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German Pages 203 [205] Year 2020
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SERAPHIM Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs Editors Peter Gemeinhardt · Sebastian Günther Ilinca Tanaseanu-Döbler · Florian Wilk Editorial Board Wolfram Drews · Alfons Fürst · Therese Fuhrer Susanne Gödde · Marietta Horster · Angelika Neuwirth Karl Pinggéra · Claudia Rapp · Günter Stemberger George Van Kooten · Markus Witte
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Narratologie und Intertextualität Zugänge zu spätantiken Text-Welten
Herausgegeben von
Christoph Brunhorn, Peter Gemeinhardt und Maria Munkholt Christensen
Mohr Siebeck
IV Christoph Brunhorn: geboren 1985; Studium der Evangelischen Theologie in Göttingen. Studentische und wissenschaftliche Hilfskraft der Patristischen Kommission an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2009–2015). 2015–2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen. Promotionsvorhaben im Fach Kirchengeschichte zum Thema „Kyrill von Skythopolis: Mönchsviten. Überlieferung, Kontexte und Theologie“. Seit 2019 Vikar der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Peter Gemeinhardt: geboren 1970; 1990–1996 Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Marburg und Göttingen; 2001 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Marburg; 2003 Ordination zum Pfarrer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck; 2006 Habilitation an der Universität Jena; seit 2007 Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen; 2015–2020 ebendort Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Bildung und Religion“. Maria Munkholt Christensen: geboren 1986; Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Aarhus. 2015 Promotion im Fach Kirchengeschichte ebendort. 2015–2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen. Habilitationsvorhaben im Fach Kirchengeschichte zum Thema „Heilige Frauen als Vermittlerinnen von Bildung im spätantiken Christentum“. Seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
ISBN 978-3-16-159191-4/eISBN 978-3-16-159548-6 DOI 10.1628/978-3-16-159548-6 ISSN 2568-9584/eISSN 2568-9606 (SERAPHIM) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbib liographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Minion gesetzt, von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und ge bunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildung: ©akg-images. Ausschnitt aus: Simone Martini. Mantelspende des Hl. Martin. 1320. Printed in Germany.
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Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert eine Fachtagung, die am 25. und 26. Oktober 2018 in Göttingen stattfand. Unter dem Tagungs- und nun Buchtitel „Narratologie und Intertextualität: Zugänge zu spätantiken Text-Welten“ ging bzw. geht es um die Erschließung von Methoden zur Analyse erzählender Texte, die in der Literaturwissenschaft gang und gäbe sind, für die christliche Hagiographie der Spätantike jedoch noch ihrer Erprobung harren. Dies wird hier in acht exemplarischen Studien an hagiographischen und verwandten Texten unternommen. Die Einleitung entfaltet das Tableau methodischer Ansätze, die in den Beiträgen herangezogen und im Laufe der Tagung diskutiert wurden, und bietet einige Schlussfolgerungen für die Weiterarbeit an Texten über Heilige und Heiliges. Das Herausgeberteam hofft, damit der Diskussion der mit Hagiographie befassten Fächer – der T heologie (hier insbesondere der Kirchengeschichte), der Alten Geschichte und der Klassischen Philologie – Anstöße geben zu können, um spätantike Text-Welten im interdisziplinären Gespräch zu vermessen und die hier vorgestellten Methoden weiterzuentwickeln. Die Tagung fand im Rahmen und mit finanzieller Unterstützung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs 1136 „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“ statt. Für diese Unterstützung sind wir sehr dankbar, ebenso dem Herausgeberkreis der Buchreihe SERAPHIM, in der dieser Band nun erscheinen kann. Unser besonderer Dank gilt natürlich den Autorinnen und Autoren, die sich auf das Experiment der Tagung eingelassen und ihre Beiträge für den Druck ausgearbeitet haben. Die Druckvorbereitung der Manuskripte konnte dank des nimmermüden Einsatzes von Louisa Meyer zügig vonstattengehen, im Verlag Mohr Siebeck betreute Susanne Mang kompetent die Herstellung des Bandes – beiden sei sehr herzlich dafür gedankt. Bad Sooden-Allendorf/Göttingen/Bonn, im Januar 2020
