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Alles für alle? Offener Zugang und Weiterverwendung in öffentlichen Archiven
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Sinne der Informationsfreiheit und der Weiterverwendung nicht aus Angst vor möglichem Missbrauch behindert werden.
Abb. 1: Beispiel für ein antisemitisches Flugblatt mit Wasserzeichen zur Missbrauchserschwerung. WStLA, Gauarchiv Wien, A-2Flugblattsammlung: 7.52
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Claudia Kuretsidis-Haider
Justizakten als Geschichtsquelle – Vom Umgang mit den Findhilfsmitteln und Beständen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am DÖW
Zusammenfassung Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (FStN) am DÖW dokumentiert die Akten der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen in Österreich. Haupttätigkeit ist deren Erschließung sowie die Aufbereitung für die wissenschaftliche Forschung. Die Forschungsstelle bewahrt am DÖW Papierkopien, Mikrofilme und digitale Speichermedien auf, die Originalakten befinden sich entweder noch bei Gericht oder nach deren Abgabe in den jeweiligen Landesarchiven. Auf der Grundlage dieser Gerichtsakten hat die Forschungsstelle in den mehr als 20 Jahren ihres Bestehens zahlreiche Forschungs- und Dokumentationsprojekte durchgeführt. Der Beitrag behandelt die Frage nach den rechtlichen Voraussetzungen für die Nutzung der elektronischen Findhilfsmittel, Mikrofilme und Digitalisate für die historische Forschung und spricht die rechtliche Grauzone bei deren Plagiierung im Internet an. Schlagwörter Justizgeschichte, Digitalisierung, NS-Prozesse, Justizakten, Dokumentation Abstract Court Records as a Historical Source – The Handling of Finding Aids and Collections of the Austrian Research Agency for Post-War Justice at the DÖW The Austrian Research Agency for Post-War Justice (FStN) at the DÖW documents the records of the prosecution of Nazi crimes in Austria by the courts. The main activity is the indexing and compilation for scientific research. The FStN stores paper copies, microfilms and digital storage media at the DÖW, the original records are mostly preserved in the court archives or in the respective regional archives. On the basis of these court records, the FStN has carried out numerous research and documentation projects within the last 20 years. The article deals with the question of the legal requirements for the use of electronic finding aids, microfilms and digital copies for historical research and addresses the legal gray area when they are plagiarized on the Internet.
Claudia Kuretsidis-Haider, Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am DÖW, E-Mail: [email protected]
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Claudia Kuretsidis-Haider
Keywords History of Justice, Digitization, Nazi Trials, Judicial Files, Documentation
1.
Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (FStN) wurde am 14. Dezember 1998 gegründet.1 Die Forschungsstelle dokumentiert die Akten der justiziellen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Österreich.2 Sie ist ein zentraler Ort des Wissens über die Akten, nicht aber von Originalakten selbst, wohl aber von Papierkopien, Mikrofilmen und digitalen Speichermedien. Die Dokumentation erfolgt mittels elektronischer Findhilfsmittel, Mikrofilmkopien und Digitalisate. Die Verfahren werden nach den untersuchten Verbrechen und Tatorten ausgewertet und abfragbar gemacht. Die Recherche- und Erschließungsarbeiten finden am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) statt, die Mikrofilme werden in einer Sicherungskopie auch im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA) aufbewahrt. Die von der FStN im Zuge von Forschungs- und Dokumentationsprojekten erschlossenen in- und ausländischen Justizdokumente sind den DÖW-Beständen eingegliedert. Die Forschungsstelle ist mit ihrer Arbeit im Laufe der Jahre zu einem wichtigen Dokumentationszentrum innerhalb der internationalen scientific community rund um Fragestellungen des Umgangs der Nachkriegsgesellschaften mit den NS-Verbrechen geworden. Die erschlossenen Aktenbestände umfassen eine große Anzahl an Verfahren wegen NS-Verbrechen: Allein zwischen 1945 und 1955 wurden von den Staatsanwaltschaften bei den vier Volksgerichten am Sitz der Oberlandesgerichte in Wien, Graz (mit Außensenaten in Leoben und Klagenfurt), Linz (mit Außensenaten in Salzburg und Ried im Innkreis) und Innsbruck 136.829 Vorerhebungen bzw. Voruntersuchungen nach dem Kriegsverbrechergesetz (KVG)3 oder dem
1 Vgl. Nikolaus Michalek, Grußansprache zur Ero¨ ffnung der Zentralen o¨ sterreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Mitteilungen, Folge 140 (Februar 1999), S. 2. 2 Über die Tätigkeit der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz vgl. ausführlich: Claudia Kuretsidis-Haider: 20 Jahre Zentrale o¨ sterreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. Ein Werkstattbericht. In: Zeithistoriker – Archivar – Aufklärer. Festschrift fu¨ r Winfried R. Garscha. Hg. von Claudia Kuretsidis-Haider, Christine Schindler im Auftrag des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und der Zentralen o¨ sterreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, Wien: DÖW 2017, S. 425–450. 3 Vgl. StGBl Nr. 32/1945, Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 u¨ ber Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (KVG).
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Justizakten als Geschichtsquelle
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NS-Verbotsgesetz (VG)4 gerichtsanhängig gemacht. Diese Ermittlungsverfahren führten zu 28.148 Anklagen. Die Zahl der Schuldsprüche betrug 13.607, davon waren 43 Todesurteile und 29 lebenslängliche Freiheitsstrafen.5 1955 wurde die Ahndung von NS-Verbrechen an die ordentliche Gerichtsbarkeit übertragen; von dieser wurden bis 2014 gegen rund 5.000 Personen einschlägige Ermittlungen angestrengt.6
2.
Justizakten als Geschichtsquelle7
Die Akten der polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Erhebungen zu nationalsozialistischen Verbrechen sind in vielen Fällen – unabhängig vom Urteilsspruch – mit ihren zahlreichen Querverweisen, Dokumenten sowie Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen das einzige Quellenmaterial für die Zeit- und Rechtsgeschichtsschreibung sowie für politikwissenschaftliche Fragestellungen.8
4 Vgl. StGBl Nr. 13/1945, Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 u¨ ber das Verbot der NSDAP (VG). Das Bundesverfassungsgesetz vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten (Nationalsozialistengesetz), BGBl Nr. 25/1947, novellierte das Verbotsgesetz aus dem Jahr 1945. Es definierte in der neuen Fassung genauer, unter welchen Bedingungen bestimmte Taten in einer bestimmten Weise zu bestrafen waren. Siehe dazu ausführlich: Claudia Kuretsidis-Haider: Das Nationalsozialistengesetz 1947. Weiterentwicklung von Verbotsgesetz und Kriegsverbrechergesetz zum NSG 1947, URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/service/gesetze /nsg1947.php (abgerufen am 18. 05. 2020). 5 Diese Zahlen wurden bereits in den ausgehenden 1980er Jahren vom damaligen Generalanwalt Karl Marschall erhoben, blieben aber in der Forschung lange Zeit unbeachtet. Vgl. Karl Marschall: Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich. Eine Dokumentation, 2. Aufl., Wien: BMJ 1987, S. 34–36. Vgl. dazu auch: URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/volksg/marschall_tabelle1.php (abgerufen am 18. 05. 2020). 6 Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider: NS-Verbrechen vor österreichischen und bundesdeutschen Gerichten. Eine bilanzierende Betrachtung. In: Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich. Hg. von Thomas Albrich, Winfried R. Garscha, Martin F. Polaschek. Innsbruck–Wien–Bozen: Studienverlag 2006, S. 329–352; S. 346f. 7 Die Ausführungen dieses Kapitels stützen sich, wenn nicht anders angegeben, im Wesentlichen, aber in gekürzter Form, auf die Hilfestellung der Forschungsstelle zur Suche nach Gerichts- und Staatsanwaltschaftsakten auf ihrer Website, URL: http://www.nachkriegsjustiz. at/service/suche/tips_suche.php (abgerufen am 18. 05. 2020). 8 Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider, „Das Volk sitzt zu Gericht“. Österreichische Justiz und NSVerbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse 1945–1954, Innsbruck–Wien–Bozen: Studienverlag 2006 (= Österreichische Justizgeschichte 2), S. 29.
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66 2.1.
Claudia Kuretsidis-Haider
Akten in den Aktenlagern der Gerichte und Staatsanwaltschaften
Für die Einsichtnahme in die Gerichtsakten gelten die Bestimmungen der Strafprozessordnung (in der seit 1. Jänner 2008 gültigen Fassung des Strafrechtsänderungsgesetzes 20069, BGBl. I 2006/56)10 und der Geschäftsordnung der Gerichte I. und II. Instanz11. Für die Einsichtnahme in Staatsanwaltschaftsakten (Tagebücher der Staatsanwaltschaften12, Handakten der Oberstaatsanwaltschaften13) gelten die entsprechenden Bestimmungen des Staatsanwaltschaftsgesetzes (StAG).14 Die Genehmigung durch das Gericht bzw. die Oberstaatsanwaltschaft entbindet die ForscherInnen aber nicht von der Verpflichtung, Bestimmungen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes zu beachten. a)
Gerichtsakten
Nach der Geschäftsordnung der Gerichte I. und II. Instanz (§ 174 Z. 8 Geo.)15 sind Strafakten von Verfahren, in denen eine Verurteilung wegen Verbrechens (d. h. wegen vorsätzlicher Handlungen, die mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind) erfolgte, von den Gerichten 50 Jahre lang aufzubewahren. Dauernd aufzubewahren sind lt. § 173 Abs. 1 Z. 1 Geo.16 „alle Akten, die wegen ihres Inhalts oder wegen der beteiligten Personen ein geschichtliches, wissenschaftliches oder politisches Interesse bieten […], einschließlich der Justizverwaltungsakten, die für die allgemeine oder örtliche Geschichte Bedeutung haben“.17 Lt. § 173 Abs. 2 sind diese Akten nach Ablauf von 50 Jahren den Landesarchiven (auf deren Verlangen) zu übergeben. Per Erlass des Bundesministeriums für Justiz, der im Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung (JABl.) veröffentlicht ist, wurde am 6. Dezember 1978 klargestellt, dass „keine Bedenken“ bestehen, derartige Akten „den zuständigen Landesarchiven schon vor Ablauf der in § 173 Abs. 2 9 Vgl. URL: https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/I/2006/56 (abgerufen am 18. 05. 2020). 10 Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2006 samt den inzwischen erfolgten Novellierungen (BGBl. I 2006/102, 2007/93 und 109) wurden per 1. Jänner 2008 das Ermittlungsverfahren im Strafprozess neu geregelt, die Einrichtung des Untersuchungsrichters abgeschafft, sowie die staatsanwaltschaftlichen Kompetenzen und die Opfer-Rechte erweitert. 11 Vgl. URL: https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetz esnummer=10000240¶graf=170 (abgerufen am 18. 05. 2020). 12 Zu jedem Fall der Staatsanwaltschaft wird ein Tagebuch geführt, in dem die wesentlichen Verfahrensschritte festgehalten werden. 13 Handakten sind die von einer Prozesspartei, einem Rechtsanwalt oder der Staatsanwaltschaft innerdienstlich gesammelten und zu einem bestimmten Rechtsfall gehörenden Schriftstücke. 14 Vgl. URL: https://rdb.manz.at/document/ris.n.NOR12011489 (abgerufen am 18. 05. 2020). 15 Vgl. URL: https://www.jusline.at/gesetz/gvgo/paragraf/174 (abgerufen am 18. 05. 2020). 16 Vgl. URL: https://www.jusline.at/gesetz/gvgo/paragraf/173 (abgerufen am 18. 05. 2020). 17 § 382 Abs. 2 Z. 6 Geo. URL: https://www.jusline.at/gesetz/gvgo/paragraf/382 (abgerufen am 18. 05. 2020).
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Justizakten als Geschichtsquelle
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Geo. genannten Frist zu übergeben, wenn das Archiv zur Übernahme bereit ist und sich zur dauernden Aufbewahrung der Akten sowie dazu, sie für die Gerichtserfordernisse zur Verfügung zu halten und die Einsicht in die zu gewähren, schriftlich verpflichtet.“18 Zu den dauernd aufzubewahrenden Akten gehören seit der Novelle der Geschäftsordnung für die Gerichte I. und II. Instanz im Jahr 199919 sämtliche Gerichtsdokumente, die sich mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus beschäftigen. Die Akten der Volksgerichte waren allerdings bereits vorher als „dauernd aufzubewahren“ gekennzeichnet worden. Die Zuständigkeit der Gerichte für die Erteilung von Einsichtgenehmigungen gemäß § 77 StPO20 existiert nur für diejenigen Akten, für welche die 50-JahresFrist nach dem letzten Gerichtsbeschluss in der jeweiligen Strafsache noch nicht abgelaufen ist. Das trifft in der Regel auf sämtliche Akten der seit 1970 geführten Strafverfahren zu und zwar unabhängig vom Aufbewahrungsort des Akts; d. h. unabhängig davon, ob der Akt bereits an das zuständige Landesarchiv abgegeben wurde oder sich noch im Aktenlager des Gerichts befindet. Wenn keine personenbezogene Auswertung des Akts vorgesehen ist, reicht für die Antragstellung auf Akteneinsicht der Nachweis der Seriosität des Forschungsvorhabens, der in der Regel durch ein Schreiben des Leiters / der Leiterin „anerkannter wissenschaftlicher Einrichtungen“ (§ 77 Abs. 2 StPO) erbracht wird. Eine ausschließlich journalistische Verwertung ist durch das Gesetz nicht vorgesehen, allerdings kann die Einsichtgenehmigung auch für nicht-wissenschaftliche, aber „vergleichbare, im öffentlichen Interesse liegende Untersuchungen“ gewährt werden. Ist eine personenbezogene Auswertung, etwa im Falle der Arbeit an einer Biografie zu einem/einer verurteilten NS-TäterIn, beabsichtigt, oder ist aus anderen Gründen eine namentliche Auswertung zumindest von Teilen des Akts vonnöten, so ist es erforderlich, einen Antrag auf Akteneinsicht gemäß § 77 Abs. 1 zu stellen und diesen mit der Notwendigkeit dieser personenbezogenen 18 Erlass vom 6. Dezember 1978, betreffend die Auswahl und Aufbewahrung von und die Einsichtgewährung in Justizakten von geschichtlichem oder politischem Interesse (JMZ 598 007/ 2-II 1/78). In: Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung, Jg. 1979 Stück 2, 26. 02. 1979, S. 8f. 19 Einfügung der Ziffern 13 (Akten der Rückstellungs- und Rückgabekommissionen) und 14 (Volksgerichtsakten, Schwur- und Geschworenengerichtsakten). 20 Vgl. URL: https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/1975/631/P77/NOR40202488 (abgerufen am 18. 05. 2020). Die bis 2007 gültige Regelung der Einsichtnahme in einen Gerichtsakt in der StPO war in den §§ 82 (personenbezogene Auswertung) bzw. 82a (nicht-personenbezogene Auswertung) geregelt. Vgl. dazu: Martin F. Polaschek: Rechtliche Fragen im Umgang mit Gerichtsakten als historischer Quelle. In: Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945. Hg. von Claudia Kuretsidis-Haider, Winfried R. Garscha. Leipzig–Wien: Akademische Verlagsanstalt 1998, S. 285–302.
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Claudia Kuretsidis-Haider
Auswertung für das Forschungsvorhaben zu begründen. § 77 Abs. 3 StPO schreibt zwingend vor, dass die Verwendung von Informationen aus dem Akt, die nicht im Zuge der öffentlichen Hauptverhandlung zur Sprache gekommen sind oder auf andere Weise während des Gerichtsverfahrens öffentlich geworden sind, nicht gestattet ist. b)
Staatsanwaltschaftsakten
Die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Gerichtsverfahrens wird im so genannten staatsanwaltschaftlichen Tagebuch dokumentiert. Staatsanwaltschaftliche Tagebücher können von einigen Eintragungen auf dem zu einem A4-Umschlag zusammengelegten Vordruck im Format A3 bis zu umfangreichen, viele Bände umfassenden Beständen reichen. Letzteres gilt vor allem für Geschworenengerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen in den 1960er und 1970er Jahren. Forschungsrelevant ist das staatsanwaltschaftliche Tagebuch vor allem dann, wenn der Gang des Gerichtsverfahrens und die Strategie der Strafverfolgungsbehörden untersucht werden sollen. Werden Justizakten hingegen vor allem als historische Quelle für die NS-Verbrechen verwendet bzw. Aussagen von ZeugInnen und Beschuldigten analysiert, so ist das staatsanwaltschaftliche Tagebuch von geringem Aussagewert, da in Österreich diese Dokumente auch dann Bestandteil des Gerichtsakts sind, wenn es sich um Aussagen oder Berichte handelt, die im Zuge einer gerichtlichen Voruntersuchung eingeholt wurden. Zuständig für die Einsichtgewährung in das staatsanwaltschaftliche Tagebuch ist die vorgesetzte Behörde, d. h. die Oberstaatsanwaltschaft (OStA). Die konkreten Modalitäten der Einsichtnahme müssen mit der verwahrenden Stelle geklärt werden, die von der OStA über die Erteilung der Einsichtgenehmigung unterrichtet wird. Die OStA ist auch für die Einsichtgenehmigung in ihre eigenen Verfahrensakten („Handakten“ der OStA) zuständig. Diese können, insbesondere bei so genannten Prozesskomplexen (z. B. Auschwitz21), sehr umfangreich sein. Die Einsichtnahme ist in § 35 StAG22 geregelt. Eine den Bestimmungen für die Einsichtnahme in Gerichtsakten vergleichbare Unterscheidung zwischen perso21 Vgl. dazu bspw. Claudia Kuretsidis-Haider, Johannes Laimighofer, Siegfried Sanwald: Au¨ sterreichische Akteure im schwitz-Ta¨ ter und die o¨ sterreichische Nachkriegsjustiz. In: Ta¨ter. O Nationalsozialismus. Hg. von Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien: DÖW 2014 (= Jahrbuch 2014), S. 13–39; hier S. 26–38. 22 „§ 35 StAG: Abs. 1: Das Recht auf Einsicht in Tagebücher steht […] nur staatsanwaltschaftlichen Behörden und dem Bundesministerium für Justiz […] zu. […]; Abs. 3: Darüber hinaus kann das Bundesministerium für Justiz oder die Oberstaatsanwaltschaft zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung oder aus anderen vergleichbar wichtigen Gründen Einsicht
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Justizakten als Geschichtsquelle
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nenbezogener und nicht-personenbezogener Auswertung ist im StAG nicht vorgesehen, da eine nicht-personenbezogene Auswertung staatsanwaltschaftlicher Tagebücher schwer vorstellbar ist.
2.2.
Akten in den Landesarchiven
Mit dem Ende der gerichtlichen Zuständigkeit für die Aufbewahrung der Akten endet auch die Anwendbarkeit der Strafprozessordnung bzw. der Geschäftsordnung der Gerichte. Für die Benutzung der Volksgerichtsakten (1945–1955) gelten die jeweiligen Landesarchivgesetze bzw. Archivordnungen. Am 1. Juni 2006 übernahm das Wiener Stadt- und Landesarchiv die Akten des Volksgerichts Wien.23 Sie sind ausschließlich dort, und zwar nach den Bestimmungen betreffend die Verkürzung der Schutzfristen einsehbar, die für alle Akten des WStLA gelten, die besonderen Schutzbestimmungen unterliegen. Es sei denn, der/die Angeklagte bzw. die in einem Ermittlungsverfahren beschuldigte Person ist nachweislich bereits verstorben oder es sind seit ihrer Geburt 110 Jahre vergangen.24 Die Akten des Linzer Volksgerichts (einschließlich der Außensenate Salzburg und Ried/Innkreis) befinden sich zur Gänze im Oberösterreichischen Landesarchiv (OÖLA).25 NS-Verfahren, die nach 1955 in Linz, Ried/Innkreis, Steyr und Wels geführt wurden, sind teilweise an das OÖLA abgegeben worden. Akten der am Landesgericht Salzburg seit den 1960er Jahren geführten Untersuchungen wegen NS-Verbrechen befinden sich im Salzburger Landesarchiv. In Innsbruck liegen sämtliche Akten betreffend NS-Verfahren im Tiroler Landesarchiv. Für die Genehmigung zur Akteneinsicht in Akten ab Mitte der 1960er Jahre ist aber weiterhin das Landesgericht Innsbruck zuständig. Die Verfahren des Volksgerichts Graz und seines Außensenats in Leoben befinden sich im Steiermärkischen Landesarchiv, jene des volksgerichtlichen Außensenats in Klagenfurt sind im Kärntner Landesarchiv einzusehen. Die in Tagebücher gestatten. In diesem Fall soll die Einsicht nicht gewährt werden, bevor seit Zurücklegung der Anzeige oder sonstiger Beendigung des Verfahrens zehn Jahre vergangen sind.“ Vgl. URL: https://www.jusline.at/gesetz/stag/paragraf/35 (abgerufen am 18. 05. 2020). 23 Vgl. URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrW&Gesetzesnummer =20000162 (abgerufen am 18. 05. 2020). 24 Vgl. URL: https://www.wien.gv.at/actaproweb2/benutzung/archive.xhtml?id=Ser+++++000 08640ma8Invent sowie URL: https://www.wien.gv.at/amtshelfer/kultur/archiv/forschung/sch utzfristverkuerzung.html (abgerufen am 18. 05. 2020). 25 Vgl. Peter Eigelsberger: Zu den Volksgerichtsakten im Obero¨ sterreichischen Landesarchiv, URL: https://www.stadt-salzburg.at/fileadmin/landingpages/stadtgeschichte/ns_projekt/do kumente/ooela_volksgericht.pdf sowie URL: http://www.ns-quellen.at/bestand_anzeigen_d etail.php?bestand_id=20002204 (abgerufen am 18. 05. 2020).
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Claudia Kuretsidis-Haider
Akten des seit Anfang der 1960er Jahre in Salzburg, Wien und Klagenfurt geführten Aktion-Reinhard-Verfahrens26 befinden sich im Aktenlager des Landesgerichts Klagenfurt.
3.
Die Mikroverfilmung von Volksgerichtsakten
Die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz hat seit ihrer Gründung 1998 unter Einhaltung der genannten Vorschriften zur Einsichtgenehmigung sowie der datenschutzrechtlichen Bestimmungen eine große Anzahl von Volksgerichtsverfahren, Verfahren vor Geschworenengerichten nach 1955 sowie Ermittlungsverfahren zunächst mikroverfilmt, später digitalisiert (siehe Kapitel 5). Bereits 1993 wurde mit der Mikroverfilmung von Akten des Volksgerichts Wien im Rahmen des Forschungsprojekts „Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945–1955) als Geschichtsquelle“ begonnen.27 Der große Umfang der sich damals noch zum Teil im Bereich der Justizverwaltungen, teilweise aber auch schon bei den jeweiligen Landesarchiven befindlichen Gerichtsakten, erforderte eine Konzentration auf bestimmte Tatkomplexe. Den thematischen Schwerpunkt bei der Auswahl der Gerichtsakten, die sich auch in zahlreichen Publikationen ihrer MitarbeiterInnen widerspiegelten, bildeten: – Verbrechen der Endphase, vor allem begangen von SS-, SA- und Volkssturmmännern. Dazu zählen insbesondere die Ermordung und Misshandlung von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern im Rahmen des Südostwallbaus28 sowie das Massaker im Zuchthaus Stein am 6. April 194529 26 Vgl. Winfried R. Garscha: Das Scheitern des „kleinen Eichmann-Prozesses“ in Österreich. In: URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/hoefle.php (abgerufen am 18. 05. 2020). 27 Vgl. dazu ausführlich: Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945–1955) als Geschichtsquelle. Abschlussbericht des vom Fonds zur Fo¨ rderung der wissenschaftlichen For¨ W, Juli 1996, URL: http://www.doew.at/cm schung finanzierten Forschungsprojekts des DO s/download/3qf8r/projekt_vg_wien.pdf (abgerufen am 22. 05. 2020); Eva Holpfer: Die Verfilmung von Gerichtsakten des Vg Wien und des LG Wien. In: Justiz und Erinnerung. Hg. vom Verein zur Fo¨ rderung justizgeschichtlicher Forschungen und vom Verein zur Erforschung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und ihrer Aufarbeitung, Nr. 3 / Oktober 2000, S. 7f. 28 Vgl. Kuretsidis-Haider: Das Volk sitzt zu Gericht (Anm. 8); Susanne Uslu-Pauer: „Vernichtungswut und Kadavergehorsam“. Strafrechtliche Verfolgung von Endphaseverbrechen am Beispiel der so genannten Todesmärsche. In: Der Fall Österreich. Hg. von Albrich, Garscha, Polaschek. S. 279–304 (Anm. 6); Eva Holpfer: Das Massaker an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern zu Kriegsende in Deutsch-Schützen (Burgenland) und seine gerichtliche Ahndung durch die österreichische Volksgerichtsbarkeit. In: Holocaust Hefte Nr. 12/1999. Hg. von der Ungarischen Auschwitz Stiftung, Holocaust Dokumentationszentrum. Budapest, ¨ sterreich. Todesma¨rsche und ihre gerichtliche S. 43–70; Susanne Uslu-Pauer: Kriegsende in O Ahndung. In: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 10 / Mai 2005, S. 15–18; Eva Holpfer: Der
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– Verbrechen von aus Österreich stammenden Angehörigen der Deutschen Polizei im ehemaligen Ostgalizien, vor allem bei der Räumung der Ghettos30 – Euthanasie-Verbrechen in psychiatrischen Kliniken31 – sogenannte „Schreibtischverbrechen“, begangen vor allem in Zusammenhang mit den Deportationen in die Vernichtungslager32 – Verbrechen von Mitarbeitern der Gestapoleitstelle Wien bzw. der GestapoAußenstelle St. Pölten – Denunziation, insbesondere von WiderstandskämpferInnen33 – Massenvernichtungsverbrechen und Misshandlungen in (Vernichtungs-)lagern darunter Verfahren gegen Angehörige des Bewachungspersonals des KZ Auschwitz34, des KZ Mauthausen35 und seiner Nebenlager und Außenkommandos36 sowie anderer Konzentrationslager.37
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Umgang der burgenländischen Nachkriegsgesellschaft mit NS-Verbrechen bis 1955 am Beispiel der wegen der Massaker von Deutsch-Schu¨ tzen und Rechnitz gefu¨ hrten Volksgerichtsprozesse, Dipl. Universität Wien 1998. Vgl. Stein, 6. April 1945. Das Urteil des Volksgerichts Wien (August 1946) gegen die Verantwortlichen des Massakers im Zuchthaus Stein. Hg. von Gerhard Jagschitz, Wolfgang Neugebauer. Wien: DÖW 1995; Konstantin Ferihumer: Der Stein-Komplex. Zur Aufarbeitung von Kriegsendphaseverbrechen des Zweiten Weltkriegs im Raum Stein a. d. Donau, Masterarbeit Universität Wien 2012; Konstantin Ferihumer, Winfried R. Garscha: Der „SteinKomplex“. Nationalsozialistische Endphaseverbrechen im Raum Krems und ihre gerichtliche Aufarbeitung. In: Fanatiker, Pflichterfüller, Widersta¨ndige. Reichsgaue Niederdonau, GroßWien. Hg. von Dokumentationsarchiv des o¨ sterreichischen Widerstandes., Wien: DÖW 2016 (= Jahrbuch 2016), S. 51–82. Vgl. Eva Holpfer, Sabine Loitfellner: Holocaustprozesse wegen Massenerschießungen und Verbrechen in Lagern im Osten vor österreichischen Geschworenengerichten. Annäherung an ein unerforschtes Thema. In: Der Fall Österreich. Hg. von Albrich, Garscha, Polaschek. (Anm. 6), S. 87–126; Gabriele Pöschl: „Wir sind nicht aus dem Heiligen Land gekommen, um Rache zu fordern“. Die Verbrechen in nationalsozialistischen Ghettos aus juristischer Sicht. In: Ebenda, S. 127–151. Vgl. Martin Achrainer, Peter Ebner: „Es gibt kein unwertes Leben“. Die Strafverfolgung der „Euthanasie“-Verbrechen. In: Ebenda, S. 57–86; Christina Altenstrasser, Peter Eigelsberger, Lydia Thanner, Konstantin Putz: Niedernhart. Juni 1946. Ein Bericht. In: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 8 / Oktober 2003, S. 6–13. Vgl. Eva Holpfer: „Ich war nichts anderes als ein kleiner Sachbearbeiter von Eichmann“. Die justizielle Ahndung von Deportationsverbrechen in Österreich. In: Der Fall Österreich. Hg. von Albrich, Garscha, Polaschek (Anm. 6), S. 151–182. Vgl. Heimo Halbrainer: „Der Angeber musste vorhersehen, dass die Denunziation eine Gefahr für das Leben des Betroffenen nach sich ziehen werde“. Volksgerichtsverfahren wegen Denunziation mit Todesfolge in Österreich. In: Ebenda, S. 229–261. Vgl. Sabine Loitfellner: Auschwitz-Verfahren in Österreich. Hintergründe und Ursachen eines Scheiterns. In: Der Fall Österreich. Hg. von Albrich, Garscha, Polaschek (Anm. 6), S. 183–197; Dies.: Was blieb von den o¨ sterreichischen Auschwitzprozessen der 70-er Jahre? In: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 10 / Mai 2005. Vgl. Irene Leitner: Mauthausen und die Justiz. In: Ebenda, Nr. 9 / Dezember 2004, S. 8–17; Konstantin Putz: Mauthausen und die Justiz (IV). In: Ebenda, Nr. 8 / Oktober 2003, S. 16–32; Ders.: Mauthausen und die Justiz III. Der Ort Mauthausen im Spiegelbild der Linzer Volks-
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Claudia Kuretsidis-Haider
Neben der Funktion des/der Beschuldigten im NS-System war die Höhe des Strafausmaßes (Todesurteil, lebenslänglicher Kerker, 20 Jahre schwerer Kerker) ein weiteres Kriterium für die Auswahl der zu verfilmenden Gerichtsakten. Ab 1996 wurde die Mikroverfilmung in Kooperation mit Yad Vashem – The Holocaust Martyr’s and Heroes’ Remembrance Authority in Jerusalem und in weiterer Folge mit dem US-Holocaust-Memorial Museum (USHMM) durchgeführt. Dies führte zu einer Ausweitung der Auswahl der zu verfilmenden Akten auf Verfahren wegen der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, darunter insbesondere Verfahren wegen Massenvernichtungsverbrechen im KZ Auschwitz38 und Verfahren gegen Angehörige von Einsatzkommandos in den 1960er Jahren39 sowie Verfahren wegen missbräuchlicher Bereicherung („Arisierung“).40 Die verfilmten Akten erhielten DÖW-Signaturen und wurden während des Verfilmungsvorgangs mit Lichtmarkierungen (sogenannten Blips) versehen. Dadurch konnten Kernstücke des Verfahrens (Antrags- und Verfügungsbogen, Anzeige der Sicherheitsdirektion mit Zusammenfassung der polizeilichen Ermittlungsergebnisse, Vernehmungsprotokolle der Beschuldigten und der ZeugInnen, Anklageschrift, Hauptverhandlungsprotokoll sowie Urteil) im Mikrofilm hervorgehoben werden und sind damit rascher aufzufinden.41 Mit dieser Methode wurden insgesamt 1.670 Gerichtsakten verfilmt und ausgewertet. Sie bilden im Archiv des DÖW den Bestand der Justizakten-Mikrofilme und sind für die Forschung zugänglich.
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gerichtakten. Eine Materialsammlung. In: Ebenda, Nr. 7 / Februar 2003, S. 12–26; Winfried R. Garscha: Mauthausen und die Justiz (II). In: Ebenda, Nr. 6 / September 2002, S. 12–18. Vgl. Peter Eigelsberger: „Mauthausen vor Gericht“. Die österreichischen Prozesse wegen Tötungsdelikten im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern. In: Der Fall Österreich. Hg. von Albrich, Garscha, Polaschek. (Anm. 6), S. 198–228; Ders.: Mauthausen und die Justiz (I). In: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 5 / Januar 2002, S. 6–10. ¨ sterreichische KZ-Prozesse. Eine Übersicht. In: Ebenda, Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider: O Nr. 12 / Dezember 2006, S. 14–21. Vgl. URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/auschwitz_wien1972.php (abgerufen am 18. 05. 2020). Vgl. dazu: URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/udssr_verbrechen. php (abgerufen am 18. 05. 2020). Vgl. Sabine Loitfellner: Arisierungen wa¨ hrend der NS-Zeit und ihre justizielle Ahndung vor dem Volksgericht Wien 1945–1955. Voraussetzungen – Analyse – Auswirkungen. In: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 4 / Mai 2001, S. 20–26; Dies.: Arisierungen wa¨ hrend der NS– Zeit und ihre justizielle Ahndung vor dem Volksgericht Wien 1945–1955. Voraussetzungen – Analyse – Auswirkungen, Dipl. Universität Wien 2000. Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider: Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. In: Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte. Hg. von Jürgen Finger, Sven Keller, Andreas Wirsching. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 238–242, hier S. 241.
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Justizakten als Geschichtsquelle
4.
EDV-basierte Erfassung von Volksgerichtsverfahren
4.1.
Die EDV-Erfassung der Kartei der am Volksgericht Wien zwischen 1945 und 1955 geführten gerichtlichen Voruntersuchungen und Aufbau der Vg-Datenbank42
73
Neben der themenspezifischen Verfilmung und Tiefenerschließung ausgewählter Gerichtsakten erwies es sich für einen Überblick über die Vg-Prozesse als notwendig, eine Gesamterfassung der an den vier Volksgerichtsstandorten geführten Verfahren vorzunehmen. In einem ersten Arbeitsschritt wurden die 52.601 von der Staatsanwaltschaft Wien zwischen 1945 und 1955 gerichtsanhängig gemachten und damals in der Einlaufstelle des Landesgerichtes für Strafsachen Wien in einer eigenen, phonetisch aufgebauten Kartei mit rund 40.000 Karteikarten dokumentierten Volksgerichtsverfahren in einer Datenbank erschlossen. Die auf den Karteikarten enthaltenen Parameter bildeten die Grundstruktur der heute im DÖW einsehbaren Vg-Datenbank und enthalten im wesentlichen folgende Informationen: Name; Vorname; akademischer Titel; Geburtsdatum; Geschäftszahl(en) des Gerichtes, unter denen das Verfahren eingeleitet wurde; die Paragraphen des NS-Verbotsgesetzes, des Kriegsverbrechergesetzes, des österreichischen Strafgesetzes, des Wahlgesetzes, und anderer Gesetze, nach denen das Verfahren eingeleitet wurde. Weiters sind Informationen zu allfälligen Auslieferungsverfahren, Verfahrenseinstellungen und Faktenausscheidungen enthalten. 1999/2000 wurden so insgesamt 38.675 Karteikarten in Form von Personendatensätzen EDV-mäßig angelegt. Im Jahr 2000 stellte das Landesgericht für Strafsachen Wien dem DÖW und der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz als zusätzliche Informationsquelle das Verfahrensregister (Vr-Register) und das Hauptverhandlungsregister (Hv-Register) zur Verfügung, welche in die Datenbank integriert wurden. Mit der Verknüpfung der Namenskartei und der beiden Register konnte die Vg-Datenbank aufgebaut werden. Jedes Verfahren bildet einen Datensatz, der aus einer Verfahrensseite, einer Personenseite, einer Detailseite und einer Urteilsseite besteht. Abgefragt werden kann u. a. nach Personen, Verfahren, Straftatbeständen, Tatorten und Opfergruppen.43
42 Vgl. Andrea Steffek, Susanne Uslu–Pauer: Das Projekt „Die Kartei der Wiener Volksgerichtsprozesse 1945–1955“, in: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 3 / Oktober 2000, S. 3–7. 43 Vgl. eine ausführliche Beschreibung der Datenbank: EDV-gestu¨ tzte Erschließung der Volksgerichtsakten im Obero¨ sterreichischen Landesarchiv. Bericht u¨ ber das Ergebnis des Pilotprojekts an das Bundesministerium fu¨ r Bildung, Wissenschaft und Kultur, URL: http://www. nachkriegsjustiz.at/prozesse/projekte/OOeLAEnd_BMBWK2003.pdf (abgerufen am: 22. 05. 2020), S. 13–22.
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Claudia Kuretsidis-Haider
Auswertungsgrundlage für die Vg-Datenbank war ein vom Amsterdamer Strafrechtsprofessors Christiaan F. Ru¨ ter erstellter Kriterienkatalog44, den er in einem sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Großprojekt fu¨ r die EDVgestützte Erfassung der in der Bundesrepublik Deutschland (später auch in der DDR) mit Urteil abgeschlossenen Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen entwickelt hatte.45 Der Wert der Vg-Datenbank liegt darin, dass hier einer der wichtigsten in Wien vorhandenen Quellenbestände zur Geschichte der NS-Verbrechen und ihrer Aufarbeitung durch die Zweite Republik für die zeit- und justizgeschichtliche Forschung erschlossen wurde. Das Volksgericht Wien fällte gegen rund 11.500 Personen ein Urteil, davon wurden ca. 56 % schuldig gesprochen, 28 Personen zum Tode sowie 21 Angeklagte zu lebensla¨ nglichem Kerker verurteilt.46 Die Vg-Datenbank wurde von MitarbeiterInnen der Forschungsstelle gemäß den datenschutzrechtlichen Bestimmungen adaptiert und steht den BenützerInnen im DÖW für die Recherche nach NS-Prozessen zur Verfügung.
4.2.
EDV-gestu¨ tzte Erschließung der Volksgerichtsakten im Obero¨ sterreichischen Landesarchiv
Aufgrund des großen Aktenbestands und der daraus resultierenden Datenmenge war klar, dass für den Volksgerichtsstandort Wien keine allumfassende Auswertung und Analyse der Prozesse erfolgen konnte. Für eine Tiefenerschließung der Volksgerichtsakten, wie auch für die Hochrechnung, mit welchen Kosten für eine gesamtösterreichische Erfassung zu rechnen wäre, musste daher 44 Vgl. dazu ausführlich: Winfried R. Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider: Der Export der „Rüter-Kategorien“. Eine Zwischenbilanz der Erfassung und Analyse der österreichischen Gerichtsverfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. In: Staatsverbrechen vor Gericht. Festschrift für Christiaan Frederik Rüter zum 65. Geburtstag. Hg. von Dick de Mildt. Amsterdam: Amsterdam University Press 2003, S. 73–117. 45 Im dem von Adelheid Ru¨ ter-Ehlermann und C. F. Rüter schon in den 1960er Jahren begonnenen und in weiterer Folge mit Dick W. de Mildt fortgeführten Projekt „Justiz und NSVerbrechen“ wurden die seit 1945 im Zuge der Ahndung nationalsozialistischer Tötungsverbrechen ergangenen westdeutschen und ostdeutschen Strafurteile publiziert: Die westdeutschen Strafurteile aus den Jahren 1945 bis 2012 (Justiz und NS-Verbrechen, Bände I– XLIX) und: Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1997. Eine systematische Verfahrensbeschreibung mit Karten und Registern, sowie: Die ostdeutschen Strafurteile aus den Jahren 1945 bis 1990 (DDR-Justiz und NSVerbrechen, Bände I–XIV). Vgl. dazu mit Downloadmöglichkeit von Gerichtsakten: URL: https://www.expostfacto.nl/ (abgerufen am: 22. 07. 2021). 46 Vgl. Eva Holpfer, Sabine Loitfellner, Susanne Uslu-Pauer: Wiener Urteile wegen NS-Verbrechen. Abschluss der Erfassung des Hauptverhandlungsregisters des Volksgerichts Wien (1945–1955). In: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 7 / 2003, S. 29.
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ein anderer Gerichtsstandort mit einem geringeren Anfall an Volksgerichtssachen gewählt werden. Aufgrund der bewährten guten Zusammenarbeit mit dem OÖLA und weil die Vg-Akten dort bereits zur Gänze an das Archiv abgegeben worden waren, wurde für den Standort des Volksgerichts Linz eine Gesamterfassung der Verfahrensakten in Angriff genommen sowie die Vg-Datenbank erprobt und weiterentwickelt. Von gesamtösterreichischen Interesse ist, dass sich im OÖLA die Gerichtsakten eines Teils der Verfahren wegen Verbrechen im KZ Mauthausen, die vor dem Volksgericht Linz abgehandelt wurden, sowie Gerichtsakten betreffend die justizielle Ahndung der in Hartheim, der wichtigsten Tötungsanstalt im Rahmen der NS-Euthanasie, verübten Verbrechen, befinden. Quellengrundlage für das 2001 begonnene Projekt bildete die digitalisierte ¨ LA vorhandenen, in 593 Kartei der Staatsanwaltschaft Linz sowie die im OO Archivboxen aufbewahrten Originalakten des Volksgerichts am Landesgericht Linz (einschließlich der Akten seiner Außensenate in Ried/Innkreis und Salzburg). Zwischen 1946 und 1955 leitete die Staatsanwaltschaft Linz gegen 19.928 Personen Verfahren ein und erhob gegen 5.998 Personen Anklage. Das Volksgericht Linz fa¨llte Urteile u¨ ber 4.313 Personen, davon 2.320 Freisprüche und 1.993 Schuldsprüche, das ist eine Verurteilungsrate von 33 %.47 Mit dem 2004 abgeschlossenen Projekt konnten aufgrund der Autopsie und Gesamterfassung aller Akten des Volksgerichts Linz wesentlich präzisere Zahlen zur justiziellen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen an diesem Gerichtsstandort vorgelegt werden, als das bis dahin möglich war. Die Ergebnisse des Projekts wurden in mehreren Aufsätzen in Publikationen des OÖLA, des Stadtarchivs Linz sowie der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz präsentiert.48
47 Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider, Winfried R. Garscha: Das Linzer Volksgericht. Die Ahndung von NS-Verbrechen in Oberösterreich nach 1945. In: Nationalsozialismus in Linz. Hg. von Fritz Mayerhofer, Walter Schuster. Bd. 2, Linz: Archiv der Stadt Linz 2001, S. 1467–1561; hier S. 1499. 48 Vgl. Winfried R. Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider: Legionäre, DenunziantInnen, Illegale. Die Tätigkeit des Volksgerichts Linz. In: Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag. Hg. von Heimo Halbrainer, Claudia Kuretsidis-Haider. (= Veröffentlichungen der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz Bd. 1), Graz: Clio 2007, S. 251–269; Winfried R. Garscha, Claudia KuretsidisHaider, „Traurige Helden der inneren Front“. Die Linzer Tagespresse und die Anfänge der gerichtlichen Ahndung von NS-Verbrechen in Oberösterreich 1945/46. In: Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Forschungen und Innovationen. Festschrift für Fritz Mayerhofer (Hg. vom Archiv der Stadt Linz), Linz: Archiv der Stadt Linz 2004, S. 561–581; Dies., Das Linzer Volksgericht (Anm. 47), S. 1467–1561.
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Claudia Kuretsidis-Haider
5.
Erfassung und Digitalisierung von gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen49
Nach dem Abschluss der beiden Großprojekte der EDV-gestützten Erfassung der Kartei des Wiener Volksgerichts sowie sämtlicher Linzer Volksgerichtsakten und der Einschätzung der Gesamtkosten für ein gesamtösterreichisches Projekt konnte keine weitere Finanzierung für dieses Großvorhaben erreicht werden. Die Tätigkeit der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz verlagerte sich somit in den darauffolgenden Jahren auf die Durchführung wissenschaftlicher Projekte. Dabei stießen die MitarbeiterInnen der FStN immer wieder auf nach Abschaffung der Volksgerichtsbarkeit im Jahre 1955 eingeleitete Strafverfahren, die eingestellt wurden, in denen also kein Urteil ergangen war. Angesichts der Tatsache, dass seit 1955 nur mehr 35 Prozesse mit einem Urteil abgeschlossen wurden50, sah und sieht sich Österreich international immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, insbesondere in den 1960er- und 1970er Jahren zu wenig für die Ausforschung und Bestrafung österreichischer NS-TäterInnen unternommen zu haben.51 Wenig bekannt ist allerdings, dass Hunderte Verfahren eingeleitet wurden, die – oft erst nach mehrjährigen, intensiven Ermittlungen – eingestellt wurden. Sie enthalten in großem Umfang Informationen zu Tatkomplexen, TäterInnen und Opfern, die für die historische Forschung eine wichtige Quelle darstellen, bislang aber kaum erschlossen sind. Ziel eines 2011 begonnenen, in Kooperation mit Yad Vashem sowie dem USHMM durchgeführten, Großprojekts mit dem Titel „Erfassung und Digitalisierung von gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen 1956 bis 2010“ ist es daher, alle nach 1956 in Österreich geführten Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen vollständig zu erfassen und, soweit rechtlich möglich, zu digitalisieren. In einem ersten Teilprojekt wurde die Erfassung und Digitalisierung von gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen nach Abschaffung der Volksgerichte mit dem Gerichtsstandort Wien begonnen. 2014 erfolgte die Ausdehnung des Projekts auf Gerichtsstandorte außerhalb Wiens.52
49 Vgl. Die Projektbeschreibung siehe: URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/projekte /pilotprojekt_ushmm.php (abgerufen am 25. 05. 2020). 50 Vgl. URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/index.php (abgerufen am 25. 05. 2020). 51 Vgl. dazu stellvertretend die Einschätzung von Efraim Zuroff, Direktor des Standorts Jerusalem des Simon-Wiesenthal-Center. Efraim Zuroff, „Österreich ein Paradies für NS-Verbrecher“, Der Standard, 01. 02. 2006, URL: https://www.derstandard.at/story/2327230/zuroff -oesterreich-ein-paradies-fuer-ns-verbrecher (abgerufen am 25. 05. 2020). 52 Zur Projektbeschreibung siehe: URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/projekte/pilot projekt_ushmm.php (abgerufen am 25. 09. 2020).
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Eines der wichtigsten Digitalisate wurde vom größten österreichischen Holocaustverfahren – des Lerch/Pohl-53 bzw. Klagenfurter Aktion-ReinhardProzesses54 angefertigt. Die Bedeutung dieses Verfahrens liegt vor allem darin, dass ein beträchtlicher Prozentsatz des mit dem Massenmord der Aktion Reinhard betrauten Stabs von Odilo Globocnik (1904–1945), des Höheren SS- und Polizeiführers im Distrikt Lublin, aus Österreichern bestand.55 In Wien und Graz konnten die Arbeiten mittlerweile abgeschlossen werden. In den 1960er-Jahren verfolgte die Staatsanwaltschaft Graz Einzel- und Massentötungen von Angehörigen der Einsatzgruppe A in Litauen sowie nationalsozialistische Gewaltverbrechen in Theresienstadt. Das Konvolut gegen den Gebietskommissar von Wilna, Franz Murer (1912–1994), stellt den umfangreichsten Akt der Grazer Justiz wegen Holocaustverbrechen dar.56 Einen weiteren zentralen Bestandteil der gerichtlichen Untersuchungen bildeten die von Angehörigen der Schutzpolizei und der Gendarmerie begangenen Tötungsverbrechen im Distrikt Radom des Generalgouvernements für die besetzten polnischen Gebiete.
6.
Plagiierte Forschungsergebnisse im Internet – rechtliche Grauzone
Das USHMM bekommt von der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz neben den Mikrofilmkopien bzw. Digitalisaten holocaustrelevanter Verfahren ein finding aid, in dem die verfilmten und digitalisierten Gerichtsakten beschlagwortet und mit einer Kurzbeschreibung versehen sind. Die Mikrofilme sind im USHMM 53 Ernst Lerch (1914–1997) und Helmut Pohl (1901–1997) wurden von der Staatsanwaltschaft Wien wegen der Teilnahme an der Ermordung von 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden in Ostpolen während der Aktion Reinhard 1942/43 sowie andere Gewaltverbrechen als Angehörige des Stabs des Höheren SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik in Lublin angeklagt. Die Hauptverhandlung fand am 17. Mai 1972 vor einem Geschworenengericht am Landesgericht Klagenfurt statt (LG Klagenfurt: 25 Vr 3123/71), wurde nach zwei Tagen abgebrochen und nicht mehr wieder aufgenommen. Am 11. Mai 1976 erfolgte die Einstellung des Verfahrens durch das LG Klagenfurt wegen Rücktritts der Staatsanwaltschaft von der Anklage vor (Wieder-)Eröffnung der Hauptverhandlung. Vgl. dazu: URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/p rozesse/geschworeneng/35prozesse56_04.php#lerch (abgerufen am 25. 05. 2020). 54 Vgl. Anm. 26. 55 Vgl. Winfried R. Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider: Justice and Nazi-crimes in Austria 1945–1955 between self-purge and Allied control. In: 1945: Conséquences and sequels of the Second World War (= Bulletin du Comité international d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale, NE 27/28-1995), Paris: Bureau du Comité International d’Histoire de la deuxième guerre mondial 1995, S. 245–255; hier S. 245. 56 Vgl. Gabriele Pöschl: Der halbierte Prozess. Die Einstellung eines Teils des Strafverfahrens gegen Franz Murer im Jahr 1955. In: Justiz und Erinnerung (Anm. 27), Nr. 10 / Mai 2005, S. 19– 22; Dies.: (K)ein Applaus für die österreichische Justiz. Der Geschworenenprozess gegen Franz Murer. In: Halbrainer, Kuretsidis-Haider: Kriegsverbrechen (Anm. 48), S. 297–301.
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einsehbar ebenso wie das finding aid, welches auch im Internet zugängig gemacht wurde.57 Dies versetzt amerikanische ForscherInnen in die Lage, die Dokumente der österreichischen Volksgerichtsbarkeit unmittelbar nutzen und so einen umfassenden Einblick in die Breite der justiziellen Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht in Österreich gewinnen zu können. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass den BenützerInnen nicht nur die Einhaltung der österreichischen gesetzlichen Bestimmungen zur Auflage gemacht wird, sondern sie hinsichtlich der Bewilligung zur Einsichtnahme im USHMM direkt an die jeweiligen Originalarchive verwiesen werden. Während somit die Digitalisate denselben hohen Schutzstandards unterliegen, wie die Originalakten, trifft dies auf die Metadaten nur bedingt zu, da auf diese nur das Urheberrecht anzuwenden ist. Das USHMM und die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz mussten zur Kenntnis nehmen, dass sich die in jahrelanger und vielfach mühsamer Recherchearbeit zusammengetragenen Informationen über österreichische NS-Prozesse 1:1 – und ohne Quellenangabe – im Internet wiederfinden. Verantwortlich dafür zeichnet ein gewisser Reinhard Tenhumberg aus Düsseldorf, Angehöriger einer im politischen Katholizismus vor allem des Münsterlands aktiven Familie zu dessen Mitgliedern auch Heinrich Tenhumberg (1915–1979), ab 1959 bis zu seinem Tod Weihbischof bzw. Bischof von Münster, zählte. Zur Zeit der NS-Herrschaft gehörte er der von den Nationalsozialisten verfolgten Schönstattbewegung an, die vor allem die katholische Jugendarbeit spirituell erneuern wollte. Mit großem Sendungsbewusstsein und unter bewusster Missachtung von Gesetzen und Verordnungen, die nur dazu dienen, dass sich „Politiker, Juristen, Bürokraten“ hinter ihnen „verstecken“ können58 trägt Reinhard Tenhumberg seit 2010 – aus welchen Quellen ist nicht ersichtlich – willkürlich und ohne System Informationen über die NS-Herrschaft sowie über den Umgang mit der NS-Zeit zusammen. Darunter befinden sich auch Informationen über österreichische NS-Prozesse. Bei Recherchen stießen MitarbeiterInnen der Forschungsstelle auf eine von Tenhumberg gestaltete Website und stellten fest, dass sämtliche Eintragungen zu österreichischen NS-Prozessen Kopien jener Dossiers sind, die dem USHMM seitens der Forschungsstelle als Projektberichte übermittelt wurden und dort als Findhilfsmittel einsehbar sind. Tenhumberg hat diese, ohne sich auch nur der Mühe zu unterziehen, den Text wenigstens optisch zu verändern, auf seiner 57 Vgl. URL: https://collections.ushmm.org/findingaids/RG-17.003M_01_fnd_de.pdf (abgerufen am 25. 05. 2020). 58 Vgl. URL: http://www.tenhumbergreinhard.de/0000039b0e0f15503/index.html (abgerufen am 25. 05. 2020).
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Justizakten als Geschichtsquelle
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Website reproduziert – ohne Quellenangabe, also ohne Hinweis auf das USHMM, geschweige denn auf die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. Besonders irritierend ist, dass damit der Eindruck erweckt wird, als hätte Reinhard Tenhumberg unbefugt Einblick in die Originalakten oder die im USHMM verwahrten Digitalisate nehmen können, was nachweislich nicht der Fall ist. Im Impressum der Website heißt es: „[…] Die auf diesen Seiten veröffentlichten Inhalte werden sorgfältig recherchiert und geprüft; dennoch kann keine Gewähr und keine Haftung für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der Inhalte übernommen werden. […] Alle Arbeiten sind mehrfach geprüft. Trotzdem kann eine hundertprozentige Korrektheit nicht garantiert werden. Leider ist es mir trotz aufwändiger Bemühungen nicht immer gelungen, sämtliche Urheberrechte eindeutig auszuweisen. Bitte wenden Sie sich an uns, wenn Sie Ihre Rechte an der Abbildung oder am Objekt verletzt glauben.“59
Eine Kontaktaufnahme mit Tenhumberg seitens der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz mit dem Hinweis, dass es sich bei den Texten über österreichische Nachkriegsprozesse um Plagiate der Dossiers der FStN an das USHMM handelt blieb allerdings unbeantwortet.
7.
Fazit
Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hat in den mehr als 20 Jahren ihres Bestehens in zahlreichen Dokumentationsprojekten, welche die empirischen Grundlagen für viele wissenschaftliche Projekte darstellten60, österreichische Gerichtsakten betreffend nationalsozialistische Verbrechen in Kooperation mit den Justizbehörden sowie den aktenverwahrenden Archiven verfilmt, digitalisiert, ausgewertet und analysiert sowie im Rahmen des DÖW vorbehaltlich der datenschutzrechtlichen Bestimmungen der Öffentlichkeit zugängig gemacht. Der verantwortungsvolle Umgang mit sensiblen Opfer- wie Täterdaten steht im Rahmen der Dokumentationstätigkeit an vorderster Stelle. Informationen über ausgewählte NS-Prozesse präsentiert die Forschungsstelle auf ihrer Website www. nachkriegsjustiz.at. Kopien, Mikrofilme und Digitalisate von Prozessakten sind hingegen nur vor Ort im Dokumentationsarchiv einsehbar bzw. werden BenützerInnen auf die jeweiligen Verwahrer der Originalakten verwiesen. Der verantwortungsvolle Umgang schützt leider nicht davor, dass Forschungs- und Dokumentationsergebnisse von Dritten ins Netz gestellt werden. Die Direktorin des Wiener Stadt- und Landesarchivs Brigitte Rigele stellte dazu in einem In59 URL: http://www.tenhumbergreinhard.de/impressum.html (abgerufen am 25. 05. 2020). 60 Kuretsidis-Haider: 20 Jahre Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (Anm. 2), S. 437–446.
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terview mit der Tageszeitung Der Standard pragmatisch fest: „Nutzung bedeutet immer, dass etwas wiederverwendet wird. […] Missbrauch kann man dabei nicht verhindern“.61
61 Was tun mit digitalisiertem NS-Material? URL: https://www.derstandard.at/story/200011158 1421/was-tunmit-digitalisiertem-ns-material (abgerufen am: 25. 05. 2020).
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Maximilian Becker
Die Quellenedition der Reden Adolf Hitlers 1933–1945
Zusammenfassung Die Reden Adolf Hitlers von 1933 bis 1945 sind eine zentrale Quelle für das Verständnis der NS-Diktatur. Ziel des Projekts ist, die Reden vollständig zu erfassen, die erhaltenen Texte und Tonaufnahmen wissenschaftlich zu kommentieren, umfassend zu kontextualisieren sowie Forschung, Lehre und einer interessierten Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Eine Print- und Online-Edition im Open Access sowie eine zugangsbeschränkte Höredition werden den Kommentar und die Reden – soweit möglich – in ihrem vollständigen, mündlich vorgetragenen Wortlaut zugänglich machen. Damit geht die Edition weit über bislang verfügbare Sammlungen von Hitler-Reden hinaus; mit der ausschließlich Originaltöne enthaltenden Höredition betritt sie technisch und medial Neuland. Schlagwörter Adolf Hitler, Reden, Edition Abstract The Edition of Adolf Hitler’s Speeches 1933–1945 Adolf Hitler’s speeches from 1933 to 1945 are a central source of understanding of the Nazi dictatorship. The project aims at assembling the speeches in their entirety and commenting on the texts and sound recordings that have been preserved, to contextualize them comprehensively, and to make them available to research, teaching, and an interested public. A print and online edition in open access as well as a restricted audio edition will make the commentary and the speeches – as far as possible – accessible in their complete, orally presented wording. The edition thus goes far beyond previously available collections of Hitler’s speeches; with the audio edition containing only original sounds, it breaks new ground in terms of technology and media. Keywords Adolf Hitler, Speeches, Edition
Maximilian Becker, Österreichische Akademie der Wissenschaften, E-Mail: mbecker@ifz-muen chen.de, ORCID iD: https://orcid.org/0000-0003-1426-0404
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Adolf Hitlers (1889–1945) Reden nach 1933 – darüber besteht Einigkeit in der Forschung – sind als zentrale Quelle des Nationalsozialismus, seines Herrschaftssystems und besonders seiner Ideologie zu betrachten. Ihre wissenschaftliche Edition ist seit langem und wiederholt als Desiderat angesprochen worden, dass es dringend zu schließen gelte, so etwa von dem britischen Historiker und Hitler-Biographen Ian Kershaw.1 Die Reden decken das gesamte Spektrum nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs ab. Ihre Texte enthalten Informationen zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik des Regimes, zur Bevölkerungs-, Gesundheits- und Rassenpolitik, zu Fremdenverkehr und Wissenschaft, über Aufrüstung, Kriegführung, Besatzungspolitik und Kriegsziele bis hin zu Äußerungen über die Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Je nach Publikum und je nachdem, ob es sich um eine öffentliche oder eine vertrauliche Rede vor eingeschränktem Zuhörerkreis handelte, mischten sich Hitlers persönliche, ideologisch aufgeladene Ansichten, die er zur Leitlinie seiner Politik machte, mit der Propaganda und der offiziellen Darstellung des NS-Regimes. Vor allem aber sind sie eine zentrale Quelle, um die politische Strategie der nationalsozialistischen Herrschaft, ihre Sicherung, Entfaltung und dynamische Entwicklung bis zum Frühjahr 1945 in ihrer ganzen Komplexität erklärbar zu machen und die Rolle Hitlers im Gefüge des Herrschaftsprozesses und -systems genau(er) bestimmen zu können.2 Ohne die Reden – so die zentrale These des Editionsprojekts – lässt sich dies nicht angemessen verstehen. Die Leitfragen, die zugleich Arbeitshypothese und Erkenntnisinteressen des Projekts formulieren, lauten: Inwieweit spiegelt sich die zentrale Verbindung zwischen politischer Ideologie, rhetorischer Kommunikation und gesellschaftlicher Mobilisierung in den Reden wieder? Inwieweit wurde die Dynamisierung der nationalsozialistischen Herrschaft von den Reden selbst vorangetrieben?
Funktionen von Hitlers Reden Die Reden fungierten dabei einerseits als Propagandawaffe und dienten der Werbung für das Regime durch die regelmäßige Präsentation seiner und Hitlers „Erfolge“. Andererseits waren sie mitunter zur Täuschung und Irreführung der Gegner gedacht, dienten der Massenmotivation und nicht zuletzt der Selbstinszenierung Hitlers als von der „Vorsehung“ gesandter „Führer“. Die Reden waren Mittel der ideologischen Selbstvergewisserung und machten die „Volksgemein1 Vgl. Buchvorstellung: „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“ am 08. 01. 2016, URL: www. youtube.com/watch?v=x7htvL-OPw8 (abgerufen am 01. 09. 2020). 2 Vgl. Magnus Brechtken und Maximilian Becker: Die Edition der Reden Adolf Hitlers von 1933 bis 1945. Ein neues Projekt des Instituts für Zeitgeschichte. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), H. 1, S. 147–163, hier S. 147.
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schaft“ durch das gemeinsame Hören spürbar und erfahrbar. Bestes Beispiel hierfür sind die Reichsparteitage mit ihren geradezu ekstatischen Massen.3 Zentral war die Übertragung wichtiger Reden im Rundfunk, weniger die Präsentation von – dann mitunter tonlosen – Ausschnitten in den Kinowochenschauen,4 um die Rede auch über das unmittelbar anwesende Publikum hinaus für die breite Masse der Bevölkerung erfahrbar und erlebbar zu machen. Teil der Rundfunkübertragung war deshalb eine Reportage, in der u. a. die Gestaltung der Örtlichkeit mit Fahnenschmuck, Rednerpult etc., sowie die Zusammensetzung des anwesenden Publikums geschildert wurde. Die „Führerrede“ bildete den Höhepunkt der Übertragung, den Abschluss das Absingen des Deutschland- und des Horst-Wessels-Lieds. Um die Bedeutung des Ereignisses zu unterstreichen, nannte der (stets männliche) Sprecher zu Beginn der Übertragung die angeschlossenen in- und ausländischen Radiostationen. Verstärkt wurde das gemeinsame Erleben durch den sogenannten Gemeinschaftsempfang in Schulen, Betrieben und Ämtern, auf Straßen, in Gasthäusern und auf Stadt- und Dorfplätzen. Über Lautsprecher wurde dabei Hitlers per Radio übertragene Rede live hörbar gemacht.5 Hitlers Reden wurden so zum gemeinschaftsbildenden „Erlebnis“ mit ersatzreligiösem Charakter, das in Tagebüchern und Stimmungsbe-
3 Vgl. Markus Urban: Die inszenierte Utopie. Zur Konstruktion von Gemeinschaft auf den Reichsparteitagen der NSDAP. In: „Volksgemeinschaft“. Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte. Hg. von Detlef Schmiechen-Ackermann. Paderborn: Schöningh 2012 (= Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ 1), S. 135–157; Siegfried Zelnhefer: Die Reichsparteitage der NSDAP. Geschichte, Struktur und Bedeutung der größten Propagandafeste im nationalsozialistischen Feierjahr. 2. Aufl. Nürnberg: Stadtarchiv 1991 (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 46). 4 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 163). 17. Februar 1941. In: Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hg. u. eingel. von Heinz Boberach. Band 6: Meldungen aus dem Reich Nr. 142 vom 18. November 1940 – Nr. 179 vom 17. April 1941. Herrsching: Pawlak, 1984, S. 2003–2018. 5 Vgl. Muriel Favre: Rundfunkereignisse im Dritten Reich (1933–1939). Fallstudie und Erfahrungsbericht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015) 6/7. S. 663–680; Karin Falkenberg: Radio hören. Zu einer Bewußtseinsgeschichte 1933 bis 1950. Haßfurt, Nürnberg: Falkenberg 2005; Florian Cebulla: Rundfunk und ländliche Gesellschaft. 1924–1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 164); Cornelia Epping-Jäger: Laut/Sprecher Hitler. Über ein Dispositiv der Massenkommunikation in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Hitler der Redner. Hg. von Josef Kopperschmidt, in Verbindung mit Johannes G. Pankau. München, Paderborn: Fink 2003, S. 143–157; Inge Marßolek: „Aus dem Volke für das Volk“. Die Inszenierung der „Volksgemeinschaft“ im und durch das Radio. In: Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924–1960). Hg. von Inge Marszolek und Adelheid von Saldern. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1999 (= Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs 25), S. 121–135.
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richten vielfach geschildert und durch die nationalsozialistische Presse verbreitet und hervorgehoben wurde.6 Mit der Radioübertragung war die Inszenierung jedoch nicht beendet. Die gleichgeschaltete, überregionale Presse druckte die Rede im zumindest sprachlich redigierten, mitunter auch inhaltlich bereinigten Wortlaut ab. Nicht alle Reden wurden in kompletter Länge wiedergegeben; häufig war eine Mischung aus Paraphrase und Zitaten, mitunter erschienen nur kurze Meldungen. Wie die Radioübertragung war der Abdruck wichtiger Reden eingebettet in eine Reportage, die Stationen von Hitlers Besuch schilderten. Lokalzeitungen brachten meist kürzere Zusammenfassungen sowohl der Rede als auch des Berichts über Hitlers Besuch, bei Auftritten in „ihrer“ Region mitunter auch eigene Schilderungen des Ablaufs des Ereignisses.7 Von Hitlers kurzer Ansprache am 12. März 1938 in seiner Geburtsstadt Braunau am Inn existiert außer einer Tagebuchnotiz des Propagandaministers Joseph Goebbels lediglich eine knappe Erwähnung in der örtlichen Zeitung Neue Warte am Inn, die als einzige bislang bekannte Quelle zumindest den Schlusssatz der Rede überliefert.8 In der offiziösen Meldung des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB), der für die Steuerung der deutschen Presse zuständigen zentralen Nachrichtenagentur der NS-Diktatur, über Hitlers Reise durch Österreich fehlt die Rede dagegen völlig;9 wieso das so ist, muss hier offenbleiben.
6 Vgl. Jost Dülffer: Hitler, Nation und Volksgemeinschaft. In: Die deutsche Nation. Geschichte – Probleme – Perspektiven. Hg. von Otto Dann. Vierow bei Greifswald: SH 1994 (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung 1), S. 96–115, hier S. 105; Wolfgang Duchkowitsch: „Bebend standen sie zueinander“. Die Rezeption der „Führer“-Rede vom 26. September 1938. In: Hörfunk und Hörfunkpolitik in der Tschechoslowakei und im Protektorat Böhmen und Mähren. Hg. von Peter Becher und Anna Knechtel. Berlin: Frank & Timme 2017, S. 91–103; Inge Marßolek: „Der Führer spricht …“. Hitler und der Rundfunk. In: Hitler der Redner (Anm. 5), S. 205–216. 7 So existieren von der Einweihung des Reichsautobahnabschnitts Dresden-Meerane (etwa 40 km westlich von Chemnitz) am 25. Juni 1937 mehrere Berichte in sächsischen Regionalzeitungen, die von der offiziellen DNB-Meldung abweichen. Siehe die Presseausschnittsammlung in Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, 10702/ 1090. 8 Vgl. Joseph Goebbels: Tagebucheintrag vom 13. März 1938. In: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Online Datenbank. München: Saur 2006, 27. 10. 2017, URL: http://db.saur.de/DGO/basicFullCitationView.jsf ?documentId=TJG-3870 (abgerufen am 01. 09. 2020); Reichskanzler Hitler in seiner Geburtsstadt Braunau. In: Neue Warte am Inn. Nationalsozialistisches Kampfblatt für den Kreis Braunau am Inn, Braunau, 16. 03. 1938, S. 4. 9 Der Führer in Braunau. Unbeschreibliche Jubelstürme. In: Deutsches Nachrichtenbüro. Abendausgabe, 12. 03. 1938, URL: https://dfg-viewer.de/show/?set%5Bmets%5D=https://content.staats bibliothek-berlin.de/zefys/SNP27058621-19380312-9-0-0-0.xml (abgerufen am 13.07. 2021); Weltgeschichte miterlebt! 7 Tage Österreich. DNB-Berichte aus Österreich vom 9. bis 15. März 1938. Hg. von Frithjof Melzer. Berlin: Brunnen 1938.
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In Hitlers Reden entfaltete sich, so der deutsche Historiker Magnus Brechtken, „ein in sich konsistentes Welt- und Geschichtsbild“.10 Die Themen und Inhalte wiederholten sich immer wieder. So gehörte beispielsweise die sogenannte Parteierzählung, Hitlers langatmig vorgetragene Version der Geschichte der NSDAP in der Weimarer Republik, zum festen Repertoire. Zu den Paradigmen, die Hitler immer wieder vorbrachte, zählte ferner die Auffassung von der Geschichte als ununterbrochener, von der Natur bestimmter Kampf zwischen den Rassen und Hitlers eigene, von der „Vorsehung“ schicksalhaft vorherbestimmte Rolle als „Führer“. Die Gegenkonzepte zum nationalsozialistischen Staat – Kapitalismus, Demokratie, Republikanismus, Bolschewismus, Humanismus und Christentum – präsentierte er als Erfindungen des rassischen Gegners, um die „arische Rasse“ zu zerstören und zu vernichten. Als dieser Gegner fungierte vor allem die jüdische Bevölkerung.
Ziele des Editionsvorhabens und Projektteam Ziel des Projekts ist, die Reden Hitlers seit dem 30. Januar 1933 erstmals vollständig zu ermitteln, ihre Texte zu erfassen, sie im möglichst kompletten Wortlaut zugänglich zu machen, wissenschaftlich zu kommentieren und in den jeweiligen zeitlichen Kontext einzuordnen. Eine Höredition wird die Originaltöne nachhörbar und zitierfähig machen sowie die komplexen Überlieferungswege der Tondokumente nachvollziehen. Mit ihr wird der Tatsache Rechnung getragen, dass eine Rede eben kein geschriebener Text ist, sondern dass sie und ihre Wirkung maßgeblich von der stimmlichen Umsetzung abhängen und der Redner mit seinem Publikum interagiert. Bestes Beispiel hierfür ist die Rede vom 26. September 1938 im Sportpalast in Berlin auf dem Höhepunkt der von NSDeutschland bewusst herbeigeführten Krise um die Tschechoslowakei, während der sich Hitler und das im Saal anwesende Publikum gegenseitig förmlich in Extase bringen, so sehr, dass Hitlers Ansprache immer wieder im fanatischen Heil-Geschrei untergeht und seine Stimme sich vor Erregung mehrfach überschlägt. Das Projekt wird vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) unter dessen stellvertretenden Direktor Magnus Brechtken gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt von Christoph Cornelißen, dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) und dem Professor für Computer Science an der Universität Marburg Bernd Freisleben durchgeführt. Zum interdisziplinären Team gehören u. a. HistorikerInnen und
10 Brechtken und Becker: Edition (Anm. 2), S. 150.
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Digital Humanities- sowie InformatikspezialistInnen, die u. a. Analysetools für die NutzerInnen der Online- und Höredition entwickeln.
Zeitgenössische Veröffentlichungen und Überlieferungen Trotz der immensen Bedeutung, die Hitlers Reden für seine AnhängerInnen hatten, wurden diese zeitgenössisch nicht vollständig erfasst und gesammelt, auch wenn es Ansätze in dieser Richtung gab. So hat die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutz des nationalsozialistischen Schrifttums eine unvollständige Bibliographie der öffentlichen Reden herausgegeben, die bis 1939 reicht.11 Zudem erschienen mehrere Bände mit ausgewählten Reden.12 Manche Ansprachen wurden auch als Broschüre gedruckt oder in verschiedenen Zeitschriften und zeitgenössischen Dokumentenbänden teils in Auszügen, teils vollständig veröffentlicht. Insgesamt gibt es mehr als 400 solcher zeitgenössischen Publikationen. Mehrere Institutionen des NS-Staats und der Partei fertigten zudem systematisch Tonaufnahmen an, darunter die Reichsrundfunkgesellschaft und die Reichspropagandaleitung der NSDAP. Mitschnitte produzierten etwa auch die BBC in London und technisch versierte Privatleute wie der Kölner Toningenieur und Unternehmer Dr. Peter Huverstuhl (1904–1988). Als authentisch können Tonfilmaufnahmen gelten, die eine wichtige Ergänzung der Audioüberlieferung darstellen. Heute sind die erhaltenen Texte und Tonaufnahmen nur verstreut zugänglich. Die meisten Hörquellen befinden sich im DRA in Frankfurt am Main, eine weitere bedeutende Überlieferung besitzt die British Library. Kleinere Bestände liegen u. a. im Bundesarchiv in Koblenz und in der Österreichischen Mediathek in Wien. Ohne Mehrfachüberlieferungen sind etwa 300 Stunden Tonaufnahmen erhalten. Wichtigste schriftliche Quelle sind Zeitungsartikel. Sind für 1933 noch größere Abweichungen zwischen den einzelnen Zeitungen festzustellen, so kam es in den Jahren danach zu einer immer weitergehenden Vereinheitlichung. Ab 1934 verschickte das DNB den offiziellen Redetext und gab vor, in welcher Form die
11 Vgl. Karl Heinrich Hederich, Jürgen Soenke: Die Reden des Führers nach der Machtübernahme. Eine Bibliographie. Berlin: Zentralverl. der NSDAP., Eher 1939 (= Nationalsozialistische Bibliographie. Beiheft 2). 12 Vgl. z. B. Der großdeutsche Freiheitskampf. Reden Adolf Hitlers. Hg. von Philipp Bouhler. 3 Bände. München: Zentralverl. der NSDAP, Eher, 1940–1942.
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Zeitungen berichten sollten.13 Trotz dieser Vereinheitlichung finden sich, wie die Arbeit am Projekt gezeigt hat, bis Kriegsbeginn mitunter abweichende Berichte und Wortlaute. Beispielsweise existieren von Hitlers Rede am 15. Januar 1936 in Detmold, die nur in einer Mischung aus Zitaten und Zusammenfassung in indirekter Rede überliefert ist, mindestens drei verschiedene Fassungen.14 Die Masse der relevanten archivalischen Überlieferungen sind Zeitungsausschnitt- und Pressesammlungen. Teilweise sind sie im Internet zugänglich, so etwa das „Gaupresse“-Archiv Wien.15 Typoskripte von Reden sind selten erhalten, doch gibt es z. B. von der Ansprache in der Wolfsschanze am 27. Januar 1944 eine Mitschrift auf Schreibmaschinenseiten,16 die wahrscheinlich auf einem offiziellen Stenogramm beruht. Die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte dieser und weiterer Mitschriften zu eruieren wird eine der Aufgaben der Edition sein. Relevant sind außerdem Notizen und Tagebucheinträge über Geheimreden Hitlers vor Generälen und Offizieren, die zumeist im Bundesarchiv-Militärarchiv zugänglich sind. Auch manche NS-Funktionäre fertigten Mitschriften an oder hielten Reden in ihren Tagebüchern fest.17
13 Zum DNB siehe André Uzulis: Nachrichtenagenturen im Nationalsozialismus. Propagandainstrumente und Mittel der Presselenkung. Frankfurt a.M. [u. a.]: Lang 1995 (= Europäische Hochschulschriften 636). 14 Vgl. Herbert Seehofer: Der Führer vor seinen Mitkämpfern in Lippe. Völkischer Beobachter (Norddeutsche Ausgabe), 17. 01. 1936, S. 1–2; Wiener Library, Press Archive, 28 A 1, Adolf Hitlers Rede in Detmold. Frankfurter Zeitung, 17. 01. 1936; Bundesarchiv (BArch), Reichskanzlei (R 43–II), 995, Bl. 355, Rede des Führers in Detmold. DNB-Ausgabe, 16. 01. 1936. 15 Vgl. Universität Wien/Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte, „Gaupresse“-Archiv Wien, URL: https://www.ns-pressearchiv.at (abgerufen am 26. 05. 2020). Zum „Gaupresse“-Archiv Wien siehe Markus Stumpf: „Ich erteile deshalb den mir nachgeordneten Dienststellen des Staates und der Partei den Befehl, nach der erfolgten Evakuierung der Juden sämtliche Tschechen aus dieser Stadt zu entfernen.“ Das „Gaupresse“-Archiv Wien anhand ausgewählter Reden Baldur von Schirachs. In: Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert. Bd. 1. Hg. von Lucile Dreidemy, Richard Hufschmied, Agnes Meisinger [u. a.] Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2015, S. 330–345. 16 Vgl. BArch, Parteikanzlei der NSDAP (NS 6), Akte 777, Bl. 2–60, Ansprache des Führers an die Feldmarschälle und Generale am 27. 1. 1944 in der Wolfsschanze. Ebd., Bl. 61, enthält das Schlusswort Generalfeldmarschall Wilhelm Keitels (1882–1946). 17 Vgl. Alfred Rosenberg: Die Tagebücher von 1934 bis 1944. Hg. von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr. Frankfurt a.M.: Fischer 2015 (= Die Zeit des Nationalsozialismus); Die Tagebücher von Joseph Goebbels online. Berlin: degruyter [2012], URL: http://dbis.uni-regensburg.de /frontdoor.php?titel_id=11534 (abgerufen am 26. 05. 2020).
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Literatur und Forschung über Hitlers Reden Die Forschung zu Hitlers Reden ist insgesamt überschaubar, auch wenn diese ein interdisziplinäres Feld par excellence darstellen und sich Forschende der Zeitund Rechtsgeschichte, der Germanistik, der Linguistik und Sprachwissenschaft, der Rhetorik und der Politikwissenschaften mit ihnen auseinandersetzten. Bislang fehlt – wohl auch aufgrund der großen Zahl und der schwierigen Zugänglichkeit der Texte und Tonaufnahmen, die erst durch die Edition beseitigt wird – eine Studie, die die Bedeutung der Reden für die NS-Diktatur im Kontext der damaligen politischen Kommunikation untersuchen würde. Auch die Rolle Hitlers als Redner ist noch nicht systematisch hinsichtlich der Produktion der Reden, in seiner Rhetorik und seiner Wirkung oder zeitlich übergreifend analysiert. Einige Studien18 und besonders mehrere neuere Hitler-Biographien19 bieten jedoch erste Ansätze in diese Richtung. Hitlers Reden waren schon zeitgenössisch Gegenstand linguistischer und politikwissenschaftlicher Forschung.20 HistorikerInnen analysierten die Reden häufig nicht als Ganzes in ihrer sprachlichrhetorischen Gestaltung und ihrem zeitlichen Zusammenhang, sondern nutzten sie, indem sie einzelne Redeteile herauszogen, als kaum kontextualisierte „Steinbrüche“ für ihre Fragestellungen. So untersuchte Marlies Steinert (1922–2005) die Haltung der deutschen Bevölkerung im Krieg.21 Die Reden waren auch zentrale Quellen für die Untersuchung des „Hitler-Mythos“.22 Nur einzelne Reden wurden bereits sprachlich oder inhaltlich analysiert und in ihren historischen Kontext eingeordnet. Schwerpunkte bilden dabei die
18 Vgl. Fred L. Casmir: Hitler als Prototyp des politischen Redners. Charisma und Mystifikation. In: Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert. Hg. von Gerald Diesener und Rainer Gries. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 79–99; Hitler der Redner (Anm. 5). 19 Vgl. Peter Longerich: Hitler. Biographie. München: Siedler 2015; Wolfram Pyta: Hitler. Der Künstler als Feldherr und Politiker. Eine Herrschaftsanalyse. München: Siedler 2015; Volker Ullrich: Adolf Hitler. Biographie. Bd. 1: Die Jahre des Aufstiegs, Bd. 2 Die Jahre des Untergangs 1939–1945. Frankfurt a.M.: Fischer 2013–2018; Heinz Schreckenberg: Hitler – Motive und Methoden einer unwahrscheinlichen Karriere. Eine biographische Studie. Frankfurt a.M.: Lang 2006; Michael J. Lynch: Hitler. London, New York: Routledge 2013; Ian Kershaw: Hitler 1936–1945. 3. Aufl. Stuttgart: DVA 2000. 20 Vgl. Yaniv Levyatan: Harold D. Lasswell’s Analysis of Hitler’s Speeches. In: Media History 15 (2009), S. 55–69. Gordon W. Prange: Hitler’s speeches and the United States. New York [u. a.]: Oxford Univ. Press 1941 (= America in a world at war 16). 21 Marlis Steinert: Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Düsseldorf [u. a.]: Econ 1970 (= Veröffentlichung des Institut Universitaire de Hautes Études Internationales, Genf). 22 Vgl. Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich. Mit einer Einführung von Martin Broszat. München: Oldenbourg 1980 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41).
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„Kulturreden“,23 die Ansprachen zum 1. Mai24 und besonders die Rede vom 30. Januar 1939 mit der Vernichtungsdrohung gegen das jüdische Volk.25 Untersucht wurden etwa auch die Rede in Siemensstadt am 10. Februar 1933,26 die Reichstagsrede vom 6. Oktober 193927 und die Rede vom 10. Dezember 1940.28 Hitlers Reden nach 1933 waren auch Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung und fanden Eingang in breiter angelegte Untersuchungen über Rede und Sprache im Nationalsozialismus.29 Dabei wurden auch vergleichende Un23 Vgl. Gerhard Wagner: „Säuberungskrieg“. Adolf Hitlers Rede über „entartete Kunst“ im kulturpolitischen Kontext des Jahres 1937. In: Ernst Barlach (1870–1938). Sein Leben, sein Schaffen, seine Verfolgung in der NS-Diktatur. Vorträge der Tagung in Berlin vom 30. Mai– 1. Juni 2008 anläßlich des 70. Todestages des Künstlers. Hg. von Heidi Beutin. Frankfurt a.M.: Lang 2009 (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte 56), S. 37–46; Arne Fryksen: Hitlers Reden zur Kultur. Kunstpolitische Taktik oder Ideologie? In: Probleme deutscher Zeitgeschichte. Hg. von Göran Rystad. Stockholm: Läromedelsförlagen 1970 (= Lund studies in international history 2), S. 235–266. 24 Vgl. Lutz Winckler: Hitlers Rede zum 1. Mai 1933. Ein kritischer Kommentar. In: Macht der Verführung. Sprache und Ideologie des Nationalsozialismus. Tagung der Katholischen Akademie Stuttgart in Stuttgart-Hohenheim 29./30. Januar 1983. Stuttgart: Katholische Akademie 1983, S. 55–83; Margareta Wedleff: Zum Stil in Hitlers Maireden. In: Muttersprache 80 (1970), S. 107–127; Adolf Hitler spricht zum „Tag der nationalen Arbeit“. Tempelhofer Feld, Berlin, 1. Mai 1933. Hg. von Mike Seidel. Göttingen 1969 (= Filmdokumente zur Zeitgeschichte G 116/1969). 25 Vgl. Katarzyna Skryjomska: Euphemisierung in der Sprache Adolf Hitlers. Eine Untersuchung am Beispiel der Rede vom 30. Januar 1939. In: Orbis linguarum 36 (2010), 225–232; Stefan Kley: Intention, Verkündung, Implementierung. Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 197–213; Hans Mommsen: Hitler’s Reichstag Speech of 30 January 1939. In: History and Memory 9 (1997), H. 1/2, S. 147– 161; Leendert Johan Hartog: Als Hitler den Massenmord prophezeite. Zur Rede vom 30. Januar 1939. In: Die Zeit, Hamburg, 27. 01. 1989, S. 41–42. 26 Vgl. Hans-Jürgen Singer: Hitlers Rede in Siemensstadt. Ein Beispiel zur Meinungslenkung im Dritten Reich. In: Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte. Festschrift für Hans Booms. Hg. von Friedrich P. Kahlenberg. Boppard am Rhein: Boldt 1989 (= Schriften des Bundesarchivs 36), S. 504–518. 27 Vgl. Michael Wildt: „Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 129–137. 28 Vgl. Walter Hagemann: Publizistik im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Methodik der Massenführung. Hamburg: Heitmann 1948, S. 456–464. 29 Vgl. Hiroyuki Takada: Hitlerreden auf der Zeitachse. Korpuslinguistische Analyse der Eigenschaften ihrer Lexik. In: Sprachliche Sozialgeschichte des Nationalsozialismus. Hg. von Gudrun Kämper und Britt-Marie Schuster. Bremen: Hempen 2018 (= Sprache – Politik – Gesellschaft 24), S. 53–82; Christian Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933–1945. Norderstedt: Books on Demand 2004; Rhetorik im Nationalsozialismus. Hg. von Johannes G. Pankau. Tübingen: Niemeyer 1997 (= Rhetorik 16); Ruth Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. 2. verb. Aufl. München: Fink 1989; Johannes Volmert: Politische Rhetorik des Nationalsozialismus. In: Sprache im Faschismus. Hg. von Konrad Ehlich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 760), S. 137–161; Ralf Sluzalek: Die Funktion der Rede im Faschismus. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem d. Univ.
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tersuchungen mehrerer Redner angestellt und verschiedene Einzelaspekte erforscht.30 Manche Studien untersuchen die Wirkung von einzelnen Reden.31 Die sprachwissenschaftliche Forschung legte einen Schwerpunkt auf die Rhetorik und die Redesituation, beschränkte sich aber auf wenige Ansprachen.32 Schwerpunkt der kulturwissenschaftlichen Forschung ist Hitlers Stimme, wobei auch krude Überlegungen angestellt wurden wie etwa ob man das „Böse“ heraushören könne.33 Die meisten dieser Untersuchungen stützen sich ausschließlich auf schriftliche Überlieferungen und beziehen keine Tondokumente ein.
Redensammlungen und -editionen – Print, online und Ton Seit den 1960er Jahren sind einige Publikationen erschienen, die jeweils eine Auswahl von Reden präsentieren. Zu nennen ist besonders der von den HistorikerInnen Hildegard von Kotze und Helmut Krausnick (1905–1990) herausgegebene Band, der – so der Titel – 7 exemplarische Hitlerreden auf Basis der aus
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Oldenburg 1987; Utz Maas: „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand“. Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer historischen Argumentationsanalyse. Opladen: Westdt. Verlag 1984; Cornelius Schnauber: Wie Hitler sprach und schrieb. Zur Psychologie und Prosodik der faschistischen Rhetorik. Frankfurt a.M.: Athenäum 1972 (= Schriften zur Literatur 20); Cornelius Schnauber: Ausdrucksphonetische Untersuchungen von Rhythmus und Melodik an Hitlers Rede zum Ermächtigungsgesetz. Hamburg 1969; Kenneth Burke: Die Rhetorik in Hitlers „Mein Kampf“ und andere Essays zur Strategie der Überredung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967 (= Edition Suhrkamp 231); Fred L. Casmir: An Analysis of Hitler’s January 30, 1941 Speech. In: Western Speech 30 (1966), H. 2, S. 96–106; Richard William Wilkie: A quantitative analysis of rhetorical invention in selected speeches delivered by Adolf Hitler in 1936. Ann Arbor: University Microfilms Inc. 1962; Prange: Hitler’s speeches (Anm. 20). Die Zeit vor dem 30. Januar 1933 behandeln unter anderen Othmar Plöckinger: Reden um die Macht? Wirkung und Strategie der Reden Adolf Hitlers im Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 6. November 1932. Wien: Passagen 1999; Ulrich Ulonska: Suggestion der Glaubwürdigkeit. Untersuchungen zu Hitlers rhetorischer Selbstdarstellung zwischen 1920 und 1933. Ammersbek bei Hamburg: Verlag an der Lottbek Jensen 1990 (= Wissenschaftliche Beiträge aus europäischen Hochschulen 1); Detlef Grieswelle: Propaganda der Friedlosigkeit. Eine Studie zu Hitlers Rhetorik, 1920–1933. Stuttgart: Enke 1972. Vgl. Gianluca Pedrotti: Diktatur der Rhetorik oder Rhetorik der Diktatur. Gezeigt an ausgewählten Redesituationen von Mussolini und Hitler. Berlin 2017 (= Kulturen – Kommunikation – Kontakte 26); Schnauber: Wie Hitler sprach (Anm. 29). Vgl. Hans-Rainer Beck: Politische Rede als Interaktionsgefüge: Der Fall Hitler. Tübingen: Niemeyer 2001 (= Linguistische Arbeiten 436); Martin Reisigl: Rede als Vollzugsmeldung an die (deutsche) Geschichte. Hitler auf dem Wiener Heldenplatz. In: Hitler der Redner (Anm. 5), S. 383–412. Vgl. Christoph Sauer: Sprachwissenschaft und sprachwissenschaftlich inspirierte Forschung zu Hitler dem Redner. In: Hitler der Redner (Anm. 5), S. 95–113. Vgl. Mladen Dolar: His master’s voice. Eine Theorie der Stimme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; Claudia Schmölders: Die Stimme des Bösen. Zur Klanggestalt des Dritten Reiches. In: Merkur 51 (1997), H. 8, S. 681–693.
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dem verunfallten „Reichsautozug Deutschland“ geborgenen Tonaufnahmen präsentiert.34 Eine weitere, von Erhard Klöss (1931–2011) herausgegebene Publikation versammelt 20 Reden, allerdings nur in gekürzter Form.35 Eine Zusammenstellung von Hitlers sogenannten Kulturreden stellt dagegen mehrere Ansprachen ungekürzt zur Verfügung.36 Aber auch hier fehlen die kritische Kommentierung wie überhaupt eine aus der Forschung hergeleitete Einbettung und Kontextualisierung der Texte. Die wohl am meisten genutzte Zusammenstellung erarbeitete zu Beginn der 1960er Jahre der Würzburger Archivar und Historiker Max Domarus (1911– 1992),37 der seit 1932 Hitlers Äußerungen systematisch sammelte.38 Domarus mehrfach aufgelegtes, mehrbändiges Werk dient bis heute in der Forschung als wichtigste Textsammlung. Allerdings vermag es aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen: Die Reden werden meist auf Basis des Völkischen Beobachters gekürzt wiedergegeben, auch sind bei einem Textvergleich im Rahmen unseres Projekts zahlreiche, zum Teil sinnentstellende Abschreibfehler aufgefallen. Hinzu kommt, dass die Sammlung unvollständig ist. Wenige Reden sind bislang in voller Länge ediert.39 Besonders beachtet wurden einige der Geheimreden Hitlers, von denen kein Wortlaut, sondern nur Aufzeichnungen von Teilnehmern überliefert sind.40 Die berühmte, in ihrer Authentizität umstrittene Knoth-Nachschrift von Hitlers Ansprache vor den
34 Vgl. Es spricht der Führer. 7 exemplarische Hitler-Reden. Hg. und erläutert von Hildegard von Kotze und Helmut Krausnick unter Mitwirkung von F. A. Krummacher. Gütersloh: Mohn 1966. 35 Vgl. Reden des Führers. Politik und Propaganda Adolf Hitlers 1922–1945. Hg. von Erhard Klöss. München: dtv 1967. 36 Vgl. Adolf Hitler: Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933–1939. Hg. und kommentiert von Robert Eikmeyer, Frankfurt a.M.: Revolver, Archiv für Aktuelle Kunst 2004 (= Publikationsreihe Kunst, Propaganda, Dokumente 1). 37 Vgl. Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. 2 Bde. Hg. von Max Domarus. Neustadt an der Aisch: Schmidt 1962–1963. 38 Vgl. Biographie auf der Seite des Domarus-Verlags, URL: http://www.domarus.net/Autor.h tm (abgerufen am 23. 05. 2020, Seite im Juli 2021 nicht mehr erreichbar). 39 Vgl. Hans-Heinrich Wilhelm: Hitlers Ansprache vor Generalen und Offizieren am 26. Mai 1944. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 20 (1976), H. 2, S. 123–170. 40 Vgl. u. a. Martin Moll: August Eigrubers Aufzeichnungen über Tagungen der Reichs- und Gauleiter 1942/43. Bewertung – Kommentar – Edition. In: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 25 (2018), S. 197–254; Richard Albrecht: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Adolf Hitlers Geheimrede am 22. August 1939. Aachen: Shaker 2007; Andreas Wirsching: „Man kann nur Boden germanisieren“. Eine neue Quelle zu Hitlers Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), H. 3, S. 517–550.
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Gauleitern nach dem Flug Rudolf Heß’ (1894–1987) nach Großbritannien 1941 ist ebenfalls bereits ediert.41 Mitunter finden sich Abdrucke oder Editionen in anderen wissenschaftlichen Publikationen.42 Dokumentensammlungen zum Nationalsozialismus, die auch in der akademischen Lehre viel Verwendung finden, drucken einzelne Reden in gekürzter Form ab.43 Auch in Sammlungen politischer Ansprachen fanden Hitler-Reden Eingang.44 Zu nennen sind ferner Transkripte von Wochenschau- und anderen Filmberichten, die meist nur Auszüge wiedergeben.45 Mehrere Reden sind, allerdings ebenfalls nur in Teilen, auch in der Edition Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden erschienen.46 Aufnahmen sind über verschiedene klassische Tonträger zugänglich; allerdings handelt es sich hierbei häufig nur um kurze Ausschnitte, eine Kommentierung fehlt in der Regel ebenso wie eine kritische historische Einordnung. Im Zuge der sogenannten „Hitler-Welle“ der 1970er Jahre erschienen mehrere Schallplattenserien mit Ausschnitten aus Hitler-Reden und Ansprachen anderer hoher NS-Funktionäre.47 Die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit gab seit Mitte der 1980er mehrere Kassetten mit Originaltönen aus der Zeit des Nationalsozialismus heraus, die auch Ausschnitte von Hitler-Reden 41 Vgl. Franz Graf-Stuhlhofer: Hitler zum Fall Heß vor den Reichs- und Gauleitern am 13. Mai 1941. Dokumentation der Knoth-Nachschrift. In: Geschichte und Gegenwart 18 (1999), S. 95– 100. 42 Vgl. etwa die Aufzeichnungen Generalfeldmarschalls Maximilian von Weichs (1881–1954) über eine Rede am 28. Februar 1934 vor der Generalität, die abgedruckt sind bei Klaus-Jürgen Müller: Armee und Drittes Reich 1933–1939. Darstellung und Dokumentation. Unter Mitarbeit von Ernst Willi Hansen. Paderborn: Schöningh 1987. 43 Vgl. Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. Hg. von Walther Hofer. Frankfurt a.M.: Fischer 1957 (= Fischer-Bücherei 172). Fehlerhafte Texte enthält Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte. Hg. von Herbert Michaelis. Berlin: Wendler 1958–1979. 44 Vgl. Deutsche Reden von Luther bis zur Gegenwart. Hg. von Gert Ueding. Frankfurt a.M., Leipzig: Insel 1999; Politische Reden, Bd. III: 1914–1945. Hg. von Peter Wende unter Mitarbeit von Andreas Fahrmeir. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (= Bibliothek der Geschichte und Politik 25). 45 Vgl. z. B. Adolf Hitler spricht in den Berliner Siemens-Werken. 10. November 1933. Hg. von Mike Seidel. Göttingen 1969 (= Filmdokumente zur Zeitgeschichte G 118/1969); Adolf Hitler eröffnet die zweite „Arbeitsschlacht“ an der Reichsautobahn München-Salzburg. 21. 3. 1934. Mit 3 Abbildungen. Hg. von Karl Friedrich Reimers. Göttingen 1968 (= Filmdokumente zur Zeitgeschichte G 111/1968). 46 Vgl. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Hrsg. v. Götz Aly, Susanne Heim. München: Oldenbourg 2008ff. Einschlägig sind die Bde. 1–3 und 7. 47 Vgl. u. a. Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Eine historische Collage. Rundfunkpropaganda um das Dritte Reich. [Hamburg]: Jahr [1976–1977]; Volk ans Gewehr. Blitzsieg in Polen September 1939 – Beginn des 2. Weltkrieges. o.O: Schaan [1974]; Führer befiehl… 1938–1939. Am Vorabend zum 2. Weltkrieg. Die Tschechenkrise. o.O.: Schaan [1974].
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enthielten.48 In den 1990er und 2000er Jahren kamen zudem mehrere CDs auf den Markt, darunter die vom IfZ herausgegebenen Tondokumente zum Dritten Reich.49 Ein Teil von Hitlers Reden sind über verschiedene Seiten online zugänglich. Die Texte und der Kommentar der Domarus-Ausgabe sind digitalisiert über die Datenbanken Hitler. Quellen 1924–45 Online50 und Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil51 verfügbar. Der Zugang zu beiden ist beschränkt und in der Regel nur über die großen wissenschaftlichen Bibliotheken möglich. Nur die Webseite 1000 Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, die inhaltlich vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg betreut wird, bietet mehrere Ansprachen ediert an.52 Zu der Radioansprache vom 21. Juli 1944 wird hier auch ein Ausschnitt der Tonaufnahme bereitgestellt.53 Auch auf dem populärwissenschaftlich gehaltenen Online-Portal SWR2 Archivradio finden sich mehrere Ansprachen.54 HitlerReden bzw. Ausschnitte daraus zum Anhören bieten etwa auch die Österreichische Mediathek55 oder das Imperial War Museum in London.56 Auch die
48 Vgl. Der Nationalsozialismus. Teil 1: Machtergreifung und Machtsicherung 1933–1935, Teil 2: Friedenspropaganda und Kriegsvorbereitung 1935–1939, Teil 3: Das bittere Ende 1939–1945. München: Bayer. Landeszentrale für Polit. Bildungsarbeit 1985–1993. 49 Vgl. Täter – Gegner – Opfer. Tondokumente zum Dritten Reich. Im Auftrag der Dokumentation Obersalzberg und des Instituts für Zeitgeschichte, München, Berlin, hg. von Albert A. Feiber und Volker Dahm. Leipzig, Frankfurt a.M.: Deutsche Nationalbibliothek 2008. 50 Vgl. Hitler. Quellen 1924–45 Online. RSA-Edition – Hitler-Prozess – Domarus-Edition. Datenbank. Berlin: De Gruyter 2013, URL: http://dbis.uni-regensburg.de//frontdoor.php?titel _id=11973 (abgerufen am 28. 05. 2020). 51 Vgl. Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945 (Anm. 8), URL: http:// dbis.uni-regensburg.de/frontdoor.php?titel_id=6568 (abgerufen am 28. 05. 2020). 52 Vgl. Adolf Hitler, Rede vor den Spitzen der Reichswehr, 3. Februar 1933. Einführung von Andreas Wirsching, URL: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&do kument=0109_hrw&object=abstract&st=&l=de (abgerufen am 02. 09. 2020); Adolf Hitler, Rede bei der Eröffnung des neu einberufenen Reichstags [„Tag von Potsdam“], 21. März 1933. Einführung von Martin Sabrow, URL: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=doku ment_de&dokument=0005_tag&object=abstract&st=&l=de (abgerufen am 02. 09. 2020). 53 Vgl. Adolf Hitler, Rundfunkansprache zum Attentat vom 20. Juli 1944, 21. Juli 1944, 1.00 Uhr. Einleitung von Frank Reichherzer, URL: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=do kument_de&dokument=0083_ahr&st=HITLER&l=de (abgerufen am 02. 09. 2020). 54 Vgl. SWR: Radio im Zweiten Weltkrieg. 1939 bis 1945, URL: https://www.swr.de/swr2/wissen /archivradio/ns-zeit-zweiter-weltkrieg-1939-bis-1945-und-propaganda-ab-1933-100.html (abgerufen am 14. 9. 2020). 55 Vgl. Kundgebung mit Rede von Adolf Hitler auf dem Wiener Heldenplatz am 15. März 1938, URL: https://www.mediathek.at/atom/017831D9-1D5-018D0-00000BEC-01772EE2/pool/BW EB (abgerufen am 02. 09. 2020). 56 Vgl. Speech by German Chancellor to Reichstag, Berlin, Germany, 26/4/1942, URL: https:// www.iwm.org.uk/collections/item/object/80003073 (abgerufen am 02. 09. 2020).
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National Archives in Washington, DC, bieten im Internet freien Zugang zu einzelnen Reden.57 Daneben sind es vor allem – aber nicht nur – Neonazi-Seiten auf denen HitlerReden zu finden sind, wie die des neonazistischen Hitler Historical Museums.58 Selbst auf Homepages von Organisationen, auf denen man solches Material nicht ohne weiteres vermuten würde, wie der Seite des Weltzukunftsfonds wurden manche Reden veröffentlicht.59 Obskure Sammlungen von Hitler-Reden kursieren auch in anderer Form, etwa als E-Book oder ganz klassisch als gedrucktes Werk.60 Hinzu kommen frei im Internet verfügbare Bilder, die Hitler in unterschiedlichen Posen und Perspektiven bei seinen Reden zeigen. Auch Filmberichte von Reden können über verschiedene Seiten, darunter YouTube und archive.org, gefunden werden. Hinzu kommen zahlreiche Audiodateien, die frei im Internet kursieren, aber aufgrund fehlender quellenkritischer Angaben und Hinweisen zur Herkunft für Forschung und Lehre nicht verwendbar sind.
Definition der Rede Hitlers Reden sind von anderen schriftlichen und mündlichen Äußerungen abzugrenzen. Unter einer Hitler-Rede wird im Anschluss an die Definition des Philologen Thomas A. Schmitz die „mündliche, zusammenhängende, meist längere, […] vor einem Publikum vorgetragene Äußerung“ verstanden.61 Dieses muss bei den Reden nicht unbedingt im Raum anwesend sein; auch Ansprachen, die nur im Radio übertragen wurden, wie Hitlers „Aufruf an das deutsche Volk“ vom 1. Februar 1933 gelten als Reden. Dialogische Formen, wie sie z. B. für die bis 1938 stattfindenden Kabinettssitzungen, die Lagebesprechungen im Krieg oder für „Aussprachen“ etwa mit ausländischen Diplomaten typisch waren, gelten
57 Vgl. z. B. Adolf Hitler’s Address in Danzig, 19. 09. 1939, URL: https://catalog.archives.gov/id /2173191 (abgerufen am 03. 09. 2020). 58 Vgl. Jaap Van den Born: Hitler Historical Museum San Francisco (CA, USA). A Neo-Nazi grey propaganda site. In: NIOD-begin, 11. 12. 2018, URL: http://www.bartfmdroog.com/droog/ni od/hitler-historical-museum.html (abgerufen am 28. 05. 2020). 59 Vgl. Some Key Speeches of Adolf Hitler. Complete Text in English and German, URL: http:// www.worldfuturefund.org/wffmaster/Reading/Hitler%20Speeches/Hitler%20Key%20Speec hes%20Index.htm (abgerufen am 28. 05. 2020). 60 Vgl. Adolf Hitler: Reden 1920–1945. Wrocław: Independently published, Amazon Fulfillment 2017. 61 Thomas A. Schmitz u. a.: Rede. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 7: Pos-Rhet. Hg. von Gert Ueding. Berlin: De Gruyter 2014, Sp. 698–790, hier Sp. 698. Schmitz zählt anders als wir auch Äußerungen in Gesprächen zu den Reden; das widerspricht dem auch von Schmitz vertretenen Kriterium des zusammenhängenden Vortrags, mitunter auch der Strukturiertheit, weil Gespräche einer anderen Dynamik folgen (ebd.).
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nicht als Rede und finden keinen Eingang in die Edition.62 Nicht aufgenommen werden auch Papiere, die andere für ihn bekannt gaben, bei denen Hitler also nicht als Sprecher auftritt. Hierzu gehören die Proklamationen zur Eröffnung der Reichsparteitage, die der Gauleiter von München-Oberbayern Adolf Wagner (1890–1944) verlas. Weitere Kriterien sind die Strukturiertheit und rednerische Intention, die Hitlers Äußerungen zugrunde liegen müssen, um in die Edition aufgenommen zu werden. Beides fehlt etwa seinen Monologen im Führerhauptquartier und seinen Tischgespräche, die deshalb keinen Eingang finden.63 Ausschlaggebend ist das Kriterium der Mündlichkeit, dem mit der Höredition besonders Rechnung getragen wird. Tagesbefehle, Aufrufe, Appelle und so weiter, die Hitler nicht vorgetragen hat, werden deshalb nicht aufgenommen.
Arbeitsstand, Ziele des Projekts und Veröffentlichung der Edition Ausgangspunkt der Recherchen waren die in der Edition Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen genannten Publikationen, die die Zeit bis Ende Januar 1933 umfasst,64 Recherchen, die das Team um Brechtken im Rahmen von dessen Arbeit an der Biographie Albert Speers (1905–1981) tätigte,65 sowie das vom Historiker Harald Sandner erstellte Itinerar, das – obwohl nicht immer zuverlässig – ein wertvolles Hilfsmittel darstellte.66
62 Teilweise liegen diese Quellen bereits ediert vor: Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1938 [ab Band 2: 1933–1945]. Hg. von Konrad Repgen und Hans Booms (Bd. 1), Friedrich P. Kahlenberg (Bd. 2), Hans Günter Hockerts (ab Bd. 2), Hartmut Weber (Bd. 3–5) und Michael Hollmann (ab Bd. 6), Boppard a.Rhein: Boldt, München: Oldenbourg, München, Berlin: De Gruyter 1983ff; Andreas Hillgruber, Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Bernard & Graefe 1967–1970; Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942–1945. Hrsg. von Helmut Heiber. Stuttgart: DVA 1962 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 10). 63 Vgl. Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Mit bisher unbekannten Selbstzeugnissen Adolf Hitlers, Abbildungen, Augenzeugenberichten und Erläuterungen des Autors: Hitler, wie er wirklich war. 3. Aufl. Stuttgart: Seewald 1976; Heinrich Heim: Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Hamburg: Knaus 1980. Mit ausführlicher Quellenkritik: Nilsson: Hitler redivivus. „Hitlers Tischgespräche“ und „Monologe im Führerhauptquartier“ – eine kritische Untersuchung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), H. 1, S. 105–145. 64 Vgl. Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, 5 Bde./12 Teile plus Register & Kartenband sowie Ergänzungsband „Der Hitler-Prozeß 1924“, 4 Teile, Hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München u. a. 1992–2003. 65 Vgl. Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München: Siedler 2017. 66 Vgl. Hitler – Das Itinerar. Aufenthaltsorte und Reisen von 1889 bis 1945. Hg. von Harald Sandner. Berlin: Berlin Story Verlag GmbH 2016.
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Seit Projektbeginn im August 2017 wurden etwa 300 zeitgenössische und Nachkriegspublikationen ausgewertet, darunter die oben genannten, die Norddeutsche und die über das Zeitungsportal ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek online zugängliche Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachters sowie die Zeitschrift Das Archiv. Nachschlagewerk für Politik – Wirtschaft – Kultur. Ebenso wurde die englischsprachige Veröffentlichung des britischen Byzantinisten Norman Hepburn Baynes (1877–1961) durchgesehen, der nach thematischen Kriterien geordnete Ausschnitte präsentiert.67 Als ergiebig erwiesen sich die Tagebücher von Propagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945), die zwischen 1992 und 2005 im Auftrag des IfZ von einem Team um die Historikerin Elke Fröhlich ediert wurden.68 Genutzt wurde ferner die vom DRA herausgegebene Discographie der deutschen Sprachaufnahmen sowie der Katalog der Reichsrundfunkgesellschaft, der jedoch nur bis Sommer 1939 reicht.69 Hinzu kamen regionale, nationale und europäische Archiv- und Bibliotheksportale, die Datenbank des DRA und archivalisch überlieferte Listen. Es wurden umfangreiche Archivrecherchen durchgeführt, darunter an den Standorten des deutschen Bundesarchivs in Koblenz und Berlin, im DRA, der Österreichischen Mediathek, dem Oberösterreichischen Landesarchiv in Linz und dem Archiv des IfZ in München. Auf diese Weise wurden bislang 768 Reden identifiziert, von denen etwa vier Fünftel auf die Vorkriegszeit von der Machtübernahme am 30. Januar 1933 bis Ende August 1939 entfallen. Von rund 340 Ansprachen – etwa 44 Prozent – konnten vollständige Wortlaute aufgespürt werden, meist in Form von (überarbeiteten) Zeitungsabdrucken. Wie viele dieser Reden im Rundfunk übertragen, wie viele exklusiv als Radioansprachen gesendet wurden und wie viele live oder zeitversetzt ausgestrahlt wurden, wird erstmals im Rahmen des Projektes geklärt werden. Auf mehr als 300 mögliche weitere Reden gibt es Hinweise, die zu überprüfen sind. Derzeit werden die vorliegenden Texte und Tonaufnahmen mittels Texterkennungssoftware und zwei externen Schreibbüros in Word transkribiert. Anschließend erfolgt die Umsetzung in XML, um die OnlineVeröffentlichung und die Herstellung der Printbände zu erleichtern. Die Auszeichnung erfolgt nach der von der Text Encoding Initiative (TEI) entwickelten
67 Vgl. Norman H. Baynes: The speeches of Adolf Hitler, April 1922 – August 1939. New York: Fertig 1969 [erstmals 1942 erschienen]. 68 Diese wurden über die Online-Datenbank Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil (Anm. 8) benutzt. 69 Vgl. Deutsche National-Discographie. Serie 4, Discographie der deutschen Sprachaufnahmen. 4 Bde. Hg. von Rainer E. Lotz und Walter Roller. Bonn: Lotz 1995–2004; Schallaufnahmen der Reichs-Rundfunk GmbH von Ende 1929 bis Anfang 1936. S. l. [1936]; Schallaufnahmen der Reichs-Rundfunk GmbH von Anfang 1936 bis Anfang 1939. S. l. [1939].
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Die Quellenedition der Reden Adolf Hitlers 1933–1945
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Kodierung, die ein de-facto-Standard in den Geisteswissenschaften darstellt und weite Verbreitung bei der Erstellung digitaler Editionen gefunden hat. Aufgrund der frei im Internet kursierenden Reden, den abgedruckten propagandistisch aufbereiteten Auszügen in der NS-Presse, aber auch von gedruckten Sammlungen mit fehlerhaften Texten ist eine kommentierte Edition notwendig, die der Mystifizierung Hitlers entgegenwirkt, die Ansprachen in ihren historischen Kontext einordnet und ihren gesprochenen Wortlaut, soweit dies auf Grund der überlieferten Quellen möglich ist, rekonstruiert. Besondere Bedeutung kommt dabei den überlieferten Tonaufzeichnungen zu, die aufgrund der Überarbeitungen in zeitgenössischen Veröffentlichungen als authentischste Quelle gelten müssen. Ihnen ist, sofern vorhanden, der Vorzug vor schriftlichen Überlieferungen zu geben. Hierzu sind aus den verschiedenen Audioüberlieferungen Referenzversionen zu erstellen. Abweichungen zwischen verschiedenen Fassungen der Reden werden mit exakten Quellenangaben in der editorisch üblichen Weise vermerkt werden. Die Reden werden chronologisch angeordnet, das Datum und der Ort sind zu überprüfen. Der Dokumentenkopf wird ferner Angaben zum Anlass und – soweit möglich – zur genauen Uhrzeit sowie zur Länge der Rede enthalten. Dem Kommentar werden im Interesse der Langlebigkeit der Edition besonders sorgfältige Überlegungen vorausgehen. Er wird sich auf Informationen zu den erwähnten Personen, Veranstaltungsorten und schwer erschließbaren Sachverhalte konzentrieren und außerdem auditive bzw. rundfunkspezifische Aspekte erläutern. Die Sachverhalte werden im Team ausgewählt, was aber erst geschehen kann, wenn ein hinreichender, inhaltlicher Überblick über die Reden gegeben ist. Auf ausladende Forschungsdiskussionen soll verzichtet, allerdings auf andere Quellen, Literatur und den Wissensstand verwiesen werden. Ob auch Hitlers häufige unwahre Behauptungen richtiggestellt werden und der Kommentar auf ideologische Topoi wie antisemitische Phrasen eingehen wird, ist noch nicht entschieden. Für die zu erläuternden Personen sind, so weit möglich, kurze biographische Angaben zu ermitteln. Die Personen, Städte/Veranstaltungsorte, Institutionen und Sachverhalte sind in einer Datenbank zu erfassen, die die Grundlage für die Personen-, Orts- und Sachregister der Buchausgabe bildet und Teil der Online-Version sowie der digitalen Text- und Audioedition sein wird. Für die Einträge in der Datenbank werden die Nummern der Gemeinsamen Normdatei (GND) der deutschsprachigen Bibliotheken ermittelt, um die spätere Verlinkung zu erleichtern. Ein Glossar der Veranstaltungsorte wird Architektur, Geschichte und auditive Spezifika kurz vorstellen. Dies bietet sich an, weil Hitler viele Orte über die Jahre mehrfach nutzte, etwa den Sportpalast in Berlin, für den sich alleine für 1933 vier Auftritte nachweisen lassen, oder den Bückeberg bei Hameln im heutigen Nie-
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dersachsen, wo Hitler zwischen 1933 und 1937 jedes Jahr anlässlich des Reichserntedankfests sprach. Von Hitler häufig wiederholte Elemente werden zur Entlastung des Kommentars in Studien erörtert, die der Edition in einem analytischen Aufsatzteil beigegeben werden. Dieser soll die Reden in ihrer Gesamtheit kontextualisieren, die im Rahmen der Arbeit an der Edition erzielten Forschungsergebnisse präsentieren und zu weiteren Forschungen anregen. Die Beiträge können zudem der Einführung in verschiedene Themen oder zur Vertiefung einzelner Aspekte dienen. Auch weiterführende Fragen, wie nach der Wirkung und Rezeption der Reden, nach ihrer Inszenierung oder Hitlers Rhetorik, können hier beantwortet werden. Für den analytischen Teil sollen auch externe SpezialistInnen gewonnen werden, um das Projektteam zu entlasten und weiteren interdisziplinären Input zu gewinnen. Eine vollständige Bibliographie der einschlägigen Literatur aus der Zeitgeschichtsforschung und benachbarter Fächer wie der Linguistik, ein Verzeichnis der herangezogenen Quellen einschließlich der Tondokumente und eine Bibliographie der für Kommentar und Aufsatzteil verwendeten Literatur werden die Edition ergänzen. Für das Projekt ist eine Gesamtlaufzeit von elf Jahren vorgesehen. Für die Veröffentlichung, die schrittweise ab Ende 2024 erfolgen soll, ist ein mehrstufiges Verfahren geplant. Zunächst wird die Edition ganz klassisch als mehrbändige Buchausgabe erscheinen. In einem zweiten Schritt ist eine digitale Veröffentlichung im Open Access geplant, um den frei im Internet verfügbaren Texten entgegenzutreten. Hierbei sollen sowohl die Texte der Reden als auch der Kommentar und der analytische Teil zugänglich sein, wobei Kommentar und Redetext fest miteinander verbunden sein werden; es gilt zu vermeiden, dass die Reden ohne Kommentierung angezeigt werden können, um ihre unkontrollierte Verbreitung für extremistische Zwecke zu erschweren bzw. ganz zu verhindern. Die TEI-XML-Daten werden für eine wissenschaftliche Nutzung auf Anfrage verfügbar sein.
Zusammenfassung Die Edition wird nicht nur ein dringendes und mehrfach benanntes Desiderat der Forschung beseitigen, sondern wird – mehr als 75 Jahre nach dem Ende der NSDiktatur – auch endlich eine zuverlässige Textgrundlage für die Forschung liefern, zu neuen Fragestellungen anregen und den Diktator Hitler wieder stärker in den Fokus rücken. Darüber hinaus steht zu erwarten, dass die Edition auch die wissenschaftliche, journalistische und politische Auseinandersetzung um die Parallelen zwischen historischem Nationalsozialismus und aktuellem Rechts-
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Die Quellenedition der Reden Adolf Hitlers 1933–1945
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populismus und -extremismus, die derzeit teilweise spekulativ bleibt, voranbringen wird. Angesichts der Bedeutung, die Hitlers Reden sowohl im schulischen Geschichtsunterricht70 als auch in der universitären Lehre haben,71 wird die Edition auch in diesen Bereichen gute Dienste leisten. Die technischen Entwicklungen besonders der Höredition werden auch anderen Vorhaben zugutekommen. So sind vielfältige positive Effekte von der Edition zu erwarten.
70 Vgl. z. B. Elmar Wagener: „Gib uns vier Jahre…“. Hitlers Sportpalastrede im Februar 1933 als Musterbeispiel der NS-Propaganda. In: Praxis Geschichte 20 (2007), H. 6, S. 26–29; Thomas Brüggemann: Otto Wels und Adolf Hitler zum „Ermächtigungsgesetz“. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in unversöhnlichen Perspektiven. In: Geschichte lernen 15 (2002), H. 85, S. 38–44. 71 Davon zeugen mehrere publizierte Seminararbeiten, z. B. Andreas Wünsch: Mythos und Rhetorik. Hitlers Rede zum 1. Mai 1933. München: GRIN 2010; Robin Materne: Der Einsatz religiöser Bilder in Reden. Am Beispiel der Rede im Berliner Sportpalast von Adolf Hitler am 10.02.33. München: GRIN 2011.
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Cord Pagenstecher
Interview-Archive zum Nationalsozialismus. Die digitale Erschließung und Analyse von Oral History-Sammlungen am Beispiel des Online-Archivs Zwangsarbeit 1939–1945
Zusammenfassung Auf dem Weg zur Digital History des Nationalsozialismus stellen Interviews mit ZeitzeugInnen eine besondere Herausforderung dar. Die audiovisuell aufgezeichneten Erinnerungen von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung sind ein umfangreicher, auf zahlreiche Institutionen verteilter Quellenbestand, der ohne digitale Werkzeuge kaum systematisch recherchiert werden kann. Anhand des Online-Archivs Zwangsarbeit 1939– 1945 an der Freien Universität Berlin diskutiert der Beitrag Perspektiven und Probleme der digitalen Archivierung, Präsentation und Analyse von Oral History-Sammlungen als audiovisuellen narrativen Forschungsdaten. Schlagwörter Oral History, Interviewsammlungen, Audiovisuelle Forschungsdaten, Zeitzeugenberichte, Zwangsarbeit Abstract Interview Archives on National Socialism. Digital Curation and Analysis of Oral History Collections by the Example of the Online Archive Forced Labor 1939–1945 On the road to the digital history of National Socialism, biographical interviews with witnesses represent a particular challenge. The audiovisually recorded memories of survivors of National Socialist persecution constitute a large corpus of sources distributed among numerous institutions, which can hardly be researched systematically without digital tools. Taking the online archive Forced Labor 1939–1945 at Freie Universität Berlin as an example, perspectives and problems of digital archiving, presentation and analysis of oral history collections as audiovisual narrative research data are discussed. Keywords Oral History, Interview Collections, Audiovisual Research Data, Survivor Testimonies, Forced Labor
Cord Pagenstecher, Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, Team Digitale Interview-Sammlungen, E-Mail: [email protected]
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Cord Pagenstecher
Auf dem Weg zu einer Digital History des Nationalsozialismus stellen Interviews mit ZeitzeugInnen eine besondere Herausforderung dar. Die audiovisuell aufgezeichneten Erinnerungen von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung sind ein umfangreicher und wertvoller Quellenbestand, der ohne digitale Werkzeuge kaum systematisch recherchiert und analysiert werden kann. Zugleich bereitet ihre digitale Erschließung und Interpretation erhebliche Schwierigkeiten, für Sammlungsinhaber ebenso wie für Forschende. Unterschiedlichste Einrichtungen haben zahlreiche Interviews in verschiedenen Sprachen und Aufnahmequalitäten gesammelt, die nicht nur digitalisiert und langfristig bewahrt, sondern auch sammlungsübergreifend recherchierbar und zitierbar gemacht werden müssen. Diese zehntausenden von Interviews enthalten Lebensgeschichten mit jeweils ganz individuellen Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählmustern. Ihre digitale Archivierung, Präsentation und Analyse birgt unterschiedliche Herausforderungen methodischer und forschungsethischer Art, aber auch faszinierende neue Forschungsperspektiven. Mittlerweile stehen verschiedene Oral History-Sammlungen für eine Sekundärnutzung bereit. Anhand des Online-Archivs Zwangsarbeit 1939–1945 an der Freien Universität Berlin diskutiert dieser Beitrag Perspektiven und Probleme der Erschließung und Analyse digitaler Interviewbestände zum Nationalsozialismus.
Zum Stand der Oral History Seit der „Geburt des Zeitzeugen“1 wurden viele Sammlungs- und Forschungsprojekte nach der Methode der Oral History durchgeführt. Neben groß angelegten Forschungs- und Dokumentationsprojekten mit jeweils Hunderten von Interviews entstanden auch kleinere Sammlungen in Museen, Geschichtswerkstätten und Gedenkstätten, viele davon zur Geschichte von Faschismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg. Insgesamt gibt es vermutlich 60.000 bis 70.000 Audio- oder Video-Interviews mit Überlebenden und ZeugInnen des Nationalsozialismus, inklusive der über 50.000 Interviews im Visual History Archive der USC Shoah Foundation. Mangels eines einschlägigen Katalogs lässt sich ihre Zahl aber nur schätzen.
1 Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Hg. von Martin Sabrow, Norbert Frei. Göttingen: Wallstein 2012. Vgl. Almut Leh: Vierzig Jahre Oral History in Deutschland. Betrag zu einer Gegenwartsdiagnose von Zeitzeugenarchiven am Beispiel des Archivs „Deutsches Gedächtnis“. In: Westfälische Forschungen. Zeitschrift des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte 65 (2015), S. 255–268.
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Interview-Archive zum Nationalsozialismus
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Inzwischen nutzt die – früher primär auf Schriftquellen orientierte – zeithistorische Forschung vielfach lebensgeschichtliche, narrative Interviews.2 Vor allem mit dem Boom der Memory Studies sind Erinnerungsmuster ein wichtiges Forschungsthema geworden. Die Zeitgeschichte ist aber noch immer und mit Recht auch am historischen Faktengehalt der erzählten Erinnerungen interessiert. Angesichts der oft vernichteten oder einseitig täterorientierten Quellenüberlieferungen ist insbesondere die Erforschung der nationalsozialistischen Lager auf Erkenntnisse der Oral History angewiesen. Hinzu kommt ihre zentrale Rolle in der Geschichtsvermittlung durch Ausstellungen und Bildungsprojekte, besonders aber in der medial vermittelten Geschichte des Nationalsozialismus. Der „Zeitzeuge als Artefakt der Medienkonsumgesellschaft“3 hat die Zeitgeschichte intensiv beschäftigt; insbesondere wurde die Instrumentalisierung von Interview-Ausschnitten zur Bezeugung vorgefertigter Narrative in bestimmten Fernsehserien kritisiert. Die wissenschaftliche Diskussion um Analysemethoden für Interviews wird dagegen stärker in Nachbardisziplinen geführt. Im interdisziplinären Austausch etwa mit der empirischen Kulturwissenschaft oder der qualitativen Sozialforschung hat die Oral History Standards der Interviewführung und -auswertung etabliert, die in Zeitschriften wie BIOS und Verbänden wie der International Oral History Association weiterentwickelt werden. Zunehmend analysieren auch Literaturwissenschaft, Linguistik oder Philosophie Oral History-Interviews. Auf Tagungen wie „Preserving Survivors’ Memories“ (2012), „Erinnern an Zwangsarbeit“ (2012), „Videographierte Zeugenschaft“ (2014), „Testimony/Bearing Witness“ (2015), „Oral History meets Linguistics“ (2015) oder „Bearing Witness More Than Once“ (2016) wurde das Forschungsfeld vermessen.4 Dabei rückten 2 Vgl. Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute. Hg. von Knud Andresen, Linde Apel, Kirsten Heinsohn. (Festschrift für Dorothee Wierling), Göttingen: Wallstein 2015. 3 Christoph Classen: Der Zeitzeuge als Artefakt der Medienkonsumgesellschaft. Zum Verhältnis von Medialisierung und Erinnerungskultur. In: Sabrow/Frei, Die Geburt des Zeitzeugen, S. 300–319. Vgl. Judith Keilbach: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen. Münster: LIT 2008. 4 Vgl. Preserving Survivors’ Memories. Digital Testimony Collections about Nazi Persecution. History, Education and Media. Hg. von Nicolas Apostolopoulos, Michele Barricelli, Gertrud Koch. Berlin 2016, URL: www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Handlu ngsfelder/Auseinandersetzung_mit_der_Geschichte_01/Bildungsarbeit-mit-Zeugnissen/Testi monies_Band3_Web.pdf (abgerufen am 27. 10. 2020); Erinnern an Zwangsarbeit. ZeitzeugenInterviews in der digitalen Welt. Hg. von Nicolas Apostolopoulos, Cord Pagenstecher. Berlin: Metropol 2013; Verena Lucia Nägel: Zeugnis – Artefakt – Digitalisat. Zur Bedeutung der Entstehungs- und Aufbereitungsprozesse von Oral History-Interviews. In: Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog. Hg. von Anne Eusterschulte, Sonja Knopp, Sebastian Schulze. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2016, S. 347–368; Testimony /Bearing Witness, URL: www.web.archive.org/web/20160616053619/http://userpage.fu-berlin.de/~zeu genschaft/?page_id=496; Oral History meets Linguistics, URL: www.frias.uni-freiburg.de/en
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neben dem subjektiv-biographischen Charakter des Zeugnisses verstärkt die mediale Verfasstheit und die digitale Rezeption in den Fokus.
Oral History-Interviews als Forschungsdaten? Während lange Zeit vor allem wenige selbst geführte Interviews analysiert wurden, wächst nun das Interesse an einer Zweitauswertung bereits früher gesammelter Interviews.5 In qualitativer Sozialforschung und Kulturwissenschaft bestehen vielfach methodische Bedenken gegen solche Sekundäranalysen; die Geschichtswissenschaft dagegen ist die quellenkritische Untersuchung heterogener Materialien unterschiedlicher und oft unklarer Provenienz gewohnt. Die Auswertung bereits vorhandener Interviews erspart die aufwändige Durchführung eigener Interviewprojekte und die damit verbundenen Technik-, Reise- und Transkriptionskosten. Für die inzwischen mehr als 75 Jahre zurückliegende Geschichte des Nationalsozialismus stehen ohnehin kaum noch ZeitzeugInnen für Interviews zur Verfügung. Um eine Nachnutzung zu ermöglichen, sollten Oral History-Interviews als audiovisuelle Forschungsdaten begriffen werden und den FAIR-Prinzipien entsprechend auffindbar, zugänglich, interoperabel und wiederverwendbar sein.6 Bisher ist eine sammlungsübergreifende Recherche in den verstreuten Interviewbeständen aber nicht möglich. Oral History-Interviews werden in Universitäten, Museen, Gedenkstätten, Archiven, Bibliotheken und Mediatheken gesammelt und mit unterschiedlichen Verzeichnungssystemen und MetadatenStandards erschlossen. Oft werden die Interviews als multimediale Ego-Dokumente in textorientierten Katalogen und Findmitteln nur kursorisch bzw. als Sammlung benannt. Große Interview-Archive wie das Archiv Deutsches Gedächtnis an der FernUniversität in Hagen (über 3.000 Interviews) oder die Werkstatt der Erinnerung in Hamburg (über 2.000 Interviews) sind nur vor Ort zu konsultieren. Ähnliches gilt für die KZ- und DDR-Gedenkstätten mit ihren
/events/frias-conferences/conference-oral-history-and-linguistics; Bearing Witness More Than Once, URL: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6829 (alle abgerufen am 29. 10. 2020). 5 Vgl. Linde Apel: Oral History reloaded. Zur Zweitauswertung von mündlichen Quellen. In: Westfälische Forschungen 65 (2015), S. 243–254. 6 Vgl. Informationsplattform, URL: forschungsdaten.info; GO FAIR International Support and Coordination Office, URL: www.go-fair.org/fair-principles (alle abgerufen am 27. 10. 2020); Linde Apel, Almut Leh, Cord Pagenstecher: Oral History im digitalen Wandel. Interviews als Forschungsdaten. In: Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben. Oral History im 21. Jahrhundert. Hg. von Linde Apel. Hamburg: 2021 (im Druck).
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Interview-Archive zum Nationalsozialismus
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rund 10.000 Interviews.7 Noch schwerer zugänglich sind die zahlreichen Sammlungen von Heimatmuseen, Geschichtswerkstätten und Stadtarchiven. Längst nicht alle Bestände sind digitalisiert, von einer nachhaltigen Langzeitarchivierung ganz zu schweigen. Viele Sammlungen mit analogen Trägermedien sind akut in ihrem Bestand bedroht. Während in einigen anderen Ländern bereits nationale Oral History-Archive entstehen8 und digitale Erschließungssysteme erprobt und diskutiert werden, hat die Oral History in Deutschland noch großen Nachholbedarf. An den Universitäten stellen bislang nur wenige ForscherInnen ihre selbstgeführten Interviews nach Projektabschluss für Sekundäranalysen bereit. Das widerspricht der Maxime, Forschungsdaten langfristig zu sichern und anderen WissenschaftlerInnen zur Überprüfung und Nachnutzung verfügbar zu machen. Hierzu fehlt jedoch eine Plattform mit sammlungsübergreifenden Erschließungs- und Recherchefunktionalitäten. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik stellt für die von der Bundesregierung geförderten Gedenkstätten seit 2017 eine erste Version eines Zeitzeugenportals bereit, die aber weder Erschließungsfunktionalitäten noch eine wissenschaftliche Rechercheumgebung bietet (www.zeitzeugen-por tal.de). Die dauerhafte Sicherung der digitalen Medien bleibt ebenso eine Herausforderung wie der verantwortungsvolle Umgang mit Urheber- und Persönlichkeitsrechten. Angesichts der kollaborativen Produktion sensibler Daten im Interviewprozess hat die Oral History-Community schon früh über forschungsethische Verantwortung diskutiert.9 Schriftliche Einverständniserklärungen der Interviewten sind in Oral History-Projekten inzwischen Praxisstandard, ihre Reichweite und Spezifizierung – etwa im Hinblick auf neue digitale Nutzungsformate – bedarf freilich immer wieder der Diskussion. Auch die Urheberrechte von Interviewenden und Kameraleuten müssen Beachtung finden. Hinzu kommen mögliche Anonymitätsansprüche von in den Interviews genannten Dritten, etwa wenn dort mutmaßliche Täter von Verbrechen genannt werden. In der Praxis häufiger ist der Wunsch von Kindern oder anderen Angehörigen der Interviewten nach Anonymität – nicht zuletzt aus Sorge vor aktuellem Antisemitismus. Erforderlich ist also ein abgestuftes Rechte- und Zugangsmanagement 7 Vgl. Zeitzeugen eine Stimme geben durch Oral History, Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/16575, 16. 1. 2020, S. 9. 8 Vgl. z. B. Österreichische Mediathek (A), URL: https://www.mediathek.at/menschenleben; Australian Generations (AUS), URL: http://artsonline.monash.edu.au/australian-generations; National Life Stories (GB), URL: http://www.bl.uk/collection-guides/oral-history; Belarussian Oral History Archive (BY), URL: http://www.nashapamiac.org; Archiwum Historii Mówionej (PL), URL: www.audiohistoria.pl (alle abgerufen am 27. 10. 2020). 9 Vgl. Almut Leh: Forschungsethische Probleme in der Zeitzeugenforschung. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 13 (2000), S. 64–76.
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und gegebenenfalls auch Anonymisierung der Interviews. Nicht erst seit Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist der bestmögliche Ausgleich zwischen Schutzverpflichtung und Zugänglichkeit eine kontinuierliche Herausforderung für Sammlungsinhaber.10
Digitale Interview-Sammlungen an der Freien Universität Berlin Die seit der Jahrtausendwende entstandenen digitalen Oral History-Archive erleichtern eine Sekundärnutzung von Interviews. Zudem rücken sie statt der früher zentralen Transkripte auch die Ton- und Videoaufnahmen ins Zentrum der Analyse. Einige der größten und am besten erschlossenen digitalen Interviewplattformen stehen an der Freien Universität Berlin bereit. Der Arbeitsbereich Digitale Interview-Sammlungen (www.cedis.fu-berlin.de /dis) wurde seit 2006 am Center für Digitale Systeme (CeDiS) aufgebaut und gehört seit 2018 zur Universitätsbibliothek. Er macht einerseits drei externe Oral History-Sammlungen zugänglich: Das seit 2006 verfügbare Visual History Archive der USC Shoah Foundation umfasst über 53.000 Video-Interviews (www.vha.fu-berlin.de), von denen CeDiS im Projekt „Zeugen der Shoah“ 950 Interviews transkribiert hat (www.zeugendershoah.de). Seit 2017 steht das Fortunoff Archive der Yale University mit über 4.500 Video-Interviews an der Freien Universität für die Forschung bereit. Zudem können 150 Video-Interviews der britischen Sammlung Refugee Voices über den Bibliothekskatalog recherchiert und vor Ort angesehen werden (www.refugeevoices.fu-berlin.de). Andererseits baut der Arbeitsbereich Digitale Interview-Sammlungen eigene Interviewsammlungen auf und entwickelt darauf abgestimmte Forschungs- und Lernumgebungen. Seit 2008 wurde das im Folgenden genauer beschriebene Online-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945 geschaffen. Ab 2016 setzte das über 90 Interviews umfassende Projekt Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland den gesamten Prozess von der Interviewführung bis zur Online-Bereitstellung um (www.occupation-memories.org). Aktuell entstehen weitere Instanzen dieser Software für Interviewarchive zur deutsch-chilenischen Ge10 Vgl. DFG-Handreichung: Informationen zu rechtlichen Aspekten bei der Handhabung von Sprachkorpora, URL: www.dfg.de/download/pdf/foerderung/grundlagen_dfg_foerderung/inf ormationen_fachwissenschaften/geisteswissenschaften/standards_recht.pdf; DASISH-Handbook in legal and ethical issues for SSH data in Europe, URL: www.dasish.eu/publications/pro jectreports/DASISH_D6.5_februar_2015.pdf; Archivierung und Zugang zu Qualitativen Daten. RatSWD Working Paper 267/2018. Hg. von Betina Hollstein, Jörg Strübing. Berlin: Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten 2018, URL: www.doi.org/10.17620/02671.35; Oral History Association, Principles for Oral History and Best Practices for Oral History, URL: www.oralhi story.org/about/principles-and-practices (abgerufen am 27. 10. 2020).
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Interview-Archive zum Nationalsozialismus
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schichte (https://www.cdoh.net/), zum Grenzregime der DDR (www.eisernervorhang.de) und zur Universitätsgeschichte (www.fu-berlin.de/sites/erlebte-ge schichte). Im Projekt „Campscapes“ untersuchte CeDiS die Nutzung von Interviews in Gedenkstätten; dabei entstand ein sammlungsübergreifender OnlineKatalog von Zeitzeugen-Interviews (testimonies.campscapes.org). Zusammen mit Schulen und Gedenkstätten sowie Partnern in Tschechien, Russland, Polen und den Niederlanden hat das CeDiS multimediale Bildungsangebote zum – auch mobilen – Lernen mit Interviews entwickelt.11 Im Projekt „Oral-History.Digital“ erarbeitet die Freie Universität Berlin seit 2020 zusammen mit anderen Partnern eine Informationsinfrastruktur für die Erschließung, Recherche und Annotation von audiovisuellen narrativen Interviews (www.oral-history.digital). Mit dieser quellenspezifischen Plattform werden Sammlungsinhaber ihre Interviewbestände softwareunterstützt nach etablierten Standards erschließen, langfristig sichern und online bereitstellen können. Dabei kann die sogenannte Künstliche Intelligenz in Form von automatischer Spracherkennung, automatischer Übersetzung oder automatischer Eigennamenerkennung arbeitsaufwändige manuelle Erschließungsprozesse unterstützen.12 Trotz großer Fortschritte bei der Spracherkennung wird die manuelle Nachbearbeitung aber auch in Zukunft kaum verzichtbar sein, vor allem bei älteren und dialektalen Aufnahmen. Wichtig ist aber eine intensivere Diskussion über und verstärkte Orientierung an gemeinsamen Erschließungsstandards, um eine sammlungsübergreifende und nachhaltige Zugänglichkeit von Oral History-Interviews als Forschungsdaten zu ermöglichen.
Das Online-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945 Etwas ausführlicher wird nun ein an der Freien Universität Berlin erarbeitetes Interview-Archiv zur NS-Zwangsarbeit vorgestellt. Das Online-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte ist der Erinnerung an gut zwanzig Millionen Menschen gewidmet, die für das nationalsozialistische Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben (www.zwangsarbeit-archiv.de). Konkret erzählen 11 Vgl. Dorothee Wein, Cord Pagenstecher: Learning with Digital Testimonies in Germany: Educational Material on Nazi Forced Labor and the Holocaust. In: Oral History and Education. Theories, Dilemmas, and Practices. Hg. von K. Llewellyn, N. Ng-A-Fook. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2017, S. 361–377. 12 Vgl. Almut Leh, Michael Gref, Joachim Köhler: Improved Transcription and Indexing of Oral History Interviews for Digital Humanities Research. In: Proceedings of the Eleventh International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC 2018), 2018, URL: www.l rec-conf.org/proceedings/lrec2018/summaries/137.html; Oral History & Technology, URL: www.oralhistory.eu (alle abgerufen am 27. 10. 2020).
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249 Zwangsarbeiterinnen und 341 Zwangsarbeiter aus 26 Ländern ihre Lebensgeschichte in ausführlichen Audio- und Videointerviews. Dabei kommen neben der Kerngruppe der „zivilen“, also dem Arbeitsamt oder privaten Firmen untergeordneten, ZwangsarbeiterInnen auch die von SS bzw. Wehrmacht beaufsichtigten ehemaligen KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene zu Wort. Initiiert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, wurden die Interviews in den Jahren 2005 und 2006 von 32 Initiativen unter der Koordination des Instituts für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen in 26 Ländern geführt.13 Die lebensgeschichtlichen Interviews haben eine durchschnittliche Länge von dreieinhalb Stunden. Die 590 Interviews von Zwangsarbeit 1939–1945 wurden in einem spezialisierten Backend mit Workflow-Management wissenschaftlich erschlossen und in einem mehrsprachigen Online-Archiv mit time-codierten Transkripten, facettierter Suche, interaktiver Kartenanwendung und Notizfunktion bereitgestellt (archiv.zwangsarbeit-archiv.de).14 Das Interviewarchiv Zwangsarbeit 1939–1945 ist weltweit online zugänglich. Erforderlich ist aber eine Registrierung, die vor der Freischaltung geprüft wird. Dabei werden nicht nur Angaben zur Person, sondern auch zum Rechercheanliegen abgefragt; auch müssen sich die BenutzerInnen zur Einhaltung der Nutzungsbedingungen verpflichten. Durch diese in konventionellen Archiven übliche Praxis sollen die oft sehr persönlichen Lebenserzählungen gegen einen eventuellen Missbrauch geschützt werden; dies hat sich seit Online-Stellung 2009 bewährt. Über 11.000 BenutzerInnen sind derzeit registriert – mit rund 1.000 Neuanmeldungen pro Jahr. Gut die Hälfte der BenutzerInnen stammt aus Deutschland; Russland, Niederlande, USA, Österreich und Polen sind die nächstwichtigen Herkunftsländer. Die Rechercheanliegen verteilen sich etwa gleichmäßig auf die Bereiche Wissenschaft/Ausstellungen, Bildung/Schule, Öffentlichkeit/Medien, Persönliches Interesse sowie Familienforschung. In diesem breiten Interessenspektrum fällt das letztgenannte Motiv auf: Unter den BenutzerInnen sind über 2.300 Menschen, die ein familiäres Interesse am Thema Zwangsarbeit bewegt, deren Großeltern entweder ZwangsarbeiterInnen waren oder ZwangsarbeiterInnen hatten. Nach der Anmeldung bietet das Archiv unterschiedliche Rechercheoptionen. Über die Kategoriensuche mit Rubriken wie Opfergruppe, Einsatzbereich oder Sprache werden komplette Interviews gefunden und angezeigt. Eine auf der Transkription und Übersetzung der Interviews beruhende Volltextsuche er13 Vgl. Hitlers Sklaven. Internationales lebensgeschichtliches Dokumentationsprojekt zur Sklaven- und Zwangsarbeit. Hg. von Almut Leh, Alexander von Plato, Christoph Thonfeld. Wien: Böhlau 2008. 14 Vgl. Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt. Hg. von Nicolas Apostolopoulos, Cord Pagenstecher. Berlin: Metropol 2013.
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möglicht zudem das Auffinden und Ansteuern konkreter Stellen in den Interviews. Dafür wurden die Transkripte und Übersetzungen satzweise in Segmente unterteilt, die mit den Timecodes der Video- und Audioaufnahmen verknüpft wurden, so dass der Text synchron mit Audio oder Video mitläuft. Volltext- und Kategoriensuche sind miteinander kombinierbar. Daneben gibt es Register mit Namen von Firmen, Lagern, Geburts- und Einsatzorten sowie Personen. Eine Kartenanwendung zeigt die Herkunfts- und Arbeitsorte der Interviewten und veranschaulicht damit die europäische Dimension der nationalsozialistischen Zwangsarbeit.
Abb. 1: Volltextsuche und Filterfacetten im Online-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945: 150 Interviewte sprechen über Sklavenarbeit. Bei 33 sogenannten OstarbeiterInnen kommt die Wortfolge „sklav*“ in den Transkriptübersetzungen vor. Anonymisierter Screenshot aus https://archiv. zwangsarbeit-archiv.de.
Der Orientierung in der komplexen Erzählstruktur der lebensgeschichtlichen Berichte dienen die Inhaltsverzeichnisse mit anklickbaren Haupt- und Zwischenüberschriften. Die Überschriften sind nicht standardisiert, sondern bilden eine deutlich erkennbare subjektive Interpretation des Gesagten. Auf die Vergabe von – vermeintlich objektiven – thematischen Schlagwörtern wurde dagegen verzichtet. Einzelnen Segmenten wurden redaktionelle Anmerkungen hinzugefügt, die unklare Begriffe und Ausführungen erläutern oder auf weiterführende Literatur verweisen. Suchergebnisse, Interviews und einzelne Segmente können in einer persönlichen Arbeitsmappe gespeichert und kommentiert werden. Die Interviews können im Vollbild angesehen werden oder im Kontext mit biogra-
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Abb. 2: Interviewansicht im Online-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945: Das Transkript des Interviews mit Anita Lasker-Wallfisch kann in Original oder Übersetzung in der Segmentansicht, als Untertitel oder als PDF gelesen werden. Screenshot aus https://archiv.zwangsarbeit-archiv.de.
phischen Angaben, Daten zum Interview, Fotos, Kurzbiographie und Inhaltsverzeichnis bzw. der Ergebnisliste der Volltextsuche – auch in responsivem Design auf mobilen Geräten. Das Online-Archiv richtet sich in erster Linie an eine deutsche Öffentlichkeit. Daher sind die Transkripte der überwiegend fremdsprachigen Erinnerungsberichte in die deutsche Sprache übersetzt worden. Durch den Prozess der Segmentierung wurde die Untertitelung des Videos bzw. des Audios durch Transkript und Übersetzung möglich. Die Plattform ist aber mehrsprachig angelegt. Neben der Nutzeroberfläche sind Inhaltsverzeichnisse, Kurzbiographien, Begleitmaterialien, Metadaten und Anmerkungen zu den über 120 russisch- und den 38 englischsprachigen Interviews auch auf Russisch bzw. Englisch abrufbar. Das Online-Archiv ist eingebettet in einen Webauftritt (www.zwangsarbeit-ar chiv.de) mit umfassenden Informationen zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit, zur Entschädigung, zur Entstehung und Aufarbeitung der Sammlung und zu den bereitgestellten Bildungsmaterialien. Lehrveranstaltungen und internationale Summer Schools widmen sich der akademischen Nachwuchsförderung.15 Für den Schulunterricht hat der Arbeitsbereich multimediale Bildungsangebote entwickelt, die die Anschaulichkeit lebensgeschichtlicher Videointerviews 15 Vgl. Verena Lucia Nägel: Oral History-Interviews zum Holocaust in der universitären Lehre. Die internationalen Summer Schools der Digitalen Interview-Sammlungen an der Freien Universität Berlin. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1 (2018), S. 95–104.
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mit der Interaktivität digitaler Medien verbinden. Im Mittelpunkt der OnlineAnwendung „Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939–1945“ stehen sieben 25minütige biographische Kurzfilme; zwei Hintergrundfilme informieren über Zwangsarbeit und Entschädigung sowie Oral History (www.lernen-mit-interviews.de). Transkripte und Übersetzungen, Aufgabenvorschläge und Methodentipps, Zeitleiste und Lexikon, Arbeitsfenster und Portfolio-Funktion unterstützen ein forschendes Lernen im Regelunterricht, bei Projekttagen und Präsentationsprüfungen. Gemeinsam mit Partnerprojekten in Tschechien, Russland und Polen wurden in den wichtigsten Herkunftsländern der ZwangsarbeiterInnen landesspezifische Versionen der Online-Anwendung entwickelt (www.nucenapr ace.cz, www.obuchenie-na-osnove-intervyu.org, www.edukacja.wojnaipamiec.pl). Zentral sind dabei immer wieder die historische Kontextualisierung, ein biografischer Ansatz und eine digital unterstützte Quellenkritik.16
Vergleichende Analysen der Interviews in Zwangsarbeit 1939–1945 Welchen Ertrag aber bringen digitale Interviewarchive der Forschung – jenseits der leichteren Auffindbarkeit einzelner, dann konventionell ausgewerteter Interviews? Exemplarisch ausgelotet haben das einige komparative Analysen, die sich besonders auf die Vielfalt großer Interviewsammlungen stützten. Im Fokus standen dabei das Visual History Archive der Shoah Foundation und das Fortunoff Archive der Yale University, anhand derer umfangreiche Arbeiten entstanden, die vielfältige Perspektiven auf die „Videographierte Zeugenschaft“, ihre Entstehungsbedingungen und Rezeptionskontexte ermöglichen.17 Sie beschränken sich auf Interviews mit Holocaust-Überlebenden, vielfach solche in englischer Sprache, sind aber auch für andere Interviewsammlungen aufschlussreich. Auch das Online-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945 mit seinen unterschiedlichen Gruppen von Interviewten ist für komparative Untersuchungen genutzt worden. Allerdings überwiegen hier Studien aus dem Kreis der Interviewenden, die sich mehr auf die persönliche Vertrautheit mit einzelnen Interviews und auf 16 Vgl. Dorothee Wein: „Und man hat geträumt, man wird überleben, und man wird das alles erzählen.“ Historisches Lernen mit der Online-Anwendung „Zeugen der Shoah“. In: Didactica Historica 5 (2019), S. 1–12; Dorothee Wein: Oral History in der digitalen Bildung. Die Online-Anwendung „Lernen mit Interviews. Zwangsarbeit 1939–1945“. In: geschichte für heute, Zeitschrift für historisch-politische Bildung, 3 (2017), S. 66–71. 17 Vgl. z. B. Andree Michaelis: Erzählräume nach Auschwitz: Literarische und videographierte Zeugnisse von Überlebenden der Shoah. Berlin: Akademie 2013; Alina Bothe: Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Eine Quellenkritik. Berlin: De Gruyter 2019; Noah Shenker: Reframing Holocaust Testimony. Bloomington 2015. Jan Taubitz: Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft. Göttingen: Wallstein 2016.
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Cord Pagenstecher
ausgedruckte Transkripte stützen als auf die Analysemöglichkeiten des digitalen Interviewarchivs.18 So fragt Christoph Thonfeld in einer transkriptbasierten Gruppenstudie danach, wie ehemalige NS-Zwangsarbeitende in ihren verschiedenen Herkunftsund Auswanderungsländern nach 1945 ihre Erfahrungen verarbeitet und gedeutet haben.19 In allen sechs untersuchten Ländern lehnten sich die Interviewten eng an die jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen mit ihren Heldenoder Opferschemata an. Überall mussten ehemalige Zwangsarbeitende teilweise lebenslang um ihre Anerkennung als NS-Opfer kämpfen, in Frankreich war dies aber deutlich schwerer als etwa in der Tschechoslowakei.20 Eine besondere geschlechtsspezifische Diskriminierung erlebten viele ehemalige „Ostarbeiterinnen“, die nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion wegen ihrer Verschleppung nach Deutschland keinen Ehepartner fanden.21 Kaum eine deutsche oder sowjetische Archivquelle dokumentiert diese – mehr gesellschaftlich als staatlich verankerte – Diskriminierung Hunderttausender sowjetischer Frauen nach 1945.22 Erfahrungsgeschichtliche Quellen wie Interviews eignen sich besonders für genderorientierte Analysen, allerdings nur, wenn die Operationalisierung der Fragestellung in entsprechenden Suchbegriffen gelingt, denn wie findet man per Volltextsuche geschlechtsspezifische Erfahrungen? Die dann möglicherweise erkannten Muster – Frauen sprechen beispielsweise öfter als Männer über körperliche Durchsuchungen in der Haft – bedürfen stets einer anschließenden qualitativen Interpretation der jeweiligen Fundstellen.23 18 Vgl. die Beiträge in Hitlers Sklaven (Anm. 13) und weitere daraus hervorgegangene Arbeiten, sowie Piotr Filipkowski: Oral History and the War. The Nazi Concentration Camp Experience in a Biographical-Narrative Perspective, Berlin: Peter Lang 2019; Cord Pagenstecher: „We were treated like slaves.“ Remembering forced labor for Nazi Germany. In: Human Bondage in the Cultural Contact Zone. Transdisciplinary Perspectives on Slavery and Its Discourses. Hg. von Gesa Mackenthun, Raphael Hörmann. Münster: Waxmann 2010, S. 275–291; Grete Rebstock: Emotionen und Diskurse. Überlegungen zu den Erinnerungen ehemaliger NSZwangsarbeiter_innen aus der Sowjetunion. In: Geschlecht und Erinnerung im digitalen Zeitalter. Neue Perspektiven auf ZeitzeugInnenarchive. Hrsg. v. Alina Bothe, Christina Isabel Brüning. Berlin [u. a.]: Lit, S. 157–178. 19 Vgl. Christoph Thonfeld: Rehabilitierte Erinnerungen? Individuelle Erfahrungsverarbeitungen und kollektive Repräsentationen von NS-Zwangsarbeit im internationalen Vergleich. Essen: Klartext 2014. 20 Vgl. Thonfeld, Rehabilitierte Erinnerungen, S. 97, S. 209. (Anm. 19) 21 Vgl. Cord Pagenstecher, Doris Tausendfreund: Interviews als Quellen der Geschlechtergeschichte. Das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ und das „Visual History Archive“ der USC Shoah Foundation. In: Bothe/Brüning (Hg.): Geschlecht und Erinnerung (Anm. 18), S. 41–67, hier S. 41. 22 Vgl. Gelinada Grinchenko, Eleonora Narvselius: Silken braids under the German boot. Creating images of female soviet Ostarbeiters as betrayers and betrayed. In: Traitors, Collaborators and Deserters in Contemporary European Politics of Memory. Hg. von dies. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2018, S. 311–336. 23 Vgl. Pagenstecher, Tausendfreund. Interviews als Quellen der Geschlechtergeschichte, S. 61f.
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Die Vielzahl der Interviews erlaubt einen multiperspektivischen Blick auf die Geschichte bestimmter Lager und selbst auf einzelne Phänomene in diesen Lagern. So wird Auschwitz im Archiv Zwangsarbeit 1939–1945 in 188 Interviews in 19 verschiedenen Sprachen erwähnt. Zum Häftlingsorchester in Auschwitz finden wir mit der Volltextsuche nach dem Wortstamm „orchest*“ nicht nur 35 Segmente in dem Interview mit Anita Lasker-Wallfisch, der Cellistin des Frauenorchesters, sondern auch Aussagen in 39 anderen Interviews mit KZ-Häftlingen, die u. a. über die demütigende Wirkung der Orchestermusik auf die vorbeimarschierenden Häftlinge sprechen. Wenn diese Passagen per Volltextsuche mit Hilfe der timecodierten deutschen Übersetzungen gefunden wurden, können die Detailpassagen nach Möglichkeit in der Originalsprache, der Intonation, teilweise auch der Mimik vergleichend analysiert werden. In ähnlicher Weise wurde die sprachliche Verwendung des Begriffs „Service du Travail Obligatoire“ durch verschiedene französische Zwangsarbeiter untersucht, auch im Vergleich mit andern Interviewbeständen.24 Bei vielen Vergleichsstudien fällt allerdings auf, wie unterschiedlich die individuellen Verfolgungserfahrungen und Verarbeitungsstrategien sind, ohne die ein wörtlicher Vergleich einzelner Interviewsequenzen wenig aussagekräftig bleibt. Die komfortablen und punktgenauen Recherchemöglichkeiten digitaler Interviewarchive entbinden die Forschenden nicht von der Aufgabe einer sorgfältig kontextualisierenden Interpretation ihrer Analyseergebnisse. Als besonders ergiebig erwies sich der Vergleich mehrerer Interviews mit dem oder der gleichen ZeitzeugIn.25 Dies zeigt sich etwa anhand von zwei englischsprachigen Interviews mit Anita Lasker-Wallfisch aus dem Visual History Archive (1998) und dem Archiv Zwangsarbeit 1939–1945 (2006).26 Im Vergleich 24 Vgl. Annette Gerstenberg: A difficult term in context. The case of French STO. In: Oral History Meets Linguistics, ed. by Erich Kasten, Katja Roller, and Joshua Wilbur. Fürstenberg/ Havel: Kulturstiftung Sibirien 2017, S. 159–183, URL: http://www.siberian-studies.org/publi cations/orhili_E.html (abgerufen am 06. 12. 2020). Vgl. das laufende Projekt „Emergentes Erinnern“ von Stefan Pfänder und Thomas Klinkert, URL: https://gepris.dfg.de/gepris/projek t/391351163 (abgerufen am 06. 12. 2020). 25 Vgl. Dori Laub, Johanna Bodenstab: Wiederbefragt. Erneute Begegnung mit HolocaustÜberlebenden nach 25 Jahren. In: Hitlers Sklaven (Anm. 13), S. 389–401; Sharon Kangisser Cohen: Testimony and Time: Holocaust Survivors Remember. Jerusalem: Yad Vashem Publications 2014; Wiedererzählen. Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis. Hg. von Elke Schumann, Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene, Stefan Pfänder. Bielefeld: Transcript 2015; Henry Greenspan: The Unsaid, the Incommunicable, the Unbearable, and the Irretrievable. In: Oral History Review 41 (2014), S. 229–243. Vgl. die Dissertation zu den Interviews mit Jürgen Bassfreund/Jack Bass: Daniel Schuch, Konflikthafte Zeugenschaft. David P. Boders Audio-Interviews im Nachkriegseuropa. In: Mimeo. Blog der Doktorandinnen und Doktoranden am Dubnow Institut, 22. 07. 2020, URL: mimeo.dubnow.de/konflikthafte-zeugenschaft (abgerufen am 27. 10. 2020). 26 Vgl. Anita Lasker-Wallfisch, interviewt von Joanna Buchan, 08. 12. 1998, USC Shoah Foundation’s Visual History Archive, Interview 48608, Transkript Freie Universität Berlin 2012,
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belegt ihr zweites Interview ein deutlich größeres Selbstbewusstsein als Überlebende, Erzählerin und Expertin. Die gewachsene narrative Erfahrung und performative Leistung zeigt sich etwa in der häufigeren Wiedergabe wörtlicher Zitate statt der indirekten Rede. Generell liefern erfahrenere ZeitzeugInnen meist stärker durchgestaltete Erzählungen – auch wenn viele Forscherinnen und Forscher lieber das vermeintlich authentische erste Zeugnis hören wollen. Im Video-Archiv wird zudem die intensivere nonverbale Interaktion mit dem Interviewer sichtbar. Audiovisuelle Erzählmuster wie Intonation, Pausen, Gestik und Mimik blieben unbemerkt bei einer konventionellen Interviewanalyse anhand des Transkripts. Eine quantitative Untersuchung der Interviewerfragen zeigt: Lasker-Wallfischs stärker ausgearbeitete Erzählung im Jahr 2006 wurde auch durch eine andere Interviewmethode ermöglicht. Zwar intervenierten die Interviewenden in beiden Interviews etwa einmal pro Minute; dies ist auch in narrativen Interviews offenbar ein gängiger Durchschnittswert.27 Aber die britische Journalistin Joanna Buchan stellte 1998 viele sachliche, manchmal die Erzählung unterbrechende Zwischenfragen, während der deutsche Historiker Christoph Thonfeld 2006 eher unterstützende Anreize zum Weitersprechen gab. Lasker-Wallfischs größere Performativität wurde also auch ermöglicht durch eine andere Gesprächsführung. Das zeigt die Bedeutung der Arbeitsallianz zwischen ErzählerIn und InterviewerIn, die im Zentrum jedes Interviews steht, aber auch den Einfluss verschiedener Interview-Richtlinien der Sammlungsprojekte. Die unterschiedlichen Muttersprachen der beiden Interviewenden trugen schließlich dazu bei, dass Lasker-Wallfischs zweites Interview deutlich mehr deutsche Wörter enthielt. 1998 zitierte sie nur deutsche Begriffe aus der Lagersprache wie „Zählappell“. Im späteren Interview mit dem deutschen Interviewer nutzte sie ihre deutsche Muttersprache auch immer wieder für Themen aus der Vor- oder Nachkriegszeit. Infolge von Deportation, Flucht oder Migration er-
URL: http://transcripts.vha.fu-berlin.de/interviews/890; Anita Lasker-Wallfisch, interviewt von Christoph Thonfeld, 17. 03. 2006, Interview-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945, Interview za072, URL: https://archiv.zwangsarbeit-archiv.de/de/interviews/za072 (alle abgerufen am 27. 10. 2020). Vgl. Cord Pagenstecher: Testimonies in Digital Environments. Comparing and (De-)contextualizing Interviews with Holocaust Survivor Anita Lasker-Wallfisch. In: Oral History. The Journal of the Oral History Society, 46 (2018), S. 109–118; Cord Pagenstecher, Stefan Pfänder: Hidden dialogues. Towards an interactional understanding of Oral History interviews. In: Oral History Meets Linguistics, ed. by Erich Kasten, Katja Roller, and Joshua Wilbur, Fürstenberg/Havel: Kulturstiftung Sibirien 2017, S. 185–207, URL: http://www.siberi an-studies.org/publications/orhili_E.html (abgerufen am 27. 10. 2020). 27 Buchan (1998) intervenierte 1,14, Thonfeld (2006) 1,21 mal pro Minute. Michaelis, Erzählräume (Anm. 17, S. 288), fand in vier Interviews im Visual History Archive 0,9 Interventionen pro Minute.
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Interview-Archive zum Nationalsozialismus
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zählen viele Überlebenden des Nationalsozialismus in unterschiedlichen Sprachmischungen, die durch digitale Analysen besser interpretierbar werden.
Perspektiven der digitalen Oral History Digitale Interview-Archive wie Zwangsarbeit 1939–1945 stellen einen ersten Schritt der Oral History in Richtung Digital Humanities dar. Das Online-Archiv unterstützt die digitale Recherche, aber noch nicht eine digitale Analyse. Komparativ-quantitative Auswertungen der Interviews im Archiv Zwangsarbeit 1939– 1945 müssen derzeit noch die Ergebnisse von Volltext- und Filtersuche in einer externen Tabelle notieren und dann die Anzahl der Interviews sowie der darin jeweils enthaltenen Fundstellen in Relation zur Länge des jeweiligen Interviews setzen – und dabei noch zwischen Interviewten und InterviewerInnen unterscheiden. Korpuslinguistische Analysen dagegen würden direkt die relativen Häufigkeiten bestimmter Wortstämme und Wortformen in entsprechend definierten Teilkorpora ermitteln. Solche mustererkennenden Verfahren, auch mit Hilfe von Werkzeugen zur Datenvisualisierung, setzen jedoch eine maschinenlesbare Erschließung größerer Interviewbestände voraus, die bislang noch kaum vorhanden ist. In der für 2023 geplanten Plattform von „Oral-History.Digital“ sind Exportformate mit Schnittstellen zu korpuslinguistischen Werkzeugen vorgesehen; die Text Encoding Initiative (TEI) hat Standards zur maschinenlesbaren Erschließung von Texten entwickelt, die für Oral History-Transkripte angepasst und weiterentwickelt werden sollen.28 Die Multilingualität von Sammlungen wie Zwangsarbeit 1939–1945 wird dabei freilich weiterhin eine Herausforderung darstellen. Die Digital Humanities eröffnen der Oral History jedenfalls neue und potentiell faszinierende Forschungsperspektiven. Damit verbunden ist allerdings eine stärkere Distanz zu den ZeitzeugInnen, zu denen die Forschenden nun keinen persönlichen Kontakt mehr haben. Die digitale Rezeption historischer Quellen impliziert bei Interviews wie bei Akten, Fotos oder Objekten einen höheren Abstraktionsgrad, weil die materielle Dimension der Vergangenheit und die sinnliche Wahrnehmung ihrer Überreste verloren gehen. Wenn wir die Aufzeichnung von Lasker-Wallfischs Interview am Bildschirm betrachten, anstatt mit ihr persönlich zu sprechen, wissen wir nicht, was vor der Aufzeichnung gesprochen wurde oder wie die Wohnung aussah. Zwar stehen für viele Inter28 Vgl. TEI Guidelines, P5, chapter 8: Transcription of Speech , URL: https://tei-c.org/release/doc /tei-p5-doc/de/html/TS.html; ISO 24624:2016. Language resource management. Transcription of spoken language, URL: https://www.iso.org/standard/37338.html (alle abgerufen am 27. 10. 2020).
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views Interviewprotokolle oder Set-Fotos zur Verfügung, dennoch wird jede Sekundäranalyse mit diesem Verlust an Kontextwissen zu kämpfen haben. Die digitale Dekontextualisierung wird noch tiefgreifender, wenn Forschende, Studierende oder SchülerInnen eine digitale Umgebung nur nutzen, um Interviewsequenzen zu einem bestimmten Thema zu suchen und nicht mehr das gesamte Interview anzuhören. Sie werden nützliche Zitate finden und zitieren, ihre Bedeutung ohne den Kontext des gesamten Interviews aber nicht richtig verstehen. Daher sind die im Archiv bereitgestellten Hilfsmittel wie Inhaltsverzeichnisse, Kurzbiografien und Interviewprotokolle von großer Bedeutung; daher sollten Forschungsprojekte wie Bildungsangebote immer einen biografischen Ansatz verfolgen. Schließlich verlangt auch ein digital aufbereitetes Zeugnis eine ganzheitliche und respektvolle Annäherung. Die Interviews in Sammlungen wie Zwangsarbeit 1939–1945 sind eben nicht nur audiovisuelle Forschungsdaten, sondern vor allem Lebensgeschichten von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung.
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Nationalsozialismus und Rechtsextremismus virtuell und in den sozialen Medien
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Bernhard Weidinger
Neue Medien, alte Ideologie: Zur Nutzung des Internet durch – und seinen Funktionen für – die extreme Rechte am Beispiel Österreich
Zusammenfassung In diesem Beitrag wird erörtert, welche Funktionen das Internet für die extreme Rechte erfüllt und auf welche Weise ihre österreichischen VertreterInnen es nutzen. Dabei werden die neuen Möglichkeiten dargestellt, welche die flächendeckende Durchsetzung der neuen Technologien auf den Feldern der Propaganda, der Rekrutierung, der Vernetzung und der Finanzierung erschlossen haben. Die konkreten Formen der Internetnutzung durch die österreichische extreme Rechte werden entlang von vier Szenesegmenten – Neonazismus, parteiförmiger Rechtsextremismus, „Neue Rechte“ und Medien – dargestellt. In weiterer Folge wird ausgeführt, inwiefern Eigenheiten der Online-Kommunikation im Allgemeinen und jener auf sozialen Medien im Besonderen dem Politik- und Propagandastil der extremen Rechten entgegenkommen und ihr daher einen Startvorteil gegenüber ihren politischen Gegner*innen verschaffen. Abschließend wird auf das Phänomen des Umschlags von Online- in Offline-Gewalt eingegangen und werden rechtliche Fragen im Zusammenhang mit rechtsextremem Online-Aktivismus beleuchtet. Schlagwörter Rechtsextremismus, Neonazismus, Internet, Hassrede, soziale Medien, Web 2.0 Abstract New Media, Old Ideas. On the Benefits of the Internet for, and its Usage by the Extreme Right – with Particular Regard to Austria This article deals with the functionality of the internet for the extreme right and the ways in which the latter’s Austrian representatives make use of it. It portrays the opportunities that the diffusion of internet technologies has created for the extreme right in the fields of propaganda, recruitment, networking, and financing. The concrete forms of internet usage by the Austrian extreme right are described across four sectors: neo-Nazism, far-right party politics, the so-called “New Right”, and far-right media. Subsequently, the article identifies features of online communication in general, and social media interaction in particular, which specifically accommodate the political and propagandistic style of the extreme right, thereby giving the latter a head start vis-à-vis its political adversaries. Lastly, the article Bernhard Weidinger, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), E-Mail: [email protected]
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Bernhard Weidinger
addresses the transmission of online into offline violence, as well as legal issues associated with right-wing extremist online activism. Keywords Right-Wing Extremism, Neo-Nazism, Internet, Hate Speech, Social Media, Web 2.0
Das Aufkommen und die flächendeckende Durchsetzung des Internets haben auch die Bedingungen und Möglichkeiten für rechtsextremen Aktivismus verändert. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) hat diese Entwicklung seit den 1990er Jahren – zu deren Mitte die ersten der Außenpropaganda gewidmeten Neonazi-Websites auftauchten – mitverfolgt und 1997 eine Publikation vorgelegt, die sich der Rolle des Internet für die extreme Rechte widmete.1 Wie neu die Thematik damals war, wird schon daraus ersichtlich, dass das Buch mit einem Beitrag eröffnet, der die „Grundlagen des Internet“ erklärt. Es war die Zeit, in der Staatsanwaltschaften Sachverhaltsdarstellungen zu neonazistischen Online-Aktivitäten mitunter mit der Begründung zurückwiesen, der Sachverhalt sei rechtlich nicht verfolgbar, da er doch „nur im Internet“ zugänglich sei und damit das Kriterium der Öffentlichkeit nicht erfülle. Seither hat sich vieles verändert. Das Internet ist aus dem politischen Geschäft ebenso wenig wegzudenken, wie aus dem Leben weiter Teile der Weltbevölkerung allgemein. Was der extremen Rechten der 1990er Jahre Newsgroups und Mailboxen, das Thule-Netz und der „KZ-Manager“ waren, sind ihr heute InstagramAccounts, Podcasts, YouTube-Vlogs und Multiplayer-Shooter.2 Der Bedeutung 1 Das Netz des Hasses. Rassistische, rechtsextreme und neonazistische Propaganda im Internet. Hg. vom DÖW. Wien: Deuticke 1997. Einige weitere frühere deutschsprachige Beiträge zur Thematik sind Burkhard Schröder: Neonazis und Computernetze. Wie Rechtsradikale neue Kommunikationsformen nutzen. Reinbek: Rowohlt 1995; Martina Kern, Maria Hartinger, Andreas Haslinger, Annemarie Leitner, Josef Pfeiffer: Neue elektronische Kommunikationsund Informationsmedien und Rechtsextremismus, Projektarbeit, Universität Linz 1995; Martin Dietzsch, Anton Maegerle: Digitales Braun. Die Nutzung Neuer Medien durch Neonazis. In: Handbuch deutscher Rechtsextremismus. Hg. von Jens Mecklenburg. Berlin: Elefanten Press 1996, S. 923–932; Bernd Nickolay: Rechtsextremismus im Internet. Ideologisches Publikationselement und Mobilisierungskapital einer rechtsextremen sozialen Bewegung? Würzburg: Ergon 2000 (= Spektrum Politikwissenschaft 14); Rainer Fromm, Barbara Kernbach: Rechtsextremismus im Internet. Die neue Gefahr. München: Olzog 2001. Als ein früher Beitrag aus dem englischsprachigen Raum sei stellvertretend angeführt: Anti-Defamation League: The Web of Hate. Extremists Exploit the Internet. New York: Eigenverlag 1996. 2 Dementsprechend sei stellvertretend für jüngere Beiträge verwiesen auf: Anton Maegerle, Samuel Salzborn: Die dunkle Seite des WWW. Rechtsextremismus und Internet. In: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft 10 (2016), H. 7, S. 213–231. Für einen quantitativen Zugang: Ralf Wiederer: Mapping the right-wing extremist movement on the internet – structural patterns 2006–2011. In: In the Tracks of Breivik. Far Right Networks in Northern and Eastern Europe. Hg. von Mats Deland, Michael Minkenberg und Christin Mays. Münster: Lit 2014, S. 19–51. Zu Antisemitismus online: Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet.
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des Internets für und seiner Nutzung durch Rechtsextreme, unter besonderer Berücksichtigung Österreichs, ist der vorliegende Beitrag gewidmet. Zunächst wird dabei erörtert, welche Funktionen das Internet für die extreme Rechte erfüllt und wie es sie im Zuge seiner Durchsetzung selbst transformiert hat. In weiterer Folge werden die unterschiedlichen Ausprägungen des rechtsextremen Online-Aktivismus in Österreich, gegliedert nach Szenesegmenten, dargestellt. Anschließend wird die Frage erörtert, inwiefern das Medium Internet im Allgemeinen und das sogenannte Web 2.0 im Besonderen Eigenschaften aufweisen, die dem Politik- und Propagandastil der extremen Rechten besonders entgegenkommen. Abgerundet wird der Beitrag durch eine kurze Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Online-Phänomenen mit kriminellen Handlungen in real life sowie mit rechtlichen Problematiken in Bezug auf rechtsextremen Online-Aktivismus. Die Frage nach Gegenstrategien soll ausleitend zumindest angerissen werden.3
1.
Funktionen
1.1
Propaganda
In Vor-Internet-Zeiten erwies sich Propaganda für Rechtsextreme als mühsame Knochenarbeit. Flugzettelverteilen, Schmieraktionen oder das Kleben von Plakaten und Stickern nahmen viel Zeit in Anspruch und waren in ihrer Breitenwirkung dennoch eng begrenzt. Mit dem Internet eröffnete sich eine Plattform, die einen großen Teil der Weltbevölkerung zum potenziellen Publikum macht. Bei geschickter Bespielung dieses Mediums können mit vergleichsweise geringem Einsatz an ökonomischen und zeitlichen Ressourcen Effekte erzielt werden, von denen frühere Generationen rechtsextremer AktivistInnen4 kaum zu träumen gewagt hätten. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2019; zu antimuslimischem Rassismus: Yasemin Shooman: Islamfeindschaft im World Wide Web. In: Islamfeindschaft und ihr Kontext. Hg. von Wolfgang Benz. Berlin: Metropol 2009, S. 71–84. 3 Vgl. dazu weiterführend Ingrid Brodnig: Hass im Netz. Was wir gegen Hetze, Mobbing und Lügen tun können. Wien: Brandstätter 2016; Dies.: Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik uns manipulieren. 2. überarb. Auflage. Wien: Brandstätter 2018. 4 Geschlechtergerechte Schreibweise wird in diesem Artikel mittels des Gender-Sterns (*) umgesetzt, der Identitäten jenseits der Geschlechterbinarität sichtbar machen soll. Für rechtsextreme AkteurInnen wird dagegen angesichts der ihrer Ideologie inhärenten Inter- und Transfeindlichkeit auf das Binnen-I zurückgegriffen. Vgl. dazu Judith Goetz: „Sittliche Gefährdungen samt Irreleitung des Geschlechtstriebes“. Trans*feindlichkeit und rechte Trans*personen in Österreich. In: Rechtsextremismus Band 3: Geschlechterreflektierte Perspektiven. Hg. von FIPU. Wien: Mandelbaum 2019, S. 123–153.
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Die mit dem Schlagwort Web 2.0 umschriebene Interaktivierung des Internets – seiner Entwicklung vom Einbahn-Medium zu einem Ort, an dem User*innen zunehmend Content nicht nur konsumieren, sondern ihn selbst produzieren bzw. mitgestalten –, und hier insbesondere die Durchsetzung von sozialen Medien, hat die Bedeutung des World Wide Web als Propagandaplattform noch einmal potenziert.5 Sie hat auch traditionelle Aktionsformen, wie Demonstrationen und aktionistische Interventionen verändert: Mehr denn je geht es darum, starke Bilder zu produzieren und sie gekonnt in Szene zu setzen. Die sogenannte „Identitäre Bewegung“ etwa setzte von Beginn an nicht auf einen Massenansatz, der das Ziel verfolgt, eine möglichst große Zahl an Menschen zu mobilisieren und in die eigenen Strukturen zu integrieren, sondern vielmehr auf eine virale Strategie. Eine Handvoll Personen reicht aus, um ein Transparent auf einem öffentlichen Gebäude zu entrollen oder eine Statue im öffentlichen Raum zu verhüllen. Maßstab des Erfolges solcher Aktionen war nun nicht mehr die Zahl an Personen, die dafür auf die Straße gebracht werden konnten, sondern die Zahl der Klicks, Likes und Shares, die sich mit dem dabei produzierten Content (Fotos, Videos) online erzielen ließen. Gleichzeitig sehen Rechtsextreme sich auf Social Media zunehmend mit – wenn auch oft behäbig oder gar widerwillig umgesetzten – Maßnahmen der Betreiber*innen zur Bekämpfung von Hate Speech und Fake News konfrontiert. Das hat, neben Datenschutzbedenken, dazu geführt, dass manche populäre Plattform sich in rechtsextremen Kreisen inzwischen geringerer Beliebtheit erfreuen und teilweise offensiv zum Verlassen dieser Plattformen aufgerufen wird. Als Alternative zu Facebook wird etwa dessen russisches Pendant vk.com beworben (bislang aber weniger für Außendarstellungen des organisierten Spektrums als für individuelle Profile angenommen), im Bereich der Messenger-Dienste Telegram anstelle des zum Facebook-Konzern gehörenden WhatsApp, bei den Videoplattformen BitChute statt YouTube. Abgesehen von eigenständigen Auftritten auf Social Media-Plattformen sind Rechtsextreme auch auf den dortigen Auftritten etablierter Organisationen und Medien sowie in deren eigenen Diskussionsforen aktiv, wo mit entsprechenden Kommentaren versucht wird, im Kampf um „Diskurshoheit“ die eigenen Rahmungen gesellschaftlicher Phänomene durchzusetzen. Dabei handelt es sich zum Teil um individuellen Aktivismus von Unorganisierten, zum Teil aber auch um konzertiertes Vorgehen, das in eigenen Foren und Gruppen abgesprochen oder überhaupt in Trollfabriken erledigt wird.6 5 Vgl. hierzu anhand von Facebook Eva Felnhofer: Rechtsextreme Jugendsubkultur im Internet am Beispiel der Social Network Site Facebook, Diplomarbeit, Universität Wien 2012. 6 Vgl. dazu beispielhaft die Schilderungen zur bis Ende 2019 aktiven, deutschen Plattform Reconquista Germanica bei Julia Ebner: Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 130–153.
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Eine gesonderte Erwähnung verdient angesichts des Erfolges, den einzelne rechtsextreme Influencer hier verbuchen konnten, die Videoplattform YouTube. Die Vlogs eines Martin Sellner, Anführer der sogenannten „Identitären Bewegung“ in Österreich, erreichten hier teilweise sechsstellige Aufrufzahlen, wobei das Publikum sich keineswegs auf Österreich beschränkt.
1.2
Rekrutierung
Mit dem Aufkommen des Internets erweiterten sich auch die Möglichkeiten der Nachwuchswerbung für die extreme Rechte. Einschlägige Lokalitäten oder Neonazi-Konzerte erwiesen sich für AspirantInnen immer als vergleichsweise hochschwellig. Die persönliche Ansprache von Unbekannten auf der Straße, in Fußballstadien oder an anderen öffentlichen Orten verhieß eine niedrige Erfolgsquote. Online-Präsenz aber ermöglicht es, über permanente Bespielung der Social Media-Kanäle InteressentInnen langsam heranzuführen und zu binden. Umgekehrt liefert sie diesen InteressentInnen niedrigschwellige Andockpunkte, die nicht mühsam aufgesucht werden müssen, und erlaubt es ihnen, selbst den ersten Schritt setzen – etwa über Kontaktformulare, die Anmeldung zu einem Newsletter oder das Liken/Folgen eines Social Media-Accounts. Im Web 2.0 können sanft auch erste kleine Aktionen, wie eben Likes, gesetzt werden, die weder großen Mut noch großen Aufwand erfordern, aber dazu beitragen können, ein Selbstverständnis als rechte/-r Aktivist/-in zu entwickeln und sich als Teil einer entsprechenden Gemeinschaft zu erfahren. Damit selektiert sich der InteressentInnenkreis bereits selbst vor und kann in weiterer Folge gezielt angesprochen werden.7 Eine wichtige Rolle für rechtsextreme Rekrutierung spielt seit Jahrzehnten das Medium Musik. Das Angebot hat sich hier inzwischen weit über den altbekannten „Rechtsrock“ hinaus diversifiziert und umfasst so gut wie jedes Musikgenre, was es der extremen Rechten ermöglicht, in unterschiedlichste Subkulturen hineinzuwirken und Jugendliche mit unterschiedlichsten Identitätsentwürfen abzuholen. Wer sich zunächst über die Musik an sich und gegebenenfalls durch eine bestimmte Ästhetik angesprochen fühlt, bekommt in weiterer Folge über die Songtexte auch weltanschauliche Inhalte im engeren Sinn vermittelt. Ist eine gewisse Bindung erst einmal etabliert, kann der/die Betroffene sich eigenständig tiefer in die entsprechende rechtsextreme Subszene versenken oder, etwa auf Konzerten, gezielt angesprochen werden. Angesichts dieser 7 Vgl. dazu den journalistischen Erlebnisbericht von Anonym: Über eine Melange zum Treffpunktleiter: Wie ich von Identitären rekrutiert wurde. Addendum.org, 12.01. 2020, URL: http s://www.addendum.org/news/identitaere-undercover/ (abgerufen am 15. 03. 2020).
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Funktion rechtsextremer Musikangebote im Rekrutierungs- und Fanatisierungsprozess erscheint bedeutsam, dass sie durch das Internet heute viel leichter zugänglich sind als zuvor. Anstelle des Weges in den Laden, in dem man sich verschämt nach der Verfügbarkeit eines bestimmten, indizierten Tonträgers unter dem Ladentisch erkundigen muss, reichen nun wenige Klicks auf YouTube.8 Die Effektivität von Musik als Rekrutierungs- und Ideologisierungsstool hat etwa auch die rechtsextreme deutsche Plattform „Ein Prozent“ erkannt und fördert gezielt einschlägige „Künstler“, deren Werke etwa in Form professionell gemachter Musikvideos über YouTube verbreitet werden.
1.3
Kommunikation, Vernetzung und Mobilisierung
Kommunikation umfasst zunächst den Austausch innerhalb einer Gruppe oder Organisation, wie auch jenen zwischen einzelnen Aktivist*innen. Selbst in bilateraler Kommunikation spielt dabei das Internet heute in Form von MessengerDiensten wie dem schon erwähnten Telegram eine zentrale Rolle. Überregionale, mitunter sogar interkontinentale Vernetzung9 wird seit Aufkommen des Internets in entsprechenden Foren bzw. Message-Boards betrieben, wo – wie auch in geschlossenen Gruppen populärer sozialer Medien – verhältnismäßig konspirativ kommuniziert werden kann. In Österreich erlangte zwischen 2009 und 2011 das „Alpen-Donau-Forum“, das die gleichnamige Website Alpen-Donau.info begleitete, einige Bekanntheit. Angesichts der gemeinsamen Sprache und der ( jedenfalls im neonazistischen Spektrum nach wie vor konsensualen) Sichtweise Österreichs als deutsches Land überrascht nicht, dass österreichische Aktivist*innen zudem stets auch in deutschen Foren aktiv waren bzw. sind.10 Allerdings sind Foren immer wieder von behördlichen Abschaltungen oder auch Hacks betroffen, im Zuge derer sowohl die vermeintlich konspirative Kommunikation als auch persönliche Daten in die Hände politischer Gegner*innen geraten können. Als jedenfalls dem Anspruch nach innovativ erwiesen sich in Sachen Webgestützter Vernetzung die österreichischen „Identitären“, die 2017 die Entwicklung einer eigenen App für mobile Endgeräte namens „Patriot Peer“ an-
8 Vgl. Maegerle/Salzborn: Dunkle Seite (Anm. 2), S. 220 und 226f. 9 Als relativ frühen Beitrag hierzu vgl. Ralf Wiederer: Die virtuelle Vernetzung des internationalen Rechtsextremismus. Herbolzheim: Centaurus 2007 (= Soziale Probleme – Studien und Materialien 4). 10 Vgl. hierzu etwa Anna Koppitsch: Rechtsextreme Online-Kommunikation am Beispiel des Thiazi-Forums. Masterarbeit, Universität Wien 2012.
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kündigten. Diese sollte, nach dem Vorbild von Dating-Apps11, dem wechselseitigen Auffinden von Gleichgesinnten in der eigenen Umgebung dienen. Ursprünglich für 2018 angekündigt, ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags (Frühjahr 2020) nicht absehbar, wann (und ob) die Anwendung erscheinen wird. Eine gewisse Rolle für rechtsextreme Vernetzung ist auch der Online-GamingSzene zuzuschreiben: dies nicht nur über entsprechende Foren, sondern auch über Online-Multiplayer-Spiele selbst, in denen die Teilnehmer*innen auch während des Spielens miteinander kommunizieren und sich z. B. in selbst erstellten, nach rechtsextremem Geschmack ausgestalteten Welten verlustieren können. Zuletzt wurde der Zusammenhang zwischen Gaming und Rechtsextremismus v. a. über eine zu beobachtende gamification rechten Terrors diskutiert. So wurden etwa die Anschläge von Christchurch und Halle 2019 wie bei einem Ego-Shooter-Spiel in First-Person-Perspektive live gestreamt, der HalleAttentäter hatte sich zudem selbst nach Vorbild von Shooter-Spielen eine Reihe von „Achievements“ formuliert und hörte während seiner Tat im Auto aus dem Internet heruntergeladene, neonazistische Musik des Anfang 2021 ausgeforschten österreichischen Rappers „Mr. Bond“. Mit Blick auf seine angestrebte Wirkung, seine massenmediale Verbreitung und seine Unterfütterung mit online verbreiteten Begründungsschriften und -videos lässt der moderne Rechtsterrorismus sich als „act of strategic communication“ fassen.12 Die verschiedenen, in den letzten Jahren veröffentlichten Terrormanifeste, in denen sich immer wieder Verweise auf Vorgängerschriften fanden, verweisen zudem auf die inzwischen global wirkenden Inspirationszusammenhänge zwischen RechstextremistInnen. Diese Zusammenhänge sind weniger als ein weltumspannendes „Netzwerk“ zu denken, in dem es notwendig zu direktem Austausch oder gar gemeinsamer Planung von Attentaten kommt, als vielmehr als Kette der Inspiration. Der Attentäter von Christchurch beantwortete in seinem Manifest die (selbst gestellte) Frage, woher er seine Überzeugungen bezogen habe, schlicht mit: „The internet, of course. You will not find truth anywhere else.“13 Inspirationszusammenhänge betreffen aber nicht nur den Terror, sondern etwa auch den Austausch von Symbolen, Memes, Rahmungen und Begriffen, wie etwa das für das Christchurch-Manifest titelgebenden „Great Replacement“. Während dieser Austausch auch auf Mainstream-Social
11 Tatsächlich existieren auch eigene Dating-Plattformen für Rechtsextreme, wenn auch nicht für Österreich. Vgl. Ebner: Radikalisierungsmaschinen (Anm. 6), S. 155–172. 12 Andreas Önnerfors: „The great replacement“ – Decoding the Christchurch Terrorist Manifesto. Centre for the Analysis of the Radical Right, 18. 03. 2019, URL: https://www.radicalright analysis.com/2019/03/18/, S. 1 (abgerufen am 11. 03. 2020). 13 Zit. ebd., S. 2.
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Media-Plattformen stattfindet, liegt der Ursprung des Tauschguts oft in den rechtsextremen Untergruppen von Imageboards wie 4chan und 8kun.14 Die online bestehende Möglichkeit eines niedrigschwelligen Andockens an rechtsextremen Angeboten ist für die extreme Rechte einerseits von Vorteil. Andererseits hat sich wiederholt gezeigt, dass die Generierung von OnlineMassenzuspruch sich nicht bruchlos in eine entsprechende Aktivierung in real life übersetzen lässt. So schossen im Zuge des Sommers der Migration 2015 (auch) in Österreich einschlägige Facebook-Gruppen wie die Pilze aus dem Boden. Einzelne Versuche, den online generierten Support auch auf die Straße zu bringen, scheiterten aber kläglich. Das prominenteste Beispiel ist der kurzlebige Versuch, die in Dresden erfolgreiche Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) auch in Österreich zu etablieren.
1.4
Finanzierung
Auch mit Blick auf die Finanzierung der eigenen Aktivitäten hat das Internet der extremen Rechten neue Möglichkeiten eröffnet. Der Online-Vertrieb von Musik, Bekleidung und sonstigem Merchandise vollzieht sich unter teilweise erleichterten rechtlichen Bedingungen (vgl. Abschnitt 5) und macht die Zwischenstation des Ladenvertriebs (und damit die Gewinnmarge für die ZwischenhändlerInnen) überflüssig. In Österreich kreierten die beiden Anführer der hiesigen „Identitären Bewegung“ ihr eigenes Bekleidungslabel, was neben der Spendeneinwerbung ihrem Aktivismus ein zweites ökonomisches Standbein verlieh. 2019 wurde der Unternehmenssitz, im Zuge von Ermittlungen wegen etwaiger Finanzvergehen (es gilt die Unschuldsvermutung), nach Deutschland verlegt. Der Handel mit Nazi-Memorabilia wird von spezialisierten HändlerInnen ebenso betrieben wie von privaten, teils semiprofessionell agierenden Einzelpersonen auf Online-Flohmarktbörsen. Das Internet kommt diesen Geschäften insofern entgegen, als es die Umgehung nationaler Rechtsordnungen ermöglicht oder zumindest erleichtert (u. a. durch Server im oder Versand aus dem Ausland). Während der Devotionalienhandel unter dem Gesichtspunkt der Aktivismus-Finanzierung vergleichsweise vernachlässigbar ist, gewinnt ein jüngeres Phänomen zunehmend an Bedeutung: professionelles Fundraising von rechtsextremer Seite. Jenseits der altbekannten bloßen Bitte um Spenden betreibt etwa die schon erwähnte deutsche Initiative „Ein Prozent“ Geldeinwerbung nach dem 14 Vgl. hierzu Antifaschistisches Info-Blatt 33 (2019), H. 4 (Schwerpunktheft „Das Darknet des Faschismus. Radikalisierung in Chats, Boards, Foren und Portalen“), darin vor allem die Beiträge von Marco Dittrich und Jan Rathje, Lisa Bogerts und Maik Fielitz sowie Veronika Kracher.
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Vorbild und mit den Mitteln großer NGOs: mit professionellem Netzauftritt, eigenem Corporate Design, Online-Inseraten und dem Versand von Info- und Werbematerialien in großer Zahl. Die Initiative unterstützt auch „patriotische“ Projekte in Österreich, wie etwa die in Linz erscheinende Zeitschrift InfoDIREKT. Eine weitere Möglichkeit der Finanzierung, die das Internet (auch) der extremen Rechten eröffnet hat, besteht in alternativen Übermittlungswegen für Finanzmittel – von PayPal oder Crowdfunding-Portale wie Patreon bis hin zu Kryptowährungen wie Bitcoins. Das ist vor allem insofern bedeutsam, als rechtsextreme Gruppen und Medien immer wieder von Sperren oder Kündigungen ihrer regulären Bankkonten betroffen sind. Auch PayPal und Patreon greifen mitunter aber zu Kontenschließungen, wie im Zuge der zunächst auf diesem Weg crowdgefundeten „Identitären“-Aktion „Defend Europe“ im Mittelmeer (2017).
2.
Die österreichische extreme Rechte im Netz
Wenngleich bisher in diesem Beitrag meist generalisierend von „der“ extremen Rechten gesprochen wurde, zerfällt diese tatsächlich in verschiedene Subszenen, die wiederum sehr unterschiedliche Grade an Online-Aktivität nach außen entfalten. Niedrig ist diese Aktivität etwa – altersbedingt – bei Veteranenorganisationen. Gruppen, die im illegalen Bereich operieren, also der Alt- und Neonazismus, sind in ihren Online-Aktivitäten durch die rechtlichen Rahmenbedingungen eingeschränkt und auf entsprechende Umgehungsstrategien angewiesen, die von technischen Maßnahmen (wie der Nutzung ausländischer Server) über völlige Anonymität (einschließlich Unterlassung der Impressumspflicht) bis hin zu codierter Sprache reichen. Einen hohen Grad an OnlineAktivität entfalten der parteiförmige Rechtsextremismus, die sogenannte „Neue Rechte“ sowie einige Medienprojekte.
2.1
Neonazismus
Dem NS-Verbotsgesetz zufolge dürfte es offen neonazistische Online-Präsenzen in Österreich nicht geben. Sie vom Netz zu nehmen, kann sich dennoch schwierig gestalten, wenn der Server im Ausland liegt und keine verantwortlichen Personen genannt werden bzw. Verantwortlichkeit niemandem nachgewiesen werden kann. So gelang es erst 2011, die 2009 online gegangene, von österreichischen Neonazis betriebene Website Alpen-Donau.info abzuschalten. Seit 2016 verfügt der österreichische Neonazismus wieder über einen – inzwischen täglich be-
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spielten – anonymen Blog, der allerdings offene Aufrufe zu Gewalttaten unterlässt und generell rhetorisch vorsichtiger als der Vorgänger agiert. Neben originär österreichischen Webpräsenzen beteiligen sich hiesige Neonazis auch an internationalen Projekten, wie etwa dem Lexikon Metapedia. Ein vermeintlich internationales Projekt, der Online-Pranger Judas Watch, stellte sich Ende 2019 als offenbar von Österreich ausgehend heraus.15 Im Bereich des Online-Handels mit Musik, Kleidung und Devotionalien existieren in Österreich nur kleinere Player. Bestellt wird hier oft bei deutschen Versanden, die zum Teil Österreich-spezifische Artikel im Sortiment führen. Die dem (Alt- und Neo-)Nazismus zuzuordnende Szene der Holocaustleugner bzw. „Revisionisten“ hat durch das Internet maßgeblich profitiert. Zum einen kann die seit jeher international ausgerichtete Szene sich nun komfortabel austauschen, ohne mit Einreiseverboten oder ausstehenden Haftbefehlen in Konflikt zu kommen. Zum anderen findet sie online ein größeres Publikum vor denn je und ist dort gleichzeitig rechtlich schwerer greifbar. Maegerle und Salzborn zufolge ist „die relative Zunahme der Verbreitungsmöglichkeiten für Holocaust-Leugnung durch das Web 2.0 gigantisch.“16
2.2
Parteiförmiger Rechtsextremismus
Die zunehmende Digitalisierung politischer Kommunikation wurde von der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) nicht einfach mitvollzogen, sondern vielmehr maßgeblich vorangetrieben. Die FPÖ war Österreichs erste Partei mit „einer richtigen Onlinestrategie.“17 Eckpfeiler derselben war zum einen die Facebook-Seite des langjährigen Obmannes Heinz-Christian Strache, die gezielt und mit großem Erfolg als zentrale Relaisstelle der freiheitlichen Online-Kommunikation aufgebaut wurde. Im Zuge dessen avancierte Strache zum österreichischen Politiker mit den – mit großem Abstand – meisten Facebook-Fans und wurde in dieser Position erst 2019 von Sebastian Kurz abgelöst. Diese Ablöse vollzog sich im Zuge der Ibiza-Affäre, die im selben Jahr auch zur Einstellung des Strache-Accounts führte. Damit endete auch der über Jahre praktizierte Paarlauf
15 Christof Mackinger, Sabina Wolf: Virtueller Judenstern. zeit.de, 17. 01. 2020, URL: https://blog .zeit.de/stoerungsmelder/2020/01/17/antisemitismus-rechtsextremismus-neonazis-website-j udas-watch_29425 (abgerufen am 16. 03. 2020). 16 Maegerle/Salzborn: Dunkle Seite (Anm. 2), S. 223. 17 Ingrid Brodnig: Warum sind die Rechten so hip im Netz? Brodnigs Blog, 08. 05. 2018, URL: https://www.brodnig.org/2018/05/08/warum-sind-die-rechten-so-hip-im-netz/ (abgerufen am 10. 03. 2020).
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zu beidseitigem Nutzen zwischen dem FPÖ-Obmann auf der einen und diversen rechten „Alternativmedien“ sowie dem Boulevard18 auf der anderen Seite. Weitere Eckpfeiler der freiheitlichen Online-Strategie sind FPÖ-TV und die (Des-)Informationswebsite unzensuriert.at. FPÖ-TV ist ein parteieigener YouTube-Kanal. Der für ihn produzierte Videocontent wird auch über die Parteiwebsite und die Social Media-Kanäle freiheitlicher PolitikerInnen und Parteigliederungen verbreitet. Das 2009 gestartete unzensuriert.at ist formal kein Parteimedium, wurde aber vom damaligen freiheitlichen Spitzenpolitiker Martin Graf gegründet und bekennt sich offen zu seiner Parteilichkeit. Dass ausgerechnet die FPÖ Pionierleistungen im Online-Bereich vollbrachte, ist kein Zufall – ist sie doch jene österreichische Parlamentspartei, die sich von den sogenannten „Mainstream-Medien“, allen voran der staatliche Rundfunk ORF, systematisch in negativem Licht dargestellt fühlt. Vor diesem Hintergrund machte es Sinn neben eigenen Projekten auch über die Förderung partei-externer sogenannter „Alternativmedien“ durch Inserate, Shares und Onlinewerbung, Ressourcen in den Aufbau einer medialen Parallelwelt zu investieren. Im Ergebnis ist es heute in Österreich möglich, intensiven Medienkonsum von der Wochenzeitung über den Blog bis hin zum YouTube-Kanal zu üben – und sich dementsprechend bestens informiert zu fühlen –, ohne dabei je die freiheitliche Infoblase verlassen zu haben. Die besondere Beharrlichkeit der FPÖ in der Bespielung des Internets liegt aber nicht nur in ihrer eigenwilligen Sicht auf die „etablierten Medien“ begründet. Vielmehr entspricht sich auch der allgemeinen Ausrichtung des rechtspopulistischen Politikansatzes auf permanente Mobilisierung und Emotionalisierung, wofür die sozialen Medien sich vortrefflich eignen. Mussten zu Zeiten der Obmannschaft Jörg Haiders noch Volksbegehren organisiert werden, um die freiheitliche Dauerkampagnendynamik über wahlkampffreie Zeiten zu tragen, lässt sich selbiges nun über das Internet bewerkstelligen. Das von Haider geschätzte Bad in der Menge wurde für Strache durch das Bad in den Likes und Shares ersetzt bzw. ergänzt.
18 Zu nennen ist hier insbesondere krone.at unter dessen damaligem Chefredakteur Richard Schmitt. Dieser erklärte in einem Interview 2016 freimütig: „Wenn Strache einen normalen Bericht von uns auf Facebook teilt, dann merken wir, das haut die Quote auf das 1,5-Fache hoch. Und umgekehrt kriegt er natürlich auch mehr Traffic, wenn wir ihn pushen.“ Ein solches „Doppelspiel“ zu betreiben, stünde auch anderen Parteien offen – „[s]ie machen es aber nicht.“ Markus Huber: „Unsere Politiker sind viel zu weit vom Volk weg“. Fleischmagazin.at, Sommer 2016, URL: http://www.fleischmagazin.at/index.php/2-magazin/24-richard -schmitt-unsere-politiker-sind-viel-zu-weit-weg-von-der-bevoelkerung (abgerufen am 12. 03. 2020). Inzwischen ist Schmitt als Chefredakteur zu oe24.at gewechselt, wo man – zumal seit Straches Politcomeback – erneut auf den bewährten Klick- und Quotengaranten setzt.
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130 2.3
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„Neue Rechte“
Die im Begriff suggerierte Neuheit der „Neuen Rechten“ besteht gerade nicht darin, dass man von der inhaltlichen Substanz der alten Rechten abgekehrt wäre. Ihre Modernisierungsleistungen bezogen sich vielmehr auf Rhetorik, Ästhetik und teilweise die thematische Schwerpunktsetzung. Nicht zuletzt zeichnet sie sich aber – gerade dort, wo sie, wie die „Identitäre Bewegung“, von jungen AktivistInnen getragen wird – durch eine offensive Nutzung des Internet und der sozialen Medien aus.19 Auf die „identitäre“ Strategie der Bildproduktion und viralen Verbreitung von Content online wurde bereits hingewiesen, ebenso wie auf ihre YouTube-Erfolge und die Thematik des Online-Versandhandels. Ergänzend hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Ganzheitlichkeit des „identitären“ Politikansatzes. Nicht nur eine Weltanschauung will er vermitteln, sondern auch ein Lebensgefühl. Zwar versorgte schon der Neonazismus seine AktivistInnen nicht nur mit Ideologie, sondern auch mit Musik, Dresscodes, einem spezifischen Soziolekt und einer eigenen Symbolsprache. Im Fall der „neuen Rechten“ aber entspringt diese Ganzheitlichkeit einem theoretischen Fundament und wird dementsprechend ernst genommen. Gemäß ihrem „metapolitischen“ Ansatz geht der Erringung institutioneller politischer Macht der Sieg auf dem kulturellen Feld voraus. Publizistische Projekte und die Bewerbung „patriotischer“ Kulturschaffender sind ebenso auf diesen Fluchtpunkt ausgerichtet wie der „identitäre“ Aktivismus in den sozialen Medien. Auch die Schöpfung einer eigenen Bekleidungsmarke ist vor diesem Hintergrund nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern trug auch dazu bei, über die eigenen Designs und Slogans die aktivistische Identität der AnhängerInnen zu formen und eine umfassende „identitäre“ Lebenswelt zu kreieren.
2.4
Medien
Die rechtsextreme Medienlandschaft Österreichs erfuhr im vergangenen Jahrzehnt einen Umbruch. Auf dem Printsektor kamen neue Player hinzu (wie InfoDIREKT 2015 und der weniger eindeutig rechtsextrem profilierte Wochenblick 2016), während etwa die traditionsreiche Aula 2018 eingestellt wurde. Online eröffnete unzensuriert.at 2009 die Web-Offensive von rechts. Mittlerweile ist kaum ein einschlägiges Medium online nicht präsent. Manche Netzauftritte dienen nur dem Hinweis auf das Printprodukt, andere operieren ausschließlich 19 Zur auch online betriebenen Rekrutierung bei österreichischen „Identitären“ siehe Ebner: Radikalisierungsmaschinen (Anm. 6), S. 16–64.
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online und liefern täglich neuen Content. Wieder andere verfolgen systematisch cross-mediale Strategien (Print und online), allen voran der Wochenblick, InfoDIREKT, Freilich und ZurZeit, wobei schriftliche Berichterstattung teilweise auch durch Videoformate ergänzt wird. Als (Online-)Fernsehsender versteht sich das 2021 gestartete AUF1. Im Bewegtbildbereich sind auch Einzelpersonen der extremen Rechten sehr aktiv und teilweise erfolgreich: in Form sogenannter Vlogs, die als Bild- und Tonversion der schriftbasierten Blogs letzteren inzwischen den Rang abgelaufen haben. Einzelne Blogger verzeichnen dennoch nach wie vor beachtliche Zugriffszahlen. Maegerle und Salzborn zufolge habe das Internet die bisherige Außenkommunikation der extremen Rechten nicht revolutioniert, helfe aber bei der Ansprache von Milieus, die für Printmedien – zumal kostenpflichtige – nur schwer oder gar nicht erreichbar sind.20 Weitere Vorteile von Online-Medien bestehen in der Kostenersparnis durch den Wegfall von Druck und Vertrieb und der größeren Ausstrahlung über Landesgrenzen hinweg. Tatsächlich ist der OnlineAktivismus rechtsextremer Medien auf maximale Breitenwirkung ausgerichtet – und unterscheidet sich damit von der traditionellen rechtsextremen Publizistik, der es weniger um die allgemeine Öffentlichkeit als um die ideologische Festigung und identitäre Bindung der eigenen Szene zu tun war.21 Als herausfordernd erweist sich dabei die Generierung zumindest substanzerhaltender Einnahmen – zumal die Online-Angebote rechtsextremer Medien in Österreich in aller Regel frei zugänglich sind und nur wenige Medien (sowie eine politische Partei) bereit sind, auf derartigen Seiten Inserate zu schalten. Während auch die publikumsstärksten rechtsextremen Online-Medien Österreichs keine Reichweitenrekorde markieren, können sie punktuell doch mit großen Mainstream-Medien mithalten. Dies gilt insbesondere für die von ihnen generierten Social Media-Interaktionen. So schafften der Wochenblick und unzensuriert.at wiederholt den Sprung unter die Top-15 im „Social Media Ranking Österreich“ der Analytikplattform Storyclash, welches österreichische Medien monatlich nach der Zahl erzielter Kommentare, Shares, Likes und Reactions auf Facebook, Twitter, Instagram und YouTube reiht.22
20 Maegerle/Salzborn: Dunkle Seiten (Anm. 2), S. 229. 21 Ebd., S. 215f. 22 https://rankings.storyclash.com/tag/social-media-ranking-oesterreich (abgerufen am 15. 03. 2020).
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Internet und Web 2.0: Startvorteil für Rechtsextreme?