Christoph Brunhorn Peter Gemeinhardt Maria Munkholt Christensen
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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Christoph Brunhorn /Peter Gemeinhardt/ Maria Munkholt Christensen Von der Erschließung spätantiker Text-Welten: Einführung . . . . . . . . . . . . . . 1 T herese Fuhrer Bio-Historiographie Zur Funktion biographischer Modellierungen in römischer Geschichtsschreibung und Hagiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Peter Gemeinhardt „Alles tat der heilige Hypatius, indem er unserem heiligen Vater Antonius folgte“. Die Vita Antonii und die Vita Hypatii: Intertextualität und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Andreas Müller Antonius redivivus oder gar alter Christus. Die Darstellung des Martin von Tours in der Vita von Sulpicius Severus . . . 65 Christa Gray Erzählperspektive und Wertung in der Vita Hilarionis des Hieronymus . . . . 83 Maria Munkholt Christensen „Ach, meine Herrin und meine Lehrerin!“ Die narrative Etablierung von Frauen als Lehrerinnen in der spätantiken Hagiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Dorothee Schenk Von monastischen Reisen und idealen Lehrern. Eine Untersuchung der Rahmenerzählungen in Johannes Cassians Collationes Patrum unter narratologischen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
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Inhaltsverzeichnis
Jan Seehusen Das Fortwirken der Martins-Überlieferung des Sulpicius Severus in der Vita Germani und der Vita Genovefae – zwei Modelle von Intertextualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Christoph Brunhorn Zwischen den Welten ganz bei sich selbst? Die monastische Hagiographie Kyrills von Skythopolis als Erzählung . . . . . 155 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Orte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Moderne Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
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Abkürzungsverzeichnis AMSS AnBoll ANCT AQDGMA AU
Acta Martyrum et Sanctorum Syriace Analecta Bollandiana Ashgate New Critical T hinking in Religion, T heology and Biblical Studies Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Der altsprachliche Unterricht
BByz BEHE.H BGBE BHSt BKAT BKM BLE BT hSt BzA BzH BZNW
Bibliothèque Byzantine Section des Sciences Historiques et Philologiques Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese Berliner Historische Studien Biblischer Kommentar – Altes Testament Byzantina Keimena kai Meletai Bulletin de littérature ecclésiastique Biblisch-Theologische Studien Beiträge zur Altertumskunde Beiträge zur Hagiographie Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft
CCSL CEAug ChC CistSS CSEL
Corpus Christianorum. Series Latina Collection des études augustiniennes Church History Cistercian Studies Series Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum
DA
Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters
EBR EHS EnAc EvT h
Encyclopedia of the Bible and its Reception Europäische Hochschulschriften Entretiens sur l’antiquité classique Evangelische T heologie
FC FKDG
Fontes Christiani Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
GCS GNO GuL
Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte Gregorii Nysseni Opera Geist und Leben
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Abkürzungsverzeichnis
HT hKAT HZ
Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament Historische Zeitschrift
JECS JS
Journal of Early Christian Studies Journal des savants
KStT h KVRG
Kohlhammer-Studienbücher T heologie Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte
MGH.SRM
Monumenta Germaniae historica. Scriptores rerum Merovingicarum
NA
Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde
OCT OECS OLA OSHT
Oxford Classical Texts Oxford Early Christian Studies Orientalia Lovaniensia analecta Oxford Studies in Historical T heology
Pat. PhWs PL
Patrologia. Beiträge zum Studium der Kirchenväter Philologische Wochenschrift Patrologiae cursus completus. Series Latina
RAC RAC.S RAM REAug RGA.E RGRW RoJKG RTAM
Reallexikon für Antike und Christentum Reallexikon für Antike und Christentum. Supplement Revue d’ascétique et mystique Revue d’études augustiniennes et patristiques Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände Religions in the Graeco-Roman World Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte Recherches de T héologie ancienne et médiévale
SBNE SC SCBO SHG SJT h SLS STAC StAns StPatr SVigChr