Die Aktivitäten der extremen Rechten im Netz und der ihnen beschiedene Erfolg lassen sich auf den ersten Blick als bloßer Ausdruck der Digitalisierung politischer Kommunikation überhaupt verbuchen. Verschiedentlich wurde aber bereits die Frage gestellt, inwiefern die neuen Medien der extremen Rechten – ihrem Politik- und Propagandastil – besonders entgegenkommen.23 Zur Erörterung dieser Frage stütze ich mich im Weiteren besonders auf die dahingehenden Überlegungen des DÖW-Mitarbeiters Andreas Peham.24 Peham nennt als einen der Vorteile, die soziale Medien für Rechtsextreme aufweisen, das von beiden geteilte „Primat der (Sprach-)Bilder und Symbole“. Rechtsextremismus räume generell Gefühlen – und hier nicht zuletzt solchen der Angst – Vorrang gegenüber dem Verstand ein. Damit ginge ein Vorrang für Bilder und Symbole gegenüber dem rationalen Argument einher, da sich durch erstere besonders gut Stimmungen erzeugen bzw. abrufen ließen. Dies treffe sich mit der Bild- und Symbollastigkeit der sozialen Medien, ihrerseits Folge des dort herrschenden „Zwang[s] zur kurzen Form und zum schnellen Umlauf“. Zudem funktionierten in den sozialen Medien „auch geschriebene Texte wie gesprochene Reden“ und zielten „weniger auf den Verstand von Lesenden“ als „auf die Emotionen von Zuhörenden.“ Dem „Stakkato, in dem rechtsextreme Propaganda auf die Menschen einprasselt“, um sie „nicht zur Ruhe und damit eventuell zum Nachdenken kommen“ zu lassen25, entspricht wiederum die hochfrequente Taktung heutiger von Online-Kommunikation. Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass emotionalisierende Botschaften in sozialen Medien mehr Reaktionen hervorrufen26 und in weiterer Folge von den Algorithmen als besonders relevant eingestuft werden, was ihnen zusätzliche Verbreitung verschafft. Weiters nennt Peham als ein „Struktur- und Funktionsmerkmale rechtsextremer Propaganda“ die „Herstellung eines bipolaren Deutungsschemas durch 23 Vgl. etwa Brodnig: Warum (Anm. 17). 24 Vgl. Andreas Peham: Rassistische Gemeinschaftsbildung 4.0. Zur virtuellen Massenbildung in den Neuen Sozialen Medien. In: Österreich in Geschichte und Literatur 61 (2017), H. 3, S. 279–288. 25 Ebd., S. 282. 26 Dafür spricht nicht nur der in Abschnitt 2.4 dieses Artikels erwähnte Erfolg rechter Medien gerade im Bereich der Social Media-Interaktionen. Ingrid Brodnig ortet einen online ausgetragenen „Empörungswettbewerb“ und referiert dazu eine Studie von Josef Holnburger. Demnach erntete unter den deutschen Bundestagsparteien die rechtsextreme AfD 2016/17 mit Abstand die meisten Reaktionen auf Facebook – mehr als alle anderen Parteien zusammen. Gleichzeitig hatte sie den höchsten Anteil ein „Wut“-Emojis unter diesen Reaktionen. Während dieser Anteil bei den anderen Parteien zwischen rund 15 und rund 30 Prozent lag, betrug er bei der AfD 56,3 Prozent. Ingrid Brodnig: AfD und FPÖ: Empörungsmaschinen. Brodnigs Blog, 20. 03. 2018, URL: https://www.brodnig.org/2018/03/20/afd -und-fpo-emporungsmaschinen/ (abgerufen am 10. 03. 2020).
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Spaltungen und Dichotomisierungen“27 – eine Tendenz, die sich in der OnlineKommunikation besonders geschmeidig entfalten kann, insofern diese knappe Aufmerksamkeitsspannen einkalkuliert und dementsprechend von Verknappung und Komplexitätsreduktion geprägt ist. Darüber hinaus beschreibt Peham in sozialpsychologischer Hinsicht das Phänomen einer virtuellen Massen- bzw. Gemeinschaftsbildung im Netz. Das Internet –und hier insbesondere das Web 2.0 – ermögliche „solche imaginäre Massenbildung dort […], wo risikogesellschaftliche Vereinzelung herrscht“.28 In der (hier eben virtuellen) Masse regrediere das Ich auf frühere Entwicklungsstufen, was sich u. a. in verminderter Realitätsprüfung niederschlage – die gerade online in Form von Gerüchten, Verschwörungsmythen und Fake News gut ausgenützt werden kann.29 Ob Gerüchte geglaubt werden, liege weniger in ihrer Plausibilität begründet als in der Passung mit dem „Gefühlshaushalt der AdressatInnen“. Rechtsextreme Politik als Angstpolitik greife daher vorhandene Ängste auf und bediene sie gezielt mit entsprechendem Alarmismus.30 Gleichzeitig verschafft sie durch Komplexitätsreduktion Sicherheit und Orientierung, zumal in Zeiten großer Unübersichtlichkeit und Krisenhaftigkeit. Die virtuelle Masse konstituiert sich in den Online-Echokammern durch geteilten Glauben und durch Abgrenzung nach außen: als Gemeinschaft der Wissenden, Erleuchteten und Anständigen, denen eine massenmedial manipulierte Herde gegenüberstehe. Diese Selbstwahrnehmung verleihe „enorme narzisstische Zufuhr“, während das gruppenintern akzeptierte, ja gar befeuerte Ausleben von (sprachlicher) Gewalt gegen Schwache – als in Aggression transformierte soziale Furcht – befreiend wirke. Diese psychischen Benefits – Sicherheit, Orientierung, Aufwertung und Befreiung – stellen die Bindung an die virtuelle Gemeinschaft sicher und machen diese Bindung entsprechend schwer auflösbar.31
4.
Durchlauferhitzer Internet: von der Online-Hassrede zur Offline-Gewalt
U. a. im Kontext terroristischer Attacken wird viel über die Rolle des Internets geargwöhnt. Nachdem die gamification des Terrors und online ausgetauschte Inspiration zu entsprechenden Taten bereits in Abschnitt 1.3 erörtert wurden, 27 28 29 30 31
Peham, Rassistische Gemeinschaftsbildung (Anm. 24), S. 287. Ebd., S. 282. Ebd., S. 281. Ebd., S. 283. Ebd., S. 281.
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soll hier der Umschlag von virtuellem Austausch in „reale“ Übergriffe auf einer grundlegenden Ebene – auch diesseits von terroristischen Handlungen – behandelt werden. Peham bringt den langfristigen Trend steigender Fallzahlen im Bereich rechtsextremistisch und rassistisch motivierter Kriminalität in Österreich in Verbindung mit den „neue[n] Wege[n] und Möglichkeiten der Kommunikation und Propaganda“, die das Internet der extremen Rechten eröffnet habe.32 „Die zuvor den organisierten Neonazismus kennzeichnende Gewaltbereitschaft ist im Zuge der rassistischen Radikalisierung seit 2015 gesellschaftlich diffundiert. Dementsprechend weisen immer weniger verurteilte rassistische Gewalttäter eine einschlägige Szenebindung auf.“33 Einschlägige Social Media-Accounts und Webpräsenzen hätten „zunächst im virtuellen Raum eine sich beständig vergrößernde Gegenwelt etabliert. In diesen weitgehend geschlossenen Echokammern können Ressentiments ungestört gepflegt werden und sich wechselseitig aufschaukeln.“34 Zum Tragen kommt dabei auch die generell gewaltaffine Sprache des Rechtsextremismus. Die Gegenwelt oder „rechtsextreme Parallelgesellschaft“ habe nicht nur eigene Medien und Symbole, Memes und dergleichen, ausgebildet, sondern auch eine „eigene[] Wahrheit und Moral.“ Gemäß dieser Moral scheint Aggression gegen die als nicht-zugehörig Definierten gerechtfertigt – und wird sowohl online (verbal), als mitunter auch in real life ausagiert.35
5.
Rechtliche Aspekte
Wie in vielen Bereichen wirft das Internet auch in Bezug auf rechtsextreme Aktivitäten rechtliche Fragen auf. In Summe lässt sich festhalten, so Maegerle und Salzborn, in einer auf Österreich übertragbaren Diagnose für Deutschland, dass rechtsextreme Propaganda ohne die Möglichkeiten des World Wide Web „deutlich geringer verbreitet“ wäre.36 Maßgeblich liegt dies in den Spielräumen begründet, welche Unterschiede zwischen nationalen Rechtsordnungen, rege-
32 Ebd., S. 279. Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen online artikulierten Gewaltphantasien und „realen“ Gewalttaten gibt es auch für Deutschland. Vgl. Katharina Grimm: Wenn Nazis im Netz gegen Flüchtlinge hetzen. stern.de, 19. 11. 2014, https://www.stern.de /panorama/gesellschaft/rassistische-gewalt-hetze-gegen-fluechtlinge-aus-dem-netz-326001 4.html (abgerufen am 11. 03. 2020). 33 Peham, Rassistische Gemeinschaftsbildung (Anm. 24), S. 287. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 280. 36 Maegerle/Salzborn: Dunkle Seite (Anm. 2), S. 222.
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lungsfreie Räume und eine „extrem diffuse Rechtspraxis“37 (nicht nur) Rechtsextremen im Netz eröffnen. Auch die (relative) Anonymität, oder ihr Anschein, wirken förderlich für rechtsextreme Aktivitäten, wie etwa das Phänomen der Hassrede im Netz unterstreicht. Hier zeigt sich auch, das individuelle Hassposter ohne rechtsextremen Organisationshintergrund inzwischen häufiger mit Verbotsgesetz und Verhetzungsparagraph in Konflikt kommen als organisierte Neonazis, da letztere im Durchschnitt bessere Kenntnis der geltenden Rechtslage haben und sie besser zu navigieren wissen. Bei allem Fokus auf genuin rechtsextreme/neonazistische Webpräsenzen darf nicht übersehen werden, dass ein großer Teil rechtsextremer Online-Aktivitäten – ob Handel, Hassrede oder die Verbreitung von einschlägiger Musik und Propagandafilmen – sich nicht in diesen Reservaten, sondern über MainstreamPlattformen wie Facebook, YouTube oder Ebay vollzieht.38 Deren von der USamerikanischen Rechtskultur inspirierte User Guidelines sind permissiver ausgestaltet als die verhältnismäßig restriktive Rechtsordnung eines Landes wie Österreich. Selbst dort, wo gegen die Plattform-eigenen Richtlinien verstoßen wird, ist aber häufig eine säumige Umsetzung zu bemerken. Das liegt zum Teil an zu wenig effektiven Such- und Filterroutinen, der technischen Möglichkeiten zur Umgehung von Sperren (z. B. solcher für bestimmte Länder, die durch die Nutzung ausländischer Proxyserver umgangen werden können) oder ständiger Neuhochladung. Nicht selten ist aber festzustellen, dass selbst durch User*innen gemeldete Postings, die gegen die Richtlinien verstoßen, nicht konsequent sanktioniert werden. Anzeichen einer verstärkten Sensibilität der großen Player existieren aber – sei es im Vorgehen gegen die Verbreitung von Fake News, in der Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden oder in Form von deplatforming über Accountlöschungen oder shadow bans (bei denen problematische Accounts nicht gelöscht, aber in ihrer Sichtbarkeit eingeschränkt werden).39
6.
Abschließende Bemerkungen
Bei allem offenkundigen Nutzen, den die extreme Rechte aus den inzwischen nicht mehr ganz so neuen Medien zieht, sei vor Defätismus gewarnt. Das Medium Internet ist keine Schnellstraße zur faschistischen Machtergreifung – es birgt Potenziale für die Verteidigung, Erweiterung und Vertiefung von Demokratie 37 Ebd., S. 221. 38 Vgl. zu diesen dreien ebd., S. 222–227. 39 So löschten Twitter und YouTube Mitte Juli 2020 diverse „identitäre“ Accounts aus verschiedenen Ländern und folgten damit dem Beispiel von Facebook und Instagram (2018).
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ebenso wie für ihre Untergrabung. Illustrieren lässt sich dies etwa unter Verweis auf antifaschistische Netzpräsenzen: von Seiten, die Informationen und Analysen über die extreme Rechte bieten über Watchdog-Accounts auf sozialen Medien und Initiativen zu Antirassismusarbeit oder Extremismusprävention bis hin zu Online-Meldestellen für Verhetzung und Wiederbetätigung.40 Auch diese und ihre Inhalte sind dank des Internet heute leichter zugänglich und verbreitbar denn je, ebenso, wie sich der Zugang zu Opferberatungen und Aussteiger*innenprogrammen online besonders niedrigschwellig gestaltet. Dennoch sollten die in Abschnitt 3 erwähnten Startvorteile der extremen Rechten insbesondere auf sozialen Medien nicht ignoriert werden. Aus ihnen folgt etwa, dass „von den Rechten lernen“ nicht bedeuten kann, ihre Manöver einfach unter anderen Vorzeichen zu kopieren. Die hier vorgestellten Thesen zur virtuellen Massenbildung im Netz wiederum legen nahe, dass bei der Ursachenanalyse (und damit auch der Frage nach Gegenstrategien) für Phänomene wie Hate Speech im Netz die psychischen Benefits der Mitgliedschaft in den entsprechenden Online-Communities einzubeziehen wären. Für die Konfrontation des Rechtsextremismus insgesamt, besonders aber auch seiner Manifestationen online, ist in diesem Sinne der Blick auch auf die „verdrängten Ängste, Sehnsüchte und Wünsche“ seiner ProponentInnen zu richten.41 „Der Hass, der uns gegenwärtig auf allen Kanälen entgegenschwappt, ist umgewandelte soziale Angst, die jedoch verdrängt wurde.“ Bildung gegen Rechtsextremismus sollte daher nicht zuletzt versuchen, die erwähnten Ängste, Sehnsüchte und Wünsche „aus der Verdrängung zu holen.“42 Dieses Perspektiven sind als ebenso wichtig anzusehen wie das heute von allen Seiten – zurecht – eingemahnte Bemühen um „Medienkompetenz“. In der Tat ist deren Schulung wichtig, um Menschen in die Lage zu versetzen, Manipulationen zu erkennen. Als vorderhand rein technische Kompetenz darf von ihr in puncto Rechtsextremismusprävention aber nicht zuviel erwartet werden: ausgesprochen medienkompetent sind auch viele der online aktiv Nazis und RassistInnen, wie Maegerle und Salzborn zutreffend anmerken.43 Angesichts dessen muss Bildung über technische Kompetenzen hinaus auch die Fähigkeit vermitteln, menschen(gruppen)feindliche Inhalte dort zu erkennen, wo modernisierte Rhetorik 40 Beispielhaft seien für Österreich angeführt: www.doew.at, www.fipu.at und www.stopptdie rechten.at; für Deutschland www.amadeu-antonio-stiftung.de, www.belltower.news, https:// blog.zeit.de/stoerungsmelder und www.idaev.de; für den englischsprachigen Raum www.se archlightmagazine.com, www.splcenter.org und www.adl.org. Meldeseiten in Österreich: https://bvt.bmi.gv.at/601/ (Meldestelle des Innenministeriums für NS-Wiederbetätigung), www.stopline.at, www.mkoe.at und www.zara.or.at (abgerufen am 20. 03. 2020). 41 Peham, Rassistische Gemeinschaftsbildung (Anm. 24), S. 282. 42 Ebd., S. 286. 43 Maegerle/Salzborn: Dunkle Seite (Anm. 2), S. 229.
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und schicke Verkleidung, etwa in Form eines gekonnt geschnittenen YouTubeVideos, von ihnen ablenken sollen.
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Karin Liebhart
Nationalsozialismus „light“ – visuelle und diskursive Verweise in Social Media Auftritten der Neuen Rechten
Zusammenfassung Der Beitrag rekonstruiert visuelle und diskursive Bezugnahmen von RepräsentantInnen der Neuen Rechten auf Elemente nationalsozialistischer Ästhetik und Ideologie. Trotz kontinuierlicher Beteuerungen, mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun zu haben, sind diese Verweise fixer Bestandteil deren strategischer politischer Kommunikation – offline und online. Im Zentrum des Beitrags steht die multimodale Analyse ausgewählter Social Media Auftritte von AktivistInnen der Neuen Rechten, am Beispiel der „Identitären Bewegung“. Schlagwörter Neue Rechte, Politische Kommunikation, Diskurs, Bilder, Identitäre Bewegung Abstract National Socialism “Light” – Visual and Discursive References in Social Media Appearances of the New Right The contribution reconstructs visual and discursive references to elements of National Socialist aesthetics and ideology made by representatives of the New Right. Notwithstanding continuous assertions to have no bearing on National Socialism, relevant references build a recurrent component of their strategic political communication activities, both offline and online. The contribution focuses on a multi-modal analysis of selected Social Media appearances of New Right activists, using the example of the “Generation Identity”. Keywords New Right, Political Communication, Discourse, Images, Generation Identity
Karin Liebhart, Universität Wien, Institut für Politikwissenschaft, E-Mail: karin.liebhart@uni vie.ac.at, ORCID iD: https://orcid.org/0000-0002-8015-205X
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Karin Liebhart
Hipster-Nazis als „intellektuelle Avantgarde“
Spätestens Anfang des Jahres 2020 stellten sich JournalistInnen und WissenschafterInnen die Frage, ob es mit dem 2012 gegründeten österreichischen Zweig der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ (IB)1 nach einigen Jahren steigender medialer Präsenz und Aufmerksamkeit bereits wieder vorbei sei. Die „Identitäre Bewegung Österreich“ (IBÖ) würde kaum mehr in Erscheinung treten, weder offline noch online, zahlreiche Social Media Accounts ihrer hauptsächlichen RepräsentantInnen seien mittlerweile gesperrt, stellte Markus Sulzenbacher, der Leiter des Web-Ressorts der Tageszeitung Der Standard, fest und hielt es nur mehr für „eine Frage der Zeit, bis das Label ,Identitäre Bewegung‘ völlig von der Bildfläche verschwindet“.2 Die Literatur- und Politikwissenschafterin Judith Götz sah Anzeichen für den Niedergang der Gruppierung bereits Anfang 2019. Mehrere Politiker der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) hatten sich von der IBÖ distanziert, unter ihnen der damalige FPÖ-Parteiobmann und Vizekanzler der von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) geführten Koalitionsregierung, Heinz-Christian Strache. Diese Absetzbewegung von Teilen der FPÖ von den „Identitären“, zu denen gute Kontakte bestanden,3 war auch auf den durch den Koalitionspartner ausgeübten Druck zurückzuführen. Grund dafür war eine im Jahr 2018 getätigte 1.500 Euro Spende des rechtsextremen Attentäters von Christchurch an Martin Sellner, den Sprecher der „Identitären“.4 Das Manifest des Attentäters zum Terroranschlag auf zwei Moscheen, bei dem 51 MuslimInnen getötet wurden, 1 „Identitäre Bewegung“ ist ebenso wie „Generation Identity“ eine Selbstbezeichnung und daher selbstverständlich ein problematischer Begriff. 2 Markus Sulzenbacher: Rechtsextreme Identitäre Bewegung offenbar am Ende. In: Der Standard, 21. 02. 2020, URL: https://www.derstandard.at/story/2000114822616/rechtsextreme-iden titaere-bewegung-offenbar-am-ende (abgerufen am 10. 07. 2020); Andreas Speit: Ist die Identitäre Bewegung am Ende? In: Zentrum Liberale Moderne, gegneranalyse. Antiliberales Denken von Weimar bis heute, 05. 05. 2020, URL: https://gegneranalyse.libmod.de/andreas-speit-i st-die-identitaere-bewegung-am-ende (abgerufen am 16. 07. 2020). Vgl. auch Anna Thalhammer: Das Netzwerk der Identitären mit der FPÖ. In: Die Presse, 11. 06. 2016. 3 Vgl. dazu das von SOS Mitmensch veröffentlichte Dossier über 48 Verbindungen von FPÖPolitikerInnen und MitarbeiterInnen zur rechtsextremen Identitären Bewegung: URL: https:// www2.sosmitmensch.at/dl/pntnJKJKnolJqx4kJK/Dossier_Verflechtungen_FPOE_Identitaere _April2019_SOSMitmensch_.pdf (abgerufen am 12. 05. 2019). Vgl. auch Redaktion Die Presse/ APA: Dossier über FPÖ-Verbindungen: „Liebe Identitäre Bewegung, ich begrüße euch recht herzlich“. In: Die Presse, 10. 04. 2019, URL: https://www.diepresse.com/5610334/dossier-uber-f po-verbindungen-liebe-identitare-bewegung-ich-begrusse-euch-recht-herzlich (abgerufen am 14. 09. 2019). 4 In diesem Zusammenhang wurden auch Ermittlungen gegen Martin Sellner eingeleitet, später aber eingestellt. Apa/cms/red: Terrorermittlungen gegen Identitären-Chef Sellner. In: Der Standard, 26. 03. 2019, URL: https://www.derstandard.at/story/2000100211871/hausdurchsuch ung-bei-identitaeren-sprecher-sellner-nach-terror-in-neuseeland (abgerufen am 26. 09. 2019).
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Nationalsozialismus „light“
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wies schon im Titel eine große inhaltliche Nähe zum Verschwörungsszenario des „Großen Austauschs“ auf, einem Kernelement „identitärer“ Ideologie.5 Zwar distanzierten sich Sellner und die IBÖ von diesem Attentat und betonten, mit dem Attentäter nichts zu tun zu haben, schließlich verkündete aber sogar der deutsche Rechtsextremist und langjährige Mentor der IBÖ Götz Kubitschek, Inhaber des Antaios-Verlags und Leiter des rechtsextremen Instituts für Staatspolitik, in einem Interview mit der rechtsextremen österreichischen Zeitschrift Die Neue Ordnung Ende 2019 das Scheitern der selbsternannten Bewegung, denn diese sei mittlerweile „bis zur Unberührbarkeit kontaminiert“.6 Anfang 2020 gründeten schließlich einige AktivistInnen der IBÖ, unter ihnen Martin Sellner, eine neue Organisation, die sich allerdings inhaltlich und ideologisch von der IBÖ kaum unterscheidet. Diese trägt den Namen „Die Österreicher“ und wirbt auf der Einstiegsseite ihrer Website (die ein Bergpanorama, einen Wanderer auf dem Weg zum Gipfel und das rot-weiß-rote, an ein Gebirge erinnernde, Logo zeigt) mit dem Statement „Österreicher sind wir. Österreicher bleiben wir. Bürgerbewegung gegen den Bevölkerungsaustausch“ (Stand 17. 11. 2020).7 Dies legt nahe, dass der offensichtliche Bedeutungsverlust der IBÖ als politische Gruppierung und deren offline und online abnehmende Attraktivität8 noch nicht darauf schließen lassen, dass damit auch deren ideologische Positionen und kommunikative Strategien tendenziell an Einfluss verlieren. Zudem zeigt sich gegenwärtig vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie und damit verbundener gesellschaftspolitischer Diskussionen, dass sich AktivistInnen neue Themen aneignen und diese mit altbekannten Inhalten verknüpfen. Martin Sellner bezeichnete im rechtsextremen Medium Sezession die „Corona-Krise“ als möglichen „formative event“, und potentiellen Auslöser eines „metapolitischen Schocks“.9 Die AktivistInnen und SprecherInnen der „Identitären“ sehen sich als Angehörige der letzten Generation „die das Abendland vor dem Untergang retten 5 Vgl. Judith Götz, Joseph Maria Sedlacek, Alexander Winkler: Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen „Identitären“. Hamburg: Marta Press 2018. 6 Zit.n. Tobias Schrörs: Sind die Identitären am Ende? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZNET, 17. 02. 2020, URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/warum-die-identitaere-be wegung-in-einer-krise-steckt-16635883.html (abgerufen am 16. 10. 2020); Simone Rafael: Ende Der IB? Götz Kubitschek erklärt die „Identitäre Bewegung“ für „Bis Zur Unberührbarkeit Kontaminiert“. In: Belltower.News. Netz für digitale Zivilgesellschaft, 09. 11.2019, URL: https:// www.belltower.news/ende-der-ib-goetz-kubitschek-erklaert-die-identitaere-bewegung-fuer-b is-zur-unberuehrbarkeit-kontaminiert-92799/ (abgerufen am 23. 12. 2019). 7 URL: https://www.die-oesterreicher.at/ (abgerufen am 17. 11. 2020). 8 Einige AktivistInnen der IBÖ, allen voran Martin Sellner, sahen sich wegen grundlegender Regelverstöße bereits mehrfach mit der Einschränkung bzw. Sperrung ihrer Social Media Accounts auf Twitter, Facebook, Instagram und YouTube (Löschung von Videos) konfrontiert, und wichen deshalb auch auf andere Plattformen, insbesondere Telegram aus. 9 Speit: Identitäre Bewegung am Ende? (Anm. 2)
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Karin Liebhart
kann“.10 Der drohende Untergang ist aus Sicht der „Identitären“ auf den Verlust traditioneller europäischer bzw. abendländischer Werte zurückzuführen, den vor allem die 1968er-Generation zu verantworten habe. Gesellschaftspolitischer Liberalismus, Emanzipation, sexuelle Befreiung und Multikulturalismus hätten zu einer zerstörerischen gesellschaftlichen Entwicklung geführt, mit der die wahren Werte verloren gegangen seien.11 „Wir kämpfen gegen den eigenen Identitätsverlust, gegen unseren demographischen und kulturellen Verfall und gegen die allgemeine Entwurzelung und Entfremdung des Menschen in der Moderne. Wir stellen uns gegen einen abstrakten, weltfremden Menschenbegriff, der ihn nur als degenerierte kultur- und geschlechtslose, internationale Ware, als Humankapital betrachtet, anstatt ihn in seiner Ganzheit, als Erbe und Träger einer bestimmten Identität zu betrachten.“12
Dem setzt die „Identitäre Bewegung“ ein Konzept der „Metapolitik“ entgegen, mit der Absicht eine „längerfristige Diskursverschiebung“ herbeizuführen.13 Ziel entsprechender kommunikativer Strategien ist die Erlangung kultureller Hegemonie sowie einer damit verbundenen Akzeptanz „identitärer“ politischer Positionen, um schlußendlich tiefgreifende gesellschaftliche und politische Veränderungsprozesse zu ermöglichen.14 Letztlich bedeutet dies „(r)echtsextreme
10 Edith Meinhart: Das verquere Weltbild der „Identitären“. In: Profil, 20. 05. 2014, URL: http:// www.profil.at/articles/1309/560/353357/das-weltbild-identitaeren (abgerufen am 17.11. 2018). Vgl. auch Götz, Sedlacek, Winkler: Untergangster des Abendlandes (Anm. 5); Volker Weiß: Die Identitären: Nicht links, nicht rechts – nur national. Heimat, Familie, Kultur, Volk, Staat: Mit den „Identitären“ entsteht eine neue Bewegung am rechten Rand. In: Die Zeit, 21. 03. 2013. URL: http://www.zeit.de/2013/13/Die-Identitaeren (abgerufen am 14. 06. 2016); Birgit Sauer, Stefanie Mayer: A European Youth Against Europe? Identity and Europeanness in the Austrian, „Identitarian“ Discourse. e-Engagement against Violence. University of Leicester. 2014. URL: http://eeav.drupalgardens.com/sites/g/files/g1022196/f/201402/eEAV_summar y_WP1_AT.pdf (abgerufen am 09. 08. 2016). 11 Vgl. Martin Sellner: Vlog Identitär 6 – Was heisst es identitär zu sein? https://www.youtube. com/watch?v=HskhznVkBfg. 2013. Das Video ist nicht mehr verfügbar (abgerufen am 05. 08. 2016). 12 URL: https://identitaerebewegung.wordpress.com/positionierungen/100-identitat-0-rassism us/ (abgerufen am 23. 10. 2020). 13 Julian Bruns, Kathrin Glösel, Natascha Strobl: Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa. Münster: Unrast 2014, S. 14. Vgl. auch: Götz, Sedlacek, Winkler: Untergangster des Abendlandes (Anm. 5); Roman Schweidlenka, URL: https://ww w.logo.at/esoinfo/die-identitaeren (abgerufen am 14. 08. 2016). 14 Vgl. Gürcan Kökgiran, Kristina Nottbohm: Semiologische Guerilla von rechts? Diskursive Aneignungs- und Umdeutungsstrategien der Identitären Bewegung Deutschland. In: Sprache – Macht – Rassismus. Hg. von Gudrun Hentges, Kristina Nottbohm, Mechthild M. Jansen, Jamila Adamou. Berlin: Metropol 2014, S. 327–348.
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Ideologie wieder salonfähig“ zu machen, wie die Politikwissenschafterin und Journalistin Kathrin Glösel feststellt.15 „Die Identitären […] waren der Versuch ehemaliger Neonazis und anderer Rechtsextremer, sich ausreichend weit von Hitler, der Schoah und dem Nationalsozialismus einerseits und den prügelnden und mordenden Naziskinheads der Neunzigerjahre andererseits zu distanzieren. Sie lasen sich weit genug in die Theorien von zivilem Ungehorsam und außerparlamentarischer Opposition ein, um gerade noch so als rechtsextreme Intellektuelle durchzugehen. Rechtsextrem genug für die Mitglieder, bürgerlich genug für die Spender und klammheimlichen Unterstützer.“16
Eine auf den ersten Blick ersichtliche Bezugnahme auf den Nationalsozialismus ist – im Unterschied zur traditionellen Neonazi- und Rechtsextremismus-Szene – dementsprechend auch nicht Bestandteil der politischen Kommunikation der „Identitären Bewegung“, die sich nicht offen in die NS-Tradition stellt. Texte und Bilder, die von den „Identitären“ medial, insbesondere über verschiedene Spielarten von Social Media, kommuniziert werden, sind auf den ersten Blick auch nicht unbedingt als zum äußersten rechten Rand des politischen Spektrums gehörig erkennbar. Die „Identitären“ setzen augenscheinlich einiges daran, sich nicht offensichtlich im „rechten Eck“ zu positionieren. Sie versuchen an den politischen Mainstream anzudocken, sich zugleich aber auch jung, provokant, kritisch und originell zu präsentieren. Viele der verwendeten Bilder wirken relativ harmlos. Spätestens in Kombination mit den zugehörigen Texten werden die Botschaften jedoch deutlich. Nahezu alle sind mit rechtsextremen Positionen kompatibel.17 Insgesamt ergibt sich aus den komplexen transmedialen Verweiszusammenhängen ein völkisch-rassistisches, fremdenfeindliches, antisemitisches und islamophobes Gesamtbild.18
15 Kathrin Glösel: Das große Dossier. Alles, was du über die Identitären wissen solltest, 29. 03. 2019. In: Kontrast.at, URL: https://kontrast.at/identitaere-bewegung/ (abgerufen am 17. 09. 2019). 16 Daniel Erk: Warum die Identitären am Ende sind. In: Die Zeit, 28. 03. 2019, URL: https:// www.zeit.de/politik/deutschland/2019-03/identitaere-bewegung-rechtsextremismus-martin -sellner-christchurch-attentat (abgerufen am 23. 12. 2019). 17 Zur Diskussion des Begriffs Rechtsextremismus vgl. Samuel Salzborn: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Baden-Baden: Nomos/UTB Verlag 2014. Vgl. auch Rechtsextremismus: Entwicklungen und Analysen – Band 1. Hg. von Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit. Wien: Mandelbaum Verlag 2014; Willibald Holzer: Rechtsextremismus – Konturen, Definitionsmerkmale und Erklärungsansätze. In: Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus. Hg. von Stiftung DÖW. Wien: Deutike Verlag 1993, S. 11–96. 18 Vgl. Thilo Janssen: Geliebter Feind. Rechtsaußenparteien und die Europäische Union. Brüssel: Rosa Luxemburg Stiftung 2016.
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Als Teil der Neuen Rechten,19 die sich als intellektuell-aktivistische Avantgarde gesellschaftlicher Veränderung versteht, versuchen die IBÖ, deren Pendants in anderen europäischen Ländern, aber auch deren Nachfolgeorganisation „Die Österreicher“ den sogenannten vorpolitischen Raum zu besetzen und dort die Diskurshoheit zu erlangen. In diesem Zusammenhang verweisen sie immer wieder auf die autoritären Ideen der Konservativen Revolution während der Zeit der Weimarer Republik sowie auf jene des italienischen und des japanischen Faschismus.20 Auszüge aus den Büchern von antidemokratisch eingestellten Autoren wie Julius Evola, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Oswald Spengler und Yukio Mishima sind in Social Media Postings „identitärer“ AktivistInnen häufig zu finden. Zitate aus den Werken dieser Autoren und Abbildungen der Buchcover werden getwittert, oder über Telegram, Facebook, Instagram und andere Plattformen kommuniziert. Porträts der Genannten finden sich auf Statement-TShirts und Hoodies, die über den Online-Versandhandel Phalanx Europa vertrieben werden.21 Die Selbstdarstellung als demokratisch-patriotische Alternative zum politischen Mainstream wird allerdings bereits auf den zweiten Blick unglaubwürdig. Unter Verwendung von historisch weniger belasteten Begriffen kommunizierte antidemokratische, rassistische und sexistische Botschaften zeigen, dass an den Inhalten nicht allzu viel neu ist. Vielmehr werden „althergebrachte rechtsextreme Ideologeme“ mit neuem Vokabular versehen, und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gewissermaßen „rebranded“. Die Bezeichnung „identitär“ ersetzt „völkisch-national/istisch“, „Remigration“ ist das neue Wort für „Massenabschiebung“ und „Ethnopluralismus“ meint „Apartheid“, ganz im Sinne von Alain de Benoist und der von ihm unter Zuhilfenahme naturalistisch-rassistischer Argumente propagierten Einzigartigkeit der „Völker“. „Die IB versteht sich mit Bezug auf den italienischen marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) – laut internem Schulungsmaterial – selbst als ‚eine meta-
19 Die Neue Rechte ist Teil der extremen Rechten, ihre Wurzeln hat sie im Frankreich der späten 1960er Jahre. Vgl. Bernhard Schmid: Die Neue Rechte in Frankreich. Münster: Unrast 2009. 20 Vgl. Andreas Speit: Revolution in neuem Gewand. Dossier Rechtsextremismus. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. 2014. URL: http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechts extremismus/180895/revolution-in-neuem-gewand (abgerufen am 05. 08. 2016); Richard Herzinger: Kulturkrieg und utopische Gemeinschaft. Die „Konservative Revolution“ als deutscher antiwestlicher Gegenmodernismus. In: Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe. Der Geist der Konservativen Revolution. Hg. von Volker Eickhoff, Wolfgang Bialas. Wien: Picus Verlag 1997, S. 14–39, URL: https://gegneranalyse.libmod.de/revolutionaere-bewegung-konservati ve-revolution/ (abgerufen am 23. 11. 2020). 21 Vgl. URL: https://www.phalanx-europa.com (abgerufen am 13. 12. 2018). Mittlerweile wurde dieser Versandhandel (betrieben von Martin Sellner und Patrick Lenart) in Österreich geschlossen, aufgrund einer Ermittlung wegen Steuerhinterziehung gegen die beiden Betreiber. Vgl. Sulzenbacher: Rechtsextreme Identitäre Bewegung (Anm. 2).
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politische Kraft‘, die ‚einen Kampf um Begriffe, um das Sagbare, letztlich auch um das Denken‘ auf dem ‚ideellen Umfeld mit Bildern, Parolen, Ideen und Erzählungen‘ führen will“.22
2.
Verschwörungsszenario „Großer Austausch“23
Letztlich laufen sämtliche Argumente auf wenige Grundideen hinaus. Allem voran beschwören die „Identitären“ die Gefahr eines – von „den Eliten“ angeblich geheim organisierten – „Großen Austauschs“ der autochthonen europäischen Bevölkerung gegen vorrangig muslimische Zuwanderer aus Afrika und Asien.24 Andreas Mölzer und andere Freiheitliche Politiker hatten noch deutlicher von „Umvolkung“ gesprochen.25 Gemeint ist dasselbe: Dieses Verschwörungsszenario, die US Alt Right nennt es White genocide conspiracy theory, beruht auf der Behauptung, ein konspiratives, elitäres Netzwerk des Establishments würde als „Deep State“ fungieren, als eine Art Staat im Staat bzw. als versteckte Regierung hinter der offiziellen Regierung. Diesem angeblichen geheimen Netzwerk werden von AktivistInnen der „Identitären“ aber auch von anderen Rechtsextremen häufig international bekannte Persönlichkeiten wie George Soros und Bill Gates zugerechnet. Im Fall von Soros sind mehr oder weniger offen antisemtische Verweise zentraler Bestandteil der Erzählung. Das geheime Netzwerk soll nach Meinung der „Identitären“ das Ziel verfolgen, durch Immigration und höhere Geburtenraten der zugewanderten Bevölkerung die eingesessene Bevölkerung zu dezimieren: „Dahinter steckt die Behauptung, demokratisch gewählte Politiker würden die Bevölkerung durch eine Mischung aus geburtenfeindlicher Politik und geplanter Einwanderung auszuwechseln gedenken. Die Verschwörungstheorie erfüllt zwei Zwecke: Einerseits ist sie als rassistisches Schauermärchen wirkmächtig und rechtfertigt letztlich alles als Akt der völkischen Selbstverteidigung.“26 22 Andreas Speit: Frankfurter Hefte / Ausgabe 10/2018, URL: https://www.frankfurter-hefte.de /artikel/radikale-avantgarde-2574/ (abgerufen am 22. 05. 2019). Vgl. auch Speit: Revolution in neuem Gewand (Anm. 20). 23 Vgl. IBÖ, URL: https://www.identitaere-bewegung.at/der-grosse-austausch/ (abgerufen am 30. 11. 2018). Vgl. auch URL: https://iboesterreich.at/der-grosse-austausch (abgerufen am 05. 08. 2016). 24 Vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW): Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) o. J. URL: http://www.doew.at/erkennen/rechtsextremismus/rechtsextreme -organisationen/identitaere-bewegung-oesterreich-iboe (abgerufen am 27. 01. 2017). 25 Vgl. Der Standard, 13. 02. 1992 sowie Der Standard 15. 04. 2013. URL: https://www.derstanda rd.at/story/1363707957878/fpoe-schnell-und-die-umvolkung-scharfe-kritik-der-anderen-pa rteien (abgerufen am 27. 01. 2017). 26 Daniel Erk: Identitäre Bewegung: Sind sie jetzt am Ende? Der Anschlag von Christchurch bringt eine rechtsextreme Gruppierung mit Verbindungen zur FPÖ in Bedrängnis. In: Die
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Essentielle Bestandteile dieser gar nicht neuen Botschaft sind ein reaktionäres Geschlechterbild und die Verbindung heteronormativer und heterosexistischer Konzepte27 mit (kultur)rassistischen Vorstellungen. Diese stellen „unsere (europäische) Kultur und Identität“ einer damit angeblich nicht kompatiblen „fremden (muslimischen) Kultur und Identität“ gegenüber. Im Kampf um die Bewahrung der europäischen Kultur und ein angestrebtes homogenes, weißes Europa kommt Frauen in der Gesellschaftskonzeption der „Identitären Bewegung“ eine spezifische Rolle zu. Auf Basis eines rigiden, traditionell-komplementären Geschlechterdualismus und des Prinzips der reproduktiven Heteronormativität28 werden entsprechende Rollenbilder diskursiv und visuell konstruiert und verfestigt.29 Für eine Dekonstruktion der visuellen Vermittlung dieser Rollenbilder sei auf den dualen Modus von Bildern verwiesen: materielle Abbilder (material images) rufen immer korrespondierende immaterielle Denkbilder (mental images) auf und aktivieren diese. Zugleich funktionieren Bilder nach einer assoziativen Logik.30 Fotos und andere Bilder von Müttern mit Babies und kleinen Kindern, die AktivistInnen der IBÖ auf ihren Social Media Accounts kommunizieren, erwecken aufgrund der Verwendung desselben Motivs über diesen Verweiszusammenhang oft Erinnerungen an nationalsozialistische Ästhetik (vgl. Abb. 1 und Abb. 2).
27
28 29 30
Zeit: 08. 04. 2019. URL: https://www.zeit.de/2019/15/identitaere-bewegung-fpoe-rechtsextre mismus-christchurch-anschlag (abgerufen am 23. 12. 2019). Vgl. Johanna Sigl: Identitäre Zweigeschlechtlichkeit. Über männliche Inszenierung und Geschlechterkonstruktionen bei den Identitären. In: Das Netzwerk der Identitären. Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten. Hg. von Andreas Speit. Berlin: Links Verlag 2018, S. 160– 172; Manuel Mayrl: Männlichkeitskonstruktionen der Identitären Bewegung in Österreich. Journal für Psychologie, 25(2)/2017. Kritische Männerarbeit: Positionen, aktuelle Entwicklungen und psychosoziale Praxis, S. 179–204. URL: https://www.journal-fuer-psychologie.de /index.php/jfp/issue/view/51 (abgerufen am 19. 11. 2019). Nikita Dhawan: Homonationalismus und Staatsphobie: Queering Dekolonialisierungspolitiken, Queer-Politiken dekolonialisieren. In: Femina Politica 1/2015, S. 38–51, hier S. 42. Vgl. Bernd Steckner: Die visuelle Politik der Identitären. In: der rechte rand 143, 2013, S. 22– 23. Vgl. Marion G. Müller, Stephanie Geise: Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Konstanz-München: UVK 2015, S. 23 und S. 37.
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Abb. 1: Arische Familienidylle: Mutter mit zwei Mädchen und einem Jungen in HJ-Uniform, aus: SS-Leitheft 9/2 Februar 1943. Signatur im Bundesarchiv: Bild 146-1973-010-3131
Abb. 2: Tweet von Userin Alina_W @Aliner_We, 29. 08. 2018, versehen mit einem roten © und den Hashtags #family, #tradition, #Europa32
Auch wenn Frauen im Rahmen von Aktionen der IB zuweilen ihre kämpferische Seite zeigen können und AktivistInnen der Neuen Rechten auf ihren Social Media Accounts ein etwas vielfältigeres Rollenspektrum präsentieren,33 ist eine klar erkennbare, an heterosexistischen Normen orientierte Geschlechtszugehörigkeit für das „identitäre“ Weltbild letztlich konstitutiv. Daraus folgen auch 31 Übernommen aus Spiegel Geschichte: Lebensbornkinder. Heim im Reich. 29. 07. 2011. URL: https://www.spiegel.de/fotostrecke/lebensbornkinder-fotostrecke-109199-12.html (abgerufen am 14. 11. 2019); URL: https://www.pinterest.de/pin/230176230938040280/?lp=true (abgerufen am 14. 11. 2019). 32 Tweet nicht mehr zugänglich (abgerufen am 17. 09. 2018). Verpixelung durch die Autorin. 33 Vgl. Red. Der Standard: Junge Frauen als Köder. Wie Rechtsextreme auf Instagram Nachwuchs rekrutieren. In: Der Standard, 08. 10. 2020, URL: https://www.derstandard.at/stor y/2000120585641/junge-frauen-als-koeder-wie-rechtsextreme-auf-instagram-nachwuchs-re krutieren?ref=nl (abgerufen am 13. 10. 2020).
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klare Vorstellungen wie Frauen gemäß dieser hierarchisch konzipierten Geschlechterordnung sein und welche limitierten Themen im Zentrum ihres Interesses stehen sollen.34 Einschlägige Bilder auf den Merchandising-Produkten der IB (vgl. Abb. 3) in Kombination mit Slogans wie „Make Love & Defend Europe!“ oder „Fighting for the Rebirth of Europe“ zeigen deutlich, welche Rolle Frauen dabei zukommt.35
Abb. 3: Motiv auf einem T-Shirt aus der Produktpalette des Online-Versandhandels Phalanx Europa36
Das Narrativ, das vor allem auch auf der visuellen Ebene erzählt wird, präsentiert Frauen als im traditionellen Sinn weibliche Wesen, deren primäre Aufgabe die biologische Reproduktion des autochthonen österreichischen (oder wahlweise deutschen, europäischen) Volkes und damit von dessen Kultur und Identität ist, 34 Vgl. beispielsweise Frauen wehrt euch! 120 Dezibel #120db, URL: https://www.youtube.com /watch?v=FSXphiFknyQ; Frauen: Was ist los mit euch? Islamisierung durch Asylanten / Flüchtlinge? URL: https://www.youtube.com/watch?v=goT-gAgrOEc&list=WL&index=22. Das Video ist nicht mehr verfügbar; Identitäre Bewegung: Eine Botschaft an die Frauen, URL: https://www.youtube.com/watch?v=sTMoGod5d6o&list=WL&index=25&t=0s (alle abgerufen 10. 10. 2019). 35 Judith Götz: „Aber wir haben die wahre Natur der Geschlechter erkannt…“ Geschlechterpolitiken, Antifeminismus und Homofeindlichkeit im Denken der „Identitären“. In: Götz, Sedlacek, Winkler (Hg.): Untergangster des Abendlandes (Anm. 5), S. 253–283. 36 Vgl. URL: https://phalanx-europa.com/damen/shirts/228/damenshirt-make-love?number= SW22145.7&c=60 (abgerufen am 16. 01. 2021).
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und die darin auch Erfüllung finden.37 Brittany Pettibone, US Alt Right Bloggerin und seit 2019 Ehefrau Martin Sellners hat dies wie folgt zusammengefasst: „Have a few white kids = fight ‚climate change‘. Have lots of white kids = stop whites from becoming a minority by 2042. Choice is yours“. Pettibone bezeichnet sich in diesem Zusammenhang auch selbst als „baby factory enthusiast“.38 Feminismus lehnen die „Identitären“ ab, sie sprechen – wie andere rechte Parteien und Bewegungen − lieber von „Genderwahn“. Folgerichtig waren auch alle Leitungsfunktionen der IBÖ von Anfang an männlich besetzt: „Entsprechend der Herkunft der IBÖ aus dem deutsch-völkischen Korporiertenmilieu und einem […] Selbstverständnis als Kampfbund wehrhafter/soldatischer Männer finden sich (einzelne) Frauen nur in den unteren Funktionsebenen der Gruppierung“.39 Zur „identitären“ Konstruktion der Bedrohung durch den „Großen Austausch“ gehört, dass Männer aus „fremden Kulturkreisen“40 in diesem Szenario eine Hauptrolle spielen. Deshalb demonstrieren die „Identitären“ für das Schließen der Grenzen „zum Schutz der Frauen“ oder organisieren Straßentheater, die darstellen, wie Frauen im Dirndl von illegalen Einwanderern sexuell belästigt und angegriffen werden.41 Die Basis für diese Konstruktionen und Inszenierungen bildet ein an nationalsozialistische Vorstellungen einer geordneten Volksgemeinschaft nahtlos anschlussfähiges, (kultur)rassistisches Identitätskonzept mit klar festgelegten Geschlechterordnungen und entsprechenden Funktionszuweisungen an Männer und Frauen.42 Kommuniziert wird diese Sicht auf die soziale und politische Welt von „( j)unge(n) Menschen ohne Skinhead-Glatzen […] die so lieb aussehen, dass sich brave Bürger nicht erschrecken müssen.“43 Es handelt sich auf den ersten Blick um eine Art Light-Variante rassistischer und sexistischer Ideologie und Politik, die sowohl für Parteien, Bewegungen und 37 Vgl. Karin Liebhart: Zur symbolischen Bevölkerung „identitärer“ Landschaften. In: Dauerkämpfe. Feministische Zeitdiagnosen und Strategien. Hg. von Brigitte Bargetz, Eva Kreisky, Gundula Ludwig. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2017, S. 217–227. 38 URL: https://rationalwiki.org/wiki/Brittany_Pettibone (abgerufen am 14. 10. 2020). 39 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW): Identitäre Bewegung Österreich (Anm. 24). 40 URL: http://www.identitaere-generation.info/der-fluechtling-als-neuer-heiliger (abgerufen am 22. 04. 2017). Der Link ist nicht mehr zugänglich. 41 Vgl. URL: http://www.identitaere-generation.info/frauen-schuetzen-grenzen-schliessen (abgerufen am 18. 05. 2018); URL: https://iboesterreich.at/2016/09/22/identitaeres-strassentheate r-in-wels/ (abgerufen am 10. 05. 2019). Beide Links sind nicht mehr zugänglich. 42 Vgl. Christoph Gurk: Diese Gruppen machen den Rassismus hip. Interview mit Alexander Häusler. In: Bayern plus, 17. 05. 2013. 43 Peter Praschl: Die Identitären – das neue große Ding der Rechten. In: Die Welt, URL: http:// www.welt.de/kultur/article156581968/Die-Identitaeren-das-neue-grosse-Ding-der-Rechten. html (abgerufen am 05. 08. 2016). Vgl. auch Patrick Gensing: „Identitäre“-Bewegung in Europa. Très chic, très hip, très rechtsradikal. In: tagesschau.de, 10. 06. 2016.
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Initiativen aus dem rechtsextremen und neonazistischen Spektrum der Politik anschlussfähig ist, als auch für PolitikerInnen und Parteien, die zum politischen Mainstream gezählt werden.
3.
Kulturelle und politische „Reconquista“
In enger Verbindung mit dem Kampf gegen den „Großen Austausch“ steht ein weiteres zentrales Anliegen der IB, die „Reconquista“, der politische und zugleich kulturelle Kampf zur Verteidigung Europas gegen Zuwanderer und Flüchtlinge,44 insbesondere aber zur Rückeroberung des Abendlandes vom „orientalischen Islam.“45 In Bezug auf den ersten Aspekt sei etwa auf den jährlichen Gedenkmarsch an die Befreiung Wiens von der Besatzung durch das Osmanische Heer im Jahr 1683 erinnert46, den die IBÖ organisiert, um Aufmerksamkeit auf eine angebliche „Existenzbedrohung durch eine Überfremdung und Islamisierung unserer europäischen Heimat“ zu lenken.47 Vor allem aber sind hier die Aktionen Defend Europe Mittelmeer (2017) und Defend Europe Alps (2018) zu nennen. Zur Aktion Defend Europe Alps hielt das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg fest: „Die IB hat im Jahr 2017 eine Kampagne mit dem Titel ‚Defend Europe’ ins Leben gerufen, in deren Rahmen sie für die sofortige Schließung der Grenzen eintritt und Migranten als Bedrohung stilisiert. Bei der jüngsten Aktion ‚Defend Europe Alps‘ haben IB-Aktivisten einen provisorischen Zaun am Gebirgspass Col d’Échelle an der Grenze zwischen Frankreich und Italien errichtet […]. Am Pass angekommen, errichteten die Aktivisten mit Hilfe eines Plastikgitters einen provisorischen Zaun und zwei große 44 Vgl. Christoph Zotter: Mittelmeerroute: Die zynische PR-Aktion der Identitären. profil.at, 20. 09. 2017, URL: https://www.profil.at/ausland/mittelmeerroute-pr-aktion-identitaeren-83 22224 (abgerufen am 13. 11. 2020); JMF Jüdisches Medienforum: Über den rechtsextremen Hintergrund der Identitären, 28. 03. 2019, URL: https://www.ikg-wien.at/jmf-ueber-den-rech tsextremen-hintergrund-der-identitaeren/ (abgerufen am 13. 11. 2020); Redaktion Belltower.News. Netz für digitale Zivilgesellschaft: „Defend Europe“. Wie „identitäre“ PR Einfluss genommen hat, 18. 07. 2018, URL: https://www.belltower.news/defend-europe-wie-identita ere-pr-einfluss-genommen-hat-48258/ (abgerufen am 23. 08. 2020); URL: https://blog.identi taere-bewegung.de/defend-europe-alps-erste-phase-erfolgreich-abgeschlossen-ueberwachu ng-der-grenze-wird-fortgesetzt/ (abgerufen am 23. 08. 2020). 45 Praschl: Die Identitären (Anm. 43). 46 Vgl. URL: https://www.facebook.com/gedenken1683/photos/a.219197212125904/244127839 632841 (abgerufen am 05. 11. 2019). 47 URL: https://www.facebook.com/gedenken1683/photos/wir-werden-in-den-kommenden-ta gen-die-abschlussrede-von-thor-von-waldstein-zur-v/244127839632841/ (abgerufen am 16. 01. 2021). Im September 2019 marschierten AktivistInnen der IBÖ durch die Wiener Innenstadt um der „Befreiung Wiens von der Türkengefahr“ im Jahr 1683 zu gedenken. Bei der anschließenden Kundgebung im Rahmen des alljährlichen Rituals trat 2019 auch die damalige Wiener FPÖ-Stadträtin Ursula Stenzel als Gastrednerin auf.
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Zelte. Außerdem befestigten sie ein riesiges Transparent auf einem Hang. Darauf war auf Englisch zu lesen: „CLOSED BORDER/ YOU WILL NOT MAKE EUROPE HOME!/ NO WAY/ BACK TO YOUR HOMELAND!“ Unter der Parole folgte ein Hinweis auf die Internetpräsenz der französischen IB-Gruppe.“48
Der letzte Satz dieses Zitates verweist darauf, dass in den „identitären“ Vorstellungen der sogenannte Abwehrkampf zwar auch in der realen Welt – auf Straßen, Plätzen, in und auf öffentlichen Gebäuden, in den Bergen oder im Mittelmeer – stattfindet, vor allem aber in der virtuellen Realität, insbesondere in den Sozialen Medien. Die IBÖ ist seit ihrer Gründung 2012 vor allem ein Social Media Phänomen, das gelegentlich den virtuellen Raum verlassen hat, um spektakuläre Aktionen durchzuführen.49 Sie bestand immer nur aus wenigen AktivistInnen, 2018 dürften es etwa 300 Personen gewesen sein. Aktivismus in Form von Flashmobs, Hardbass-Tanzaktionen, Störung kultureller oder wissenschaftlicher Veranstaltungen, Besetzung von Gebäuden und spektakuläre Aktionen wie Defend Europe verbinden die „Identitären“ stets mit professionell gestalteten Social Media Auftritten. Letztere dienen nicht nur dokumentarischen Zwecken, sondern sind oft von größerer Bedeutung als die Aktion selbst.50 Als digital natives nutzen die „Identitären“ sämtliche Möglichkeiten, die Blogs, VLogs, Facebook, Twitter, Tumblr, Instagram, Pinterest, Telegram oder YouTube eröffnen.51 Über Social Media kommunizieren sie ihre Positionen ungefiltert, vermitteln ihre Sicht der gesellschaftlichen Realität, liefern Orientierungs- und Identifikationsangebote und erreichen ein relativ großes Publikum weit über den Kreis des organisierten Rechtsextremismus hinaus. Seit Mitte 2018 mehrere Social Media Anbieter begannen Accounts „identitärer“ AktivistInnen zeitweise oder gänzlich zu sperren 48 URL: https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Startseite/Arbeitsfelder/Die+Kampagne+_ Defend+Europe+Alps_+der+_Identitaeren+Bewegung (abgerufen am 10. 11. 2020). 49 Vgl. Gudrun Hentges, Gürcan Kökgiran, Kristina Nottbohm: Die Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) – Bewegung oder virtuelles Phänomen? In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 3/2014. URL: http://forschungsjournal.de/sites/default/files/fjsbplus/fjsb-plu s_2014-3_hentges_koekgiran_nottbohm_x.pdf (abgerufen 13. 11. 2020). 50 Vgl. Simone Rafael: Auszug aus „Identitäre im Internet. Von Crowdfunding bis Meme Wars“ In: Speit (Hg.): Netzwerk (Anm. 27), S. 135–136. 51 Vgl. Ann-Kathrin Hipp, Katharina Weygold: „Identitäre Bewegung“: Die rechten LikesFänger, Spiegel Online, 13. 08. 2016; Thomas Pfeiffer: Gegenöffentlichkeit und Aufbruch im Netz. Welche strategischen Funktionen erfüllen Websites und Angebote im Web 2.0 für den deutschen Rechtsextremismus? In: Strategien der extremen Rechten: Hintergründe – Analysen – Antworten. Hg. von Stephan Braun, Alexander Geisler, Martin Gerster. Wiesbaden: Springer Verlag 2016, S. 259–286; Roland Sieber: Von „Unsterblichen“ und „Identitären“. In: Braun, Geisler, Gerster: Strategien (Anm. 51), S. 365–376; Fabian Virchow: The Identitarian Movement: What Kind of Identity? Is It Really a Movement? In: Digital Media Strategies of the Far Right in Europe and the United States. Hg. von Patricia Anne Simpson, Helga Druxes: Lanham: MD: The Rowman & Littlefield Publishing Group. 2015, S. 177–190.
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und diese ihre Aktivitäten auf neue Accounts oder auch andere Plattformen verlegen mussten, hat die Organisation zwar an Reichweite verloren, ist aber immer noch präsent genug. Ihre Anschlussfähigkeit für ein Publikum, das sich selbst nicht unbedingt als rechtsextrem sieht, ist vor allem auf den kommunikativen Stil der „Identitären“ zurückzuführen, der sich an popkulturellen Elementen orientiert. Ein Beispiel dafür stellt eine Folge aus der YouTube Serie Martin Sellner live dar, die den Titel Patriotischer Deutschrap. Ich höre „Neuer Deutscher Standard“ von Ares & „Prototyp“ trägt, am 13. September 2019 live gestreamt wurde und bis 27. November 2019 über 17.800 Aufrufe verzeichnete. Martin Sellner zeigt in dieser Folge ein Video (vgl. Abb. 4 und Abb. 5) des rechtsextremen, der „Identitären Bewegung“ nahe stehenden Rappers Chris Ares, der seine musikalische Karriere im September 2020 beendete, nachdem er bereits auf mehreren Musikplattformen und auf YouTube gesperrt worden war. Ares gilt als „Vorzeigemusiker der sogenannten ‚neuen‘ Rechten“.52 Das rechtsextreme Magazin Compact nannte ihn im November 2019 „Held des Widerstands“ und widmete ihm die CoverStory.53 Den Rückzug des Deutsch-Rappers, den dieser ebenfalls über Social Media kommunizierte, führte Sellner in einer bedauernden Stellungnahme auf seinem YouTube Kanal am 28. 09. 2020 vorrangig auf einen ironisch-sarkastischen Artikel von Belltower.News zurück: „Ich glaube eine der schlimmsten Enttäuschungen für ihn war dieser Artikel von Belltower.News, ein hämischer Antifa Titel: ‚Niemand will Chris Ares, nicht mal die AfD‘.“54 Das von Sellner im September 2019 präsentierte Musikvideo wird von ihm nahezu enthusiastisch kommentiert. Sellner stellt fest, „(d)as Lied setzt neue Maßstäbe im patriotischen Rap“ und spricht vom „Stolz, dass sowas aus unserem Lager kommt“. Das Lied sei „extrem genial“ und der Text „geil und patriotisch“ und komme zudem „richtig aggressiv rüber.“55 Der Text, der einen „Neuen Deutschen Standard“ gegen das angeblich den deutschen Rap beherrschende und von „Drogenrappern“ vorgetragene „Ghettogelaber“ setzt, spricht eine für das Genre übliche, drastische Sprache, im konkreten Fall eine rassistisch bzw. kultur-rassistisch und sexistisch geprägte. Dies wird an herabwürdigenden Benennungen von AkteurInnen („Nutten“, 52 Juri Mertens: Verachtendes Verständnis? Rechte Reaktionen auf den Rückzug von Chris Ares. In: Belltower. News Netz für digitale Zivilgesellschaft. 30. 09. 2020, URL: https://www.belltowe r.news/verachtendes-verstaendnis-rechte-reaktionen-auf-den-rueckzug-von-chris-ares-104 931/ (abgerufen am 13. 11. 2020). 53 Vgl. Mertens: Verachtendes Verständnis? (Anm. 52). 54 Mertens: Verachtendes Verständnis? (Anm. 52). 55 Martin Sellner Live: Patriotischer Deutschrap. Ich höre „Neuer Deutscher Standard“ von Ares & „Prototyp“. YouTube. 13. 09. 2019. Das Video ist auf YouTube nicht mehr verfügbar, letztmalig abgerufen am 27. 11. 2019.
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Abb. 4: Screenshot aus dem YouTube Video Martin Sellner Live: Patriotischer Deutschrap. Ich höre „Neuer Deutscher Standard“ von Ares & „Prototyp“, 13. 09. 2019
Abb. 5: Screenshot aus dem YouTube Video Martin Sellner Live: Patriotischer Deutschrap. Ich höre „Neuer Deutscher Standard“ von Ares & „Prototyp“, 13. 09. 2019
„scheiß Drogenrapper“, „Heuchler“) deutlich. Es kommt aber auch in der offen rassistisch-ausländerfeindlichen und zum Teil auch an traditionelle antisemitische Verschwörungsmythen erinnernden Beschreibung von Aktivitäten („Ghettogelaber“, „Jugend um die Ecke gebracht“, „Jugend vergiftet“) zum Ausdruck. Überlegenheits- und Machtphantasien („uns’re Welle“, „Wir machen die Deutschen stolz“, „NDS legt euch in Ketten“, „Deutsches Blut“, „Salutier!“) und he-
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roisierende Kampfrhetorik („Patrioten die sich wehr’n“, „Doch wir zwei weichen nicht bis uns das Land gehört“) ergänzen das Bild: „Deutscher Rap besteht aus Nutten die von Geld und Drogen reden Wir sind NDS und uns’re Welle wird jetzt losgetreten Wir machen die Deutschen stolz, das ganze Land steht auf dem Kopf […] Ich scheiß’ auf euer Ghettogelaber […] Scheiß auf den Rap den ihr macht (Den ihr macht) NDS legt euch in Ketten […] Diese Wut in uns’re Texte verpackt Denn ihr Heuchler habt die Jugend um die Ecke gebracht Scheiß auf den Rap den ihr macht (Den ihr macht) […] Prototyp Patriot, Polizei Aufgebot […] Aufrecht stehen, absolut, gerade geh’n, Deutsches Blut […] Patrioten die sich wehr’n, wir ham’ von dem Scheiß genug BRD hart gestört, BND abgehört Doch wir zwei weichen nicht bis uns das Land gehört. […] An jeden scheiß Drogenrapper, der uns’re Jugend vergiftet […] Wir sind der Neue Deutsche Standard Salutier!“56
Durch seine mehr als positive Bewertung bewirbt Sellner dieses auch auf der visuellen Ebene sehr martialisch inszenierte Musikstück, das neben zahlreichen Referenzen auf nationalsozialistischen Sprachgebrauch eine Form gewaltbereiter, wehrhafter, soldatischer Männlichkeit verherrlicht, die auf der Konstruktion kultureller (und moralischer) Überlegenheit der „Deutschen“ (als VertreterInnen eines „weißen Europa“) beruht.
4.
Resümee
Die „Identitären“ verstehen sich als Teil der internationalen Alt Right, die vorrangig auf Soziale Medien als Mittel strategischer politischer Kommunikation setzt. Die Kommunikationswissenschafterin Angela Nagle spricht in diesem Zusammenhang von „Online-Kulturkämpfen“ mit dem Ziel einer „digitalen Gegenrevolution“ zur Erlangung kulturellen Einflusses auf den gesellschaftlichen Mainstream.57 Martin Sellner formulierte in einem Interview mit der neurechten Wochenzeitung Junge Freiheit „Meinungsdogmen“ und „Diskursräume“ aufzubrechen als Ziele der „Identitären“. Er beschrieb die IB als „metapolitische 56 URL: https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=neuer+deutscher+standard+ chris+ares (abgerufen am 14. 11. 2020). 57 Angela Nagle: Die digitale Gegenrevolution. Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump. Bielefeld: transcript Verlag 2018.
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Avantgarde“ die „die Gesetze des Marketings, der sozialen Medien und des Gesellschaftsspektakels verstanden“ hätte.58 Der Journalist Timo Brücken hatte bereits 2013 Aktionen der IB als „Fremdenhass verpackt als Spaßguerilla“ bezeichnet.59 Die politische Kommunikationsstrategie der „Identitären Bewegung“ versucht zwar „den Rassismus modern und hip [zu] machen“60, letztlich ist aber nicht viel Modernes zu finden. Vielmehr beruht sie auf einem verbalen und visuellen Mix aus rechtskonservativen sowie – auf den ersten Blick nicht immer sofort erkennbaren – rechtsextremen Positionierungen, und beinhaltet deutliche Bezugnahmen auf nationalsozialistische Denktraditionen und Bilderwelten. So folgt beispielsweise die als Gegenmodell zur repräsentativen Demokratie propagierte Vorstellung einer „identitären“ und „organischen“ Demokratie,61 die Heimat und Identität bewahren soll, und in der die Rechte des Volkes über individuellen Freiheitsrechten stehen, nationalsozialistischen Konzepten völkischen Kollektivrechts, mit dem Ziel der Auflösung jeglicher bestehender Rechtsnormen. Für nationalistisch-rassistische Politik essentielle, heteronorme Geschlechterkonstruktionen und daraus abgeleitete traditionelle Geschlechterrollen, die biologische Reproduktion als zentrale Aufgabe für Frauen festschreiben, spielen auf der verbalen wie auch der visuellen Ebene „identitärer“ Kommunikation eine entscheidende Rolle.62 Exemplarisch wurde dies im vorliegenden Beitrag gezeigt. Abgesehen von Social Media Aktivitäten pfleg(t)en AktivistInnen der IB dauerhafte Kontakte zu anderen rechtsextremen Gruppierungen und zu Neonazis, zu Burschenschaften, zu den deutschen Pro-Bewegungen (wie etwa Pro Köln, Pro NRW oder Pro Chemnitz)63, zu PEGIDA, zur NPD, zur AfD und zur FPÖ.64 Diese Querverbindungen zu und Kooperationen mit rechtsextremen Parteien, Gruppierungen, Institutionen und AkteurInnen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene bleiben wohl bestehen, auch wenn aus der 58 Speit (Hg.): Netzwerk (Anm. 27), S. 9. 59 Timo Brücken: Rechte Jugendbewegung „Identitäre“. Flashmob der Islamhasser, Spiegel Online, 01. 02. 2013. URL: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/identitaere-rechtse xtreme-islamfeinde-machen-auf-jugendbewegung-a-880400.html (abgerufen am 13. 10. 2020). 60 Alexander Häusler: Nation. In: Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe. Hg. von Bente Gießelmann, Robin Richterich, Benjamin Kerst: Schwalbach: Wochenschau Verlag 2015, S. 199–209, hier 203. 61 Janssen: Geliebter Feind (Anm. 18). 62 Vgl. Marvin Alster: Die Identitären – Rassisten und Kulturalisten. 2013, URL: http://www.c onne-island.de/index.html (abgerufen am 05. 08. 2016). 63 Aktiv vor allem zwischen 2004/2005 und 2017/2018. 64 Vgl. Hentges, Kökgiran, Nottbohm: Die Identitäre Bewegung Deutschland (Anm. 49); Thalhammer: Das Netzwerk der Identitären (Anm. 2); Konrad-Adenauer-Stiftung – Rechtsextremismus. https://www.kas.de/en/web/rechtsextremismus/die-pro-parteien (abgerufen am 16. 01. 2021).
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„Identitären Bewegung“ „nichts Großes mehr“ werden sollte, wie Götz Kubitschek vermutet.65 Seit November 2020 ist etwa Roman Möseneder, ein Vertreter der „Identitären Bewegung“, Funktionär im Ring Freiheitlicher Jugend,66 einer Vorfeldorganisation der Freiheitlichen Partei Österreich. FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz stellte in einem Interview mit dem rechtsextremen Onlinemagazin Info-Direkt dazu fest: „Mit dieser Distanziererei“ sei es nun aber „definitiv vorbei“.67 Selbiges gilt wohl auch für Kooperationen mit AktivistInnen der von Martin Sellner mitgegründeten Nachfolgeorganisation „Die Österreicher – DO5“, die sich als Sprachrohr für alle „Patrioten“ Österreichs sieht, die den fantasierten „Großen Austausch“ stoppen wollen.68 Die Österreicher bewerben auf ihrer Website und ihren Social Media Accounts auch die Demonstrationsaufrufe der Gruppe „CoronaWIDERSTAND.org“ und verlinken zu deren Telegram-Account. Die Covid-19 Pandemie und damit verbundene Verschwörungsszenarien nützen sie als Möglichkeit breitere Allianzen zu bilden und sich innerhalb der heterogenen Gruppe jener zu positionieren, die gegen Maßnahmen zur Bekämpfung des Covid-19 Virus protestieren. Auf mitgeführten Transparenten ist beispielsweise „Heimatschutz statt Mundschutz“ zu lesen. „Die Corona-Krise bringt politisch Rechte und VerschwörungstheoretikerInnen noch näher zusammen. Sie verhöhnen die Maske als ‚Regierungsburka‘“ bemerkte dazu der Journalist Karl Fluch.69 „Die Österreicher“ verstehen diese Kundgebungen nicht nur als Protest gegen die Maßnahmen der österreichischen Regierung bzw. gegen die Bundesregierung, letztlich sehen sie darin eine Aktion gegen das demokratische politische System selbst.
65 Simone Rafael: Ende Der IB? Götz Kubitschek erklärt die „Identitäre Bewegung“ für „Bis Zur Unberührbarkeit Kontaminiert“. In: Belltower News. Netz für digitale Zivilgesellschaft. 09. 11. 2019, URL: https://www.belltower.news/ende-der-ib-goetz-kubitschek-erklaert-die-identi taere-bewegung-fuer-bis-zur-unberuehrbarkeit-kontaminiert-92799/ (abgerufen am 23. 12. 2019). 66 Neuhold, Thomas. Hardcore-Rechter im Vorstand der Salzburger FPÖ-Jugend. 23. 11. 2020. In: DerStandard. https://www.derstandard.at/story/2000121925439/hardcore-rechter-wird-c hef-der-salzburger-fpoe-jugend (abgerufen am 14. 12. 2020). 67 Leonhard, Ralf: FPÖ in Österreich: Kuscheln mit Extremen. In: taz.de. https://taz.de/FPOe-in -Oesterreich/!5734708/ (abgerufen am 16. 01. 2021). 68 Addendum: Rechtsextreme Bürgerbewegung DO5: Alte Ideen in neuem Gewand. 12. 01. 2020. URL: https://www.addendum.org/news/rechtsextreme-buergerbewegung-do5/ (abgerufen am 16. 01. 2021). 69 Karl Fluch: FPÖ-Anti-Corona-Demo: Viel Feind, viel Ehr. Die Corona-Krise bringt politisch Rechte und Verschwörungstheoretiker noch näher zusammen. Sie verhöhnen die Maske als „Regierungsburka“. In: Der Standard 23. 05. 2020. URL: https://www.derstandard.at/stor y/2000117642285/viel-feind-viel-ehrdie-corona-krise-bringt-politisch-rechte-und (abgerufen am 16. 01. 2021).
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Eugen Pfister
Spiel ohne Juden – Zur Darstellung des Holocausts in digitalen Spielen1
Zusammenfassung Im Idealfall wird die kollektive Erinnerung an den Holocaust regelmäßig auch in unserer Populärkultur am Leben erhalten, da moderne Gesellschaften hier ihre Werte und Normen verhandeln. Mehr als dreißig Jahre lang war der Holocaust in digitalen Spielen ein Tabu – zum Teil begründet in der deutschen Gesetzgebung. Das erinnert an die anfängliche Debatte über das „Bilderverbot“ zum Holocaust und die Kontroversen anlässlich von Schindlers Liste. De facto führte dieses Tabu aber auch zu einer gefährlichen Entpolitisierung des NS-Regimes in digitalen Spielen. In der jüngsten Vergangenheit hat der Holocaust aber doch seinen Weg in Spiele gefunden, wenn auch oft fiktional in ScienceFiction-Settings umgesetzt. Schlagwörter Computerspiele, Holocaust, 2. Weltkrieg, Populärkultur, Zeitgeschichte, Ideengeschichte Abstract Imaginations of the Holocaust in Digital Games In an ideal situation the collective commemoration of the Shoah is kept alive on a regular basis, as modern societies negotiate their values and norms through popular culture. But for more than thirty years the Holocaust has been a taboo in digital games – in parts due to German legislation – reminding us of the initial debate on the “Bilderverbot” concerning the Holocaust and the controversies on the occasion of Schindler’s List. This taboo led de facto to “whitewash” the German Reich in video games. The Holocaust has however found a way into games, albeit often fictionally transformed in Science Fiction settings.
Eugen Pfister, Hochschule der Künste Bern, E-Mail: [email protected], ORCID id: http s://orcid.org/0000-0003-3422-4697 1 Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine grundsätzlich überarbeitete und erweiterte Übersetzung von: Eugen Pfister: „Man spielt nicht mit Hakenkreuzen!“ Imaginations of the Holocaust and Crimes Against Humanity During World War II in Digital Games. In: Alexander von Lünen et al. (ed.): Historia Ludens. The Playing Historian. London: Routledge 2019, S. 267– 284.
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Eugen Pfister
Keywords Video Games, Holocaust, Second World War, Popular Culture, Contemporary History, History of Ideas
Kollektives Gedenken und digitale Spiele Fast jedes zweite digitale Spiel, das einen historischen Krieg als Setting nutzt, greift dazu auf den Zweiten Weltkrieg zurück.2 Vorrangig funktioniert der Zweite Weltkrieg wie eine Marke: Spieler*innen wissen sofort, woran sie sind, finden sich rasch im Setting zurecht und können unmittelbar Freund von Feind unterscheiden, wodurch von Anfang an ein hoher Grad an Identifikation gegeben ist. Gut und Böse sind im Zweiten Weltkrieg klar definiert. „While the Second World War was undoubtedly much more complex than these simple binaries imply, the popular understanding of the war, as represented by mainstream films, documentaries, books, and video games, is one of good versus evil.“3 In einem amerikanischen Kontext wurde der Krieg zum „good war“, zum letzten „guten Krieg“, in dem der Einsatz des Militärs eindeutig gerechtfertigt war: „The war era is still often seen as a time of moral authority and consensus, in which the whole nation united for a common cause.“4 Der Zweite Weltkrieg nimmt aber auch eine Ausnahmestellung in einem (west-)europäischen kollektiven Gedächtnis ein. Allerdings waren Spiele bisher nur bedingt als echter Erinnerungsort geeignet; das radikal Böse, jener Moment, der diesen kriegerischen Konflikt von allen bisherigen Konflikten auf brutale Weise abhebt, wurde nicht angesprochen, er wurde ausgespart, weggelassen. Die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes, insbesondere an den Holocaust, ist integraler Bestandteil der (west-)deutschen Nachkriegsidentität und seit 1986, mit gehöriger Verzögerung – auch einer offiziellen österreichischen Selbstbeschreibung. 2019 erklärte eine Studie der Jewish Claims Conference:5 2 Vgl. Eugen Pfister: Von Kriegen und Spielen. In: WASD 13 (2018), S. 134–137 und Johannes Breuer, Ruth Festl, und Thorsten Quandt: In the Army Now – Narrative Elements and Realism in Military First Person Shooters. In: DiGRA ’11 – Proceedings of the 2011 DiGRA International Conference: Think Design Play, URL: www.digra.org/digital-library/publications/in-the -army-now-narrative-elements-and-realism-in-military-first-person-shooters/ (abgerufen am 17. 02. 2019). 3 Trent Cruz: It’s Almost Too Intense: Nostalgia and Authenticity in Call of Duty 2. In: Loading 1/1 (2007). URL: http://journals.sfu.ca/loading/index.php/loading/article/view/7 (abgerufen am 01. 12. 2018), S. 1. 4 Tanine Allison: The World War II Video Game, Adaptation, and Postmodern History. In: Literature/Film Quarterly 38/3 (2010), S. 183–193, hier S. 183. 5 Die Conference on Jewish Material Claims Against Germany vertritt Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer des Nationalsozialismus und Holocaust-Überlebender.
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Spiel ohne Juden – Zur Darstellung des Holocausts in digitalen Spielen
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„Auf die Frage, Todes- oder Konzentrationslager oder Ghettos zu nennen, von denen sie schon gehört haben, konnten 42 Prozent der Österreicher*innen das österreichische Todeslager Mauthausen nicht nennen, ein Todeslager, das für seine grausamen Haftbedingungen bekannt war und das nur rund 160 Kilometer von der österreichischen Hauptstadt Wien entfernt liegt.“6
Weiters heißt es: „Mehr als ein Drittel aller ÖsterreicherInnen (36 %) und 42 Prozent der um die Jahrtausendwende Geborenen und der Generation Z in Österreich glauben, dass zwei Millionen oder weniger Juden während des Holocaust ermordet wurden.“7 Zeitgleich wird die Verurteilung des nationalsozialistischen Regimes von einer erstarkten extremen Rechten immer eindeutiger und öffentlicher hinterfragt: Alexander Gauland, Fraktionsvorsitzender der Alternative für Deutschland, hat 2018 die NS-Zeit als ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte abgetan, und der ehemalige österreichische Innenminister Herbert Kickl (Freiheitliche Partei Österreichs) hatte Pläne angekündigt, Flüchtlinge in „Lagern“ zu „konzentrieren“. Das Erstarken solch revisionistischer Tendenzen zeigt in aller Deutlichkeit, wie wichtig ein kontinuierlicher Prozess des kollektiven Gedenkens und Erinnerns gerade heute ist. Laut einer vom Marktforschungsinstitut GfK durchgeführten Umfrage von 2017 spielen 62 % der Bevölkerung regelmäßig – das heißt mehrmals im Monat – digitale Spiele.8 Die Ursache für den Rückgang an Wissen zum Holocaust liegt naturgemäß nicht in der weiterhin zunehmenden Verbreitung und Reichweite digitaler Spiele begründet. Wenn wir uns aber die Frage stellen, wie wieder ein größerer Teil der österreichischen und deutschen Bevölkerung von den Verbrechen des NS-Regimes erfahren kann und soll, führt kein Weg an der Populärkultur und insbesondere an digitalen Spielen vorbei. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden nach Imaginationen von NSKriegsverbrechen und insbesondere des Holocaust in digitalen Spielen suchen, um festzustellen, ob es bereits eine Form des kollektiven Gedenkens in digitalen Spielen gibt, und wenn ja, wie sich diese entwickelt hat. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt ganz allgemein nach Imaginationen des Zweiten Weltkriegs in digitalen Spielen fragen und mich dabei insbesondere auf den deutschen und österreichischen Fall konzentrieren. Die Gültigkeit der folgenden Gedanken ist dabei aber nicht auf Deutschland und Österreich beschränkt, denn: „Der Holocaust hat inzwischen eine globale Bedeutung als Bezugspunkt erlangt, 6 Österreich-Studie im Auftrag der Jewish Claim Conferenece, durchgeführt von Schoen Consulting, 02. 05. 2019, URL: https://www.claimscon.de/fileadmin/user_upload/dateien/Executi ve_Austria-Deutsch.pdf (abgerufen am 16. 06. 2020). 7 Ebd. 8 Vgl. Österreichischer Verband für Unterhaltungssoftware (Hg.), Gaming in Austria 2017, o.D., URL: https://www.ovus.at/news/fast-5-millionen-osterreicher-spielen-videogames/ (abgerufen am 17. 02.2020).
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Eugen Pfister
der das symbolisiert, was Menschen in aller Welt unter keinen Umständen zulassen sollten.“9
Kollektive Erinnerung in digitalen Spielen Spiele sind eine lohnende Quelle für ein im wahrsten Sinne „populäres“ kollektives Gedächtnis, auch weil sie von den klassischen Akteur*innen einer kollektiven Erinnerungspolitik lange vernachlässigt wurden. Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in digitalen Spielen steht insofern nicht für eine offizielle Erinnerung, sondern entspringt zum einen den Traditionen und Gesetzmäßigkeiten der Populärkultur und versucht zum anderen, den Erwartungen eines zahlenden Publikums zu gefallen. Digitale Spiele, vor allem jene mit hohen Produktionskosten, wollen einem möglichst breiten Spektrum gefallen. Das heißt, dass die Marketingabteilungen der riesigen, weltweit agierenden Spielevertriebe versuchen, Geschmäcker und Wünsche rechtzeitig zu antizipieren und vor allem Kontroversen aus dem Weg zu gehen. Zudem sind digitale Spiele zu Massenmedien geworden. Sie kommunizieren Erzählungen, Regelhaftigkeiten und Weltbilder. Seit ihrem Erscheinen auf einem globalen Markt Mitte der 1970er Jahre haben sie ihre Reichweite vervielfacht: Call of Duty: World War II (2017) etwa verkaufte sich in nur zwei Monaten zwölf Millionen Mal. Als Massenmedien, die deshalb bis zu einem gewissen Grad mit Filmen, Fernsehserien, Romanen oder Zeitungen vergleichbar sind, kommunizieren, verhandeln und konstruieren Spiele unsere kollektiven Erinnerungen und Identitäten. Sie sind sowohl ein Produkt als auch ein Produzent von Kultur. Digitale Spiele nehmen so aktiv an der Gestaltung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit teil10 Die dabei in Spielen kommunizierten Imaginationen der Geschichte sind aber nicht unstrukturiert – sie entstehen nicht willkürlich, sondern gehorchen den diskursiven Regeln des Sagbaren –, noch sind aber Spieleentwickler*innen und Spieler*innen gleichberechtigt an ihrer Konstruktion beteiligt. Wir befinden uns nach den deutschen Kulturwissenschaftler*innen Aleida
9 Andreas Langenohl: Memory in Post-Authoritarian Societies. In: Astrid Erll and Ansgar Nu¨ nning (ed.): An International and Interdisciplinary Handbook. Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 163–172, hier S. 166. 10 Vgl. Eugen Pfister: Der Politische Mythos also Diskursive Aussage im Digitalen Spiel. Ein Beitrag aus der Perspektive der Politikgeschichte. In: Digitale Spiele im Diskurs. Hg. von Thorsten Junge und Claudia Schumacher. Hagen: Fernuniversität Hagen 2018. URL: https:// ub-deposit.fernuni-hagen.de/receive/mir_mods_00001258 (abgerufen am 12. 06. 2020).
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Assmann und Jan Assmann an der Schwelle von einem „kommunikativen“ zu einem „kulturellen Gedächtnis“.11 Zugleich gilt es festzuhalten, dass sich das Gedenken an Verbrechen des NSRegimes längst nicht mehr nur auf Schulbücher, Dokumentarfilme und Gedenkstätten beschränkt, sondern zu großen Teilen auch in unserer Populärkultur stattfindet. Im Idealfall wird diese Erinnerung in Spielfilmen, Romanen und Theaterstücken ständig aufrechterhalten. Gerade in unseren heutigen Mediengesellschaften wird das kulturelle Gedächtnis immer abhängiger von „media technologies and the circulation of media products“.12 Spätestens seit den 1970er Jahren ist unsere kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht mehr vom Gedenken an den Holocaust zu trennen. „Films about the ‚Third Reich,‘ the Holocaust, the Second World War and its aftermath abound. Judging from its prevalence and impact, ‚film‘ seems to have become the leading medium of popular cultural memory.“13 Es ist sinnvoll, zunächst einen Blick auf Darstellungen des Holocaust im Spielfilm zu werfen, bevor wir uns den digitalen Spielen zuwenden, auch weil Filme heute zum Beispiel als Erinnerungsort an den Holocaust weithin akzeptiert und zugleich auch für Spiele eine wichtige Quelle narrativer Tradierungen sind.14 Das war nicht immer der Fall: Steven Spielbergs Schindlers Liste (1993) wurde – trotz oder vielleicht gerade wegen seines Erfolgs15 – zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung ähnlich deutlich kritisiert wie zuvor die Fernsehserie Holocaust (1978). Es wurde befürchtet, dass Spielfilme den Holocaust trivialisieren würden. Claude Lanzmann, Regisseur des Shoah-Dokumentarfilms (1985), lehnte Spielbergs Film kategorisch ab, insbesondere wegen seines „fetishism of style and glamour“.16 Und der amerikanische Filmkritiker James Hoberman fragte 1996 in Bezug auf Filme: „Is it possible to make a feel-good entertainment about the ultimate feel-bad experience of the 20th century?“17 Ähnliche Argumente finden sich interessanterweise auch in der aktuellen Kritik an digitalen Spielen: „Where the line of decency is drawn is somewhat dependent on whether you consider 11 Jan Assmann: Communicative and Cultural Memory. In: Erll/Nu¨ nning (ed.): Handbook (Anm. 9), S. 109–118, hier S. 110. 12 Astrid Errl: Cultural Memory Studies: An Introduction. In: Erll/Nu¨ nning (ed.): Handbook (Anm. 9), S. 1–18, hier S. 9 13 Astrid Errl: Literature, Film, and the Mediality of Cultural Memory. In: Erll/Nu¨ nning (ed.): Handbook (Anm. 9), S. 389–398, hier S. 395. 14 Eugen Pfister: Das Unspielbare Spielen – Imaginationen des Holocaust in Digitalen Spielen. In: Zeitgeschichte 4/2016, S. 250–263. 15 Vgl. Christoph Classen: Balanced Truth: Steven Spielberg’s Schindler’s List among History, Memory, and Popular Culture. In: History and Theory 47 (2009), S. 77–102, hier S. 78. 16 Miriam Hansen: „Schindler’s List“ is not „Shoah“: The Second Commandement, Popular Modernism, and Public Memory. In: Critical inquiry 22/2 (1996), S. 292–312, hier S. 296. 17 Ebd., S. 297.
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video games art, storytelling or a braindead way to kill time, blasting pixels in increasingly gross ways while memorizing movement patterns.“18 Ein erster Vergleich zwischen Film und digitalen Spielen kann uns also helfen, die aktuelle Debatte besser zu begreifen, reicht aber nicht aus, um sie in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Dazu müssen wir die Geschichte der digitalen Spiele im Hinblick auf die Imaginationen des Zweiten Weltkriegs selbst genauer betrachten.
Guderian & Patton: Die 1980er Jahre Während sich die frühe Spielkonsolenindustrie (d. h. Atari, Nintendo, Sega usw.) in den 1980er Jahren professionalisierte, waren die ersten Strategiespiele für Heimcomputer noch weit von den Millionen-Dollar-Umsätzen und dem Millionenpublikum von heute entfernt. Spiele, wie Eastern Front 1941 (1981) und Guderian (1987), waren meist das Ergebnis kleiner Programmierteams mit überschaubaren Budgets. Die frühesten Spiele hatten überhaupt keine grafischen Elemente und auch spätere Spiele mussten zunächst noch mit einer begrenzten Farbpalette und niedriger Auflösung auskommen. Dessen ungeachtet wurde der Zweite Weltkrieg schnell zu einem der beliebtesten historischen Schauplätze für digitale Spiele.19 Die ersten Simulationen standen in der Tradition der vor allem in den USA sehr beliebten Konfliktsimulationen, die seit den 1950er Jahren boomten. Dabei handelte es sich um komplexe Brettspiele. Spätere digitale Spiele zeigten die Einflüsse ihrer analogen Vorfahren, wobei der Brettspielproduzent Avalon Hill bis 1990 auch zu einem der bekanntesten Herausgeber von digitalen Kriegsspielen wurde.20 Diese stellten den Zweiten Weltkrieg nicht, wie wir es heute aus der Populärkultur gewohnt sind, als einen ideologischen Konflikt vor, sondern als einen abstrakten (und berechenbaren) Wettstreit zweier gleichberechtigter Gegner, vergleichbar etwa dem Schachspiel. Die Ursachen des Krieges wurden weder in den Spielen selbst, beispielsweise in einführenden Texten am Bildschirm, noch in den Handbüchern erwähnt. Die Gegner – auf der einen Seite die Achsenmächte und auf der anderen die Alliierten – wurden als gleichwertig in Kraft und Tapferkeit dargestellt. Solche Imaginationen des Zweiten Weltkriegs stehen erstens in der Tradition des preußischen „Kriegsspiels“ des 19. Jahrhun18 Jordan Hoffman: Major New Game Set at Nazi Concentration Camp Is Top Seller. In: timesofisrael.com, 17. 06. 2014. URL: www.timesofisrael.com/major-new-game-set-at-nazi-conc entration-camp-is-top-seller (abgerufen am 12. 06. 2020). 19 Vgl. Thomas Robinho: Jeux Vidéo et Histoire. In: Le Débat 177/5 (2012), S. 110–116, hier S. 112. 20 Henry Lowood: War Engines: Wargames as Systems from the Tabletop to the Computer. In: James F. Dunnigan (ed.), Zones of Control: Perspectives on Wargaming, Cambridge (MA): MIT Press 2016, S. 83–106, hier S. 100.
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derts, einer ludifizierten Abstraktion der Kriegsführung, die jungen preußischen Offizieren das Kriegshandwerk beibringen sollte,21 und zweitens in der Tradition der überaus populären Kriegsfilme der Nachkriegszeit, von Der längste Tag (1962)22 über Patton – Rebell in Uniform (1970)23 bis zu Die Brücke von Arnheim (1977)24. Die frühen Spiele übernahmen hier eine gewisse „sportliche“ Wertschätzung für die Leistungen des Feinds, insbesondere für bestimmte deutsche Offiziere (z. B. Erwin Rommel, 1891–1944), vor allem aber eine Faszination für die deutsche Kriegsmaschinerie.25 Dabei transportierte die Spielmechanik um der Spielbarkeit willen das Bild eines entpolitisierten Kriegs.26 Im Handbuch zu Knights of the Desert aus dem Jahr 1983 bekam der historische Hintergrund elf Seiten eingeräumt, eine klassische Heldengeschichte: „Then came the battle of the nerves that had to be fought many times in North Africa – the British commander trying to prepare a telling blow with scarce resources while holding off Prime Minister Winston Churchill’s insistent call for immediate action.“27 Nur zögerlich wurde auf das Besondere des Zweiten Weltkriegs eingegangen, wie man hier im ersten Absatz des Handbuchs von Microproses Crusade in Europe aus dem Jahr 1985 nachlesen kann: „EUROPE, JUNE 5, 1944: The dark night of Nazi oppression enshrouds the continent. For three long years the nations of Europe have endured the brutal occupation.“28 Etwa zeitgleich kam es im deutschsprachigen Raum zum großen Sündenfall der Computerspielgeschichte: den in Deutschland indizierten, nur illegal erhältlichen und vor allem innerhalb rechtsextremer Kreise verbreiteten KZ-Manager, der Ende der 1980er Jahre im Stile einer kruden Wirtschaftssimulation das Management eines Konzentrationslagers zur Spielmechanik machen sollte. Bis heute konnte nicht geklärt werden, wer hinter der Entwicklung dieses „Spiels“ steht.29 21 Vgl. Josef Köstlbauer: „Operationen an den Grenzen des Spiels. Annäherungen an das Simulationsspiel“ In: portal-militaergeschichte.de, DOI: 10.15500/akm.06. 02. 2017, URL: http:// portal-militaergeschichte.de/koestlbauer_operationen. 22 Vgl. Ken Annakin, Andrew Marton, Bernhard Wicki, Darryl F. Zanuck und Gerd Oswald: Der längste Tag, US 1962 23 Vgl. Franklin J. Schaffner: Patton – Rebell in Uniform, US 1970. 24 Vgl. Richard Attenborough: Die Brücke von Arnheim, US/UK 1977. 25 Vgl. Steffen Bender, Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld: Transcript, 2012, S. 108. 26 Vgl. Ebd., S. 129 und Jeff Hayton: Digital Nazis: Genre, History and the Displacement of Evil in First-Person Shooters. In: Nazisploitation! The Nazi Image in Low-Brow Cinema and Culture. Hg. von Daniel Mangilow, Kristin Vander Lugt und Elizabeth Bridges. New York: Continuum 2012, S. 2008–218, hier S. 207. 27 Handbuch zu Knights of the Desert, S. 13. 28 Handbuch zu Crusade in Europe, S. 3. 29 Vgl. Micahel Preute: Rechts um – zum Abitur: der geistige Wandel an deutschen Oberschulen. Berlin: Ch. Links Verlag 1995, S. 10.
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Aces over Europe & Panzer General: Die 1990er Jahre Immer leistungsfähigere Personalcomputer ermöglichten in den 1990er Jahren mit moderner Vektorgrafik die Darstellung aufregender Luftkämpfe, die Zweiter Weltkriegs-Flugsimulatoren zur Popularität verhalfen. Während in Handbüchern (z. B. dem Handbuch zu Aces over Europe (1993) nun vermehrt die Unrechtmäßigkeit der deutschen Kriegserklärung gegen Polen angesprochen wurde, fanden weder die menschenverachtende Ideologie des NS-Regimes noch der Holocaust Erwähnung.30 Mit ihrer wachsenden Reichweite und den steigenden Verkaufszahlen rückten digitale Spiele langsam mehr in den Fokus einer größeren Öffentlichkeit insbesondere in (West-)Deutschland, wo der unbedarfte Zugang zu dem Thema zunehmend mit einem offiziellen Gedenken an den Zweiten Weltkrieg kollidierte. Dies führte in den 1990er Jahren zur Indizierung und damit de facto zum Verkaufsverbot von zwei Spielen. Das eine war Wolfenstein 3D (1993), ein erster dreidimensionaler First Person-Shooter (FPS), der im Zweiten Weltkrieg spielt, allerdings in einem fiktional überzeichneten Setting.31 Der Grund für die Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften der Bundesrepublik Deutschland, die später in Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien umbenannt wurde, war tatsächlich aber nicht der historische Hintergrund, sondern die Verherrlichung der Selbstjustiz und die exzessive Gewalt des Spiels. Das andere Spiel war Panzer General, das im Juni 1996 indiziert wurde. Die Artikel 86 und 86a des deutschen Strafgesetzbuches verbieten in Deutschland das Verwenden von Symbolen „verfassungswidriger Organisationen“. Das umfasst zwar auch Symbole der KPD und aktueller Terror-Organisationen, vor allem aber Symbole des NS-Staates. Ausgenommen von diesem Verbot sind Darstellungen von NS-Symbolen nur dann, wenn sie der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst, der Forschung oder der Lehre dienen. Interessanterweise waren hier die §§ 86 und 86a nicht Auslöser, denn das Spiel hatte vorauseilend auf die Verwendung des Hakenkreuzes verzichtet und stattdessen das „Balkenkreuz“ (das von der deutschen Wehrmacht verwendet wurde) zur Kennzeichnung der deutschen Truppen gewählt. Das Spiel wurde vielmehr deshalb auf den Index gesetzt, weil es inhaltlich als „kriegsverharmlosend und kriegsverherrlichend“ eingestuft wurde, da es den Spieler*innen die Folgen des Kriegs für die Bevölkerung vorenthielt und dabei die NS-
30 Vgl. Handbuch zu Aces over Europe. 31 Vgl. Thomas Facchini: Guerres et jeux vidéo: représentations et enjeux de mémoire de la Seconde Guerre mondiale. In: Amnis: Revue de Civilisation Contemporaine Europes/Amériques 15 (2016). URL: https://journals.openedition.org/amnis/2870 (abgerufen am 12. 06. 2020).
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Ideologie verharmloste.32 Beide Spiele wurden also nicht wegen der Verwendung von verfassungsfeindlichen Symbolen sondern wegen der unkritischen Darstellung von Gewalt indiziert.
Saving Private Ryan & Call of Duty: Die Schlacht um die Normandie Als Steven Spielberg 1997 den Film Saving Private Ryan33. drehte, hatte er den Plan gefasst, zeitgleich eine begleitende Fernsehserie und ein Videospiel zu produzieren, die ein junges Publikum über den Zweiten Weltkrieg unterrichten sollten.34 Dreamworks Interactive, das beauftragte Spieleentwicklerstudio unter der Leitung von Steven Spielberg, hatte angeblich zunächst Bedenken gezeigt, dass das Thema für ein junges Publikum zu düster sei und daher nicht verkauft werden könne.35 Das Spiel Medal of Honor (1999) wurde jedoch ein Riesenerfolg, der die Entwicklung eines Dutzends weiterer First Person-Shooter (FPS) zum Zweiten Weltkrieg nach sich zog. Der Erfolg dieser Spiele basierte nicht zuletzt auf einer transmedial einander verstärkenden synergic chain von Romanen, Filmen, Fernsehserien und digitalen Spielen, die – zwar nicht aus einer gemeinsamen Franchise stammten – sich aber trotzdem aufeinander bezogen36 und so ein Gefühl der Authentizität erzeugten. Dazu gehört vor allem die akribische Nachbildung historischer Uniformen und Waffen.37 In erster Linie aber geht es um einen bewussten Verweis auf bekannte Imaginationen aus der Populärkultur: die Landung in der Normandie, wie in Saving Private Ryan zu sehen, oder der Kampf um die Brücke von Arnheim, wie im gleichnamigen Film, oder die Straßenkämpfe in Stalingrad, wie in Duell – Enemy at the Gates.38 Spielbergs Ziel war es mittels digitaler Spiele ein junges Publikum über den Zweiten Weltkrieg zu unterrichten. Daher wurde Originalmaterial aus Wochenschauen in mehrere Schnittszenen eingebunden – zudem kritisch. Dieser 32 Claus Celeda: Geschichtsdarstellung in Videospielen: Darstellung und Inszenierung des Zweiten Weltkrieges im Digitalen Spiel. Dipl.-Arb. Univ. Wien 2015, S. 67. 33 Vgl. Steven Spielberg: Saving Private Ryan, US 1998. 34 Vgl. Grete Mitchell: Spielberg and Video Games (1982 to 2010). In: Nigel Morris (ed.), A Companion to Steven Spielberg, Chichester: Wiley 2017, S. 410–432, hier S. 413–415. 35 Vgl. Richard Stanton: A Brief History of Video Games. The Evolution of a Global Industry. Philadelphia: Running Press 2015, S. 154. 36 Vgl. Facchini: Guerre et jeux vidéo (Anm. 31). 37 Vgl. Tim Raupach: Towards an Analysis of Strategies of Authenticity Production in World War II First-Person Shooter Games. In: Florian Kerschbaumer and Tobias Winnerling (ed.), Early Modernity and Video Games, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2014; Robinho: Jeux vidéo et Histoire (Anm. 19), S. 112. 38 Vgl. Jean-Jacques Annaud, Duell – Enemy at the Gates, D/F/UK/US/IR 2001; Allison: The World War II Video Game (Anm. 4), S. 188.
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paradigmatische Erzählwandel ermöglichte es den Entwickler*innen, eine dunklere Facette in der Geschichte des Kriegs zu erzählen. Medal of Honor: Underground (2000) zum Beispiel nannte in seiner filmischen Eröffnungssequenz Heinrich Himmler konkret als Hauptverantwortlichen für „the greatest crimes against humanity in human history“39, unterlegt mit Originalaufnahmen des Reichsführers der SS – allerdings nur in der Originalfassung. Während der Kommentar in der europäischen Version derselbe blieb, wurde Himmler selbst nicht mehr gezeigt, sondern ein schwarzer Bildschirm mit Andeutungen von Flammen. Damit aber nicht genug: Der schwedischen Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Eva Kingsepp zufolge fehlte dem Medal of Honor-Spiel die moralische Ambivalenz von Band of Brothers und Saving Private Ryan.40 Während die Fernsehserie Band of Brothers eine Episode hatte, die die Befreiung von Kaufering IV, einem Nebenlager des KZ Dachaus, darstellte, waren ähnliche Bilder in digitalen Spielen noch undenkbar. So gab es zwar eine Mission in Call of Duty (2003), in der der Protagonist, Gefreiter Martin, Kameraden aus dem Durchgangslager Strasshof befreien musste. Dieses war tatsächlich dazu benutzt worden, Juden und Jüdinnen in Konzentrationslager, wie Bergen-Belsen, zu schicken; im Spiel war es jedoch ein einfaches Kriegsgefangenenlager.41 Das Lager verkam zum emotionalisierenden Zeichen ohne Inhalt. Ähnlich verhält es sich mit dem Level im NS-Lager in Darkest of Days, das zwar ikonisch auf den Holocaust verweist, aber im Spiel als Kriegsgefangenenlager deklariert wird.42 Auch wenn vermehrt die dunklen Seiten des Kriegs und die Brutalität des NSRegimes dargestellt wurden, fanden digitale Spiele noch immer keine Sprache für den Holocaust,43 und das obwohl dieser gleichzeitig zunehmend zu einem Thema in Spielfilmen, wie Schindlers Liste,44 Der Pianist,45 Das Leben ist schön,46 usw. geworden war. Weltkriegs-Shooter konzentrierten sich stattdessen in ihrer Erzählung auf das persönliche Leid einzelner Soldaten und feierten die Kame-
39 Stimme aus dem Off während der Intro-Sequenz von Medal of Honor: Underground. 40 Vgl. Eva Kingsepp: Apocalypse the Spielberg Way. Representations of Death and Ethics in Saving Private Ryan, Band of Brothers and the Videogame Medal of Honor. In: DiGRA ’03 – Proceedings of the 2003 DiGRA International Conference. Level Up. URL: www.digra.org/wp -content/uploads/digital-library/05150.04196.pdf (abgerufen am 12. 06. 2020). 41 Vgl. Celeda: Geschichtsdarstellung (Anm. 32), S. 54. 42 Siehe dazu Tabea Widmann: „Playing Memories? Digital Games as Memory Media“. In: digitalholocaustmemory.com, 17. 09. 2020, URL: https://digitalholocaustmemory.wordpress. com/2020/09/17/playing-memories-digital-games-as-memory-media/ (abgerufen am 22. 09. 2020). 43 Hayton: Digital Nazis (Anm. 26), S. 207. 44 Steven Spielberg: Schindlers Liste, US 1993. 45 Roman Polanksi: Der Pianist, F/UK/D/P 2002. 46 Roberto Begnini: Das Leben ist schön, I 1997.
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radschaft, die vor dem Hintergrund eines zerstörten Europas inszeniert wurde.47 Die Geschichte, die in diesen Spielen erzählt wird, reduziert den Zweiten Weltkrieg auf den bewaffneten Kampf ausgebildeter Soldaten.48 Um 2010 kam es zu zwei konkreten Versuchen, den Holocaust in digitalen Spielen anzusprechen, allerdings von sehr unterschiedlicher Qualität. Einer davon war Imagination is the Only Escape (in Vorbereitung von 2008 bis 2013), ein von dem britischen Spielerdesigner Luc Bernard ursprünglich für den Nintendo DS konzipiertes Spiel, das die Geschichte eines jungen jüdischen Buben in Paris erzählt, der aus einer düsteren monochromen Realität in eine farbenfrohe Fantasiewelt flieht, um seine Erlebnisse zu verarbeiten. Nintendo hat dem Projekt jedoch – vermutlich nach ersten kritischen Reaktionen – seine Unterstützung als Vertrieb entzogen und alle anschließenden Versuche, das Projekt zu finanzieren, scheiterten. Ganz anders gelagert war eine Mod49 eines israelischen Team für das zu diesem Zeitpunkt bereits 20 Jahre alte Spiel Wolfenstein 3D über die Revolte des Sonderkommandos in Auschwitz: Das Spiel selbst war wenig mehr als ein kruder Shooter mit vielen (grafisch veraltet wirkenden) Splattereffekten. Als auch diese Mod mit zunehmender Kritik in Spielemedien konfrontiert wurde, zeigte der Chefdesigner Maxim Genis, Unverständnis für seine Kritiker*innen, indem er erklärte, dass die Mod als „plain ‚blast the Nazis‘ fun“ gedacht gewesen wäre. Auf anhaltenden Druck auch der amerikanischen Anti-Defamation League zogen die Entwickler*innen die Mod schließlich zurück.50 Das Ausklammern des Holocaust kann auch als Reaktion der Spieleindustrie auf diese ersten Kontroversen verstanden werden. Der Holocaust und die Verbrechen des Naziregimes wurden als grundsätzlich unvereinbar mit der Idee digitaler Spiele begriffen. Symbole des NS-Regimes wurden regelmäßig nicht nur aus der deutschen oder europäischen, sondern oft auch aus der internationalen Version entfernt. Das allein minderte jedoch nicht die Gefahr ethisch fragwürdiger Momente: Da wäre zum Beispiel die anhaltende Debatte zu nennen, ob der Holocaust, ebenso wie andere Menschrechtsverbrechen des NS-Regimes, in irgendeiner Form in den Hearts of Iron-Spielen, einer Reihe von hochkomplexen Strategie- und Wirtschaftssimulationen des Zweiten Weltkriegs, angesprochen werden sollte. Die Entwickler*innen haben sich dagegen entschieden und darüber 47 Vgl. Harrison Gish: Playing the Second World War: Call of Duty and the Telling of History. In: Eludamos: Journal for Computer Game Culture 4/2 (2010), S. 167–180. 48 Vgl. Debra Ramsay: Brutal Games: Call of Duty and the Cultural Narrative of World War II. In: Cinema Journal 54/2 (2015), S. 24. 49 Als Mod werden von Benutzer*innen nachträglich erstellte Modifikationen an digitalen Spielen anderer Anbieter bezeichnet. 50 Michael McWerthor: Auschwitz Game Creator Yanks Mod under Pressure. In: Kotaku, 21. 12. 2010, URL: http://kotaku.com/5715739/auschwitz-game-creator-yanks-wolfenstein-mod-un der-pressure (abgerufen am 12. 06. 2020).
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hinaus alle Versuche untersagt, über Mods durch Spieler*innen den Holocaust nachträglich in das Spiel zu implementieren.51 Das mag ursprünglich dem Impuls geschuldet sein, so potenziellen Mods von Rechtsradikalen und Neo-Nazis vorzubeugen, zugleich entsteht so aber eine verzerrte und ahistorische Darstellung eines grundsätzlich unpolitischen NS-Regimes in diesen Spielen. Das heißt, dass heute alle Spieler*innen, die Deutschland in Hearts of Iron IV (2016) spielen, nun die Waffenproduktion in Schwung bringen, Autobahnen bauen und Österreich annektieren können, während sie stundenlang deutsche Militärmärsche hören. Dabei müssen sie zu keinem Zeitpunkt über die Auswirkungen ihrer Handlungen nachdenken, wie z. B. einen Angriff auf Polen oder die Millionen von Zivilist*innen, die aufgrund ihrer „Rasse“ oder ihrer politischen oder sexuellen Orientierung getötet wurden. Deutschland ist hier nur eine Fraktion unter vielen und der Zweite Weltkrieg nur ein Krieg unter vielen. Das hat dazu geführt, dass selbst ein kurzer Einleitungstext – der zu Anfang der deutschen Spiel-Kampagne eingeblendet wird – versucht, alle sensiblen Bereiche zu umgehen, indem er nur erwähnt, dass nach Hitlers Machtübernahme wirtschaftliche Stabilität zurückgekehrt sei, aber „schwierige Jahre“ vor Deutschland lägen.52 Es ist nur schwer nachvollziehbar, warum der Holocaust und die unmenschliche Ideologie der NSDAP in einem Spiel, das sich besonders stark auf die minutiöse Wiedergabe historischer Details stützt, überhaupt nicht erwähnt wird. Ein Ausklammern des Holocaust dient hier eben nicht als wirksames Tabu im Dienste eines „Nie wieder!“, sondern erlaubt es stattdessen Spieler*innen, das Deutsche Reich zu spielen, ohne sich die historischen Implikationen dieses Nachspielens vor Augen führen zu müssen. Ein weiteres Beispiel ist Call of Duty: World at War (2008), ironischerweise das erste Spiel, das sich bewusst zum Ziel gesetzt, die Grausamkeiten und Gräueltaten des Kriegs zu zeigen. Und während die Einzelspielerkampagne versucht, die dunklen Seiten des Kriegs für Spieler*innen nachvollziehbar zu machen, ist es die Mehrspieler-Option, bei der etablierte Spielmechaniken und mangelnde Reflexion seitens der Entwickler*innen zu einem bedenklichen Moment führen. Während üblicherweise das Spielen deutscher Soldaten in der Einzelspielerkampagne nicht möglich ist, werden diese in den Mehrspieler-Arenen – also wenn mehrere Spieler*innen online gegeneinander antreten – verfügbar. Wenn dann in einem „Match“ zwischen alliierten und deutschen Soldaten die deut51 Dazu ein Moderator des Forums zum Spiel: „There will not be any gulags or deathcamps (including POW camps) to build in Hearts of Iron4, nor will there be the ability to simulate the Holocaust or systematic purges, so I ask you not to discuss these topics as they are not related to this game.“ In: paradoxplaza.com, 08. 08. 2015, URL: https://forum.paradoxplaza. com/forum/threads/hoi-iv-forum-rules-read-before-you-post.875352/ (abgerufen am 22. 09. 2020). 52 Startbildschirm der deutschen Kampagne in Hearts of Iron IV.
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schen Spieler*innen gewinnen, erscheint das Eiserne Kreuz am Bildschirm (nicht das Hakenkreuz) und sie bekommen den Königgrätzer Marsch zu hören sowie Ausschnitte Adolf Hitlers Rede vor der Hitlerjugend auf der Nürnberger Parteikundgebung im Jahr 1934 [!]. Dieses verstörende Beispiel zeigt in aller Deutlichkeit die Sinnlosigkeit einer rein oberflächlichen Zensur von NS-Symbolen. Die deutsche Gesetzgebung hat somit nicht als Anstoß für einen verantwortungsvollen und ehrlichen Umgang mit dem Holocaust und anderen Gräueltaten des Kriegs in Spielen funktioniert, sondern hat – ungewollt – nur zu oberflächlichen Veränderungen geführt. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Holocaust trotzdem immer wieder einen Weg in Spiele gefunden hat, wenn auch bisher nur fiktional verzerrt in Science-Fiction- und Fantasy-Settings, etwa in der Erzählung des Fantasy-Strategiespiels Valkyria Chronicles (2008), welche von einem fiktiven Europa (mit vielen Ähnlichkeiten mit dem tatsächlichen Europa) nach einem „Großen Krieg“ erzählt. In der Spielgeschichte werden sogenannte „Darkscens“ in Konzentrationslagern gefangen gehalten und vom „Imperium“ zur Sklavenarbeit eingesetzt. Bei der Befreiung des fiktiven Konzentrationslagers Fouzen in einer Mission sind die Protagonisten des Spiels entsetzt über die unmenschlichen Bedingungen des Lagers, was die Erfahrung der alliierten Truppen bei der Befreiung der deutschen Konzentrationslager widerspiegelt.53 Auf ein weiteres Beispiel bin ich in einem Text von Tabea Widmann gestoßen: Im polnischen Spiel My Memory of Us (2018), fliehen zwei Kinder aus dem Ghetto. Allerdings wird die Geschichte des Plattformers in eine fiktionale Phantasiewelt mit einem bösen König und Roboterhunden verlegt. Der Bezug zum Holocaust zeigt sich vor allem im audiovisuellen Design.54 Offenbar war der Holocaust in digitalen Spielen vorerst nur mittels phantastischer Übertreibung für Entwickler*innen vorstellbar. Ein weiteres prominentes Beispiel dafür sind die beiden Spiele Wolfenstein: The New Order (2014) und dessen Nachfolger Wolfenstein: The New Colossus (2017). Beide Spiele sind als kontrafaktische Geschichte angelegt, in der die Nationalsozialisten den Krieg gewonnen haben, ähnlich wie schon in Robert Harris’ Fatherland, Philip Roths Plot Against America oder Philip K. Dicks The Man in the High Castle. Die Welt Wolfensteins zelebriert dabei die Übertreibung mit nationalsozialistischen Robotern, gigantischen Unterseebooten und fliegenden Festungen und einer Mondbasis und setzt dabei ganz bewusst eine Pulp-Ästhetik ein, die uns an Filme wie Iron Sky (2012)55 und Ilsa, She Wolf of the SS (1975)56 erinnern sollen. Dabei 53 Vgl. dazu den Videoessay von Romain Vincent: JVH#6: L’imaginaire de la seconde guerre mondiale. URL: https://www.youtube.com/user/JNSretro/about (zuletzt abgerufen 4. 7. 2016); siehe auch Arno Görgen und Eugen Pfister: Tabu Konzentrationslager. Die Profanisierung des Massenmordes in Computerspielen. In: Gain13 (2020), S. 32–37. 54 Vgl. Widmann: „Playing Memories?“ (Anm. 42). 55 Vgl. Timo Vuorensala: Iron Sky, FI/D/AUS 2012.
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zeigt sich auch eine gewisse Nähe zu den „Stalag“-Schundheften, die in den 1950er und 1960er Jahren in Israel populär waren.57 Wolfenstein: The New Order war dabei das erste Spiel, das eine Mission (eine in sich abgeschlossene Spielszene) in einem Konzentrationslager spielen ließ. Etwa zur Mitte des Spiels infiltriert der Protagonist, William J. Blazkowicz, ehemaliger US-Marine und nun Mitglied der Widerstandsgruppe, das Konzentrationslager Belica.58 Die Szene ist beeindruckend und beunruhigend zugleich. Zum einen bedient sie eine bekannte Ikonographie der Konzentrationslager:59 Wir kommen in einer nicht-interaktiven Cut-Scene in einem überfüllten Güterwagen im Lager an und sehen im Hintergrund riesige Schornsteine, die fortwährend Asche und Ruß in die Luft speien.60 Eine SS-Offizierin, ein direkter Verweis auf das Genre der „Nazisploitation“,61 gibt den Ton an, indem sie die Häftlinge von Anfang an verbal und körperlich misshandelt. Die folgende „Selektion“ durchgeht man ohne Handlungsmöglichkeit und scheint nur durch schieres Glück zu überleben. In einer nächsten Szene wird man als Häftling tätowiert. Über dem Metall-Tor des Lagers prangt der Name „Belica“, optisch an die Worte „Arbeit macht frei“ an den Toren von Auschwitz erinnernd.62 Obwohl das Lager nie als Konzentrationslager bezeichnet wird, lässt die Ikonographie hier wenig Raum für Zweifel. Wer die Bilder kennt, weiß, woran er oder sie ist. Hinzu kommt, dass der Häftling, den wir befreien wollen, durch seinen Namen und durch die Verwendung jiddischer Wörter eindeutig als Jude zu erkennen ist. Die Szene ist nicht nur wegen der ikonographischen Referenzen beeindruckend, sondern vor allem auch wegen der eingesetzten Spielmechanik: Die Spieler*innen sind an dieser Stelle des Spiels fast aller Handlungsfähigkeit beraubt, dürfen nur noch vorwärtsgehen, was für einen FPS, der seinen „Spielspaß“ traditionell aus der vermeintlichen QuasiAllmacht der Spieler*innen bezieht, beeindruckend, wenn nicht sogar schockierend ist. Es ist ein zutiefst beunruhigender Moment in einer Spielumgebung, die es uns normalerweise erlaubt, mit Waffengewalt durch die Levels zu rennen. 56 Vgl. Don Edmonds: Ilsa, She Wolf of the SS, US 1974. 57 Vgl. Daniel Mangilow und Lisa Silverman: Holocaust Representations in History. An Introduction. London: Bloomsbury 2015, S. 87. Dank an Phillip Rohrbach für den Hinweis. 58 In der deutschen Fassung Selo genannt. 59 Vgl. Gerhard Paul: Europabilder des 20: Jahrhunderts. Bilddiskurse–Bilderkanon–Visuelle Erinnerungsorte. In: Bilder von Europa: Innen- und Außenansichten von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Benjamin Drechsel, Friedrich Jaeger und Helmut König: Bielefeld: Transcript 2010, S. 255–280. 60 Vgl. Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 832. 61 Daniel Magilow: Introduction: Nazisploitation! The Nazi Image in Low-Brow Cinema and Culture. In: Nazisploitation! The Nazi Image in Low-Brow Cinema and Culture. Hg. von Daniel Mangilow, Kristin Vander Lugt und Elizabeth Bridges. New York: Continuum 2012, S. 1–20. 62 Vgl. Ebd.
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Diese wirkmächtige Inszenierung des Konzentrationslagers fällt jedoch in dem Moment zusammen, indem wir ein Messer in die Hand bekommen. Wir verfallen unmittelbar in die Routine eines FPS zurück: SS-Offiziere werden im Handumdrehen erstochen und mit den abgenommenen Waffen beherrschen wir bald die Szene. Die Fortsetzung Wolfenstein: The New Colossus wird noch expliziter: Wir erfahren von der jüdischen Abstammung des Protagonisten und davon, dass sein texanischer Vater seine Frau an die NS-Besatzer verraten hat, woraufhin sie in einem Konzentrationslager getötet wurde. Die Entscheidung, offen von antisemitischem Massenmord in den (fiktiven) USA zu sprechen, war eine bewusste politische Entscheidung der Entwickler*innen, was in einem kalkulierten Konflikt mit Rechtsextremen auf mehreren Social-Media-Kanälen deutlich wurde63 Umso unverständlicher ist es, dass Zenimax für die deutsche Version nicht nur Hakenkreuze und SS-Runen gegen Phantasie-Symbole austauschen ließ, Adolf Hitlers Schnurrbart entfernte und ihn Herr Heiler nannte, sondern auch alle Erwähnungen des Massenmords an der jüdischen Bevölkerung entfernte. In der deutschen Version ist nicht länger von Juden und Jüdinnen und ihrer industrialisierten Ermordung, sondern nur von „Verrätern“ die Rede. Die Streichung aller Erwähnungen des Holocaust in der deutschen Fassung mag in der Logik der eingespielten Selbstzensur geschehen sein,64 sie hinterlässt dabei aber einen äußerst bitteren Nachgeschmack, der uns an die zensierte deutsche Fassung von Alfred Hitchcocks Film Notorious65 (1946) erinnert, in der alle Erwähnungen von „Nazis“ entfernt wurden, um die deutsche Öffentlichkeit nicht zu schockieren. Jan Küveler, Ressortleiter des Feuilletons der Zeitung Die Welt sprach davon, dass das Spiel somit letztlich den Holocaust leugne und dafür das deutsche Strafge-
63 Vgl. Adi Robertson: Watching Internet Nazis get mad at Wolfenstein II is Sadder than the Game’s Actual Dystopia. In: Theverge.com 2017. URL: www.theverge.com/2017/6/12/15780 596/wolfenstein-2-the-new-colossus-alt-right-nazi-outrage (abgerufen am 12. 06. 2020). 64 Auf meinem Blog hat der deutsche Übersetzer des Spiels – Detlef Richter – dazu Stellung genommen: „Ironischerweise ist der Weg, den Zenimax gewählt hat, sogar aufwändiger, als einfach den Minimalanforderungen des Gesetzes Genüge zu tun und nur die inkriminierten Symbole herauszunehmen. Aber das hätte das Spiel in meinen Augen komplett verhunzt. Ich fände Nazis mit weißen Flecken, wo Reichsadler und SS-Runen hingehören, wesentlich schlimmer, als das gewählte Modell: die Konstruktion eines alternativen faschistischen Regimes, mit eigener Symbolik, Titeln etc. Auf diese Weise bietet das Spiel wenigstens eine in sich konsistente Fiktion. Die inhaltliche Aussage wird lediglich auf eine weniger konkrete Ebene gehoben, ohne das Spielerlebnis zu verkürzen.“ In: spielkult.hypotheses.org, 27. 02. 2018, URL: https://spielkult.hypotheses.org/1571#comment-649 (abgerufen am 22. 09. 2020). 65 Vgl. Alfred Hitchcock: Notorious, US 1946. Deutsche Fassung: Weißes Gift (1951).
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setz, insbesondere das darin verankerte Verbot verfassungsfeindlicher Symbole die Verantwortung trage.66 Tatsächlich scheint es aber so, als ob wir gerade einen paradigmatischen Wandel in den Erzähltraditionen des Zweiten Weltkriegs in digitalen Spielen miterleben. Dieser zeichnete sich bereits im vergleichsweise düsteren FPS Call of Duty: World at War ab. Noch deutlicher zeigt es sich aber im 2017 erschienenen Call of Duty: World War II, einem gewollt realistischen Weltkriegs-Shooter. In Interviews bekundeten die Entwickler*innen im Spiel erstmals die „very, very dark things“67 des Kriegs in ihr Spiel aufzunehmen: Erstmalig werden wir in nicht-interaktiven Zwischensequenzen Zeug*innen des latenten Antisemitismus eines amerikanischen G.I. Darüber hinaus sehen wir in einer filmischen Montage nach der letzten eigentlichen Mission des Spiels eine Europakarte und schwarzweiße (fiktive) Fotografien von befreiten Konzentrationslagern eingeblendet. Eines dieser Fotos, das wir für weniger als eine Sekunde zu sehen bekommen, zeigt deutlich einen Gefangenen mit „Judenstern“, während der Protagonist Daniels aus dem Off erzählt: „I thought I knew what cruelty was. I didn’t know anything.“68 Der Erzähler erwähnt den Holocaust jedoch nie explizit. Ein spielbarer Epilog evoziert dann nochmals deutlich Bilder von Konzentrationslagern, rahmt diese im Spiel aber explizit als Kriegsgefangenenlager. Wie in Wolfenstein: The New Order, werden die Spieler*innen in ihrer Agency eingeschränkt – sie können weder laufen noch schießen und müssen das Lager langsam abgehen. Das Spiel bricht also mit Genrekonventionen, was insbesondere in einem FPS immer ein Gefühl des Unbehagens hervorruft. Der Höhepunkt der im Spiel gezeigten Grausamkeit ist jedoch nicht der industrialisierte Mord an Millionen von Zivilist*innen, sondern die Brutalität der deutschen Wehrmacht gegenüber Kriegsgefangenen. Zussman, ein Kamerad des Protagonisten, wurde als Kriegsgefangener und nicht als Jude gefangengenommen. Der Protagonist des Spiels trauert später entsprechend explizit um seine toten Kameraden: „These were our guys – Take out your camera. The world ought to know.“ Das Spiel verweist nur implizit auf den Holocaust – die Bilder können nur von jenen richtig gelesen werden, die bereits über seine Geschichte Bescheid wissen. Eine Gefahr liegt hier im Missbrauch des Holocaust als trivialisiertes Mittel zur Emotionalisierung des Publikums, was der deutsche Kulturwissenschaftler Mathias N. Lo-
66 Vgl. Jan Küveler: Ein Nazi ist ein Nazi ist ein Nazi. In: welt.de, 04. 12. 2017. URL: https:// www.welt.de/kultur/article171238125/Ein-Nazi-ist-ein-Nazi-ist-ein-Nazi.html (abgerufen am 12. 06. 2020). 67 Adam Rosenberg: Call of Duty: WWII’ Won’t Ignore the Holocaust Anymore. In: mashable.com, 26. 04. 2017. URL: https://mashable.com/2017/04/26/call-of-duty-wwii-holocaust-inte rview/#.nwWDf9vQiqj (abgerufen am 12. 06. 2020). 68 Stimme aus dem Off in der vorletzten Cut-Scene in Call of Duty: WW II.
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renz als „sinnentleerte[s] Zitieren des Holocaust“ durch das „Superzeichen Holocaust“ bezeichnete.69 In den Mehrspieler-Modi der meisten Zweiter-Weltkrieg-Shooter, in denen Spieler*innen aus der ganzen Welt im vorgeblich sportlichen Wettstreit gegeneinander antreten, wird das Nazi-Regime vollends entpolitisiert. Auch die Entwickler*innen von Call of Duty: World War II schienen deshalb Bedenken gehabt zu haben, unkommentiert eine Multiplayer-Arena zu inkludieren und Michael Condrey von Sledgehammer Games erklärte: „You’ll never play as a Nazi, you will play as a German or other members of the Allied or Axis force.“70 Eine solche naive Unterscheidung zwischen „bösen“ Nationalsozialisten und unbescholtenen deutschen Soldaten zeigt deutlich die begrenzte Reichweite von aufklärenden Ausstellungen wie z. B. der deutschen Wehrmachtausstellung.
„Man spielt nicht mit Hakenkreuzen!“ Zur Anwendung der Sozialadäquanzklausel in digitalen Spielen ab 2018 Neben den Entwickler*innen der zwei Wolfenstein-Spiele ist es immer mehr Spielentwickler*innen ein Anliegen, die Verbrechen des NS-Regimes in Spielen zu zeigen. Attentat 1942, ein Dokumentar-Spiel über die Besetzung der Tschechischen Republik, das gemeinsam mit der Prager Karls-Universität entwickelt wurde, verwendet hingegen historische Filme und Interviews, um sein Publikum über diese Zeit zu unterrichten. „Ein ernsthaftes Spiel über das Dritte Reich muss auch die Verbrechen, die Deutsche im Namen des Nationalsozialismus begangen haben thematisieren. Dazu gehören selbstverständlich auch Judenverfolgung und Holocaust.“, erklärt Jörg Friedrich, Entwickler von Through the Darkest of Times in einem Gespräch mit Felix Zimmermann.71 Das Spiel simuliert die Arbeit einer kleinen Gruppe von Dissident*innen im nationalsozialistischen Berlin während des Kriegs. Kernmechanik des Spiels ist es über die Jahre hinweg die Anzahl und Moral der eigenen Unterstützer*innen in Berlin aufrecht zu erhalten. Das erreicht man durch das Verteilen von Flugzetteln, dem Schmuggeln verbo69 Matthias Lorenz: Memory in Post-Authoritarian Societies. In: Erll/Nu¨ nning (ed.): Handbook (Anm. 9), S. 267–296, hier S. 269–271. 70 Christopher Groux: Call Of Duty: WWII Multiplayer Has No Playable Nazis, Sledgehammer Says in: player.one, URL: https://www.player.one/call-duty-ww2-multiplayer-nazis-sledgeh ammer-119755 (abgerufen am 22. 09. 2020). Außerdem erklärte Condrey: „It does reflect what really happened, which is oftentimes the frontline fights were an ensemble cast of Axis forces, but they weren’t Nazis, they weren’t SS, and so that is the route we went.“ Vgl. auch Bender: Virtuelles Erinnern (Anm. 25), S. 128. 71 Felix Zimmermann: Wider die Selbstzensur – Entwickler Jörg Friedrich und Johannes Kristmann im Interview, in: gespielt.hypotheses.org, URL https://gespielt.hypotheses.org/1 568 (abgerufen am 22. 09. 2020).
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tener Bücher, aber auch durch das Befreien von Gefangenen, läuft dabei aber ständig Gefahr selbst gefangen genommen zu werden und in einem KZ umzukommen. Das Spiel wurde 2020 mit dem Deutschen Computerspielpreis für das beste Serious Game ausgezeichnet und fand weltweit große Aufmerksamkeit in den Medien.72 Gemeinsam mit Attentat 1942 handelte es sich um die ersten zwei Fälle, in denen die deutsche Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) – die in Deutschland die verantwortliche Stelle für die Altersfreigabe ist – sich dazu entschlossen hatte, die sogenannte Sozialadäquanzklausel anzuwenden. Diese Klausel erlaubt Ausnahmen vom Verbot der Darstellung von NS-Symbolen (§§86 und 86a des deutschen Strafgesetzbuchs). Erlaubt ist die Darstellung demnach, wenn sie der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst, der Forschung oder der Lehre diene. Diese wurde bis 2019 zwar großzügig bei Filmen, Büchern und Graphic Novels angewandt, bislang aber nicht bei digitalen Spielen, sodass die Verwendung von Hakenkreuzen, SSRunen und Hitlergruß in digitalen Spielen de facto strafbar war. Aus diesem Grund gab es für die meisten Spiele, die den Zweiten Weltkrieg als Hintergrund des Spielgeschehens nutzten, eine eigens zensierte Version für den deutschen Markt, die aus Kostengründen dann (trotz weniger restriktiver Rechtslage) meist auch in Österreich und der Schweiz verkauft wurde.73 Als im August 2018 die USK bekanntgab, dass sie in Zukunft die Sozialadäquanzklausel in bestimmten Fällen auch auf Spiele als Leitprinzip für die Altersfreigabe einsetzen wolle, kam es zu einer unmittelbaren und unmissverständlichen politischen Reaktion: Die deutsche Bundesfamilienministerin Franziska Giffey von der SPD attackierte die neue Auslegung der USK. „Mit Hakenkreuzen spielt man nicht!“ erklärte sie74 und wurde dabei vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) unterstützt.75 Die Darstellung von Geschichte in Computerspielen wurde unerwartet zum Auslöser einer kurzen, aber heftigen 72 AKGWDS Redaktion: „Spielerisches Erinnern – Stimmen aus dem AKGWDS zu ‚Through the Darkest of Times‘“, in: gespielt.hypotheses.org, URL: https://gespielt.hypotheses.org/3577 (abgerufen am 22. 09. 2020). 73 In Österreich findet das deutsche Gesetz zwar seine Entsprechung im sogenannten Verbotsgesetz von 1947 bzw. im Abzeichengesetz von 1967, allerdings wurde dieses meines Wissens nach bisher noch nicht auf Computerspiele angewandt, die deshalb am österreichischen Markt oft auch in der unzensierten internationalen Version (dann meist aber nur in der Originalsprache) verfügbar waren. Siehe dazu: „Wolfenstein: In Österreich mit NSSymbolen“ in: diepresse.com, URL: https://www.diepresse.com/3812562/wolfenstein-in-oste rreich-mit-ns-symbolen (abgerufen am 22. 09. 2020). 74 „Mit Hakenkreuzen spielt man nicht“, in: faz.net, 23. 08. 2018, URL: https://www.faz.net/aktu ell/wirtschaft/digitec/franziska-giffey-kritisiert-hakenkreuze-in-computerspielen-15751700. html (abgerufen am 22. 09. 2020). 75 „Keine Hakenkreuze in Computerspielen!“, in: dgb.de, 20. 08. 2020, URL: https://www.dgb.de /themen/++co++cbd07522-a456-11e8-a2e4-52540088cada (abgerufen am 22. 09. 2020).
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politischen Kontroverse zu angemessenen Formen der Erinnerung an die Naziverbrechen in einer breiteren Öffentlichkeit. Giffey und der DGB sahen in der regulativen Auflockerung (vorerst) einen Angriff auf die bisherige Erinnerungspolitik. Nachdem Franziska Giffey aber auf Einladung der Entwickler*innen hin Through the Darkest of Times, angespielt hat, revidierte sie auf ihrem Facebook-Profil ihre Meinung.76 Während das Motiv für das Verbot von Nazisymbolen in digitalen Spielen ursprünglich ein gutes gewesen sein mag, haben zeitgenössische Beispiele wie Hearts of Iron IV und der Multiplayer-Modus in Call of Duty: World War II gezeigt, dass das bloße Zeichenverbot in seiner jetzigen Form nicht funktioniert. Das Verbot von NS-Symbolen schützt letztlich nicht vor der Gefahr der Beschönigung oder Relativierung des NS-Regimes, es unterstützt durch die oberflächliche Unkenntlichmachung die konstruierte Trennung in böse „Nazis“ und wertneutrale Soldaten und somit die Utopie eines apolitischen Konflikts unter Gleichen, wie wir sie aus den Kriegsspielen der 1980er und 1990er Jahre gelernt haben. Schon vor zwanzig Jahren hat der US-amerikanische Spieledesigner und – forscher Gonzalo Frasca in einem Artikel die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich sein kann, den Holocaust oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortungsvoll in digitalen Spielen anzusprechen.77 Diese hypothetische Frage wird in Zukunft von Spieleentwickler*innen beantwortet werden. Sind diese überhaupt moralisch dazu verpflichtet, solche Themen in Spielen abzubilden78 Müssen Spiele hier Aufklärungsarbeit übernehmen? Kann das überhaupt funktionieren? Die amerikanische Spieleentwicklerin Brenda Romero – die Frau von John Romero, eines der Entwicklers von Wolfenstein 3D – hat es mit ihrem Brettspiel The Train 2010 vorgezeigt.79 Über dreißig Jahre lang war der Holocaust in digitalen Spielen ein Tabu, was an die Debatte über das Bildverbot und die Kontroversen anlässlich von Schindlers 76 „Grundsätzlich bin ich nicht dafür, dass Hakenkreuze als Spiel- und Stilmittel eingesetzt werden sollten. Es geht aber bei solchen Fällen um die intensive Auseinandersetzung vor dem Hintergrund unserer historischen Verantwortung, eine Abwägung und genaues Hinsehen und in Ausnahmefällen auch um das Zulassen solcher Symbole – wenn der Kontext das rechtfertigt – ähnlich wie beim Film ‚Schindlers Liste‘. Das ist in diesem Fall erfolgt.“ Franziska Giffey, Post vom 23. August 2018, in: facebook.com, URL: https://www.facebook.com /franziska.giffey/posts/1444702818999922/ (abgerufen am 22. 09. 2020). 77 Vgl. Gonzalo Frasca: Ephemeral Games: Is it Barbaric to Design Videogames after Auschwitz? In: Eludamos: Journal for Computer Game Culture 4/2 (2000), S. 167–180. 78 Vgl. Aarón Rodriguez-Serrano: Cuando los videojuegos escribieron el Holocausto: Análisis de Wolfenstein: The New Order. In: Historia y Comunicación Social 19 (2014), S. 193–207, hier S. 195. Vgl. auch Bender, Virtuelles Erinnern (Anm. 25), S. 147f. 79 Vgl. Stephen Totilo: „How People played a Holocaust Game“. In: kotaku.com, 14. 12. 2010, URL: https://kotaku.com/how-people-played-a-holocaust-game-5713483 (abgerufen am 22. 09. 2020).
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Liste erinnert: Ist es überhaupt vorstellbar, dass ein Medium den Holocaust thematisiert, das in erster Linie darauf abzielt, uns zu unterhalten? Ich traue mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, eine endgültige Antwort zu fällen: Ambitionierte Spielprojekte wie Through the Darkest of Times und Attentat 1942 aber auch Blockbuster wie Wolfenstein: The New Order und Call of Duty: World War II haben meiner Ansicht nach trotz aller Bedenken gezeigt, dass Spiele eine eigene Sprache zur adäquaten Darstellung finden könnten. Und obwohl noch weit davon entfernt, perfekt zu sein, besteht die Hoffnung, dass zukünftige Spiele, die im Zweiten Weltkrieg spielen, von der entpolitisierten Vorstellung eines Konflikts vermeintlich ebenbürtiger Gegner Abstand nehmen und von diesen „very, very dark things“80 sprechen werden.
Ludographie Aces over Europe (Dynamix: US 1993 / DOS) Call of Duty: World at War (Treyarch: US 2008 / PS3) Call of Duty: World War II (Treyarch: US 2017 / PS4) Crusade in Europe (Microprose: US 1985 / Apple II) Darkest of Days (8monkey Labs: US 2009 / Xbox 360) Eastern Front 1941 (Atari: US 1981 / Atari) Guderian (Avalo Hill: US 1987 / Apple II) Hearts of Iron IV (Paradox Interactive: SE 2016 / Windows) Imagination is the Only Escape (not published) Knights of the Desert (SSI: US 1983 / Apple II) KZ-Manager (Unknown Developer: Unknown Date/C64) Medal of Honor (Dreamworks Interactive: US 1999 / Playstation) Medal of Honor: Underground (Dreamworks Interactive: US 2000 / PlayStation) My Memory of Us (Juggler Games: P 2018 / PS4) Panzer General (SSI: US 1995 / DOS) Tanktics (Avalon Hill: US 1976 / Apple II) Valkyria Chronicles (SEGA: J 2008 / PS3) Wolfenstein 3D (id: US 1993 / DOS) Wolfenstein: The New Colossus (Machinegames: SE 2017 / PS4) Wolfenstein: The New Order (Machinegames: SE 2014 / PS4)
80 Rosenberg: Call of Duty: WWII (Anm. 67).
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Aus der Praxis von Stopline – Online-Meldestelle gegen nationalsozialistische Wiederbetätigung im Internet
Zusammenfassung Die österreichische Internet-Meldestelle Stopline bearbeitet seit mehr als 20 Jahren Meldungen von Internet-Nutzerinnen und Nutzern zu Online-Inhalten, die allem Anschein nach die Grenzen der Legalität – insbesondere bezugnehmend auf das Verbots- und Abzeichengesetz – überschreiten. Beleuchtet werden die Arbeitsweise der Meldestelle, die nationale und internationale Zusammenarbeit sowie Statistiken und Erfahrungen der letzten Jahre. Ein weiterer Aspekt des Beitrags ist das Spannungsverhältnis zwischen nationalem Recht und der Internationalität des Mediums Internet im Hinblick auf eine erfolgreiche Entfernung von nationalsozialistischen Inhalten. Schlagwörter Stopline, Meldestelle, Wiederbetätigung, Nationalsozialismus, Internet Abstract From the Practice of Stopline – Hotline against Endorsement of National Socialist Ideology on the Internet For more than 20 years now, Stopline – the Austrian Internet Hotline – has been processing users’ reports on online content, possibly breaking the limits of legality – i. a. referring to the Prohibition Act 1947 and Insignia Act 1960. Among other things, it highlights the work of the hotline, national and international cooperation as well as statistics and experiences during the last few years. Another aspect of the article is the tense relationship between national law and the international nature of the Internet as regards the successful removal of National Socialist content. Keywords Stopline, Hotline, National Socialism, Internet
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Präambel Das Medium Internet eröffnet den Zugang zu einer nahezu end- und vor allem grenzenlosen Anzahl von Inhalten. Es ist den Nutzerinnen und Nutzern so möglich geworden, unbeschränkt Informationen zu allen Themen, die sie interessieren, einzuholen. Aber auch im Internet gilt, wie in der „Offline-Welt“: Es gibt keine positive Seite, wo nicht auch gleichzeitig eine negative zu Tage tritt. Und so ist im Internet auch zur Thematik Nationalsozialismus zahlloses illegales Material zu finden oder wird legales Material für illegale Zwecke verwendet. Während Bibliotheken, Archive, Bildungseinrichtungen und Medien originale, nunmehr digitalisierte NS-Materialien zu Zwecken der Aufklärung und Geschichtsaufarbeitung online publizieren, verwenden rechtsextreme Organisationen und Personen ähnliches oder sogar dasselbe Material, um ihre Ideologie zu symbolisieren und das Internet zur Verbreitung ihrer Propaganda zu nutzen. Und hier wird Stopline aktiv.
I.
Die Meldestelle Stopline
1.
Zuständigkeitsbereich
Stopline bearbeitet seit mehr als 20 Jahren Meldungen von aufmerksamen Internet- Nutzerinnen und Nutzern zu Online-Inhalten, die allem Anschein nach die Grenzen der Legalität überschreiten. Stopline beschäftigt sich dabei mit zwei Themenbereichen: – nationalsozialistische Wiederbetätigung gemäß Verbotsgesetz1 und Abzeichengesetz2 (aber nicht gemäß Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen – EGVG3) und – sexuelle Missbrauchsdarstellungen Minderjähriger gemäß § 207a Strafgesetzbuch4 (StGB – sogenannte Kinderpornografie5).
1 Vgl. StGBl 13/1945. 2 Vgl. BGBl. Nr. 84/1960. 3 Das EGVG regelt, dass eine Verletzung des Verbotsgesetzes auch als Verwaltungsstrafe geahndet werden kann. Da Stopline weder eine Exekutiv- noch eine Verwaltungs- oder Justizbehörde ist, prüft sie ausschließlich, ob „für einen juristischen Laien“ (nach ständiger Rechtsprechung der Prüfungsmaßstab für einen Host-Provider) augenscheinlich ein strafrechtlich relevanter Tatbestand vorliegt und bemüht sich in diesem Fall um die Entfernung der Inhalte aus dem Internet. Sämtliche sonstigen Schritte (Täterausforschung, Verurteilung, …) obliegen der Polizei, der Staatsanwaltschaft, den Gerichten oder den Verwaltungsbehörden. Stopline kann sich daher nicht auf die Anwendung des EGVG berufen. 4 Vgl. BGBl. Nr. 60/1974.
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Online-Meldestelle gegen nationalsozialistische Wiederbetätigung im Internet
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Mehr als 105.000 Meldungen haben die Hotline seit ihrer Gründung im Jahr 1998 erreicht.6 Etwa 25 Prozent davon betrafen tatsächlich illegales Material, wovon der Großteil auf ausländischen Servern gehostet wurde. Oberstes Ziel der Stopline ist die Entfernung dieser illegalen Inhalte aus dem Internet, insbesondere im Hinblick auf Veröffentlichungen in Österreich, sodass diese von den Internet-Nutzerinnen und Nutzern online nicht mehr aufgerufen werden können. Zu diesem Zweck arbeitet Stopline seit ihrer Gründung eng mit den Meldestellen im Bundesministerium für Inneres zusammen, einerseits mit der Meldestelle NS-Wiederbetätigung im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und andererseits mit der Meldestelle Kinderpornografie und Kindersextourismus im Bundeskriminalamt (BK).7 Wichtigster Partner im Kampf gegen illegale Inhalte im Internet sind die österreichischen und internationalen Internet Service Provider (ISPs), insbesondere die Host-Provider. Ein Host-Provider ist ein Diensteanbieter8, der durch die Zurverfügungstellung der technischen Infrastruktur – seiner Server – einem/r Nutzer/in üblicherweise gegen Entgelt ermöglicht, dass dieser seine eigenen Inhalte eben auf diesem Server speichern und im Internet veröffentlichen kann. Der Host-Provider ist technisch daher auch derjenige, der die Entfernung etwaiger auf seinen Servern gehosteter rechtswidriger Inhalte aus dem Internet unmittelbar umsetzen kann bzw. gegebenenfalls muss, um nicht die Rolle eines Beitragstäters im Sinne des § 12 Strafgesetzbuch9 einzunehmen.10
5 Stopline feierte 2018 ihr 20-jähriges Bestehen und nahm dieses Jubiläum zum Anlass, sich dem internationalen Trend anzuschließen, das Wort „Kinderpornografie“ weitestgehend abzuschaffen. Aus der „Meldestelle gegen Kinderpornografie und Nationalsozialismus im Internet“ wird die „Meldestelle gegen sexuelle Missbrauchsdarstellungen Minderjähriger und nationalsozialistische Wiederbetätigung im Internet“. Insbesondere Expertinnen und Experten, die mit den minderjährigen Opfern arbeiten, bestätigen, dass der Begriff „Kinderpornografie“ die abgebildeten sexuellen Handlungen an Kindern, die Zwang, Gewalt und Missbrauch darstellen, zu sehr verharmlost. 6 Vgl. Aktuelle Stopline-Statistiken, URL: www.stopline.at (abgerufen am 30. 09. 2020). 7 Vgl. URL: www.bmi.gv.at/meldestellen (abgerufen am 30. 09. 2020). 8 Gemäß § 3 Z 2 ECG ist ein Dienstanbieter eine natürliche oder juristische Person oder sonstige rechtsfähige Einrichtung, die einen Dienst der Informationsgesellschaft bereitstellt. 9 Vgl. BGBl. Nr. 60/1974. 10 Zur Providerhaftung u. a. Stefan Ebensperger: Die Verbreitung von NS-Gedankengut im Internet und ihre strafrechtlichen Auswirkungen unter besonderer Berücksichtigung des ECommerce-Gesetzes. In: Österreichische Juristen-Zeitung (ÖJZ) 2002, S. 132; Nina Marlene Schallmoser, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Host-Providers für „Hasspostings“. In: ÖJZ 2018, S. 26.
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Hintergrund
Ins Leben gerufen wurde Stopline im Jahr 1998 als Selbstinitiative der österreichischen Internet Service Provider durch den Verband der Internet Service Providers Austria11 (ISPA), in Kooperation mit Providern, der Polizei, Strafrechts- und Security-Expertinnen und Experten. Ziel war und ist der Kampf gegen illegale Online-Inhalte, nachdem 1997 auf dem Server eines österreichischen Providers kinderpornografisches Material gefunden wurde, welches ein Kunde dieses Providers dort veröffentlicht hatte.12 Finanziert wird die Tätigkeit der Stopline durch die nic.at GmbH13, die österreichische Domainvergabestelle für .at-Domains, sowie die EU im Rahmen des EU-Programms „Connecting Europe Facility / Safer Internet for children“.14
3.
Wie arbeitet Stopline?
Meldungen an die Stopline können von Internet-Nutzerinnen und Nutzern, die mögliche illegale Inhalte gefunden haben, entweder direkt per Email oder über das Web-Formular unter www.stopline.at erfolgen. Die Melderin oder der Melder kann anonym bleiben, die Inanspruchnahme der Hotline ist damit sehr formlos und niederschwellig. Insbesondere senkt wohl auch diese Anonymität die Hemmschwelle für Meldungen an die Stopline im Vergleich zu einer Anzeige bei der Polizei. Die eingegangenen Internet-Adressen werden von den Hotline-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch visuelle Kontrolle der Webseiten-Inhalte beurteilt.15 Die Analyse der Inhalte und Einschätzung einer etwaigen Rechtswidrigkeit erfolgt auf Basis regelmäßig wiederkehrender rechtlicher Schulungen. Wichtig ist darüber hinaus folgende Klarstellung: Die Stopline fungiert de facto als verlängerter Arm der österreichischen Host-Provider. Sie erlangt durch die eingehenden Meldungen Kenntnis von einem vermeintlich illegalen Inhalt im Internet. In der Folge gibt sie dem betroffenen österreichischen Host-Provider die Einschätzung weiter, ob durch die Inhalte auf dem von ihm betriebenen Server eine mögliche Rechtsverletzung vorliegt. Der Maßstab, den der Provider selbst 11 Vgl. Internet Service Provider Austria, URL: www.ispa.at (abgerufen am 30. 09. 2020). 12 Vgl. Werner Illsinger: Ein Land geht offline (25. 3. 1997). 25. 03. 2017, URL: https://digisoci ety.ngo/2017/03/25/ein-land-geht-offline-25-3-1997/ (abgerufen am 20. 07. 2021). 13 Vgl. nic.at GmbH, URL: www.nic.at (abgerufen am 30. 09. 2020). 14 Vgl. Connecting Europe Facility, URL: https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/safe r-internet-centres (abgerufen am 30. 09. 2020). 15 Vgl. Detaillierte Abläufe und grafische Darstellung abrufbar auf der Webseite von Stopline, URL: https://www.stopline.at/de/ueber-stopline/meldungsprozess (abgerufen am 30.09. 2020).
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hier gemäß § 16 E-Commerce-Gesetz16 bei einer Prüfung ansetzen muss, um die Notwendigkeit weiterer technischer Maßnahmen zu beurteilen und damit eine etwaige Haftung für derartige Inhalte auszuschließen, ist nach ständiger Rechtsprechung der „juristische Laie“.17 Derselbe Maßstab kann daher auch für Stopline herangezogen werden.18 Selbstverständlich obliegt die Ausforschung etwaiger Täterinnen oder Täter ausschließlich der Exekutive. Auch die finale Entscheidung, ob Inhalte gegen geltendes Recht verstoßen und somit eine Täterin oder ein Täter dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, obliegt ausschließlich den Gerichten bzw. im Rahmen des Verwaltungsstrafrechts den zuständigen Verwaltungsbehörden.
4.
Weitere Schritte
Sollten die Inhalte – innerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Stopline – für einen juristischen Laien offensichtlich gegen österreichisches Recht verstoßen, dann wird mit technischen Mitteln der tatsächliche Ursprung der Inhalte, also das Land, in dem die Inhalte online gestellt wurden bzw. der Host-Provider seinen Sitz hat, festgestellt. Wird der Inhalt in Österreich gehostet, dies ist in weniger als 1 % der zutreffenden Meldungen jährlich der Fall, dann wird die zuständige Meldestelle des Bundesministeriums für Inneres zur etwaigen Beweissicherung informiert. Ebenso wird der österreichische Host-Provider mit der Bitte kontaktiert, diese Inhalte umgehend aus dem Internet zu entfernen, sodass ein Aufrufen der illegalen Inhalte für Internet-Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr möglich ist. Aufgrund der langjährigen eingespielten Abläufe und guten Kontakte wird der Fall von der ersten Bearbeitung durch die Hotline-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis hin zur Entfernung der Inhalte üblicherweise in weniger als einem Arbeitstag abgeschlossen.19 16 Bundesgesetz, mit dem bestimmte rechtliche Aspekte des elektronischen Geschäfts- und Rechtsverkehrs geregelt werden (E-Commerce-Gesetz – ECG), BGBl. I Nr. 152/2001. 17 Vgl. RIS-Justiz RS0114374 18 Die Prüfung erfolgt durch die langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stopline, die nicht nur auf rund 15–20-jährige Erfahrung zurückgreifen können, sondern auch umfassend rechtlich geschult sind. Nichtsdestotrotz kann es Situationen geben, in denen die Beurteilung schwieriger ist als in anderen Fällen und z. B. die Autorin als Juristin, ein Anwalt oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Meldestelle im BVT in den Beurteilungsprozess involviert sind. 19 Im Rahmen dieser Publikation werden etwaige Beispiele abstrakt dargestellt, es werden keine realen Internet-Adressen genannt, um hier nicht zur Quelle für nationalsozialistische Inhalte im Internet herangezogen zu werden, sofern diese Inhalte nicht ohnehin bereits aus dem
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So wurde im Jahr 2018 eine Meldung an Stopline übermittelt, die auf offensichtlich nationalsozialistische Inhalte verwies und in Österreich gehostet wurde. Betroffen war eine Online-Plattform zum Verkauf von Gebrauchtwaren, auf der ein Konvolut historischer Bücher zum Verkauf angeboten wurde, darunter Literatur von Nationalsozialisten aus den Jahren 1939–1945, die gegen das Verbotsgesetz verstoßen. Das Inserat wurde durch den Betreiber der Plattform nach der entsprechenden Benachrichtigung umgehend entfernt. Wird der Inhalt im Ausland gehostet (> 99 Prozent der Fälle), so wird ebenfalls die jeweilige österreichische Polizei-Meldestelle informiert, parallel dazu wird hinsichtlich kinderpornografischer Inhalte außerdem – sofern im Host-Land vorhanden – die zuständige Partner-Hotline aus dem internationalen Netzwerk an Meldestellen (INHOPE20) kontaktiert, sodass diese vor Ort den jeweiligen Host-Provider ebenfalls umgehend involvieren und um Entfernung der Inhalte ersuchen können. So wurde etwa im April 2020 eine Webseite mit folgendem Hinweis an Stopline gemeldet: „Neugründung der NSDAP, Antisemitismus, Staatsverweigererszene, Reichbürger [sic!] Holocaustleugnung“.21 Die Inhalte der Webseite wurden nach entsprechender Prüfung als illegal eingestuft, insbesondere wurde durch die Mitarbeiterinnen der Stopline vermerkt, dass rechtsverletzende Abzeichen und Fahnen abgebildet sowie Texte zu finden waren, die die Zeit des Nationalsozialismus verherrlichen. Das sogenannte Tracing, also das technische Eruieren des Hostlandes, ergab Deutschland als Ursprungsland, der Host-Provider wurde entsprechend verständigt, binnen weniger Stunden war die Webseite nicht mehr aufrufbar. Vorrangiges Ziel der Stopline ist also die unmittelbare und nachhaltige Entfernung der illegalen Inhalte aus dem Internet, und zwar direkt an der Quelle. Durch die direkte Kooperation und Interaktion mit den Meldestellen des Innenministeriums steht aber auch die Unterstützung der Strafverfolgung und der Opferschutz im zentralen Blickfeld der Stopline.
Internet entfernt wurden und daher nicht mehr aufrufbar sind. Die Beispiele sind im internen Datenbank-Archiv der Stopline archiviert. 20 Vgl. INHOPE Association, URL: www.inhope.org (abgerufen am 30. 09. 2020). 21 Original-Wortlaut der Meldung, Internes Datenbank-Archiv der Stopline (abgerufen am 30. 09. 2020).
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5.
Nationale und internationale Zusammenarbeit
a.
Nationale Zusammenarbeit
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Die erfolgreiche Zusammenarbeit der Expertinnen und Experten im Jahr 1998, die zur Gründung der Stopline geführt hat, setzt sich bis heute in Form des Stopline-Beirats fort. Dieser besteht aus Vertreterinnen und Vertretern der oben genannten Polizei-Meldestellen im Innenministerium und des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz, Vertreterinnen und Vertretern österreichischer ISPs und der ISPA, Expertinnen und Experten im Bereich Internet Sicherheit und Strafrecht und nationalen Partnerinnen und Partnern im Rahmen der sicheren Internet-Nutzung.22 Der Stopline-Beirat hält mehrmals jährlich Sitzungen ab. Er dient auf der einen Seite der generellen Zusammenarbeit der verschiedenen Organisationen im Kampf gegen illegale Inhalte im Internet, dem Austausch von Wissen und gewährleistet die Möglichkeit zur gegenseitigen Unterstützung. Der StoplineBeirat ist auf der anderen Seite aber auch für die grundsätzliche Arbeitsweise der Stopline an sich zuständig und berät über interne Abläufe, Kompetenzen und setzt thematische Schwerpunkte. Stopline ist weiters Partner des nationalen Safer Internet Austria Centers, gemeinsam mit Saferinternet.at23 , der ISPA und 147 Rat auf Draht24, einer Telefon-Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche. Saferinternet.at wird vom Österreichischen Institut für angewandte Telekommunikation (ÖIAT) betrieben. Dieses Konsortium ist in Österreich federführend im Aufbau von Bewusstsein für illegale und jugendgefährdende Inhalte im Internet. b.
Internationale Zusammenarbeit
In fast allen Staaten weltweit verstößt die Herstellung, Weitergabe oder Veröffentlichung der Abbildung von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen gegen nationales Recht. Um daher grenzüberschreitend die Entfernung solcher Webseiten effektiv zu gestalten, wurde 1999 die Organisation INHOPE, die Vereinigung internationaler Meldestellen, gegründet. Stopline ist stolz, Gründungsmitglied zu sein. Mittlerweile besteht INHOPE aus rund 50 Mitglieder-Hotlines weltweit. Sämtliche INHOPE-Mitglieder bearbeiten Meldungen zu kinderpornografischen Inhalten im Internet. Daneben haben die meisten Hotlines weitere Zu22 Vgl. Mitglieder des Stopline-Beirats, URL: https://www.stopline.at/de/ueber-stopline/stopline -beirat (abgerufen am 07. 01. 2020). 23 Vgl. Saferinternet.at, URL: www.saferinternet.at (abgerufen am 07. 01. 2020). 24 Vgl. 147 Rat auf Draht, URL: www.rataufdraht.at (abgerufen am 07. 01. 2020).
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ständigkeitsbereiche (wie z. B. die nationalsozialistische Wiederbetätigung bei Stopline). Die wesentlichsten Funktionen von INHOPE sind insbesondere die Weiterleitung von Meldungen untereinander. Dadurch können auch Meldungen über kinderpornografische Inhalte, die auf ausländischen Servern liegen, rasch und effizient verfolgt werden. Darüber hinaus liegt der Fokus von INHOPE auf dem Austausch von Erfahrungen zwischen den Hotline-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Unterstützung von noch jungen Hotlines bzw. von geeigneten Organisationen beim Aufbau neuer Meldestellen. Schwieriger ist die internationale Vernetzung im Bereich der nationalsozialistischen Wieder-betätigung, da diese nur in wenigen, vorrangig mitteleuropäischen Ländern explizit unter Strafe gestellt ist und sich daher nur wenige nichtbehördliche Meldestellen mit diesem spezifischen Thema beschäftigen. Stopline fokussiert sich daher hinsichtlich der Entfernung international gehosteter Inhalte vorrangig auf die direkte Zusammenarbeit mit Partner-Meldestellen in Deutschland25, kontaktiert unmittelbar den internationalen Host-Provider oder leitet im Bedarfsfall die Meldung an die NS-Meldestelle im BVT weiter.
II.
Stopline und die nationalsozialistische Wiederbetätigung im Internet
1.
Statistiken26
Grundsätzlich verweisen die Meldungen an Stopline zu einem großen Prozentsatz auf Missbrauchsdarstellungen Minderjähriger. So wurden nur etwa zehn Prozent der Meldungen, die Stopline in den Jahren 2010–2019 erreicht haben (etwa 7.500 von 66.500 Meldungen), von der Absenderin oder dem Absender der Kategorie „Nationalsozialistische Wiederbetätigung“ zugeordnet. Davon wiederum waren nur etwa fünf Prozent der Meldungen zutreffend, also die Inhalte tatsächlich nach Beurteilung der Stopline-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Verstoß gegen die Gesetze, welche die nationalsozialistische Wiederbetätigung regeln (in absoluten Zahlen 360). Bei näherer Betrachtung der Zahlen der letzten Jahre ist feststellbar, dass etwa 75 Prozent der als rechtsverletzend eingestuften Inhalte in den USA ins Netz gestellt wurden, der Rest vorrangig in Europa, davon wiederum durchschnittlich 25 Vgl. Internet-Beschwerdestelle, URL: https://www.internet-beschwerdestelle.de/de/index.ht ml (abgerufen am 30. 09. 2020) sowie jugendschutz.net, URL: www.jugendschutz.net (abgerufen am 30. 09. 2020). 26 Vgl. Tagesaktuelle Statistiken der Stopline sind auf der Webseite abrufbar, URL: www.stop line.at/statistik (abgerufen am 30. 09. 2020).
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nur etwa eine Meldung pro Jahr in Österreich. Zwischen 2010 und 2019 wurden in Summe sieben Meldungen, die in Österreich gehostet wurden, als nationalsozialistische Wiederbetätigung eingestuft. Soziale Medien gewannen in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Verbreitung von rechtsradikalem bzw. wiederbetätigendem Gedankengut zwar an Bedeutung, was sich auch in den Meldungszahlen bei Stopline bemerkbar machte, jedoch geringer, als erwartet, wenn man die Relevanz sozialer Medien im täglichen Leben berücksichtigt. So haben von den rund 360 Meldungen, die die Stopline-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seit 2010 als illegal eingestuft haben, jährlich relativ konstant 10–15 Prozent ihren Ursprung in Facebook-Postings. Andere soziale Medien werden nur vereinzelt gemeldet.
2.
Welche nationalsozialistischen Inhalte werden gemeldet?
Etwa 90 Prozent der gemeldeten und als illegal eingestuften Webseiten verstoßen bereits durch das Veröffentlichen von entsprechenden Abzeichen, Fahnen oder Uniformen gegen das Gesetz.27 Eine überragende Rolle spielen hier Abbildungen des Hakenkreuzes, aber auch SS-Zeichen werden vielfach abgebildet. Die Verwendung von wehenden Fahnen mit NS-Symbolen dient häufig als Untermalung der Texte. Diese eindeutig illegalen Abbildungen werden vielfach begleitet von heroisierenden Darstellungen des Zweiten Weltkrieges. Nur in etwa 30 Prozent der Fälle beinhalten die gemeldeten Webseiten Texte, die ohne Zurschaustellung von Symbolen, Abzeichen oder Bildern bereits als rechtsverletzend nach der Definition des Verbotsgesetzes einzustufen sind. Dadurch spielt auch vielfach die auf der jeweiligen Webseite verwendete Sprache eine untergeordnete Rolle, somit sind hier nur selten Rückschlüsse auf den Ursprung der Webseite oder die Adressatinnen und Adressaten zulässig. Etwa die Hälfte der illegalen Webseiten, die gemeldet werden, zeigen eine allgemeine Verherrlichung der NS-Zeit oder eine entsprechende Leugnung historischer Geschehnisse, so wird z. B. behauptet, dass es den Holocaust oder Konzentrationslager nie gegeben hätte. Etwa ein Fünftel enthalten auch antisemitisches Material, also hetzen explizit gegen die jüdische Bevölkerung. Auffällig ist, dass auf einem Großteil der Webseiten entweder eine Möglichkeit zum Download von Materialen angeboten wird oder teilweise sogar Shops zum Er-
27 Vgl. u. a. Mauthausen Komitee Österreich & Lagergemeinschaft Mauthausen (Hg.): Rechtsextrem. Symbole – Codes – Musik – Gesetze – Organisationen. Wien: Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, 4. aktual. u. überarb. Aufl. 2017; siehe dazu auch die Website Rechtsextrem, URL: www.rechtsextrem.at (abgerufen am 20. 07. 2021).
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werb von NS-Devotionalien, insbesondere Bekleidung, Fahnen, Abzeichen und ähnlichem bestehen. Eine Herausforderung für die Beurteilung „durch einen juristischen Laien“28 stellt die strafrechtliche Einordnung von Webseiten dar, die sehr unterschwellig das Gedankengut des Nationalsozialismus in tagesaktuelle Texte einfließen lassen und auf den ersten Blick den Eindruck einer seriösen Berichterstattung erwecken. Hier entsteht deutlich der Eindruck, dass die Betreiber auf ein anderes Publikum abzielen als diejenigen, die mit offensichtlicher Verherrlichung des Krieges oder der nationalsozialistischen Zeit zu punkten versuchen, und daher die Berichte mit aktuellem Zeitgeschehen verknüpfen. Insbesondere in diesem Zusammenhang verschwimmen auch rechtlich oft die Grenzen zwischen nationalsozialistischer Wiederbetätigung und Verhetzung.29 Aber auch hier ist der Maßstab zur Beurteilung der juristische Laie. Die hier beschriebene Erfahrung gilt ausschließlich für die Webseiten, die an Stopline gemeldet wurden und erhebt keinen Anspruch, daraus Rückschlüsse ableiten zu können, wie viele und welche Arten von nationalsozialistischen Webseiten generell im Internet zu finden sind.
3.
Entfernung nationalsozialistischer Inhalte aus dem Internet
Stopline fordert im Anlassfall den Host-Provider auf, die rechtswidrigen Inhalte umgehend zu entfernen. Die rechtliche Verantwortung der österreichischen Provider für strafrechtlich relevante Inhalte, die sogenannte Providerhaftung, ist im Gesetz klar geregelt. Der Internet Service Provider haftet, verankert in § 16 ECommerce-Gesetz30, solange nicht für rechtswidrige Inhalte auf seinen technischen Systemen, solange er nicht darüber informiert wurde. Er kann sich hier also auf ein Haftungsprivileg31 berufen und muss nicht proaktiv nach etwaigen Rechtsverletzungen suchen. Diesen Schutz verliert er jedoch, sobald er qualifiziert, z. B. eben durch die Stopline, über illegale Inhalte auf seinen Systemen in Kenntnis gesetzt wurde und damit die Möglichkeit zur Setzung von Maßnahmen gegen diesen Content hat. Die Zusammenarbeit zwischen der Stopline und den österreichischen ISPs funktioniert diesbezüglich reibungslos. Sobald die Meldestelle den HostingProvider über illegale Material auf seinen Servern informiert, entfernt dieser 28 Siehe Kapitel I.3. 29 Vgl. § 283 Strafgesetzbuch; BGBl. Nr. 60/1974. 30 Vgl. Bundesgesetz, mit dem bestimmte rechtliche Aspekte des elektronischen Geschäfts- und Rechtsverkehrs geregelt werden (E-Commerce-Gesetz – ECG), BGBl. I Nr. 152/2001. 31 Vgl. Elisabeth Staudegger: Haftungsprivilegierung des Hostproviders oder Medieninhaberschaft – tertium non datur. In: Austrian Law Journal (ALJ) 1/2015, S. 42–66.
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umgehend die rechtswidrigen Inhalte, um sicherzustellen, dass sie von InternetNutzern nicht mehr aufgerufen werden können. Durch die langjährige Zusammenarbeit zwischen Stopline, den Polizei-Meldestellen und den ISPs konnten die notwendigen Bearbeitungszeiten gemeinsam auf ein Minimum reduziert werden. Das Ziel, die Inhalte binnen eines Werktages nach Erhalt der Meldung zu entfernen, wird in Österreich erfreulicherweise in nahezu allen Fällen erfüllt. Wie beschrieben ist die Anzahl von illegalen Inhalten, die in Österreich gehostet werden, gering. So wurde im Jahr 2015 eine Meldung mit folgendem Original-Wortlaut an Stopline übermittelt: „Der Inhaber der Seite verkauft online NS-Realien. Unter dem Punkt Bücher verkauft er z. B. Hitler: Mein Kampf, etc. was eindeutig einen Verstoß gegen österr. Gesetze darstellt und als Wiederbetätigung gewertet werden muss.“32 Die darauffolgende Prüfung durch die Stopline-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergab eine tatsächliche strafrechtliche Relevanz der Inhalte, die URL wurde daraufhin der Meldungsstelle im BVT zur Beweissicherung bekannt gegeben. Parallel dazu informierte Stopline umgehend den österreichischen Provider, der die Webseite binnen weniger Stunden aus dem Internet entfernte. Gerade im US-amerikanischen Raum steht das Thema NS-Wiederbetätigung jedoch vielfach im Zwiespalt zwischen Rechtsverletzung und Meinungsfreiheit. Hier kommt das Spannungsverhältnis zwischen österreichischem Recht und der Internationalität des Mediums Internet besonders zum Tragen. Die Mehrheit der Straftäterinnen und Straftäter, die wiederbetätigende Inhalte im Internet veröffentlichen, sind sich dessen wohl bewusst, nicht von ungefähr werden ca. 75 Prozent aller von Stopline als rechtsverletzend eingestuften NS-Inhalte über US-amerikanische Server online gestellt. Ein Bespiel der jüngeren Zeit ist eine Webseite, auf der ein als einschlägig zu bezeichnender Online-Shop betrieben wird, und deren strafrechtliche Relevanz wohl auch für einen juristischen Laien in Österreich ohne Zweifel erkennbar ist. Sie wurde im Januar 2020 an Stopline gemeldet und als illegal eingestuft, gehostet wird die Webseite in die USA. Ein entsprechendes Ersuchen an den HostingProvider um Entfernung der Webseite blieb bislang (Stand September 2020) erfolglos, die angebotenen Abzeichen und ähnliches können weiterhin uneingeschränkt erworben werden. Auch wenn dies ein negatives Beispiel ist, stellen die Stopline-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter allerdings erfreulicherweise zunehmend fest, dass immer mehr, insbesondere auch US-amerikanische, Provider auf Basis ihrer Allgemeinen Geschäfts- oder Teilnahmebedingungen keine rechtsverletzenden Inhalte mehr auf ihren Systemen dulden und diese entfernen. Dies betrifft vor 32 Original-Wortlaut der Meldung, Internes Datenbank-Archiv der Stopline (abgerufen am 30. 09. 2020).
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allem Themen des Immaterialgüterrechts (z. B. Marken-, Patent- oder Urheberrechte) sowie das Recht am eigenen Bild und betrügerische Aktivitäten. Die langjährige Zusammenarbeit der involvierten Parteien über Staatsgrenzen hinweg hat hier aber auch zu deutlichen Erfolgen geführt. So reagieren mittlerweile viele dieser Hosting-Provider auch auf Themen wie nationalsozialistische Wiederbetätigung, Rassismus und Verhetzung, wenn ihnen die Rechtsverletzung nach österreichischem Recht plausibel dargelegt wird und entfernen diese Inhalte.
III.
Zusammenfassung
Die über 20-jährige Erfahrung der Stopline hat bewiesen, dass eine formlose und niederschwellige Meldemöglichkeit für Internet-Nutzerinnen und Nutzern der raschen Bekämpfung illegaler Inhalte an der Quelle dient. Die enge Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden einerseits und den Internet Service Providern andererseits trägt das Übrige dazu bei, dass rechtsverletzende Inhalte in Österreich umgehend aus dem Internet entfernt werden. Die Nutzung des Internets für illegale Inhalte ist nicht zu vermeiden. So wie jedoch die Bibliotheken, Archive und Medien ihren Beitrag im Kampf gegen nationalsozialistische Wiederbetätigung durch Aufklärung leisten, wird auch die Stopline weiter aktiv gegen diese Inhalte im Internet tätig sein.
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Zugänge und Fallbeispiele aus der Gedächtnisinstitution Bibliothek
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Hans-Christoph Hobohm
Zensur in der Digitalität – eine Überwindung der Moderne? Die Rolle der Bibliotheken
Zusammenfassung Angesichts der sich stark verändernden Kommunikationsstrukturen der demokratischen Öffentlichkeit ist eine zunehmende Thematisierung von Zensur zu beobachten. Der Beitrag versucht dies anhand der aktuellen Zensurforschung einzuordnen. Die Analogie zur Zensurentwicklung zu Beginn der Moderne und ein Rückfall in Vormoderne Gesellschaftsstrukturen durch den Digitalen Wandel wird entkräftet mit einer Reihe von kritisch aufklärerischen Positionen der aktuellen Gesellschaftsanalyse, die im Kern suggerieren, dass eine neue Form von regulierender Instanz notwendig ist, analog zu der in der Frühaufklärung entstehenden medialen Öffentlichkeit. Diese Rolle kann die Bibliothek übernehmen als fünfte Gewalt im Staat. Schlagwörter Zensur, Digitalität, Öffentlichkeit, Bibliothek, Fünfte Gewalt Abstract Censorship in the Digital Age – Transgressing Modernity? The Role of the Library In the light of rapidly changing communication structures of the democratic public sphere, an increasing focus on censorship can be observed. This article attempts to classify this on the basis of current censorship research. The analogy to the development of censorship at the beginning of modernity and a relapse into pre-modern social structures through digital change is refuted with a number of critically enlightened positions of current social analysis, which basically suggest that a new form of regulating authority is necessary, analogous to the media based public sphere emerging in the early Enlightenment. The library can assume this role as the fifth power in the state. Keywords: Censorship, Digital Age, Public sphere, Library, Fifth Estate
Hans-Christoph Hobohm, Fachhochschule Potsdam, E-Mail: hans-christoph.hobohm@fh-pots dam.de, ORCID ID: https://orcid.org/0000-0001-6029-3552
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Hans-Christoph Hobohm
Anlass Spätestens seit der Diskussion um Upload-Filter1 und das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG)2 wird deutlich, dass sich in den Kommunikationsstrukturen der Netzwerkgesellschaft fundamentale Änderungen anbahnen, die die Generation des Volkszählungsboykotts der 1980er-Jahre sich nicht vorstellen konnte. Die Entwicklung des Internets hat seitdem die Gesellschaft grundlegend verändert, ohne dass gesellschaftliche Instanzen, wie Rechtsprechung, Fundamentalökonomie3, Infrastruktur oder das Bildungssystem, mithalten konnten. Die gesellschaftliche Debatte um die Auswirkungen der enthemmten Kommunikation ist jedoch intensiv. Die österreichische Journalistin und Schriftstellerin, Eva Menasse, hat die Situation in ihrer Rede zum Erhalt des Ludwig-Börne-Preises im Mai 2019 treffend formuliert: „Die alte Öffentlichkeit gibt es nicht mehr. Sie wird nicht irgendwann erledigt sein, sie ist es schon. Die Digitalisierung, die wunderbare Effekte auf viele Lebensbereiche hat, hat auf ihrem Urgrund, der menschlichen Kommunikation, eine alles zerstörende Explosion verursacht. Für die ehemalige Öffentlichkeit, die, mit all ihren Fehlern und Schwächen, einmal die informelle Macht der Demokratie war, hat es den Effekt, den es auf die Wirtschaft hätte, wenn jeder sich zu Hause sein eigenes Geld drucken könnte. Diese Zersplitterung in Millionen inkonvertibler Einzelmeinungen, dieses unverbundene und beziehungslose Sprechen und Schreiben.“4
1 Vgl. EU – Europäisches Parlament und Europäischer Rat vom 17. 04. 2019: Richtlinie (EU) 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 96/9/EG und 2001/29/EG. In: Amtsblatt der Europäischen Union vom 17. 05. 2019, L130/92, URL: http://data.europa.eu/eli/dir/2019/790/oj (abgerufen am 17. 05. 2019). 2 Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vom 01. 10. 2017: Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken. Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG. In: Bundesgesetzblatt Teil I (Nr. 61), S. 3352–3355. Einen interessanten Vergleich von NetzDG und Index Librorum Prohibitorum von 1559 stellt Ursula Paintner an und kommt zu ähnlichen Schlüssen wie vorliegender Beitrag, vgl. Ursula Paintner: Vom Index zum Algorithmus. Medienkontrolle in Zeiten medialer Revolutionen. In: Zensur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Begriffe, Diskurs, Praktiken. Hg. von Florian Gassner und Nikola Roßbach. Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien: Peter Lang (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Gesammelte Abhandlungen und Beiträge 136), S. 217– 247. 3 Vgl. Julie Froud, Michael Moran, Sukhdev Johal, Angelo Salento, Wolfgang Streeck, Karel Williams: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik. Berlin: Suhrkamp 2019 (= Edition Suhrkamp 2732). 4 Eva Menasse: Vom Verschwinden der Öffentlichkeit. Deutschlandfunk, 18. 08. 2019, URL: https://www.deutschlandfunk.de/gesellschaftsdebatte-vom-verschwinden-der-oeffentlichkeit. 1184.de.html?dram:article_id=453426 (abgerufen am 26. 09. 2020).
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Das Gefühl, dass es hier im Fundament der Gesellschaft, der auf kommunikativer Öffentlichkeit basierenden Demokratie, zu Verschiebungen kommt, ruft allenthalben schon seit einiger Zeit verschiedene Persönlichkeiten auf den Plan, die mit der Veröffentlichung von Manifesten appellieren, dass wir etwas ändern oder zumindest reagieren müssen. Dies ist z. B. das von der EU initiierte Onlife Manifesto5 oder das in der deutschen Populärwissenschaft weit verbreitete Digital Manifest einer interdisziplinären Wissenschaftlergruppe um den Schweizer Physiker Dirk Helbing.6 Dieser hatte schon 2015 vor der „Automatisierung der Gesellschaft“ gewarnt und entwirft hier u. a. zusammen mit dem berühmten Bildungsforscher Gerd Gigerenzer das Bild einer Situation der Welt am Scheideweg. Entweder nutzen wir die Potentiale der Digitalisierung auch für politische Meinungsbildungsprozesse oder wir fallen in vordemokratische Zeiten zurück. Er veranschaulicht dies, indem er den Aspekt der Autonomie des einzelnen Menschen mit dem gesellschaftlichen Erfolg in der potenziellen Entwicklung über Zeit verbindet (vgl. Abb. 1). Das ist sicher überspitzt dargestellt, aber es entspricht vielen anderen aktuellen gesellschaftlichen Zustandsbeschreibungen, wie der des viel diskutierten israelischen Historikers von Yuval Noah Harari7 oder den provokanten Gesellschaftsmetaphern des Berliner Philosophen Byung Chul Han von der „Müdigkeitsgesellschaft“ zur „Transparenzgesellschaft“ und unlängst zur „Palliativgesellschaft“8.
Analogie zum Beginn der Aufklärung Der Bezug auf die Entwicklung von Öffentlichkeit und Demokratie im Zitat von Eva Menasse erinnert nicht zuletzt an die Beschreibungen von Jürgen Habermas9, der die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit (im Gegensatz zur feuda-
5 The onlife manifesto. Being human in a hyperconnected era. Hg. von Luciano Floridi. Cham, Heidelberg u. a.: Springer Open 2015. 6 Vgl. Dirk Helbing, Bruno S. Frey, Gerd Gigerenzer [u. a.]: Das Digital Manifest: Digitale Demokratie statt Datendiktatur + Eine Strategie für das digitale Zeitalter. In: Spektrum der Wissenschaft (Januar 2016), Sonderausgabe, URL: www.spektrum.de/t/das-digital-manifest (abgerufen am 26. 09. 2020); Dirk Helbing et al. : Digitale Demokratie statt Datendiktatur. In: Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Hg. von Carsten Könneker. Berlin, Heidelberg: Springer 2017, S. 3–21. 7 Vgl. Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Andreas ˙ Wirthensohn. München: Beck 2018. 8 Byung-Chul Han: Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2020. 9 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt: Luchterhand 1962.
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Abb. 1: Am digitalen Scheideweg. Entweder Demokratie 2.0 oder Feudalismus 2.0 (Grafik: COPYRIGHT 2017 reprinted by permission from Springer Nature aus Dirk Helbing et al.: Das Digital Manifest (s. Anm. 6), S. 15).
len) als Ausgangspunkt für die Verbreitung der Demokratie als Herrschaftsform ansah. Für die von Habermas beschriebene Epoche der Frühaufklärung lässt sich sehr schön nachzeichnen wie eine neue Diskursgattung (der bürgerliche Roman) sich allmählich vom Kommunikationskontrollsystem des alten Regimes löst und sich von nun an im modernen, freien Markt ansiedelt.10 War es in Frankreich bis ca. 1735 unabdingbar, mit königlichem Privileg und nachgewiesenem Druckort „Paris“ zu publizieren, so wählt der bürgerliche Diskurs das reale (Niederlande, Schweiz) oder fiktive („Peter Hammer“) Exil (vgl. Abb. 2). Und auch die königliche Zensur stellt sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts von Vorzensur auf die überwachende Nachzensur um: Es entstehen erste Personenkarteien zur Vorratsdatenspeicherung über dubiose Autoren, wie Voltaire (1694–1778)11. Die 10 Vgl. Hans-Christoph Hobohm: Roman und Zensur zu Beginn der Moderne. Vermessung eines sozio-poetischen Raumes, Paris 1730–1744. Frankfurt/M., New York: Campus 1992 (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 19). 11 Vgl. Hans-Christoph Hobohm: Die Aufklärung im Exil. Zensur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In: Der Zensur zum Trotz. Das gefesselte Wort und die Freiheit in Europa. Ausstellung in der Herzog Auguts Bibliothek Wolfenbüttel, 13. Mai bis 6. Oktober 1991 (Ausstellungskatalog). Hg. von Paul Raabe. Weinheim: VCH 1991, S. 80.
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Analogie der Beschreibung dieser „Sattelzeit“ (Koselleck) im begrenzten Kosmos des vorrevolutionären Frankreich auf die globalen Umwälzungen der aktuellen Überwachungsgesellschaft12 mag weit hergeholt klingen. Aber die Fülle der eingangs erwähnten kritischen Wortmeldungen zum aktuellen Epochenwandel lässt dieses Gedankenspiel vielleicht doch zu. Noch interessanter wird sicherlich dieser Vergleich der historischen Situationen angesichts des zunehmenden Pandemie bedingten Ausfalls der physischen („analogen“) Öffentlichkeit, die ähnlich wie zu feudalen Zeiten zu Diskursbeschränkungen führt mangels Community übergreifender Begegnung. Lesegesellschaften, Cafés oder Buchhandlungen der Frühaufklärung wirkten nicht nur wegen der erleichterten Verbreitung des publizierten Diskurses, sondern vor allem wegen der Möglichkeit der persönlichen Begegnung und des deliberativen Austauschs über Gruppen hinweg (Habermas’ „Herrschaftsfreier Diskurs“). Zurecht hat also die demokratische Bibliothek in der letzten Zeit sich vehement als „dritten Ort“ positioniert.13
Abb. 2: Romanproduktion im Paris der Frühaufklärung. Der bürgerliche Diskurs verlässt das feudale Regime der Vorzensur (Hans-Christoph Hobohm: Roman und Zensur (s. Anm. 10), S. 213)
12 Vgl. Shoshana Zuboff: The age of surveillance capitalism. The fight for a human future at the new frontier of power. New York: PublicAffairs 2019. 13 Vgl. Ragnar Audunson, Herbjørn Andresen, Cicilie Fagerlid, Erik Henningsen, HansChristoph Hobohm, Henrik Jochumsen et al. (Hg.): Libraries, archives and museums as democratic spaces in a digital age. Berlin: De Gruyter Saur 2020.
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Zensurforschung Die Rede von Zensur im Zusammenhang mit der aktuellen Rechtsprechung ist vor diesem Hintergrund zu differenzieren. Interessant ist vor allem zu beobachten, dass die Zensurforschung sich in der letzten Zeit wenn auch langsam aus dem literarisch Anekdotischen zu eher interdisziplinär systematischen Analysen entwickelt hat. Viele aktuelle Wortmeldungen nutzen allerdings das Diskussionsklima zu eher alarmistischen Positionierungen. Hatespeech und die Beobachtung kommunikativer Veränderungen im Netz, aber auch bei Kundgebungen auf der Straße, lassen aufhorchen und warnen vor zunehmender Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit. So schrieb die Wochenzeitschrift Die Zeit im Oktober 2019 auf ihrer Titelseite: „63 % der Deutschen glauben, man müsse sehr aufpassen, wenn man seine Meinung öffentlich äußert. Wie kann das sein?“14 Und ein „Lokalpolitiker der SPD“, Twitter-user „Dave dBrave“, postet im November 2019 gar, er habe „sich selbst gelöscht“15. Diskursbeschränkungen sind, wie Michel Foucault (1924–1984) dies in seiner Antrittsrede am Collège de France sagte, eben nicht nur die staatliche Zensur, sondern vor allem die verinnerlichte Norm des Sagbaren.16 Die Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach mit Achtung Zensur!17 oder der Journalist Christian Bommarius mit Die neue Zensur18, um nur zwei aktuelle Publikationen des deutschen Buchmarkts zu erwähnen, versuchen die Situation zu analysieren und ziehen Verbindungen zur Political Correctness-Debatte und zur Identitätspolitik. Sie beobachten mit Erstaunen, dass zum einen die öffentlichen Diskurse „expliziter“ werden – manche sprechen von Verrohung – und zum anderen, dass zunehmend explizitere Kommunikationsregeln gefordert bzw. eingeführt werden. Typische Beispiele sind die Verschriftlichung von Kommunikationsregeln z. B. als Netiquette oder die Etablierung des sogenannten Safe Spaces an amerikanischen Universitäten, in denen sämtliche Kommunikation dann völlig „gewaltfrei“ laufen soll. Die aktuell laufende Novellierung des NetzDG (März 2020) ist sicher auch vor diesem Hintergrund als Reaktion auf notwendige weitergehende Regulierungen der Kommunikation im Netz zu sehen. Angesichts der Zunahme an Kommunikationsmöglichkeiten und der vermehrten Materialisierung von ansonsten implizit bleibendem (non verbalen) 14 Die Zeit, 30. 10. 2019 – Titelblatt. 15 Twitter Post am 20. 11. 2019 danach Account gelöscht. 16 Vgl. Michel Foucault: L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France, 2. 12. 1970. Paris: Gallimard 1971. 17 Vgl. Nikola Roßbach: Achtung, Zensur! Über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen. Berlin: Ullstein 2018. 18 Vgl. Christian Bommarius: Die neue Zensur. Wie wir selbst unsere Meinungsfreiheit bedrohen. Berlin: DudenVerlag 2019.
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Informationsaustausch ist es eigentlich nur naheliegend, dass sich neue Regeln herausbilden. Was bisher in der meist verschriftlichten, expliziten Kommunikation öffentlich geäußert wurde, unterlag stets mehr oder weniger strukturierten Kontrollmechanismen (Foucaults Diskurs). In einer vom Charakter her zunehmend oralen Kultur fallen diese „Hemmungen“ weg und es bilden sich nicht nur neue „Regeln“, sondern auch dazu gehörige Bewusstheiten von „sprechenden“ Identitäten. Die Debatte um geschlechterspezifische Sprache ist hierzu vielleicht das deutlichste Beispiel, aber auch die zunehmende Beachtung von Accessibility bei der technischen Kommunikation im Netz. Die Kulturwissenschaftlerin Beate Müller bringt den Stand der Zensurforschung auf den Punkt: „[…] communication without censorship is effectively impossible, because the structure of a discursive field, while enabling a particular discourse, can only do so at the expense of other, potentially competing discourses which have to be stifled, and consequently censored, in order to allow the field-specific discourse to flourish. […] Censorship thus becomes ubiquitous, making the identifiable personal censor superfluous.“19
Selbst oder gerade für einen herrschaftsfreien Diskurs à la Habermas benötigen die Redeteilnehmer*innen Regeln, damit sich dieser entfalten kann und nicht im Chaos des undifferenzierten Geräuschs versinkt. In der Zensurforschung wird dieser Beschreibung oft vorgeworfen, den Zensurbegriff damit allzu sehr aufzulösen. Es wird empfohlen, lieber bei dem verfassungsrechtlich fundierten Begriff der Vorzensur „Eine Zensur findet nicht statt“ bzw. der verrechtlichten „Schrankenregelung“ einer demokratischen Form von Nachzensur zu bleiben. Dazu hilft jedoch, das „logische Hexagon“, des französischen Wissenschaftsphilosophen und Logikers Robert Blanché20 zu Rate zu ziehen (Abb. 3), das Kultur als Wechselspiel zwischen Norm und Anarchie beschreibt. In der Grafik ist in der Waagerechten das Gegenteil abgebildet: Verbot vs. Gebot und in der Diagonalen die logische Verneinung: Verbot vs. Erlaubnis. Interessant ist hier dann die logische Verneinung des Gebots: die Indifferenz des Machen Könnens. Ohne jetzt allzu sehr in die ontologischen Untiefen der Philosophie eindringen zu 19 Beate Müller: Censorship and Cultural Regulation: Mapping the Territory. In: Censorship & Cultural Regulation in the Modern Age. Hg. von Beate Müller. Amsterdam, New York: Rodopi 2004 (= Critical Studies 22), S. 1–31, hier S. 8. Zur Zensurforschung vgl. auch Hans-Christoph Hobohm: Zensur. In: Mathias Berek, Kristina Chmelar, Oliver Dimbath, Hanna Haag, Michael Heinlein, Nina Leonhard et al. (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung. Wiesbaden: Springer VS 2021, S. 1–17. 20 Robert Blanché: Structures intellectuelles. Essai sur l’organisation systématique des concepts. 2. Aufl. Paris: Vrin 1969. Vgl. Hans-Christoph Hobohm: Bibliothek als Zensur. In: Bibliothek leben. Das deutsche Bibliothekswesen als Aufgabe für Wissenschaft und Politik. Festschrift für Engelbert Plassmann zum 70. Geburtstag. Hg. von Gerhard Hacker und Torsten Seela. Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 66–79.
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wollen, wird die für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendige Normierung deutlich. Sie ist umso notwendiger, je unklarer, anarchischer die Situation zu werden droht.
Abb. 3: Das logische Hexagon von Kultur und Herrschaft (eigene Grafik nach: Robert Blanché: Structures intellectuelles, s. Anm. 20)
Ende der Aufklärung? Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa, der durch seine Diagnose zur Beschleunigung der Gesellschaft bekannt wurde, macht darauf aufmerksam, dass uns in unserer Zeit der absoluten technischen Realisierbarkeit, der Bezug zu den möglicherweise doch „unverfügbaren“ Realitäten in Natur und Gesellschaft verloren geht.21 Alles wird scheinbar möglich, jede noch so weitreichende Idee ist realisierbar: Das „Machen Können“ scheint ubiquitär – bis hin zu dem Glauben, dass der Klimawandel nur einer neuen technologischen Invention des menschlichen Geistes bedarf, um bewältigt zu werden. Vor allem im Digitalen gibt es gerade auch aus prinzipiellen technologischen Gründen nur Indifferenz gegenüber dem Machbaren: 0 und 1 ist unendlich kombinierbar. Das scheint sich aktuell auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben zu übertragen. Zwei Schüler des Systemtheoretikers Dirk Baecker, die Schweizer Medienaktivisten und Sozialarbeiter Tina Piazzi und Stefan Seydel22 beschreiben die
21 Vgl. Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Wien, Salzburg: Residenz Verlag 2018 (= Unruhe bewahren 16). 22 Vgl. Tina Piazzi, Stefan M. Seydel: Die Form der Unruhe. Band 2: Die Praxis. Vom Buchdruck zum Computer. Handlungsprinzipien zum Umgang mit Informationen auf der Höhe der Zeit. Hamburg: Junius 2010, S. 62–93; Dirk Baecker: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Leipzig: Merve 2018.
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Tendenz zur Indifferenz auf dem Weg zur Digitalen Gesellschaft als die „Löschung von Unterscheidungen“: – objektiv / subjektiv – mündlich / schriftlich – privat / öffentlich – mein / dein – virtuell / real – entweder / oder Zumindest sind alle sechs dieser klassischen Dichotomien durch die Digitalität starken Veränderungen unterworfen, wie sich leicht nachvollziehen lässt z. B. im Hinblick auf die Änderung des Status von Öffentlichkeit und Privatheit oder die erwähnte Zunahme von verschriftlichter Oralität. Sogar die Unterscheidung selbst relativiert sich: der Bezugspunkt von Kategorien schwindet in der je neuen, Kontext bedingten Epistemologie. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi sieht in seiner „Theorie der digitalen Gesellschaft“ die technologische Entwicklung zur Digitalisierung, die Digitalität, als „Störung der Routine“ und „Katastrophe“ der Moderne: „Ohne Zweifel ist die Digitalisierung eine Störung der Routinen der Moderne. Sie ist eine ähnliche Katastrophe wie der Buchdruck für den Informationshaushalt der Gesellschaft.“23 Hatten Reformation und Aufklärung noch befreiende Wirkungen durch ihre ausgeprägten Änderungen in der Informations- und Kommunikationskultur, so zeigt die aktuelle Explosion der menschlichen Kommunikation die „Dialektik der Aufklärung“.24 Aber gänzlich anders als Horkheimer und Adorno erleben wir diese Katastrophe der Aufhebung der Unverfügbarkeit und der Differenzen in einem fundamentalen und globalen Sinn. Bemerkenswert ist, dass neben der zunehmenden Diskussion zu Kommunikationskontrolle und Zensur auch mahnende bzw. einen Weg weisende Stimmen zu hören sind. Der französische Philosoph Bernard Stiegler wurde bekannt durch seine drastische Zeitaltercharakterisierung als Neganthropocän, dem Wortspiel zwischen Anthropozän und Negentropie, das bei Claude Shannon gleichbedeutend mit Information ist. Mit diesem Bild ist Stiegler dicht bei Nassehi, kann aber mehr als der systemtheoretische Soziologe eine Denkrichtung aufweisen, die hilft. In seinem Buch Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien25 betont er die Notwendigkeit des „sich Kümmerns“, also im 23 Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H.Beck 2019, S. 115. 24 Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt: Fischer 1969. 25 Vgl. Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 (= edition unseld 6).
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Sinn des französischen soigner, pflegen, (um)sorgen. Im Bibliothekarischen ist mittlerweile der Kurator, welcher sich ebenfalls von lat. cu¯ra, die Sorge herleitet, bereits ein Begriff und sei es als data curator. Wie schon erwähnt, gibt es auch in der Wirtschaftswissenschaft eine zunehmend zu beobachtende Tendenz, die Daseinsvorsorge (wieder) zu stärken und die „Ökonomie des Alltagslebens“, das heißt die Infrastruktur des Gemeinwesens, nicht nur dem Überwachungskapitalismus zu überlassen.26Auch Reaktionen während der Anfangszeit der Corona Pandemie ließen die Hoffnung auf eine größere Wertschätzung der Infrastruktur zumindest in der Krankenpflege erkennen und das entsprechende Sachbuch war schon 2019 längere Zeit auf den Bestsellerlisten: Corine Pelluchons Ethik der Wertschätzung.27 Auch das erwähnte Onlife Manifest des vom britischen Informationsphilosophen Luciano Floridi geleiteten Think Tanks der EU zur Frage des Menschseins im Zeitalter der Hypervernetzung28 empfiehlt ein „Sich kümmern“ aus Sorge um die Aufmerksamkeitsfähigkeit des Menschen, um seine attentional capabilities. Nach einer ähnlichen Analyse zu aktuellen „Verschiebungen“ wie der von Piazzi und Seydel kommen die Autoren zum Schluss, „dass Gesellschaften die Aufmerksamkeitsfähigkeit des Menschen schu¨ tzen, pflegen und nähren mu¨ ssen. […] Der Schutz der Aufmerksamkeit sollte in die Grundrechte wie die der Privatsphäre und der körperlichen Unversehrtheit eingebunden werden, da Aufmerksamkeitsfähigkeit wegen ihrer Bedeutung fu¨ r die Entwicklung von Sprache, Empathie und Gemeinschaftsfähigkeit ein dem relationalen Selbst innewohnendes Element ist.“29
Das Manifest erschien vor den aktuellen Entwicklungen der Gesellschaft des Zorns30 und dem Lauterwerden der Diskussion um Zensur. Wichtig ist die Herleitung der Notwendigkeit eines Grundrechts auf attentional capability: Die Aufmerksamkeit gegenüber der sozialen und natürlichen Umwelt ist, ganz phänomenologisch, die Basis für (gesellschaftliches Zusammen-) Leben. Und diese menschliche Lebensfähigkeit beginnt bei Sprache und Empathie.
26 Vgl. Froud [u. a.]: Foundational Economy Collective (Anm. 3); Zuboff: The age of surveillance capitalism (Anm. 12). 27 Vgl. Corine Pelluchon: Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2019. 28 Vgl. Floridi (Hg.): The onlife manifesto (Anm. 5). 29 Ebd., § 4.6. 30 Vgl. Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Bielefeld: Transcript Verlag 2019.
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Konkrete Auswirkungen Für den Schweizer Medienwissenschaftler Felix Stalder31 ist die Kultur der Digitalität durch drei Aspekte geprägt: die Referentialität, die Algorithmizität und die Gemeinschaftlichkeit. In allen drei Bereichen lassen sich Beispiele finden für regulierende (normbildende) Maßnahmen, die, wenn sie auch nicht gleich mit Zensur apostrophiert werden müssen, aber dennoch die Indifferenz der digitalen Anarchie lindern helfen. Entwicklungen bei regulierenden Maßnahmen bezüglich der Referentialität sind z. B. die zunehmenden vertrauensbildenden Angaben zu page authority und page trust für Zwecke der Suchmaschinenoptimierung (SEO) oder die Erweiterungen der in den Metadaten vorhandenen konkreten Beziehungskennzeichnung mit gesetzten Link-Attributen (ab 2005: rel=„nofollow“ / ab 2019:rel=„ugc“, rel= „sponsored“). Algorithmisch regulierende Maßnahmen sind die maschinelle Vorzensur der viel diskutierten „Upload Filter“32 oder aber auch bei automatisch generierten Metadaten in Marc21 die Angabe der Vertrauenswürdigkeit eines durch Algorithmen gebildeten Schlagworts (Feld 883 0 $81\p$amaschinell gebildet$c0,79204). Vieles wird jedoch in der Tat zusätzlich oder ausschließlich gemeinschaftlich geregelt, so z. B. die Fake-News Bewertungs-Tools wie NewsGuard oder die Recherchenetzwerke und Faktenchecker wie Correctiv. Es entwickeln sich also offensichtlich auch ohne „harte“ Maßnahmen normierende Strukturen und regulierende Werkzeuge im Netz. Informationsüberlastung, also Entropie, kann durch konkrete Regelungen und Normierungen eingedämmt werden oder aber durch Vertrauen in Institutionen. Hatte Tim Berners-Lee in seinem Semantic Web Layer Cake schon „trust“ als Schlussstein der Internet Architektur definiert, gipfelt die Tendenz zur Regulierung von Vertrauen in dem von ihm initiierten Contract for the Web33 . Der an den Contrat Social von Rousseau erinnernde „Vertragsentwurf“ wurde zu Beginn des UN Internet Governance Forums in Berlin am 25. November 2019 von der World Wide Web Foundation veröffentlicht (also praktisch zum Zeitpunkt der Konferenz „Nationalsozialismus digital“). Er bleibt jedoch auf die technische Infrastruktur und Fragen des Datenschutzes und Zugangs ausgerichtet. Lediglich 31 Vgl. Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp 2016 (= Edition Suhrkamp 2679). 32 Vgl. EU – Europäisches Parlament und Europäischer Rat vom 17. 04. 2019: Richtlinie (EU) 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 96/9/EG und 2001/29/EG. In: Amtsblatt der Europäischen Union vom 17. 05. 2019, L130/92, URL: http://data.europa.eu/eli/dir/2019/790/oj (abgerufen am 17. 05. 2019). 33 Vgl. Dennis Redeker: The Contract for the Web. The newest manifestation of digital constitutionalism? In: Völkerrechtsblog (29. November 2019). DOI: https://doi.org/10.17176/20 191129-180645-0.
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recht pauschal wird dafür geworben, dass Unternehmen Technologien entwickeln sollen, die das Beste der Menschheit unterstützen („support the best in humanity and challenge the worst“ Prinzip 9). Jede oder jeder einzelne solle sich dagegen möglichst kreativ am Web beteiligen und „starke Gemeinschaften bilden, die verständnisvollen Umgang und Menschenwürde respektieren“ (Prinzip 8: „Build strong communities that respect civil discourse and human dignity“). Wenig erinnert an den Gesellschaftsvertrag der Aufklärung. Ein Vertrag kann zwar Vertrauen schaffen, aber nur wenn die Forderungen beider Seiten auf gleichem Niveau sind. Laut Contract for the Web sollen die Regierungen lediglich den Zugang zum Netz offenhalten und die Nutzer*innen sich selber (autonom?) wohlverhalten. Dass diese Gleichung nicht aufgeht, zeigt eine Langzeitstudie zur Verbreitung von mobilem Internet-Zugang (3G) in Verbindung mit den Zustimmungswerten zur jeweiligen Regierung in 116 Ländern weltweit.34 Insbesondere wenn traditionelle Medien zensiert werden, ist der Einfluss des Internet-Zugangs auf eine abnehmende Akzeptanz der Regierung deutlich. Verbesserter Internet-Zugang zeitigt weltweit eine Erhöhung der Zustimmungswerte für populistische, „Establishment kritische“ Parteien, wie diese Studie belegt. In anderen Fällen kann bei freiem Zugang zum Netz dieses zwar auch dazu führen, dass Missstände der Regierung wie Korruption aufgedeckt werden. Allein aber auf das Wohlverhalten der Internetnutzer*innen zu setzen, bringt uns in die oben beschriebene Situation der Indifferenz, die nach Regeln und Normen verlangt. Strukturell kann das nicht formale Zensur, wie die Beschränkung des Zugangs zum Netz sein, nicht nur, weil die praktische Wirkungslosigkeit von Zensur immer wieder zu beobachten ist. Es bleibt also aber ein zweischneidiges Schwert, lediglich auf die Verbesserung des Zugangs zum Internet zu setzen. Luciano Floridi würde sagen, es bedarf besserer Interfaces.35
Konsequenzen für Bibliotheken Als Bibliothekswissenschaftler plädiere ich naturgemäß dafür, dass eine der gesellschaftlichen Instanzen, die zur Strukturierung der Indifferenz der Digitalität beiträgt, Bibliotheken sein sollte. Die nationale schwedische Bibliotheksstrategie schreibt ihnen denn auch die Rolle der „Fünften Gewalt“ im Staat zu
34 Vgl. Sergei Guriev, Nikita Melnikov, Ekaterina Zhuravskaya: 3G Internet and Confidence in Government. 2019. In: SSRN Journal. DOI: https://doi.org/10.2139/ssrn.3456747. 35 Vgl. Luciano Floridi: Information overload: Consequences of receiving. Information philosophy: ELIACE, Video online, URL: https://youtu.be/c95IsbPcdNM (abgerufen am 26. 09. 2020).
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(nach Legislative, Exekutive, Jurisdiktion und medialer Öffentlichkeit),36 als Korrektiv und regulierende Instanz in der Gesellschaft. Sie sind dies immer schon gewesen, indem sie seit jeher zur Möglichkeit der Schaffung gesicherten Wissens in der Gesellschaft beitragen.37 Diese ihre Rolle als Garant für die demokratische Basis in der Gesellschaft erfüllen sie umso besser, umso mehr Vertrauen ihre Zielgruppen (communities) haben, und zwar allgemein im Sinn von Vertrauen in die (eigene) Zukunft, aber auch als „Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen“. Dies ist eines der zentralen Ergebnisse eines europäischen Forschungsprojekts mit repräsentativen Umfragen in sechs Ländern.38 Die Aufgabe von Bibliotheken kann also nur sein, bei dieser komplexen Vertrauensarbeit mitzuwirken: einerseits in ihrem eigenen Interesse und andererseits aber auch als Katalysator für gesellschaftliches und persönliches Vertrauen allgemein. Sie sind das wesentliche Interface zwischen dem Chaos der digitalen Indifferenz und dem menschlichen Alltag als Teil der Daseinsvorsorge. Und das nicht nur als Bildungs- oder Informationseinrichtung der Medienvermittlung, sondern vorwiegend als aktiver Teil der Gesellschaft. Sie sind als gesellschaftliche Institution genau die vertrauensbildende Maßnahme, die die Digitalität braucht! Wenn der Wissenssoziologe Nico Stehr postuliert, die „Freiheit“ sei „die Tochter des Wissens“ und fordert, dass Knowledgeability (Wissenheit) als „Bündel von sozialen und kognitiven Kompetenzen“, das auf „erweiterte wie auch neuartige politische und gesellschaftliche Partizipationschancen“ ausgerichtet ist, in den gesellschaftlichen Fokus genommen wird und nicht mehr bloß Information oder Wissen allgemein, wenn wir von Wissensgesellschaft sprechen.39 Ähnlich dem Onlife Manifest fordert er im Zentrum einer positiven neuen Gesellschaftsfundierung die Förderung einer tiefergehenden Kognitionskom-
36 Vgl. Den femte statsmakten. Bibliotekens roll för demokrati, utbildning, tillgänglighet och digitalisering. Stockholm, Malmö: Kungliga biblioteket, Nationell biblioteksstrategi. Hg. von Erik Fichtelius, Eva Enarson, Krister Hansson, Jesper Klein, Christina Persson. Holmbergs 2018. 37 Vgl. R. David Lankes: Why Do We Need a New Library Science. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 42/2018 (H. 2, Themenheft „Next Library Science“, hrsg. v. H.-Chr. Hobohm), S. 338– 343. DOI: https://doi.org/10.1515/bfp-2018-0036. 38 Vgl. Ragnar Andreas Audunson: Do We Need a New Approach to Library and Information Science? In: Bibliothek. Forschung und Praxis 42/2018 (H. 2, Themenheft „Next Library Science“, hrsg. v. H.-Chr. Hobohm), S. 357–362. DOI: https://doi.org/10.1515/bfp-2018-0040; Hans-Christoph Hobohm: Bibliotheken und Demokratie in Deutschland. Ergebnisse eines europäischen Projektes zu ihrer Rolle und ihrem Engagement für Demokratie und Gemeinwohl. In: o-bib. Das offene Bibliotheksjournal 6/2019 (4), S. 8–25. DOI: https://doi.org /10.5282/o-bib/2019H4S7-24. 39 Vgl. Nico Stehr: Die Freiheit ist eine Tochter des Wissens. Wiesbaden: Springer VS 2015.
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petenz. Allerdings ohne dass klar wird, wer und wo diese Kompetenz entwickelt wird. Implizit wird dies dann vom Bildungssystem als solchem erwartet.40 Winfried Gödert und Klaus Lepsky gehen einen Schritt weiter und benennen diese neue Kompetenz die „Informationelle Kompetenz“, die notwendige Voraussetzung ist für individuelle „Informationelle Autonomie“, ohne die die Gesellschaft Gefahr läuft, ins Totalitäre zu geraten. Der Begriff der Informationellen Kompetenz erinnert nicht zufällig an das in Bibliotheken weit verbreitete Konzept der Informationskompetenz(-schulung), das die Autoren als zu instrumentell kritisieren. Aus vielerlei Perspektive fällt also der Bibliothek die Aufgabe zu, in der Digitalität eine vielfältige zentrale Rolle zu spielen. Die Diskussion um eine gefürchtete Zensur durch hegemoniale Instanzen macht deutlich, dass Bibliotheken in einem positiven Sinn eine gesellschaftstragende Rolle haben, sei es bei der Förderung von Partizipation, der Schaffung von Wissen oder der Generierung von Vertrauen in akzeptierte Wahrheiten und wichtige gesellschaftliche Institutionen.41 Sieht man die Moderne als geprägt durch die sich selbst bildende rationale Öffentlichkeit, so wird nun in der Tat die Notwendigkeit einer weiteren aktiv regulierenden Instanz deutlich, die zumindest als Katalysator mithilft, „kulturelles Erbe“ und „objektives Wissen“ zu bewahren und weiterzuentwickeln. In diesem Sinn hat die Bibliothek eine Rolle bei der Beschränkung der ausufernden Diskurse der explodierenden Kommunikation. Die „Öffentlichkeit“ erfüllt diese Funktion nicht (mehr). Und nur, weil die Bibliothek hier eine gesellschaftliche Leerstelle füllt, ist dies noch kein Rückschritt in eine Vormoderne. Im Gegenteil. Nach der bürgerlichen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts bedarf es jetzt nicht nur der Bibliothek als dritten Ort, sondern als selbstbewusster gesellschaftlicher Instanz.