Studi bizantini e neoellenici Sources chrétiennes Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis Subsidia hagiographica Scottish Journal of T heology Studia Latina Stockholmiensia Studien und Texte zu Antike und Christentum Studia Anselmiana Studia Patristica Vigiliae Christianae Supplements
TBN T hPh T hQ TRE TU
T hemes in Biblical Narrative T heologie und Philosophie T heologische Quartalschrift T heologische Realenzyklopädie Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur
UTB Uni-Taschenbücher
Abkürzungsverzeichnis
VigChr VoxBen
Vigiliae Christianae Vox Benedictina
ZAC ZKG ZNW
Zeitschrift für antikes Christentum Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft
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Von der Erschließung spätantiker Text-Welten: Einführung Christoph Brunhorn /Peter Gemeinhardt/ Maria Munkholt Christensen 1. Text-Welten und Erzähl-Welten Das Christentum artikulierte sein Verständnis von Selbst, Welt und Gott von Anfang an in einer Vielzahl von literarischen Stoffen, Formen und Gattungen. Die wohl populärsten darunter waren erzählende Texte, angefangen bei den Evangelien und der Apostelgeschichte des Lukas. Dieser folgten seit dem 2. Jahrhundert weitere Apostelgeschichten, die keine kanonische Geltung erlangen, die Welt der christlichen Frömmigkeit aber nachhaltig prägen sollten.1 In der Spätantike wurden insbesondere Märtyrer und Heilige in narrativen Texten als Leitbilder des authentisch Christlichen präsentiert. Nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden liturgischen Gebrauchs entwickelten solche Texte eine große Breitenwirkung, indem sie an Festtagen den Predigten über die jeweiligen Heiligen zugrunde lagen und so immer wieder auch in mündliche Redesituationen Eingang fanden. Die Märtyrerpredigten Augustins, um nur ein Beispiel zu nennen, legen davon beredtes Zeugnis ab.2 Vom Heiligen zu erzählen wurde und blieb für alle christlichen Traditionen, die sich in der Spätantike herausbildeten, grundlegend für die Konstitution und Stabilisierung religiöser Identität. Zum Teil ist es dies noch heute, unbeschadet der vielfältigen Transformationen, die der Begriff des „Heiligen“ in den vergangenen anderthalb Jahrtausenden erfahren hat.3 Wie man überhaupt vom Heiligen erzählen kann – das war für christliche Martyrologen und Hagiographen implizit, bisweilen auch explizit eine Frage. Das betrifft sowohl die Herausforderung, mit menschlichen Worten einem Geschehen gerecht zu werden, in dem man Gott selbst am Werke sah, als auch die Strategien der literarischen Plausibilisierung des Anspruchs, dass dies so sei – denn ob und wie die Nähe zu Gott sich im Leben und Handeln eines individuellen Menschen erkennen ließ, war stets nur konkret festzustellen und konnte auch bestrit1
Einführend dazu Klauck 2005. Vgl. Dupont 2014, 137–159. 3 Vgl. dazu den weiten religions- und kulturgeschichtlichen Überblick bei Angelini u.a. 2016. 2
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ten werden. Es bedurfte also einerseits der Verankerung des oder der Heiligen im wachsenden Kosmos christlicher Leitbilder, d.h. einer binnenchristlichen, auf die biblischen Narrative bezogenen Plausibilisierung, und andererseits einer überzeugenden literarischen Darstellung von Heiligkeit, für die die vor- und nebenchristliche historiographische und biographische Literatur reichhaltiges Anschauungsmaterial bereitstellte. Diverse Proömien von Heiligenviten zeigen, dass den Zeitgenossen bewusst war, dass sie sich literarischer Stoffe, Formen, Gattungen und Techniken bedienten, ja bedienen mussten, mit denen Griechen und Römer schon lange die großen Gestalten ihrer Vergangenheit beschrieben hatten.4 Und aller Exordialtopik zum Trotz ist davon auszugehen, dass die Rezeption und Aneignung „paganer“ literarischer Modelle mit gutem Gewissen erfolgte. Denn wie, wenn nicht unter Aufbietung aller verfügbaren literarischen Kompetenz, wollte man von den Leitbildern des Christentums erzählen und damit Gott, dessen Wirken sie bezeugten, preisen? Christliche Hagiographen und die von ihnen beschriebenen Heiligen fanden sich daher immer schon in einer umfassenden Text-Welt vor – in einem Kosmos vielfältiger und verfügbarer Texte, deren Methoden und Vorbilder darstellerische Plausibilität und argumentative Anschlussfähigkeit gewährleisteten. Zugleich stellte sich jedoch die Frage, was das unterscheidend Christliche sei: War es allein auf inhaltlicher Ebene zu suchen, oder gab es auch eine spezifische Art und Weise, von Heiligem in christlicher Sicht zu erzählen? Wenn aber die darstellerischen Mittel weitgehend dieselben waren, konnten