40 Vgl. mehr zum Konzept der Kognitionskompetenz als Aufgabe von Bibliothekaren: HansChristoph Hobohm, Judith Pfeffing, Andres Imhof, Imke Groeneveld: Reflexion als Metakompetenz. Ein Konzeptbegriff zur Veranschaulichung akademischer Kompetenzen beim Übergang von beruflicher zu hochschulischer Qualifikation in den Informationsberufen. In: Übergänge gestalten. Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung erhöhen. Hg. von Walburga Freitag, et al. Münster: Waxmann 2015, S. 173–191. 41 Vgl. Winfried Gödert und Klaus Lepsky: Informationelle Kompetenz. Ein humanistischer Entwurf. Berlin: De Gruyter Saur 2019.
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Hermann Rösch
Informationsfreiheit versus Strafrecht? Benutzung und Digitalisierung nationalsozialistischer Zeitungen aus ethischer Sicht
Zusammenfassung Der Zugang zu NS-Publikationen wurde in deutschen Bibliotheken bislang zumeist unter bestimmten Bedingungen gestattet. Dies geschah ausschließlich unter Verweis auf rechtliche Regelungen. In diesem Beitrag werden darüber hinaus ethische Aspekte in die Überlegungen einbezogen. Anhand der Ergebnisse einer aktuellen Umfrage wird im Anschluss gezeigt, welche Nutzungsbedingungen gegenwärtig üblich sind und wie die Bibliotheken einer Digitalisierung von NS-Zeitungen gegenüberstehen. Abschließend wird diskutiert, ob die Exklusion nationalsozialistischer Quellen aus den laufenden bibliothekarischen Digitalisierungsprogrammen unter ethischen wie rechtlichen Gründen tatsächlich zu rechtfertigen ist und welche Maßnahmen dazu beitragen könnten, auch diese Quellengattung der Forschung in digitaler Form zur Verfügung zu stellen. Schlagwörter Bibliotheksethik, Informationsethik, NS-Zeitungen, Informationsfreiheit, Digitalisierung, Strafrecht, Nutzungsbedingungen Abstract Freedom of Access to Information vs. Criminal Law? Usage and Digitization of Nazi Newspapers from an Ethical Perspective Until now, access to Nazi publications has mostly been permitted in German libraries under certain conditions. This was done only with reference to legal regulations. This article also includes ethical considerations. Based on the results of a current survey, it is subsequently shown which terms of use are currently common and why libraries are opposed to the digitization of Nazi newspapers. Finally, it is discussed whether the exclusion of Nazi sources from current library digitization programs can actually be justified on ethical and legal grounds and which measures could contribute to making this sources available to research in digital form.
Hermann Rösch, TH Köln, Institut für Informationswissenschaft, E-Mail: [email protected], ORCID id: https://orcid.org/0000-0002-6689-5367
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Keywords Library Ethics, Information Ethics, Nazi Newspapers, Freedom of Access to Information, Digitization, Criminal Law, Terms of Usage
1.
Einleitung
Der bibliothekarische Umgang mit Publikationen aus der Zeit des Nationalsozialismus war in den vergangenen mehr als 70 Jahren in Deutschland vielerlei Schwankungen unterworfen. Das Spektrum reicht von Aussonderung über Sekretierung und eingeschränkte Nutzung nur für wissenschaftliche Zwecke bis zu freiem Zugang. Während in der bibliothekarischen Praxis bislang beinahe ausschließlich rechtliche Aspekte zur Begründung der Benutzungsregelungen für NS-Materialien geltend gemacht wurden, ist es an der Zeit, bibliotheks- und informationsethische Grundwerte in die Überlegungen einzubeziehen. Diese sollen daher am Anfang der Ausführungen stehen, ehe die unterschiedlichen Verfahrens- und Nutzungsregelungen im Hinblick auf Originale und Mikrofilmkopien in Deutschland kurz skizziert werden. Im Mittelpunkt stehen dabei aus gegebenem Anlass Zeitungen. Eine Umfrage unter wissenschaftlichen Bibliotheken belegt, dass die Nutzungsbedingungen für gedruckte NS-Quellen heterogen sind. Die Digitalisierung der zwischen 1933 und 1945 erschienenen Periodika wird aus rechtlichen Gründen bislang beinahe durchweg abgelehnt. Zu überlegen ist zum einen, ob dies unter ethischen wie rechtlichen Gründen tatsächlich zu rechtfertigen ist und zum anderen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Exklusion nationalsozialistischer Quellen aus den laufenden bibliothekarischen Digitalisierungsprogrammen zu beenden.
2.
Bibliotheks- und informationsethische Grundwerte
Bei der Reflexion über ethische Belange, die mit der Digitalisierung und Bereitstellung von NS-Zeitungen in Verbindung zu bringen sind, geraten im Wesentlichen vier Grundwerte in den Blick: Informationsfreiheit, demokratische Orientierung, Jugendschutz und Schutz der Privatsphäre. Informationsfreiheit ist als fundamentales Menschenrecht zu verstehen und bildet die Voraussetzung dafür, dass sich jemand eine eigene (kritische) Meinung bilden kann. Insofern gehören Informationsfreiheit wie Meinungsfreiheit zu den Grundlagen demokratischer Strukturen und Machtkontrolle. In der UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948 wird Informationsfreiheit als Recht, „über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedan-
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kengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“1 definiert. In den wichtigsten bibliothekarischen Ethikkodizes wird Informationsfreiheit an erster Stelle und damit als wichtigster Grundwert genannt. Im Code of Ethics der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA) behandelt der erste von sechs thematischen Abschnitten das Thema „Access to Information“. Dort heißt es: „Librarians and other information workers reject the denial and restriction of access to information and ideas most particularly through censorship whether by states, governments, or religious or civil society institutions.“2
Die IFLA hat darüber hinaus bereits 1999 in ihrem Statement on Libraries and Intellectual Freedom festgestellt: „Libraries shall ensure that the selection and availability of library materials and services is governed by professional considerations and not by political, moral and religious views. Libraries shall acquire, organize and disseminate information freely and oppose any form of censorship.“3
Auch in der Berufsethik des deutschen Dachverbandes Bibliothek und Information Deutschland (BID) ist ein klares Bekenntnis zu Meinungs- und Informationsfreiheit verankert: „Wir setzen uns für die freie Meinungsbildung, für Pluralität und für den freien Fluss von Informationen ein, da der ungehinderte Zugang zu Informationen essentiell ist für demokratische Gesellschaften. Eine Zensur von Inhalten lehnen wir ab.“4
In Deutschland wurde die Bedeutung von Informationsfreiheit für demokratische Prozesse in einem Positionspapier zu umstrittenen Werken zusätzlich unterstrichen: „Die bibliothekarischen Verbände setzen sich ausdrücklich dafür ein, dass als rechtskonform eingestufte Werke allen Bürgerinnen und Bürgern in Bibliotheken zur Verfügung stehen. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, die auf aktiver Teil-
1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Vereinte Nationen 1948, URL: http://www.ohchr.o rg/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger (abgerufen am 14. 07. 2021). 2 IFLA Code of Ethics for Librarians and other Information Workers (full version) 2012, URL: https://www.ifla.org/publications/node/11092 (abgerufen am 14. 07. 2021). 3 IFLA Statement on Libraries and Intellectual Freedom. 1999, URL: https://www.ifla.org/publ ications/ifla-statement-on-libraries-and-intellectual-freedom- (abgerufen am 14. 07. 2021). 4 Ethische Grundsätze von Bibliothek & Information Deutschland. In: BuB 69 (2017), H. 11, S. 581–583, hier S. 581. Auch online, URL: https://media02.culturebase.org/data/docs-bide utschland/Ethische%20Grundsaetze.pdf (abgerufen am 14. 07. 2021). Eine österreichische Berufsethik konnte nicht herangezogen werden, da eine solche in kodifizierter Form bislang nicht existiert.
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nahme an politischen Prozessen beruht, stehen informierte Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt.“5
Zur Ergänzung sei schließlich auf die American Library Association (ALA) verwiesen. Die traditionell besonders klare Einstellung zum Thema Informationsfreiheit der ALA kommt schon in deren Freedom to Read Statement aus dem Jahr 1953 zum Ausdruck, das zuletzt 2004 leicht angepasst wurde: „It is in the public interest for publishers and librarians to make available the widest diversity of views and expressions, including those that are unorthodox, unpopular, or considered dangerous by the majority. […] We realize that the application of these propositions may mean the dissemination of ideas and manners of expression that are repugnant to many persons. We do not state these propositions in the comfortable belief that what people read is unimportant. We believe rather that what people read is deeply important; that ideas can be dangerous; but that the suppression of ideas is fatal to a democratic society. Freedom itself is a dangerous way of life, but it is ours.“6
In diesen Aussagen wird zum einen erkennbar, dass der Grundwert Informationsfreiheit für Bibliotheken allerhöchste Priorität besitzt und zum anderen, dass Informationsfreiheit und demokratische Orientierung einander bedingen. Dies wird auch im Code of Ethics der IFLA explizit zum Ausdruck gebracht: „The core mission of librarians and other information workers is to ensure access to information for all for […] informed participation in and enhancement of democracy.“7
Bibliotheken haben den Auftrag durch informationelle Grundversorgung demokratische Partizipation und die Teilnahme an gesellschaftlichen Diskursen zu ermöglichen bzw. zu verbessern. Dies ist nur möglich, wenn Informationsfreiheit nicht eingeschränkt wird und eine pluralistische Grundhaltung zum Tragen kommt. Die gelegentlich vertretene Auffassung, die demokratische Orientierung der Bibliotheken müsse zur Folge haben, dass demokratiefeindliche Inhalte exkludiert werden, steht also eindeutig im Widerspruch zu den hier angeführten, einschlägigen ethischen Kodizes und Positionierungen. Wenn aber Bibliotheken ihre demokratische Verantwortung ernst nehmen, bedeutet dies im Zusammenhang mit NS-Zeitungen, dass diese Quellen nicht nur angemessen kontextualisiert werden,8 sondern dass im Rahmen von Ausstellungen, Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Workshops und anderen Formen der Programm5 Bibliothek und Information Deutschland: Positionspapier zum bibliothekarischen Umgang mit umstrittenen Werken. Bibliothek und Information Deutschland. 2016, URL: https://www.bi bliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/DBV/positionen/Positionspapier_Umstrittene_ Werke.pdf (abgerufen am 14. 07. 2021). 6 American Library Association: Freedom to Read Statement, 1953/2004, URL: http://www.ala. org/advocacy/intfreedom/freedomreadstatement (abgerufen am 14. 07. 2021). 7 IFLA Code of Ethics (Anm. 2). 8 Siehe dazu Abschnitt 4 in diesem Beitrag.
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arbeit wirksame Beiträge zur Aufklärung über und Dekonstruktion von NSIdeologie geleistet werden. Jugendschutz gehört ebenfalls zu den grundsätzlich unumstrittenen bibliotheksethischen Grundwerten. In der Berufsethik der IFLA findet sich dazu die klare, gegenüber der Informationsfreiheit abgewogene Aussage: „Librarians and other information workers respect the protection of minors while ensuring this does not impact on the information rights of adults.“9 Die deutsche Berufsethik verweist unbefriedigender Weise lediglich pauschal auf bestehende Gesetze.10 Was das Thema Jugendschutz im Zusammenhang mit dem Zugang zu NS-Zeitungen angeht, gilt es zu bedenken, dass Aufklärung über die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus und dessen Argumentationsmuster in der Auseinandersetzung mit Originalquellen besonders effektiv erfolgen kann. Insofern kann aus dem ethischen Grundwert des Jugendschutzes die Forderung, NS-Zeitungen zu sekretieren, nicht abgeleitet werden. Auch das Recht auf Schutz der Privatsphäre spielt nur auf den ersten Blick eine Rolle hinsichtlich der freien Verfügbarkeit von NS-Zeitungen im Internet. Da es nicht um personenbezogene Daten lebender Personen geht, wiegen auch aus ethischer Sicht Informationsfreiheit und Freiheit der Forschung stärker. Es zeigt sich, dass im hier gegebenen Zusammenhang Informationsfreiheit und demokratische Verantwortung als dominierende ethische Grundwerte anzusehen sind. Demgegenüber spielen Jugendschutz und Schutz der Privatheit keine nennenswerte Rolle. Ein Dilemma, das bei der Bereitstellung von NSZeitungen in der Kollision von Informationsfreiheit und demokratischem Auftrag gesehen werden könnte, liegt tatsächlich nicht vor.
3.
Nutzungsbedingungen für NS-Schrifttum
Schon bald nach Kriegsende verfügte der Alliierte Kontrollrat, dass in allen vier Besatzungszonen der späteren Bundesrepublik Deutschland „Literatur und Werke nationalsozialistischen und militaristischen Charakters“ einzuziehen seien.11 In der sowjetischen Besatzungszone wurde zu diesem Zweck von der Deutschen Bücherei zwischen 1946 und 1952 die sogenannte Liste der auszusondernden 9 IFLA Code of Ethics (Anm. 2). 10 Vgl. Ethische Grundsätze, (Anm. 4), S. 582: „Wir engagieren uns aus Überzeugung für die Beachtung der gesetzlichen Vorgaben für unsere Arbeit, zum Beispiel […] zum Jugendschutz.“ 11 Vgl. dazu und zum Folgenden Manfred Komorowski: Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe im wissenschaftlichen Bibliothekswesen nach 1945. In: Bibliotheken während des Nationalsozialismus. Hg. von Peter Vodosek, Manfred Komorowski. Bd. 2. Wiesbaden: Harrassowitz 1992, S. 273–295, hier S. 276–278.
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Literatur zusammengestellt, die insgesamt ca. 35.000 Titel enthielt. Entfernt werden sollten alle Schriften, „die faschistischen oder militaristischen Inhalt haben, politische Expansionsgedanken enthalten, die nationalsozialistische Rassenlehre vertreten oder sich gegen die Alliierten wenden.“12 Auch in der britischen Zone gab es 1947 eine „Liste unerwünschten Schrifttums“, doch erfolgte die Aussonderung in den westlichen Zonen unsystematischer. In öffentlichen Bibliotheken wurden die entsprechenden Bestände entweder makuliert oder an wissenschaftliche Bibliotheken abgegeben, wo diese Materialien in Sondermagazinen unter Verschluss gehalten wurden und z. T. auch heute noch werden. Bibliotheken in der britischen Besatzungszone erhielten anfangs sogar die Anweisung Einzelwerke durchzusehen, um verfängliche Stellen in ansonsten akzeptablen Werken zu schwärzen, zu überkleben oder zu entfernen.13 Tatsächlich besitzen die älteren deutschen Staats-, Landes- und Universitätsbibliotheken große Mengen an Propagandaliteratur aus der NS-Zeit. Zu denken ist nicht nur an damalige Standardwerke wie Adolf Hitlers Mein Kampf oder Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts, sondern auch an eine Vielzahl zunächst unspektakulär klingender monografischer Titel. Zuhauf finden sich Zeitschriften wie Nationalsozialistisches Bildungswesen oder Zeitungen wie der Völkische Beobachter in den Bibliotheksbeständen. Insbesondere die Zeitungen gelten der historischen, aber auch der medienwissenschaftlichen und der kulturwissenschaftlichen Forschung als hervorragende Quelle. Neben dem reichsweit erscheinenden Völkischen Beobachter sind in diesem Zusammenhang die regionalen Zeitungen wie Der Führer (Karlsruhe) oder Der Oberbergische Bote (Gummersbach) zu nennen, die nicht nur als „Hauptorgan“ der Gau- bzw. Kreisleitung fungierten, sondern zugleich als amtliches Nachrichtenblatt der staatlichen und städtischen Behörden. Aber auch vormals unabhängige Lokalzeitungen, die bereits vor 1933 erschienen und sich unter dem Druck des Regimes zu linientreuen Organen entwickelten, sind in hohem Maße in Bibliotheken überliefert. Als Beispiele zu nennen wären etwa der Duisburger General Anzeiger, erschienen von 1881 bis 1966 oder die Kölnische Zeitung, die von 1798 bis 1945 existierte. Interessanterweise hat es hinsichtlich dieser Titel in der Regel erheblich weniger, meist jedoch gar keine Benutzungseinschränkungen gegeben. Es 12 Liste der auszusondernden Literatur: Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone. Vorläufige Ausgabe nach dem Stand vom 1. April 1946. Berlin: Zentralverlag, 1946, S. 2. Auch online, URL: http://www.polunbi.de/bibliothek/1946-nslit.h tml#trans (abgerufen am 14. 07. 2021, Hervorhebungen im Original). 13 Vgl. Ute Scharmann: Geschwärzt, überklebt, zerrissen. Über die Bearbeitung von Büchern mit nationalsozialistischem oder militaristischem Inhalt nach 1945. In: BuB 69 (2017), H. 6, S. 338–341. Auch online, URL: https://b-u-b.de/wp-content/uploads/2017-06.pdf (abgerufen am 14. 07. 2021).
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mag graduelle Unterschiede zwischen den von der NSDAP herausgegebenen und den parteiunabhängigen Zeitungen gegeben haben. Doch steht außer Zweifel, dass auch die klassische Lokalpresse als Sprachrohr der NS-Ideologie instrumentalisiert wurde. Im Laufe des Jahres 1933 gelang es dem Goebbelsschen Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda mittels des Schriftleitergesetzes und der Gründung des dem Ministerium unterstellten Deutschen Nachrichtenbüros die gesamte deutsche Presse weitgehend gleichzuschalten.14 Dennoch bezogen und beziehen sich die besonderen bibliothekarischen Nutzungsregeln für Publikationen aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auf explizite Propagandaschriften und solche Zeitungen, die von der NSDAP bzw. ihren Untergliederungen herausgegeben wurden. Wie bereits erwähnt spielten bei den Entscheidungen zum Umgang mit NS-Schriftgut in Deutschland ausschließlich rechtliche Aspekte eine Rolle.15 In den Verpflichtungserklärungen, die vor der Nutzung auszufüllen und zu unterschreiben sind, wird häufig verwiesen auf die Normen des Strafgesetzbuches (StGB), insbesondere § 86 (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen), § 90a (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole), § 130 (Volksverhetzung), § 131 (Gewaltdarstellung), § 166 (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen) und § 189 (Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener).16 In der bibliotheksrechtlichen Fachliteratur spielt jedoch eindeutig § 86 StGB die entscheidende Rolle.17 In Abs. 1 werden die Verbreitung, Bevorratung und digitale Speicherung verfassungswidriger Propagandamittel unter Strafe gestellt. Diese Regelung bezieht sich explizit auf Materialien von Vereinigungen, die verboten sind, „weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richte[n]“. Mit § 86, Abs. 3 StGB wurde jedoch eine Schranke geschaffen. Demnach ist die Nutzung entsprechender Propagandamittel dann gestattet, wenn dies 14 Vgl. Wolf Kaiser: Schriftleitergesetz. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Hg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 714f.; Angelika Heider: Deutsches Nachrichtenbüro (DNB). In: Ebd., S. 427; Peter Longerich: NSPropaganda in Vergangenheit u d Gegenwart. Bedeutung der nationalsozialistischen Tagespresse für Zeitgenossen und Nachgeborene. In: NS-Propaganda im 21. Jahrhundert. Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung. Köln u. a.: Böhlau 2014. S. 15–26, hier S. 20. 15 Vgl. auch Rebecca Behnk: Nationalsozialistische Schriften – freier Zugang oder Barrieren? Rechtliche Vorgaben und praktische Umsetzung am Beispiel von Berliner Spezialbibliotheken. Berlin: Simon 2013. 16 Als Beispiel sei verwiesen auf die „Erklärung zur Benutzung von Sonderbeständen (Remota), die in der Handschriftenabteilung der UB Eichstätt-Ingolstadt verwaltet werden“. Das Formular wurde im August 2019 per Email übermittelt, ist jedoch online nicht zugänglich. 17 Vgl. etwa Wilfried Bottke: Das öffentliche Anbieten von Hitlers „Mein Kampf“. Versagt unser Rechtsstaat? In: Buch und Bibliothek 32 (1980), H. 3, S. 254–261; Hans Burkard Meyer: Ausleihbeschränkungen bei NS-Literatur. In: Bibliotheksdienst 28 (1994), H. 11, S. 1784–1790.
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„der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“18
Eine wichtige Entscheidung hat der Bundesgerichtshof 1979 getroffen, als er mit Bezug auf Hitlers Mein Kampf feststellte, es handle sich „um eine vorkonstitutionelle Schrift […], aus deren unverändertem Inhalt sich eine Zielrichtung gegen die in der Bundesrepublik Deutschland erst später verwirklichte freiheitlich demokratische Ordnung noch nicht ergeben konnte.“19
Auf dieser Grundlage kommen die meisten ExpertInnen des Bibliotheksrechts zu dem Ergebnis, dass Bibliotheken in Deutschland grundsätzlich dazu berechtigt sind, nationalsozialistisches Schrifttum für die Nutzung bereit zu stellen. So stellt Wilfried Bottke 1980 fest, dass eine ausnahmslos verhängte Ausleihsperre von NS-Schrifttum gegen Art. 5, Abs. 1 des Grundgesetzes (Zensurfreiheit) verstoße, die Ausleihe müsse jedoch von der Angabe eines sozialadäquaten Zweckes abhängig gemacht werden.20 Ähnlich argumentiert Hans-Burkard Meyer, der 1994 die Verpflichtung der Bibliotheken hervorhebt, NS-Literatur „von der normalen Ausleihe auszuschließen, also zu sekretieren“. Unter Berufung auf den Jugendschutz verweist er darauf, nur so sei „sicherzustellen, daß jugendgefährdende Medien nicht in die Hände von Benutzern gelangen, die das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben.“21 Volljährige Personen sollen jedoch Zugriff erhalten, wenn sie auf einem Formular erklären, das „Werk ausschließlich persönlich und zu wissenschaftlichen oder sonst anerkannten Zwecken benutzen zu wollen.“22 Auch Arne Upmeier plädiert 2015 für eine strenge Präsenznutzung, da ansonsten die Weitergabe durch die Bibliothek nicht kontrollierbar sei. Darüber hinaus empfiehlt er, Nutzung nur unter Aufsicht in einem Sonderlesesaal zu ermöglichen und eine Erklärung unterschreiben zu lassen, wonach die Nutzung ausschließlich zu den in § 86, Abs. 3 StGB genannten Zwecken erfolge. Studierende sollen eine Bestätigung des Forschungszwecks durch einen Professor oder eine Professorin der Einrichtung beibringen. Jugendliche sollen nur dann Zugang erhalten, wenn ein Erziehungsberechtigter zustimmt und ein Lehrer oder eine Lehrerin die
18 Vgl. dazu Arne Upmeier: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder.“ Der rechtskonforme Umgang mit Problemtexten in Bibliotheken. In: BuB 67 (2015), H. 12, S. 760– 763. Hier S. 761. Auch online, URL: https://b-u-b.de/wp-content/uploads/2015-12.pdf (abgerufen am 14. 07. 2021). 19 Bundesgerichtshof (BGH) 25. 07. 1979: Öffentliches Anbieten einzelner alter Stücke von Hitlers „Mein Kampf“. In: Neue Juristische Wochenschrift 32 (1979), S. 2216. 20 Vgl. Bottke: Das öffentliche Anbieten (Anm. 17), S. 260. 21 Meyer: Ausleihbeschränkungen (Anm. 17), S. 1789. 22 Ebd.
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Zweckbestimmung bestätigt.23 Michael Haager bestätigt die Berechtigung der Bibliotheken, NS-Schrifttum zur Benutzung bereitzustellen, fährt dann jedoch fort: „Wie leicht man solche Bestände im Katalog auffindbar macht, ist Geschmackssache.“24 Diese Auffassung ist unter ethischen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel, denn dies legt die Entscheidung darüber, ob die entsprechenden Materialien professionell erschlossen werden und zumindest ihre Existenz zu ermitteln ist, in das Belieben der jeweils handelnden BibliothekarInnen. Zu fordern ist hingegen, dass nach professionellen Standards verfahren wird, die den NutzerInnen volle Transparenz darüber verschaffen, welche Materialien zum Bestand der Bibliothek gehören. Wenn darunter Publikationen sind, deren Nutzung eingeschränkt ist, müssen die BibliothekarInnen dies gegenüber den NutzerInnen begründen und ggf. die Bedingungen für eine Nutzung klar benennen. Alles andere ist Willkür und kommt einer Zensur gleich. Viele wissenschaftliche Bibliotheken orientieren sich an den Empfehlungen von Meyer und Upmeier. NS-Materialien wie Mein Kampf oder der Völkische Beobachter sind ordnungsgemäß in den Katalogen nachgewiesen, jedoch sekretiert und werden nur auf Nachfrage für die Benutzung im Lesesaal bereitgestellt. Nicht selten wird die Zusicherung verlangt, dass die Nutzung wissenschaftlichen Zwecken dient. Dies aber ist eine unzulässige Einengung, denn wie der Blick auf § 86, Abs. 3 gezeigt hat, werden dort als legitime Gründe außer „Wissenschaft“ ausdrücklich auch „Forschung“, „Kunst“, „staatsbürgerliche Aufklärung“ und „historische Berichterstattung“ genannt. Würden allein wissenschaftliche Zwecke als Voraussetzung zur Nutzung nationalsozialistischer Publikationen anerkannt, hieße dies, dass BürgerInnen sich auf Aussagen wissenschaftlicher Publikationen verlassen müssten; interessierte Laien, Schulklassen, Volkshochschulkurse usw. hätten keine Chance, sich selbst ein Bild zu verschaffen und nationalsozialistische Ideologie anhand der Primärquellen unmittelbar zu dekonstruieren. Auch deshalb muss der Zugang zu diesen Materialien grundsätzlich dann gestattet werden, wenn in einer Erklärung zugesichert wird, dies geschehe zu den in § 86, Abs. 3 StGB genannten Zwecken. Etwa von Studierenden, wie Upmeier dies fordert, eine weitere Bestätigung des Forschungszwecks durch einen Professor oder eine Professorin der Einrichtung zu verlangen, ist vor diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen. Die Rechtskommission des Deutschen Bibliotheksverbandes e.V. (dbv) allerdings forderte 2007
23 Vgl. Upmeier: Spiel nicht (Anm. 18), S. 763. 24 Michael Haager: Schmutz und Schund in den Regalen. Wie man mit verfassungs- und jugendgefährdenden Medien umgeht. In: BuB 59 (2007), H. 5, S. 334–335, hier S. 335. Auch online, URL: https://www.b-u-b.de/pdfarchiv/Heft-BuB_05_2007.pdf (abgerufen am 14. 07. 2021).
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ebenfalls, dass der Zugang „vom Nachweis wissenschaftlicher Notwendigkeit abhängig gemacht werden“25 solle.
4.
Digitalisierung von NS-Zeitungen: rechtliche Rahmenbedingungen und konzeptionelle Vorüberlegungen
Aufgrund der meist minderen Papierqualität und des Formats sind Zeitungen in besonderem Maße von Zerfall und Beschädigungen durch Benutzung bedroht. Seit den 1960er-Jahren haben Bibliotheken daher mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in großem Umfang Zeitungen verfilmt, um die fragilen Originale zu schonen und die Inhalte auf Dauer zu sichern. In diesem Zusammenhang ist interessanterweise auch der Völkische Beobachter verfilmt worden. Die Münchener Ausgabe der Jahre 1932 bis 1945 wird heute vom Mikrofilmarchiv der deutschsprachigen Presse (MFA) in Dortmund auf 58 Filmrollen zum Preis von 2.610.– Euro vertrieben. Auf Nachfrage teilte die Geschäftsstelle im Dezember 2015 mit, Abnehmer oder Abnehmerin seien in der Regel Bibliotheken und Archive, Privatpersonen könnten aber ohne weiteres ebenfalls als Käufer oder Käuferin auftreten. Dass dies im Fall des Völkischen Beobachters jedoch noch nicht geschehen sei, könne auch auf den Preis zurückzuführen sein.26 Mittlerweile erfolgt die Langzeitarchivierung von Zeitungen und Zeitschriften durch Bibliotheken im Rahmen aufwändiger, oft öffentlich finanzierter Digitalisierungsprojekte.27 Zu erwähnen ist hier vor allem die Ausschreibung „Digitalisierung historischer Zeitungen des deutschen Sprachgebiets“ der DFG, die als Masterplan zur systematischen Digitalisierung historischer Zeitungen in Deutschland aus dem Zeitraum 1600 bis 1945 zu verstehen ist.28 Bevorzugt werden Projekte gefördert, welche über die Imagegenerierung hinaus eine Volltextgenerierung mittels Optical Character Recognition (OCR) anstreben. Auf die mit NS-Zeitungen verbundene Problematik wird in der Ausschreibung nicht
25 Kurzbericht der dbv-Rechtskommission. dbv-Rechtskommission 04. 09. 2007, S. 3. URL: https://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/Kommissionen/Kom_Recht/Re cht_Jahresbericht2007.pdf (abgerufen am 14. 07. 2021). 26 Email der Geschäftsstelle des Deutschen Mikrofilmarchivs an den Verfasser vom 08. 12. 2015. 27 Vgl. Thomas Bürger: Neue Blicke in alte Medien. Zeitungsdigitalisierung startet in fünf Bibliotheken. In: BIS. Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen 2 (2013), S. 106–109. Auch online, URL: https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A3456/attachment/ATT-0/ (abgerufen am 14. 07. 2021). 28 Vgl. Ausschreibung Digitalisierung historischer Zeitungen des deutschen Sprachgebiets. Deutsche Forschungsgemeinschaft, März 2018. URL: https://www.dfg.de/download/pdf/foer derung/programme/lis/ausschreibung_zeitungsdigitalisierung.pdf (abgerufen am 14.07. 2021).
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explizit Bezug genommen, doch lassen die Auswahlkriterien erkennen, dass diese Gruppe nicht exkludiert ist: „Leitmedien: Zeitungen, denen historisch auf Grund ihrer Verbreitung, Leistung, Prominenz der Mitarbeiter oder ihrer Reputation eine Leitfunktion zukam […]. (Presse)historische Exponenten: Zeitungen, welche für bestimmte Phasen der deutschen (Presse-)Geschichte eine exemplarische Bedeutung besitzen.“29
Die Entscheidung darüber, ob auch NS-Zeitungen digitalisiert werden, bleibt demnach den antragstellenden Bibliotheken überlassen; diese aber schrecken davor bislang zurück, weil sie unsicher sind, ob dies rechtlich zulässig ist. Die DFG-Ausschreibung konzentriert sich auf Titel mit überregionaler Bedeutung und wird etwa ein Drittel des überlieferten Bestandes an Zeitungen erfassen können. In Ergänzung zu diesem nationalen Programm sind regionale Programme in Berlin (ZEFYS), Bayern (digipress) und Nordrhein-Westfalen (zeit.punktNRW) entstanden, durch die auch Lokal- und Regionalblätter erfasst und digitalisiert werden.30 Bei dem 2017 angelaufenen nordrhein-westfälischen Zeitungsportal zeit.punktNRW fällt auf, dass aus dem Erscheinungszeitraum 1933–1945 bereits mehrere Lokalzeitungen digitalisiert worden sind, die vor 1933 unabhängig waren und auch danach nicht von der NSDAP herausgegeben wurden, die jedoch gezwungen waren, NS-Propaganda ohne Abstriche zu verbreiten. Aus dieser Gruppe sind bereits frei zugänglich im Internet Aachener Anzeiger, Bochumer Anzeiger, Bonner General Anzeiger oder Schwerter Zeitung, um nur einige zu nennen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, darunter der in Gummersbach erschienene Oberbergische Bote. Amtliches Organ der NSDAP und die Münsterländische Volkszeitung. Amtliches Organ des Gaues Westfalen-Nord der NSDAP wurden NSDAP-eigene Zeitungen wie der von der Gauleitung KölnAachen herausgegebene Westdeutsche Beobachter hingegen nicht digitalisiert. Diese Beobachtung lässt sich auch hinsichtlich des von der DFG betriebenen nationalen Programms bestätigen: Der Völkische Beobachter, das nationale Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung wurde bislang ebenfalls nicht digitalisiert. Dessen Wiener Ausgabe der Jahre 1938–1945 allerdings ist über das österreichische Zeitungsportal ANNO frei im Internet zugänglich, seit sich die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) vor einiger Zeit dazu entschlossen hat, die Digitalisierung vorzunehmen und die Dokumente ohne Auflagen bereit zu
29 Ebd., S. 4f. 30 Vgl. dazu Michael Herkenhoff: zeit.punktNRW – das nordrhein-westfälische Zeitungsportal. In: Bibliotheksdienst 52 (2018), H. 10–11, S. 790–802. Auch online, URL: https://www.degruy ter.com/view/journals/bd/52/10-11/article-p790.xml (abgerufen am 14. 07. 2021).
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stellen.31 Von den bereits genannten drei Titeln (Oberbergischer Bote, Münsterländische Volkszeitung und Völkischer Beobachter/Wiener Ausgabe) abgesehen sind bislang nur wenige NS-Zeitungen digitalisiert und im Internet frei zugänglich gemacht worden. Es handelt sich um den Führer, das Hauptorgan des NSDAP Gaus Baden und um Die Volksgemeinschaft, das Kampfblatt der Nationalsozialisten für Odenwald und Bauland. Beide wurden offenbar auf Eigeninitiative der besitzenden Bibliotheken digitalisiert. Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) hat darüber hinaus die sächsische NS-Zeitung Der Freiheitskampf digitalisiert, doch ist dieser Titel bislang nur in den Räumen der Bibliothek und des Hannah Arendt Instituts für Totalitarismusforschung einsehbar.32 Dies führt zu der Vermutung, dass Bibliotheken weiterhin davor zurückschrecken, NS-Zeitungen zu digitalisieren, weil sie keine Klarheit darüber haben, ob nicht doch mit der freien Bereitstellung dieser Materialien verschiedene Straftatbestände erfüllt sein könnten. Die Verunsicherung rührt auch daher, dass die Digitalisierung im Unterschied zur Verfilmung eine erheblich verbesserte Texterschließung bietet, wenn die Images durch OCR in Volltexte umgewandelt werden. Wenn die Digitalisate schließlich im Internet bereitgestellt werden, sind Nutzung und Kopiermöglichkeiten vom Anbieter nicht mehr zu kontrollieren. Diese Rechtsunsicherheit hat dazu geführt, dass Digitalisierungen von NS-Zeitungen bislang weitgehend unterblieben sind. Die Forschung wird dadurch eindeutig behindert. Dabei muss klar sein, dass die Volltexterschließung dieser Zeitungsbestände völlig neue Möglichkeiten eröffnet und bislang verborgene Erkenntnispotentiale, die in dieser Quellengattung liegen, nutzbar macht. Innovative Methoden zur Auswertung von Big-Data im Sinne von Digital Humanities könnten zu aufsehenerregenden Befunden führen. Die Digitalisate von NSZeitungen können daher auch als extrem bedeutsame Forschungsdaten für die NS-Forschung angesehen werden.33 Durch die Exklusion von NS-Zeitungen wird darüber hinaus die Möglichkeit erschwert, durch Vergleiche von Texten überregionaler und lokaler NS-Zeitungen mit aktuellen Texten rechtsextremer Gruppierungen identische Argumentationsmuster zu identifizieren. Die Überzeugungskraft derartiger Vergleiche wird zweifellos erheblich ansteigen, wenn Schulklassen oder BürgerInnen dafür Originalquellen nach eigener Wahl her31 Vgl. Völkischer Beobachter. Wiener Ausgabe. In: ANNO. Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften online. Österreichische Nationalbibliothek, URL: http://anno.onb.ac.at/cgi -content/anno?aid=vob (abgerufen am 14. 07. 2021). 32 Vgl. Thomas Widera, Martin Munke, Matti Stöhr: Der Freiheitskampf. Digitalisierung und Tiefenerschließung einer NS-Zeitung, 2017, URL: https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A164 01/attachment/ATT-2/ (abgerufen am 14. 07. 2021). 33 Diesen Gedanken artikulierte Bruno Bauer am 29. November 2019 anlässlich einer Podiumsdiskussion während der Tagung „Nationalsozialismus digital“ in Wien.
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anziehen können. Eine besondere didaktische Bedeutung besitzen lokale NSZeitungen auch, weil daran die Funktionsweise von Propaganda mit lokalem Bezug, die Auswirkungen der NS-Herrschaft im regionalen Raum und die Kollaboration eines nennenswerten Teils der Bevölkerung gezeigt werden können.34 Außerdem würden NS-Materialien die Aura des Magischen verlieren, die ihnen durch Verbote und Sekretierungen ungewollt zuwächst. Es gab jedoch auch von politischer Seite Bemühungen, die Digitalisierung von NS-Zeitungen zu unterbinden. So hat z. B. die Bayerische Staatsregierung versucht, die Digitalisierung des Völkischen Beobachters zu verbieten und sich dabei auf das Verlagsrecht berufen. Da der Freistaat Bayern Rechtsnachfolger des Franz-Eher-Verlages ist, in dem neben Mein Kampf auch der Völkische Beobachter erschienen war, glaubte man, dieses Ansinnen durchsetzen zu können. Doch ist das Digitalisierungsrecht nach einhelliger Rechtsauffassung nicht auf den Verlag und damit auch nicht auf das Land Bayern übergegangen.35 Die Rechtskommission des dbv hat sich 2007 mit den rechtlichen Aspekten einer Digitalisierung des Völkischen Beobachters befasst und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine „Verbreitung des Digitalisats […] der Rechtskommission strafrechtlich nicht relevant [erscheint], da die einschlägigen §§ des StGB (z. B. § 86) vorkonstitutionelle Texte nicht erfassen.“36 Gleichwohl empfiehlt die Kommission, entsprechende Digitalisate nicht allgemein zugänglich zu machen, sondern innerhalb der betroffenen Bibliotheken ausschließlich dann bereit zu stellen, wenn die wissenschaftliche Notwendigkeit der Nutzung nachgewiesen werden kann.37 Diese Auffassung wird lediglich begründet mit der erheblich schnelleren Verbreitung digitaler Inhalte und der erleichterten Möglichkeit, Kopien zu erzeugen. Ethische Reflexionen sind in diesem Zusammenhang offenbar nicht angestellt worden. Anders als Bibliotheken in Deutschland hat z. B. die Koninklijke Bibliotheek der Niederlande in Den Haag keine Bedenken, Zeitungen zu digitalisieren und frei im Internet zur Verfügung zu stellen, die entweder von der nationalsozialistischen Partei der Niederlande herausgegeben wurden oder die zwischen 1940 und 1945 erschienen und eindeutig von der Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland geprägt sind.38 Als Beispiel sei auf den als Volltext zugänglichen Titel Volk en Vaderland. Weekblad der Nationaal-Socialistische Be34 35 36 37 38
Vgl. Widera, Munke, Stöhr: Der Freiheitskampf (Anm. 32), S. 10f., 13. Vgl. Kurzbericht der DBV-Rechtskommission (Anm. 25), S. 3. Ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 3. Vgl. Empfehlungen zur Digitalisierung historischer Zeitungen in Deutschland. (Masterplan Zeitungsdigitalisierung). Ergebnisse des DFG-Projektes „Digitalisierung historischer Zeitungen“ Pilotphase 2013–2015. Dresden 12. 06. 2017, S. 51, URL: https://www.zeitschriftenda tenbank.de/fileadmin/user_upload/ZDB/z/Masterplan.pdf (abgerufen am 14. 07. 2021).
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weging in Nederland verwiesen. Mittlerweile ist jedoch auch in Deutschland zumindest auf der Ebene der im Auftrag der DFG damit befassten bibliothekarischen ExpertInnen erkannt worden, dass die digitale Erfassung und Bereitstellung von NS-Quellen von großer wissenschaftlicher Bedeutung ist. Aus diesem Grund sind zwei juristische Expertisen in Auftrag gegeben worden, die sich mit den strafrechtlichen sowie den urheberrechtlichen Rahmenbedingungen am Beispiel der sächsischen NS-Zeitung Der Freiheitskampf befasst haben.39 In dem strafrechtlichen Gutachten wird festgestellt, dass die Digitalisierung von NSZeitungen keinen Straftatbestand erfüllt. Nicht ganz so eindeutig ist der Befund hinsichtlich des Urheberrechtes. Knapp ein Viertel der Beiträge in der genannten Zeitung sind namentlich gezeichnet. Für eine Veröffentlichung wäre daher die Zustimmung der AutorInnen bzw. ErbInnen einzuholen, sofern seit dem Tod der VerfasserInnen noch nicht mehr als 70 Jahre vergangen sind. Die entsprechenden Daten und Anschriften im Vorfeld zu ermitteln, ist aufgrund des unverhältnismäßigen Aufwandes nicht zu leisten. Ein nennenswerter wirtschaftlicher Schaden würde den InhaberInnen der jeweiligen Urheberrechte durch eine Veröffentlichung der Beiträge in den NS-Zeitungen ohne Zustimmung jedoch nicht entstehen.40 Daher erscheint es gerechtfertigt, diese Quellen insgesamt frei nutzbar zu machen. Im Falle zahlreicher Zeitungen aus dem Zeitraum 1933– 1945, die von der NSDAP weder gegründet noch direkt übernommen worden sind, haben urheberrechtliche Bedenken jedenfalls nicht dazu geführt, dass Digitalisierung und Bereitstellung unterblieben wären. Außer dem Straf- und dem Urheberrecht wird als Hindernis für die völlig freie Bereitstellung nationalsozialistischer Quellen im Internet das Jugendrecht bzw. genauer das Jugendschutzgesetz angeführt. Eine wichtige Institution ist in diesem Zusammenhang die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), die rechtsverbindlich prüft, ob Medienangebote jugendgefährdende Inhalte aufweisen und daher Jugendlichen nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Die Bundesprüfstelle beruft sich bei ihrer Tätigkeit auf § 18 JuschG, demzufolge „unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien“ als jugendgefährdend einzustufen sind. Für den hier gegebenen Zusammenhang ist die für die Prüfpraxis entwickelte Fallgruppe „Verherrlichung des Nationalsozialismus“ mit den zugehörigen Erläuterungen von Belang. Indiziert werden demnach Medien, „welche die totalitäre NS-Ideologie aufwerten, rehabilitieren oder verharmlosen“ bzw. in denen „für den Nationalsozialismus, dessen Rassenlehre, autoritäres Führerprinzip, Volkserziehungsprogramm, Kriegsbereitschaft und Kriegsführung geworben
39 Vgl. ebd., S. 51. 40 Vgl. ebd., S. 52.
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wird.“41 Diese Regelungen beziehen sich offenbar ausschließlich auf Medien, die nach 1945 erschienen sind. Es ist bislang in keinem Fall eine historische NSQuelle als jugendgefährdend klassifiziert worden. Wünschenswert wäre jedoch, dass der Gesetzgeber hier Klarheit schafft und diese Quellengattung nicht nur implizit, sondern auch explizit im Interesse historischer Aufklärung als nicht jugendgefährdend deklariert. Gelegentlich wird auch darauf verwiesen, dass durch den freien Zugriff auf NS-Zeitungen im Internet Persönlichkeitsrechte der in den Presseartikeln erwähnten Personen verletzt werden könnten. Diese Bedenken lassen sich definitiv ausräumen, da der Datenschutz grundsätzlich mit dem Tod eines Menschen endet. Ein postmortaler Persönlichkeitsschutz lässt sich allenfalls aus dem grundgesetzlich garantierten Schutz der Menschenwürde ableiten, verblasst jedoch nach herrschender Rechtsauffassung mit der Zeit. Es ist daher davon auszugehen, dass Nachfahren sich nicht mehr auf ein postmortales Persönlichkeitsrecht berufen können, wenn die betroffenen Personen länger als 30 Jahre verstorben sind.42 Rechtliche Barrieren, die der Digitalisierung mit anschließender uneingeschränkter Bereitstellung entgegenstünden, bestehen allenfalls in den nicht zu klärenden Urheberrechten hinsichtlich der namentlich gezeichneten Artikel. Da dieser Aspekt für die Digitalisierung einer Vielzahl anderer Zeitungen aus dem Zeitraum 1933 bis 1945 offenbar keinen Hinderungsgrund dargestellt hat, ist nicht einzusehen, warum bei NS-Zeitungen anders verfahren werden soll. Dennoch ist der Forderung zuzustimmen, dass der Gesetzgeber auch in dieser Hinsicht Rechtssicherheit schafft und dafür so sorgt, dass die Veröffentlichung von Quellen des Nationalsozialismus auch via Internet vorgenommen werden kann, ohne dass Zweifel an der Rechtssicherheit des Vorgehens bestehen.43 In jedem Fall ist die bereits 2017 ausgesprochene Empfehlung der SLUB Dresden, NS-Zeitungen umfassend zu digitalisieren und in einem Portal „Zeitungen der NS-Zeit“ zu veröffentlichen, zu begrüßen.44 Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Appell, bei der Präsentation Kontextualisierungen anzubieten, die es erleichtern, den wahren Kern der NS-Propaganda zu erkennen und die damit verbundenen Ideologeme zu dekonstruieren. Ein bloßer Disclaimer, in dem sich die anbietende Bibliothek von den Inhalten der NS-Materialien
41 Weitere anerkannte Gründe. Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. URL: https://w ww.bzkj.de/bzkj/indizierung/was-wird-indiziert/weitere-anerkannte-gruende (abgerufen am 14. 07. 2021). 42 Diese klärende Auskunft verdankt der Verfasser dem Bibliotheksrechtsexperten Dr. Harald Müller. 43 Vgl. Empfehlungen zur Digitalisierung (Anm. 38), S. 52. 44 Vgl. ebd., S. 52.
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distanziert, reicht dafür allerdings nicht aus.45 Es empfiehlt sich, z. B. begleitende Aufklärungsmaterialien (auch in audiovisueller Form), Überblickstexte und Literaturhinweise bereitzustellen. Mittels computerlinguistischer und semantischer Technologien können kontextsensitiv vorbereitete Materialien angezeigt und angeboten werden, die zu den von den NutzerInnen eingegebenen Suchbegriffen passen. Ein solches Instrument sollte ähnlich wie ein Chatbot funktionieren. Die Entwicklung und Pflege könnten kollaborativ geschehen und auf der Kooperation der beteiligten leistungsstarken Bibliotheken mit einschlägigen FachwissenschaftlerInnen beruhen. Wenn die NS-Presse angeboten wird, sollten selbstverständlich auch die Exilpresse und weitere Dokumente des Widerstands zur Kontextualisierung im Volltext frei zur Verfügung stehen. Eine grundlegende Forderung richtet sich an alle Bildungseinrichtungen: Schulen, Hochschulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung und selbstverständlich auch Bibliotheken müssen möglichst umgehend nachhaltige Anstrengungen unternehmen, um die Medien- und Informationskompetenz, die Fähigkeit zur Quellenkritik grundlegend zu steigern. Idealerweise erfolgen diese Anstrengungen im Rahmen eines übergreifenden, abgestimmten und von der Politik ausreichend alimentierten Konzeptes. Nur so wird es möglich sein, dem nachlassenden Wissensstand zum Thema Nationalsozialismus wirksam zu begegnen und dem aggressiven Rechtspopulismus Paroli zu bieten.
5.
Benutzungsbedingungen und Digitalisierungsambitionen: Ergebnisse einer Umfrage
Nachdem nun dargestellt worden ist, welche ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung von NS-Zeitungen in analoger Form bzw. als digitaler Volltext bei freiem Zugang im Internet bestehen, soll nunmehr der IstZustand aufgezeigt werden. Zu diesem Zweck ist im August 2019 eine verdeckte Umfrage per Email bei 53 wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland durchgeführt worden. Ausgewählt wurden solche Bibliotheken, die ausweislich 45 Vgl. etwa den Text der ÖNB zum Völkischen Beobachter, Wiener Ausgabe (Anm. 31).: „Der Völkische Beobachter war von 1920 bis zum 30. April 1945 das publizistische Kampfblatt der NSDAP und das Flaggschiff der nationalsozialistischen Propaganda. Die Österreichische Nationalbibliothek distanziert sich ausdrücklich von allen nationalsozialistischen Inhalten und stellt die Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachters 1938–1945 ausschließlich für Zwecke des privaten Studiums sowie für die Forschung und Lehre zur Verfügung. Die Österreichische Nationalbibliothek weist ausdrücklich darauf hin, dass eine missbräuchliche Verwendung dieser Inhalte einen Straftatbestand darstellen kann.“ Als eine der Empfehlungen des Symposiums NS-digital werden mit Erscheinen dieses Bandes weitere Kontextualisierungen zur NS-Presse und zur Exilpresse auf der ANNO-Seite der ÖNB publiziert (Anm. der Hg.).
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der Zeitschriftendatenbank (ZDB) über einen nennenswerten Bestand einer entweder regionalen oder nationalen Zeitung verfügten, die von der NSDAP zwischen 1933 und 1945 herausgegeben worden ist. Bei der Anfrage in Köln war es z. B. um den dort erschienenen Westdeutschen Beobachter gegangen, in Regensburg um die Bayerische Ostwacht oder in Hannover um die Niedersächsische Tageszeitung. Sofern keine lokale oder regionale NS-Zeitung existierte bzw. kein Bestand nachgewiesen war, wurde nach den Beständen reichsweit verbreiteter NS-Organe gefragt, wie dem Völkischen Beobachter oder dem Stürmer. Konkret sollte ermittelt werden, unter welchen Bedingungen die Print- bzw. Mikrofilmausgaben einzusehen seien und ob die Absicht bestehe, die entsprechenden Bestände zu digitalisieren.46 Von 53 um Auskunft gebetenen Bibliotheken haben 50 geantwortet. Das entspricht einem Rücklauf von 94 %. Die Zahl der Bibliotheken, die eine uneingeschränkte Nutzung in Aussicht stellten, lag mit 32 (64 %) unerwartet hoch. Zu bedenken ist jedoch, dass darin auch pauschale Zusagen enthalten sind, die darin bestanden, eine Nutzung sei möglich, es müsse jedoch ein Termin vereinbart werden, da es sich um magazinierte Bestände handele. Nicht auszuschließen ist, dass in manchen Fällen vor der konkreten Nutzung doch eine schriftliche oder mündliche Erklärung über den Zweck der Nutzung bzw. eine Identifikation durch den Personalausweis eingefordert worden wäre. Acht Bibliotheken (16 %) wiesen darauf hin, dass eine Nutzung nur möglich sei, wenn ein Personalausweis vorgelegt werde und zehn Bibliotheken verlangten eine schriftliche Erklärung darüber, dass die Nutzung ausschließlich zu wissenschaftlichen oder pädagogischen Zwecken erfolge. Benutzungsbedingungen Ohne Auflagen Identifikation durch Personalausweis
Anzahl/Anteil
Schriftliche Erklärung (wiss./päd. Zweck) Tabelle 1: Benutzungsbedingungen für NS-Zeitungen in analoger Form
32 (64 %) 8 (16 %) 10 (20 %)
Eine erfreulich große Zahl der Bibliotheken wies proaktiv darauf hin, dass von Filmen Scans angefertigt und auf einen benutzereigenen USB-Stick geladen werden könnten. Umgekehrt wurde in einem Fall mitgeteilt, dass für Scans oder Ausdrucke eine Genehmigung der Bibliotheksleitung eingeholt werden müsse und das Fotografieren grundsätzlich nicht erlaubt sei. Kurios war ferner, dass in einer Stadt die Nutzung in der Universitätsbibliothek ohne Auflagen in Aussicht 46 Der genaue Text der Anfrage lautete: „Ich würde gerne die im Bestand Ihrer Bibliothek befindlichen Ausgaben der NS-Zeitung einsehen. Unter welchen Bedingungen ist dies möglich? Ferner würde mich interessieren, ob eine Digitalisierung des oben genannten Titels vorgesehen ist bzw. ob die Materialien dann im Netz einsehbar sein werden.“
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gestellt wurde, derselbe Titel aber in der dortigen Landesbibliothek nur bei nachgewiesenem wissenschaftlichem Interesse gestattet wurde. Auf die Frage nach Plänen zur Digitalisierung des in Rede stehenden Titels antworteten lediglich zwei Bibliotheken (4,2 %) mit ja, während 46 (95,8 %) erklärten, eine Digitalisierung sei nicht geplant. Als Begründung wurde in vielen Fällen darauf verwiesen, es sei aus strafrechtlichen und urheberrechtlichen Gründen prinzipiell unmöglich, NS-Zeitungen zu digitalisieren und frei zugänglich zu machen. Digitalisierung geplant Digitalisierung nicht geplant
2 (4,2 %) 46 (95,8 %)
Tabelle 2: Digitalisierungsabsichten
Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass der Zugang zu NS-Zeitungen weiterhin uneinheitlich geregelt ist. Im Vergleich zu den von den meisten Bibliotheksrechtsexperten ausgesprochenen Empfehlungen47 wird er jedoch offenbar liberaler gehandhabt.48 Die strafrechtlichen, urheberrechtlichen und jugendschutzrechtlichen Rahmenbedingungen scheinen nicht überall in ausreichendem Maße bekannt zu sein. Große Unsicherheit herrscht hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Digitalisierung und freie Bereitstellung von NS-Zeitungen.
6.
Nächste Schritte
Besonders auffallend ist, dass ethische Reflexionen bei Überlegungen und Entscheidungen zum Umgang mit NS-Publikationen augenscheinlich keine Rolle spielen. Die Fixierung auf rechtliche Kontexte ist dominant. Unsicherheiten und ein unzureichender Informationsstand führen dazu, dass eine Digitalisierung und freie Bereitstellung von NS-Zeitungen im Internet nicht erwogen werden. Daher ist dringend zu fordern, dass umfassende Maßnahmen ergriffen werden, die zur ethischen Reflexion des Themenfeldes motivieren. Unter ethischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage, warum es Privatpersonen verwehrt sein sollte, NS-Zeitungen in der Bibliothek oder über das Internet zu nutzen, sei es aus privatem oder sonstigem Interesse. Für die freie Verfüg47 Vgl. etwa Meyer: Ausleihbeschränkungen (Anm. 17); Upmeier: Spiel nicht (Anm. 18). 48 Vgl. dazu auch Hermann Rösch: Eine ethische Herausforderung. Der Zugang zu nationalsozialistischer Propagandaliteratur in Hochschulbibliotheken. In: Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen. Hg. von Anna-Maria Brandstetter, Vera Hierholzer. Göttingen: V&R unipress 2018, S. 257–270. Auch online, URL: https:// www.vr-elibrary.de/doi/pdf/10.14220/9783737008082 (abgerufen am 14. 07. 2021).
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barkeit spricht der Grundwert der Informationsfreiheit. Zu einzelnen weltanschaulichen Auffassungen kann sich nur wirksam und glaubwürdig positionieren, wer sich eigenständig damit auseinandersetzen konnte. Dafür muss auch die Chance gegeben sein, Originalquellen heranzuziehen. Grundsätzlich ist für alle Fälle, in denen rechtliche Schranken identifiziert werden, die es unmöglich machen, ein unter ethischen Gesichtspunkten empfehlenswertes Handeln auch umzusetzen, zu empfehlen, in gemeinsamen Anstrengungen über eine öffentliche Debatte auf dem dafür vorgesehenen Verfahrensweg eine Änderung des geltenden Rechtes zu erzielen. Im Hinblick auf Benutzung der Originale und Bereitstellung der Digitalisate von NS-Zeitungen aber scheint das geltende Recht allenfalls marginale Schranken auf der Ebene des Urheberrechts und geringe Unsicherheiten hinsichtlich des Jugendschutzes zu bieten. Auch wenn darin keine ernsthaften Hinderungsgründe zu erkennen sind, sollten die bibliothekarischen Expertengremien und die Berufsverbände den Gesetzgeber auffordern, klare Regelungen zu schaffen, damit auch letzte Zweifel an der rechtssicheren Digitalisierung und Bereitstellung von NS-Zeitungen ausgeräumt werden. Unabhängig davon wäre es wichtig, durch umfassende Aufklärung über den Status quo der Rechtslage für Entkrampfung zu sorgen und die Bibliotheken so zur systematischen Digitalisierung auch ihrer NS-Publikationen zu ermuntern. Dringend erforderlich sind also eine grundlegende Steigerung des ethischen Problembewusstseins und die nachhaltige Aufklärung über die tatsächlichen rechtlichen Rahmenbedingungen. Durch eine „gelebte“ Berufsethik ergäbe sich die Chance, Orientierung zu erleichtern und gemeinsame Standards zu etablieren. Im gegebenen Zusammenhang würde es sich anbieten, eine Empfehlung zum Umgang mit nationalsozialistischem Schrifttum in Bibliotheken zu erarbeiten, die sowohl bibliotheksethische als auch bibliotheksrechtliche Expertise vereint. Eine solche Empfehlung sollte vor der Verabschiedung durch die bibliothekarischen Verbände in der Berufsöffentlichkeit diskutiert und anschließend der allgemeinen Öffentlichkeit vorgestellt werden. Im weiteren Verlauf wäre sicherzustellen, dass diese und andere ethisch abgesicherte Handlungsempfehlungen tatsächlich bekannt sind. Damit erst werden NutzerInnen davon ausgehen können, dass deutsche Bibliotheken ihrem Auftrag zur Garantie von Meinungs- und Informationsfreiheit auch im Hinblick auf Primärquellen aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft durchgängig in zufriedenstellender Weise nachkommen.
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Markus Stumpf
Sinnvoll, angemessen und gerecht? Digitale Wiederveröffentlichung von NS-Schrifttum durch Bibliotheken
Zusammenfassung Der Beitrag zeigt zunächst den Umgang mit NS-Schrifttum in österreichischen Bibliotheken im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen auf. In weiterer Folge beschäftigt sich der Aufsatz mit der unkontextualiserten und kontextualisierten Wiederveröffentlichung sowie auf breiter Quellenbasis und unter Einbezug der aktuellen Forschungsliteratur mit der Online-Zugänglichkeit von digitalisierter NS-Literatur. Die daraus resultierenden vielfältigen Konsequenzen für die Gedächtnisinstitutionen, wie etwa die Normalisierung von antisemitischer, rassistischer und verhetzender NS-Propaganda, werden reflektiert und in den Handlungsfeldern Kuratierung, Kontextualisierung und historischpolitischer Bildungsarbeit konkretisiert. Darüber hinaus wird auch perspektivisch ein erneuertes Selbstverständnis für Bibliotheken formuliert, das mit der Übernahme herausgeberischen und verlegerischen Handelns einherzugehen hat. Schließlich wird die Forderung nach einem Programm für die freie digitale Zugänglichkeit der aufarbeitenden wissenschaftlichen Literatur zum Nationalsozialismus zur Dekonstruktion der NS-Inhalte erhoben. Schlagwörter Nationalsozialismus, Druckwerke, Entnazifizierung, Wiederveröffentlichung, Normalisierung, Digitalisierung, Kontextualisierung, Kuratierung, Bibliotheksethik, Library Publishing Abstract Reasonable, Appropriate and Fair? Digital Republishing of National Socialist Literature by Libraries This contribution first addresses how Austrian libraries dealt with National Socialist literature in the course of denazification. Subesequently, its focus moves on to context free and to contexualized reissues and the question of online access to NS literature, a discussion based on a broad range of sources and current research literature. The author reflects on the diverse consequences for memory institutions, such as antisemitic, racist
Markus Stumpf, Universität Wien, Institut für Zeitgeschichte und Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte, E-Mail: [email protected] | ORCID iD: https://orcid.org/0000-0003-49469988
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Markus Stumpf
and inflammatory NS propaganda being normalised, and points to curation, contextualisation and historical and political education as concrete fields of action. A renewed perspective on how libraries should see their function in this context is offered, to fulfil which libraries need to act as editors and publishers. Finally the author calls for a programme providing free digital access to the academic literature on the topic of National Socialism necessary to deconstruct NS content. Keywords National Socialism, print works, denazification, reissues, normalisation, digitisation, contextualisation, curation, library ethics, library publishing
I.
„[…] aus wissenschaftlichem Interesse zu Dokumentationszwecken in den Bibliotheksbestand aufgenommen […]“ – Nationalsozialistische Druckschriften in Bibliotheken Österreichs
In Österreich begannen die Vorgaben für einen „besonderen“ Umgang mit NSSchriften nicht erst mit dem Ende des NS-Regimes und dem Beginn der 2. Republik, sondern bereits im „austrofaschistischen Ständestaat“ bzw. in der „Kanzlerdiktatur“ zwischen 1933 und 1938. Wurde zunächst der rechtliche Rahmen geschaffen, um Presseerzeugnisse die „durch Verletzung des vaterländischen, religiösen oder sittlichen Empfindens eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit herbeizuführen geeignet“1 waren zu beschlagnahmen, konnten ab Oktober 1933 auch ausländische Zeitungen, falls „durch ihre Verbreitung für eine Partei, der jede Betätigung in Österreich verboten ist, geworben werde“2 verboten werden. Das betraf 1933 die Kommunistische Partei Österreichs und die Nationalsozialisten und ab Februar 1934 auch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs. Für die Generaldirektion für öffentliche Sicherheit stellte die „Propaganda für verbotene Parteien“ und damit auch die aus dem nationalsozialistischen Deutschland stammende Literaturproduktion ein Problem dar, „da ein Großteil der deutschen Presse weitgehend gleichgeschaltet“ sei. Anhand von Verbotslisten, die aber wiederum vor der Öffentlichkeit geheim zu halten waren, wurden die österreichischen Bibliotheken, wie die Universitätsbibliothek Wien (UB Wien), in das System eingebunden. Der Historiker und Bibliothekar Peter Malina fasste dies folgendermaßen zusammen: „In diesen Listen zeigt sich ein ‚Geist‘, der prinzipiell jede Diskussion, jede 1 BGBl 1933/41, §3, URL: https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=bgb&datum=19330004&s eite=00000296, abgerufen am 03. 01. 2021. 2 BGBl 1933/472, URL: https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=bgb&datum=19330004&sei te=00001143, abgerufen am 03. 01. 2021.
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Digitale Wiederveröffentlichung von NS-Schrifttum durch Bibliotheken
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Auseinandersetzung mit nichtkonformen Positionen zu verbieten trachtete.“3 Dieser „Geist“ war dem des NS-Regimes mit seinen Verboten4 und seiner Propaganda5 durchaus ähnlich, sodass die Zensur nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 in den Bibliotheken direkt aber mit anderen Vorgaben und schließlich unter Ausschluss der jüdischen BibliotheksbenutzerInnen6 fortgesetzt werden konnte. 1945 stand man schließlich vor dem Problem die „Durchdringung und Überschwemmung mit nationalsozialistischen Schriften“7 zu beseitigen. Dies erfolgte durch die so genannte Literaturreinigung, Zentralisierung und durch gesetzliche Maßnahmen, die mitverantwortlich für die heutige Verteilung von nationalsozialistischen Beständen in Österreich in den hauptsächlich wissenschaftlichen Bibliotheken ist.
Entnazifizierung in der Nachkriegszeit Die Entnazifizierung umfasste sowohl rechtliche als auch politische Säuberung sowie die Rückgabe von Besitz und Eigentum von geraubten und entzogenen Gütern. Hinzu kamen die Bereinigung von Gesetzen mit nationalsozialistischem und rassendiskriminierendem Inhalt, z. B. mit der Entfernung von Hinweisen auf den „Führer- und Reichskanzler“, aber auch die „Reinigung“ von nationalsozialistischen Schriften und Literatur. Insgesamt wurden dabei in sich parallel entwickelnden Prozessen die politischen Positionen der einzelnen Akteure, wie Alliierte, Alliierter Rat, Nationalrat, österreichische Regierung, Bundesrat, Parteien usw. verhandelt, die auch vor der Folie des Kalten Krieges8 zu sehen sind. 3 Peter Malina: Bücherverbote in Österreich 1933–1938. Zur Kontrolle systemverdächtiger Literatur am Beispiel der Universitätsbibliothek Wien. In: Zeitgeschichte 10(1982/83), H. 6, S. 311–335, hier S. 330. 4 Für den Zeitraum 1933–1934 vgl. beispielhaft Dietrich Aigner: Die Indizierung „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ im Dritten Reich. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 11(1971), Lieferung 3–5, Sp. 933–1034. 5 Vgl. grundlegend Bernd Sösemann: Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur. 2 Bde. Stuttgart. Steiner 2011 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 25). 6 Vgl. Christina Köstner-Pemsel, Markus Stumpf: Ein Spiegelbild machtpolitischer Umbrüche – Die Universitätsbibliothek Wien. In: Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Hg. von Karl Anton Fröschl, Gerd B. Müller, Thomas Olechowski und Brigitta Schmidt-Lauber. Göttingen: Vienna University Press bei V&R unipress 2015 (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), S. 513–528, hier S. 520–522. 7 Dieter Stiefel: Entnazifizierung in Österreich. Wien-München-Zürich: Europaverlag 1981, S. 238. 8 Vgl. Gerhard Renner: Entnazifizierung der Literatur. In: Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955. Hrsg. v. Sebastian Meissl, Klaus-Dieter Mulley und Oliver Rathkolb. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, S. 202–229, hier S. 219–220.
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Jedenfalls stellte für die Alliierten die „politische Säuberung des Gesellschaftsund Wirtschaftslebens von jedem nationalsozialistischen und faschistischen Einfluss eine unbedingte Voraussetzung für die weitere demokratische Entwicklung in Europa dar, wie auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 bereits klargestellt worden war.“9 Zunächst wurde eine (Selbst-)Reinigung der Literatur von der Bevölkerung und den Behörden „spontan und ohne Anweisungen von oben“10 durchgeführt. So versuchte die Bevölkerung NS-Literatur loszuwerden, aber bereits im April 1945 wurden „die Wienerinnen und Wiener auf Plakaten des Amtes für Kultur aufgefordert, Buchbestände in leerstehenden Wohnungen geflüchteter Nationalsozialisten zu melden, damit die Bücher abgeholt und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden könnten.“11 Die Literaturreinigung in den Bibliotheken erfolgte zunächst im Sinne des Verbotsgesetzes (VG) vom 8. Mai 1945, aber ohne spezielle gesetzliche Grundlage. Die einzelnen Bibliotheken, Leihbüchereien, Buchhandlungen, Schulbibliotheken und Volksbildungsstätten wurden vom Unterrichtsministerium und den Landesregierungen zwischenzeitlich angewiesen, „nationalsozialistische Literatur und alle der Völkerversöhnung feindlichen und den Rassenhaß fördernden Schriften auszuscheiden und unter Verschluß zu halten.“12 Auf Vorschlag der Sowjets befasste sich im Oktober 1945 der Alliierte Rat mit der Entfernung faschistischer Literatur in Österreich und Ende 1945 erarbeiteten die Alliierten eine Direktive über die Entnazifizierung der Literatur, die der Alliierte Rat am 10. Jänner 1946 annahm. Darin war eine umfassende Entfernung und Vernichtung von faschistischen Druck- und Bildwerken aller Art und auf allen Gebieten vorgesehen.13 Auch verlangte der Alliierte Rat die Einsetzung einer Zentralkommission beim Ministerium für Unterricht und gleicher Kommissionen bei den Landeshauptmannschaften und bei der Gemeinde Wien zur Überprüfung und Überwachung aller Durchführungsbestimmungen.14 Zur weiteren Benutzung hieß es unter Punkt 4:
9 Brigitte Bailer: Gegen nationalsozialistische Wiederbetätigung und Holocaustleugnung. Das NS-Verbotsgesetz 1947 bis heute. In: Mathias Lichtenwagner, Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.): „… um alle nazistische Tätigkeit und Propaganda in Österreich zu verhindern“. NS-Wiederbetätigung im Spiegel von Verbotsgesetz und Verwaltungsstrafrecht. Graz: Clio 2018 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz 6), S. 13–26, hier S. 13. 10 Stiefel: Entnazifizierung (Anm. 7), S. 238. 11 Heimo Gruber: Die Wiener Städtischen Büchereien 1945 bis 1949. In: Friedrich Stadler: Kontinuität und Bruch 1938–1945–1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wien-München: Jugend und Volk 1988, S. 93–132, hier S. 105. 12 Stiefel: Entnazifizierung (Anm. 7), S. 239. 13 Ebd, S. 239–240. 14 Vgl. Ministerratsprotokoll Nr. 3, 14. 01. 1946. In: Protokolle des Ministerrats der Zweiten Republik. Kabinett Leopold Figl I: 20. Dezember 1945 bis 8. November 1949, Band 1: 20. Dezember 1945 bis 9. April 1946. Wien: Österreich 2004, S. 43–65, hier S. 46.
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„Für wissenschaftliche Studien und Forschungszwecke ist es erlaubt, einen besonderen Bestand (zwei Exemplare jeder Ausgabe) der zu entfernenden Schriften an der Nationalbibliothek und den Universitätsbibliotheken, ebenso an den Bibliotheken anderer höherer Bildungsanstalten in Österreich entsprechend ihrem Ausbildungsziel zu belassen. Die Verantwortung für die ordentliche Zusammenstellung dieser Bestände und den Gebrauch dieser Literatur ist dem Unterrichtsminister übertragen.“15
So heißt es auch in der im Jänner 1946 vom Bundesministerium für Unterricht für den Buchhandel und die Büchereien herausgegebenen Liste der gesperrten Autoren und Bücher, die auf Basis der zuvor erarbeiteten Listen16 erstellt worden war: „Infolge der Unmöglichkeit, das gesamte faschistische, nationalsozialistische Schriftgut der letzten 25 Jahre namentlich anzuführen und in Listen zusammenzufassen, werden alle Bücher und Schriften, deren Inhalt eindeutig nationalsozialistische, bzw. faschistische Ideologie verfolgt, für Druck, Verkauf und Verleih gesperrt. Unter diese Sperre fallen selbstverständlich alle Druckwerke, deren Autoren bekannte Faschistenführer oder Kriegsverbrecher, wie Hitler, Goebbels, Rosenberg, Mussolini usf., sind, sowie der Titel schon den zu verbietenden Inhalt kennzeichnen, wie zum Beispiel Themen der Kriegsverherrlichung des positiven Militarismus, der Rassenfrage oder ähnliches.“17
Die Gültigkeit der „Autorensperrliste“, die selbst nur weniger bekanntes Schrifttum anführte, aber grundlegend auf die Nationalsozialistische Bibliographie. Monatshefte der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutz des NSSchrifttums von 1936–1944 als zu sperrende Schriften verwies, wurde zunächst mit 1. September 1946 begrenzt, um im Oktober 1946 auf unbestimmte Zeit verlängert18 zu werden. Dabei war die maßgebliche Intention der Alliierten und der Nachkriegspolitik in Österreich im Umgang mit NS-Werken die Vermeidung propagandistischen Missbrauchs: „Diese Maßnahme geschieht nicht aus Gründen einer Einengung der Kulturaufgaben der Literatur – eine solche Einengung ist weder heute noch in Zukunft beabsichtigt – vielmehr hat sich diese Maßnahme als notwendig herausgestellt, um propagandistischen Mißbrauch der Literatur zu vereiteln. Da an eine Verfolgung des geistigen Schaffens nicht gedacht wird, ist auch von jeder Vernichtung der Bücher abzusehen. Die
15 Stiefel: Entnazifizierung (Anm. 7), S. 240. 16 Bis Sommer 1945 wurde eine 2.200 Werke umfassende nicht einzustellende Sperrliste ausgearbeitet. Eine Liste mit 600 Titeln folgte Ende August. Die im Amt für Kultur und Volksbildung tagende Sichtungskommission bestand aus Vertretern der Stadtbibliothek, des Verbands demokratischer Schriftsteller und Journalisten und des Staatsamts für Unterricht (vgl. Gruber: Büchereien (Anm. 11), S. 112). 17 Liste der gesperrten Autoren und Bücher. Maßgeblich für Buchhandel und Büchereien. Hrsg. vom Bundesministerium für Unterricht. Jänner 1946, S. 3. 18 Vgl. Murray G. Hall, Christina Köstner: … Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2006, S. 471.
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Bücher sind gut zu verwahren und dürfen bis zum angegebenen Zeitpunkt weder verkauft noch verliehen werden.“19
Die österreichische Bundesregierung kam dem alliierten Auftrag nach und legte dem Nationalrat ein Bundesverfassungsgesetz betreffend die Vernichtung von Druck- und Bildwerken nationalsozialistischen Gehalts oder eines den alliierten Mächten feindlichen Charakters vor. Nach Diskussion der im Nationalrat vertretenen Parteien nahm schließlich der österreichische Nationalrat am 20. März 1946 das Literaturreinigungsgesetz an.20 Im Wesentlichen entsprach dies den alliierten Forderungen, so wurden etwa auch EigentümerInnen von Privatbibliotheken ablieferungspflichtig (Artikel I, § 2), darüber hinaus wurde für die Durchführung beim Unterrichtsministerium eine Zentralkommission und bei allen Landeshauptmannschaften je eine eigene Kommission gegründet (Artikel III, Punkt 1) und die Verheimlichung eines ablieferungspflichtigen Werkes mit mindestens sechs Monaten Arrest bestraft (Artikel IV). Und im Artikel I, § 4 wurde festgelegt, dass für „Zwecke der Wissenschaft je zwei Stücke jedes ablieferungspflichtigen Erzeugnisses (§ 1) in besonderen Abteilungen in der Österreichischen Nationalbibliothek und bei jenen Hochschulbibliotheken zurückbehalten werden, die zur Erfüllung ihres Aufgabenkreises solche Erzeugnisse benötigen.“21 Der Nationalrat hatte das Literaturreinigungsgesetz jedoch mit zwei Änderungen verabschiedet, die vom Alliierten Rat abgelehnt22 wurden. Einerseits wurde die Ablieferung auf weitere „wissenschaftliche Anstalten“, wie die Landesbibliotheken und Städtische Bibliothek Wien erweitert. Andererseits wurde natürlichen und juristischen Personen im Interesse ihrer öffentlichen Tätigkeit mit Genehmigung des Unterrichts- und des Innenministeriums erlaubt, auch solche verbotenen Bücher in ihren Privatbibliotheken behalten zu dürfen. „Hierbei war der Nationalrat offensichtlich von dem Gedanken geleitet, jenen zahlreichen Fällen Rechnung zu tragen, in denen auch in Zukunft die Benützung nationalsozialistischer Literatur für Amtszwecke und sonstige öffentliche Zwecke dringend nötig sein wird; insbesondere auch jene Personen, die mit der geistigen Bekämpfung der nationalsozialistischen Ideologie jetzt und in Zukunft befaßt sein werden, nicht ihres wichtigsten Materials berauben.“23 19 Bundesministerium für Unterricht: Liste (Anm. 17), S. 3. 20 Vgl. Stiefel: Entnazifizierung (Anm. 7), S. 240–242. 21 Regierungsvorlage, 109 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates (V. Gesetzgebungsperiode), https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/V/I/I_00109/imfname _337178.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). 22 Entsprechend des Ersten Alliierten Kontrollabkommens vom 4. Juli 1945 mussten Gesetze, die der österreichische Nationalrat beschloss, vom Alliierten Rat einstimmig bestätigt werden. 23 Regierungsvorlage, 109 der Beilagen (Anm. 21), siehe dazu auch Stiefel: Entnazifizierung (Anm. 7), S. 243–244.
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In Folge entstand eine Art Pingpong-Spiel zwischen Alliiertem Rat, Nationalrat und Bundesregierung über das „Abgeordnetenprivileg“ und die zugelassenen Bibliotheken. Auch wurde im Nationalrat im Dezember 1946 in einer Novelle beschlossen den „Kreis der ablieferungspflichtigen Druckwerke durch die Aufnahme jener, in welchen Aufreizungen zu Haß oder Verfolgung einer Religions-, Abstammungs- oder nationalen Gemeinschaft, insbesondere auch des Judentums enthalten war“ zu erweitern. Diese Novelle wurde aber dem Alliierten Rat zunächst nicht zugeleitet, da dieser dem Hauptgesetz noch nicht zugestimmt hatte.24 Mittlerweile erwies sich aber die unter enormem Arbeitsaufwand durchgeführte Sicherstellung der „herrenlosen“ Bibliotheken als „kostenlose Sicherungsmaßnahme“ für zurückgekehrte Nationalsozialisten.25 Und so wurden bereits im März 1946 die Städtischen Büchereien Wiens angewiesen von „der Einarbeitung von Buchbeständen, um deren Rückgabe sich bereits der frühere Eigentümer beworben hat, ist bis zur weiteren Klarstellung einstweilen abzusehen.“26 Gleichzeitig meldeten auch die wissenschaftlichen Bibliotheken Ansprüche hinsichtlich dieser Bestände an und bei einer Sitzung am 21. März 1946 im Bundesministerium für Vermögenssicherung lobten der Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) Josef Bick (1880–1952) und der Direktor der Universitätsbibliothek Wien Johann Gans (1886–1956) zwar die Sicherstellungsarbeiten der Städtischen Büchereien, wollten aber die endgültige Sichtung und Entscheidung über die Verwendung der Bücher einem Kuratorium aller interessierten Stellen übertragen. So entstand am 3. April 1946 das Kuratorium zur Sichtung und Verteilung der sichergestellten Buchbestände. Es bestand aus je einem Vertreter der Nationalbibliothek, der Administrativen Bibliothek des Bundeskanzleramtes, der Universitätsbibliothek Wien, der Bibliothek der Technischen Hochschule Wien, der Wiener Stadtbibliothek und der Städtischen Büchereien Wien.27 Auch die Benutzung und Abgabe der nationalsozialistischen Bestände wurde neu geregelt. So wurde etwa an der Universitätsbibliothek Wien aufgrund der Weisung aus dem Unterrichtsministerium vom Februar 1946 „verbotene Literatur“ nur „vom Direktor persönlich zur Einsicht innerhalb der Bibliothek jenen Personen ausgefolgt, die diese Literatur für streng wissenschaftliche Zwecke
24 656 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates (V. Gesetzgebungsperiode), https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/V/I/I_00656/imfname_338800.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). 25 Vgl. Gruber: Büchereien (Anm. 11), S. 106. 26 Ebd., S. 107. 27 Ebd., S. 107–108.
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benötigen.“28 Im April 1946 wurde angewiesen, die gesperrten NS-Bestände in Österreich an der Nationalbibliothek, an den Universitätsbibliotheken und an den Bibliotheken anderer höherer Bildungsanstalten zu zentralisieren. Durch einen weiteren Erlass des Unterrichtsministeriums im Juli 1946 musste der gesamte nationalsozialistische Buchbestand aller Volksbüchereiern und Bibliotheken von Lehranstalten und Schulen abgeführt werden. So lieferten etwa die Wiener Städtischen Büchereien ihren Bestand nationalsozialistischer Literatur zur Gänze an die Nationalbibliothek und alle niederösterreichischen Büchereien an die UB Wien ab.29 Um auch die weiteren NS-Bestände an den Instituts- und Fakultätsbibliotheken, die damals nicht Teil der jeweiligen Universitätsbibliotheken waren, einzubeziehen, wies das Bundesministerium für Unterricht zunächst im April 1947 mündlich und im Mai schriftlich alle Universitätsrektorate an, die Mehrfachexemplare an die Nationalbibliothek und die Universitätsbibliotheken Wien, Graz und Innsbruck sowie die Studienbibliothek Salzburg abzuliefern, welche diese zu vernichten hatten. Dabei waren all jene im Bereich der Hochschule befindlichen Bücher, also auch die der Fakultäts- oder Institutsbibliotheken, in der Hochschulbibliothek zu konzentrieren, „a) in denen die Grundsätze oder die Politik des Nationalsozialismus oder sonstiger faschistischer Parteien vertreten oder b) in denen die Politik oder die Kriegsführung der Alliierten Mächte gegen das nationalsozialistische Deutsche Reich und seine Verbündeten bekämpft werden oder c) die zu Hass oder Verfolgung einer Religions-, Abstammungs- oder nationalen Gemeinschaft, insbes. auch des Judentums, aufreizen.“30
Die Bibliotheksleitungen hatten dabei geeignete Maßnahmen für streng gesonderte und versperrte Verwahrung und Schutz gegen Missbrauch und Verlust zu treffen und falls mehr als zwei Exemplare einzelner Werke vorlagen, waren diese in die Vernichtungsaktionen einzubeziehen. So hatten alle Teilbibliotheken der Universität Wien an die UB Wien; die Technische Hochschule Wien, die Hochschule für Bodenkultur Wien, die Hochschule für Welthandel Wien und die Tierärztliche Hochschule Wien an die Nationalbibliothek; die Teilbibliotheken der Universität Graz, der Technischen Hochschule Graz und der Montanistische 28 Archiv der Universität Wien, UB L. 17, Laufer [Rundschreiben, Anm.] an Beamte und Aufseher, 12. 02. 1946. 29 Vgl. Gruber: Büchereien (Anm. 11), S. 115; Archiv der Universität Wien, UB SO.7 Listen der im Jahre 1946 abgelieferten NS Bücher (1946–1947). 30 Markus Stumpf: „Aus einer liquidierten jüdischen Buchhandlung“. Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Wien – Kontinuitäten und Brüche. In: Buch- und Provenienzforschung. Festschrift für Murray G. Hall zum 60. Geburtstag. Hg. von Gerhard Renner, Wendelin Schmidt-Dengler und Christian Gastgeber. Wien: Praesens 2009, S. 171–186, hier S. 174.
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Hochschule Leoben an die Universitätsbibliothek Graz; die Teilbibliotheken der Universität Innsbruck an die Universitätsbibliothek Innsbruck und das Theologische Dekanat Salzburg an die Studienbibliothek Salzburg in deren nächste Vernichtungsaktion einzubeziehen. Am 11. Juni 1947 wurden an der Universität Wien alle Instituts- und Seminarvorstände vom Rektorat über diesen Erlass in Kenntnis gesetzt.31 Zwischenzeitlich war im Frühjahr 1946 auch die im Literaturreinigungsgesetz vorgesehene Zentralkommission zur Bekämpfung von NS-Literatur vom Bundesministerium für Unterricht eingesetzt worden.32 War sie zunächst für die Erstellung der Verbotslisten von AutorInnen und Literatur zuständig, sollte sie laut Verbotsgesetz 1947 schließlich bei der Registrierung der Nationalsozialisten zuarbeiten und „Verfasser von Druckschriften jedweder Art oder von Filmdrehbüchern, die von der beim Bundesministerium für Unterricht gebildeten Kommission wegen ihres nationalsozialistischen Gehaltes als verbotene Werke erklärt wurden“ verzeichnen.33 Im Rahmen des Verbotsgesetzes34 tagte sie zwischen 1948 bis 1949 in 20 Sitzungen, wobei nur bei 15 die Beschlussfähigkeit gegeben war, und behandelte insgesamt schließlich 51 AutorInnen und die Wiener Medizinische Wochenschrift. Geleitet wurde sie vom damaligen Direktor der Österreichischen Nationalbibliothek Josef Bick, ein Mitglied war auch der damalige Direktor der Universitätsbibliothek Wien Johann Gans, aber es wurde auch eng mit der Polizeidirektion zusammengearbeitet. 13 Autoren35 wurden mit einem oder mehreren Werken auf die Verbotsliste gesetzt. 29 weitere Schriftsteller wurden mit einem oder mehreren Büchern auf die Ablieferungsliste gesetzt.36 Die Zentralkommission wurde aufgelöst, nachdem kein Literaturreinigungsgesetz zustande kam. Der Nationalrat hatte sich schließlich sechsmal mit dem Literaturreinigungsgesetz zu befassen und der Alliierte Rat dreimal (April 1946,
31 Ebd., S. 174–175. 32 Vgl. Ministerratsprotokoll Nr. 11, 05. 03. 1946. In: Protokolle des Ministerrats der Zweiten Republik. Kabinett Leopold Figl I: 20. Dezember 1945 bis 8. November 1949, Band 1: 20 Dezember 1945 bis 9. April 1946. Wien: Österreich 2004, S. 293–315, hier S. 304. 33 Verbotsgesetz 1947 (Artikel II, §4. (1) d, URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe ?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000207 (abgerufen am 03. 01. 2021). 34 Vgl. 64. Verordnung über die Durchführung des Verbotsgesetzes 1947, Abschnitt V, §45 „Besondere Bestimmungen über Kommissionen“. 35 Bruno Amann (1913–1963), Heinrich Anacker (1901–1971), Hanns Anderlahn, Erwin Anders (1884–1960), Adolf Bartels (1862–1945), Viktor Bibl (1870–1947), Karl Itzinger (1888–1948), Manfred Jasser (= Franz Klautzer, 1910–1971), Erich Kernmayr (= Erich Kern, 1906–1991), Hans Gustl Kernmayr (1900–1977), Wolfgang Krüger (= Adolf Lewinka, 1891–?), Gottfried Nickl (1878–?) und Fritz Stüber (1903–1978). 36 Vgl. Claudia Wagner: Die Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur. Literaturreinigung auf Österreichisch. Dipl.-Arb., Univ. Wien 2005, S. 92.
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Dezember 1946 und April 1948).37 So kam es auch nach der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität Österreichs im November 1955 im Bundeskanzleramt zu einer Besprechung von hochrangigen Ministerialbeamten und Vertretern der ÖNB bei der „weder eine gesetzliche Handhabe für die Aufrechterhaltung der Sperre von Literatur mit NS-Inhalt gefunden werden [konnte], noch konnte man von einer Verletzung des NS-Gesetzes sprechen, wenn die ÖNB den Bibliotheksbenutzern auch die Literatur nationalsozialistischen Inhalts zuganglich machen würde.“38
Zum Umgang mit nationalsozialistischen Schriften nach 1955 „Klare Verhältnisse“,39 wie von dem Germanisten Murray G. Hall und der Bibliothekarin und Provenienzforscherin Christina Köstner-Pemsel für die ÖNB konstatiert, waren damit für das österreichische Bibliothekswesen noch nicht geschaffen worden, denn der weitere Umgang in den wissenschaftlichen Bibliotheken Österreichs nach 1955 erfolgte alles andere als einheitlich. Auch hatte sich Österreich im Artikel 9 des Österreichischen Staatsvertrages von 1955 verpflichtet „die Bemühungen fort[zu]setzen, aus dem österreichischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben alle Spuren des Nazismus zu entfernen, um zu gewährleisten, daß die obgenannten [NS-]Organisationen nicht in irgendeiner Form wieder ins Leben gerufen werden, und um alle nazistische oder militaristische Tätigkeit und Propaganda in Österreich zu verhindern.“40 Das Verbotsgesetz und die zwei flankierenden Verwaltungsgesetze, das Abzeichengesetz und das Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen, bilden die diesbezügliche rechtliche Basis.41 37 Vgl. 43. Sitzung des Bundesrates der Republik Österreich, Stenographisches Protokoll, 24. 05. 1949, S. 741–744, URL: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/BR/BRSITZ/BRSITZ_00043/i mfname_183038.pdf (abgerufen am 03.01. 2021). Insgesamt sind die Protokolle im Nationalrat und Bundesrat samt Beilagen und Ausschussmaterialien aber auch die mittlerweile veröffentlichen Ministerratsprotokolle spannende zeithistorischen Quellen in der viele der Pround Contra-Argumente der späteren Diskussionen bereits vorweggenommen sind. Obwohl sich der Spielraum der österreichischen Regierung nach dem Zweiten Alliierten Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 vergrößerte, musste Verfassungsgesetzen, wie dem Literaturreinigungsgesetz, nach wie vor vom Alliierten Rat zugestimmt werden. 38 Hall/Köstner: Nationalbibliothek (Anm. 18), S. 471. 39 Ebd. 40 Url: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnu mmer=10000265 (abgerufen am 03. 01. 2021). 41 Vgl. Mathias Lichtenwagner, Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.): „… um alle nazistische Tätigkeit und Propaganda in Österreich zu verhindern“. NS-Wiederbetätigung im Spiegel von Verbotsgesetz und Verwaltungsstrafrecht. Graz: Clio 2018 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz 6).
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„Das Verbotsgesetz verbietet in strafrechtlich pönalisierter Weise jede Form der Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinne, insbesondere auch durch Verbreiten von Schriften zur Verherrlichung der NSDAP und ihrer Einrichtungen (§ 3 d VG) oder der sonstigen Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinne (Auffangtatbestand des § 3 g VG). Nach § 3 h VG wird auch bestraft, wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder wer sonst öffentlich auf eine Weise, dass es vielen Menschen zugänglich wird, den nationalsozialistischen Völkermord oder andere nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost, gutheißt oder zu rechtfertigen sucht.“42 Die Historikerin Brigitte Bailer sieht „historisch und staatspolitisch“ in dem Verbot der nationalsozialistischen Betätigung einen „Grundpfeiler der 1945 gegründeten Zweiten Republik.“43 Auch der Verfassungsgerichtshof stellte 1985 fest: „Die kompromißlose Ablehnung des Nationalsozialismus ist ein grundlegendes Merkmal der wiedererstandenen Republik. Ausnahmslos jede Staatstätigkeit hat sich an diesem Verbot zu orientieren. Es darf kein behördlicher Akt gesetzt werden, der eine Mitwirkung des Staates an nationalsozialistischer Wiederbetätigung bedeuten würde.“44 In den folgenden Jahrzehnten beschäftigte die Bibliotheken das Thema Nationalsozialismus immer wieder hinsichtlich verschiedenster Aspekte. Auch wurde die Indizierung der Werke, die von der Zentralkommission wegen ihres nationalsozialistischen Gehaltes als verboten erklärt wurden, erst mit der NSAmnestie 1957 beendet, da gem. Art. I § 1 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz ab dessen Inkrafttreten die Verzeichnungen in den besonderen Listen gem. § 4 Verbotsgesetz 1947 nicht mehr stattfand.45 Erst damit wurden die Universitätsbibliotheken darüber informiert, dass die Liste der gesperrten Autoren und Bücher aufgehoben worden war.46
42 Schreiben Rechtsanwalt Michael Pilz an Oliver Rathkolb zur Prüfung der rechtlichen Rahmenbedingungen der Forschungsplattform „Gaupresse“-Archiv Wien, 01. 04. 2016. Vgl. Verbotsgesetz 1947, URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundes normen&Gesetzesnummer=10000207 (abgerufen am 03. 01. 2021). 43 Bailer: Wiederbetätigung (Anm. 9), S. 26. 44 1981 war die neonazistische Aktion Neue Rechte bei der Österreichischen Hochschülerschaftswahl angetreten, bei der sie ein Mandat im Zentralausschuss gewann. Der Verband Sozialistischer Studenten und der Kommunistische Studentenverband erhoben dagegen Einspruch, dem schließlich vom Verfassungsgerichtshof stattgegeben wurde. VfGH G175/84, 4. b, 29. 11. 1985, URL: https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Vfgh&Dokument nummer=JFT_10148871_84G00175_00 (abgerufen am 03. 01. 2021). 45 URL: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1957_82_0/1957_82_0.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). 46 Archiv der Universität Wien, UB Eingangsprotokoll, Schreiben Bundesministerium für Unterricht „Aufhebung der Liste der gesperrten Autoren und Bücher“, Z. 96.034-1/55, 22. 12. 1956.
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Zusätzlich entstanden weitere Fragen, zum Beispiel, wie von Bibliotheken mit Druckwerken, die dem Verbotsgesetz unterliegen, umzugehen sei, wenn diese z. B. als Pflichtexemplar nach § 43 Mediengesetz in die Sammlung aufgenommen wurden. Laut dem Unterrichtsministerium bestehe eine diesbezügliche Anzeigepflicht nur dann, „wenn offenkundige Verdachtsmomente (z. B. der Buchtitel) etwa einen Tatbestand nach dem Verbotsgesetz signalisieren.“ Auch bei gerichtlicher Beschlagnahme und falls das beschlagnahmte Exemplar bei der Bibliothek belassen wird, durfte über dieses Bibliotheksstück nur mit Zustimmung des Gerichtes verfügt werden. „Die Bibliothek hat somit in diesem Falle jedenfalls dafür zu sorgen, daß das Druckwerk nicht mehr zugänglich ist. Selbst bei Nachweis eines wissenschaftlichen Interesses des Entlehnungswerbers ist es der Bibliothek ohne gerichtliche Bewilligung nicht gestattet, das beschlagnahmte Medienwerk auszuleihen oder sonst zur Verfügung zu stellen.“ Gleichzeitig stellte das Ministerium fest, dass die „in den Bibliotheken vorhandenen Bestände aus der NS-Zeit, die aus wissenschaftlichem Interesse zu Dokumentationszwecken in den Bibliotheksbestand aufgenommen“ worden waren „kein Gegenstand der Anzeigepflicht“ sind.47 Zusätzliche Beachtung fand NS-Literatur auch durch einschlägige Verlage, die solche Schriften als vermeintlich wichtige „Quelle“ in gedruckter Form wiederveröffentlichten – manchmal mit einem Disclaimer, also einer Distanzierung von den NS-Inhalten, im kurzgehaltenen Vorwort für den „aufgeklärten Leser“,48 meist jedoch ohne. So nahmen und nehmen Bibliotheken damit Literatur von neofaschistischen und rechtsextremen Verlagen in den Bestand auf. Wer dabei glaubt, dass dies nur ein randständiges Phänomen ist, kann sich durch Abfragen im Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK)49 zu solchen „Verlagen“ problemlos vom Gegenteil überzeugen. Beispielhaft genannt sei hier etwa „Der Schelm“, der unkommentiert faschistische, rassistische und antisemitische Texte von Hitlers Mein Kampf bis hin zu Henry Fords Der internationale Jude wiederveröffentlicht. Dabei deklariert der „Verlag“ diese als „historische Quellentexte“ und 47 Archiv der Universitätsbibliothek Wien, Schreiben Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung „Probleme bei der Handhabung von Werken, welche nationalsozialistisches Gedankengut beinhalten“ Zl 868/92, 14. 07. 1992. 48 Beispielhaft sei hier für diese Art der Wiederveröffentlichung das NS-Werk 1938–1941. Vier Jahre Hermann-Göring-Werke Salzgitter. Original „Jubiläums-Ausgabe“ zur Entstehung einer ungewöhnlichen Wirtschaftsregion (Wolfenbüttel: Melchior, unveränderter Nachdruck der Originalausgabe von 1941 nach einem Exemplar aus Privatbesitz, 2009) angeführt. Im dreiseitigen Vorwort werden Angaben zur „Neuauflage, zu Mahnung und Gedenken und zur Nachkriegszeit“ vom anonymen bleibenden Herausgeber beigestellt, um sogleich die Wiederveröffentlichung mit dem „Stolz“ den die Nationalsozialisten „bereits vier Jahren ihre ‚Errungenschaften‘ mit der Herausgabe dieser limitierten und streng geheimen Schrift feierten“ zu begründen. 49 Vgl. Karlsruher Virtueller Katalog, URL: https://kvk.bibliothek.kit.edu (abgerufen am 03. 01. 2021).
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„distanziert sich von jedweden verleumderischen, hetzerischen, beleidigenden und die menschliche Würde angreifenden Passagen“,50 gleichzeitig leugnet er auf seiner Webseite in der Rubrik „Neues vom St. Holoklaus“ den Holocaust.51 Im Dezember 2020 wurden bei einer Polizeirazzia die Verlagsproduktion beschlagnahmt und die Vertriebsstruktur vorerst zerstört.52 Im Webshop mit Sitz in Thailand und russischer Internetadresse wird hingegen ungeniert weiter agiert und um Spenden im „Rechtskampf gegen das pseudodemokratische BRDDRMulti-Kulti-Gender-Regime“ und zum „Aufbau neuer schelmischer Strukturen in einem sicheren Drittland“53 gebeten. Ein weiteres Beispiel ist auch jener Nachdruck,54 in dem ein österreichischer Politiker im Jahr 1992 eine antisemitische Widmung hinterließ, in dem er „Juden“ als „Gegner“ bezeichnete.55 Das Original Jüdische Bekenntnisse aus allen Zeiten und Ländern war 1941 im nationalsozialistischen Stürmer-Verlag in Nürnberg erschienen. Verfasst wurde es von einem österreichischen antisemitischen Publizisten und NSDAP-Mitglied Jonak von Freyenwald (1878–1953).56 Und natürlich wird im Geleitwort des Verlages darüber schwadroniert, dass „die Originalschriften Hitlers und führender Nationalsozialisten lediglich in den Magazinen weniger Fachbibliotheken ‚vergraben‘ und der Öffentlichkeit praktisch unzugänglich“ seien.57 Dass dabei der Umgang an den Bibliotheken mit NS-Literatur und seinen Derivaten selbst als problematisch einzuschätzen ist, ist anhand der Beschlagwortung ersichtlich: Während im österreichischen Verbundkatalog beim Origi50 Emmelie Öden: Von neonazistischer Publizistik bis zu Veröffentlichungen der Neuen Rechten. In: BuB 72(2020), Heft 6, S. 348–351, S. 348. 51 Vgl. URL: https://derschelm.ru/neues-vom-st-holoklaus/ (abgerufen am 03. 01. 2021; der URL ist nicht mehr erreichbar, dafür finden sich die Informationen unter https://derschelm.com/ gambio/neues-vom-st-holoklaus/ (abgerufen am 27. 07. 2021) und Leipziger Firmenadresse). 52 Vgl. Martin Schöler: Nach Razzia: „Der Schelm“ gibt nicht auf. In: Leipziger Internet Zeitung, 22. 12. 2020, URL: https://www.l-iz.de/leben/faelle-unfaelle/2020/12/Nach-Razzia-Der-Schel m-gibt-nicht-auf-365539 (abgerufen am 03. 01. 2021). 53 URL: https://derschelm.ru/ (abgerufen am 03. 01. 2021; der URL (abgerufen am 27. 07. 2021) ist nicht mehr erreichbar). 54 Jonak von Freyenwald: Jüdische Bekenntnisse aus allen Zeiten und Ländern. Bremen: Faksimile-Verl. 1992; Faks.-Nachdr. d. Ausg. Nürnberg 1941 (= Faksimile-Dokumentation zur Morphologie und Geschichte des Nationalsozialismus. 15 Reihe – Band 5). 55 Bastian Obermayer: „Ein Judenhasser, wie er krasser kaum vorstellbar ist.“ Interview mit Michael Hagemeister. In: Süddeutsche Zeitung (online), 2. Juni 2020, URL: https://www.sued deutsche.de/politik/freyenwald-strache-antisemitismus-buch-1.4921824 (abgerufen am 03. 02. 2021); Handschriftliche antisemitische Widmung von Strache aufgetaucht. In: Der Standard, 02. 06. 2020, S. 9. 56 Vgl. Michael Hagemeister: Jonak von Freyenwald, Hans. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 2/1: Personen A–K., Berlin: De Gruyter 2009, S. 411–412. 57 W. S. [Anm.: Wieland Soyka, später Körner]: Geleitwort des Verlages. In: Freyenwald: Bekenntnisse (Anm. 54), o. S.
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nal mit der Beschlagwortung „Juden“58 keine kritische Distanz zum Inhalt ersichtlich ist, wird die Faksimile-Ausgabe mit zwei Schlagwortfolgen gewürdigt: 1. „Juden, Geschichte Anfänge-1941, Nationalsozialismus, Geschichtsklitterung, Quelle“ und 2. „Juden, Geschichte Anfänge-1941, Quelle“.59 Mit der Formangabe „Quelle“ wird damit dem „Machwerk“ sogar ein Quellenstatus zugewiesen, wobei mit dem Begriff „Geschichtsklitterung“ immerhin auf eine notwendige differenziertere Betrachtungsweise verwiesen wird. Das Vertrauen in die kritischen bildungspolitischen Fähigkeiten von wissenschaftlichen Bibliotheken erhöhen solche „Beschlagwortungen“, die von BenutzerInnen bereits in den Zeiten der Katalogkarten kritisiert wurden, nicht. Auch zur Kontextualisierung sind sie nur bedingt geeignet, denn sie selbst sind historische Daten, die manchmal mehr über die Wissensproduktion zu einem bestimmten Zeitpunkt aussagen als über den Inhalt des Werkes.60 Das Original würde 2023 gemeinfrei werden und könnte so von Bibliotheken digitalisiert wiederveröffentlicht werden. Es zeigt sich an dem Beispiel jedenfalls, dass Bibliotheken auch mit ihren Beschlagwortungen keineswegs neutral sind und eine Revision der Beschlagwortung des NS-Bestandes und seiner Derivate sollten diese für eine digitale Kontextualisierung herangezogen werden, dringend nötig wäre.
Gedruckte Kontextualisierung Bereits vor der Diskussion um die Wiederveröffentlichung von Adolf Hitlers Mein Kampf als kritische Edition61 wurden Erfahrungen mit der Kontextualisierung des NS-Schrifttums gemacht. Zahlreiche wissenschaftliche Quelleneditionen zeugen davon.62 Wiederveröffentlicht wurde auch die nationalsozialisti58 URL: https://permalink.obvsg.at/AC05000950 (abgerufen am 03. 01. 2021). 59 URL: https://permalink.obvsg.at/AC00563338 (abgerufen am 03. 01. 2021). 60 Zur international immer wieder auftretenden Diskussion um solche Rassismen siehe beispielhaft Andrea Ruscher, Sarah Schmelzer, Dani Baumgartner, Gabi Slezak: Rassismen in Bibliotheksbeständen. Im Spannungsfeld zwischen Sammelauftrag und Bildungsarbeit. In: Künstliche Intelligenz in Bibliotheken. 34. Österreichischer Bibliothekartag Graz 2019. Hg. von Christina Köstner-Pemsel, Elisabeth Stadler und Markus Stumpf. Graz: Uni Press 2020, S. 339–351. 61 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Hrsg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel. 2 Bde., München-Berlin: Institut für Zeitgeschichte 2016. Zur breiten öffentlichen Diskussion über die Edition siehe beispielhaft, URL: https://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/edition-mein-kampf/dokumentation-mein -kampf-in-der-oeffentlichen-diskussion/ (abgerufen am 05. 01. 2021). 62 Siehe beispielhaft die 16 Bände umfassende Sammeledition Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 mit ca. 5000 Dokumenten von zeitgenössischen, wissenschaftlich kommentierten Zeugnissen der Verfolgten, der TäterInnen und nicht unmittelbar beteiligter BeobachterInnen. Für die Bear-
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sche Presse. Beispielhaft sei die 2008 in 52 Ausgaben herausgegebene Sammeledition NachRichten. Österreich in der Presse: Sammeledition vom Anschluss zur Befreiung 1938–4563 angeführt. Diese Reprints von Zeitungen und beigelegten Schlüssel-Dokumenten wurden von WissenschafterInnen kontextualisiert, indem diese in einen zumindest vierseitigen Mantel eingeschlagen wurden. Darin zogen namhafte HistorikerInnen, PublizistInnen, PolitologInnen und SoziologInnen zu den Inhalten und den nicht berichteten Ereignissen Stellung und gaben eine Anleitung zum Lesen der Originaltexte.64 Obwohl die Sammeledition auf den Verkauf ausgerichtet und dementsprechend auch marktkonform „Erstmals vollständig nachgedruckt“ und „Von heutigen Experten kommentiert und analysiert“65 angepriesen wurde (siehe Abb. 1), wurde damit ein Beispiel für eine Kontextualisierung von NS-Materialien im gedruckten Bereich durch eine konkrete Befassung mit den dargebotenen Inhalten für die breite Öffentlichkeit gegeben. Der Kommunikationswissenschafter Fritz Hausjell, einer der Mitherausgeber von NachRichten, resümierte seine Erfahrungen dazu folgendermaßen: „Mein persönliches Fazit aus der intensiven Beschäftigung mit NachRichten und Zeitungszeugen seit dem Jahr 2007, in dem wir in Österreich mit den Planungen begonnen hatten, lautet: Mit NS-Propagandamaterial Zeitgeschichte angemessen zu vermitteln, ist dann möglich, wenn erstens die veröffentlichten Materialien sorgfältig ausgewählt werden, wenn zweitens die notwendigen Sachinformationen zu den in den Propagandaprodukten behandelten Themen geboten werden oder auf entsprechende im Internet nutzbare Quellen verwiesen wird und wenn drittens ausreichend über Prinzipien und Techniken der Propaganda aufgeklärt wird. Aufgrund der bisherigen Defizite in der medialen Zeitgeschichtevermittlung benötigen wir daher künftig eine breite Beschäftigung mit der Propaganda des NS-Regimes, mit den Fragen, auf welchen Prinzipien sie aufbaute und welche Lesearten in den verschiedenen Segmenten des damaligen Publikums existierten.“66
63 64 65 66
beitung der Bände konnten 26 ExpertInnen gewonnen werden. Das achtköpfige Herausgebergremium berät die BandbearbeiterInnen und entscheidet über die Quellenauswahl. Vgl. URL: https://www.ifz-muenchen.de/edition-judenverfolgung/die-edition-vej (abgerufen am 05. 01. 2021). NachRichten. Österreich in der Presse: Sammeledition vom Anschluss zur Befreiung 1938–45. London: Albertas / Wien: Inst. für Zeitgeschichte 2008. Vgl. Projektbeschreibung „NachRichten“ – Erste Sammeledition Österreichischer Presse vom Anschluss zur Befreiung 1938–1945, URL: https://www.lbihs.at/PaweronschitzNachRichten. pdf (abgerufen am 05. 01. 2021). NachRichten (Anm. 63), Teil 1, S. 1. Fritz Hausjell: Kann mit NS-Propagandamaterial Zeitgeschichte angemessen vermittelt werden? Einige Überlegungen zu den populären Publikationsreihen NachRichten und Zeitungszeugen. In: Linda Erker, Klaus Kiensberger, Erich Vogl, Fritz Hausjell (Hg.): GedächtnisVerlust? Geschichtsvermittlung und -didaktik in der Mediengesellschaft. Magdeburg: Herbert von Halem Verlag 2013, S. 234–249, hier S. 248–249.
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Abb. 1: Cover der 1. Ausgabe der Sammeledition NachRichten
Zwischenresümee In Österreich waren die nationalsozialistischen Werke in den wissenschaftlichen Bibliotheken und der ÖNB zentralisiert worden, aber aufgrund der Nicht-Einführung des Literaturreinigungsgesetzes waren auch Bestände in den Landesbibliotheken sowie Amtsbibliotheken verblieben. Einher ging damit die Annahme, dass durch den Ort der Aufbewahrung in einer wissenschaftlichen Institution die Nutzung aus wissenschaftlichen Gründen erfolgte. Ob entlehnt oder nur eine Nutzung vor Ort zulässig ist, ob das Forschungsvorhaben dargelegt werden musste usw., war offengelassen worden. Das führte zum Beispiel bis in die 2010er Jahre zu unterschiedlichen Benutzungsmöglichkeiten von NS-Literatur alleine an den verschiedenen Teilbibliotheken der UB Wien. Auch wurde
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der Weg in die Bibliothek mit den jeweiligen Beschränkungen als eine nicht zu unterschätzende Hürde für etwaige „andere“ Interessen an NS-Literatur gesehen und eine allgemeine Altersgrenze für die Benutzung einer wissenschaftlichen Bibliothek mit der Vollendung des 15. Lebensjahres führte zu einer Art Jugendschutz. Eine Kontextualisierung der Bestände erfolgte durch die mehr oder weniger stimmige Inhaltserschließung und vor Ort durch den/die BibliothekarIn. Die Wiederveröffentlichung der Schriften erfolgte mit Ausnahme der am äußeren rechten Rand angesiedelten Verlage nur im Rahmen von wissenschaftlichen Editionsprojekten bzw. in Form von wissenschaftlichen Zitaten. Dass das Thema der gedruckten NS-Literatur nach wie vor virulent ist, lässt sich etwa an der immer wieder aufkommenden Diskussion zu Antiquariats- und Flohmarktverkäufen67 zeigen, aber auch an bis heute mehrfach jährlich gestellten Anfragen an die Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte zu „Dachbodenfunden“ von NS-Werken und deren weiterer Verwendung. Hinzu kommt manchmal die Verwunderung und Irritation von BenutzerInnen über die einschlägigen Stempelungen mit Hakenkreuzen in den Büchern68 sowie über den umfangreichen Bestand von NS-Werken an der UB Wien, auf die mit entsprechenden bewusstseinsbildenden Veranstaltungen69 und Initiativen (z. B. Stempeluhr, Einlageblatt) reagiert wird. Kritische Anfragen zum Bestand werden sinngemäß folgend beantwortet: „Wenn Sie revisionistisches und nationalsozialistisches Schrifttum im Online-Katalog der Universitätsbibliothek finden, dann nur, weil es als Quellenmaterial für die Forschung (z. B. Holocaust-Forschung, Nazismus, Eugenik …) von wissenschaftlichem Interesse ist und der Dokumentation dient. Um sich mit gesellschaftspolitischen Themen wie etwa Holocaust-Leugnung, Neonazismus, Fremdenfeindlichkeit usw. auseinandersetzen zu können, sind diese Quellen unerlässlich. Allfällig unterliegen diese Werke eigenen Benutzungsbedingungen und können nur vor Ort eingesehen werden. Prinzipiell liegt es in der Verantwortung der einzelnen Benützerin / des einzelnen Benützers, die Materialien ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken zu verwenden. Nichtsdestotrotz sind auch wir hier sehr sensibel und würden jede uns auffallende missbräuchliche Verwendung zur Anzeige bringen.“70 67 Siehe dazu die Flohmarkt-Broschüre des Mauthausen Komitee Österreich: Information über den strafbaren Verkauf von nationalsozialistischen Devotionalien und NS-Schriften auf Flohmärkten. URL: https://www.mkoe.at/sites/default/files/files/angebote-projekte/MKOE-Floh markt-Broschuere.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). 68 Vgl. Markus Stumpf: Kontaminierte Bücher – Exemplarspezifika und Eigentumsnachweise in den Büchern der Universitätsbibliothek Wien. In: Mitteilungen der VÖB 68 (2015), Nr. 3/4, S. 546–565. DOI: https://doi.org/10.31263/voebm.v68i3.1297. 69 Vgl. beispielhaft die Podiumsdiskussion: Zum Umgang mit NS-Symbolen im universitären Kontext, 21. 10. 2019. URL: https://bibliothek.univie.ac.at/events/013862.html (abgerufen am 03. 01. 2021). 70 Ergebnis einer internen Diskussion an der UB Wien unter Beteiligung des Autors betreffend „gesperrte Literatur“, E-Mail Wolfgang Nikolaus Rappert, 13. 11. 2012.
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Auch im deutschsprachigen Bibliotheksdiskurs ist der Umgang mit nationalsozialistischen Werken mittlerweile eine Dauerkonstante. So befasste sich etwa die Informationswissenschafterin Rebecca Behnk71 mit den rechtlichen Vorgaben in Deutschland und deren Umsetzung in Präsenzbibliotheken Berlins und der Informationswissenschafter Hermann Rösch konstatierte am Beispiel des Völkischen Beobachters, dass deutsche Hochschulbibliotheken sich „bislang nicht auf ein einheitliches, ethisch reflektiertes Verfahren zum Umgang mit nationalsozialistischem Schrifttum verständigt haben.“72 Auf Basis dieses Befundes regte Rösch an, „eine Empfehlung zum Umgang mit nationalsozialistischem Schrifttum in Bibliotheken zu erarbeiten, die sowohl bibliotheksethische als auch bibliotheksrechtliche Expertise vereint.“73 Diese Aussagen bezogen sich zwar auf die Benutzung von gedruckten NS-Beständen in Deutschland, ist aber für Österreich genauso gültig.74 2019 wurde die Diskussion als Sonderform anhand der Produktionen rechter Verlage auch in der bibliothekarischen Fachzeitschrift BuB geführt, deren Herausgeber Dirk Wissen darauf verwies, dass in solchen Werken oft „die Menschenwürde infrage“ gestellt und „demokratiefeindliche“ Inhalte geboten werden. „Informationsfreiheit hin oder her“, um „aus dieser Misere heraus zu kommen, können Bibliotheken nicht neutral bleiben, sondern müssen eine klare Position beziehen.“75 Hermann Rösch verortete daher in einem Leserbrief „Zensur“-Bestrebungen und schlug vor: „[…] rechte Auffassungen, Lügen und Verschleierungen zu kontextualisieren und zu dekonstruieren durch Werke, in denen die Gegenpositionen vertreten werden. Begleitet werden muss dies durch eine aktive Programmarbeit, durch Diskussionsveranstaltungen, Schulungen und Workshops in denen es um umstrittene Themen und Werke, um Fake News und Desinformation geht und in denen die besonderen Vorzüge des de-
71 Vgl. Rebecca Behnk: Nationalsozialistische Schriften – freier Zugang oder Barrieren? Rechtliche Vorgaben und praktische Umsetzung am Beispiel von Berliner Spezialbibliotheken. Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen 2013. 72 Hermann Rösch: Eine ethische Herausforderung. Der Zugang zu nationalsozialistischer Propagandaliteratur in Hochschulbibliotheken. In: Anna-Maria Brandstetter, Vera Hierholzer (Hg.): Nicht nur Raubkunst. Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen. Göttingen: Mainz University Press bei V&R unipress 2018, S. 257–270, hier S. 257. DOI: https://doi.org/10.14220/9783737008082.257. 73 Ebd., S. 268. 74 Vgl. Beatrice Schneeweiss-Myatt: Gesperrte oder beschränkt nutzbare Medien an österreichischen Universitätsbibliotheken. Bestandsaufnahme aufgrund einer Befragung. Berlin: Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin 2013 (= Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft 349). DOI: https://doi.org/10.18452/2092. 75 Dirk Wissen: Spiegelpositionen. In: BuB 71(2019), H. 6, S. 321.
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mokratischen Systems der offenen Gesellschaft, der freien Debatten und der Achtung der Menschenrechte im Mittelpunkt stehen.“76
In der Debatte scheint jedoch untergegangen zu sein, dass Bibliotheken schon immer ausgewählt und versucht haben ihrem jeweiligen Sammelauftrag, der sich zwischen den unterschiedlichen Bibliothekstypen mit ihren unterschiedlichen Funktionen fundamental unterscheidet, möglichst umfassend nachzukommen. Klar ist dabei auch, dass eine Bibliothek alleine – weder gedruckt noch digital – diesen Auftrag erfüllen kann, daher gab und gibt es auch mehr oder weniger funktionierende Abstimmungen zwischen den Bibliotheken. Der Archivwissenschafter Christian Keitel hat dies für alle Gedächtnisinstitutionen treffend formuliert: „Die bloße Annahme, dass alle Gedächtnisinstitutionen bewerten müssen, fällt nicht besonders schwer.“77 Daher ist auch die „Neutralität“ von Bibliotheken als ein Bemühen um „großmöglichste“ Neutralität zu verstehen, mit einem Zensuransatz hat das heute im Normalfall nichts zu tun. Denn, mit dem Bewerten geht eine Auswahl einher, die bereits bei physischen Beständen, wie etwa bei wissenschaftlichen Spezialbibliotheken, dazu führt, dass aus Dokumentationszwecken nationalsozialistische und „demokratiefeindliche“ Machwerke im Sinne einer wehrhaften Demokratie erworben und gesammelt werden. Klar ist dabei aber auch, dass über den Zugang zum gedruckten Bestand hinausgehend auch die Zugänge zu den digitalisierten NS-Beständen neu zu gestalten und zu definieren sind. Ab Mitte der 1990er Jahre ist das zunehmende Wirken rechtsextremer, neonazistischer und rassistischer Gruppen und Personen im Internet zu beobachten78 und mehr als 20 Jahre später ist nun die Wiederveröffentlichung von NSMaterialen durch Bibliotheken verstärkt ein Thema. So wurde bereits 2017 von Thomas Bürger, dem ehemaligen Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), und Klaus Ceynowa, dem Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, im Themenheft Der „Giftschrank“ heute – Vom Umgang mit „problematischen Inhalten und der Verantwortung der Bibliotheken das Thema der „indizierten“ oder „problema76 Hermann Rösch: Rechte Literatur im Bestand und dennoch demokratische Orientierung. Leserbrief zum Thema „Streitfall rechte Literatur“. In: BuB 71(2019), Heft 8, S. 464. Die Diskussion wurde schließlich auch in der Zeitschrift o-bib weitergeführt, vgl. Joachim Eberhardt: Rechte Literatur in Bibliotheken. Zur Argumentation von Hermann Rösch, in: o-bib (3) 2019, S. 96–108, DOI: https://doi.org/10.5282/o-bib/2019H3S96-108 und Joachim Rösch: Rechte Literatur in Bibliotheken. Eine Replik auf Joachim Eberhardt. In: o-bib 2019,4, S. 241– 248, DOI: https://doi.org/10.5282/o-bib/2019H4S241-248. 77 Christian Keitel: Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, S. 120. 78 Zur Geschichte und damaligen Perspektive vgl. Stiftung Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Das Netz des Hasses. Rassistische, rechtsextreme und neonazistische Propaganda im Internet. Wien: Deuticke 1997.
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tischen“ Medien in einer Bibliothek angesprochen und darauf verwiesen, dass dies „sehr rasch auf sehr grundlegende Fragen der Bibliotheksethik und Bibliothekspolitik“ führt und dass diese sich im digitalen Zeitalter verschärfen, denn „hier sehen sich Bibliothekare gern als Vorkämpfer einer maximalen Offenheit und uneingeschränkten Zugänglichkeit digitaler Daten und Texte. Die Frage nach den Grenzen der Offenheit digitaler Informationen wird dagegen eher nachrangig behandelt.“79
II.
Digitale Wiederveröffentlichung durch Bibliotheken
Die heutige Wissenschaft benötigt die nationalsozialistischen Schriften als Quelle auch digital für die Forschung, Lehre und Vermittlung. Gleichzeitig sind Brüche im Umgang zwischen physischen und digitalen Beständen zu konstatieren, denen sich wissenschaftliche Bibliotheken stellen müssen. So bricht die örtliche Schranke durch den Gang in die wissenschaftliche Bibliotheken weg und gleichzeitig läuft für NS-Schriften zunehmend das Urheberrecht aus, so dass diese gemeinfrei (Public Domain) sind und open access zur Verfügung gestellt bzw. wiederveröffentlicht werden können, womit auch jedweder Jugendschutz hinfällig ist. Diese Hilfskonstruktionen aus der gedruckten Zeit funktionieren digital nicht mehr. Der Historiker Peter Haber formulierte für das Verhältnis von Fachwissenschaft zu interessierter Öffentlichkeit, was auch für die Daten von Bibliotheken gilt: „Was im analogen Zeitalter sorgsam separierte Bereiche mit verhältnismäßig wenig Kontaktzonen waren, beginnt sich im Zeitalter der Vernetzung zu vermischen.“80 Gleichzeitig ist eine unreflektierte und unkontextualisierte Reproduktion und Wiederveröffentlichung via Digitalisierung durch Bibliotheken kritisch zu hinterfragen, denn die in den NS-Schriften enthaltene Hetze, Rassismus, Antisemitismus und NS-Propaganda bekommen damit in Form von Digitalisaten ein zweites Leben. Während für die Digitalisierung des kulturellen Erbes durch die Kultur- und Gedächtnisinstitutionen oftmals zwar die großen Herausforderungen betont werden, die es zu meistern gilt, werden diese bei den konkreten Anforderungen für Digitalisierungsprojekte oftmals auf eine Trias von „technischen, organisa-
79 Editorial. In: Der „Giftschrank“ heute – Vom Umgang mit „problematischen Inhalten“ und der Verantwortung der Bibliotheken. Hrsg. von Thomas Bürger und Klaus Ceynowa. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 64(2017), H. 3–4, S. 113. 80 Peter Haber: Digital Past. Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter. München: Oldenbourg 2011, S. 152–153.
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torischen und insbesondere rechtlichen Fragen“81 reduziert. Das lässt sich auch manchmal an den Digitalisierungsprojekten selbst, wie etwa am Titel des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts Errichtung eines nationalen Zeitungsportals auf der Basis der organisatorischen und technischen Infrastruktur der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) – „DDB-Zeitungsportal“82, ablesen. Gleichzeitig wird gerne der Wert der Digitalisierung für die Institution selbst, etwa durch Sichtbarkeit „vor allem der kuratierten Inhalte“83 betont. Dabei werden ethische, pädagogische, politische usw. Fragen weitestgehend ausgeklammert und ein kritisches Hinterfragen der eigenen Praxis findet selten statt. Beispielhaft heißt es dann auch andernorts in einem Beitrag zur Zeitungsdigitalisierung: „Die Fakten der Gegenwartsgeschichte sind nur noch einen Klick entfernt“,84 um mit einer Aufzählung über all die Vorteile der „unzählige[n] Zugriffs- und Vermarktungsmöglichkeiten“85 fortzufahren. Das mag schon seine Gültigkeit haben, aber klar ist auch, eine kritische Auseinandersetzung sieht anders aus. Und in Bezug auf den Nationalsozialismus wäre es geradezu naiv von einem faktenbasierten Wissen in den Massenmedien ohne propagandistische Instrumentalisierung auszugehen. Der Kultur- und Medienhistoriker Clemens Zimmermann charakterisiert die nationalsozialistische Propaganda wie folgt, wobei er durchaus einen gewissen redaktionellen Handlungsspielraum konstatiert: „Es handelte sich bei allen Bemühungen um Gleichschaltung und Information nicht nur um politische Propaganda im klassischen Sinne, nämlich die Staatsleitung und ihre Führung der Amtsgeschäfte, z. B. die Vorbereitung auf Kriegsführung, zu legitimieren, sondern auch um die Verschiebung von Verhaltensstandards und gesellschaftlichen Werten. […] Das NS-System baute sehr schnell die vorhandenen Medienindustrien landesweit um und eigene Apparate auf, um die eigenen politischen Ansichten zu popularisieren, z. B. über eine eigene Ästhetik medial aufbereitet. […] Die Zensur war allgegenwärtig, während die Idee, die Meinung in den Massenmedien zentral durch das Propagandaministerium zu steuern, scheiterte. Der Konzentrationsprozess der Printmedien, die Ausschaltung der Opposition, die Zurückdrängung des inhaltlichen Plu-
81 Beispielhaft hier angeführt: Paul Klimpel, Fabian Rack, Kohn H. Weitzmann: Handreichung. Neue rechtliche Rahmenbedingungen für Digitalisierungsprojekte von Gedächtnisinstitutionen. Berlin: digiS, 4., gänzlich neu bearbeitete Auflage, November 2017, S. 4. 82 URL: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/404633104?context=projekt&task=showDetail&id =404633104& (abgerufen am 03. 01. 2021). 83 Klimpel/Rack/Weitzmann: Handreichung (Anm. 81), S. 7. 84 Siegfried Preis: Warum werden Zeitungen digitalisiert? In: Gregor Neuböck (Hg.): Digitalisierung in Bibliotheken: Viel mehr als nur Bücher scannen. Berlin: De Gruyter Saur 2018 (= Bibliotheks- und Informationspraxis 63), S. 127–146, hier S. 127. DOI: https://doi.org/10.15 15/9783110501094-009. 85 Ebd., S. 129.
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ralismus in der Presse und die Kontrolle der relevanten Informationen in Kampagnen waren im Dritten Reich offensichtlich.“86
Da noch immer ein Großteil der Bestände nicht digitalisiert vorliegt und diese im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie zunehmend weniger im Bewusstsein der Gesellschaft lebendig sind, ist auch die Frage zu stellen, was prioritär digitalisiert werden sollte: Was wird Raum und Sichtbarkeit gegeben? Das heißt auch in diesem Bereich ist zumindest vorerst eine Auswahl zu treffen und damit über die Kriterien dafür zu reflektieren. Das kann die Gedächtnisinstitution Bibliothek nicht nur an andere auslagern (patron-driven digitization), sondern muss sich auch selbst dieser Thematik stellen und dafür Antworten finden. Auch ist aufgrund der Defizite in der medialen Zeitgeschichtevermittlung eine Auseinandersetzung mit den Inhalten in für die digitale Welt adaptierter Form nötig und es bedarf deren Kuratierung und Kontextualisierung. Bereits 2015 formulierten die deutschen HistorikerInnen, Volkskundlerinnen und MuseologInnen Eckhard Bolenz, Lina Franken und Dagmar Hänel offene Diskursfelder, zu denen wissenschaftliche Institutionen, die sich im Prozess der Digitalisierung kulturellen Erbes engagieren, Stellung nehmen sollten: „1. Wir brauchen einen inter- und transdisziplinären offenen Diskurs um Daten- und Erschließungsstandards. Die Potentiale der Vernetzung brauchen Standardisierungen, wobei Standards nicht automatisch inhaltliche Qualität bedeuten. 2. Mit der Digitalisierung kulturellen Erbes entsteht eine neue Qualität von Quellenmaterial. Hier bedarf es gemeinsamer Überlegungen zur Kategorisierung und zum methodischen Umgang. 3. Digitalisierung braucht kritische Reflexion über ihren Sinn und Zweck, über Angemessenheit und Repräsentanz. Auch Fragen nach Rechten jenseits des Urheberrechts müssen beleuchtet und mit klarer Positionierung beantwortet werden. 4. Die Digitalisierung kulturellen Erbes und die öffentliche freie Verfügbarkeit von Quellen und Wissen brauchen Vereinbarungen. Die Herausforderungen und die großen Chancen dieses Wandels sollten bewusst und transparent gestaltet werden.“87
Und mittlerweile geht es nicht mehr nur um die Digitalisierung von NS-Zeitungen und eindeutigen NS-Werken, sondern auch um andere bereits oder in Kürze gemeinfreie Schriften, wie etwa während des Nationalsozialismus verfasste Hochschulschriften. Ein Beispiel dafür stellt die 1939 an der Universität Wien vom NSDAP- und SS-Mitglied Karl Moravek88 (1911–1943) verfasste Dissertation 86 Clemens Zimmermann: Medien im Nationalsozialismus. Deutschland 1933–1945, Italien 1922–1943, Spanien 1936–1951. Wien [u. a.]: Böhlau 2007, S. 23–24. 87 Eckhard Bolenz, Lina Franken, Dagmar Hänel: Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Wenn das Erbe in die Wolke kommt. Digitalisierung und kulturelles Erbe. Essen: Klartext 2015, S. 7–13, hier S. 13. 88 Zu Moravek siehe Joachim S. Hohmann: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie. „Zigeunerforschung“ im Nationalsozialismus und in Westdeutschland im Zeichen des Ras-
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Ein Beitrag zur Rassenkunde der „Burgenländischen Zigeuner“,89 in der pseudowissenschaftliche Ergebnisse einer Anthropometrie verbreitet werden, dar. Diese ohne begleitende wissenschaftliche Kontextualisierung für seine „Mitschuld an der Verfolgung und Vernichtung der burgenländischen Zigeuner [sic! Roma]“90 wieder zu veröffentlichen und unkontextualisiert ins digitale Repositorium der Universität einzustellen, wäre jedenfalls keine kritische, angemessene und gerechte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den Opfern des Nationalsozialismus. Da in Österreich bis zur Tagung Nationalsozialismus digital keine Diskussion über die digitale Wiederveröffentlichung von nationalsozialistischen Werken geführt wurde, lohnt der Blick nach Deutschland. 2004 galt, dass auf jeden Fall Digitalisate mit volksverhetzenden Inhalten nicht für alle frei ins Netz gestellt werden sollten und ein Disclaimer nicht ausreichend sei, da man nicht umhin komme, „eine Pflicht der Gedächtnisorganisationen zur inhaltlichen Erschließung und Überprüfung der von ihnen archivierten und zur Nutzung vorgesehenen digitalen Materialien anzunehmen.“91 Mittlerweile hat sich dies bezüglich NS-Inhalte anscheinend sukzessive geändert. So stufte etwa noch 2007 die dbvRechtskommission die Verbreitung von Digitalisaten mit nationalsozialistischen Inhalten, wie den Völkischen Beobachter, zwar nicht als strafrechtlich relevant, aber zumindest ethisch bedenklich ein, da diese so schneller und leichter einer unbekannten Anzahl von Personen zugänglich gemacht werden können.92 Und auch im Masterplan Zeitungsdigitalisierung in Deutschland lautet 2016 noch die Empfehlung der SLUB Dresden, dass „im Rahmen einer Hauptphase zur Zeitungsdigitalisierung eine Kollektion ‚Zeitungen der NS-Zeit‘ zu digitalisieren und diese dann […] – wissenschaftlich kontextualisiert und publizistisch begleitet – rechtssicher zu veröffentlichen“ sind.93 2017 zeigte Nadja Krüll auf, dass zwar einige digitalisierte NS-Inhalte an wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands
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sismus. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang 1991 (= Studien zur Tsiganologie und Folkloristik 4), S. 271–275. Karl Moravek: Ein Beitrag zur Rassenkunde der „Burgenländischen Zigeuner“. Wien, Univ., Diss., 1939. Hohmann: Robert Ritter (Anm. 88), S. 275. Jürgen W. Goebel und Jürgen Scheller: Digitale Langzeitarchivierung und Recht. Bad Homburg v. d.H.: nestor – Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung 2004 (= nestor Materialen 1), S. 53. Vgl. Kurzbericht der DBV-Rechtskommission [für 2006/07], URL: https://www.bibliotheksve rband.de/fileadmin/user_upload/Kommissionen/Kom_Recht/Recht_Jahresbericht2007.pdf (abgerufen am 04. 01. 2021). Empfehlungen zur Digitalisierung historischer Zeitungen in Deutschland (Masterplan Zeitungsdigitalisierung). Ergebnisse des DFG-Projektes „Digitalisierung historischer Zeitungen“ Pilotphase 2013–2015. Dresden, 29. Januar 2016 / Berlin, 12. Juni 2017, S. 52, URL: https:// www.zeitschriftendatenbank.de/fileadmin/user_upload/ZDB/z/Masterplan.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021).
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vorhanden sind, der Umgang damit aber ähnlich dem im gedruckten Bereich sehr unterschiedlich ist, und vom freien Zugriff über Passwortschutz bis hin zum Disclaimer reicht.94 Richtig merkte Krüll an, dass die Bibliothek eine Vorbildfunktion hat, „der sie gerecht werden muss. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands muss die Signalwirkung von Entscheidungen einer staatlichen Einrichtung, wie es wissenschaftliche Bibliotheken sind, besondere Berücksichtigung finden.“95 2018 legte die DFG ein Positionspapier Förderung von Informationsinfrastrukturen für die Wissenschaft vor. Darin heißt es u. a.: „Eine wichtige Rolle spielen die 2007 erstmals eingeführten und seither mehrfach aktualisierten DFGPraxisregeln ‚Digitalisierung‘. Indem sie technische Standards vorgeben und praktisch-organisatorische Empfehlungen formulieren, haben sie sich zum Defacto-Standard entwickelt, der auch jenseits der DFG-Förderung sowie international bei der Textdigitalisierung seine Wirkung entfaltet.“96 Über diese technischen Standards und praktisch-organisatorischen Empfehlungen hinaus formulierte sie auch bezüglich Förderhandeln im Kontext des digitalen Wandels, dass im Kontext einer digitalen Wissenschaft die „Erschließung nicht als abgeschlossene und einmalige Attribuierung mit Metadaten durch Akteure der bestandshaltenden Kultureinrichtungen zu verstehen“ ist, sondern „als ein Schritt innerhalb der kollaborativen wissenschaftlichen Arbeit und Erkenntnisgenerierung und damit als Teil des Forschungszyklus.“97 „Doch kann diese Erschließung nachgelagert und iterativ und teils durch die Akteure der Wissenschaft selbst geschehen. Sie kann das gesamte Feld von der Erschließung einzelner Objekte bis hin zur Kontextualisierung ganzer Kollektionen umfassen.“98 Und so verwundert es nicht, dass etwa in der Richtlinie zur Förderung von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Digitalisierung von Objekten des kulturellen Erbes in Deutschland, zum Umgang mit eventuell problematischen Objekten nichts zu finden ist.99 Während, wie zuvor beispielhaft gezeigt, für die analoge Wiederveröffentlichung von NS-Zeitungen für die breite Öffentlichkeit 94 Vgl. Nadja Krüll: Eine Handlungsempfehlung zum Umgang mit sekretierter Literatur an wissenschaftlichen Bibliotheken am Beispiel der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg in Frankfurt am Main. Berlin: Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin 2017 (= Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft 425), S. 64–67. DOI: https://doi.org/10.18452/18399. 95 Ebd., S. 70. 96 Förderung von Informationsinfrastrukturen für die Wissenschaft. Ein Positionspapier der Deutsche Forschungsgemeinschaft. Bonn, 15. März 2018, S. 20. 97 Ebd., S. 21. 98 Ebd. S. 21–22. 99 Deutschen Bundeministerium für Bildung und Forschung: eHeritage, Bundesanzeiger vom 13. 05. 2019, URL: https://www.bmbf.de/foerderungen/bekanntmachung-2448.html (abgerufen am 05. 01. 2021). Siehe dazu auch das Rahmenprogramm eHeritage, vgl. https://www.geis tes-und-sozialwissenschaften-bmbf.de/de/eHeritage-1736.html (abgerufen am 05. 01. 2021).
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der Weg der Kontextualisierung gewählt wurde, so ist für die digitale Wiederveröffentlichung von NS-Material durch Bibliotheken anscheinend keine inhaltliche Auseinandersetzung vorgesehen, stellen sie doch vermeintlich nur quasi „abgelaufene“ gemeinfreie Informationen „zur Verfügung“. Stark verkürzt dargestellt sind Werke gemeinfrei, wenn kein urheberrechtlicher Schutz besteht: „Etwa, weil die Rechte abgelaufen sind, die bis 70 Jahre nach Tod des Urhebers gelten (bei Werken mit mehreren Urhebern quasi bis 70 Jahre nach Tod des als letztem Verstorbenen); oder weil die Schutzfrist für einfache fotografische Schnappschüsse (‚Lichtbilder‘), in denen keine schöpferische Leistung steckt, abgelaufen ist; oder weil es sich um amtliche Werke handelt, beispielsweise Gesetzestexte oder Gerichtsurteile. Nicht zuletzt weisen manche Werke auch nicht die erforderliche Schöpfungshöhe auf und sind daher per se gemeinfrei.“100
Der Urheberrechtsschutz ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich geregelt, z. B. könnte in den USA eine Publikation bereits nach 55 Jahren urheberrechtsfrei sein, sofern das Copyright nicht bis zur Maximalfrist von 95 Jahren verlängert wurde.101 Prinzipiell können neben der Public Domain auch unter bestimmten Bedingungen verwaiste Werke in die hier diskutierte Problematik einbezogen werden. Allerdings ist dies in Österreich nur rechtlich zulässig, wenn nachweislich nicht herauszufinden ist, wer die InhaberInnen der Rechte an einem Werk ist.102 „An eben der Anforderung eines entsprechenden Nachweises wird die Nutzung dieser Regelung überwiegend scheitern, denn der Gesetzgeber hat mit der Übernahme europarechtlicher Vorschriften Voraussetzungen und Pflichten des Nutzers eingeführt, die kaum zu erfüllen sind.“103 In Deutschland wurde hingegen gemeinsam mit der Regelung zu verwaisten Werken auch die Möglichkeit geschaffen, vergriffene Werke, die in Büchern, Fachzeitschriften, Zeitungen, Zeitschriften oder in anderen Schriften veröffentlicht wurden, online zugänglich zu machen. Dazu muss einer Lizenzierung bei der Verwertungsgesellschaft VG Wort erfolgen, wobei die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) ein Lizenzierungsservice für die öffentlich zugänglichen Gedächtnisinstitutionen bietet.104 Bei der Überführung des analog vorliegenden Schriftgutes in eine digitale Form entsteht jedoch, wenn der Digitalisierungsprozess nur maschinell 100 Paul Klimpel: Kulturelles Erbe digital. Eine kleine Rechtsfibel. Hrsg. von digiS, Forschungsund Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin, Juli 2020, S. 136–137. URN: urn:nbn:de:0297-zib-78644 (abgerufen am 03. 01. 2021). 101 Vgl. Sean Redmond: Historical Copyright Records and Transparency. September 1, 2019. In: New York Public Library Blog, URL: https://www.nypl.org/blog/2019/09/01/historical-copy right-records-transparency (abgerufen am 03. 01. 2021). 102 Vgl. § 56e Urheberrechtsgesetz. 103 Seyavash Amini, Andreas Huß: Lehren mit (digitalen) Medien. Ein Leitfaden durch das Urheberrecht für die Praxis. Universität Wien, Stand: 1. 2. 2017, S. 14, URL: https://phaidra. univie.ac.at/o:1092799 (abgerufen am 03. 01. 2021). 104 Vgl. Klimpel/Rack/Weitzmann: Handreichung (Anm. 81), S. 24.
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und automatisch erfolgt, also praktisch nur eine „technische Reproduktion“ darstellt, keine neue geistige Schöpfung. Daher entsteht auch kein erneut urheberrechtlich geschütztes Digitalisat.105 Diese Thematik lässt sich jedoch Keitel folgend bereits von den Kopisten herleiten: „Digitale Archivalien kennen keine Originale. Stets sind sie Kopien, zumeist Kopien von Kopien von Kopien. So neu Computer auch sein mögen, so alt ist doch dieses Konzept stetigen Kopierens, denn es ist genau diese Eigenschaft, die die digitalen Archivalien mit den uns von der Antike überlieferten Texten gleichsetzt. Bekanntlich wurden die allermeisten Texte der griechischen und römischen Literatur nur dank arabischer Bibliotheken und der fleißigen Kopierarbeit mittelalterlicher Mönche überliefert. Mit der Entdeckung sich unterscheidender Kopien entwickelten die Humanisten im ausgehenden Mittelalter den Wunsch, den ursprünglichen Text, also das Original, wiederherzustellen. Kopien können daher als eine Wurzel der humanistischen Textkritik angesehen werden.“106
Es ist zu hoffen, dass diese „humanistische Textkritik“ und historische Quellenkritik in Initiativen, wie dem deutschen Förderprogramm WissensWandel angewandt wird und deren Ziel auch „neuartige (digitale) Formate des Wissensund Informationsvermittlung zu entwickeln“ tatsächlich Impulse für die Kontextualisierung liefert und nicht nur im Bereich der „Digitalisierung und Aufbereitung von Beständen als Grundlage für deren digitale Verarbeitung, Zugänglichmachung und Vermittlung“107 stecken bleiben. Zu wünschen ist dies allemal, denn ansonsten würde die Digitalisierung durch Bibliotheken nur zu einer schleichenden Normalisierung der nationalsozialistischen Propaganda beitragen. Und darauf spekuliert haben die NationalsozialistInnen durchaus. So wurde bereits 1926 in der NSDAP-Zeitschrift Der Hakenkreuzler. Kampfblatt der National-Sozialistischen Bewegung Groß-Deutschlands zum Abschluss eines das ganze antisemitische Spektrum nutzenden Diskurses zwischen einer Frau „Zimperlich“ und einem Herrn „Schlappschwanz“, die als stehende Figuren eingeführt und ihnen Fragen rhetorisch in den Mund gelegt wurden, vom „Hakenkreuzler“ formuliert: „Wenn Sie unsere Sache wirklich fördern wollen, dann verbreiten Sie vor allem unsere Presse. Wenn erst in jedem Haus ein völkisches Blatt gelesen wird, dann wird der Jude bei uns ausgespielt haben.“108 105 Vgl. Klimpel: Erbe (Anm. 100), S. 75. 106 Keitel: Wege (Anm. 77), S. 124. 107 WissensWandel. Digitalprogramm für Bibliotheken und Archive innerhalb von Neustart Kultur, URL: https://www.bibliotheksverband.de/dbv/projekte/wissenswandel.html (abgerufen am 04. 04. 2021). 108 Der Hakenkreuzler, 1926, Nr. 18, S. 1–2, hier S. 2 zit. n. Wolfgang Duchkowitsch: Nichts für Frau „Zimperlich“ und Herrn „Schlappschwanz“. Der Grazer „Hakenkreuzler“ – 1926, In: Ders.: Medien: Aufklärung – Orientierung – Missbrauch. Vom 17. Jahrhundert bis zu Fernsehen und Video. Wien-Berlin: LIT 2014 (= Kommunikation.Zeit.Raum 3), S. 17–47,
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Schleichende Normalisierung des Nazismus und Antisemitismus „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.“109
Normalisierung des Nationalsozialismus im kulturellen Gedächtnis meint, grob umrissen, dass dieser immer stärker als beliebige historische Epoche behandelt wird. Normalisierung bezeichnet dabei „einen Zerfallsprozess moralisch eindeutiger oder sogar moralischer Sichtweisen auf den Nationalsozialismus, der spätestens in den 1960er Jahren einsetzt.“110 Neben der Ausweitung historischer Distanz, da die NS-Zeit immer mehr in die Vergangenheit rückt, wird dieser Prozess laut dem US-amerikanischen Historiker Gavriel R. Rosenfeld durch Strategien, wie Universalisierung, Relativierung oder Ästhetisierung, vorangetrieben,111 was auch die „Schwierigkeit“ mit sich bringt, eine angemessene „Lehre“ daraus zu ziehen.112 Während sich diese Normalisierung des Nationalsozialismus anhand kontrafaktischer Darstellungen des „Dritten Reiches“, wie sie etwa in der Amazon-Serie The Man in the High Castle oder dem kalkuliert provozierenden Kurzfilm MCP – Collision Prevent zum Ausdruck kommen, deutlich zeigen, formulierte der österreichische Literat Michael Köhlmeier sein Statement in Bezug auf die vielen österreichischen antisemitischen und faschistischen sprachlichen „Einzelfälle“, die abstumpfen, einen nicht mehr alarmiert sein lassen und schließlich dazu führen, dass diese Fälle als „Symptom der Landläufigkeit“ abgetan werden. Zu fragen ist daher, ob dieser Befund auch zutrifft, wenn durch die Digitalisierung die nationalsozialistischen Inhalte reproduziert und so in die digitale Informationslandschaft gespült werden? Wie ist beispielsweise mit dem folgenden vor Antisemitismus nur so triefenden Text der NS-Zeit umzugehen und ist dieser dann auch Teil der Normalisierung? „Die Läuse sind die Träger und die Verbreiter des Fleckfiebers, die Juden mit ihrer Unsauberkeit die Nährväter der bazillentragenden Läuse und ihr beliebter Unterschlupf. […] Ein Füttererstab von 60 Juden […] kommen täglich herein, um den
109 110 111 112
hier S. 38. Erstveröffentlicht in: Oliver Rathkolb, Wolfgang Duchkowitsch und Fritz Hausjell (Hg.): Die veruntreute Wahrheit. Salzburg: Otto Müller 1988, S. 158–182 u. 459–468, hier S. 175. Gedenkrede von Michael Köhlmeier am Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus, Wiener Hofburg, 4. Mai 2018. Johannes Rhein, Julia Schumacher, Lea Wohl von Haselberg: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Schlechtes Gedächtnis. Kontrafaktische Darstellungen des Nationalsozialismus in alten und neuen Medien. Berlin: Neofelis Verlag 2019, S. 11–48, hier S. 34. Vgl. Gavriel D. Rosenfeld: Hi Hitler! How the Nazi Past Is Being Normalized in Contemporary Culture. Cambridge: Cambridge UP 2015. Gavriel Rosenfeld: Vorwort. In: Rhein/Schumacher/Wohl von Haselberg: Schlechtes Gedächtnis (Anm. 110), S. 7–9, hier S. 7.
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Hunger der Läuse zu stillen. Jeder der 60 Hebräer hat 10.000 hungrige Läuse zu füttern. Um seine mit Wasser und Seife gereinigten Waden schnallt der Jude die Läuse in ihren Behältern. Mit Gier saugen die Läuse des Juden gewohntes Blut, bis sie genug davon haben. Drei Zloti (1,50 RM.) bekommt der Jude für seine Fütterungstätigkeit, und der Andrang ist groß, wie man sich leicht ausmachen kann. Denn der Umgang mit Läusen ist den Juden ja von Kindheit an vertraut.“113
Diesen Text wieder zu veröffentlichen ohne ihn in den Kontext von Fleckfieberepidemien und deren antisemitischer Rezeption sowie nationalsozialistischen Menschenversuchen und Massenmord zu stellen, ist zumindest irritierend, wenn nicht fahrlässig. Der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) folgend manifestiert sich Antisemitismus „in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen“ und benutzt „unheilvolle Stereotype“ sowie unterstellt „negative Charakterzüge.“114 Diese Kriterien gelten auch bei der Wiederveröffentlichung durch Digitalisierung von NS-Materialien, denn der im Text enthaltene Antisemitismus bleibt antisemitisch. Gerade in Zeiten, in denen eine starke Zunahme des Antisemitismus festzustellen ist, und in „allen wesentlichen Kommunikationsbereichen des Internets“ sich „judenfeindliches Gedankengut mit hoher Affektmobilisierung verbreitet“ hat,115 ist die einseitige Wiederveröffentlichung von nationalsozialistischen Werken problematisch. Die Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschafterin Monika Schwarz-Friesel konstatierte, dass diese „judeophoben Stereotype […] seit Jahrhunderten weitgehend homogen und nahezu unverändert kommuniziert“ werden. Dabei handelt es sich „um judeophobe Fantasiekonstrukte bar jeder Realität, die für überzeugte AntisemitInnen aber den Status von Glaubenssätzen haben.“116 In ihrer Studie über Antisemitismen im digitalen Zeitalter anhand von Textkorpora aus der Internet-Kommunikation kommt Schwarz-Friesel zu dem Befund, dass im digitalen Zeitalter „der alte Judenhass in neuen Informationsprozessen ungefiltert in das kollektive Bewusstsein des 21. Jahrhunderts“117 strömt, wobei „der klassische Anti-Judaismus mit seinen 113 Universität Wien/Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte, Gaupressearchiv Wien: „Die Läuse sind unser Kapital“. Aus der Arbeit des Krakauer Fleckfieberinstituts. In: Völkischer Beobachter, Wien, 07. 07. 1941, URL: https://www.ns-pressearchiv.at/archiv/akte/k195-1-m00 2-a049 (abgerufen am 05. 02. 2021). 114 Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IRHA, URL: https://www.holocaustremembran ce.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus (abgerufen am 30. 12. 2020). 115 Monika Schwarz-Friesel: Judenhass 2.0. Das Chamäleon Antisemitismus im digitalen Zeitalter. In: Neuer Antisemistismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Hrsg. von Christian Heilbronn, Doron Rabinovici und Natan Sznaider. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Zweite erw. u. überarb. Auflage 2019, S. 385–417, hier S. 385. 116 Ebd., S. 387. 117 Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich 2019, S. 141.
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Stereotypen vorherrschend“ ist und „alle Antisemitismen“ prägt.118 Gleichzeitig wird mit der Digitalisierung der antisemitische Bilderkanon, z. B. durch Karikaturen, weitergegeben und tradiert, sodass dieser erst recht im kulturellen Gedächtnis reproduziert und verankert wird.119 Der deutsche Antisemitismus- und Rechtsextremismusforscher Samuel Salzborn sieht sowohl den universalistischen als auch den revisionistischen Umgang mit NS-Vergangenheit – auch wenn gegensätzlich intentional – als problematisch, da durch ihre „fluide Instrumentalisierung“120 die Erinnerung an die Shoah nivelliert werde. Diese „schleichende Nivellierung der Erinnerung“121 gilt auch für Österreich. Daher ist eine Diskussion darüber, ob die antisemitischen nationalsozialistischen Positionen durch Digitalisierung wieder und in welchem Rahmen öffentlichen Raum bekommen sollten, notwendig. Sie ist auf jeden Fall mit antisemitismuskritischer Bildungsarbeit im Sinne von Prävention oder Bekämpfung zu verknüpfen. Dies meint die Auseinandersetzung mit Stereotypen, Codes und Verschwörungstheorien, um für antisemitische Argumentationen zu sensibilisieren und sie zu dekonstruieren.122
Historisch-politische Bildungsarbeit Dazu ist auch in die anderen Gedächtnisinstitutionen zu blicken, da gerade die verschiedenen Typen immer weniger nach dem Informationsgehalt (Mentefakte bei Bibliotheken und Archiven) und der Materialität (Artefakte bzw. Naturafakte in Museen) ihrer Sammlungsgegenstände unterschieden werden können und die Gedächtnisinstitutionen im Digitalen zusammenwachsen. So ist im Bereich der Archiv- und Geschichtswissenschaft z. B. Authentizität, Vertrauenswürdigkeit (Integrität) und Verlässlichkeit (Persistenz und Reliabilität) der von ihnen angebotenen Informationen hervorzuheben. Hinzu kommen methodische Reflektiertheit und die Einhaltung ethischer Grundsätze und nicht zuletzt die
118 Ebd., S. 140. 119 Vgl. Fransiska Krah: Zur ‚Ästhetik‘ des Antisemitismus. Mediale Judenbilder im 21. Jahrhundert. In: Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror. Hrsg. von Marc Grimm, Bodo Kahmann. Oldenbourg: De Gruyter 2018 (= Europäisch-jüdische Studien Beiträge 36), S. 293–321. 120 Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2020, S. 116. 121 Ebd., S. 103. 122 Vgl. Elke Rajal, Heribert Schiedel: Rechtsextremismusprävention in der Schule: Ein ambitioniertes Programm. In: Rechtsextremismus. Hrsg. von der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (Wien), Band 2: Prävention und politische Bildung. Wien: Mandelbaum, 2016, S. 85–136, hier S. 109.
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transparente Dokumentation der Verfahren selbst.123 Dies gilt natürlich auch für Bibliotheken, deren Bestände zu historischen Quellen werden. Gerade in Zeiten von leicht veränderbaren Informationen im Digitalen – bespielhaft seien hier Schlagwörter wie Fake News und digitale Manipulation genannt – gilt es für Bibliotheken verlässliches und authentisches digitales Quellenmaterial dauerhaft zur Überprüfung anzubieten. Da die in den Bibliotheken verwahrten Materialien zu historischen Quellen transformiert werden, sollte auch auf die Erkenntnisse der Archivwissenschaft bezüglich Umgang und Darstellung sowie Edition von Quellen Bezug genommen werden, z. B. formal mit Angaben zur Quelle selbst und deren historischer Entwicklung, Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten sowie Sekundärquellen, Hinweise zur Benutzung, Forschungs- und Entstehungsgeschichte, Literatur über und zur Quelle, daraus entstandene Forschungsarbeiten, Forschungsstand usw. Zusätzlich ist eine den digitalen Notwendigkeiten angepasste Editionstechnik für die nun im digitalen Format vorliegenden Quellen nötig. Allerdings hat sich im Archivbereich dafür in „einem jahrhundertelangen Prozess des Erfahrungsgewinns“ eine „Kulturtechnik herausgebildet, die schon vor dem 19. Jahrhundert […] mit dem Unterhalt von Archiven und mit der Archivarbeit aufs Engste verknüpft war: die historische Methode oder Quellenkritik.“124 Auch ist von den Bibliotheken gerade im Zusammenhang mit nationalsozialistischen und faschistischen Informationen ein aktiver Umgang mit den von ihnen wiederveröffentlichten Inhalten zu fordern. Dabei könnten Ansätze der Museologie und Public History, die sich mit der Geschichtsdarstellung für eine breite Öffentlichkeit beschäftigten, zum Einsatz kommen. In der Public History „werden geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse gekürzt, in andere Medien übersetzt und mit zusätzlichen Materialien versehen, um interessant, unterhaltsam und leichter verständlich zu werden.“125 Dabei ist klar, dass sich jedes historische Ereignis, schon gar nicht Krieg und Gewalt in der jüngsten Vergangenheit, dazu eignet. Der amerikanische National Council on Public History hat 123 Vgl. Pascal Föhr: Historische Quellenkritik im Digitalen Zeitalter. Phil. Diss., Universität Basel 2018, S. 184–255; Einleitung. In: Die Zukunft der Vergangenheit in der Gegenwart. Archive als Leuchtfeuer im Informationszeitalter. Hrsg. von Elisabeth Schöggl-Ernst, Thomas Stockinger, Jakob Wührer. Wien: Böhlau 2019 (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 71), S. 9–30, hier S. 14. DOI: https://doi.org/10.7767/ 9783205232346. 124 Dietmar Schenk: Das „neue“ Archivdenken und die geisteswissenschaftlichen Grundlagen der Archivwissenschaft. In: In: Die Zukunft der Vergangenheit in der Gegenwart. Archive als Leuchtfeuer im Informationszeitalter. Hrsg. von Elisabeth Schöggl-Ernst, Thomas Stockinger, Jakob Wührer. Wien: Böhlau 2019 (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 71), S. 225–245, hier S. 243. 125 Martin Lücke, Irmgard Zündorf: Einführung in die Public History. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, UTB 2018, S. 166.
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einen eigenen Ethikkodex veröffentlicht, demzufolge Public Historians ihre Arbeit reflektieren und sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft bewusst sein sollen.126 Im Standardeinführungswerk zu Public History der HistorikerInnen Martin Lücke und Irmgard Zündorf heißt es folgerichtig auch: „So gilt der Darstellung des Nationalsozialismus in Deutschland eine besondere, nationale wie internationale Aufmerksamkeit. Dies führt dazu, dass zum Beispiel in Museen die NS-Geschichte möglichst nüchtern präsentiert und möglichst genau dargestellt wird. Inszenierungen oder Reenactments fehlen in diesem Bereich weitgehend.“127
Daher ist es nicht verwunderlich, dass Museen aber vor allem Gedenkstätten sich besonders mit Vermittlungskonzepten auseinandersetzen. So lässt sich bereits im Titel Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen128 die Zielsetzung der Gedenkstättenarbeit in Deutschland erkennen. Dem entspricht auch der Ansatz der „kritischen Museumspraxis“, die „den BesucherInnen analytische Zugänge zu eröffnen und zumindest zu versuchen, sie nicht ungebrochen dem Bann faschistischer Bildsprache auszusetzen bzw. die Form und die Inhalte von NS-Objekten zu perpetuieren“. Dabei soll eine Auseinandersetzung und Kontextualisierung der Objektmerkmale und -geschichte „erzwungen“ und diese „kuratorisch“ eingebettet werden. D. h., es soll auch in einer Beschreibung eine „klare Erzählung“ angeboten und Objektdatensätze nicht veröffentlicht werden, „bei denen ein nicht zu klärender Kontext zu Mutmaßungen und Missverständnissen führen könnte.“129 Diese musealen Anforderung sollten auch für Bibliotheken gelten. Jedenfalls können über einen offensiven und differenzierten Umgang sowie durch Kontextualisierung Bibliotheken auch einen Beitrag zur Rechtsextremismusprävention und Demokratieförderung leisten. Eine solche Kontextualisierung entspricht auch dem Positionspapier zu Bibliothek und Demokratie des Deutschen Bibliotheksverbands aus 2019: „Die Zunahme antidemokratischer und antifreiheitlicher Einstellungen sowie die wachsende Abkehr von der europäischen Idee erfordern ein klares Bekenntnis zu den Werten unseres Grundgesetzes und einen aktiven Einsatz für deren Stärkung in der Gesellschaft. Dafür 126 Vgl. NCPH code of ethics and professional conduct, 2007, URL: https://ncph.org/about/gove rnance-committees/code-of-ethics-and-professional-conduct/ (abgerufen am 03. 01. 2021). 127 Lücke/Zürndorf: Public History (Anm. 125), S. 166. 128 Deutscher Bundestag: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen, Drucksache 16/9875, 19. 06.2008, URL: https://dserver.bundestag.de/btd/16/098/1609875.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). 129 Siehe dazu den Beitrag von Stefan Benedik und Monika Sommer Ein neues ZeitgeschichteMuseum: Bedingungen und Chancen einer transmedialen Vermittlung von NS-Geschichte in diesem Band.
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sind gemeinsame Anstrengungen bei der Vermittlung von Kulturgut und in der politischen Bildung wichtig.“130 In diesen Zusammenhang sind auch die Empfehlungen für den Umgang mit rechter Literatur zu stellen, in denen etwa ein „ausgewogener, kontextualisierender Bestand“ und eine „weite Kontextualisierung über die Veranstaltungsarbeit“ gefordert werden. Auch sollten „Konzepte der Rechtsextremismusprävention und Demokratieförderung adaptiert, ein Meinungs- und Erfahrungsaustausch gefördert und Fortbildungen zur Vermittlung von Hintergrundwissen zum rechten Spektrum, zu Autoren und Autorinnen sowie Verlagen angeboten und Informationspools für Lektoren und Lektorinnen aufgebaut werden.“131 Während diesen Empfehlungen zuzustimmen ist, so wird historisch-politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus und zur Shoah „häufig als eine Art Immunisierung gegen Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus verstanden.“132 So folgt nach rechtsextremen Vorfällen nur allzu oft eine Ankündigungspolitik und Absichtserklärungen, die dann mangels Ressourcen einer Umsetzung harren. Gleichzeitig wird sie auch als „Allheilmittel“ gegen gesellschaftliche Trends gesehen, die als unerwünscht gelten. Leitendes Ziel der Bildungsarbeit ist dabei die Unterstützung zur Erschließung der Umwelt. Dabei sind mit Umwelt „umfassend die soziale Alltagswelt, die Natur, Technik oder auch Geschichte sowie die eigene Person gemeint.“133 Für den Bibliotheksbereich bedeutet das, dass die unkontextualisierte „Zurverfügungstellung“ von digitalisiertem NS-Schrifttum keinen Bildungsanspruch erfüllt und die Kontextualisierung und historisch-politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus mit einem expliziten Auftrag sowie mit Ressourcen verbunden werden muss. Erst dadurch werden die Bibliotheken in die Lage versetzt, dies alles zu leisten. Denn was nicht mit einem klaren, am besten gesetzlichen Auftrag verbunden ist, wird auch von der öffentlichen Hand kaum finanziert. Allerdings bedarf es dazu auch einer Veränderung des Verständnisses von Bibliothek als reine Dienstleisterin zu einem als Herausgeberin und Verlegerin von Informationen und damit auch der Übernahme von Verantwortung durch Kuratierung und Kontextualisierung.
130 Stellungnahme des dbv „Bibliothek und Demokratie“, Mai 2019 URL: https://www.biblio theksverband.de/fileadmin/user_upload/DBV/publikationen/Flyer_Bibliotheken_und_De mokratie_Positionspapier_neues_Logo.pdf (abgrufen am 30. 12. 2020). 131 Empfehlungen für den Umgang mit rechter Literatur. URL: https://b-u-b.de/empfehlungen -fuer-den-umgang-mit-rechter-literatur/ (abgerufen am 03. 01. 2021). Vgl. dazu Kirstin Grantz: Offensiv, differenziert, kontextualisierend. In: BuB 72 (2020), H. 8–9, S. 478–480. 132 Rajal/Schiedel: Rechtsextremismusprävention (Anm. 122), S. 99–100. 133 Dagmar Richter: Politische Bildung von Anfang an kompetenzorientiert. In: Philipp Mittnik (Hg.): Politische Bildung in der Primarstufe – Eine internationale Perspektive. Innsbruck/ Wien: Studien-Verlag 2016 (= Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik 11), S. 9–22, hier S. 11.
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Rollenänderung: Vom zur Verfügungsteller zum Herausgeber „There is a responsibility of library work“, mahnte Matthijs van Otegem, der Direktor der Universitätsbibliothek an der Erasmus Universität Rotterdam, am Deutschen Bibliothekartag 2019 ein, denn wenn „Bibliotheken offen und ‚neutral‘ sind, stehen sie vor ethischen Dilemmas.“ Wobei van Otegem wissenschaftliche Bibliotheken nicht als „neutral“ sieht, ein Umstand dem sie gegenüber ebenfalls „offen sein“ sollten. Denn Bibliotheken müssen anerkennen, dass sie auch für ihre Arbeit verantwortlich sind und damit entsteht „eine große Chance für Forschungsbibliotheken, sich im digitalen Zeitalter neu zu erfinden.“134 Die Rolle und das Selbstverständnis von bibliothekarischer Arbeit durch die Digitalisierung müssen neu gedacht werden, denn durch die Digitalisierung von not born digital-Beständen tritt die Bibliothek in die Rolle einer Herausgeberin und Verlegerin ein. Die Bibliotheken wiederveröffentlichen diese Bestände, auch wenn diese bereits gemeinfrei sind, und stellen sie in ihre Repositorien. Durch den Akt der digitalen Wiederveröffentlichung muss auch für die Inhalte eine andere Verantwortung übernommen werden, als wenn sie nur – wie physische Bücher – zur Verfügung gestellt werden. Und damit müssen sich Bibliotheken den herausgeberischen und verlegerischen Tätigkeiten innewohnenden inhaltlichen Auseinandersetzung stellen. Und genau diese veränderte Rolle ist die Chance und Verantwortung für die wissenschaftlichen Bibliotheken. Ethische Richtlinien der bibliothekarischen Berufsvereinigungen, wie der American Library Association (ALA)135 oder der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA)136 geben wenig für die Frage der digitalen Wiederveröffentlichung von nationalsozialistischen Werken durch Bibliotheken her. Bibliotheken sehen sich diesen folgend zwar als jemand der den Informationsfluss durch Auswahl, Organisation, Erhaltung und Verteilung maßgeblich beeinflusst oder sogar kontrolliert, aber sich gleichzeitig für Gedankenfreiheit und den freien Zugang zu Informationen einsetzt.137
134 Vgl. https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/frontdoor/index/index/searchtype/collection/id /16963/rows/50/start/2/languagefq/eng/docId/16447 (abgerufen am 03. 01. 2021) und Mitschriften vom Vortrag Matthijs van Otegems am Deutschen Bibliothekartag 2019 in Leipzig des Autors. 135 Vgl. URL: http://www.ala.org/aboutala/governance/policymanual/updatedpolicymanual/s ection2/40corevalues (abgerufen am 03. 01. 2021). 136 Vgl. IFLA – IFLA Code of Ethics for Librarians and other Information Workers (full version), URL: https://www.ifla.org/publications/node/11092?og=30 (abgerufen am 03.01. 2021). 137 Vgl. URL: http://www.ala.org/aboutala/governance/policymanual/updatedpolicymanual/sect ion2/40corevalues; http://www.ala.org/advocacy/intfreedom/corevalues (abgerufen am 03. 01. 2021).
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Ähnlich heißt es auch bei den ethischen Grundsätzen der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e. V., der Dachorganisation der Bibliotheks- und Informationsverbände in Deutschland: „Wir wählen die Informationsquellen bedarfsorientiert nach fachlichen und qualitativen Kriterien aus – unabhängig von persönlichen Vorlieben und von Einflüssen Dritter“ und: „Wir engagieren uns für die Bewahrung, Erschließung, Vermittlung und die öffentliche Zugänglichkeit des kulturellen Erbes sowie von Informationen, die als Public Domain öffentliches Gemeingut geworden sind.“138 In Open GLAM, eine Abkürzung für ein globales Netzwerk zum Teilen des kulturellen Erbes, mit dem Ziel den freien Zugang zu den Inhalten von Sammlungen in Galerien, Bibliotheken, Archiven und Museen, also den Institutionen, die eine zentrale Rolle in der Erhaltung, Vermittlung und Weitergabe von Wissen und Kultur spielen, zu ermöglichen, wird zwar explizit die „Entwicklung von Leitlinien und Praktiken eines ethischen offenen Zugangs zum kulturellen Erbe“139 als ein zentrales Element der Arbeit definiert, jedoch ist auch bei den zukünftigen Arbeitsfeldern der Deklaration140 eine Auseinandersetzung mit der Wiederveröffentlichung und Verbreitung von nationalsozialistischen und faschistischen Inhalten anscheinend nicht vorgesehen.141 Bei all diesen Richtlinien scheinen Handlungsabsichten für den Gegenstand bzw. das Erkenntnisinteresse erkundet zu werden, also Max Weber folgend gesinnungsethische Fragestellungen im Vordergrund zu stehen. D. h., es werden Fragen gestellt, wie etwa: Was ist notwendig für die Forschung? Was ist technisch machbar, rechtlich zulässig? Wie lässt sich die Digitalisierung effizient organisieren und administrieren? Das sind wichtige Fragen, allerdings müssen ebenso auch verantwortungsethische Fragen nach den möglichen Folgen des Handelns gestellt werden, um ein hohes Maß an Integrität zu gewährleisten. Doch auch wenn bislang die Tätigkeiten als Herausgeber und Verleger nicht direkt in den Codes of Ethics der Bibliotheken genannt werden und sich auch jene im Verlagsbereich oftmals wiederum dem Bereich der gesinnungsethischen Fragestellungen zuordnen lassen,142 ist z. B. im Manifest der Federation of Eu138 Ethische Grundsätze von Bibliothek &Information Deutschland (BID) – Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e. V., URL: https://media02.culturebase.org/data/docs-bide utschland/Ethische%20Grundsaetze.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). 139 URL: https://openglam.org/ (abgerufen am 03. 01. 2021). 140 Vgl. URL: https://openglam.org/principles/ (abgerufen am 03. 01. 2021). 141 Vgl. Why – OpenGLAM, URL: https://openglam.org/why/ (abgerufen am 03. 01. 2021). 142 Vgl. beispielhaft die Richtlinien für Herausgeber bezüglich Veröffentlichungsethik zusammengefasst im EQUATOR Network, vgl. URL: https://www.equator-network.org/library/re sources-in-german-ressourcen-auf-deutsch/forschungsethik-publikationsethik-und-goodpractice-leitlinien/#richtlinien oder auch das Committee on Publication Ethics (COPE), eine 1997 gegründete Initiative, die sich an Herausgeber von wissenschaftlichen Zeitschriften richtet (vgl. https://publicationethics.org/about/our-organisation, abgerufen am 03.01. 2021).
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ropean Publishers143 eine verantwortungsethische Verpflichtung ablesbar. Dort heißt es: „Publishers carefully select, check and verify content because they associate their brand and that of their authors to it. As the lack of publishing responsibility by platforms becomes a liability to Europe’s society, book publishers keep providing verified information, quality knowledge, selected creativity.“144
Das bedeutet, dass Verlage ihre veröffentlichten Inhalte „sorgfältig auswählen, überprüfen und verifizieren“ und eben nicht jede Niederschrift als veröffentlichungswert betrachten. Nach dem Auswahlprozess des Sammelns ist also ein weiterer für das Veröffentlichen selbst zu beachten. Dementsprechend heißt es auch in den ethischen Richtlinien für library publishing bei den editorischen Standards der Library Publishing Coalition (LPC), dem Netzwerk von hauptsächlich US-amerikanischen Universitätsbibliotheken, die im Bereich library publishing tätig sind: „An organization earns its reputation through implementation of editorial standards; such standards enable publishers to identify spurious or false work, or work that is not ready for publication, and provide a pathway toward developing promising work into something worth publishing. Libraries seeking to operate as legitimate publishers can best demonstrate that intention with high-quality editorial work. This is especially important for libraries new to the publishing field as library values, which promote broad collection development and an aversion to censorship, could be misapplied in the editorial realm as a form of noncritical practice. Where libraries decide to undertake editorial work, standards serve as a roadmap for learning and implementing practice. Where libraries decide not to provide traditional editorial services directly, a familiarity with editorial standards will help them to evaluate third party alternatives, or at the very least to make informed choices about the quality of materials they do publish.“145
Darüber hinaus werden auch neue wesentliche Fragen angeschnitten: „Library publishers also hold the singular position of being both the dissemination and preservation node in the scholarly communication process. It may be that library publishers have ethical responsibilities toward access that commercial and academic publishers do not. Should libraries, for instance, have an ethical imperative to collect what they publish? Or to publish only what they would collect? To what extent do libraries have an additional (and non-commercial) responsibility to enhance the availability of their publications through bibliographic description, extended metadata, original cataloging, or inclusion in discovery networks? These constitute traditional 143 Vgl. URL: https://fep-fee.eu/ (abgerufen am 03. 01. 2021). 144 European Publishing Matters. The FEP Manifesto 2019. Brussels: Federation of European Publishers 2019, URL: https://fep-fee.eu/IMG/pdf/fep_manifesto_fin.pdf ?1323/28fefb6d71 06bb6ed685cacb1953d9d9e4632f8b (abgerufen am 03. 01. 2021). 145 URL: https://librarypublishing.org/resources/ethical-framework/ethical-framework-publis hing-practice/ (abgerufen am 03. 01. 2021).
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library practice, but it is possible that they should also constitute publishing practice where libraries are publishers.“146
Bibliotheken agieren durch die Digitalisierung und Veröffentlichung als Herausgeberin und Verlegerin und müssen daher einen sinnvollen, angemessenen und gerechten Umgang für die Wiederveröffentlichung der rassistischen, antisemitischen und verhetzenden sowie propagandistischen NS-Inhalte finden. Wissenschaftliche Bibliotheken müssen diese Auseinandersetzungen mit den Inhalten der von Ihnen verwahrten Bestände führen. Dies müssten sie und die anderen Gedächtnisinstitutionen nicht alleine machen, sondern könnten in Kooperation mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsinstitutionen diese kuratierend und kontextualisierend aufarbeiten und so mit einem intellektuellen Mehrwert der Öffentlichkeit gemeinfrei zur Verfügung stellen. Ein wesentlicher Bereich dabei ist die Vermittlungs- und Bildungsarbeit.
Kuratierung – Kontextualisierung Während oftmals das Internet bzw. die sozialen Medien als Fünfte Gewalt bezeichnet werden, nennt der Bibliothekswissenschafter Hans-Christoph Hobohm147 auf Basis der nationalen schwedischen Bibliotheksstrategie148 Bibliotheken als Fünfte Gewalt. Der Ansatz besticht, da die Bibliotheken schon immer für die Überlieferung gesicherten Wissens zuständig waren und nun auch für die Überprüfbarkeit in der digitalen Manipulierbarkeit von Information. Durch die Digitalisierung und Wiederveröffentlichung ihrer Bestände haben sie dabei auch eine wichtige Gatekeeper-Funktion. Die Kuratierung von zu digitalisierenden Beständen beginnt bereits bei der Auswahl, so haben auch die Universitäten von Harvard und Oxford, aber auch diverse Gedächtnisinstitutionen bereits in den späten 1990er Jahren Richtlinien für die Auswahlkriterien festgelegt.149 Neben Kriterien, wie Urheberrechte, Zugriffsbeschränkungen, Schutz der Originalquellen zeigt etwa das Beispiel der Louisiana State University Libraries, dass bei der Auswahl und durch die Be146 URL: https://librarypublishing.org/resources/ethical-framework/ethical-framework-publis hing-practice/ (abgerufen am 03. 01. 2021). 147 Siehe dazu den Beitrag von Hans-Christoph Hobohm Zensur in der Digitalität – eine Überwindung der Moderne? in diesem Band. 148 Vgl. Den femte statsmakten. Bibliotekens roll för demokrati, utbildning, tillgänglighet och digitalisering. Red. von: Erik Fichtelius, Eva Enarson, Krister Hansson, Jesper Klein, Christina Persson. [Stockholm]: Kungliga biblioteket, Nationell biblioteksstrategi 2018, URL: https://libris.kb.se/bib/21529397 (abgerufen am 03. 01. 2021). 149 Vgl. Dan Hazen, Jeffrey Horrell, Jan Merrill-Oldham: Selecting Research Collections for Digitization-Full Report. Council on Library and Information Resources, August 1998, URL: https://www.clir.org/pubs/reports/hazen/pub74/ (abgerufen am 03. 01. 2021).
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schreibung der Sammlung auch ein Beitrag zur Antirassismusarbeit geleistet werden kann. „By deciding what, among the many possible choices, to digitize in special collections and archives, we choose what narratives to promote, what history to highlight, and what legacies to further.“150 So wird der in den Sammlungen inhärenten rassistischen Geschichte des Ausschlusses großer Bevölkerungsteile entgegengewirkt und die Befassung damit in die bibliothekarische Alltagsroutine aufgenommen. Dies ist allerdings nichts Neues, denn bei jeder Bewertung, so auch im Bibliotheksbereich bei der Auswahl der physischen Bestände, sind die Bedeutung (significance), die Erhaltbarkeit (sustainability) und auch die Verfügbarkeit (availability) zu beachten. Und natürlich sind sie auch bei der Transformierung der physischen in digitale Bestände durch Kuratierung zu beachten.151 Angewandt auf das hier diskutierte Thema bedeutet das, dass die spezifischen medialen Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur mit ihrer zensurierten und gleichgeschalteten NS-Presselandschaft bei der Digitalisierung der entsprechenden NS-Presseprodukte in Deutschland und Österreich Probleme darstellen, da bei einer Fokussierung ausschließlich auf dieses Material nur einseitig die NS-Sichtweisen wiedergegeben werden würden. Um hier auszugleichen, müssen proaktiv und bevorzugt andere Stimmen, wie z. B. die Exilpresse, in die Digitalisierung einbezogen werden.152 Das ist wichtig, reicht aber bei weitem nicht aus, da auch die Generierung und der richtige Umgang mit Kontext von wesentlicher Bedeutung ist. Kontext kann dabei verschiedene Ausprägungen153 annehmen, da historische Information durch weitere historische Infor-
150 S. L. Ziegler: Digitization Selection Criteria as Anti-Racist Action. In: code{4}lib, Issue 45, 2019-08-09, URL: https://journal.code4lib.org/articles/14667 (abgerufen am 03. 01. 2021). 151 Dies gilt natürlich auch für born digital-Informationen und der Frage ihrer Aufbewahrung durch Kultur- und Gedächtnisinstitutionen. So wurde 2016 von der UNESCO Guidelines for the selection of digital heritage for long-term preservation herausgegeben, vgl. URL: https://unescopersist.files.wordpress.com/2017/02/persist-content-guidelines_en.pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). 152 Die ÖNB setzt dies mittlerweile mit der Digitalisierung der Exilpresse um – siehe dazu den Beitrag von Hans Petschar, Margot Werner, Christian Recht und Christa Müller Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit an der Österreichischen Nationalbibliothek in diesem Band. 153 Tatsächlich sind viele Kontexte zu unterscheiden, die bei der Erschließung und Kontextualisierung berücksichtigt werden müssten (Entstehungskontexte, wie soziale, ökonomische oder religiöse aber auch Interpretationskontexte und Rekontextualisierungsprozesse). Siehe dazu etwa die Diskussionen über einen ethisch korrekten Zugang zu gesammelten Daten und Informationen sowie Objekten aus ethnischen Gruppen. Vgl. Virgie Hoban: Librarians, researchers, Native community members weigh in on ethical access to Indigenous collections. University of California – Berkeley Library News, 14. 12. 2020, URL: http s://news.lib.berkeley.edu/cultural-sensitivities (abgerufen am 15. 12. 2020); Igor Eberhard: Herausforderung ethnographische Daten: Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Pilotpro-
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mation, aber manchmal nur durch heutiges Wissen verstehbar werden kann.154 Und genau letzteres fehlt derzeit durch den digitalen Gap im 20. Jahrhundert, der vor allem die zeithistorische Aufarbeitung des Nationalsozialismus betrifft.
Digital Gap NS-Aufarbeitung Gemeinfreiheit bedeutet auch, dass Digitalisate einschließlich Volltexten unter freien Lizenzen für die uneingeschränkte Nachnutzung verfügbar sind.155 Um sie in den verschiedenen Digital Humanities-Kontexten nachnutzen zu können, muss „das digitale Dokument, um für den Ausdruck oder andere Präsentationsformen geeignet zu sein, eine bestimmte Form haben, die eine flexible Nachnutzung für die verschiedenen Zwecke, seien sie analog oder digital, ermöglicht“156 und dass die „effiziente Nutzbarkeit indes unter zwei Bedingungen steht, einerseits dass sie möglichst standardisiert sind und andererseits dass sie leicht von Algorithmen gelesen und ausgewertet werden können.“157 Freie Lizenzen bedeutet natürlich, dass Dokumente und Daten „aus der Logik des Mediums heraus in Zukunft durchgehend im Open Access angeboten werden.“158 Big Data, Linked Open Data, Machine Learning, interdisziplinäre Zusammenarbeit, TEI-Codierung usw. sowie Metadaten etwa für Bibliotheken mit den bereits entwickelten konzeptionellen Modellen FRBR und CIDOC CRM für Museen oder auch den Records in Contexts im Archivwesen sollten auch den Austausch ermöglichen und dabei helfen, die Angebote zu einer institutionenübergreifenden Recherche nach Kulturgut auszubauen und eine Vielzahl von gegenwärtigen aber auch in der Vergangenheit liegenden Relationen vorzusehen.159 Hinzu kommt sicherlich das prinzipiell vorhandene Potential einer Inhaltserschließung für die Kontextualisierung.
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jekt Ethnographische Datenarchivierung an der Universität Wien. In: Köstner-Pemsel/ Stadler/Stumpf: Künstliche Intelligenz (Anm. 60), S. 261–273. Vgl. Keitel: Wege (Anm. 77), S. 176. Vgl. die Empfehlungen für Zeitungsdigitalisate im Masterplan (Anm. 93), S. 53 und die Charta zu Gemeingut der Europeana, URL: https://pro.europeana.eu/files/Europeana_Profe ssional/IPR/Public%20Domain%20Charter/GERMAN%20Public%20Domain%20Charter. pdf (abgerufen am 03. 01. 2021). Thomas Stäcker: Die Sammlung ist tot, es lebe die Sammlung! Die digitale Sammlung als Paradigma moderner Bibliotheksarbeit. Bibliothek – Forschung und Praxis 43(2019), H. 2, S. 304–310, hier S. 306. DOI: https://doi.org/10.1515/bfp-2019-2066 (abgerufen am 03. 01. 2021). Ebd., S. 306–307. Ebd., S. 304. Vgl. Keitel: Wege (Anm. 77), S. 183–185; Harald Klinke (Hg.): #DigiCampus. Digitale Forschung und Lehre in den Geisteswissenschaften. München: Universitätsbibliothek der Lud-
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Die Nachnutzungsmöglichkeiten im Bibliotheksbereich (und darüber hinaus) sind vielfältig und dadurch ist eine neue kreative Szene entstanden, die auch im Rahmen von Library Labs angesprochen wird. So positiv diese Möglichkeiten zu bewerten sind, so müssen doch die Nachnutzung von nationalsozialistischen rassistischen, hetzerischen, antisemitischen und propagandistischen Inhalten der NS-Zeit kritisch hinterfragt werden. Was hat man sich dann darunter vorzustellen? Wird dann irgendwann ein animierter Best of Böse-Clip aller Karikaturen des Stürmers produziert? Das heißt, wenn die nationalsozialistischen „Informationen“ digital verpackt werden, muss auch deren propagandistische, rassistische, antisemitische, hetzerische usw. Grundlage und Herkunft mitverpackt werden, sonst erscheinen diese Daten/Information als „neutral“, „genau“ oder „gesichert“. Wenn in die digitalen Systeme nur solche „problematischen“ Daten eingespeist werden, werden ohne weiterer Einspielung von Daten und Kontextinformationen aus der nachgefolgten wissenschaftlichen Aufarbeitung „problematische“ Daten herauskommen, denn auch die Algorithmen sind nicht „neutral“, sondern basieren auf und reproduzieren die eingespielten Daten. Jedes System ist dabei nur so gut wie seine Daten. Garbage in, Garbage out, heißt es in der Informatik: Wer nur nationalsozialistischen Müll hineinwirft, bekommt auch nur nationalsozialistischen Müll heraus. Michael Knoche, der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, verweist zurecht darauf, dass im Netz weiterhin der größte Teil der urheberrechtlich geschützten Publikationen des 20. Jahrhunderts fehlt.160 Der Informationswissenschafter Paul Gooding spricht 2017 davon, dass in Europa bisher nur rund vier Prozent der Sammlungen von Gedächtnisinstitutionen digitalisiert vorliegen würden und nur 54 Prozent wären mit standardisierten Metadaten ausgezeichnet.161 Es ist anzunehmen, dass sich diese Prozentzahlen in den letzten Jahren und auch Corona-bedingt erhöht haben,162 aber das löst die urheberrechtliche Problemstellung nicht, denn vieles liegt dann in lizenzierter Form zwar digital vor, aber nur für einen eingeschränkten Benutzerkreis. Dazu formulierte Knoche: „Kurz und gut: Vieles, aber bei Weitem nicht ‚alles‘ ist im Netz. Wenn wissenschaftlich relevante Publikationen im Internet zu finden sind, haben oft Bibliotheken durch Kauf, wig-Maximilians-Universität 2018, URL: https://epub.ub.uni-muenchen.de/41218/ (abgerufen am 03. 01. 2021). 160 Michael Knoche: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Göttingen: Wallstein 2018, S. 15. 161 Paul Gooding: Historic Newspaper in the Digital Age. „Searching all about it“. London 2017, S. 115. 162 In der europäischen digitalen Bibliothek Europeana waren im März 2021 über 62 Millionen digitalisierte Kulturobjekte nachgewiesen, vgl. URL: https://classic.europeana.eu/portal/de (abgerufen am 06. 03. 2021).
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Lizenzierung oder Eigendigitalisierung dafür gesorgt, dass es sie gibt. Auf Suchmaschinen allein kann man sich nicht verlassen, und ihre kommerzielle Ausrichtung verdient den größten Argwohn.“163
Wesentlich ist dabei, dass in der Nachkriegszeit bereits umfangreiche Forschungen und Aufarbeitungen des Nationalsozialismus passiert sind, die in die Kontextualisierung und auch als Datenbasis einzubeziehen sind. Während nationalsozialistische Werke mittlerweile sukzessive gemeinfrei sind und digitalisiert werden, stehen genau die sich damit befassenden und aufarbeitenden Werke nicht oder nur in geringen Umfang digital zur Verfügung bzw. nur mit eingeschränktem Zugang über Universitäten und andere Forschungseinrichtungen. Um all die bislang genannten Forderungen zielführend umsetzen zu können und gleichzeitig nationalsozialistische Hetze und Propaganda bekämpfen und aufklärend wirken zu können, bedarf es ebenfalls die gleichzeitige Wiederveröffentlichung der aufarbeitenden wissenschaftlichen Literatur. Um Datengleichheit zu erhalten, reicht es nicht diese nur an wissenschaftliche Institutionen lizenziert digital zur Verfügung haben, sondern diese müssen ebenfalls open access zu den gleichen Bedingungen zur Verfügung stehen, so dass diese auch in allen Spielarten der digitalen Auswertung einbezogen werden können. D. h., der bestehende Gap bei digitaler Verfügbarkeit des 20. Jahrhunderts gehört bezüglich der Nationalsozialismus-Aufarbeitung dringend geschlossen, denn ansonsten funktioniert die Dekonstruierung durch aufklärende Werke noch auf längere Zeit im Digitalen nicht. Hierbei alleine auf die Verkleinerung des digitalen Gaps durch Zeitablauf zu warten, ist kein sinnvoller, angemessener und gerechter Umgang. Klar ist, wie es auch Knoche formulierte: „‚Digital‘ und ‚analog‘ stehen in keinem Gegensatz, sondern einem Komplementärverhältnis. Geändert hat sich der Aggregatzustand von Publikationen.“164 Gerade NS-Publikationen wurden aber aus guten Gründen aus der Gesellschaft gezogen und den wissenschaftlichen Bibliotheken zur Aufbewahrung anvertraut, eine digitale ubiquitär verfügbare Wiederveröffentlichung sollte daher mit den entsprechenden wissenschaftlich aufbereiteten Kontexten und Diskursen erfolgen. Denn die „Idee der Bibliothek besteht in der Verantwortung für die Verfügbarkeit von Veröffentlichungen. Ihr Zweck ist, Auskunft zu ermöglichen über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis.“165 Ein Erkenntnisstand lässt sich im Fall der nationalsozialistischen Werke jedenfalls nur vermitteln, wenn die bislang erfolgte Aufarbeitung ebenfalls digital ubiquitär zur Verfügung steht. 163 Knoche: Idee (Anm. 160), S. 16–17. 164 Ebd., S. 12. 165 Ebd., S. 119.
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Dafür reicht es nicht urheberrechtsbewehrte Werke nur mit regionalen oder nationalen Lizenzen bereitzustellen. Es bedarf in diesem Zusammenhang zumindest einer europäischen, eigentlich einer globalen Lösung. Um eine solche zu erreichen braucht es ein bibliothekarisches Selbstverständnis, die Funktion einer wissenschaftlichen Bibliothek auch im Bereich der Wissenschaft selbst und nicht nur in der Dienstleistung zu sehen. Denn, so formulierte Frédéric Döhl, der Strategiereferent für Digital Humanities in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig: „Es geht um Zusammenarbeit ‚auf Augenhöhe‘, gegenseitiges Verständnis über Fachgrenzen hinweg, gleichberechtigtes Arbeiten in allen beteiligten disziplinären Richtungen zugleich.“166 Für Österreich lautet eine der Handlungsempfehlungen der 2020 im Auftrag des österreichischen Rates für Forschung und Technologieentwicklung (RFTE) verfassten Studie Big Data, Algorithmen und AI in der die neuen Herausforderungen für österreichische Forschungsinstitutionen adressiert wurden, dass eine „Kommission für Datenethik und Foresight zu datengetriebener Wissenschaft“ aufgebaut werden soll.167 In der Kommission sollen diverse Perspektiven und Expertisen aus den Bereichen Rechtswissenschaften, Ethik, Soziologie, IT, Innovationsforschung, Data Science sowie Vertretungen der diversen Forschungsdisziplinen und der Gesellschaft laufend eingebunden sein. Hier ist anzuregen, dass für die Digitalisierung von problematischem Schriftgut, wie eben NS-Literatur, auch die Bibliothekswissenschaft, die Zeitgeschichte und die Publizistik miteingebunden werden, denn eine brauchbare digitale Kontextualisierungstechnik und -kultur scheint erst in der Formierungsphase zu sein. Dazu muss die digitalisierende und die Digitalisate verwahrende Institution eine in die Diskurse eingebundene Gedächtnisinstitution sein und sich mit geeigneten Vermittlungskonzepten auseinandersetzen. Gerade für die inhaltliche Befassung mit dem nationalsozialistischen Erbe würde sich ein interdisziplinärer Zugang aus Zeitgeschichte, Publizistik, Bibliothekswissenschaft, Museologie und Archivkunde, Geschichtswissenschaft und Digital Humanities u. a. anbieten. Und auf europäischer Ebene sollte eine Instanz mit Beirat und entsprechenden finanziellen Mitteln geschaffen werden, die die für die Aufarbeitung des nazistischen Erbes notwendigen und wesentlichen Werke mittels Forschungs-
166 Frédéric Döhl: Digital Humanities und Bibliotheken. Über technisch-organisatorische Infrastruktur hinausgedacht. In: ZfBB 2019(66), 1, S. 4–18, hier S. 4. 167 Big Data, Algorithmen und AI: Datengetriebene Forschung in der Wissenschaft 2030. Mit welchen neuen Herausforderungen sind Hochschulen und außerhochschulische Forschungseinrichtungen in Österreich in Hinblick auf datengetriebene Forschung konfrontiert? Studie im Auftrag des Rats für Forschung und Technologieentwicklung erarbeitet von winnovation – Open Innovation Forschung und Beratung. Wien: winnovation Juli 2020, S. 51.
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Markus Stumpf
standanalyse bestimmt und diese open access freikauft. Angelehnt an Knoche168 findet sich auch ein möglicher Name für ein solches europäisches Bibliotheksinvestitionsprogramm mit „Digitale Wiederveröffentlichung. Mit Vernunft und Verantwortung“.
168 Vgl. Knoche: Idee (Anm. 160), S. 101.
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Klaus Ceynowa
Problematische Inhalte als Open Data? Das Beispiel des Fotoarchivs Hoffmann
Zusammenfassung Die uneingeschränkte „Offenheit“ digitaler Sammlungen zählt zu den Grundprinzipien bibliothekarischen Handelns. Mit ihr verbindet sich der ethische Anspruch des freien Zugangs zu Informationen und damit letztlich das Ideal einer fortschreitenden Demokratisierung des Wissens. Insbesondere die Massendigitalisierung bringt jedoch auch die Reaktivierung „problematischer“ Inhalte, insbesondere aus der NS-Zeit mit sich, die ohne eine angemessene Kontextualisierung nicht in die „Offenheit“ eines weltweiten Zugriffs gestellt werden sollten. Am Beispiel des Fotoarchivs Hoffmann der Bayerischen Staatsbibliothek werden die möglichen Reaktionen im Umgang mit dieser Thematik beschrieben. Zudem wird die Option diskutiert, die notwendige Kontextualisierung automatisiert durch semantische Technologien zu leisten. Schlagwörter Fotoarchiv Heinrich Hoffmann, Open Data, YEWNO, Semantisches Discovery, Digitale Transformation, Kontextualisierung, Bayerische Staatsbibliothek Abstract Problematic Content as Open Data? The Example of the Hoffmann Photo-Archive The unrestricted openness of digital collections ranks among the principles of a librarian’s work. It is linked with the ethical principle of non-exclusive access to information and thereby with the advancing democratization of knowledge. However, mass-digitization in particular brings about the reactivation of “problematic” content, especially from the Nazi era. This content cannot be placed in the openness of global access and unhindered free use without adequate contextualization. With regard to the Hoffmann Photo-Archive of the Bavarian State Library, this article describes the possible reactions when dealing with this issue. It further discusses the option to achieve the required contextualization by way of automated semantic technologies. Keywords Hoffmann Photo-Archive, Open Data, YEWNO, Semantic Discovery, Digital Transformation, Contextualization, Bayerische Staatsbibliothek Klaus Ceynowa, Bayerische Staatsbibliothek in München, E-Mail: [email protected]
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Klaus Ceynowa
Die Bewertung und Auswahl des als sammlungs- und bewahrungswürdig Empfundenen zählt von jeher zu den Kernaufgaben bibliothekarischen Handelns. Bibliothekarinnen und Bibliothekare haben jedoch stets betont, dass ihre Arbeit frei von moralischen, politischen oder ideologischen Interessen oder Rücksichten sei – oder zumindest sein sollte. Die Entscheidung, was einer Sammlung hinzugefügt wird, erfolge ausschließlich nach fachlichen und formalen Kriterien. In der digitalen Welt, die durch die Massendigitalisierung ganzer Sammlungen, Archive und Fototheken gekennzeichnet ist, tritt die bibliothekarische Leistung des Gatekeeping zusehends in den Hintergrund. Bibliothekarinnen und die Bibliothekare sehen sich nun primär als Initiatoren und „Treiber“ einer möglichst uneingeschränkten und ubiquitär nutzbaren Offenheit digitaler Objekte und Datenbestände, und dies durchaus nicht zu Unrecht: Lässt man urheber- und lizenzrechtliche Fragen einmal außen vor, sind digitale Inhalte im Netz nämlich einfach „da“. In möglichster Offenheit zur Nachnutzung an jedem Ort und zu jeder Zeit, zum Download und zur weiteren Bearbeitung bereitgestellt, in vielfältige Applikationen eingebettet, kursieren sie in immer neuen Arrangements, deren Gestaltung nun als eine wesentliche Aufgabe der Bibliothek im digitalen Raum gilt: in regionalen Kulturportalen, institutionellen Repositorien, virtuellen Ausstellungen, digitalen Forschungsumgebungen, der Deutschen Digitalen Bibliothek, der Europeana, der Digital Public Library of America, dem Hathi Trust, Google Books sowie Plattformen und Apps jeder Art. Einer der Vorzüge dieser Arrangements liegt gerade darin, dass hier die selektierende Funktion nicht mehr bei der Bibliothek, sondern bei den Nutzerinnen und Nutzern liegt, der durch intelligente Bedienung fortschrittlicher Recherche- und Discovery-Systeme die gewünschten Facettierungen und Fokussierungen im digitalen Datenraum selbst vornimmt, der seinerseits gerade deshalb gar nicht „reich“ und umfassend genug sein kann. Auswahl und Bewertung wandeln sich im Digitalen also zumindest tendenziell von einer „vorlaufenden“, bibliothekarisch erbrachten Leistung zu einer „nachlaufenden“, beim Nutzer oder bei der Nutzerin selbst liegenden Aktivität.1 Wie aber geht man in diesem Szenario mit all den digitalen Inhalten um, die man aus welchen Gründen auch immer nicht offen und frei im Netz flottieren lassen möchte. Für diese gerne oft summarisch als „problematisch“ bezeichneten Inhalte soll und kann hier keine definitorische Abgrenzung gegeben werden. Stattdessen soll lediglich anhand eines, allerdings sehr prägnanten Falles ver1 Mit diesem Wandel geht nicht selten die irrige Auffassung einher, in der digitalen Bibliothek ginge es im Wesentlichen nur noch um die Vermittlung des informationskompetenten Umgangs mit Inhalten, aber nicht mehr um die Lizenzierung, Erwerbung, Bereitstellung und Langzeitverfügbarhaltung dieser Inhalte selbst. Jedoch kommt auch im Digitalen der Content leider noch immer nicht wie der sprichwörtliche Strom aus der Steckdose, auch wenn er am Ende für den Nutzer oder die Nutzerin selbst kosten- und restriktionsfrei „da“ ist.
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deutlicht werden, welche Herausforderungen derartige Inhalte für die Bibliothek als digitale Bibliothek mit sich bringen.
Abb. 1: Fotoarchiv Hoffmann: Heinrich Hoffmann (im Hintergrund auf der Treppe stehend; 1936)
Das Fotoarchiv Hoffmann: Kontextualisierung durch Erschließung? Seit 1992 besitzt die Bayerische Staatsbibliothek circa 66.000 Aufnahmen des Fotoarchivs Heinrich Hoffmann, deren Ankauf durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft unterstützt wurde. Der deutsche Fotograf und nationalsozialistische Politiker Heinrich Hoffmann (1885–1957) fungierte als Reichsbildberichterstatter und galt als Leibfotograf Hitlers. Er genoss das engste Vertrauen Adolf Hitlers (1889–1945) und durfte als einziger Fotograf bei allen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen in unmittelbarer Nähe Hitlers fotografieren, auch im privaten Rahmen.2 Der ganz überwiegende Teil des rund 2,5 Millionen Aufnahmen umfassenden Archivs Hoffmann wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der US-amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt und befindet sich heute in der National Archives and Records Administration, 2 Vgl. den äußerst instruktiven Ausstellungskatalog: Alain Sayag: Un Dictateur en Images. Photographies de Heinrich Hoffmann. Montpellier: Ville de Montpellier 2018.
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Klaus Ceynowa
dem Nationalarchiv der Vereinigten Staaten, und ist dort teilweise erschlossen und zugänglich. Die im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek befindlichen Aufnahmen wurden aus dem Familienbesitz des Enkels von Heinrich Hoffmann erworben, in Eigenleistung erschlossen und 2002/2003 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft digitalisiert. Bei der Katalogisierung des Fotoarchivs wurde besonderer Wert auf die Verwendung möglichst „neutraler“ Begriffe gelegt, die die Suche im Interesse einer eindeutigen Identifizierung einzelner Bilder unterstützen. Die im Regelfall propagandistischen Beschreibungen, die auf den Rückseiten der Bilder zu finden sind, wurden nur in Ausnahmefällen übernommen und eindeutig als Zitat gekennzeichnet. Die Rückseiten selbst wurden nicht digitalisiert. Sucht man zum Beispiel nach Aufnahmen von der Frontfahrt Hitlers am 5. Oktober 1939 in Warschau, so erhält man zu einem Bild, das die Abnahme einer Parade zeigt (hoff-28350), neben den üblichen Metadaten folgende Beschreibung: „Gruppenbild im Profil (in Uniformledermantel m. Stiefeln u. Mütze; auf e. Podest stehend; m. ‚Hitlergruß‘; Parade; Soldaten zu Pferd; Fahnen).“ Diese Form der Erschließung fotografischer Materialien sieht sich immer wieder deutlicher Kritik ausgesetzt. In ihrem Beitrag Die fotohistorische Forschung zur NS-Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft schreibt Miriam Y. Arani: „Heinrich Hoffmanns politische Werbefotografien für Hitler und die NSDAP werden im Internet weltweit angeboten. Sie wurden mit Finanzmitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft von der Bayerischen Staatsbibliothek erworben, digitalisiert und vor einigen Jahren in Form einer Bilddatenbank öffentlich zugänglich gemacht. Auf der Einstiegsseite wird knapp informiert, das Fotoarchiv Heinrich Hoffmann enthalte ‚Materialien über die NSDAP‘; der Entstehungszusammenhang und ursprüngliche Zweck der Aufnahmen ist nicht erläutert.“3
Inzwischen ist die Beschreibung des Fotoarchivs Hoffmann auf der Website der Bayerischen Staatsbibliothek umfangreicher, kann aber auch weiterhin eine historisch angemessene und umfassende Darstellung und Bewertung der Propagandafotografie Hoffmanns nicht leisten. Dies gilt erst recht für die beschreibenden Metadaten zu den Fotos selbst. Zum oben wiedergegebenen Beispiel schreibt Arani: „Die Bildbeschreibung ist vorrangig um eine Identifikation von Personen, Uniformteilen und Kriegsgerät bemüht. Unerwähnt bleiben die Repressionen der Besatzer gegen
3 Miriam Y. Arani: Die fotohistorische Forschung zur NS-Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), H. 3, S. 387–412, hier S. 396.
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die polnische Zivilbevölkerung Warschaus zur Durchsetzung eines störungsfreien Ablaufs der Siegesparade und zur Inszenierung dieser offiziellen Siegesbilder.“4
So zutreffend diese Forderung nach einer den historischen Zusammenhang in wissenschaftlich fundierter Form berücksichtigenden Kontextualisierung digitalisierter Objekte und Sammlungen auch ist, so klar ist auch, dass sie schon ressourcenseitig durch Bibliotheken in keiner Weise geleistet werden kann – dies gilt erst recht, wenn es sich um die Resultate von Massendigitalisierungsprojekten handelt. In einer rein analogen Welt, in der jedes Sammlungsobjekt an den Ort seiner Bewahrung und Bereitstellung gebunden ist, fällt dieses Defizit nicht weiter ins Gewicht. Hier bringt der Nutzer oder die Nutzerin im Regelfall den zum angemessenen Objektverständnis erforderlichen „Kontext“ im Sinne eines wie auch immer differenzierten Vorwissens mit, denn genau dieses Vorwissen ist es, das ihn oder sie in eine ganz bestimmte Bibliothek und zu einer ganz bestimmten Sammlung führt. Die Bereitstellung von Sammlungsobjekten, die (aus welchen Gründen auch immer) als „problematisch“ eingestuft werden, kann zudem an bestimmte Voraussetzungen gebunden und damit limitiert werden. Anders im Digitalen: Hier gibt es keine Zulassungsbeschränkungen. Vielmehr diffundieren die Materialien, einmal digitalisiert, in immer neue Plattformen, Portale und Applikationen, im besten Fall „begleitet“ durch formale Erschließungsinformationen und ein schmales Set an Sachschlagwörtern. Die Konsequenzen treten besonders eindrücklich bei solchen „problematischen“ Inhalten hervor, die nicht nur die Fachspezialistinnen und -spezialisten interessieren, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit. Auch hier ist das Fotoarchiv Hoffmann exemplarisch und zwar insbesondere für die Aufnahmen, die von Hitler im privaten Rahmen gemacht und seinerzeit explizit nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Unter diesen wiederum zählen sicherlich die Fotografien von Hitler in kurzer Lederhose (siehe Abb. 2, Bildnummer: hoff1819) zu den besonders populären Aufnahmen des Fotoarchivs. Auch hier findet sich wieder eine „neutrale“ Bildbeschreibung, die der entkontextualisierten Darbietung kaum abhelfen kann: „Ganze Figur stehend (im Wald; m. kurzer Lederhose, SA-Hemd, Hakenkreuzarmbinde u. Kniestrümpfen; beide Hände in d. Hosentaschen; Schnee)“. Und ebenso wie im ersten Beispiel würde eine sachgerechte Einordnung des Digitalisats weit über das hinausgehen müssen, was ein wie auch immer elaboriertes Set an Metadaten leisten kann. Wie diese Einordnung auszusehen hätte, zeigt beispielsweise Volker Ullrich in seiner Hitler-Biographie, in der sich auch eine Wiedergabe eines entsprechenden Fotos von Heinrich Hoffmann findet:
4 Ebd., S. 397.
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Abb. 2: Fotoarchiv Hoffmann: Hitler in Lederhose
„[…] Hitlers ausgeprägte Vorliebe für die Lederhose stand in einem merkwürdigen Kontrast zum Führerkult, den seine Jünger seit 1922/23 zu zelebrieren begannen. Heß war denn auch regelrecht erschrocken, Hitler im Juli 1923 auf dem Obersalzberg ‚plötzlich in Krachledernen mit nackten Knien und hemdsärmelig zu sehen.‘ Noch Ende 1926/Anfang 1927 ließ sich Hitler von seinem Leibfotografen Heinrich Hoffmann in einer Serie von Bildern in Lederhose und Braunhemd ablichten. Danach scheint er zunehmend auf das Kleidungsstück verzichtet zu haben, weil es nicht mehr zu seiner Selbststilisierung als der kommende Messias der Deutschen passte.“5
Die Bereitstellung von Bildern des Fotoarchivs Hoffmann in Form reproduktionsfähiger Scans ist gemäß den Nutzungsbedingungen des Bildarchivs der Bayerischen Staatsbibliothek genehmigungs- und in der Regel auch kostenpflichtig. Sie ist beschränkt auf wissenschaftliche oder dokumentarische Zwecke, zudem wird vor jeder Lieferung der Nutzungszweck beim Kunden schriftlich erfragt und kritisch geprüft. Der gesamte digitalisierte Bestand des Fotoarchivs Hoffmann ist im OPAC nachgewiesen und weltweit online frei zugänglich. Neben den Metadaten werden die Bilder selbst jedoch nur mit einer sehr niedrigen 5 Volker Ullrich: Adolf Hitler. Biographie. Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2013, hier S. 433f.