dann – und wenn ja, wie – spezifisch christliche Text-Welten von anderen durch Texte vermittelten erzählten Welten abgegrenzt werden? Auf diesen Zusammenhang von Form und Inhalt richtet sich das Interesse der in diesem Band versammelten Beiträge. Um den gemeinsamen heuristischen und analytischen Zugang genauer zu beschreiben, ist zunächst zu betonen, dass spätantike Narrative hier als literarische Texte untersucht werden. Das bedeutet nicht, dass sie nur aus ästhetischer Perspektive interessant wären oder nicht auch etwas über geschichtliche Sachverhalte zu sagen haben (könnten). Der Anspruch christlicher Heiligenviten war ja gerade, das Aufscheinen der Wirklichkeit Gottes in einem konkreten Menschenleben und seiner mehr oder weniger detailreich ausgemalten Lebenswelt zu beschreiben. Das impliziert aber gerade, dass solche Texte nicht nur und nicht zuerst dokumentarisch ausgerichtet sind: Auch wo Hagiographen sozial-, kultur- oder religionsgeschichtlich relevante Informationen bieten, wollen sie nicht nur über die Welt berichten, wie sie ist und war, sondern darüber hinaus aufzeigen, wie sie sein könnte. Die Texte führen also einen Überschuss an Bedeutung mit sich, der auf Aneignung des je beschriebenen Leitbildes drängt und damit individuelle Kreativität bei den Lesenden freisetzen kann. Insofern eignet dem Begriff der „Text-Welt“ eine dreifache Bedeutung: 4
Zur biographischen Tradition vgl. De Temmerman/Demoen 2016 und Hägg 2012.
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– Erstens bezeichnet eine Text-Welt die einem Autor5 verfügbare Welt aus Texten, die in den jeweils eigenen Text integriert werden können; – zweitens kann eine Text-Welt auch als die in einem Text dargestellte erzählte Welt verstanden werden; – und drittens ist diese auch insofern eine Text-Welt, als durch den Text eine neue, gleiche oder andere Welt literarisch konstruiert wird.6 Die Beiträge im vorliegenden Band konzentrieren sich überwiegend auf christliche hagiographische Texte, werden aber auch punktuell durch thematisch einschlägige Analysen von nichtchristlichen (T herese Fuhrer) oder nicht im eigentlichen Sinne hagiographischen Texten (Dorothee Schenk) ergänzt. Das trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass es sich bei „Hagiographie“ nicht, wie lange angenommen, um ein literarisches Genre handelt, sondern um einen thematisch strukturierten Diskurs, der verschiedene Gattungen einbezieht und über den Bereich des Christlichen hinaus reicht. Dies sei im Folgenden kurz skizziert.
2. Vom Heiligen schreiben (Hagio-Graphie) Während spätantike Autoren – z.B. Hieronymus in den Prologen zu seinen Übersetzungen biblischer Schriften, aus denen die Vulgata hervorging – mit hagiographa die Schriften des Alten Testaments, insbesondere die Weisheitsbücher, meinten, legen wir im Folgenden den modernen Begriff „Hagiographie“ zugrunde, der das (Be-)Schreiben von Phänomenen bezeichnet, in denen „Heiligkeit“ thematisiert wird.7 „Heiligkeit“ wird dabei nicht als Qualität, also als etwas an und für sich Bestehendes, sondern als Prädikat, d.h. als Resultat einer Zuschreibung, aufgefasst: Zeitgenössische oder spätere Beobachter schreiben einem Menschen eine besondere Beziehung zu Gott zu, die sie als vorbildhaft ansehen, weshalb sie diesen Menschen für sich als Leitbild authentischen Christseins anerkennen. Über die Reichweite dieses Leitbilds, mögliche Kriterien solcher Zuschreibungen oder (erst im Hochmittelalter einsetzende) formale Verfahren der Heiligsprechung (Kanonisierung) ist damit noch nichts gesagt8, auch nicht über eine fixierte Terminologie (ἅγιος/sanctus), die sich erst seit dem 4. Jahrhundert allmählich heraus bildete. Ebenso ist klar, dass Heiligkeit nicht notwendigerweise exklusiv einem 5 Im Folgenden wird von „Autor“ (masc.) gesprochen, da es bei den in dem vorliegenden Band behandelten Texten in hohem Maße wahrscheinlich ist, dass sie von männlichen Autoren verfasst wurden; das gilt vermutlich auch für die im Beitrag von Maria Munkholt Christensen behandelten Texte über heilige Frauen. Die Frage nach Autorinnen in der Spätantike – die es durchaus gab – wäre an anderer Stelle zu verfolgen. 6 Zur Verknüpfung der Narratologie mit dem Konzept des ‚Worldmaking‘ vgl. Nünning 2010, insbesondere 189–354; zur theologischen Rezeption solcher Konzepte vgl. Alkier 1998. 7 Vgl. zur Terminologie knapp Gemeinhardt 2015, 1153 f. 8 Vgl. die Hinweise zur Entstehung einer Heiligenverehrung bei Ohst 2004 mit der Darstellung der Entwicklung der kirchenrechtlichen Heiligsprechung bei Sieger 1995.