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Auflösung von 150 ppi angezeigt, um Missbrauch zu vermeiden. Eine detaillierte Erfassung des Bildinhalts ist damit definitiv nicht möglich. Die „freie“ und „uneingeschränkte“ Bereitstellung des Contents wird bewusst unterbunden: Der „problematische“ Inhalt wird als digitaler durch technische Vorkehrungen buchstäblich der „Sichtbarkeit“ entzogen, in exakter Entsprechung zur „Zulassungsbeschränkung“ oder gar „Wegsperrung“ vergleichbarer analoger Materialien im bibliothekarischen „Giftschrank“. Der Erfolg derartiger Maßnahmen ist freilich sehr überschaubar, wie eine Google-Bildsuche mit den Stichworten „Hitler“ und „Lederhose“ zeigt (siehe Abb. 3). Hier findet sich eine nicht enden wollende Sequenz einschlägiger Hoffmann-Fotografien unterschiedlichster Provenienz und Qualität, zum Teil abfotografiert aus wissenschaftlichen Publikationen und vielfach in einer urheberrechtlich höchst fragwürdigen Darbietung. Wieder einmal bestätigt sich hier die Erfahrung: Ist der digitale Geist einmal aus der Flasche, bekommt man ihn niemals wieder hinein.
Abb. 3: Screenshot „Google-Bildsuche: Hitler in Lederhose“
Das Beispiel des Fotoarchivs Hoffmann zeigt, dass der Versuch des „angemessenen“ Umgangs mit „problematischen“ Inhalten in digitalisierten Sammlungen der Quadratur des Kreises gleichkommt. Der Wunsch nach einer „offenen“ Bereitstellung kollidiert mit der empfundenen Notwendigkeit einer Beschränkung auf „legitime“ Nutzungszwecke. Technische Vorkehrungen, die als digitales Simulacrum des „Wegsperrens“ daherkommen, sind in ihrer Wirkung begrenzt und erzeugen rechtliche Folgeprobleme, die schon ressourcenseitig allenfalls in eklatanten Fällen angemessen bearbeitet werden können.
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Entkontextualisierung und Rekontextualisierung Einen möglichen Ausweg können semantische Discovery-Systeme weisen, die nicht auf Wörterbüchern, Ontologien oder Thesauri basieren, sondern auf der linguistischen Analyse von Texten mittels neuronaler Netze und Algorithmen des maschinellen Lernens, perspektivisch erweitert durch fortgeschrittene Bilderkennungssoftware. Das derzeit wohl innovativste Tool ist YEWNO, entwickelt von einem Start-up im Umfeld der Stanford University und mit maßgeblicher Unterstützung der Stanford University Libraries.6 Die Bayerische Staatsbibliothek stellt YEWNO seit 2017 als zum OPAC alternative Entdeckungsumgebung zur Verfügung.7 Die von YEWNO aus vielen Millionen digitaler Dokumente extrahierten Begriffe, „Concepts“ genannt, werden nicht hierarchisch dargestellt, sondern netzförmig verknüpft. Dabei wird auch die Stärke der Verknüpfung der Konzepte, dazu zählen unter anderem Personen, Themen, Ereignisse und Orte, ermittelt und visualisiert. Die Verknüpfungen bilden keine logischen Beziehungen (etwa Teil/Ganzes, Wenn/Dann) ab, sondern eher „lose“ Verbindungen im Sinne von „hat etwas zu tun mit“.
Abb. 4: YEWNO: Kontextualisierung im Konzeptraum
YEWNO visualisiert die Konzepte und ihre Relationen in einer sogenannten „concept map“, die exemplarisch in Abbildung 4 dargestellt ist. Der gesuchte Begriff wird als großer Punkt in einem Netz mit den verknüpften Konzepten 6 Vgl. URL: www.yewno.com. 7 Vgl. Berthold Gillitzer: Vom Recherchesystem zum inferentiellen Service – ein Paradigmenwechsel? Yewno, ein semantischer Discovery Service im Pilotversuch an der Bayerischen Staatsbibliothek. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 64 (2017), H. 2, S. 71– 78.
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dargestellt. Von hier aus kann der Konzeptraum durch vielfältige Navigationsmöglichkeiten entweder eingeschränkt oder expandiert werden. So zeigt ein Klick oder Touch auf ein beliebiges Konzept nur dieses und die ihm zugeordneten Konzepte ohne deren Querverbindungen. Umgekehrt lassen sich zusätzlich zum gesuchten Konzept auch weitere Konzepte auswählen. Diese werden dann vergrößert dargestellt, mit ihren verknüpften Konzepten dazwischen. Konzepte, die mit mehreren Suchbegriffen verknüpft sind, werden als orangefarbene Punkte dargestellt, die nur mit einem der Suchbegriffe verbundenen als blaue Punkte. Durch die Auswahl weiterer Konzepte kann der Konzeptraum nahezu beliebig erweitert werden. Im rechten Drittel des Bildschirms können unterhalb einer im Regelfall aus der Wikipedia entnommenen Erklärung des gesuchten Konzepts die zugehörigen Dokumente und Digitalobjekte aufgerufen werden, die die jeweiligen Konzepte zum Inhalt haben. Die Dokumente werden mit einem Textteaser angezeigt und u. a. zu elektronischen Volltexten verlinkt, sofern diese im Open Access verfügbar oder von der jeweiligen Einrichtung lizenziert sind. Deutlich wird, dass auf diese Weise kein digitales Objekt mehr „isoliert“ und unkontextualisiert gegeben ist. Jedes Objekt wird stets als integriert in einen vielfältig vernetzten Konzeptraum abgebildet und so auch wahrgenommen. Der Algorithmus erreicht damit die notwendige Rekontextualisierung jedes einzelnen digitalen Objekts, die durch intellektuelle Erschließung nicht geleistet werden kann. Kein einzelner Inhalt ist mehr einfach „da“, sondern immer schon eingebettet in einen „reichen“ und differenzierten Konzeptraum. Für als „problematisch“ betrachtete Inhalte wie das Fotoarchiv Hoffmann bedeutet dies: Sie werden quasi „umzingelt“ von einem engmaschig geknüpften semantischen Netz, das ihre Erklärung, Einordnung und Relativierung gewährleistet. Indem der problematische Inhalt so stets als ein In-Beziehung-gesetzter Inhalt präsentiert wird, kann er gerade in seiner „Problematik“ angemessen begriffen werden. Die Massendigitalisierung geht, wie dargelegt wurde, nahezu zwangsläufig mit einer Entkontextualisierung der digitalen Objekte einher. Gleichzeitig ist die Massendigitalisierung – paradoxerweise – zwingende Voraussetzung für die Rekontextualisierung dieser Objekte durch ihre Einbindung in semantisch „dichte“ Netze. Je mehr digitale Daten vorliegen, je offener ihre Bereitstellung und Nachnutzung ist, je vielfältiger und diverser diese Daten sind, umso intensiver und vielschichtiger kann sich die Verknüpfung und Vernetzung des je einzelnen Digitalobjekts gestalten. Das Objekt steht dann niemals bezugslos im digitalen Raum, sondern wird durch ein sich permanent weiter entfaltendes Netz zugeordneter Objekte getragen und eingebettet, aber auch relativiert, hinterfragt, differenziert und historisiert – „kontextualisiert“ eben. Auf diese Weise werden
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auch „problematische“ Objekte wie die hier exemplarisch beschriebene Sammlung Hoffmann als problematische sichtbar und begreifbar.
Fazit Susan Sontag hat in ihrem bekannten Essay Regarding the Pain of Others (dt. Das Leiden anderer betrachten) formuliert: „Das Problem besteht nicht darin, daß Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern darin, daß sie sich nur an die Fotos erinnern. […] Erinnern bedeutet immer weniger, sich auf eine Geschichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild aufrufen zu können.“8 Eine Lösung dieser Problematik kann, wie gezeigt wurde, im Digitalen in der Rekontextualisierung des isolierten Bildelementes durch technologiegetriebene Vernetzung liegen. „Erinnern“ bedeutet in digitalen Wissensräumen nämlich nicht, „ein Bild aufrufen zu können“, dass wünschenswerterweise (aber praktisch nicht leistbar) durch eine „tiefe“ oder „reichhaltige“ Objektbeschreibung angemessen erschlossen und damit kontextualisiert ist. Es bedeutet vielmehr die Gegebenheit des jeweils im Fokus der Wahrnehmung stehenden Bildes „in dichter Vernetzung“ mit einer Vielzahl anderer Digitalobjekte (von denen einige wiederum Bilder sind) in einem sich prinzipiell ins Endlose entfaltenden Beziehungsraum.9 Es ist das Privileg und die Pflicht großer Gedächtnisinstitutionen, diesen neuen Wissensraum zu gestalten – inhaltlich (content…) wie technologisch (… in context). Hierin finden Gedächtnisinstitutionen ihr Alleinstellungsmerkmal gerade auch in der digitalen Welt. Sie allein sind von der Gesellschaft bewusst zu dem Zweck installiert worden, Wissen und kulturelles Erbe „auf unbestimmte Zeit“ verfügbar und nutzbar zu erhalten. Der Umgang mit denjenigen Facetten unseres kulturellen Erbes, die als „problematisch“ gelten und die nicht wenige nach wie vor gern eskamotieren möchten, ist sicherlich eine der größten Herausforderungen für Gedächtnisinstitutionen im digitalen Zeitalter.
8 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2017, hier S. 103f. 9 Vgl. Klaus Ceynowa: Der Text ist tot – Es lebe das Wissen! In: Hohe Luft. Philosophie-Zeitschrift. 1 (2014), Nr. 1, S. 52–57.
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Thomas Bürger
NS-Zeitungen in der Deutschen Digitalen Bibliothek? Über Zugänge zu Propagandaquellen und Hindernisse politischer Bildung in Deutschland
Zusammenfassung Mit einem Zeitungsportal wird die Deutsche Digitale Bibliothek ab 2021 den direkten Zugang zu historischen Zeitungen erleichtern. Wichtige Zeitungsdokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus werden aus urheberrechtlichen Gründen jedoch fehlen. Der Beitrag kritisiert, dass die rechtlichen und kulturpolitischen Möglichkeiten zur digitalen Neuveröffentlichung wichtiger Periodika nicht ausgeschöpft werden. Während Hass und Hetze im Internet funktionieren, bleiben die Anstrengungen für Aufklärung und digitale Bildung hinter den Erfordernissen zurück. Der Beitrag plädiert für eine Freischaltung von NS-Zeitungen bei gleichzeitiger angemessener Kontextualisierung. Und er fordert eine breite gesellschaftliche Debatte über neue Wege digitaler Bildung. Schlagwörter NS-Zeitungen, Zeitungsdigitalisierung, Nationalsozialismus, digitale Bildung, Medienkompetenz, digitale Geisteswissenschaften Abstract Nazi Newspapers in the German Digital Library? About Access to Propaganda Sources and Obstacles to Political Education in Germany From 2021, the German Digital Library will facilitate direct access to historical newspapers by launching a newspaper portal. However, important newspaper documents from the National Socialist era will be missing due to copyright restrictions. The article criticises the fact that the legal and cultural-political possibilities for the digital republication of valuable periodicals are not being fully exploited. While hatred and hate speech are effective online, efforts to deliver enlightenment and digital education fall short of what is urgently required. The article pleads for the release of Nazi newspapers that include simultaneous and appropriate contextualisation. Furthermore, it calls for a broad social debate on innovative ways of digital education.
Thomas Bürger, SLUB Dresden (bis 2018), E-Mail: [email protected], ORCID iD: https:// orcid.org/0000-0003-3921-1983
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Thomas Bürger
Keywords Nazi Newspapers, Newspaper Digitization, National Socialism, Digital Education, Media Literacy, Digital Humanities
Deutschland ist Zeitungsland seit mehr als vierhundert Jahren. Aktuelle Zeitungen sind unentbehrlich für die Meinungsbildung, historische Zeitungen wiederum Schlüsseldokumente für die politische und kulturelle Bildung. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der wie viele namhafte Autoren eine Zeit lang auch Redakteur war, empfand das Zeitungslesen als „eine Art von realistischem Morgensegen“ und erläuterte: „Man orienti[e]rt seine Haltung gegen die Welt an Gott oder an dem, was die Welt ist“1. Für den Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) waren Zeitungen „Sekundenzeiger der Geschichte“.2 Tatsächlich sind Nachrichtenblätter erstklassige Quellen öffentlicher Kommunikation. In Demokratien sind sie Zeugnisse der Meinungsvielfalt, in Diktaturen der Propaganda. Sie sind Spiegel der Urteile und Vorurteile, bieten Anschauung für die Unterschiede und Übergänge von Information, Werbung und Propaganda – mit einem Wort: Zeitungen sind Fundgruben vieler Einflüsse, die uns bemerkt oder unbemerkt über lange Zeiträume prägen. In der über 400jährigen deutschen Pressegeschichte waren die Phasen der Pressefreiheit vergleichsweise kurz: nach 1815 und nach 1848, nach 1874 und nach 1919, seit 1945 bzw. seit 1989. Die Blütezeit journalistischer Vielfalt in der Weimarer Republik wurde mit der Gleichschaltung im Nationalsozialismus brutal beendet. Von 1933 bis 1945 beherrschte das Propagandaministerium die Medien, eine freie Presse überlebte nur im Exil. Nach Jahren der Diktatur gelang es mit Hilfe der Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich, die Voraussetzungen für eine freie Presse im Westen Deutschlands neu zu etablieren. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) bekannte sich in ihrer ersten Ausgabe am 1. November 1949 zu diesen journalistischen Zielen: Wahrheit der Tatsachen, strenge Sachlichkeit in der Berichterstattung, Gerechtigkeit gegenüber Andersdenkenden, nicht an der Oberfläche der Dinge stehen bleiben, vielmehr Hintergründe beleuchten. Eine wesentliche
1 „Das Zeitungslesen des Morgens früh ist eine Art von realistischem Morgensegen.“ In: Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Supplement zu Hegel’s Werken. Berlin: Duncker und Humblot 1844, S. 543 (Aphorismen aus der Jenenser Periode). Digitalisat von Google Books, URL: https://books.google.de/books?id=qpAPAAAAQAAJ&printsec=frontco ver&hl=de#v=onepage&q&f=false (abgerufen am 16. 07. 2020). 2 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. 2. Bd. Berlin: Hayn 1851, S. 371. Digitalisat der BSB München, URL: https://reader.digitale-sammlun gen.de/de/fs1/object/display/bsb10932313_00379.html?zoom=0.55 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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Einschränkung machte die FAZ allerdings: „Für die Denkfaulen möchten wir nicht schreiben.“3 Eine unabhängige Presse ist neben der Legislative, der Exekutive und der Judikative das vierte Standbein der Demokratie. Heute sind die freie Berichterstattung und die öffentliche Diskussion in Deutschland weniger durch diktatorische Bestrebungen als durch technisch forcierte und raffinierte Möglichkeiten manipulativer Information und Indoktrination gefährdet. Wer kümmert sich um die „Denkfaulen“, die ihre Ansichten aus Informationsblasen im Internet beziehen und ihre schlichten „Wahrheiten“ lautstark auf die Straße tragen? Diese Frage zu stellen und zu beantworten, ist für eine Demokratie lebenswichtig. Substantielle Beiträge zur Information, Meinungsbildung und zum kultivierten Streit leisten die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten mit ihren Medienarchiven.4 Die Gedächtnisinstitutionen Archiv und Bibliothek haben den Auftrag, die schriftliche und gedruckte Überlieferung, die Erkenntnisse und Irrtümer der Geschichte zu speichern und für die Öffentlichkeit verfügbar zu halten. Seit rund 40 Jahren erschließen Bibliotheken ihre Überlieferung in Datenbanken. Mit der Retrodigitalisierung haben sie seit rund 20 Jahren die Möglichkeit, nun auch die Dokumente selbst digital und damit direkt zugänglich zu machen. Die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB)5 ist seit 2012 frei im Internet verfügbar, wird jedoch erst 2021 ein nationales Zeitungsportal anbieten, wie es in Österreich oder in den Niederlanden schon lange verfügbar ist. Aufgrund der Diktaturerfahrungen ist Deutschland aus guten Gründen politisch und kulturell föderal organisiert; dies erschwert eine nationale Digitalisierungsstrategie, darf aber nicht zu Verzögerungen bei der systematischen Digitalisierung relevanten Kulturguts führen, denn diese hat beunruhigende Folgen: Während das Internet als Forum für Hass, Hetze und Kriminalität offenbar bestens funktioniert, weist es als Plattform für demokratische Information und Kommunikation noch viele Defizite auf. Nun ist ein weiteres Defizit absehbar: Bei der bevorstehenden Freischaltung des deutschen Zeitungsportals wird es den Zeitabschnitt 1933 bis 1945 voraussichtlich nicht geben. Nicht aus berechtigter Sorge vor neonazistischer Propaganda und Volksverhetzung, sondern – kaum zu glauben – aus urheberrechtli3 Aus dem Leitartikel in der ersten Ausgabe der FAZ am 01. 11. 1949, zitiert nach der Jubiläumsbeilage der FAZ vom 02. 11. 2019: 70 Jahre Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland. 4 Vgl. Fokus Medienarchiv II. Reden / Realitäten / Visionen 2010–2019. Eröffnungs- und Schlussreden der vergangenen zehn Frühjahrstagungen. Hg. vom Verein für Medieninformation und Mediendokumentation. Berlin: LIT Verlag 2020 (Beiträge zur Mediendokumentation; 9); darin auch Thomas Bürger: Alles ins Internet?! Die digitale Transformation als Chance zur Erhaltung und Vermittlung medialer Werte (Rede 2011), S. 18–31. 5 Vgl. URL: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/ (abgerufen am 16. 07. 2020).
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chen Gründen. Damit werden 75 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur zeitgemäße digitale Möglichkeiten der Information über die Presse des „tausendjährigen Reichs“ noch immer verhindert, zumindest substantiell beeinträchtigt. Faktisch läuft dies auf einen fortgesetzten Schutz von NS-Autorinnen und -Autoren zu Lasten gemeinnütziger politischer Bildung hinaus, und dies ausgerechnet in Zeiten eines sehr ernst zu nehmenden neuen Rechtsradikalismus, der vor politischen Attentaten und Morden nicht zurückschreckt.6 Unter drei Aspekten plädiere ich deshalb dringlich für eine Freischaltung von NS-Quellen in der Deutschen Digitalen Bibliothek, insbesondere von Zeitungen der NS-Zeit im künftigen deutschen Zeitungsportal: 1. Problematische Quellen in „Giftschränken“ wissenschaftlicher Bibliotheken und Archive zu verschließen, ist angesichts der digitalen Verfügbarkeit verbotener Medien mehr Symbolhandlung als wirksame Lösung. 2. Bibliotheken sind zur Neutralität der Information und zur Vertretung demokratischer Werte verpflichtet. Damit haben sie die besten Voraussetzungen, problematische Quellen in Übereinstimmung mit geltendem Recht und nach ethischen Regeln zugänglich zu machen. 3. Mit einer digitalen Präsentation von NS-Zeitungen im Zeitungsportal der Deutschen Digitalen Bibliothek sollte eine öffentliche Debatte über ethische Fragen des Umgangs mit NS-Propaganda und über neue Methoden digitaler Aufklärung verbunden werden.
1.
Problematische Quellen lassen sich nicht in „Giftschränken“ verschließen
Die National- und Landesbibliotheken sammeln seit Jahrhunderten das gedruckte Schrifttum und trugen über das Instrument der Pflichtablieferung von Verlagswerken auch zur staatlichen Kontrolle aller Veröffentlichungen bei. In demokratischen Gesellschaftsformen ist nicht die Zensur, sondern sind die Dokumentation und der freie Zugang zu Information und Wissen die Aufgabe und das Ziel. Bessere Bildung für alle und die Förderung lebenslangen Lernens ohne Barrieren sind die Leitideen wissenschaftlicher und öffentlicher Bibliotheken. Dabei stellen sich Fragen nach dem Umgang mit menschenverachtenden und jugendgefährdenden Schriften unter den Vorzeichen der Digitalität neu. Heute 6 Vgl. den ausführlichen Bericht „Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2019. Bundesweite Fallzahlen“ des deutschen Bundesministeriums des Innern vom 12. Mai 2020, URL: https:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/pmk-2019.pdf ?__b lob=publicationFile&v=8 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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genügt es nicht mehr, verhetzende oder gewaltverherrlichende Medien in „Giftschränken“ zu sekretieren und nur für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung zu stellen. Inhalte, die Menschenrechte, die Demokratie und den Schutz von Jugendlichen gefährden, kursieren in großer Zahl im Netz und lassen sich nicht, wie physische Medien, verschließen.7 Die Einführung von Filtersoftware für problematische Onlinemedien8 bedarf deshalb, ebenso wie die Retrodigitalisierung und digitale Präsentation von Propagandamedien, dringend einer breiten gesellschaftlichen Debatte mit dem Ziel angemessener ethischer und rechtlicher Regelungen, die den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen im Umgang mit digitalen Medien gerecht werden.9 Historische Zeitungen sind heute im Original fast nur noch über Archive und Bibliotheken zugänglich. Ihre schiere Masse, die oft schlechte Qualität des Papiers und das übergroße Format haben die Sicherung und Verfügbarkeit dieses für eine dauerhafte Bewahrung nicht geschaffene Medium der Moderne in jeder Hinsicht erschwert. Der notorische Platzmangel in Archiven und Bibliotheken kam hinzu, Kriegsverluste und Kriegsschäden, gezielte Aussonderungen und Zerstörungen aus ideologischen Gründen sowie Vernachlässigung haben erhebliche Bestandslücken zur Folge. Zudem sah sich keine öffentliche Einrichtung in der Lage, die in Zeitungen enthaltenen Text- und Bildbeiträge systematisch zu erschließen – ein gravierender Mangel, wenn man bedenkt, wie viele herausragende Persönlichkeiten Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts redigiert oder in ihnen publiziert haben – und weiterhin publizieren.
7 Vgl. Der „Giftschrank“ heute. Vom Umgang mit „problematischen Inhalten“ und der Verantwortung der Bibliotheken. Hg. von Thomas Bürger und Klaus Ceynowa. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 64. Jg. 2017, H. 3–4, S. 113–187, Zugang zu den 9 Beiträgen, URL: https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpvolume_00308703 (abgerufen am 16. 07. 2020). 8 Vgl. Hermann Rösch: Filtersoftware in Bibliotheken. Unzulässige Zensur oder notwendiges Instrument des Jugendschutzes und der Qualitätskontrolle? In: Der „Giftsschrank“ heute, S. 173–180, URL: http://dx.doi.org/10.3196/1864295017643491 (abgerufen am 16. 07. 2020). 9 Vgl. Thomas Bürger: Heilsames Gift? Politische Aufklärung durch digitale Bereitstellung von NS-Zeitungen. In: Der „Giftschrank“ heute, S. 145–157, URL: http://dx.doi.org/10.3196/1864 295017643469 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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Abb. 1: SA-Männer verbrennen am 8. März 1933 unter dem Schutz der Polizei Akten und Bücher aus dem gestürmten Gebäude der Dresdner Volkszeitung10
Mit der Möglichkeit zuerst der Sicherungsverfilmung und seit zwei Jahrzehnten auch der Retrodigitalisierung können historische Zeitungen endlich durch Bibliotheken und Archive so zugänglich gemacht werden, wie dies für die politische und kulturelle Bildung, für Lehre und Forschung wünschenswert ist. Damit stellen sich auch Fragen des Umgangs mit Propagandazeitungen der NS-Zeit neu. Praktikable rechtssichere Lösungen und angemessene Kontextualisierungen sind notwendig. Aufbauend auf den Ergebnissen eines strukturbildenden Pilotprojekts mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)11, auf den umfang-
10 Bildunterschrift: „Säuberung der Dresdner ‚Volkszeitung‘ d. S.A. 1933“. Unbekannter Fotograf, Wettiner Platz Dresden, 8. März 1933. Bildnachweis, URL: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek: df_hauptkatalog_0198769, http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/80642 171. Die sozialdemokratische Volkszeitung wurde am 2. März 1933 verboten, vgl. das Digitalisat der SLUB Dresden, URL: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/138793/ (abgerufen am 16. 07. 2020). 11 Vgl. Thomas Bürger: Zeitungsdigitalisierung als Herausforderung und Chance für Wissenschaft und Kultur. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 63 (2016) H. 3, S. 123–132, URL: http://dx.doi.org/10.3196/186429501663332 (abgerufen am 16. 07. 2020); Reinhard Altenhöner: Auf dem Weg zu einem nationalen Zeitungsportal. In: Kooperative Informationsinfrastrukturen als Chance und Herausforderung. Thomas Bürger zum 65. Geburtstag. Hg. von Achim Bonte und Juliane Rehnolt. Berlin/Boston: de Gruyter 2018, S. 144– 160, URL: http://dx.doi.org/10.1515/9783110587524-019 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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reichen Daten zu Zeitungsbeständen in der Zeitschriftendatenbank12 und auf zahlreichen Einzelprojekten insbesondere von Landes- und Universitätsbibliotheken soll das Zeitungsportal im Rahmen der Deutschen Digitalen Bibliothek bieten, was in Österreich mit AustriaN Newspapers Online (ANNO)13 und in den Niederlanden mit Delpher14 vorbildlich funktioniert. Deutschland mit den 16 für Kultur und Bildung zuständigen Bundesländern und den enorm umfangreichen dezentralen Sammlungen in Institutionen unterschiedlichsten Zuschnitts benötigt für überzeugend abgestimmte digitale Informationsinfrastrukturen leider viel Zeit, zu viel Zeit. Umso mehr kommt es darauf an, dass die jahrelange Arbeit nun auch die erhofften Früchte trägt und das nationale Zeitungsportal ein virtuell vielbesuchter öffentlicher Lesesaal wird, mehr noch: ein Labor der Erinnerungskultur, eine Werkstatt der Digital Humanities, eine historische Informationsquelle ersten Rangs für die Zivilgesellschaft.15 Deshalb sollten sich Archive und Bibliotheken in Deutschland zum Ziel setzen, mit Förderung ihrer Länder und der DFG weitere wichtige historische Zeitungen sowie einen repräsentativen Quer- und Längsschnitt der deutschen Presselandschaft frei zugänglich ins Internet zu stellen. Ein Zeitungsportal eröffnet neue Wege zu längst vergessenen, aber weiterhin relevanten Bild- und Textzeugnissen, ermöglicht eigenständige Recherchen, Zeitreisen zu Kontexten und damit mehr Hintergrundwissen für ein besseres Verstehen gesellschaftlicher Entwicklungen. Zeitungen sind Kompasse der Meinungsbildung, Spiegel der Alltagsgeschichte von Regionen, Konfessionen und Weltanschauungen. Ein Zeitungsportal „für alle“ soll alte Horizonte erschließen und neue eröffnen. Aus der unmittelbaren Anschauung der Medien lässt sich vieles ablesen: Wie verführbar wir durch Medien sind, aber auch, wie mit ihrer Qualität und Vielfalt Voraussetzungen für viele Entwicklungen zum Besseren geschaffen wurden und werden. Die Mediengeschichte zeigt besonders deutlich, wie veränderbar Gegenwart ist – zum Guten wie zum Schlechten. Dank der Retrodigitalisierung können historische Zeitungen endlich so zugänglich sein, wie dies für die Geschichtskenntnis und die Meinungsbildung in der Demokratie erforderlich ist. Für die digitale Präsentation von Zeitungen der NS-Zeit mangelt es jedoch weiterhin an Rechtssicherheit und an kluger Kontextualisierung im Web.
12 Nachweis von Beständen (und ggf. Digitalisaten) zu mehr als 65.000 Zeitungen in deutschen Bibliotheken, davon rd. 20.000 deutsche Zeitungen bis 1945, URL: https://zdb-katalog.de/li st.xhtml?dok=Zeitung (abgerufen am 16. 07. 2020). 13 Vgl. URL: http://anno.onb.ac.at/ (abgerufen am 16. 07. 2020). 14 Vgl. URL: https://www.delpher.nl/nl/kranten/ (abgerufen am 16. 07. 2020). 15 Vgl. Thomas Bürger: Neue Labore der Erinnerungskultur. Zur Zukunft historischer Bibliothekssammlungen. ZfBB 66 (2019), S. 19–26, URL: http://dx.doi.org/10.3196/1864295019661 28 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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Deshalb ist zuspitzend und durchaus selbstkritisch die Frage zu stellen: Machen es sich die Gedächtniseinrichtungen und die historischen Wissenschaften im akademischen Umfeld behaglich und packen sie die offenkundigen Herausforderungen öffentlicher Aufklärung nicht entschlossen genug an? Das deutsche Zeitungsportal darf Zeitungen der NS-Zeit nicht ausklammern, muss jedoch die Präsentation originaler Propagandaquellen mit Analysen und Erkenntnissen der Digital Humanities über Methoden und Funktion von Bildund Textpropaganda verbinden. Es ist eine Frage gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und Medienkompetenz: Deutschland benötigt ein interaktives Labor der Erinnerungskultur im Internet, das diesen Namen verdient, das allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich ist und dessen Wirkung und Nutzen fortlaufend reflektiert wird. Dabei kann das Zeitungsportal eine wichtige Rolle spielen, indem es problematische Quellen kontextualisiert, zum Beispiel die NS-Presse neben die Exil- und die Auslandspresse stellt.
Abb. 2: Werner Höhne: Zeitungskiosk am Pirnaischen Platz in Dresden, 193216
16 Bildnachweis: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek: df_hauptkatalog_0039884, URL: http:// www.deutschefotothek.de/documents/obj/70236121 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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2.
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Problematische Quellen nach ethischen Standards zugänglich machen
NS-Zeitungen können von wissenschaftlichen Bibliotheken digital veröffentlicht werden, wenn sich diese in einem „Vorspruch“ eindeutig von den veröffentlichten Inhalten distanzieren. Damit entfällt die Strafbarkeit wegen des Verbreitens von Propagandamitteln und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, wegen Volksverhetzung, wegen öffentlicher Zugänglichmachung von Gewaltdarstellungen und wegen Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen. Mit einem solchen Vorspruch zur inhaltlichen Distanzierung haben das ANNO-Portal und das DelpherPortal digitalisierte NS-Zeitungen veröffentlicht, die in Österreich seit dem „Anschluss“ im März 1938 und in den Niederlanden seit der deutschen Besetzung 1940 erschienen sind. Allerdings gelten in Deutschland weiterhin urheberrechtliche Bestimmungen, nach denen Beiträge erst 70 Jahre nach dem Tod eines Autors gemeinfrei werden.17 Deshalb durfte die kritische Ausgabe von Hitlers Mein Kampf erst 70 Jahre nach seinem Selbstmord erscheinen.18 Bis 1945 erschienene Zeitungsbeiträge können von Autorinnen und Autoren stammen, die länger gelebt haben und deren Beiträge deshalb derzeit noch nicht gemeinfrei sind. Die im Mai 2019 veröffentlichte europäische Richtlinie über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt gestattet es jedoch den „Einrichtungen des Kulturerbes“, „vergriffene Werke oder sonstige Schutzgegenstände, die sich dauerhaft in ihren Sammlungen befinden, für nicht-kommerzielle Zwecke zugänglich zu machen“.19 Damit werden die bereits bestehenden Ausnahmeregelungen des deutschen Urheberrechts bekräftigt und mit Rücksicht auf den digitalen Medienwandel erweitert. Zeitungen der NS- und Exil-
17 Vgl. Anne Lauber-Rönsberg: Urheberrechtliche Regulierung der Digitalisierung vergriffener Periodika aus den dreißiger Jahren. In: Zeitschrift für geistiges Eigentum (ZGE) 8 (2016), H. 1, S. 48–83, DOI: https://doi.org/10.1628/186723716X14586350989542 (abgerufen am 16. 07. 2020). 18 Vgl. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hrsg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel. 2 Bde. München: Institut für Zeitgeschichte 2015, Vorwort vom 5. Oktober 2015. 4. durchgesehene Aufl. 2016. 19 Amtsblatt der Europäischen Union vom 17. 05. 2019: Richtlinie (EU) 2019/790 des europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt, das Zitat in Titel III, Kap. 1, Art. 8, Abs. 2: Maßnahmen zur Verbesserung der Lizenzierungspraxis und zur Gewährleistung eines breiteren Zugangs zu Inhalten – Vergriffene Werke und sonstige Schutzgegenstände – Nutzung von vergriffenen Werken […] durch Einrichtungen des Kulturerbes, URL: https://eur-lex.eu ropa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32019L0790 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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Zeit fallen gemäß Absatz 5 der EU-Regelung unter die Werke, die „auf den üblichen Vertriebswegen für die Öffentlichkeit nicht erhältlich“ sind.20 Einer rechtssicheren digitalen Neuveröffentlichung durch die zuständigen Staats- und Landesbibliotheken sollte damit eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Die vor Jahren gefundene Lösung für die Digitalisierung vergriffener Werke wird jedoch noch immer nicht für Periodika angewendet. Bei Monografien bis zum Erscheinungsjahr 1965 tragen die berechtigten Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen in öffentlicher Trägerschaft, die ein vergriffenes oder verwaistes Werk aus ihrem Bestand im Web bereitstellen wollen, dieses in das öffentlich zugängliche Register des Deutschen Patent- und Markenamtes (DPMA) ein.21 Das DPMA ist gemäß Urheberrechtswahrnehmungsgesetz §13e mit der Führung des Registers vergriffener Werke beauftragt.22 Seit Jahren stocken jedoch die Gespräche zwischen der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), den Verwertungsgesellschaften (VG) Wort sowie Bild-Kunst und den Zeitungsverlagen, ob und wie diese praktikable Lösung nun auch für Periodika und insbesondere Zeitungen umgesetzt werden kann. Falls diese Gespräche sich weiter hinziehen, sollte wenigstens eine Lösung für den Zeitraum 1933 bis 1945 gefunden werden. Verlagsrechte aus der NS-Zeit sind auf die Länder übergegangen, in denen die regionalen NS-Zeitungen erschienen sind.23 Für den Zeitraum 1933 bis 1945 gibt es faktisch keine geschäftlichen Interessenkonflikte mit bestehenden Verlagen und keine nennenswerten Verwertungsansprüche von Autorinnen und Autoren. Allerdings besteht ein hohes Gemeininteresse am Zugang zu den fragilen und schwer zugänglichen Quellen aus der Zeit der NS-Diktatur. Dies gilt in besonderem Maße für die deutsche Exilpresse, die von der DNB digitalisiert und ins Netz gestellt, dann aber aus Gründen der Rechtsunsicherheit in Urheberrechtsfragen zwischenzeitlich vom Netz genommen wurde. Nach ausführlicher rechtlicher Begutachtung konnten diese Zeitungen – wie nicht anders zu erwarten mit
20 Amtsblatt der EU vom 17. 05. 2019, Titel III, Kap. 1, Art. 8, Abs. 5. 21 Vgl. Reinhard Altenhöner, Katharina Schöneborn: Der Lizenzierungsservice Vergriffene Werke als Beitrag zur Digitalisierung der Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Dialog mit Bibliotheken 2015/2, S. 30–33, URL: https://d-nb.info/1077323433/34 (abgerufen am 16. 07. 2020). 22 Urheberrechtswahrnehmungsgesetz §13e, vgl. URL: https://www.buzer.de/gesetz/3524/a187 145.htm (abgerufen am 16. 07. 2020). 23 Vgl. die Übersicht über die NS-Gaupresse von Aachen bis Wittenberg. In: Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur. Eine Dokumentation und Edition von Gesetzen, Führerbefehlen und sonstigen Anordnungen sowie propagandistischen Bild- und Textüberlieferungen im kommunikationshistorischen Kontext und in der Wahrnehmung des Publikums. 2 Bde. Hg. von Bernd Sösemann. Stuttgart: Franz Steiner 2011 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 25), Bd. 2, S. 1049–1054.
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großem Einvernehmen aller Beteiligten und deren Nachfahren – wieder online freigeschaltet werden.24 Die mit 102.000 Exemplaren am weitesten verbreitete NS-Regionalzeitung war Der Freiheitskampf.25 Die Dresdner Tageszeitung für den Gau Sachsen 1930–1945 ist sogar noch am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation, erschienen.26 Sie wird als wichtige Quelle seit vielen Jahren vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung erschlossen27, ist aber bislang nur an zwei Arbeitsplätzen im Institut und in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)28 digital zugänglich. Während sich auch in Sachsen ein neuer Rechtspopulismus aggressiv ausbreitet,29 bleiben solch anschauliche Quellen über die Propaganda der NS-Zeit als Werkzeuge zur Aufklärung faktisch einem kleinen akademischen Kreis vorbehalten und werden nicht für eine breite Öffentlichkeit wirksam. Diese Situation kann niemanden zufriedenstellen und ist mit der Freiheit der Wissenschaft und der Beachtung urheberrechtlicher Schranken kaum mehr zu rechtfertigen. Das Vermögen des NS-Gauverlags Sachsen ist mit Wirkung vom 8. Mai 1945 „beschlagnahmt und zu Gunsten des Landes Sachsen eingezogen“ worden.30 Mit der Beschlagnahme sind alle Rechte einschließlich Patenten, Lizenzen und literarischem Eigentum auf den Freistaat übergegangen.31 Mit einer Anwendung der Lösung für vergriffene und verwaiste Werke auf Periodika stünden einer Zugänglichmachung dieses Schlüsselblatts der NS-Propaganda zumindest urheberrechtliche Bedenken nicht länger im Wege. Müsste das deutsche Zeitungsportal Quellen der NS-Zeit aus urheberrechtlichen Gründen ausblenden, käme dies einem fortgesetzten Täterschutz gleich und wäre wissenschaftspolitisch ein Skandal. Die fehlende Übertragung der 24 Vgl. Exilpresse digital, URL: https://www.dnb.de/exilpressedigital (abgerufen am 16.07. 2020). 25 Vgl. dazu den Beitrag von Christoph Hanzig, Martin Käseberg, Thomas Lindenberger, Michael Thoß: Tiefenerschließung des „Mustergaus“ Sachsen: Die Datenbank zur Dresdner Tageszeitung Der Freiheitskampf (1930–1945) in diesem Band. 26 Vgl. den online-Ausstellungskatalog: Stunde Null? Dresdner Tageszeitungen über Zusammenbruch und Neuanfang April bis August 1945, S. 15: Abb. der Ausgabe vom 8. Mai mit dem Appell „Der Kampf … geht weiter“, URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-quc osa-164633 (abgerufen am 16. 07. 2020). 27 Vgl. die Einführung in die Nutzung der Datenbank, URL: https://hait.tu-dresden.de/ext/for schung/der-freiheitskampf.asp (abgerufen am 16. 07. 2020). 28 Vgl. Martin Munke, Matti Stöhr, Thomas Widera: „Der Freiheitskampf“. Digitisation and Indexing of a National Socialist Daily. SLUB Dresden 2017, URL: https://nbn-resolving.org /urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2–164012 (abgerufen am 16. 07. 2020). 29 Vgl. die Studie „Rechte Hassgewalt in Sachsen. Entwicklungstrends und Radikalisierung“ vom 26. Februar 2019, URL: https://hait.tu-dresden.de/wm_2019_smgi_hassgewalt_broschue re%201904.pdf (abgerufen am 16. 07. 2020). 30 Sächsisches Staatsarchiv: Bestand 11377 Landesregierung Sachsen, Ministerium des Innern, Nr. 719, Bl. 25. 31 Vgl. Ebd. Bl. 31, 73, 84f.
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Lösung für vergriffene Werke auf Periodika und Zeitungen und die Gründe für die Zeitverzögerung bedürfen einer raschen Klärung.
3.
Plädoyer für eine digitale Veröffentlichung von NS-Zeitungen und für neue Wege digitaler Bildung
Die ausdauernde und nicht zielführende Beschäftigung mit Fragen des Urheberrechts im Falle der NS-Presse lenkt von den eigentlich wichtigen Fragen nach den früheren und heutigen Opfern von NS-Propaganda und nach einem angemessenen ethischen Umgang mit NS-Quellen ab. Mit der Retrodigitalisierung und Zugänglichmachung von Quellen der NSZeit erfolgt zweifelsfrei eine erneute Verbreitung unsäglicher Schriften, abscheulicher Propaganda. Deshalb hat sich der Londoner Literaturwissenschaftler Jeremy Adler, Sohn des im Ghetto Theresienstadt inhaftierten Schriftstellers H. G. Adler (1910–1988), in mehreren Zeitungsartikeln und in seinem Buch über Das absolut Böse vehement gegen die Neuedition von Hitlers Mein Kampf ausgesprochen.32 In seinem Vorwort unterstützt der Historiker Saul Friedländer die Argumente Adlers: Auch er fürchtet das „unstillbare Bedürfnis“ nach NS-Literatur, fürchtet, dass Hitlers Programmschrift „erneut zum Bestseller wird“.33 Adler sieht in der kritischen Edition eine erneute Auratisierung des Werks, das mit seiner völkischen Ideologie vor allem die „Ausrottung der Andersartigen“ vorbereitet hatte. Die Kontextualisierung der Edition sei mangelhaft, viele Quellen zum Verständnis der hebräischen Religion und zum jüdischen Leben würden nicht hinzugezogen und so ungewollt sogar die Vorurteile gegen Juden und Jüdinnen befördert. Adlers Vorwurf wiegt schwer: „Jeglicher Abdruck bedeutet nur eines: Die Infamie zu wiederholen“.34 Er plädiert deshalb für die weitere Tabuisierung, denn die erneute Veröffentlichung würde als „Fundgrube für künftige Eiferer dienen“, die begierig „rassistische Zitate“ verbreiten wollen.35 Jeremy Adler hat jedes moralische Recht, sich gegen eine Neuverbreitung auszusprechen. Allerdings müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der Streit über die kritische Edition von Mein Kampf in 85.000 Exemplaren angesichts der Verbreitung rassistischer und antisemitischer Hetze im Netz eher ein akademisches Problem ist. Die Attentäter von München (2016), Christchurch (2019) oder 32 Vgl. Jeremy Adler: Das absolut Böse. Zur Neuedition von Mein Kampf. Mit einem Geleitwort von Saul Friedländer. Bremen: Donat Verlag 2018, S. 94. Das Buch enthält zwei Vorträge, drei Zeitungsbeiträge, „Antworten an meine Kritiker“ sowie eine Nachbemerkung. 33 Geleitwort von Saul Friedländer. In: Adler: Das absolut Böse, S. 9. 34 Adler: Das absolut Böse (Anm. 32), S. 34. 35 Ebd., S. 39 und 67.
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Halle (2019) haben sich im „dark net“ radikalisiert, das monatlich 15 Millionen Besuche zählt.36 Die Anonymität des neues Mediums führt zur Enthemmung der Kommunikation mit der Folge, dass vor unser aller Augen menschenverachtende Provokationen und rassistisch und antisemitisch motivierte Morde stattfinden. Hass gegen Juden und Jüdinnen sowie Rassismus sind seit zwei Jahrzehnten im Netz präsent – aber erst seit einigen Monaten werden einige dieser kriminellen Internetforen gesperrt. Auf die Reaktionen in Form von Empörungen und Gedenkveranstaltungen reagierte der Autor und Filmemacher Richard C. Schneider am 17. Oktober 2019 mit einem Aufruf in der ZEIT: „Spart euch eure Rituale!“, erspart euch „die lächerlichen Mahnwachen vor Synagogen“.37 Längst kriecht der Antisemitismus in Deutschland und weltweit wieder aus seinen Löchern. Ich verstehe Schneiders und Jeremy Adlers Wut als notwendige Weckrufe an uns alle. Da die Tabuisierung des Bösen offenkundig erfolglos ist, müssen sich die Gedächtniseinrichtungen und die Kulturwissenschaften dem Umgang mit Tabubrüchen in und mit den digitalen Medien neu stellen. Ein Zeitungsportal sollte alle wichtigen historischen Zeitungen, auch die NS-Zeitungen erschließen, damit sich die Öffentlichkeit selbst und ungeschminkt ein Bild machen kann. Es muss, wie die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern Charlotte Knobloch es jüngst einmal formuliert hat, „alles auf den Tisch“.38 Der künftige Umgang mit NS-Zeitungen kann zeigen, ob Deutschland – in der Formulierung des Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschers Samuel Salzborn – an der „Lebenslüge der Bundesrepublik“, dem „Glaube[n] an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit“39 festhält oder aus einer „Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik“40 eine neue kritische Öffentlichkeit wird, die nun auch mit innovativen digitalen Möglichkeiten der „schleichenden Nivellierung der Erinnerung“41 entgegenwirkt.
36 Vgl. Luisa Hommerich, Dennis Schmees: Gefährliche Verlierer. Der Täter von Halle radikalisierte sich in anonymen Internetforen. Hier stehen niedliche Anime-Figuren neben Holocaust-Leugnung. In: Die Zeit, 17. 10. 2019, S. 19. 37 Richard C. Schneider: „Diese lächerlichen Mahnwachen vor Synagogen. Immer dasselbe: Erst werden die Juden attackiert, dann wird getrauert – spart euch eure Rituale!“. In: Die Zeit, 17. 10. 2019, S. 2. 38 Charlotte Knobloch: „Den Hass kann man nie ganz überwinden“. In: Die Zeit, 21. 11. 2019, S. 8. 39 Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Berlin u. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2020, S. 232. 40 Salzborn: Kollektive Unschuld (Anm. 39), S. 14. 41 Vgl. ebd., S. 103–116.
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Thomas Bürger
Abb. 3: Bericht im Freiheitskampf über den Reichsparteitag am 1. September 1933. Die NSPropaganda inszeniert die Verbundenheit von Volk und Führer42
42 Digitalisat der SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / André Rous: df_dat_0013047, URL: http:// www.deutschefotothek.de/documents/obj/90104675 (abgerufen am 16. 07. 2020).
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NS-Zeitungen in der Deutschen Digitalen Bibliothek?
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Das heißt aber auch: Wenn NS-Quellen digital, also mit ganz anderer Reichweite als die gedruckte Edition von Mein Kampf zugänglich gemacht werden, dann muss es auch eine neue Reichweite und Intensität unserer Aufklärungsanstrengungen geben.43 Wissenschaft und Bibliothek sollten, aufbauend auf 70 Jahren Forschungsarbeit, zusammen mit den Digital Natives den „Giftschrank“ der NS-Geschichte zu einer digitalen Werkstatt der Demokratie umbauen. Die Lokal- und Partei-Zeitungen der NS-Zeit sind ein Spiegel der Demontage demokratischer Werte und zivilisierter Sprache. Die Digital Humanities können anhand dieser Quellen mit sprach- und bildkritischen Analysen der Zivilgesellschaft zeigen, wohin Gleichgültigkeit und Wegschauen früher schon einmal geführt haben. In der digitalen Medienwelt sind wir, Bibliothek und Wissenschaft, ganz neu gefordert.
43 Ein Mitmachprojekt ist z. B. der Stolpersteine Guide, der das Wissen der zahlreichen Initiativen in die digitale Medienwelt überführen und die Erinnerungsarbeit an die Digital Natives weiterreichen will, URL: https://stolpersteine-guide.de/ (abgerufen am 16. 07. 2020).
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Hans Petschar / Margot Werner / Christian Recht / Christa Müller
Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit an der Österreichischen Nationalbibliothek
Zusammenfassung Der Beitrag gibt einen Überblick über die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit an der Österreichischen Nationalbibliothek. Neben rechtlichen Fragen wird die Präsentation der Bestände im Digitalen Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek thematisiert. Ebenso behandelt wird die Aufarbeitung der NS-Periode an der Österreichischen Nationalbibliothek durch die Provenienzforschung und die Umsetzung von Empfehlungen zur Kontextualisierung von Beständen, insbesondere die Digitalisierung von Exilzeitungen als Kontrapunkt zur gleichgeschalteten Presse 1938 bis 1945. Schlagwörter Nationalsozialismus, Presse, Fotografie, Digitalisierung, Exilzeitung Abstract The Digitisation of Newspapers and Photographs of the National Socialist Era at the Austrian National Library The article gives an overview of the digitisation of newspapers and photographs of the NS period at the Austrian National Library. Apart from legal issues, the presentation of the holdings in the Digital Newspaper Reading Room of the Austrian National Library is discussed. The processing of the NS period at the Austrian National Library by provenance research and the implementation of recommendations for the contextualisation of holdings, in particular the digitisation of exile newspapers as a counterpoint to the press under national socialist control between 1938 and 1945 is also dealt with. Keywords National Socialism, Press, Photography, Digitisation, Exile, Newspapers
Hans Petschar, Österreichische Nationalbibliothek, E-Mail: [email protected], ORCID iD: https://orcid.org/0000-0001-8767-4662; Margot Werner, Österreichische Nationalbibliothek, EMail: [email protected]; Christian Recht, Österreichische Nationalbibliothek, E-Mail: [email protected]; Christa Müller, Österreichische Nationalbibliothek, E-Mail: christa.mu [email protected]
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1.
Hans Petschar / Margot Werner / Christian Recht / Christa Müller
Einleitung (Hans Petschar)
Die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) verfügt in ihren Sammlungen über einen äußerst umfangreichen Bestand an Quellen aus der NS-Zeit: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, aber auch eine Vielzahl an visuellen Quellen, wie Fotografien, Plakaten und Propagandamaterial der verschiedensten Art. Zum einen ist dies der Tatsache geschuldet, dass die Bibliothek und ihre Bestände in den Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs keine nennenswerten Schäden erlitten, zum anderen dem Umstand, dass die ÖNB von 1945 bis 1948 eine Sammelstelle für NS-Literatur war, die aus den öffentlichen Büchereien ausgesondert und an die ÖNB abgeliefert wurde. Zudem betrieb Paul Heigl (1887–1945), der nationalsozialistische Leiter der Bibliothek von 1938 bis 1945, eine überaus aggressive Erwerbungspolitik und veranlasste, dass die Bibliothek sich schamlos und aktiv an der Plünderung, Beschlagnahmung und am Raub jüdischer Kulturgüter beteiligte. Die Bibliothek 1945 stand daher unter der Leitung des wiedereingesetzten Generaldirektors Josef Bick (1880–1952) vor der Aufgabe, sich eingehend mit dem nationalsozialistischen Erbe zu befassen. Zunächst ging es vor allem darum, die in der Bibliothek vorhandene NS-Literatur zu identifizieren und für die Benützung zu sperren und zugleich waren unrechtmäßig erworbene Bestände zu restituieren. Beide Prozesse wurden nur unvollständig umgesetzt und schleppten sich bis Anfang der 1950er-Jahre, ehe sie eingestellt wurden, trotzdem noch Bestände vermutlich geraubter Herkunft in den Magazinen lagerten. Das erklärte Ziel der Alliierten und des Unterrichtsministeriums war es, öffentliche Bibliotheken, Leihbüchereien und Buchhandlungen von nationalsozialistischen Schriften, sowie vom Schrifttum nationalsozialistischer AutorInnen zu säubern. In einem Bericht des Generaldirektors Bick an das Unterrichtsministerium vom 15. August 1946 schätzte er, dass aus den seit 1920 an die Bibliothek gelangten etwa 400.000 Bänden etwa 15.000 Werke auszusondern und in einem Sperrmagazin unterzubringen wären.1 Bick wurde zudem im Oktober 1947 zum Vorsitzenden einer „Zentralkommission zur Bekämpfung der n.s. Literatur“ ernannt, die ihren Sitz an der Nationalbibliothek hatte und deren Aufgabe es war, das Verbotsgesetz von 1947 und ein in Planung befindliches, jedoch nie realisiertes Literaturbereinigungsgesetz umzusetzen. Den internen Arbeitsberichten der Druckschriftensammlung der Bibliothek zufolge dauerte dieser Prozess bis Ende 1952. 1953 befanden sich
1 Vgl. ÖNB Archiv, Zl. 616/1946, Schreiben von Bick an das BMU, 15. 8. 1946. Zit. n.: Murray G. Hall und Christina Köstner: … Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2006, S. 469.
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17.995 Bände (343,52 Laufmeter) im Sperrmagazin.2 Für die Benützung wurde im Oktober 1947 durch die Generaldirektion folgendes festgelegt: „Alle Werke faschistischen, militaristischen und gegen die Alliierten gerichteten Inhalts – darunter fallen auch sämtliche Zeitungen und Zeitschriften allgemeinen Charakters aus der nationalsozialistischen Ära – sind für die Benützung gesperrt. Diese Literatur kann ausnahmslos nur mit Zustimmung der Alliierten Kontrollkommission eingesehen werden.“3
Diese umfassende und für die LeserInnen der Bibliothek äußerst restriktive Regelung blieb (mit einer leichten Aufweichung im September 1950, die die Entlehnung für amtliche Zwecke erlaubte), bis zum November 1955 bestehen. Erst Mitte November 1955 wurde die Aufhebung der Sperre im Bundeskanzleramt beschlossen, da weder eine gesetzliche Handhabe für die Aufrechterhaltung der Sperre gefunden, noch von einer Verletzung des NS-Gesetztes gesprochen werden könne, wenn die ÖNB ihren BibliotheksbenützerInnen auch Literatur nationalsozialistischen Inhalts zugänglich machen würde.4 Somit wurde sechs Monate nach Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags NS-Literatur generell und ohne Einschränkungen für die Benützung an der ÖNB freigegeben. Von 1945 bis 1948 war die Bibliothek die Sammelstelle für NS-Literatur für Wien und Niederösterreich. Bis März 1947 wurden von verschiedenen Stellen, hauptsächlich von den Büchereien der Stadt Wien über 200.000 Werke NS-Literatur an die ÖNB abgegeben. Der Großteil dieses Bestands wurde auf Weisung des Unterrichtsministeriums vom März 1947 zur Makulierung abgegeben und vernichtet. 1947 wurden 16 Tonnen Bücher und 1948 noch einmal 6 Tonnen Bücher der Papierverwertung übergeben. Nur ein kleiner Bestand wurde in die Bibliothek aufgenommen und katalogisiert. Ein Teil landete als „Altbestand 1946“ (AB 46) im sogenannten „Sarg“, einem separierten Bibliotheksraum, ein Bestand von 52.500 Bänden unterschiedlichster Provenienz, der nicht sofort in der Bibliothek einsigniert und erst in den 1970er-Jahren aufgearbeitet wurde. Unter diesen mit der Provenienzangabe AB 46 versehenen rund 50.000 Büchern befanden sich, wie im Rahmen einer Generalautopsie 2003 festgestellt wurde, etwa 5 % an Dubletten der ehemaligen Hofbibliothek, während der NS-Zeit aussortierte Dubletten geraubter Bibliotheken und etwa 8 % ausgeschiedene NSLiteratur, sowie eine große Anzahl an Judaica und Hebraica. Bei letzteren lag die Annahme, dass sie aus geraubten Bibliotheken stammten, nahe. Daher wurden
2 Vgl. ÖNB Archiv, Benützungsabteilung, „Prot. Schreiben“, 1950–161/58. Schreiben von Bick, 9. 10. 1947. Zit. n.: Hall/Christina Köstner: Allerlei (Anm. 1), S. 470. 3 Ebd. 4 Vgl. Ebd., S. 471.
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diese Büchermangels namentlich bekannter VorbesitzerInnen der Kommission für Provenienzforschung zur Restitution empfohlen.5 Obwohl das Thema Restitution die Tagung Nationalsozialismus digital. Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS-Zeit im Netz nur am Rande berührte, wird im Folgenden ein Überblick über die Aktivitäten der ÖNB zur Bearbeitung dieser Thematik gegeben, da dies für die Kontextualisierung des Umgangs der Bibliothek mit der NS-Zeit und deren Aufarbeitung nach 1945 von entscheidender Bedeutung ist.
2.
Bibliotheksethik, Restitution und NS-Raubgut (Margot Werner)
Gerade ProvenienzforscherInnen sind bei ihren Recherchen auf NS-Quellen angewiesen, seien es personenbezogene Daten und konkrete Auflistungen von geraubten Vermögenswerten aus Archiven oder Auktionskataloge und Werkverzeichnisse aus Bibliotheksbeständen. Abseits der konkreten Ausforschung von Raubgut nehmen zeitgenössische Medien aus der NS-Zeit einen hohen Stellenwert ein, wenn etwa begleitende Forschungen zu AkteurInnen oder der NS-Geschichte einer Institution angestellt werden. Wurden zu Beginn der Provenienzforschung in österreichischen Museen und Bibliotheken in den 1990er Jahren abgetippte Namenslisten und Findbehelfe zu Archivalien noch verstohlen auf CD-ROM unter ForscherInnen weitergerecht, so sind diese Daten heute über mehrere offizielle Plattformen6 in übersichtlichen Datenbanken zusammengefasst; was einerseits die Zeiteffizienz und den Komfort für die ForscherInnen erheblich erhöht, andererseits Strategien zu sensiblem Umgang mit NS-Quellen erfordert. Auch in der ÖNB ist die Provenienzforschung zu NS-Raubgut ein kontinuierliches und in der Linienaufgabe des Hauses verankertes Projekt: Die Restitutionen nach dem im Jahr 2003 vorgelegten Provenienzbericht7 – die unerwartet hohe Zahl von 52.403 Werken musste als bedenkliche Erwerbungen in der NSZeit eingestuft werden – sind bereits zum größten Teil abgeschlossen. Die Österreichische Nationalbibliothek – in der NS-Zeit „Nationalbibliothek“ genannt – kann zweifellos als große Profiteurin von NS-Raubgut bezeichnet 5 Vgl. Ebd., S. 477. 6 Vgl. z. B. das umfassende Projekt „Findbuch“ des Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus, URL: https://www.findbuch.at (abgerufen am 04. 11. 2020). 7 Vgl. Margot Werner: Bericht der Österreichischen Nationalbibliothek an die Kommission für Provenienzforschung, CD-Rom, Wien 2003.
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Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit
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werden. Mit Kriegsbeginn waren die Möglichkeiten des Handels und Tausches mit dem Ausland weitgehend unterbrochen, diese Lücke versuchte der damalige Generaldirektor, Paul Heigl, ein überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde, durch die Aufnahme von beschlagnahmten Werken zu kompensieren. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass von 70.000 in der NS-Zeit für Druckschriften vergebenen Signaturen, über 10.000 mit beschlagnahmten Bänden gefüllt wurden. In diesen Zahlen noch nicht inbegriffen ist die heute nicht mehr schätzbare, jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich höhere Zahl an entzogenen Bänden, für welche die Nationalbibliothek nur Durchgangsstation war: geraubte Bücher wurden auch an deutsche Bibliotheken und neu gegründete nationalsozialistische Institute abgegeben. Wie viele beschlagnahmte Bücher und Sammlungsobjekte in der NS-Zeit insgesamt in die Nationalbibliothek eingebracht wurden, ist heute nicht mehr mit Sicherheit zu beantworten: Allein jene Fälle namentlich bekannter vormaliger EigentümerInnen, zu welchen auch Akten nachweisbar sind, umfassen aber mindestens 150.000 Druckschriften und rund 45.000 Sammlungsobjekte. Rechnet man nun die anonym von der Gestapo angelieferten Objekte hinzu, so erhöht sich diese Zahl mindestens auf das Doppelte. Das heißt also, es ist zwischen 1938 und 1945 von einem Zugang von 400.000 bis 500.000 beschlagnahmten Objekten auszugehen. Die Rückgabe entzogener Bibliotheken nach Kriegsende war auf Grund von Personalmangel und fehlenden Aufzeichnungen mit großen Schwierigkeiten verbunden: vorrangig umfangreiche Bibliotheken bekannter Sammler und Institutionen, die in Folge fehlender personeller Kapazitäten oder ungeklärter Eigentumsverhältnisse keine Aufnahme in die Bestände gefunden hatten, sondern noch als Einheit in den Magazinen deponiert waren, konnten relativ leicht festgestellt und folgend restituiert werden. Problematisch gestaltete sich hingegen die Suche im Fall der aussortierten und zur weiteren Verwertung bestimmten Dubletten sowie hinsichtlich der in die Bestände des Hauses inventarisierten Objekte. Insgesamt restituierte die ÖNB aus den inventarisierten beschlagnahmten Buchbeständen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur etwa ein Drittel; im Fall der Sammlungsobjekte dürfte die Bilanz positiver ausfallen. Zur Erklärung dieses Umstandes ist zu bemerken, dass die Vorbesitzer der oft sehr wertvollen Sammlungen häufig prominent waren und einzigartige Sammlungsobjekte leichter ihren BesitzerInnen zugeordnet werden konnten als die große Masse der meist nicht mit Besitzzeichen versehenen Büchern. Im Jahr 1950 waren die Restitutionen aus der ÖNB eingestellt worden − ungeachtet der Tatsache, dass noch zahlreiche unrechtmäßig erworbene Bücher und auch Sammlungsobjekte in den Magazinen lagerten. Erst mit Erlass des
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Österreichischen Kunstrückgabegesetzes (BGBl. 181/1998)8 wurde das Thema der nicht durchgeführten Restitutionen wieder aufgegriffen und auf Initiative der Generaldirektorin Johanna Rachinger wurde im Jahr 2002 ein Projekt zur Erfassung von NS-Raubgut initiiert. Als Gesamtergebnis der Forschungen in allen Abteilungen des Hauses lag nicht nur eine Liste der eingangs erwähnten 52.403 vermutlich entzogenen Objekte, sondern auch ein Verzeichnis von etwa 450 verschiedenen Eigentumszeichen von Privatpersonen und Institutionen vor. Diese waren die Grundlage für weitere Recherchen. Alle erfassten Namen wurden sowohl in diversen Archivbeständen wie unter anderem im Österreichischen Staatsarchiv, im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und im Archiv des Bundesdenkmalamtes, als auch in der Sekundärliteratur recherchiert. In 72 Fällen gelang es, die Entziehungsgeschichte und die damit verbundenen Schicksale der Verfolgten zu recherchieren sowie Anhaltspunkte zu möglichen ErbInnen zu ermitteln. Jene Eigentumsvermerke, die nicht identifiziert werden konnten, da sie zum Teil nur aus Namensfragmenten bestehen, werden vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Nationalfonds) in einer OnlineKunstdatenbank9 publiziert, um vormaligen EigentümerInnen bzw. deren ErbInnen die Möglichkeit zur Anspruchserhebung zu geben. Bis dato (Stand Mai 2020) wurden genau 49.204 Werke zurückgestellt, davon 8.363 Bücher im Jahr 2010 und 2.255 Bücher im Jahr 2018 mangels Vorbesitzerhinweisen zur Verwertung an den Nationalfonds übergeben. Beide Tranchen an erblosen Werken wurden auf Wunsch des Nationalfonds von der ÖNB zurückgekauft. Aktuell ist eine weitere Übergabe von 374 erblosen Kartenwerken an den Nationalfonds in Vorbereitung. Der verbleibende Rest an noch nicht restituierten Büchern und Sammlungsobjekten wird bis Ende 2020 einer nochmaligen Recherche unterzogen, um zu prüfen, ob mittels neuer, nun vielfach digital vorliegender Quellen für einige der Werke doch noch VorbesitzerInnen ermittelt werden können. Die ÖNB ist damit ihrem Ziel, der vollständigen Rückgabe aller noch im Haus befindlichen geraubten Objekte, bereits sehr nahe. Das Thema Provenienzforschung und Restitution nahm und nimmt auch abseits der konkreten Recherchen zu geraubten Objekten einen hohen Stellenwert in den Agenden der ÖNB ein. Um der interessierten Öffentlichkeit das Schicksal Verfolgter, das sich hinter anonym eingelieferten Büchermassen verbirgt vor Augen zu führen und mit dem Anspruch eines offenen Umgangs mit der 8 Vgl. Bundesgesetz: Rückgabe von Kunstgegenständen aus den Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen, URL: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1998_181_1/199 8_181_1.pdf (abgerufen am 04. 11. 2020). 9 Vgl. Kunstdatenbank, Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, URL: https://www.kunstdatenbank.at/startseite (abgerufen am 04. 11. 2020).
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NS-Vergangenheit des Hauses, präsentierte die ÖNB die Ergebnisse der Provenienzforschung in der bis dahin ersten Ausstellung zum Thema Bücherraub unter dem Titel Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit. 2006 legten Murray G. Hall und Christina Köstner ein durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) und durch die ÖNB gefördertes umfassendes Werk10 über die Geschichte der Nationalbibliothek in der NSZeit mit dem Titel „… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …“. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit vor und beseitigten damit einen bisher blinden Fleck in der Geschichtsschreibung des Hauses. 2008 widmete die ÖNB anlässlich der Restitution einer über 20.000 Fotos umfassenden Sammlung dem Thema NS-Raub erneut eine Ausstellung: Unter dem Titel Zur Erinnerung an schönere Zeiten. Bilder aus der versunkenen Welt des jüdischen Sammlers Raoul Korty wurde an Hand von persönlichen Dokumenten und der großen Fotosammlung dem Schicksal des 1944 in Auschwitz ermordeten Sammlers gedacht.11 Nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass die ÖNB unmittelbar nach Vorlage des Provenienzberichts im Jänner 2004 mit der Aufarbeitung ihres Archivs begann. Alle historischen Akten, insbesondere aber der Aktenbestand zur NS-Zeit, sollten im Sinne der größtmöglichen Transparenz ForscherInnen zugänglich gemacht werden. Das Projekt ist mittlerweile weit fortgeschritten, alle Verwaltungsakten der NS-Zeit, inklusive dem Bestand zu Vermögensentzug und Restitution, stehen detailliert erschlossen über den Online-Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek zur Verfügung. Der transparente Umgang erstreckt sich auch auf die mit den Restitutionen einhergehenden Bestandsveränderungen: Katalogisate von Medien, die in natura zurückgestellt und damit ausgeschieden werden, bleiben im Online-Katalog erhalten und weisen in der Publikumsansicht den Vermerk „Restituiert gemäß BGBl. 181/1998“ auf. Ähnlich wird im Fall des von Empfangsberechtigten der Restitution häufig gewünschten Rückkaufs durch die ÖNB verfahren, hier wird der Notiz „Restituiert gemäß BGBl. 181/1998“ der Zusatz „… und wieder ankauft (Jahr)“ beigestellt.
10 Vgl. Hall/Köstner: Allerlei (Anm. 1). 11 Vgl. Zur Erinnerung an schönere Zeiten. Bilder aus der versunkenen Welt des jüdischen Sammlers Raoul Korty. Hg. von Michaela Pfundner, Margot Werner. Wien: Österr. Nationalbibliothek 2008.
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Digitalisierung von NS-Quellen aus verbotsrechtlicher Sicht (Christian Recht)
Parallel zur Aufarbeitung ihrer Geschichte verfolgt die ÖNB seit Beginn des 21. Jahrhunderts eine gezielte Strategie zur weitgehenden Digitalisierung und Zugänglichmachung ihrer historischen Bestände. Dies beinhaltet so weit als möglich auch Bestände des 20. Jahrhunderts und damit auch Bestände der 1930er und 1940er Jahre mit bedenklichem Inhalt. Für die Digitalisierung und Zurverfügungstellung von historischen Quellen mit explizit nationalsozialistischem Gedankengut oder Symbolen waren für die Bibliothek neben urheberrechtlichen Fragen vor allem auch darüber hinaus gehende rechtliche Fragen zu klären und Entscheidungen zu treffen. Denn bei der Digitalisierung von nationalsozialistischem Propagandamaterial (Pressetexte, Bilder) durch Forschungseinrichtungen und Bibliotheken ist oft unklar, inwieweit Scans zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung oder des Unterrichts gesetzeskonform insbesondere im öffentlichen Internet zugänglich gemacht werden können. Abgesehen von sonstigen in der wissenschaftlichen Praxis relevanten Rechtsfragen12 war zu klären, ob eine solche Zurverfügungstellung durch eine österreichische Institution insbesondere im Sinn des österreichischen Verbotsgesetzes strafrechtlich bedenklich sein kann, und welche Anforderungen sich aus strafrechtlicher Sicht für die wissenschaftliche und bibliothekarische Praxis in Österreich ergeben. Die einschlägigen Tatbestände sind in Österreich die §§ 3d, 3g und 3h des Verbotsgesetzes 1947. Während § 3d jede Form der öffentliche Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinn verbietet, und bestraft, „[w]er öffentlich oder vor mehreren Leuten, in Druckwerken, verbreiteten Schriften oder bildlichen Darstellungen zu einer der nach § 1 oder § 3 verbotenen Handlungen auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht, insbesondere zu diesem Zweck die Ziele der NSDAP, ihre Einrichtungen oder Maßnahmen verherrlicht oder anpreist“13, stellt § 3g einen sogenannten Auffangtatbestand dar, wonach zu bestrafen ist, wer sich „auf andere als die in den §§ 3a bis 3f bezeichnete Weise im nationalsozialistischen Sinn betätigt“14. § 3h schließlich pönalisiert, wer „in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder wer sonst öffentlich auf eine Weise, daß es vielen Menschen zugänglich wird, den nationalso-
12 Vgl. ausführlich: Zeitgeschichtsforschung im Spannungsfeld von Archiv-, Datenschutz- und Urheberrecht. Hg. von Iris Eisenberger, Daniel Ennöckl, Ilse Reiter-Zatloukal. Wien: Verlag Österreich 2018. 13 § 3d Verbotsgesetz 1947. 14 § 3g Verbotsgesetz 1947.
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zialistischen Völkermord oder andere nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost, gutheißt oder zu rechtfertigen sucht.“15
Zur Beurteilung eines Verhaltens als Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinn ist nach der österreichischen Judikatur eine Betrachtung des Gesamtverhaltens maßgeblich, nicht die Qualifizierung isolierter Formulierungen oder Einzelhandlungen. Das Verhalten muss gesamthaft betrachtet eine Propagandawirkung entfalten, da sonst schon der objektive Tatbestand nicht verwirklicht wird, das heißt, das Verhalten nicht „tatbildlich“ ist. Werden bei einer öffentlichen Zurverfügungstellung von nationalsozialistischen Propagandamitteln unmissverständlich die Distanzierung von nationalsozialistischem Gedankengut und die mit der Veröffentlichung verfolgten Absichten der wissenschaftlichen Forschung und der kritischen Auseinandersetzung mit historischem Quellenmaterial klargestellt, ist eine Strafbarkeit nach §§ 3d, 3g und 3h daher schon aufgrund der fehlenden Tatbildlichkeit auszuschließen. Weiters setzen §§ 3d und 3g vorsätzliches Handeln voraus, was bedeutet, der Täter/die Täterin muss es „ernstlich für möglich halten und sich damit abfinden“16, nationalsozialistische Propaganda zu betreiben. § 3h setzt im Unterschied17 zu §§ 3d und 3g zwar keinen auf Betätigung im nationalsozialistischen Sinn gerichteten Vorsatz voraus, verlangt aber einen solchen in Bezug auf das Äußerungsdelikt, also das Leugnen, gröbliche Verharmlosen, Gutheißen oder Rechtfertigen-Suchen des nationalsozialistischen Völkermords oder anderer nationalsozialistischer Verbrechen18 gegen die Menschlichkeit. Auch wenn ein entsprechender Vorsatz nach der Judikatur bei einer bereits durch rechtsextreme Ansichten19 aufgefallenen Person angenommen werden kann, wird man bei Bibliotheken und Forschungseinrichtungen bzw. den für sie handelnden Personen einen solchen Vorsatz in der Regel nicht unterstellen können, sodass sie auch wegen fehlender subjektiver Tatseite gemäß §§ 3d, 3g und 3h nicht strafbar sein werden. Aus ähnlichen Gründen, nämlich wegen der fehlenden Verbreitung in 15 § 3h Verbotsgesetz 1947. 16 § 5 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB). 17 Zum Verhältnis von §§ 3g und 3h Verbotsgesetz 1947 vgl. Farsam Salimi: Zur Reichweite der Strafbarkeit nationalsozialistischer Propaganda. Eine Analyse der §§ 3g und 3h Verbotsgesetz. In: „…um alle nazistische Tätigkeit und Propaganda in Österreich zu verhindern“. NSWiederbetätigung im Spiegel von Verbotsgesetz und Verwaltungsstrafrecht. Hg. von Mathias Lichtenwagner, Ilse Reiter-Zatloukal. CLIO: Graz 2018 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz 6) S. 27–34. 18 Solche Verbrechen müssen nach ständiger Judikatur schlechthin geleugnet etc. werden, das heißt insgesamt und nicht bloß hinsichtlich eines einzelnen Verbrechens (vgl. OGH 14 Os 24796), vgl. etwa die – nicht tatbestandsmäßige – Bezweiflung der Existenz von Gaskammern in Mauthausen durch einen Strafverteidiger. 19 Auf eine bestimmte „Gesinnung“ des Täters/der Täterin kommt es nicht an.
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„gutheißender oder rechtfertigender Weise“, scheitert auch eine Strafbarkeit nach dem seit 2016 erweiterten Tatbestand der Verhetzung.20 Abgesehen von diesen gerichtlich strafbaren Tatbeständen können noch Verwaltungsstrafnormen relevant sein, insbesondere das Abzeichengesetz 196021 und Art. III Abs. 1 Z 4 Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen (EGVG).22 Für die Strafbarkeit nach dem Abzeichengesetz reicht zwar das fahrlässige Zeigen nationalsozialistischer Abzeichen und Symbole im Internet, es ist aber ebenfalls nur strafbar, wenn dadurch das dahinterstehende Gedankengut gutgeheißen oder propagiert wird.23 Soweit Art. III Abs. 1 Z 4 EGVG neben dem Verbotsgesetz ein eigener, auf eine fahrlässige Begehung beschränkter Anwendungsbereich zugestanden wird, sind für diese Verwaltungsübertretung ebenfalls Handlungen erforderlich, die als Propaganda für den Nationalsozialismus (miss)verstanden werden können. Wenn Bibliotheken und Forschungseinrichtungen nationalsozialistisches Quellenmaterial zum didaktischen oder wissenschaftlichen Gebrauch zur Verfügung stellen, liegt diese Wirkung nicht vor.24 Die Schlussfolgerung für die Bibliothek aus der Einschätzung der rechtlichen Voraussetzungen war daher, dass Zeitungen und visuelle Quellen der NS-Zeit zwar digitalisiert und zur Benützung freigegeben werden können, jedoch Vorkehrungen zur Verhinderung eines Missbrauchs zu setzen sind: Um eine strafrechtlich relevante Propagandawirkung auszuschließen, müssen daher die mit der Zurverfügungstellung bedenklichen Quellenmaterials verfolgten Absichten klargestellt und die Distanzierung von nationalsozialistischen, antisemitischen, rassistischen und hetzerischen Ideologien unmissverständlich und glaubhaft sein. Aus dem gleichen Grund ist allerdings auch aus rechtlicher Sicht zu empfehlen, das Material im öffentlichen Internet möglichst im Zusammenhang mit einer fundierten inhaltlichen Auseinandersetzung abrufbar zu halten, wie bei20 § 283. Abs. 4 StGB: „Wer (…) schriftliches Material, Bilder oder andere Darstellungen von Ideen oder Theorien, die Hass oder Gewalt (…) befürworten, fördern oder dazu aufstacheln, in einem Druckwerk, im Rundfunk oder sonst auf eine Weise, wodurch diese einer breiten Öffentlichkeit zugänglich werden, in gutheißender oder rechtfertigender Weise verbreitet oder anderweitig öffentlich verfügbar macht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu bestrafen.“ 21 § 1. Abs. 1 Abzeichengesetz 1960: „Abzeichen, Uniformen oder Uniformteile einer in Österreich verbotenen Organisation dürfen öffentlich weder getragen noch zur Schau gestellt, dargestellt oder verbreitet werden. Als Abzeichen sind auch Embleme, Symbole und Kennzeichen anzusehen.“ 22 EGVG Art. III Abs. 1 Z 4: „Wer […] nationalsozialistisches Gedankengut im Sinne des Verbotsgesetzes […] verbreitet, begeht […] eine Verwaltungsübertretung und ist [..] im Fall der Z 4 mit einer Geldstrafe von bis zu 2 180 Euro zu bestrafen.“ 23 § 2 Abs. 1 Abzeichengesetz 1960. 24 Vgl. Franz Merli: „Unfug“ im Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen. In: Lichtenwagner/Reiter-Zatloukal (Hg.): NS-Wiederbetätigung (Anm. 17), S. 35–45, insb. S. 40f.
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Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit
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spielsweise die Kontextualisierung durch Annotationen, die Einbeziehung von Publikationen der Exilpresse, die Anreicherung mit validierten wissenschaftlichen Ergebnissen und die Verknüpfung mit maßgeblichen Forschungen. Die ExpertInnen der Tagung „NS-Digital“ plädierten ebenfalls für eine weitreichende Kontextualisierung und für eine über die rechtlichen Rahmenbedingungen hinausgehende Diskussion von bibliotheks- und informationsethischen Fragen. Insbesondere für den Zeitungsbestand im Digitalen Lesesaal der ÖNB, AustriaN Newspapers Online (ANNO) wurde eine Reihe von Empfehlungen bereits umgesetzt. Dazu zählen insbesondere die Kontextualisierung der gleichgeschalteten Presse und die Digitalisierung der österreichischen Exilpresse.
4.
Die gleichgeschaltete NS-Presse 1938 bis 1945 und die österreichische Exilpresse 1933 bis 1945 (Hans Petschar)
Unmittelbar mit dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich im März 1938 wurden Presse, Rundfunk und Wochenschauen zu den wichtigsten Propagandainstrumenten zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich.25 Die Zeitungsverlage wurden „arisiert“ und gleichgeschaltet, sämtliche Publikationen der NS-Doktrin unterworfen und durch ein System von schriftlichen Anweisungen kontrolliert und dirigiert. Sofort nach dem erzwungenen Rücktritt des österreichischen Bundeskanzlers übernahmen die Reichspressestelle der NSDAP und die Presseabteilung des Propagandaministeriums das Kommando. Per Auto, Bahn und Flugzeug machten sich reichsdeutsche Journalisten auf den Weg nach Wien. Bereits in der Nacht vom 12. März besetzten illegale Nationalsozialisten, SA- und SS-Männer, die österreichischen Zeitungsredaktionen. Am 13. März wurde Josef Bürckel (1895–1944) von Hitler mit der Vorbereitung der für den 10. April angesetzten Volksabstimmung betraut. Helmut Sündermann (1911–1972) koordinierte als Leiter des „Presseamtes Bürckel“ die Propagandamaschine für die Volksabstimmung.26 Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurden österreichische Journalisten entlassen oder in „Schutzhaft“ genommen. Unter dem ersten Transport von Österreichern ins KZ Dachau am 1. April befanden sich bereits mehrere Journalisten. Jüdische Redakteure verloren ihren Beruf, mussten flüchten oder 25 Zur Propaganda in Fotografie und Wochenschau siehe: Hans Petschar: Anschluss „Ich hole Euch heim“. Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Fotografie und Wochenschau im Dienst der NS-Propaganda. Eine Bildchronologie. Wien: Brandstätter 2008. 26 Zur Machtübernahme und Regie der Propagandakampagne siehe: Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39. 2. Auflage. Wien: Mandelbaum 2008, S. 62 ff, S. 206ff.
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wurden inhaftiert und in Konzentrationslager gesperrt. Auf Weisung Bürckels wurden bis zur Volksabstimmung nur einige wenige Zeitungen, die explizit gegen Hitlerdeutschland agierten, eingestellt: Die Stunde, Der Wiener Tag sowie das Montagsblatt Der Morgen.27 Alle Zeitungen, die über Hitlers Wahltour durch Österreich berichteten, insbesondere auch die Lokalpresse, wurden in die Propagandamaschinerie für die Volksabstimmung eingebunden und spielten neben Wochenschauen und Radio eine entscheidende Rolle für die Verbreitung der Propaganda. Die Reorganisation und vor allem die vollständige Kontrolle über das österreichische Pressewesen wurden erst nach der Volksabstimmung vollzogen. Am 2. Mai gab Reichskommissar Bürckel aufgrund eines Führererlasses die Kompetenzen zur Neuordnung der Presse in der „Ostmark“ an Max Amann (1891– 1957), den Präsidenten der Reichspressekammer, ab. Amann, der bereits am 16. März 1938 die erste „Wiener Ausgabe“ des Völkischen Beobachters28 herausgebracht hatte, veranlasste, dass jede Neugründung oder Veränderung von Presseprodukten bei der Reichspressekammer vorab gemeldet werden musste. Durch die verstärkte Kontrolle über die Eigentumsverhältnisse an den österreichischen Zeitungen, die in den Besitz der NSDAP gebracht werden sollten und vor allem auch durch die Kontrolle über die Papierwirtschaft, wurde die Lenkung und Gleichschaltung der österreichischen Presse sichergestellt. Am 14. Juni 1938 trat das Schriftleitergesetz29 von 1933 per Verordnung in Kraft. Journalisten wurden dadurch in eine „beamtenähnliche Stellung“ versetzt und verpflichteten sich gegenüber dem Staat und damit indirekt auch der NSDAP. „Nicht arische“ JournalistInnen, und damit gemeint waren in erster Linie jüdische JournalistInnen, konnten zwar noch um eine Ausnahme vom „Nachweis der arischen Abstammung“ ansuchen, doch wurde die Gewährung zunehmend restriktiver gehandhabt. Österreichische JournalistInnen mussten bis zum 30. Juni 1938 ihre Aufnahme in den Reichsverband der deutschen Presse beantragen. In einem umfangreichen Fragebogen wurden der berufliche Werdegang, die Mitgliedschaft bei Parteien und Vereinen und vor allem der „Ariernachweis“ nachgefragt. Eine Nichtaufnahme in den Verband kam einem Berufsverbot gleich. 27 Vgl. Fritz Hausjell: Die gleichgeschaltete Presse als nationalsozialistisches Führungsmittel (1938–1945). In: NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Hg. von Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer, Reinhard Sieder. Wien: öbv und hpt 2000, S. 628. 28 Vgl. URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vob&datum=19380316 (abgerufen am 04. 11. 2020). 29 Vgl. Verordnung über die Einführung des Schriftleitergesetzes im Lande Österreich. Vom 14. Juni 1938. In: Deutsches Reichsgesetzblatt Nr. 91 – Tag der Ausgabe 15. Juni 1938, S. 629– 630, URL: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=dra&datum=19380004&seite =00000629 (abgerufen am 04. 11. 2020).
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Die durch die Kontrollmaßnahmen entstandenen Lücken in den Presseredaktionen bewirkten eine gezielte „Nachwuchsförderung“ für nationalsozialistisch geschulte JournalistInnen. Der „2. Reichslehrgang für pressefachliche Fortbildung“ im Juli 1939 wurde ganz bewusst in Wien abgehalten. „Alle 70 Teilnehmer kamen von ‚ostmärkischen‘ Zeitungen und Zeitschriften.“30 Die vollständige Gleichschaltung der Presse in Österreich war damit schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen. Ein Gegengewicht zur NS-Propaganda zwischen 1938 und 1945 schuf einzig die Exilpresse.31 Bereits 1933 mussten österreichische SozialdemokratInnen und KommunistInnen nach dem Verbot der Parteien durch das Dollfuß-Regime aus Österreich fliehen. Die SozialdemokratInnen publizierten ihre Zeitungen und Zeitschriften, allen voran die inzwischen illegale Arbeiterzeitung, in verschiedenen kleinen Druckereien in der Tschechoslowakei, später in Frankreich, London, New York und Lateinamerika. Etwa 450 Zeitschriften sind zwischen 1933 und 1945 von deutschen und österreichischen EmigrantInnen in ihren Zufluchtsländern publiziert worden. Der Anteil der österreichischen Presse ist dabei nicht immer einfach zu identifizieren. Die Digitalisierung und Online-Zurverfügungstellung der österreichischen Exilpresse war eine der wichtigsten Empfehlungen der Tagung „Nationalsozialismus digital“. 30 österreichische Exilzeitungen und Exilzeitschriften hat die ÖNB mittlerweile in ihren Beständen identifiziert, digitalisiert und in das Zeitungsportal ANNO integriert. Diese umfassen mehr als 6.500 Seiten. Aufgrund der schwierigen Bedingungen, unter welchen diese Zeitungen erschienen sind, haben sie oft nur wenige Ausgaben und nur einige hundert Seiten. In ANNO 30 Hausjell: Gleichgeschaltete Presse (Anm. 27), S. 629. 31 Zur österreichischen Exilpresse gibt es eine umfangreiche akademische Literatur. Die Fallstudien zu einzelnen Ländern bzw. zu einzelnen Zeitungen sind großteils Dissertationen und Diplomarbeiten, vgl. dazu: Fritz Hausjell: Österreichischer Journalismus im Exil 1933/34– 1945. Kumulative Habilitationsschrift. Wien, Univ., Habil.-Schr., 2002 (2 Bände); Susanne Held: Österreichischer Journalismus im US-amerikanischen Exil. Exilzeitschriften-Bibliographie, Journalist(inn)en-Biographien sowie Anmerkungen zu den Erfahrungen und Lebensbedingungen österreichischer Exiljournalist(inn)en in den USA (1936 bis 1948). Dipl.Arb., Universität Wien 1991; Benjamin Link: Die österreichische Emigrantenpresse in den Subkulturen von New York City 1942 bis 1948 (Inhalts- und Strukturanalyse der Anpassungsleistung und des politischen Inhalts). Diss., Universität Salzburg 1972; Johann Georg Lughofer: Austria Libre. Die Exilzeitschrift der Antifaschistischen Österreicher in Mexiko. Dipl.-Arb., Universität Wien 2000; Martin Putschögl: Gegen Hitler und Habsburg. Die in New York erschienene österreichische Exilzeitschrift „Austrian Labor Information“ 1942–1945; Eine Monographie. Dipl.-Arb. Universität Wien 2005; Dietmar Türk: Österreichische Exilpublizistik in Großbritannien 1939 bis 1946. Der „Zeitspiegel“. Möglichkeiten und Grenzen rezipientenorientierter Ansätze in der Exilforschung. Diss., Universität Wien 1993; Jana Waldhör: Zeitspiegel. Eine Stimme des österreichischen Exils in Großbritannien 1939–1946. Wien, Hamburg: New Academic Press 2019.
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findet man sie sowohl über den Erscheinungstag, als auch über den Thematischen Einstieg32 unter dem Begriff „Exilpresse“. In Paris erschienen für eine kurze Zeit die Nouvelles d’Autriche. Die Ausgabe vom Juni 1939 bringt einen Nachruf zum Tod von Joseph Roth (1894–1939), der im Mai 1939 verstarb.33 In London gab eine Gruppe von nach Großbritannien emigrierten sozialdemokratischen EmigrantInnen seit 1940 die London Information of Austrian Socialists in Great Britain34 heraus und wunderte sich über die politische Inaktivität der GenossInnen in den USA. In New York gründete Anfang 1939 der Soziologe Ernst Karl Winter (1895–1959) das Austrian American Center als erste österreichische Exilorganisation in den USA. Winter war sofort nach dem Anschluss 1938 auf Anraten Hans Kelsens (1881–1973) in die Schweiz geflüchtet. Seine Familie folgte wenige Tage später. Über die Schweiz, Frankreich und Großbritannien erreichte die Familie im Oktober 1938 die USA. Das Austrian American Center war im Jänner 1939 als überparteiliche Plattform gegründet worden. Da der Gründer Ernst Karl Winter sich ausdrücklich weigerte, Kommunisten auszuschließen, traten nach kurzer Zeit die Legitimisten aus und gründeten die Austrian-American League, die von Februar 1940 bis Anfang 1941 die Mitteilungen der Austrian-American League und von April bis Dezember 1941 die Zeitung Austria35 herausgab. Im Dezember 1940 wurde mit der Unterstützung Otto Habsburgs (1912–2011) von Hans Rott (1886–1962) das Free Austrian Movement in Toronto gegründet, das 1941 nach Chicago und Anfang 1942 nach New York übersiedelte und die Austrian Democratic Review/Österreichische Rundschau36 herausgab. In offiziellen Aufrufen trat das Free Austrian Movement für die Befreiung und Wiederherstellung Österreichs ein. Der politisch gut vernetzte Otto Habsburg trat für die 32 Liste der Exilzeitungen und Zeitschriften in ANNO (gleiche Titel mit geändertem Erscheinungsort zusammengefasst): Arbeiter Zeitung (Wien, Paris, Brünn), Austria, Austria Libre (Montevideo), Austria. A paper of conservative-democratic opinion, Austrian Democratic Review / Österreichische Rundschau, Austrian Labor Information, Der Sozialist. Mitteilungsblatt der Landsmannschaft Österreichischer Sozialisten in der Schweiz, Die Nation, Die Österreichische Post = Courrier Autrichien, Donau-Echo (Toronto), Donau-Echo = Echo du Danube = Danubian-Echo, Frei Österreich, Freies Österreich, Freiheit für Österreich, Jugend im Kampf / The Young Austro American, London Information of the Austrian Socialists in Great Britain, News of Austria, Nouvelles d’Autriche, Österreichische Nachrichten, Österreichische Nachrichten. Organ der Frei-österreichischen Bewegung in der Schweiz, Österreichische Zeitung: ÖZ, Österrikiska Informationer / Österreichische Information, Revue de la presse internationale, The Austrian Republic, Young Austria. URL: http://anno.onb.ac.at/them_ein stieg.htm (abgerufen am 04. 11. 2020). 33 Stefan Fingal: Joseph Roth gestorben. In: Nouvelles d’Autriche, 1939, Heft 5, S. 171–172, URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=nda&datum=1939&page=189 und folgende Seite (abgerufen am 04. 11. 2020). 34 Vgl. URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=lon (abgerufen am 04. 11. 2020). 35 Vgl. URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=aus (abgerufen am 04. 11. 2020). 36 Vgl. URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=aur (abgerufen am 04. 11. 2020).
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Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit
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Errichtung eines „Austrian Battalion“ in der U.S. Army ein, ein Unterfangen, das von den nach New York emigrierten Sozialdemokraten, die sich im Austrian Labor Committee organisierten, vehement bekämpft wurde. Das Austrian Labor Committee wandte sich entschieden gegen eine österreichische Exilregierung und führte Kampagnen gegen die Legitimisten um Otto Habsburg, agitierte aber auch gegen andere sozialistische Exilgruppen wie die Assembly for a Democratic Austrian Republic, die für eine Zusammenarbeit mit anderen Exilgruppen eintraten. Diese Gruppe gab ihre eigene Zeitschrift heraus, die Freiheit für Österreich, die 1943 zur Austro American Tribune37 wurde. Die Sozialdemokraten des Austrian Labor Committees publizierten für ihre eigenen Leute die Austrian Labor Information auf Deutsch und für die amerikanische Öffentlichkeit die Austrian Labor News auf Englisch. „Anti Hitler Magazine“ steht auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe, die am 20. April 1942, Hitlers 53. Geburtstag, erschien.38 Friedrich Adler (1879–1960), der Ende Oktober 1940 mit seiner Frau Kathia (1879–1969) in New York angekommen war, bestimmte wesentlich die Blattlinie der vom Austrian Labor Committee herausgegebenen Monatsschrift von 1942 an bis zur Erklärung der Moskauer Deklaration durch die Alliierten am 30. Oktober 1943. Adler lehnte im Unterschied zu den meisten Emigranten eine vorbehaltlose Unterstützung der Moskauer Deklaration vehement ab. In der Novemberausgabe von 1943 begrüßte das Austrian Labor Committee in einer Erklärung die Beschlüsse der Moskauer Konferenz als „einen wichtigen Schritt zur Befreiung Österreichs von der Nazi-Herrschaft“.39 In derselben Nummer formulierte Friedrich Adler noch einmal in einem Essay mit dem Titel Die Legende vom glücklichen Österreich40 seine Sicht der Dinge unter Rückbezug auf den Vertrag von St. Germain, der Österreich in die Isolation geführt und das Selbstbestimmungsrecht der Völker und damit einen friedlichen Anschluss an Deutschland verwehrt hätte: „Auch diese Kompromittierung des Anschlusses an Deutschland gehört zu Hitlers Verbrechen.“41 Für den überzeugten Internationalisten Friedrich Adler, der sich vorbehaltlos zur „deutschen Kulturgemeinschaft“42 bekannte und für den im November 1943 37 Vgl. URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=ffo (abgerufen am 04. 11. 2020). 38 Austrian Labor Information. Edition in German Language. No. 1, 20. 04. 1942, URL http://an no.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=ali&datum=1942&page=5&size=45 (abgerufen am 04. 11. 2020). 39 Erklärung des Austrian Labor Committee. In: Austrian Labor Information. 1943, Heft 20, S. 4, URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=ali&datum=1943&page=166&size=45 (abgerufen am 04. 11. 2020). 40 Friedrich Adler: Die Legende vom gluecklichen Oesterreich. In: Austrian Labor Information. 1943, Heft 20, S. 12–15. URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=ali&datum =1943&page=174&size=45 und folgende Seiten (abgerufen am 04. 11. 2020). 41 Ebd., S. 14. 42 Ebd., S. 13.
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„zu den Legenden, die um Österreich gesponnen werden, auch die kindische Farce von der ‚österreichischen Nation‘ gehört“43, war die Zustimmung der Austrian Labor Mitglieder zur Moskauer Deklaration und den damit verbundenen Konsequenzen zur Errichtung eines selbstständigen Österreich und zu einer Trennung von Deutschland ein schwerer Schlag, der letztlich zu seinem Rückzug aus dem Austrian Labor Committee führte. Insgesamt wurden etwa 200.000 Österreicherinnen und Österreicher zwischen 1934 und 1945 aus Österreich vertrieben, allein zwischen 1938 und 1941 130.000 bis 150.000, ein Großteil davon war jüdischer Herkunft. Ihre Veröffentlichungen sind lebendige Zeugnisse der österreichischen Zeitgeschichte und Zeugnisse des Ringens um ein individuelles, politisches und historisches Selbstverständnis der österreichischen Emigrantinnen und Emigranten.
5.
Die NS-Periode im Digitalen Zeitungslesesaal der ÖNB (Christa Müller)
In „ANNO – Austrian Newspapers Online“44, dem digitalen Zeitungslesesaal der ÖNB, finden LeserInnen seit 2003 kostenfrei und weltweit zugänglich historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften in denen geblättert, gelesen und gesucht werden kann. Mit Oktober 2020 sind 23 Millionen Seiten online, diese decken die Periode von 1568 bis 1949 ab. Beim Start der Digitalisierungsinitiative ANNO war das aktuellste Jahr 1932, entsprechend der Moving Wall von 70 Jahren sind in den letzten 17 Jahren sukzessive die Zwischenkriegsjahre, die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die ersten Nachkriegsjahre online verfügbar gemacht worden. Dieses sehr erfolgreiche Digitalisierungsprojekt der ÖNB wird mittlerweile täglich von 4.000 LeserInnen genutzt. Die Entscheidung, welche Titel gescannt werden, wird anhand einer Prioritätenliste und strategischen Entscheidungen getroffen. Diese Kriterien sind: – Es handelt sich um ein weit verbreitetes Leitmedium. – Zeitungstitel, die auf fragilem Papier gedruckt wurden oder viel nachgefragt sind. – Unikale Bestände und Periodika, die nur in wenigen Bibliotheken nachgewiesen sind. – Um eine kritische Masse zu wichtigen Themenbereichen bieten zu können, werden beim Scannen von Zeitschriften inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, so z. B. Technik, Architektur, Verkehr, Medizin und Sport. 43 Ebd. 44 Vgl. URL: http://anno.onb.ac.at/.
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Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit
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– Im Rahmen von EU-Projekten wurden Titel aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und zum Thema Reisen gescannt. – In der Public Private Partnership mit Google werden Bestände von 1500 bis in die 1880er Jahre gescannt, darunter befinden sich auch viele Periodika, welche in die Tagesstruktur gebracht und in ANNO integriert werden. – LeserInnen und ForscherInnen äußern Wünsche und teilen der Bibliothek mit, welche Titel für ihre wissenschaftliche Arbeit wichtig sind. Bei der Analyse der Nutzung von ANNO zeigte sich von Beginn an, dass besonders die Jahrgänge der 1920er und 1930er Jahre intensiv genutzt werden. Der Umgang mit dem Material aus den Jahren 1938 bis 1945 wurde durch eine bibliotheksinterne Steuerungsgruppe thematisiert. Nach ausführlichen Diskussionen und Prüfung der Rechtsgrundlage wurde entschieden, Titel aus diesen Jahren in ANNO uneingeschränkt zugänglich zu machen, jedoch vorbereitende Rahmenbedingungen zu schaffen; so wurden technische Vorkehrungen getroffen, um einen Massendownload von Beständen zu verhindern und die Benützungsordnung wurde um einen Hinweis zur Distanzierung der ÖNB von bedenklichen Inhalten erweitert: „Als Gedächtnisinstitution und Archivbibliothek trägt die Österreichische Nationalbibliothek die Verantwortung, Publikationen unterschiedlichster Inhalte, Quellen und (zeit)geschichtlicher Hintergründe zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Bestände werden keiner Bewertung durch die Bibliothek unterzogen und dienen vor allem der wissenschaftlichen Recherche. Die Österreichische Nationalbibliothek distanziert sich ausdrücklich von allen diskriminierenden, gewaltverherrlichenden und nationalsozialistischen Inhalten.“45
Das Zeitungsportal ANNO zitiert diesen Disclaimer und verlinkt auf den §11 der Benützungsordnung der ÖNB. Bei den durch LeserInnen besonders häufig nachgefragten Titeln wurde immer wieder der Völkische Beobachter genannt. Die ÖNB entschied sich, die Wiener Ausgabe zu scannen, online zugänglich zu machen und mit einem Disclaimer und mit Zusatzinformationen zu versehen.46 Eine weitere Kontextualisierung zur gleichgeschalteten Presse 1938 bis 1945 und zur Exilpresse erfolgt mit Erscheinen dieser Publikation.47 45 §11 der Benützungsordnung der Österreichischen Nationalbibliothek, URL: https://www. onb.ac.at/fileadmin/user_upload/PDF_Download/1_MOD_Benuetzungsordnung_allgemei n.pdf (abgerufen am 04. 11. 2020). 46 URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vob (abgerufen am 12. 4. 2021). Siehe dazu auch das Vorwort von GD Johanna Rachinger in diesem Band. 47 Mit der weiteren Kontextualisierung durch Informationstexte zur gleichgeschalteten Presse 1938 bis 1945 und zur Exilpresse wird auch der in diesem Band von Walter Rösch geäußerten Kritik entsprochen.
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Hans Petschar / Margot Werner / Christian Recht / Christa Müller
Für die Jahre 1938 bis 1945 sind derzeit 170 Titel mit circa einer halben Million Seiten und 50.000 Ausgaben/Heften online. Nur im Jahr 1945 gibt es an fünf Tagen nicht eine einzige Ausgabe, in den Jahren 1938 bis 1944 ist täglich mindestens eine online verfügbar. Durchschnittlich sind für jeden Tag dieser Periode 190 Seiten in ANNO abrufbar. Als Gegengewicht zur gleichgeschalteten Presse der NS-Zeit der Jahre 1938 bis 1945 hat die Österreichische Nationalbibliothek mittlerweile 30 österreichische Exilzeitungen und Exilzeitschriften in ihren Beständen identifiziert, digitalisiert und im Zeitungsportal ANNO integriert. Diese umfassen mehr als 6500 Seiten. Aufgrund der schwierigen Bedingungen, unter welchen diese Zeitungen erschienen sind, haben sie oft nur wenige Ausgaben und nur einige hundert Seiten. In ANNO findet man sie sowohl über den Tag, an dem sie erschienen sind, als auch über den Thematischen Einstieg unter dem Begriff „Exilpresse“. Neben HistorikerInnen, MusikwissenschaftlerInnen, KunsthistorikerInnen, JournalistInnen, BiografInnen und StudentInnen nutzen auch LehrerInnen und SchülerInnen das Portal. Gerade im Schulunterricht haben sich historische Tageszeitungen als gut geeignete Quelle erwiesen. Der Inhalt historischer Zeitungen mag den SchülerInnen noch fremd sein, das Medium ist es ihnen aber nicht; Aufbau, Struktur und Art des Inhalts von Tageszeitungen sind ihnen vertraut. Anders als in Archivalien wurde in Zeitungen zumeist leicht verständliche Hochsprache verwendet. Zeitungen sind gedruckt, was die Lesbarkeit für SchülerInnen wesentlich vereinfacht. Historische Zeitungstexte ermöglichen es, Quellenkritik zu lernen; das fängt bei der Frage nach der Blattlinie, dem historischen Kontext und dem LeserInnenkreis an, bezieht den/die AutorIn und seine/ihre Intention ein und fragt nach den Adressaten und der Wirkung des Artikels auf diese. Und gerade die Vorkriegs- und Kriegsjahre sind dafür eine gut geeignete Periode. Ein Beispiel für Stundenbilder für LehrerInnen vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung: „Recherchiere auf ANNO, wie sich die Inhalte unterschiedlicher Zeitungen ab dem 11. März 1938 innerhalb kürzester Zeit veränderten! Website ANNO – Austrian Newspapers Online. Link (http://an no.onb.ac.at)“48 Auch die Bildungsdirektion Tirol bietet Informationsmaterial an: „ANNO: März 1938 – Der Anschluss Österreichs in Zeitungsquellen Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich jährt sich mittlerweile zum 80. Mal. Nur wenige Ereignisse lassen die Dramatik der Geschichte eines Landes so anschaulich 48 In Linz begann’s. Der Anschluss 1938 in Oberösterreich. Medienbegleitheft zur DVD 14363 und zum USB-Stick 14364. Hg. vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wien: 2019, S. 16, URL: https://www.bmbwf.gv.at/dam/jcr:863d6b8e-e727-4cef -93f6-1eae2e9b4937/14363_14346.pdf (abgerufen am 04. 11. 2020).
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Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit
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nacherleben, wie die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich im Spiegel der österreichischen Tageszeitungen im März 1938. […] Anhand von österreichischen Tageszeitungen aus dem Archiv von ANNO – Austrian Newspapers Online lassen sich die letzten Tage bis zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich hautnah miterleben.“49
Diese Beispiele zeigen ganz deutlich die Sinnhaftigkeit und auch die Notwendigkeit der Digitalisierung und Zugänglichmachung gerade auch der gleichgeschalteten Presse. Eine weitere begleitende Kontextualisierung der Inhalte und der einzelnen Zeitungen ist eine wichtige Aufgabe für die Zukunft.
6.
Fotografie und visuelle Quellen (Hans Petschar)
Neben der Presse waren die Bildmedien, Plakate, Fotografie, Film und Wochenschau die wichtigsten Propagandainstrumente des Nationalsozialismus. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick zu diesen Beständen und deren Digitalisierung an der ÖNB gegeben. Schon seit 1933 war in Deutschland die Fotografie ein wichtiger Teil der nationalsozialistischen Propaganda. Das „Schriftleitergesetz“ vom 4. Oktober 1933 schuf die rechtliche Gleichstellung von Wort- und Bildreportern, die nicht mehr dem Fotografenhandwerk zugeordnet wurden, sondern in einem eigenen „Reichsausschuss der Bildberichterstatter“ als einer Unterorganisation des Reichsverbands der Deutschen Presse organisatorisch zusammengefasst wurden. Seit März 1933 kontrollierte eine Zensurstelle des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda die Bildpresse. Das „Bildpresse-Referat“ erstellte Richtlinien für Aufnahmen, Verbote, die Bildauswahl, die Anzahl der Bilder, die Abbildungsgröße und die Betextung, die in den Redaktionen besprochen wurden. Ein ähnliches Überwachungssystem wurde nach dem „Anschluss“ in Österreich eingeführt, auch wenn die chaotischen Umstände in den ersten Tagen des „Anschlusses“ noch für eine relativ ungeregelte und wilde Bilderflut sorgten.50 Die Gründung einer Ostmarkredaktion des „Reichsverbandes der Deutschen Presse“ erfolgte Anfang Juni 1938. Für die einzelnen Fachgebiete wurden Vertrauensmänner ernannt, für die Bildberichterstatter war dies der bekannte Sportfotograf Lothar Rübelt (1901–1990). Jüdischen FotografInnen wurde die Ausübung ihres Berufes verboten und die Gewerbeberechtigung gelöscht. Etwa 10 % der Betriebe waren davon betroffen. 49 Webseite des Tiroler Bildungsservice – Bildungsdirektion Tirol, URL: https://lesen.tibs.at/con tent/artikel/anno-m%C3%A4rz-1938-%E2%80%93-der-anschluss-%C3%B6sterreichs-zeitu ngsquellen (abgerufen am 04. 11. 2020). 50 Vgl. Petschar: Anschluss, (Anm. 25), S. 50–89.
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Eines der ersten Opfer war der Presse- und Sportfotograf Leo Ernst (1904–1966), der gemeinsam mit Albert Hilscher (1892–1964) eine sehr gute gehende Fotoagentur führte, die seit den 1930er Jahren die wichtigsten politischen und sportlichen Ereignisse in Österreich festhielten. Hilscher führte nach der Verhaftung Leo Ernsts die Firma weiter und dokumentierte die ersten Tage des „Anschlusses“ und in der Folge die Propagandaschlacht um die Volksabstimmung, unter anderem den „Bayerischen Hilfszug in Wien“.51 Der Hilfszug wurde über Radio, Wochenschau und Fotografie in den Massenmedien ausgeschlachtet und ist als eines der erfolgreichsten Propagandathemen wohl hauptverantwortlich für die Verbreitung des Mythos der Volksernährung durch die Nationalsozialisten, der noch bis weit in die Nachkriegszeit seine Wirkung in der Erinnerungskultur nicht verfehlte. Ebenso wie Hilscher führten eine Reihe von Fotografen ihre Arbeiten während der NS-Zeit weiter, unter ihnen Stefan Kruckenhauser (1904–1988), Walter Henisch (1913–1975), Harald Lechenperg (1904–1994) und viele andere mehr. Wehrmachtssoldaten, die als Pressekompagnie Fotografen arbeiteten, fotografierten nicht selten auch privat und arbeiteten ihre persönlichen Archive nach dem Zweiten Weltkrieg auf, wie Joe Heydecker (1916–1997), der im Warschauer Ghetto und in Frankreich fotografierte. Wirtschaftlich war die Privatfotografie und die „Massenknipserei“ an der Heimatfront ein nicht zu unterschätzender Faktor.52 Sowohl die Fachfotografie als auch die Heimatfotografie wurde während der NS-Zeit umfangreich praktiziert und führte zu einer Vielzahl von Publikationen und zum Anlegen privater Archive, die jedoch, wenn überhaupt, erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrt in öffentliche Sammlungen gelangten. Wohl auch aus diesem Grund spielten die Fotografie und Bildmedien, die nicht publiziert wurden, daher als Druckwerke zu klassifizieren waren, in der Diskussion um das NS-Erbe nach 1945 zunächst kaum eine Rolle. Mit der Aufarbeitung der NS-Zeit durch die zeitgeschichtliche Forschung und vor allem mit Publikationen, die im Zuge der Erinnerungsjahre 1938 und 1988 entstanden53, änderte sich dies grundlegend. Zum Teil sichteten Fotografen wie Albert Hilscher, Lothar Rübelt oder Joe Heydecker ihre Sammlungen neu und boten sie Archiven und Forschungsstätten an, zum anderen bemühten sich Historiker wie
51 Vgl. Ebd., S. 92–93. 52 Vgl. Ulrike Matzer: Zwischen Heimatfotografie und Medienkunst. Fotografie in Österreich 1939 bis 1970. In: Fotogeschichte 117 (Jg 30) 2010. 53 Vgl. dazu: Ina Markova: Die NS-Zeit im Bildgedächtnis der Zweiten Republik.– Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2018 (= Der Nationalsozialismus und seine Folgen 6).
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Die Digitalisierung von Zeitungen und Fotografien der NS-Zeit
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Gerhard Jagschitz (1940–2018)54 und der Journalist Hugo Portisch in Zusammenarbeit mit den Fotografen und durch umfangreiche Recherchen in nationalen und internationalen Archiven um den Aufbau großangelegter Sammlungen zur visuellen Geschichte Österreichs. Das Bildarchiv der ÖNB konnte beginnend mit den späten 1990er Jahren bis zur Gegenwart einen Großteil dieser Archive erwerben bzw. als Dauerleihgabe erhalten, darunter vor allem den fotografischen Nachlass von Lothar Rübelt als Leihgabe, sowie als Erwerbungen die Nachlässe von Joe Heydecker und Otto Croy (1902–1977) und die historischen Bildarchive des Österreichischen Rundfunks und des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, u. a. mit dem Fotobestand von Albert Hilscher. Ergänzt wurde dieser Bestand durch private Sammlungen, sodass die Bibliothek heute über einen äußerst umfangreichen Bestand an visuellen Quellen zur NS-Periode in Österreich verfügt. Die Bibliothek hat einen Großteil dieser Bilder digitalisiert und in ihr digitales Bildarchiv integriert. Zu wichtigen Themen wie dem „Anschluss“ und zum Schicksalsjahr 1945 wurden Ausstellungen und Publikationen erarbeitet und dadurch Beiträge zur Kontextualisierung geliefert.55 Die Kontextualisierungsarbeit an diesen Beständen in Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungsinstitutionen ist sicherlich eine wichtige Zukunftsaufgabe.
7.
Resümee
Die ÖNB verfolgt seit dem Jahr 2000 und nahezu gleichzeitig und parallel zur Provenienzforschung und der daraus folgenden transparenten Darstellung ihrer Sammlungsgeschichte das ambitionierte Ziel des Aufbaus einer umfangreichen digitalen Bibliothek. Bislang wurden mehr als 600.000 urheberrechtsfreie historische Bücher, über 600.000 visuelle Quellen sowie 23 Millionen historische Zeitungsseiten digitalisiert und online gestellt. Bücher aus den Jahren 1938 bis 1945 sind in der digitalen Bibliothek der ÖNB schon alleine aus urheberrechtlichen Gründen nicht enthalten. Anders verhält es sich bei Zeitungen und visuellen Quellen. Um diese Bestände, deren Urheber zu einem großen Teil anonym sind, der Öffentlichkeit 54 Vgl. Lothar Rübelt, Gerhard Jagschitz, Christian Brandstätter: Österreich Zwischen den Kriegen. Zeitdokumente und Eines Photopioniers der 20er und 30er Jahre. Wien, München, Zürich: Molden 1979. 55 Vgl. Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung. Hg. von Bernhard Fetz, Andreas Fingernagel, Thomas Leibnitz, Hans Petschar, Michaela Pfundner. St. Pölten: Residenz 2013; 1945 – zurück in die Zukunft. 70 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg. Hg. von Oliver Rathkolb. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 2015.
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zugänglich zu machen, und nicht das ganze 20. Jahrhundert in einem schwarzen Loch verschwinden zu lassen, vollzieht die Bibliothek seit Anfang des 21. Jahrhunderts die konsequente Politik einer weitestgehenden Öffnung ihrer Sammlungen und der Zugänglichmachung ihrer Bestände ohne jede Einschränkung, soweit dies aus rechtlicher Sicht möglich ist. Ebenso wie für die meisten anderen Nationalbibliotheken und wissenschaftlichen Bibliotheken weltweit ist der freie Zugang zum Wissen das oberste bibliotheksethische Leitprinzip, auch der ÖNB. Noch bis vor wenigen Jahren gab es zumindest in den demokratischen Gesellschaften und Staaten den Konsens auf nationaler und internationaler Ebene, dass Bibliotheken Bildungseinrichtungen sind, die die Informations- und Meinungsfreiheit zu garantieren hätten. Die in den letzten Jahren auch in der Bibliothekswelt immer stärker diskutierten ethischen Fragestellungen zeigen ganz deutlich, dass die Wahrung des Grundsatzes der Informations- und Meinungsfreiheit eine sehr komplexe Materie ist und dass diese Freiheiten in Konflikt mit anderen Grundwerten geraten können, etwa Datenschutz oder Jugendschutz, wenn berechtigte Ansprüche anderer verletzt werden könnten, oder wenn eindeutig diskriminierende Inhalte vorliegen und verbreitet werden könnten. Diese Diskussion gemeinsam mit Forschungseinrichtungen zu führen und verstärkt bibliotheksethische Fragestellungen zu berücksichtigen, wird auch in Zukunft eine der wichtigsten Aufgaben für die ÖNB sein.
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Edwin Klijn
Dutch Nazi Heritage Online. Perspectives on How Heritage Institutions Deal with Publishing National Socialist Source Materials on the Internet
Abstract Dutch heritage institutions have nearly 20 years of experience with publishing Nazi heritage online. In the public debate so far there has been a consensus that the audience should have full access to all heritage materials available, including those that derive from the Naziperspective. New discussions evoke around court archives with names of perpetrators and victims, eyewitness accounts of atrocities, and so on. It is important to start an open debate on this now and find solutions that respect the sensitivity of this guilt-laden heritage but also allow future generations to reflect on this period from a multiperspective view. Keywords Nazi Heritage, Digitization, Collection Management Zusammenfassung Niederländisches Nazi-Erbe online. Perspektiven zum Umgang von Kulturerbeinstitutionen beim Veröffentlichen von NS-Quellen im Internet Niederländische Kulturerbeinstitutionen haben fast 20 Jahre Erfahrung mit der onlineVeröffentlichung von NS-Materialien. In der öffentlichen Debatte ist bislang ein Konsens ersichtlich, dass die Öffentlichkeit vollen Zugang zu allen Kulturmaterialien und auch zu jenen aus NS-Perspektive haben soll. Neue Diskussion entstanden über Gerichtsarchive mit Namen von Tätern, Opfern, Augenzeugenberichten usw. Es ist wichtig eine offene Debatte zu beginnen und Lösungen zu finden, die der Sensibilität dieses „belasteten“ Erbes gerecht wird und zukünftigen Generationen multiperspektivische Zugänge zu dieser Periode eröffnet. Schlagwörter: NS-Erbe, Digitalisierung, Bestandsmanagement
Edwin Klijn, Netwerk Oorlogsbronnen, E-Mail: [email protected], ORCID iD: https://orcid.org/0000-0003-2046-8674
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1.
Edwin Klijn
Introduction
In the Netherlands there are approximately 450 institutions that hold original source materials in relation to the Second World War (WWII).1 These are mainly local or regional archives, libraries, museums and centres of remembrance. There are a small number of national institutions with relatively large WWII collections: NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies, National Archives (Nationaal Archief), Netherlands Institute of Sound and Vision (Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid) and the National Library of the Netherlands (Koninklijke Bibliotheek). Together, these organizations provide access to a wide diversity of information media: documents, photographs, videos, interviews, books, brochures, leaflets, posters, objects and other source materials. Many of these source materials relate to the German occupying authorities, the NSDAP, the SS or SD or to Dutch collaborationist party Nationaal-Socialistische Beweging (NSB) and its affiliated organizations. Ever since the late 1990s, with the emergence of the Internet, Dutch institutions have been involved in the digitization of their collections. Initially, some archives were developing databases for genealogical information. In addition, a number of national heritage institutions digitized the highlights of their collections for virtual exhibitions or digital treasuries. From the start of the 21st century, the first large digitization projects made efforts to digitize integral parts of collections. Digitization slowly moved from experimental to mass production and from project to programme.2 Today, many heritage institutions in the Netherlands consider digitalization and online access to be part of their core business. Yet, due to the large quantities of original materials, the shift to digital has only just begun and is still at an early stage. According to a survey carried out amongst European archives, libraries and museums in 2017, a mere 10 % of all heritage collections had been digitized.3 Dutch heritage institutions scored a median of 26 %, which seems to indicate that the level of collection digitization in the Netherlands compared to other countries in Europe is relatively high.4
1 Organisaties. Netwerk Oorlogsbronnen, URL: https://www.oorlogsbronnen.nl/organisaties (accessed 10. 08. 2020). 2 Edwin Klijn: Van “oud” geheugen naar digitaal brein: Massadigitalisering in praktijk. In: Journal for Media History 2 (2011), pp. 56–68. 3 Gertjan Nauta: Wietske van den Heuvel and Stephanie Teunisse. 2017. Europeana DSI 2- Access to Digital Resources of European Heritage. 2017, URL: https://www.den.nl/uploads/5c6a8684b 3862327a358fccaf100d59668eedf1f 7f449.pdf (accessed 10. 08. 2020). 4 Enumerate/De Digitale Feiten 2016–2017. Resultaten van de Nederlandse inbreng in ENUMERATE Core survey 4 (2016–2017). URL: https://www.den.nl/uploads/5bdafec5e7395339faf 97256b2ce41bc87cebed3a3dae.pdf (accessed 10. 08. 2020).
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2.
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Projects
When Dutch heritage institutions got involved in digitization on a large-scale, they almost immediately gave priority to WWII collections. This was mainly due to the large public interest, but also to the willingness of the Dutch government to invest in “the heritage of the war”. Between 2006 and 2010, there was a national programme to preserve and digitalize WWII heritage, consisting of over more than two hundred local, regional and national projects. To learn more about the approach of Dutch heritage institutions towards online publication of Nazi-related source materials and also about the public response, three digitization projects will be discussed in more detail.
2.1
Memory of the Netherlands-project (1999–2009)
The project Memory of the Netherlands (Geheugen van Nederland), funded by the Ministry of Education, Culture and Science, was the first national initiative that encouraged Dutch heritage institutions to embrace digitization as a means to improve access to their collections. Many organizations cooperated in this programme and made parts of their collections available online.5 In 2003 NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies published a series of approximately 5,000 WWII posters, pamphlets and leaflets.6 Apart from official announcements from the German authorities and “illegal” leaflets from the Dutch resistance, there were also election posters from the NSB, recruiting announcements to join the Waffen-SS and anti-Jewish Nazi propaganda (see figures 1 and 2).
5 Geheugen van Nederland, URL: https://geheugen.delpher.nl/nl (accessed 10. 08. 2020). 6 Collection ‘Oorlogsaffiches 1940–1945’, URL: https://geheugen.delpher.nl/nl/geheugen/page s/collectie/Oorlogsaffiches+1940-1945 (accessed 10. 08. 2020).
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Figure 1: Anti-Jewish Nazi propaganda poster, original caption “Yankee-Englishman-Bolsjewiki – dancing to the tune of the Jewish clique” (source: NIOD) 7
7 NIOD: AC/00762 (Affiche, Lithografie), Oorlogsaffiches NIOD 1933–1946, NIOD/KB, URL: http://resolver.kb.nl/resolve?urn=urn:gvn:NIOD01:46707 (accessed 10. 08. 2020).
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Figure 2: Recruitment poster for the Waffen-SS, original caption “The Waffen-SS is calling you. You too can protect your fatherland” (source: NIOD)8
A few years later, the NIOD, in cooperation with the National Library, released a second bulk of approximately 3,000 original materials, consisting of printed leaflets, brochures and pamphlets that were used during WWII for propaganda purposes.9 Again, the Nazi heritage was mixed with source materials from the resistance and neutral press. Amongst other things, this selection included a few volumes of a Dutch Nazi magazine for women (De Nationaal-Socialistische Vrouw), the printed speeches of Reichskommissar Arthur Seyss-Inquart (1892– 1946), an anti-Semitic brochure about Jews in the Netherland by Dutch collaborator Jan de Haas (1918–1995), see figure 3) and a small booklet by Nazi ideologist Jan Coenraad Nachenius (1890–1987) about eugenics. 8 NIOD: AF/00711 (Affiche, Lithografie), Oorlogsaffiches NIOD 1933–1946, NIOD/KB, URL: http://resolver.kb.nl/resolve?urn=urn:gvn:NIOD01:49596 (accessed 10. 08. 2020). 9 Propagandadrukwerk en voorlichtingsmateriaal uit WO2, URL: https://geheugen.delpher.nl /nl/geheugen/pages/collectie/Propagandadrukwerk+en+voorlichtingsmateriaal+uit+WO2 (accessed 10. 08. 2020).
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Figure 3: Leaflet De Joden in Nederland by Jan de Haas (source: NIOD)10
The Nazi heritage published as part of the Memory of the Netherlands-project did not provoke any public debate at all. The main reason for this is presumably that it mainly concerned visual materials. Apart from that, the few printed, textual resources that were included could not be searched full text, which means that they are generally hard to find for the inexperienced user. Another explanation is that the Nazi publications remained unnoticed because they were mixed together with those from the resistance and non-politically affiliated press.
10 NIOD: AC/00762 (Affiche, Lithografie), Oorlogsaffiches NIOD 1933–1946, NIOD/KB, URL: http://resolver.kb.nl/resolve?urn=urn:gvn:EVDO02:NIOD05_1915 (accessed 10. 08. 2020).
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2.2.
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Dutch newspaper digitization project (2010)
In 2006, the National Library started a mass digitization project to provide full text online access to approximately eight million pages from Dutch newspapers from the 17th century up to 1995.11 As part of the Heritage of the War programme, another 300,000 pages were added from newspapers published in the Netherlands during WWII: approximately 1150 “illegal” titles from the Dutch resistance, 55 newspaper titles that were censored by the Germans and 26 titles from Dutch or German Nazi organizations. A scientific advisory committee selected newspapers such as Volk en Vaderland, Het Nationale Dagblad, Zwarte Soldaat and Fotonieuws (all NSB related media), the strongly anti-Jewish De Misthoorn (see figure 4) and the Dutch SS magazine Storm SS (see figure 5).
Figure 4: Front page of De Misthoorn, September 1942, with the headline “The enemy is Juda”12
11 Edwin Klijn: The quality of quantity. Newspaper digitization at the Koninklijke Bibliotheek (National Library of the Netherlands). World Library and information congress: 75th IFLA general conference and council. 2009, URL: https://www.ifla.org/past-wlic/2009/99-klijn-en. pdf (accessed 10. 08. 2020). 12 De Misthoorn. 05. 09. 1942, URL: https://resolver.kb.nl/resolve?urn=ddd:010453764:mpeg21: p001 (accessed 10. 08. 2020).
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Figure 5: Front page of Storm SS, 6 November 1942, with the headline “Germanic SS in the Netherlands”13
When the National Library announced its intention to put these Dutch Nazi newspapers online, one of its press officers explained the move to a Dutch national newspaper: “KB is a neutral institution that does not wish to select on the basis of contents. Our ambition is to provide unfiltered information to scientific research that is as complete as possible.”14 In talks between the National Library and the Ministry of Justice – the alleged copyright holder of the Nazi newspaper – legal advisors from the department raised the issue that publication of these Nazi newspapers could be interpreted as
13 Storm SS. Weekblad der Germaansche SS in Nederland. 6 November 1942. Amsterdam, URL: https://resolver.kb.nl/resolve?urn=ddd:110529513:mpeg21:p001 (accessed 10. 08. 2020). 14 Sterre Lindhout: KB zet “foute” kranten online. In: De Volkskrant. 26. 08. 2010, URL: https:// www.volkskrant.nl/cultuur-media/kb-zet-foute-kranten-online~b7efa9ec/ (accessed 10. 08. 2020), translation by Edwin Klijn. In Dutch: “De KB is een neutrale instelling die niet inhoudelijk wil selecteren. We willen ongefilterd en zo volledig mogelijk informatie beschikbaar stellen voor wetenschappelijk onderzoek.”
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dissemination of hate speech.15 Meanwhile, a public debate ignited, which led to questions in the Dutch parliament to the State Secretary of Justice whether he agreed “that such historical texts can contribute to our historical awareness”.16 Scholars such as the historian James Kennedy defended the point of view taken by the National Library: “We may assume that Dutch citizens are resistant against these poisonous ideas. Modern citizens should – no must – be capable to deal with this historical material in a responsible way.”17 There were also opposing voices, as for instance the director of the Centrum Informatie en Documentatie Israël (Centre Information and Documentation Israel) Ronnie Naftaniel: “The National Library supplies munition for anti-Semitic expressions”, he claimed.18 Erna Houtkooper-Barend of the Jewish War Children Foundation (Vereniging Joodse Oorlogskinderen, JOK) thought the decision of the KB to be painful: “Racist texts in those NSB-newspapers can bring on bad thoughts to people. Now they still have to make an effort to consult such a newspaper, but soon they will be offered on a silver platter.”19 In the end, the National Library pursued its intention to release the Nazi newspapers on the web, but it made some technical adaptations to meet the concerns of the Ministry of Justice. Before users can consult an article from a Nazi newspaper online, a pop-up appears noting: “In the 30s and 40s of the last century newspapers were published by National Socialist organizations. The National Library in principle refrains from judging the contents but wishes to point out to the user that this article originates from one of these newspapers and may contain discriminating, insulting or hate inciting expressions. Further publication and distribution of such expressions for other purposes than factual reporting may lead to a criminal act. The Dutch state reserves the copyright of these newspapers.”20 15 Aanhangsel van de Handelingen. Tweede Kamer der Staten Generaal. 01. 09. 2010, URL: https://zoek.officielebekendmakingen.nl/ah-tk-20092010-3220.html (accessed 10. 08. 2020). 16 Aanhangsel van de Handelingen. Tweede Kamer der Staten Generaal. 01. 09. 2010, URL: https://zoek.officielebekendmakingen.nl/ah-tk-20092010-3220.html (accessed 10. 08. 2020), translation by Edwin Klijn. In Dutch: “[…] dit soort historische teksten kan bijdragen aan ons historisch besef […]” 17 Stelling: ‘De KB heeft foute kranten terecht online gezet’. In: Historisch Nieuwsblad 8 (2010), URL: https://www.historischnieuwsblad.nl/nl/artikel/26922/stelling-de-kb-heeft-foute-kran ten-terecht-online-gezet.html (accessed 10. 08. 2020), translation by Edwin Klijn. In Dutch: “We mogen ervan uitgaan dat Nederlandse burgers bestand zijn tegen dit soort giftige ideeën. Moderne burgers kunnen, nee móéten, op verantwoorde wijze met dit historische materiaal kunnen omgaan.” 18 Lindhout: KB (note 14). 19 Lindhout: KB (note 14), translation by Edwin Klijn. In Dutch: “De racistische teksten in die NSB-kranten kunnen mensen op slechte ideeën brengen. Nu moeten ze nog moeite doen om zo’n krant te achterhalen, maar straks wordt het ze op een presenteerblaadje aangeboden.” 20 Delpher, URL: www.delpher.nl (accessed 10. 08. 2020), translation by Edwin Klijn. In Dutch: “In de jaren dertig en veertig van de vorige eeuw zijn er kranten verschenen die zijn uitgegeven
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Since this solution was found, there has been no further debate on the Dutch Nazi newspapers.
2.3.
Open Data-project Netwerk Oorlogsbronnen (2018)
In 2018, Netwerk Oorlogsbronnen (Dutch War Collections), the Netherlands Institute for Sound and Vision, Wikimedia Foundation Netherlands, NIOD and a number of other WWII-organizations initiated a project called: WWII Open Data Depot.21 The aim of this project was to track and release WWII related source materials under a CCBY or CCO license. The content donation to Wikimedia Commons in the end consisted of a variety of different materials: an impressive collection by “underground” photographer Menno Huizinga (1907–1947), unique photos from Canadian, American, German and British collections, photographed objects from museum collections, etc. Two collections were from the Dutch Nazis. First, NIOD released 593 photographs from the NSB-Photo Service (NSB Fotodienst, see figure 6). This press agency supplied photographs to NSB-related magazines and newspapers. The second collection, from the collection of the Netherlands Institute for Sound and Vision, consisted of 170 propaganda films originally made by the NSB Film Service (NSB Filmdienst). Amongst them were films used at meetings and in cinemas to recruit new members of the party. According to research by the legal department of Sound and Vision, both the films and photographs should be considered as “confiscated war materials”. The Dutch state took over the copyright of the NSB. Since these materials were published more than 70 years ago, they now belong to the public domain. In the press release that accompanied the publication of these materials, project leader Ruurd Blom declared: “As heritage institution, you wish to provide access to all sorts of information resources on the Second World War, to allow your audience to get the bigger picture, without being selective. We estimate that the chances of abuse are minimal.”22 door nationaalsocialistische organisaties. De Koninklijke Bibliotheek onthoudt zich principieel van een inhoudelijk oordeel, maar wijst de gebruiker erop dat dit artikel uit een van deze kranten afkomstig is en discriminerende, beledigende of tot haat aanzettende uitlatingen kan bevatten. Verdere openbaarmaking en verspreiding van dergelijke uitlatingen, anders dan ten behoeve van zakelijke berichtgeving, kan een strafbaar feit opleveren. De Nederlandse Staat behoudt zich het auteursrecht op deze kranten voor. Ik verklaar van bovenstaande mededeling kennis te hebben genomen.” 21 Media from Netwerk Oorlogsbronnen. Wikimedia Commons. URL: https://commons.wiki media.org/wiki/Category:Media_from_Netwerk_Oorlogsbronnen (accessed 10. 08. 2020). 22 Ruurd Blom: Propagandafilms van de Filmdienst der NSB open beschikbaar. Hilversum: Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid 31. 05. 2018, URL: www.beeldengeluid.nl/kennis/bl og/propagandafilms-van-de-filmdienst-der-nsb-open-beschikbaar (accessed 10. 08. 2020), trans-
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Figure 6: Leader (“Leider”) of the Nationaal-Socialistische Beweging “Anton Mussert and his wife” (source: Rijksmuseum, permalink: http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.447370)
2.4.
TRIADO: document level access (2020)
The rise of new digital methodologies to transform analogue handwritten or printed textual materials into machine-readable texts (e. g. Transkribus)23 has enabled us to facilitate digital full-text access to textual sources. With one mouse click millions of documents can be googled in a 24/7 reading room called the web. For archives with “sensitive” contents, these technological developments can have huge consequences. Improved access is beneficial to researchers and family members looking for information on their ancestors, either victims or perpetrators. It also means that sensitive information – for instance the names of collaborators – is freely available for all. Between 2006 and 2010, the National Archives, NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies, Huygens ING and Netwerk Oorlogsbronnen were lation by Edwin Klijn. In Dutch: “Als erfgoedinstelling wil je het publiek toegang bieden tot alle soorten bronnen over de Tweede Wereldoorlog, om een zo compleet mogelijk beeld te geven, zonder daarin selectief te zijn. We achten de kans dat de open beschikbaarstelling verkeerd gebruik veroorzaakt gering.” 23 Transkribus, URL: https://transkribus.eu/Transkribus/ (accessed 10. 08. 2020).
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Edwin Klijn
involved in a pilot project called From Tribunal Archive to Digital Research Facility (TRIADO). The aim was to explore new digital ways to open up analogue textual archives. A small sample from the Central Archives of Special Jurisdiction (CABR) was digitized and made searchable with a web interface in a test environment. The CABR contains the legal files of approximately 300.000 persons accused of collaboration with the German occupier. It consists of a wide variety of diverse materials: minutes, verdicts, membership cards, forms, summons, etc.24 Although there was still a relatively large margin of error, the main conclusion of the project was that new digital tools were very suitable to retrieve names, places and events in huge text-based archives.25 In the closing conference on 13 September, 2019, researchers, ICT specialists, archivists, family members from victims and perpetrators and representatives from different interest groups discussed the results of TRIADO and the future of digital access to “burdened” heritage.26 Providing unrestricted digital access to collections that can have a huge impact on the personal lives of family members – even if there is no legislation that forbids such a service – was generally considered to be problematic. However, researchers stressed the scientific importance of the availability of useable, digital data for digital humanities research. Family members and interest groups balance between their eagerness to have more information on their relatives and their fear of being scapegoated. There was general consensus that archives such as the CABR require contextualization to help the audience to interpret the documents.27
3.
Conclusion
Dutch heritage institutions have nearly 20 years of experience in publishing Nazirelated heritage materials online. In general, there is a strong consensus that archives, libraries and museums have a public function which implies that they 24 Anne Gorter: The Central Archive of Special Jurisdiction: A short history. The Hague: National Archives 19. 06. 2018, URL: https://www.oorlogsbronnen.nl/nieuws/central-archive-s pecial-jurisdiction-short-history (accessed 10. 08. 2020). 25 Anne Gorter, Edwin Klijn, Rutger van Koert, Marielle Scherer and Ismee Tames: From Tribunal Archive to Digital Research Facility (TRIADO): Exploring ways to make archives accessible and useable. In: DATeCH2019: Proceedings of the 3rd International Conference on Digital Access to Textual Cultural Heritage. May 2019, pp 105–110, URL: https://doi.org /10.1145/3322905.3322906 (accessed 10. 08. 2020). Also: TRIADO project team: Final report on TRIADO enrichment phase. Amsterdam: May 2019, URL: https://www.oorlogsbronnen.nl/si tes/default/files/20190517_finalreportTRIADOenrichment.pdf (accessed 10. 08. 2020). 26 Slotcongres TRIADO: We zijn nog lang niet uitgepraat. Nationaal Archief: Den Haag 30. 09. 2019, URL: https://www.nationaalarchief.nl/archiveren/nieuws/slotcongres-triado-we-zijn-n og-lang-niet-uitgepraat (accessed 10. 08. 2020). 27 Ibid.
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Dutch Nazi Heritage Online
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Figure 7: Screenshot of test website Central Archive of Special Jurisdiction (CABR)
should act “neutral” in selecting heritage materials for online publication. By excluding resources on the more controversial parts of Dutch WWII history, the audience is deprived of other perspectives that were also part of the war. There has been little discussion with regard to the online publication of visual resources. Public debate mainly ignited when full-text resources such newspapers were made available. Thus far, the importance of providing open online access to
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Edwin Klijn
these resources has prevailed over arguments that heritage institutions were guilty of dissemination of hate speech or offending the rights of special interest groups. To date, there have no legal cases brought forward. But things are changing quickly. New technological developments now allow us to provide high quality access to archival collections. Transforming them in machine-readable formats not only makes them accessible at document level, it also provides the stepping stones to connect data from different collections. The impact of applying such technology, for instance, to legal archives on alleged collaborators is far greater than Nazi propaganda posters, film, photographs or even newspapers. This is mainly due to the personal and local annotations of such collections. With one mouse click, one might find an eye witness report on atrocities in which relatives are mentioned, often ancestors of families that still reside in the village, towns and city where the events took place. Free open online access to such resources raises questions about the invasion of privacy rights of family members, collaborators and victims, but also about the ability of the audience to correctly interpret these often complicated documents and creates new research perspectives for scholars. Generally speaking, a public debate on digital access to “guilt-laden” heritage forces us to reflect on the future of a past that can be painful, but at the same time needs to be understood in its full complexity, also by future generations.
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Christoph Hanzig / Martin Käseberg / Thomas Lindenberger / Michael Thoß
Tiefenerschließung des „Mustergaus“ Sachsen: Die Datenbank zur Dresdner Tageszeitung Der Freiheitskampf (1930–1945)
Zusammenfassung Im Gegensatz zu vielen anderen Digitalisierungsprojekten, die sich mit Zeitungen befassen, setzt das Datenbankprojekt des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung zur digitalen Erfassung der nationalsozialistischen Tageszeitung Der Freiheitskampf nicht auf eine Volltexterkennung, sondern auf eine inhaltliche Tiefenerschließung. Neben einer Vorstellung der Quelle und ihres wissenschaftlichen Wertes beschreibt der Text die Vorgehensweise bei der Datenerfassung und die verschiedenen Recherchemöglichkeiten der Datenbank. Zudem befasst sich der Beitrag mit den derzeitig ethisch und juristisch begründeten Zugriffsbeschränkungen auf die Digitalisate der Zeitungsartikel sowie die zukünftige Anwendungspotentiale der generierten Daten. Schlagwörter Tageszeitung, Nationalsozialismus, Tiefenerschließung, Datenbank, Digitalisierung Abstract In-Depth Indexing of the “Model Region” of Saxony: The Database of the Dresden Daily Newspaper Der Freiheitskampf (1930–1945) In contrast to many other digitization projects dealing with newspapers, the database project of the Hannah Arendt Institute for Totalitarianism Studies for the digital capture of the National Socialist daily newspaper Der Freiheitskampf does not rely on full-text recognition, but on in-depth indexing of the content. In addition to an introduction to the source and its scientific value, the text describes the procedure for data capture and the various research options of the database. Furthermore, the article deals with the current ethically and legally justified restrictions on access to the digitized newspaper articles and the future application potential of the generated data.
Christoph Hanzig, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, E-Mail: christoph.han [email protected]; Martin Käseberg, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung; Thomas Lindenberger, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, E-Mail: [email protected]; Michael Thoß, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, E-Mail: [email protected]
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Keywords Daily Newspaper, National Socialism, in-depth indexing, Database, Digitalization
Abb. 1: Titelseite Der Freiheitskampf vom 18. Juli 1935
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Die Datenbank zur Dresdner Tageszeitung Der Freiheitskampf (1930–1945)
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Einleitung HistorikerInnen, die über den Nationalsozialismus in Sachsen forschen, stehen immer wieder vor einem massiven Quellenproblem, da ein Großteil der relevanten Akten im Zuge der Kriegszerstörungen und durch die von den Nationalsozialisten veranlasste Aktenvernichtung in den letzten Kriegswochen verloren gegangen sind. Besonders betrifft das Dokumente der sächsischen NSDAP, ihrer Gliederungen und AkteurInnen, aber auch der staatlichen Mittelbehörden, etwa der Kreishauptmannschaften.1 Da sich in Tageszeitungen als damaliger Hauptinformationsquelle das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben einer Nation widerspiegelte2, entschlossen sich die MitarbeiterInnen des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) im Jahre 2009 zu sondieren, inwieweit sich aus der NSTageszeitung Der Freiheitskampf Informationen für die Zeit der Etablierung und Konsolidierung des Nationalsozialismus in Sachsen zurückgewinnen lassen. Das daraufhin konzipierte Datenbankprojekt zum Freiheitskampf leistet einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftsinfrastruktur, da es eine zusätzliche Quelle zum Nationalsozialismus in Sachsen mittels inhaltlicher Tiefenerschließung nutzbar macht. So sollen die oben beschriebenen Überlieferungslücken zumindest teilweise geschlossen werden.
Der Freiheitskampf als Quelle Bei der Tageszeitung Der Freiheitskampf handelt es sich um das amtliche Parteiorgan der NSDAP im Gau Sachsen, das vom 1. August 1930 bis zum 8. Mai 1945 erschienen ist.3 Hervorgegangen ist es aus dem Sächsischen Beobachter, der 1929 von den Brüdern Gregor (1892–1934) und Otto Strasser (1897–1974) gegründet und durch ihren eigenen Berliner „Kampfverlag“ herausgegeben worden war. 1 Vgl. Beschreibung des Archivbestands „NSDAP“ auf der Internetseite des Sächsischen Hauptstaatsarchivs: https://www.archiv.sachsen.de/archiv/bestand.jsp?oid=10.01.01&syg_id=&best andid=&_cp=%7B%22accordion-bestaendenavigation%22%3A%7B%220%22%3Atrue%7D %2C%22previousOpen%22%3A%7B%22group%22%3A%22accordion-bestaendenavigation %22%2C%22idx%22%3A0%7D%7D (abgerufen am 28. 04. 2020); bzgl. der gezielten Aktenvernichtungen exemplarisch für Franken: Nicola Humphreys: Gezielte Aktenvernichtungen bei staatlichen Behörden am Ende des Dritten Reichs in Mittelfranken. In: Archive und Archivare in Franken im Nationalsozialismus. Hg. von Peter Fleischmann und Georg Seiderer. Neustadt an der Aisch: VDS – Verlagsdruckerei Schmidt2019 (= Franconia. Beihefte zum Jahrbuch für fränkische Landeskunde; Beiheft 10), S. 85–132. 2 Vgl. Oron J. Hale: Presse in der Zwangsjacke. 1933–1945, Düsseldorf: Droste 1965, S. 11. 3 Zur Geschichte des Freiheitskampfs und im Weiteren vgl. Markus Fischer: Neue Perspektiven auf die sächsische NS-Presse. Eine Aufarbeitung des NSDAP-Organs „Der Freiheitskampf“. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 84 (2013), S. 281–291.
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Nach dem Parteiaustritt Otto Strassers im Zuge der Flügelkämpfe innerhalb der NSDAP Mitte 1930 und dem damit verbundenen Verlust ihres Kampfblatts sah sich die sächsische NSDAP-Gauleitung um Gauleiter Martin Mutschmann (1879–1947) und dessen Stellvertreter Karl Fritsch (1901–1944) gezwungen, eine eigene Tageszeitung herauszugeben. Mit der Gründung des Freiheitskampfs im Juli 1930 reihte sich Sachsen in eine reichsweite Entwicklung ein, im Zuge derer in den Gauen zwischen 1930 und 1933 die bis dahin nur wöchentlich erscheinenden Parteiblätter in Tageszeitungen umgewandelt wurden.4 Bis Anfang 1933 richtete sich die Tageszeitung in erster Linie an die sächsischen Mitglieder der NSDAP. Sie griff im Stile eines typischen Kampfblatts polemisch die politischen und wirtschaftlichen Zustände der sich in einer tiefen Rezession befindlichen Weimarer Republik an. Im Fokus der Angriffe standen hauptsächlich das liberale System der Weimarer Republik mit seinen demokratischen Repräsentanten, Juden sowie der politische Gegner auf der Linken in Gestalt von KPD und SPD.5 Vor allem während der zahlreichen Wahlkämpfe und der damit verbundenen oft gewalttätigen Auseinandersetzungen in den Jahren 1930 bis 1933 wurden die linken Kontrahenten als sogenannte Rotmörder diffamiert und im Gegenzug Gewaltexzesse eigener Mitglieder als legitime Notwehr dargestellt.6 Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wandelte sich die Charakteristik der Tageszeitung durch die Funktion des Freiheitskampfs als Mitteilungsblatt sämtlicher Behörden zunehmend. Bereits im Oktober 1932 merkte der Reichspressechef der NSDAP Otto Dietrich (1897–1952) an, dass mit dem Konzept der „Trommlerpresse“ auf Dauer keine größeren Leserkreise zu erschließen seien. Er plädierte daher für eine Verbesserung der journalistischen Qualität.7 Dies ist auch im Freiheitskampf nachvollziehbar. Spätestens seit 1933 lässt sich neben einer breiteren regionalen und thematischen Ausrichtung auch eine Mäßigung in der Rhetorik feststellen. Das Blatt wandte sich nun nicht mehr nur an die eigenen Parteimitglieder, sondern an die gesamte Bevölkerung 4 Vgl. Hale: Presse in der Zwangsjacke (Anm. 2), S. 58; zur Entwicklung der Gaupresse vgl. ebd., S. 57–67. 5 Vgl. Fischer: Neue Perspektiven (Anm. 3), S. 279. Zum Wandel der Charakteristik des Freiheitskampfs vgl. ebd., S. 279–281. 6 Zu Rezeption von Gewalt gegen politische Gegner im Freiheitskampf vgl. Josephine Templer: Rezeption von politischer Gewalt und ihrer Funktion in der sächsischen Presse zwischen 1930 und 1933. „Der Freiheitskampf“ und die „Arbeiterstimme“ im Vergleich. In: … da schlagen wir zu. Politische Gewalt in Sachsen 1930–1935. Hg von Gerhard Lindemann, Mike Schmeitzner. Göttingen: V&R unipress 2020, S. 21–52; Christoph Hanzig, Michael Thoß: „Rotmord“ vor Gericht – politisch motivierte Tötungsdelikte in Sachsen im Spiegel der NS-Tageszeitung „Der Freiheitskampf“ von 1931 bis 1936. In: ebd., S. 193–230. 7 Vgl. Stefan Krings: Hitlers Pressechef. Otto Dietrich (1897–1952). Eine Biografie, Göttingen: Wallstein 2010, S. 129.
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Sachsens und versuchte vor allem die dem Nationalsozialismus distanziert gegenüberstehenden Menschen, etwa aus dem Bürgertum oder der Intelligenz, von der Richtigkeit der nationalsozialistischen Politik und Ideologie zu überzeugen und sie einzubinden. Deshalb bot der Freiheitskampf nun auch ein breites Feld verschiedener Rubriken, die sich an verschiedene Gruppen (Jugend, Frauen, Verwaltungsbeamte) richteten oder über bestimmte Themengebiete (Weltgeschehen, Regionales, Kultur, Wirtschaft, Sport) berichteten. Dass sich die Zeitung in Sachsen zunehmender Beliebtheit erfreute, lässt sich an einem stetig wachsenden Anzeigenteil und den steigenden Auflagenzahlen ablesen. Während die Auflage zum Start im August 1930 5.000 Exemplare betrug, stieg sie bis Januar 1933 auf eine Zahl von rund 58.000 an.8 Mit der neuen Funktion als amtliches Bekanntmachungsblatt sowie durch neue Potentiale infolge der repressiven Pressepolitik der Nationalsozialisten, etwa der Übernahme moderner, ehemals linker Druckereien und eine Begünstigung der NS-Presse im Vertriebssystem, konnte der Freiheitskampf weitere LeserInnen gewinnen. So erhöhte man die Auflage bis April 1933 auf 100.000 Zeitungen. Bis 1936 pendelte sich die Auflagenzahl auf einen Wert von 200.000 ein.9 Aufgrund der thematisch breiteren Aufstellung und der lokalen Ausdifferenzierung hat der Freiheitskampf „eine mehrdimensionale Bedeutung für die Geschichte des Nationalsozialismus und für die Durchsetzung der Diktatur in der Gesellschaft für die Alltags- und Sozialgeschichte, aber auch für die Organisationsgeschichte der NSDAP in Sachsen und für die Verankerung der Partei in der Region“.10 Nach umfangreichen Recherchen in sächsischen Regionalarchiven liegt der Bestand der NS-Tageszeitung mit Ausnahme einiger weniger Ausgaben vollständig vor und wurde von der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB), auf Basis der in den 1990er Jahren angefertigten Sicherungskopien auf Mikrofilm, digitalisiert. Er umfasst insgesamt mehr als 66.000 Blatt. Wegen der teilweise unzureichenden Qualität der Digitalkopien des Mikrofilms und der zum Zeitpunkt der Digitalisierung noch nicht ausreichend entwickelten Software zur Erkennung von Frakturschrift wurde auf eine Volltexterfassung mittels OCR verzichtet. Die ProjektmitarbeiterInnen entschlossen sich deshalb für eine inhaltliche Tiefenerschließung der Quelle. Gegenüber dem automatisierten Ver8 Zu den genauen Auflagenzahlen des Freiheitskampfs vgl. Bundesarchiv (BArch), Nationalsozialismus (NS) 36/1013, Die Geschichte der sächsischen NS-Presse von der Gründung 1930 bis Juni 1936, o. D, o. O, S. 10 [unpag.]. 9 Vgl. ebd. 10 Thomas Widera, Martin Munke, Matti Stöhr: „Der Freiheitskampf“ – Digitalisierung und Tiefenerschließung einer NS-Zeitung/Digitisation an Indexing of a National Socialist Daily, 2017. URL: https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A16401/attachment/ATT-2/, S. 5 (abgerufen am 24. 02. 2020).
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fahren der Volltexterkennung bietet diese manuelle Herangehensweise viele Vorteile für die späteren NutzerInnen der Datenbank. So weist das entstandene Findbuch einen Weg durch die Datenmenge und ermöglicht mithilfe der inhaltlichen Einordnung eine zielgenaue Suche nach bestimmten Sachverhalten, Personen, Orten und Propagandainhalten, die nicht notwendigerweise mit genauen Schlagwörtern verbunden sein müssen. Damit wurde zwar ein sehr arbeitsintensiver, dafür aber umso nachhaltigerer Weg eingeschlagen. Nach der Sondierungsphase 2009 konnte das Projekt zunächst nur in geringem Umfang mit institutseigenen Mitteln weiterbetrieben werden. Mit der Förderung im Rahmen des Verbundprojekts „Virtuelle Archive für die geisteswissenschaftliche Forschung“ durch das Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (2017–2019)11 konnte die Erschließung der Tageszeitung forciert und die Datenbank mittels verschiedener Indikatoren mit anderen Projekten, etwa denen des Verbundprojekts, vernetzt werden.
Die Datenbank
Abb. 2: Screenshot der Startseite des Freiheitskampf-Projekts 11 An diesem Verbundprojekt waren unter der Federführung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (Leipzig) und neben dem HAIT das Sorbische Institut (Bautzen), das Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde (Dresden), das Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (Leipzig), das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (Leipzig) und das Deutsches Literaturinstitut an der Universität Leipzig beteiligt. Vgl. URL: https://www.saw-leipzig.de/de/projekte/virtuelle-archive (abgerufen am 24. 02. 2020); Internetpräsenz des Verbundprojekts auf dem „SAXORUM“-Portal der SLUB vgl. URL: https://saxorum.hypotheses.org/2457 (abgerufen am 24. 02. 2020).
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Prozess der Datenerfassung Da über nationale und internationale Ereignisse zumeist auch in anderen, größeren und bereits digitalisierten Zeitungen der NS-Presse berichtet wurde oder diese schon in verschiedenen Publikationen ausgiebig besprochen wurden, werden nur Artikel, die einen unmittelbaren Bezug zu Sachsen haben, in die Datenbank übernommen. Die BearbeiterInnen bewerten die Zeitungsartikel beim Durchsehen, erfassen neben den Metadaten (Artikel-ID, Datum, Lokalisation in der Zeitung) auch den groben Inhalt der ausgewählten Beiträge, die genannten Orte und alle handelnden Personen. Relevante AkteurInnen werden mittels einer zusätzlichen, mit der Artikeldatenbank verknüpften Personendatenbank erfasst, welche als ein Nebenprodukt der Datengenerierung entstanden ist. Sie umfasst derzeit über 1.800 relevante sächsische FunktionsträgerInnen und Persönlichkeiten. Ungefähr 400 von ihnen konnte auch eine Identifikationsnummer der Gemeinsamen Normdatei (GND-Nummer) der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) zugeordnet werden. Zur genaueren Erfassung des Orts wird zum einen die entsprechende Kreishauptmannschaft zugeordnet und zum anderen der Ort des Geschehens mit der ebenfalls verknüpften, alle sächsischen Orte über 2.000 EinwohnerInnen umfassenden Ortsdatenbank verlinkt. Diese wiederum ist mit dem Historischen Ortsverzeichnis Sachsens12 des Instituts für sächsische Geschichte und Volkskunde verbunden, in dem alle sächsischen Orte aufgelistet und mit zusätzlichen Informationen, wie der geographischen Lage, den Einwohnerzahlen, der administrativen Zugehörigkeit usw. versehen wurden. Wichtigster Arbeitsschritt bei der Artikelaufnahme ist die Kategorisierung des Inhalts. Dazu haben die ProjektmitarbeiterInnen in zahlreichen Beratungen u. a. auch mit NS-ForscherInnen des HAIT einen dreistufigen Kategorienthesaurus entwickelt. Die sechs Hauptkategorien (Ideologie, Krieg, NSDAP, Organisationen, Politische Institutionen und Regionalgeschichte) teilen sich in weitere Unterkategorien denen in der letzten Stufe insgesamt 92 Themenschwerpunkte (etwa Antisemitismus, öffentliche Veranstaltung NSDAP regional, Hitler-Jugend, Justiz, Kultur, Frauen im Nationalsozialismus oder Wirtschaft) zugeordnet sind. Dieser Spezifika bedienen sich die BearbeiterInnen, um den Inhalt des Artikels thematisch einzuordnen. Dabei können Artikel auch mit mehreren Kategorien versehen werden. Im Bemerkungsfeld wird der hauptsächliche Inhalt des Artikels zusammengefasst und zum Teil auch kontextualisiert. Der nationalsozialistische Duktus des Dokuments wird in der Regel nicht übernommen und wenn, dann nur als Zitat gekennzeichnet, um propagandistische Stilmittel hervorzuheben. Zudem werden 12 Vgl. Das Historische Ortsverzeichnis von Sachsen. URL: https://hov.isgv.de/ (abgerufen am 24. 02. 2020).
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im Bemerkungsfeld alle genannten, aber nicht in der Personen- bzw. Ortsdatenbank erfassten handelnden AkteurInnen bzw. Orte vermerkt. So sind auch diese Einträge später über eine Suche im Bemerkungsfeld wieder auffindbar. Namen von verfolgten Personen werden aus ethischen Gründen nicht vollständig vermerkt, etwa bei Personen, die öffentlich der „Rassenschande“ bezichtigt wurden. Anhand dieser Arbeitsschritte sind derzeit ca. 60 Prozent des Bestands (Jahrgänge 1930–1937 und 1943–1945) bearbeitet und über 26.500 Zeitungsartikel erfasst worden.
Recherchemöglichkeiten Auf der Homepage des Projekts „Freiheitskampf“ (http://www.hait.tu-dresden .de/ext/forschung/der-freiheitskampf.asp) sind derzeit die in der Datenbank erfassten Beiträge der Jahrgänge 1930 bis 1937 frei recherchierbar. Dazu sind verschiedene Zugänge angelegt worden. Beim Zugriff auf die Datenbank kann in einer Suchmaske nach einem bestimmten Datum oder Zeitraum gesucht werden. Zudem ist eine Anzeige aller Artikel einer bestimmten Zeitungsausgabe möglich. Auch eine Recherche nach geographischen Orten bzw. Regionen ist mittels Eingrenzung des Suchergebnisses auf eine bestimmte Kreishauptmannschaft oder durch die Eingabe der in der Ortsdatenbank erfassten Gemeinden mit mehr als 2.000 EinwohnerInnen möglich. Die Suche lässt sich zudem durch Auswahl einer der 92 Kategorien weiter eingrenzen. Darüber hinaus lässt sich das Rechercheergebnis durch die Suche nach einem Stichwort in den Bemerkungsfeldern nochmals verfeinern. Nicht zuletzt ermöglicht die Stichwortfunktion auch eine Suche nach Personen und Orten, die nicht in den jeweiligen Datenbanken, aber im Bemerkungsfeld erfasst worden sind. Der Zugang „Personen“ ermöglicht es den NutzerInnen in der Personendatenbank des Freiheitskampfs mittels Eingabe des Familiennamens oder der GND-Nummer alle mit der Person verlinkten Artikel in chronologischer Reihenfolge zu erlangen. Zusätzlich erhalten die NutzerInnen kurze Informationen zu Lebensdaten (soweit bekannt) und Funktion der Person. Sollte die gesuchte Person bei der DNB mit einem Identifikator versehen worden sein (GNDNummer), so werden Links zu den entsprechenden Ergebnisseiten der DNB und des BEACON-Diensts angezeigt. Hierbei handelt es sich um ein Dateiformat, das Linklisten zu Webseiten erstellt, die Inhalte zu bestimmten Normdaten anbieten. Durch die Verwendung dieses Angebots von Wikidata ist es möglich, auch die Erkenntnisse anderer Institutionen über die gesuchte Person zu berücksichtigen. Hier werden alle Webseiten von Projekten verlinkt, die sich am BEACON-Dienst beteiligen und die gleiche GND-Nummer verwenden, etwa der entsprechende Artikel in der Wikipedia. Die Bibliothek des HAIT hat von der DNB die Be-
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Abb. 3: Screenshot der erweiterten Suchmaske für die Artikeldatenbank
rechtigung erhalten, neue Datensätze für Personen in der GND anzulegen. Somit besteht in Zukunft die Möglichkeit, den Datenpool der GND um weitere relevante AkteurInnen aus Sachsen zu erweitern und die Vernetzung der Rechercheergebnisse voranzutreiben. Der Recherchezugang „Themen“ ermöglicht eine Suche entlang des dreistufigen Kategorienthesaurus, wobei auch hier das Ergebnis wie oben beschrieben nach Stichwort, Zeitraum und Ort gefiltert werden kann. Da die Artikel in den meisten Fällen mit mehreren Kategorien versehen worden sind, ermöglicht dieser Zugang eine weitere Eingrenzung mittels einer der nun 91 weiteren thematischen Spezifika. Die ProjektbearbeiterInnen diskutieren derzeit auch die Variante, Themenfelder mittels vorhandener oder neu erstellter GND-Datensätze für Körperschaften und Schlagwörter über den BEACON-Dienst zu vernetzen. Beim Anklicken des gewünschten Artikels wird eine Ergebnisseite angezeigt, die neben der inhaltlichen Zusammenfassung auch die verlinkten Themen, Orte und Personen auflistet. Zudem befinden sich dort auch zwei Links zum entsprechenden Digitalisat. Hier wird der Artikel nicht einzeln, sondern über den Link im Kontext der einzelnen Zeitungseite oder via DFG-Viewer in der gesamten Ausgabe, worin die NutzerInnen frei blättern können, ausgegeben.
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Abb. 4: Screenshot der Trefferliste des BEACON-Projektes zur GND von Martin Mutschmann
Einschränkung der Nutzung Die Datenbank ist für alle NutzerInnen über die oben genannte Internet-Adresse frei zugänglich. Eine Analyse der Zugriffszahlen der Website hat ergeben, dass täglich im Schnitt 175 Suchanfragen gestellt werden. Jedoch ist die Nutzbarkeit der Datenbank derzeit insofern eingeschränkt, da es ethische und rechtliche Bedenken gibt, den eigentlichen Inhalt der Zeitung, also die Digitalisate der Zeitungsseiten, für jeden zugänglich zu machen. Diese sind gegenwärtig nur an je einem speziellen Arbeitsplatz in der Bibliothek des HAIT und in der SLUB einsehbar, sodass WissenschaftlerInnen von außerhalb nach Dresden reisen müssen, um die recherchierten Zeitungsartikel auch lesen zu können.
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Bezüglich der volksverhetzenden Propaganda und der menschenfeindlichen nationalsozialistischen Sprache werden in Diskussionen von an der Geschichtsvermittlung Beteiligten Bedenken formuliert, Rechtsextreme könnten diese unkommentierten Inhalte zur Propaganda und Radikalisierung missbrauchen. Zudem bestehen noch urheberrechtliche Probleme: So kollidiert eine Freigabe des Zugangs zu den Digitalisaten mit der 70-jährigen Schutzfrist gemäß § 64 des deutschen Urheberrechtsgesetzes (UrhG), die jene bis 1945 verfassten Beiträge namentlich genannter AutorInnen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch lebten, schützt. Einer Schätzung zufolge beträfe das im Falle des Freiheitskampfs etwa 25 Prozent der aufgenommenen Artikel. Die Ermittlung der AutorInnen bzw. ihrer ErbInnen würde aber einen unverhältnismäßigen Aufwand darstellen. Der alternative Verzicht auf die Veröffentlichung dieser Digitalisate stellt ebenfalls keine Lösung dar, da dadurch maßgebliche Informationen zum Nationalsozialismus in Sachsen verloren gingen, was den Sinn des Projekts maßgeblich in Frage stellen würde. Hier ist die Politik bzw. der Gesetzgeber gefragt, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Zwar können nach einer Regelung zur Nutzung vergriffener Werke in § 13ff. Urheberrechtswahrnehmungsgesetz seit dem 1. Juni 2016 in § 51f. Verwertungsgesellschaftengesetz (VVG) Printwerke in Form von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, die vor dem 1. Januar 1966 in Deutschland erschienen und aktuell vergriffen sind, nach einer Lizensierung durch die Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) digitalisiert und frei zugänglich gemacht werden. Der Abschluss eines Rahmenvertrags mit Umsetzungsregelungen über solche Werke in Periodika, wozu auch Tageszeitungen gehören, steht allerdings noch aus. Dennoch befürwortet das HAIT einen allgemeinen Zugang zu den Digitalisaten, damit ForscherInnen weltweit mit einer Quelle arbeiten können, ohne die es nicht möglich sein wird, die noch erheblichen Forschungslücken zur Geschichte Sachsens im Nationalsozialismus zu schließen und damit Sachsen insgesamt auf dem Gebiet der NS-Forschung sichtbarer zu machen. Aber auch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus durch Initiativen außerhalb des akademisch-universitären Milieus, in den Regionen und Gemeinden Sachsens, können von der freien Nutzung der neuerschlossenen Quelle profitieren. Aus geschichtspolitischen Gründen wäre dies unbedingt wünschenswert, da zivilgesellschaftliche Projekte weiterhin eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Sachsen spielen werden. So verdankt sich das Vorhaben, endlich auch in diesem Bundesland am Standort des frühen KZ Sachsenburg bei Frankenberg eine KZ-Gedenkstätte einzurichten, Initiativen von unabhängigen Arbeitsgemeinschaften.13 Gegenüber der Chance, sowohl ForscherInnen als auch
13 Vgl. Große Pläne für KZ-Gedenkstätte. In: Freie Presse, 08. 01. 2020, URL: https://www.freie
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AktivistInnen der citizen science eine zusätzliche Rechercheoption zur Verfügung zu stellen, hält das HAIT das Risiko des Missbrauchs durch RechtextremistInnen für gering, da diese ihren Bedarf an nationalsozialistischen Quellen schon seit Jahren und Jahrzehnten eigenständig decken. Auch im Bereich der Umgehung von Unwägbarkeiten auf urheberrechtlichem Gebiet zeichnen sich Fortschritte ab. Die SLUB hat entschieden, ihren Bestand historischer Zeitung bis 1945, d. h. auch den Freiheitskampf, frei zugänglich zu machen.
Weitere Potentiale der Datenbank Die Datenbank zur NS-Tageszeitung Der Freiheitskampf beinhaltet neben ihrer Funktion als Findbuch einer neu erschlossenen Quelle für die NS-Forschung noch weitaus mehr Potentiale, vor allem auf dem Gebiet der politisch-historischen Bildung für SchülerInnen und LehrerInnen, und dies nicht nur in Sachsen. So gibt es in der Arbeitsgruppe gerade auf diesem Gebiet neue Projektideen zur Weiternutzung der aufgenommenen Daten, etwa durch die Erarbeitung fachdidaktischer Konzepte für einen Einsatz der Datenbank im Geschichtsunterricht. Außerdem wäre auch eine abgespeckte und speziell auf die Bildungsarbeit zugeschnittene Version der Datenbank denkbar, mit der SchülerInnen sich anhand ausgewählter und umfangreich kommentierter Artikel zu verschiedensten Themengebieten historische Sachverhalte selbst erschließen können. Aufgrund der besonders dichten Überlieferung zum Wirken der NSDAP im Raum Dresden und in der angrenzenden Amtshauptmannschaft ist im Zuge der Datenaufnahme eine Übersicht zu den NSDAP-Ortsgruppen auf diesem Gebiet entstanden. Somit lässt sich die Entwicklung der örtlichen Parteiorganisation, von der Gründung der ersten NSDAP-Ortsgruppe im April 1924 in DresdenCotta über die Bildung erster Sektionen 1929 bis hin zu einer Parteieinheit mit über 80 Ortsgruppen allein auf dem Dresdner Stadtgebiet (aktuell bis 1937) nachvollziehen. In dieser Datenbank wurden neben den entsprechenden ArtikelIDs und wichtigen Informationen (Gründungsdatum, z. T. Mitgliederzahlen, Teilungen und Zusammenschlüsse der Ortsgruppe) auch die erwähnten Ortsgruppenleiter sowie der Standort der Ortsparteileitungen erfasst. Da in den Bemerkungsfeldern der Hauptdatenbank sowohl die Adressen der Sitze verschiedenster Parteiämter und -gliederungen der Gau- und Ortsebene, als auch die Orte von Kundgebungen und anderer Aktionen der Partei erfasst wurden, reifte die Idee einer kartographischen Visualisierung von Orten nationalsozialistischer Herrschaftsausübung, -praxis und -partizipation auf dem Dresdner Stadtgebiet presse.de/mittelsachsen/mittweida/grosse-plaene-fuer-kz-gedenkstaette-artikel10697735 (abgerufen am 25. 02. 2020).
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heran. Hier könnten eben jene Orte in einem georeferenzierten Dresdner Stadtplan von 1938 eingetragen und mit den entsprechenden Artikeln verlinkt werden. Durch die zusätzliche Eintragung von Standorten der Wehrmacht, der Rüstungsproduktion oder von KZ-Außen- und Zwangsarbeiterlagern sowie Orten anderer nationalsozialistischer Verbrechen ließe sich die Präsenz des Nationalsozialismus im Dresdner Stadtgebiet visualisieren und der nach wie vor virulente Mythos des von den Alliierten sinnlos geopferten „unschuldigen Elbflorenz“14 wissenschaftlich fundiert in Frage stellen.
Fazit In Anbetracht der Wandlung Sachsens von einer Hochburg der Sozialdemokratie zu einem regelrechten NS-Mustergau in den 1930er-Jahren erscheint die Erforschung der Region für die Geschichtsschreibung besonders interessant. Daher wiegen die Quellenverluste umso schwerer. Mit der Erschließung des sächsischen NSDAP-Gauorgans Der Freiheitskampf und der Bereitstellung der Datenbank leistet das HAIT einen wichtigen Beitrag zur Forschungsinfrastruktur für die regionale Geschichte des Nationalsozialismus. Aufgrund der verlorengegangenen Primärquellen zur NSDAP und ihrer Gliederungen gewährt die parteiamtliche Tageszeitung der NSDAP in Sachsen einen tiefen und umfassenden Einblick in das Wirken der RepräsentantInnen des Nationalsozialismus und das Alltagsleben der Bevölkerung vor Ort. Somit kann der Freiheitskampf schon heute als eine der wichtigsten Quellen zur Etablierung und Konsolidierung des Nationalsozialismus in Sachsen angesehen werden. Im Gegensatz zur Volltexterkennung ermöglicht die inhaltliche Tiefenerschließung sowohl eine zielgenauere Recherche als auch eine Kontextualisierung des Artikelinhalts mithilfe der Kategorienstruktur, der Orte und der handelnden Personen. Gerade diese drei Merkmale – Themen, Personen und geographische Orte – fungieren als wesentliche Identifikatoren, die Vernetzungspotentiale mit Online-Inhalten anderer Institutionen bieten. Diese sind bereits zum Teil über den BEACONService realisiert und werden auch in Zukunft weiter ausgebaut. Das wesentliche Hemmnis für eine produktive Nutzung der Quelle stellen die aktuell existierenden Nutzungsbeschränkungen dar. Zwar erhält man bei der Recherche in der Datenbank eine Trefferliste entsprechender Artikel mit Inhaltsangabe und verlinkten Kategorien, Personen und Orten, jedoch kann der 14 Klaus Wiegrefe: „Goebbels war damit erstaunlich erfolgreich“. Interview mit dem Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller. In: DER SPIEGEL, 09. 02. 2020, URL: https://www.spiegel.de /panorama/bombenangriff-auf-dresden-1945-historiker-widerspricht-afd-chef-tino-chrupal la-a-456cb726-5ddb-4ee7-b858-34b54181e2f8# (abgerufen am 26. 04. 2020).
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letzte Schritt – nämlich der Zugriff auf die eigentlichen Digitalisate der Zeitungsartikel – nur von zwei speziellen Arbeitsplätzen in der Bibliothek des HAIT und in der SLUB aus vollzogen werden. Die SLUB als Bestandsinhaberin hat sich allerdings entschieden, Modalitäten für den offeneren Zugriff zu erarbeiten. Trotz dieser Einschränkungen beweisen bereits jetzt die Nutzerzahlen der Datenbank sowie darüber hinausgehende konkrete Anfragen an die Projektgruppe die Relevanz des sächsischen NS-Blattes für die Geschichtsforschung und für historisch interessierte Personen. Deswegen hat sich das HAIT entschlossen, das Datenbankprojekt zum Freiheitskampf auch nach Auslaufen der Finanzierung durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK) im Jahr 2019 in ähnlicher Intensität aus eigenen Mitteln weiterzuführen. Mit dem Abschluss der eigentlichen Erschließung ist das Potential der Datenbank bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Im HAIT gibt es deshalb Überlegungen zu weiteren Anwendungen für die Datenbank, vor allem auf dem Gebiet der politisch-historischen Bildung. Diese betreffen nicht zuletzt die Erarbeitung fachdidaktischer Konzepte für die Verwendung der Datenbank im Geschichtsunterricht sowie eine kartographische Visualisierung der Orte der nationalsozialistischen Herrschaftsausübung, -praxis und -partizipation in einer paradigmatischen Region.
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Norman Domeier
NS-Pressefotos und ihre transatlantische und globale Verbreitung 1942–45. Ein Plädoyer für die Digitalisierung der NS-Presse
Zusammenfassung Vor dem Hintergrund des geheimen Deals zwischen AP und NS-Deutschland während des Zweiten Weltkrieges, der erst Anfang 2017 vom Autor aufgedeckt wurde, fordert der Essay eine vollständige Digitalisierung der NS-Presse. Eine derartige Verflechtung, die bis heute Auswirkungen hat, wäre nicht so lange unentdeckt geblieben, wenn die NS-Presse leichter für Wissenschaft und allgemeine Öffentlichkeit zugänglich gewesen wäre. Schlagwörter Verflechtungsgeschichte, Medien- und Journalismus, Nationalsozialismus transnational, Zweiter Weltkrieg, Fotogeschichte Abstract National Socialist News Photos and their Transatlantic and Global Distribution 1942–45. A Plea for the Digitisation of the Nazi Press Against the background of the secret deal between AP and Nazi Germany during the Second World War, which was discovered by the author in early 2017, the essay asks for a complete digitisation of the National Socialist press. A collaboration like this, with an impact on our contemporary media system, would have been discovered much earlier if the National Socialist press had been available easier for both academia and the broad public. Keywords Histoire Croisée, Media and Journalism, National Socialism transnational, Second World War, Photo History
„Democracy Dies in Darkness“ ist seit 2017 der werbewirksame Slogan der Washington Post.1 Kaum jemand in der westlichen Welt bezweifelt, dass freie, von der Politik unabhängige Medien eine Säule der modernen Demokratie darstellen. Norman Domeier, Universität Stuttgart, Historisches Institut, E-Mail: [email protected] 1 Mike Rosenwald: A WWII Secret: AP had Photo Deal with the Nazis. In: Washington Post, 11. Mai 2017, S. A2.
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Norman Domeier
Was aber, wenn wichtige Medien geheime Deals mit der eigenen Regierung oder gar mit fremden diktatorialen Regimen eingehen? Was ungeheuerlich klingt, hat sich ebenfalls 2017 als historische Tatsache herausgestellt: Associated Press (AP), die bis heute größte Nachrichtenagentur der Welt, kooperierte von 1942 bis 1945 im Geheimen mit dem nationalsozialistischen Regime. Jeden Tag tauschte der New Yorker Medienkonzern über die neutralen Hauptstädte Lissabon und Stockholm Pressefotos mit dem Büro Laux aus, einer geheimen Einheit von SS und Auswärtigem Amt. Schätzungsweise 40.000 Nachrichtenfotos fluktuierten so über den Atlantik und um den gesamten Globus. Dieser nicht nur nach heutigen, sondern auch nach damaligen Standards journalistischer Ethik in höchstem Maße fragwürdige Deal hielt bis in die letzten Tage des „Dritten Reichs“ und verschaffte AP, die Tausende von Zeitungen in den USA und weltweit versorgte, einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil und einen gleichsam monopolartigen Zugang zur nationalsozialistischen Fotoproduktion aus dem Deutschen Reich, den besetzten Gebieten und von den Kriegsfronten.2 Dass sich der Medienkonzern die Genehmigung des Weißen Hauses verschaffte – der vorherige AP-Manager Byron Price (1891–1981) war von Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) zum Direktor des Office of Censorship ernannt worden – macht die Sache aus heutiger Perspektive fragwürdig.3 Denn die alliierte Presse, darunter auch die Washington Post und die New York Times, war dadurch angefüllt mit NS-Fotos, während im Gegenzug die NS-Presse Tausende AP-Fotos für antiamerikanische und antisemitische Propaganda nutzte. In visueller Hinsicht gab es jedenfalls nie einen „totalen Krieg“, ja nicht einmal getrennte Kriegsöffentlichkeiten. Schätzungsweise 40.000 Nachrichtenfotos fluktuierten durch den geheimen Deal zwischen Drittem Reich und AP bis 1945 durch den transatlantischen und globalen Raum. AP war bis zum Mai 1945 der loyalste Medienpartner des „Dritten Reiches“. Stattdessen steht fest, dass NS-Deutschland bis April 1945 ein mitunter verdeckt operierender, aber hochgradig aktiver Player auf dem globalen Medienmarkt war und es bis zum Ende die Weltöffentlichkeit beeinflussen konnte. Mit dem geheimen Deal ist überdies der einzige – täglich aktive – Kommunikationskanal zwischen den Gegnern des Zweiten Weltkrieges sichtbar geworden. Klar ist seit der Aufdeckung der Zusammenarbeit von AP und 2 Zu den Details des geheimen Deals zwischen AP und NS-Deutschland vgl. Norman Domeier: Geheime Fotos. Die Kollaboration von Associated Press und NS-Regime 1942–1945. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2/2017, S. 199–230. http://www. zeithistorische-forschungen.de/2-2017/id=5484 (abgerufen am 11. Dezember 2020). Sowie: Norman Domeier: Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“. Göttingen 2021 (in Vorbereitung) [= Habilitationsschrift Universität Stuttgart, S. 447–501]. 3 Zur Rolle von Byron Price https://www.ap.org/about/history/ap-in-germany-1933-1945/ap-in-ger many-report.pdf (abgerufen am 17.02. 2021).
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Ein Plädoyer für die Digitalisierung der NS-Presse
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NS-Deutschland Anfang 2017, dass auch Großbritannien, Italien und Japan eingebunden waren und auch news reels/Wochenschauen ausgetauscht wurden. Ob auf diesem Weg auch geheime Verhandlungen geführt wurden, die nach 1945 kompromittierend gewesen wären, gilt es noch zu klären.4 Der geheime Deal mit AP kann zudem das frappierende Desinteresse der amerikanischen Öffentlichkeit am Holocaust besser verständlich machen. Die bisherigen Erklärungsansätze5 für die Ignoranz am Mord an den europäischen Juden können jetzt um eine wichtige Tatsache ergänzt und plausibler gemacht werden: Durch die klandestine Kooperation war zwischen 1942 und 1945 ein Überschuss an Nachrichten und Nachrichtenfotos vom Kriegsgegner verfügbar. Man wusste sich in New York und London im Besitz exklusiven Materials, dessen genaue Herkunft jeden Tag verschleiert werden musste. Eine Recherche derjenigen Personen und Institutionen, die von diesem täglichen Nachrichtendeal mit dem Feind profitierten, zu einem Thema, das als eines der wenigen von den Nationalsozialisten streng tabuisiert wurde und das in den alliierten Öffentlichkeiten im Ruch der Greuelpropaganda des Ersten Weltkrieges stand, war nicht opportun. Zum einen, um den geschmeidig funktionierenden Deal nicht zu gefährden, zum anderen kamen über den geheimen Kommunikationskanal mit dem Feind mehr als genug spannende Stories und Fotos herein. Diese Saturiertheit der amerikanischen Presse kann nun als eine weitere Erklärung des journalistischen Desinteresses am Holocaust herangezogen werden.6 Angesichts der viel zu späten Aufdeckung der Zusammenarbeit von AP und NS-Deutschland nach über 75 Jahren sprechen mehrere Argumente dafür, die gesamte NS-Presse möglichst zügig zu digitalisieren und der Forschung und der Öffentlichkeit über die großen Forschungsbibliotheken im deutschsprachigen Raum – als Musterbeispiel kann das Portal AustriaN Newspapers Online (Anno) der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) gelten – zur Verfügung zu stellen. 1. Der geheime Deal zwischen AP und NS-Deutschland hätte nicht über 70 Jahre ein Geheimnis bleiben müssen. Auch ohne die involvierten Akteurinnen und Akteure und Nutznießerinnen und Nutznießer nach 1945, die das Ge4 Vgl. Norman Domeier: Geheime Fotos. Die Kollaboration von Associated Press und NSRegime 1942–1945. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2/2017, S. 199–230. http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2017/id=5484 (abgerufen am 17. 02. 2021). 5 Vgl. Deborah E. Lipstadt: Beyond Belief. The American Press and the Coming of the Holocaust 1933–1945. New York: The Free Press 1993; Laurel Leff: Buried by the Times. The Holocaust and America’s Most Important Newspaper. New York: Cambridge Univ. Press 2005; Why didn’t the press shout? American and International Journalism during the Holocaust. Hg. von Robert M. Shapiro. Hoboken: Yeshiva Univ. Press 2002. 6 Norman Domeier: Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“. Göttingen 2021 (in Vorbereitung).
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heimnis erstaunlich diszipliniert wahrten, hätte diese Verflechtung bereits Jahre oder Jahrzehnte früher aufgedeckt werden können, wenn der Zugang zur NSPresse und ihre systematische Auswertung leichter möglich gewesen wäre. Es ist keine kühne Behauptung, dass der historischen Forschung noch zahlreiche überraschende Erkenntnisse zu einem angeblich „überforschten“ Thema wie dem Nationalsozialismus gelingen werden, sobald dessen Presse ausgewertet und vor allem mit der internationalen Presse abgeglichen werden kann, denn es gab selbst im Zweiten Weltkrieg keine getrennten Öffentlichkeiten. Vielmehr beförderte der Krieg die Verflechtung der nationalen Öffentlichkeiten in transnationalen Strukturen, die teilweise heute noch wirksam sind. Wenn die Presse jener Zeit nicht mit modernen Methoden systematisch ausgewertet werden kann, werden wir diese Zusammenhänge, die uns nach wie vor prägen, nicht verstehen. 2. Der geheime Deal zeigt, wie täterschonend es sein kann, historisches Pressematerial in „Giftschränken“ zu verwahren und seine Nutzung bewusst oder unbewusst zu erschweren. Denn Tausende NS-Propagandafotos sind in der amerikanischen und globalen Presse veröffentlicht worden. In dieser sind sie bereits seit vielen Jahren digital verfügbar, aber eben nur als halbe Wahrheit. Ohne den Abgleich etwa zwischen New York Times, Life und Picture Post mit Zeitungen und Zeitschriften wie dem Völkischen Beobachter, dem Illustrierten Beobachter oder der Wiener Illustrierten – der Rekonstruktion und der Untersuchung von photo matches (siehe Abb. 1) – wird die transnationale (Foto-) Geschichte jener Zeit unvollständig bleiben. Über 70 Jahre lang ist die Forschung auf diesem Feld von falschen Grundbedingungen ausgegangen, weil die Pressequellen schlecht verfügbar waren. Nun ist eine vollständige Revision notwendig. Diese ist jedoch nur möglich, wenn die wichtigsten Organe der NS-Presse vollständig digitalisiert und verfügbar für Datenabgleiche sind, um Muster und Verflechtungen zu entdecken, aber auch um einzelnen Personen auf die Spur zu kommen, die nach 1945 von der Forschung nicht erfasst worden sind. Ein markantes Beispiel ist Hans Schwarz van Berk (1902–1973), die Edelfeder und rechte Hand von Propagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945). Schwarz van Berk blieb nach 1945 in erster Linie deshalb unbehelligt, weil seine zahlreichen Veröffentlichungen in in- und ausländischen Zeitungen nicht rekonstruiert wurden.7 3. Wenn die NS-Presse nicht von seriösen, öffentlichen Institutionen digitalisiert und dauerhaft bereitgestellt wird, werden dies in einer globalisierten Welt entweder Neo-Nazis oder Menschen, die damit Geld verdienen wollen, machen. 7 Zu Schwarz van Berk Hinweise in Jochen Lehnhardt: Die Waffen-SS. Geburt einer Legende. Hitlers Krieger in der NS-Propaganda. Paderborn 2017. Zum Typus des viele Jahre lang unbeachteten Schreibmaschinentäters: Norman Domeier: Schreibmaschinentäter im „Dritten Reich“ und danach. In: Schreibtischtäter. Begriff-Geschichte-Typologie. Hg. von Dirk Rose, Dirk van Laak. Göttingen: Wallenstein Verlag 2018, S. 179–190.
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Abb. 1: Dieses typische photo match zeigt, wie eng verflochten die Kriegsöffentlichkeiten im Zweiten Weltkrieg waren. Tausende photo matches sind noch im systematischen, idealerweise softwarebasierten Abgleich von NS-Presse und alliierter und neutraler Presse zu rekonstruieren und zu erforschen. Denn erst der Foto-Kontext, insbesondere die Bildunterschriften, gaben den Fotos ihre propagandistische Message. Quellen: Völkischer Beobachter, 05. September 1939, S. 3; Wiener Illustrierte, 07. September 1939, S. 3; The Brooklyn Daily Eagle, 18. September 1939, S. 8; Picture Post, 30. September 1939, S. 17.
Beides findet bereits statt und HistorikerInnen lassen sich notgedrungen sogar auf solche Angebote ein, wenn sie ihre Forschungen durchführen wollen. Dieser unhaltbare Zustand muss beendet werden. Es gibt nichts volkspädagogisch zu verbergen, alle diesbezüglichen Argumente sind über viele Jahre in der Debatte zur Wiederauflage von Hitlers Mein Kampf ausgetauscht worden. Wer durch die Lektüre einer Ausgabe des Völkischen Beobachter oder Betrachten von Fotos des „Führers“ neo-nationalsozialistische Einstellungen und Gefühle entwickelt, der ist einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung schon lange vorher verloren gegangen. 4. Der geheime Deal führt vor Augen, dass Geschichts-, Bibliothek- und Archivwissenschaft, wenn sie auch zeitgemäße Digitalwissenschaften sein wollen, die Lücken in der Digitalisierung von Zeitungsquellen so schnell und vollständig wie möglich schließen müssen. Dies gilt gerade für die nationalsozialistische Presse (aber auch die faschistische Presse Italiens, Spaniens, Portugals usw.). Denn für diese kann aus verschiedenen Gründen nicht auf Marktmechanismen gehofft werden, wie etwa bei der Digitalisierung und Verfügbarmachung der Presse der USA und Großbritanniens. Notwendig sind hierfür Digitalisierungsund Zugangsstrukturen in öffentlichen Projekten, auf nationaler und europäischer Ebene. Gefordert sind die großen Forschungsgemeinschaften, wie Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) oder Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG). 5. Der geheime Deal führt im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen, in welchem Ausmaß und mit welcher Relevanz Zeitungen und Zeitschriften seit dem 19. Jahrhundert nicht allein reiche historische Textquellen, sondern auch Fotos und Abbildungen aller Art enthalten. Diese visuellen Quellen – systematisch und in ihrer Gesamtheit – zu erforschen, ist ein spannendes neues Feld für die mo-
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derne Foto- und Zeitungsgeschichte, für die Technik- und Unternehmensgeschichte, für die politische Kulturgeschichte sowie für die Geschichte transnationaler und globaler Verflechtungen. Eindrückliche Beispiele sind die berühmten Fotos von Adolf Hitler und Benito Mussolini kurz nach dem missglückten Anschlag vom 20. Juli 1944. Diese Fotos werden bis heute gerne in Büchern oder Fernsehdokumentationen zu Illustrationszwecken verwendet. Ihre Entstehungsgeschichte, ihr Kontext und ihre politische Bedeutung sind aber erst durch die Aufdeckung des geheimen Deals zwischen AP und „Drittem Reich“ 2017 verständlich geworden. Daher gilt es, viele weitere Fotos und Filmszenen, die sich bereits ikonenhaft in Geschichtsbewusstsein und Populärkultur eingeschrieben haben, einer Quellenkritik zu unterwerfen. Diese ist jedoch nur möglich, wenn der zeitgenössische Kontext und die (beabsichtigte) Bildnutzung rekonstruiert werden.
Abb. 2: Das berühmte Foto von Hitler und Mussolini nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli 1944, von dem erst durch den AP-Fund 2017 bekannt wurde, dass es ein Foto des Büro Laux ist. Durch den eingespielten geheimen Foto-Austausch mit AP (hier via Stockholm) gelang dem NS-Regime innerhalb kürzester Zeit der Abdruck in der amerikanischen Presse als „AP radiophoto“, wodurch jeder potentiellen Unterstützung des Umsturzversuches auch medial der Boden entzogen wurde. Quelle: New York Herald Tribune, 23. Juli 1944 (Morgenausgabe), S. 3.
Durch eine Zusammenarbeit von Historikern, Bibliothekaren, Archivaren sowie Informatikern auf dem Feld der Presse-Digitalisierung ist eine digital history möglich, die den Namen verdient. In unserer Gegenwart, in der wie in den 1920er bis 1940er Jahren wieder von Lügenpresse und fake news die Rede ist, sollte sich die Digitalgeschichte vordringlich mit der NS-Presse befassen. Ihre Digitalisierung ist nicht allein Selbstzweck, sondern wir können damit bisher ungeahnten
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Verbindungen, Verflechtungen und Erkenntnissen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts auf die Spur kommen.
Abb. 3: Dasselbe Foto in den NS-Medien: „Im Schutze der Vorsehung. Nach dem missglückten verbrecherischen Anschlag begrüßt der Führer den Duce. Hauptquartier, 20. 7. 1944. Aufnahme: Gerd Baatz (Laux).“ Quelle: Berlin-Rom-Tokio 6/4 (Juli 1944), S. 1.
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Brigitte Rigele: Alles für alle? Offener Zugang und Weiterverwendung in öffentlichen Archiven Abb. 1: Wiener Stadt-und Landesarchiv/Gauarchiv Wien
Cord Pagenstecher: Interview-Archive zum Nationalsozialismus. Die digitale Erschließung und Analyse von Oral History-Sammlungen am Beispiel des Online-Archivs Zwangsarbeit 1939–1945 Abb. 1: Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ Abb. 2: Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“
Karin Liebhart: Nationalsozialismus „light“ – visuelle und diskursive Verweise in Social Media Auftritten der Neuen Rechten Abb. 1: SS-Leitheft 9/2 Februar 1943. Signatur im Bundesarchiv: Bild 146-1973-010-31 Abb. 2: Screenshot eines Tweets von Userin Alina_W @Aliner_We, 29. 08. 2018 (17. 09. 2018) Abb. 3: Screenshot eines Angebots des Online-Versandhandels Phalanx Europa (16. 01. 2021) Abb. 4: Screenshot aus dem YouTube Video Martin Sellner Live, 13. 09. 2019 (27. 11. 2019) Abb. 5: Screenshot aus dem YouTube Video Martin Sellner Live, 13. 09. 2019 (27. 11. 2019)
Hans-Christoph Hobohm: Zensur in der Digitalität – eine Überwindung der Moderne? Die Rolle der Bibliotheken Abb. 1: Mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature aus Dirk Helbing et al.: Das Digital Manifest, S. 15 Abb. 2: Hans-Christoph Hobohm
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Abb. 3: Hans-Christoph Hobohm
Markus Stumpf: Sinnvoll, angemessen und gerecht? Digitale Wiederveröffentlichung von NS-Schrifttum durch Bibliotheken Abb. 1: Universität Wien/Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte, Signatur Z-562/1,1
Klaus Ceynowa: Problematische Inhalte als Open Data? Das Beispiel des Fotoarchivs Hoffmann Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:
Bayerische Staatsbibliothek / Fotoarchiv Hoffmann Bayerische Staatsbibliothek / Fotoarchiv Hoffmann Klaus Ceynowa Klaus Ceynowa
Thomas Bürger: NS-Zeitungen in der Deutschen Digitalen Bibliothek? Über Zugänge zu Propagandaquellen und Hindernisse politischer Bildung in Deutschland Abb. 1: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Unbekannter Fotograf Abb. 2: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Höhne, Werner Abb. 3: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Rous, André
Edwin Klijn: Dutch Nazi heritage online. Perspectives on how heritage institutions deal with publishing National Socialist source materials on the internet Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7:
NIOD, Institute for War, Holocaust and Genocide Studies NIOD, Institute for War, Holocaust and Genocide Studies NIOD, Institute for War, Holocaust and Genocide Studies Delpher / Koninklijke Bibliotheek Delpher / Koninklijke Bibliotheek Rijksmuseum Edwin Klijn
Christoph Hanzig, Martin Käseberg, Thomas Lindenberger, Michael Thoß: Tiefenerschließung des „Mustergaus“ Sachsen: Die Datenbank zur Dresdner Tageszeitung Der Freiheitskampf (1930–1945) Abb. 1: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Abb. 2: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung
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Abbildungsnachweis
Abb. 3: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Abb. 4: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung
Norman Domeier: NS-Pressefotos und ihre transatlantische und globale Verbreitung 1942–45. Ein Plädoyer für die Digitalisierung der NS-Presse Abb. 1: Völkischer Beobachter, 05. 09. 1939, S. 3; Wiener Illustrierte, 07. 09. 1939, S. 3; The Brooklyn Daily Eagle, 18. 09. 1939, S. 8; Picture Post, 30. 09. 1939, S. 17. Abb. 2: Aufnahme: Gerd Baatz (Laux) / AP radiophoto. In: New York Herald Tribune, 23. 07. 1944 (Morgenausgabe), S. 3. Abb 3: Aufnahme: Gerd Baatz (Laux). In: Berlin-Rom-Tokio 6/4 (Juli 1944), S. 1.
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© 2021 V&R unipress | Brill Deutschland GmbH ISBN-Print: 9783847112761 – ISBN E-Lib: 9783737012768
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Kurzbiographien
Maximilian Becker, Historiker; Publikationen u. a.: Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Ostgebieten 1939–1945, München 2014; zs. mit Magnus Brechtken: Die Edition der Reden Adolf Hitlers von 1933 bis 1945. Ein neues Projekt des Instituts für Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), S. 147–163. Stefan Benedik arbeitet seit Juni 2017 am Haus der Geschichte Österreich, wo er das Team Public History (Kuratieren, Sammeln, Konservieren) leitet. Er studierte Geschichte und Kulturanthropologie in Graz und Prag, und ist bzw. war in universitärer Forschung und/oder Lehre in Graz, Toronto und Budapest tätig. Er war Träger von Stipendien der ÖAW (DOC-Team) und der Steierm. Sparkasse (Jungforscherpreis). 2016 leitete er das Organisationsteam des Österreichischen Zeitgeschichtetags, 2010 war er Koordinator des Doktoratsprogramms ”Interdisziplinäre Geschlechterstudien” an der Uni Graz, seit Juni 2015 arbeitet er an der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften mit. Publikationen mit einem Schwerpunkt auf Geschlechter-, Migrations- und Rassismusgeschichte, u. a. die Bücher Menacing Victims (für 2021 in Druckvorbereitung), Embodiment | Verko¨rperungen (2017, hg. gem. mit H. Zettelbauer u. a.); Mapping Contemporary History II (2010, hg. gem. mit H. Konrad). Thomas Bürger war bis 2018 Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) und Mitglied im Rat für Informationsinfrastrukturen (RfII). 2016 plädierte er für eine systematische Zeitungsdigitalisierung in Deutschland mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bundesländer, vgl. dazu seinen Beitrag „Zeitungsdigitalisierung als Herausforderung und Chance für Wissenschaft und Kultur“, ZfBB 63 (2016) H. 3 S. 123–132 http://dx.doi.org/10.3196/18642950166 3332). 2017 sprach er sich für eine Einbeziehung auch von problematischen Quellen aus der NS-Zeit in die Digitalisierung aus: „Heilsames Gift? Politische Aufklärung durch digitale Bereitstellung von NS-Zeitungen“. In: „Der ‚Gift-
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Kurzbiographien
schrank‘ heute. Vom Umgang mit ‚problematischen‘ Inhalten und der Verantwortung der Bibliotheken“. Hrsg. von Thomas Bürger und Klaus Ceynowa. ZfBB 64, 3–4 (2017), S. 145–157 http://dx.doi.org/10.3196/1864295017643469. Klaus Ceynowa, geb. 1959, studierte an der Universität Münster und promovierte dort im Fach Philosophie. Als wissenschaftlicher Bibliothekar arbeitete er von 1995 bis 2001 an der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, in den Jahren 2002 bis 2005 als stellvertretender Direktor an der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek. Seit 2005 ist er Stellvertretender Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek in München, seit April 2015 ihr Generaldirektor. Norman Domeier, Historiker, Privatdozent am Historischen Institut der Universität Stuttgart, ab Herbst 2021 DAAD-Gastprofessor für deutsche und europäische Geschichte an der Karls-Universität Prag. Für sein Buch Der EulenburgSkandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs hat er 2010 den „Geisteswissenschaften International“-Preis des Deutschen Börsenvereins erhalten. Ende 2021 erscheint seine Habilitationsschrift Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“ im Wallstein Verlag. Christoph Hanzig, Historiker, seit 2017 wissenschaftliche Hilfskraft im Datenbankprojekt zur Erschließung der Dresdner NS-Tageszeitung Der Freiheitskampf, seit 2020 Doktorand am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT). Hans-Christoph Hobohm, seit 1995 Professor für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Fachhochschule Potsdam, zahlreiche Publikationen zum Bibliotheksmanagement und zur Informationsverhaltensforschung. Zensur im 18. Jahrhundert war sein ursprüngliches Forschungsthema, das er auch immer wieder auf das Thema „Bibliothek als Zensur“ übertragen hat. Hans Walter Hütter, geb. 1954, Studium der Geschichte, klassischen Philologie und Pädagogik an der Universität Düsseldorf; 1983 Erstes Staatsexamen, 1984 Promotion, 1986 Zweites Staatsexamen; seit 1986 wissenschaftlicher Mitarbeiter, 1990 Abteilungsleiter, 1991 stellvertretender Direktor, 2007 Präsident und Professor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Martin Käseberg, Historiker, seit 2017 wissenschaftliche Hilfskraft im Datenbankprojekt zur Erschließung der Dresdner NS-Tageszeitung Der Freiheitskampf des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT).
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Kurzbiographien
Edwin Klijn, Project Manager of Netwerk Oorlogsbronnen. From 2009 to 2011 he was Project Manager for the newspaper digitization project at the National Library of the Netherlands. Klijn has a masters degree in Modern History. In cooperation with Robin te Slaa he published De NSB. Ontstaan en opkomst van de Nationaal-Socialistische Beweging 1931–1935. Amsterdam: Uitgeverij Boom 2009 and De NSB. Twee werelden botsen, 1936–1940. Amsterdam: Uitgeverij Boom 2021. Claudia Kuretsidis-Haider, Ko-Leiterin der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz sowie Mitarbeiterin am DÖW. Forschungsgebiete sind die Ahndung von NS-Verbrechen in Österreich sowie im internationalen Kontext, Verbrechen an Jüdinnen und Juden im Zuge der Shoah, Widerstand und Verfolgung in Österreich sowie sozialversicherungsrechtliche Aspekte als Form der „Wiedergutmachung“ für EmigrantInnen. Karin Liebhart, Politikwissenschafterin, Senior Lecturer am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, Associate Professor am Institut für Soziologie der Universität Trnava. Forschungsinteressen: Visuelle Politik, Politische Kommunikation, Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, Neue Rechte in Europa, US Alt Right, Gender Studies, Memory Politics, Qualitative Methods. Thomas Lindenberger, Historiker, Professor für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, seit 2017 Direktor des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT). Christa Müller, studierte Deutsche Philologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien. Seit 1996 an der Österreichischen Nationalbibliothek, ab 2002 für Digitalisierung verantwortlich, 2008 bis 2020 Leiterin der Abteilung Digitale Services, seit 2020 Leiterin der Hauptabteilung Bestandsaufbau und Bearbeitung. Mitarbeit in nationalen und internationalen Organisationen (EBLIDA, DFG, IOS Regensburg, VÖB …). Lehrtätigkeit, Aufsätze, Vorträge und Präsentationen zu Themen des Bibliothekswesens und der Digitalisierung. Cord Pagenstecher, Historiker an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, Team Digitale Interview-Sammlungen. Leiter des Projekts Oral-History.Digital. Mitarbeit im Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte“. Veröffentlichungen zur Oral und Visual History, NS-Zwangsarbeit sowie Migrations- und Tourismusgeschichte (www.cord-pagen stecher.de).
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Kurzbiographien
Hans Petschar, Direktor des Bildarchivs und der Grafiksammlung an der Österreichischen Nationalbibliothek, offizieller Vertreter der Österreichischen Nationalbibliothek in der Konferenz der Direktoren der Europäischen Nationalbibliotheken CENL. Gastprofessor und Marshallplan Chair for Austrian Studies an der University of New Orleans 2015 / 16. Zahlreiche Publikationen zur österreichischen Geschichte, Buch- und Bibliotheksgeschichte, Kulturgeschichte und Semiotik. Eugen Pfister leitet das SNF-Ambizione Forschungsprojekt „Horror-Game – Politics“ an der Hochschule der Künste Bern – HKB. Er hat Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Wien und Paris IV – Sorbonne studiert und an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt am Main und an der Universita degli studi di Trento zur Geschichte der Politischen Kommunikation promoviert. Gründungs- und Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele. Oliver Rathkolb, Univ.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Institutsvorstand. Er ist Autor, Herausgeber und Mitherausgeber zahlreicher Publikationen zu Themen der österreichischen Zeit-, Kultur- und Mediengeschichte sowie Herausgeber der Fachzeitschrift zeitgeschichte und der Reihe Zeitgeschichte im Kontext; ausgezeichnet mit dem Donauland-Sachbuchpreis Danubius 2005 und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2005 (Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005, Zsolnay Verlag). Er ist Vorsitzender des internationalen wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Europäischen Geschichte (Europäisches Parlament, Brüssel) und des wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Geschichte Österreich sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Jüdischen Museums Wien. Christian Recht, studierte Rechtswissenschaften, Informationsrecht, Bibliotheks- und Informationswissenschaften an der Universität Wien. Seit 2000 an der Österreichischen Nationalbibliothek, verantwortlich für das Referat Recht (seit 2005) und Revision (seit 2007). Mitarbeit in nationalen und internationalen Organisationen (VÖB, CENL, EBLIDA, …). Lehrtätigkeit im Bibliotheksrecht, Publikationen vor allem zum Medien- und Urheberrecht. Brigitte Rigele, Direktorin des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Vorstandsmitglied im Verband österreichischer Archivarinnen und Archivare, Leiterin der VÖA Arbeitsgruppe Überlieferungsbildung und Bewertung, Vorsitzende des AK österreichischer Kommunalarchive beim österreichischen Städtebund, Initiatorin des Wien Geschichte Wiki, zahlreiche Publikationen, u. a. zum Wiener Gesundheitswesen. Teile der Ausstellung des Wiener Stadt- und
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Kurzbiographien
Landesarchivs Kindereuthanasie in Wien 1940–1945 Krankengeschichten als Zeugen (2005) wurden in die Gedenkstätte Steinhof integriert und in den Ausstellungskatalog Der Krieg gegen die Minderwertigen (2018) übernommen. Hermann Rösch, 1997 bis 2019 Professor an der Technischen Hochschule Köln. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Informationsethik und Bibliotheksethik. Grundlagen und Praxis. Berlin, Boston 2021; Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland. 3. Aufl. Wiesbaden 2019; Eine ethische Herausforderung. Der Zugang zu nationalsozialistischer Propagandaliteratur in Hochschulbibliotheken. In: Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen. Göttingen: 2018, S. 257–270. Barbara Schloßbauer leitet seit 2001 Stopline, die österreichische Meldestelle gegen sexuelle Missbrauchsdarstellungen Minderjähriger und nationalsozialistische Wiederbetätigung im Internet, und die Rechtsabteilung der nic.at GmbH. Sie promovierte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg. Monika Sommer ist seit Februar 2017 Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich. 1999–2003 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2002/03 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften, bevor sie von 2003–2008 als Assistentin von Direktor Wolfgang Kos federführend an der Neupositionierung des Wien Museum beteiligt war, an dem sie von 2009–2013 als Kuratorin wirkte. 2009 verantwortete sie im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Linz gemeinsam mit Heidemarie Uhl und Dagmar Höss das Projekt „Insitu. Zeitgeschichte findet Stadt“. 2014–2016 war sie Leiterin des Kulturprogramms des Europäischen Forums Alpbach. Gleichzeitig war sie (u. a. mit Beatrice Jaschke) als Kuratorin und Beraterin mehrerer österreichischer Museen tätig. Seit 2006 ist sie Co-Leiterin des /ecm-Lehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien und ist Vorstandsmitglied von schnittpunkt. ausstellungstheorie & praxis und Finanzreferentin des Österreichischen Museumsbundes sowie Mitglied der Militärhistorischen Denkmalkommission des Bundesministeriums für Landesverteidigung. Markus Stumpf, Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte und der NSProvenienzforschung sowie Research Fellow am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 2021 wurde Stumpf durch den Österreichischen Bundespräsidenten der Berufstitel Professor verliehen. Mitherausgeber der Schriftenreihen Bibliothek im Kontext bei Vienna University Press/Vandhoeck & Ruprecht und
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Kurzbiographien
Schriften der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VÖB) bei University Graz Library Publishing; zahlreiche Publikationen, u. a. Herausgeber der Datenbanken Austro-Dok online (https://austrodok.at) und der Forschungsplattform „Gaupresse“-Archiv Wien (https://ns-pressearchiv.at). Er ist Vorstandsmitglied der Vereinigung Österreichscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare sowie Mitglied der Kommission für Provenienzforschung. Michael Thoß, Historiker, seit 2014 Doktorand am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschun (HAIT), seit 2017 wissenschaftliche Hilfskraft im Datenbankprojekt zur Erschließung der Dresdner NS-Tageszeitung Der Freiheitskampf des HAIT. Bernhard Weidinger, Rechtsextremismusforscher am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien. Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (FIPU) und Mitherausgeber ihrer Buchreihe zu Rechtsextremismus im Wiener Mandelbaum-Verlag. Dissertation über Burschenschaften und Politik in Österreich (erschienen 2015 bei Böhlau). Margot Werner, Historikerin und Bibliothekarin, Leiterin der Hauptabteilung Benützung und Information an der Österreichischen Nationalbibliothek. Langjährige Tätigkeit im Bereich Provenienzforschung und Restitution von NSRaubgut, u. a. tätig gewesen für die Österreichische Historikerkommission und Leitung des Projekts Erfassung von Raubgut in der Österreichischen Nationalbibliothek. Autorin zahlreicher Publikationen und Kuratorin zweier Ausstellungen zum Thema NS-Bücherraub.
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