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Menschen attestiert wurde, vielmehr gab es im Christentum von Anfang an viele Menschen, die als heilig angesehen wurden; dass zwischen solchen Heiligen bzw. den Trägergruppen ihrer Verehrung Konkurrenz entstehen konnte, ist gleichwohl nicht zu bestreiten. Kriterien mussten gefunden und ausgehandelt werden – damit kommen Autoritäten ins Spiel, die wiederum auf eine plausible Darstellung der als heilig in Frage stehenden Lebensweise angewiesen waren. Die Rede von einer „Zu-Schreibung“ von Heiligkeit führt damit unmittelbar auf die Frage nach der Art und Weise, wie Menschen vor der Zeit der „Heilig-Sprechung“ wirksam „heilig geschrieben“ wurden. Die Erforschung der christlichen Hagiographie hat sich lange auf die Frage nach Gattungen konzentriert, mit dem allerdings ernüchternden Ergebnis, dass sich die Erzähllogik der acta, passiones und vitae letztlich nicht aus der Übernahme bereits vor und neben der christlichen Literatur existierender biographischer und historiographischer Muster erklären lässt.9 Auszugehen ist vielmehr, einen durch Marc Van Uytfanghe eingeführten Begriff aufgreifend, von einem „hagiographischen Diskurs“10, in dem ganz unterschiedliche Formen und Gattungen eine Rolle spielen, um den „Stoff“, das christliche Verständnis von Heiligkeit und seine lebenspraktische Realisierung, zu beschreiben. In Frage kommen dafür Biographien und Briefe, Gedichte und Inschriften sowie natürlich auch bild liche Darstellungen. Über Heilige, Heiliges und Heiligkeit wird also in ganz unterschiedlichen Formen kommuniziert.11 Das erübrigt aber nicht die Frage, wie vom Heiligen erzählt wird, wenn wir es mit erzählenden Texten gleich welcher Gattung zu tun haben. Es fragt sich, welche narrativen Strategien zur Beschreibung von Heiligem zum Einsatz kommen und in welche vor- oder nebenchristlichen Text-Welten Märtyrer und Heilige durch intertextuelle Bezugnahmen eingezeichnet werden, ja wie klar sich solche internen und externen Vorstellungen überhaupt unterscheiden lassen oder ob sich nicht faktisch zahlreiche Überschneidungen ergeben. Ungeachtet des vielfach vorgetragenen Anspruchs christlicher Hagiographen, etwas ganz anderes als die klassischen Schriftsteller zu bieten, ist zu fragen, ob und inwieweit sie diesem Anspruch gerecht wurden oder ob sie ihn vor allem als rhetorischen Topos nutzten, um dann umso bereitwilliger auf darstellerische Muster zurückzugreifen, die ihnen und den Gebildeten unter ihrer (antizipierten oder realen) Leserschaft – ihren Narratees – vertraut waren. 9
Zur Forschungsgeschichte vgl. Gemeinhardt 2014, 312–317. Van Uytfanghe, 1988, 155–157. Das Konzept eines eigenen hagiographischen Diskurses, der sich in konkreten Texten abbildet, geht zurück auf den Franzosen Michel de Certeau, der Hagiographie inhaltlich als „einen Diskurs der Tugenden“ bestimmte (de Certeau 1975, 282). 11 Der hagiographische Diskurs in der Spätantike umfasst dabei nicht nur das Christentum, sondern auch das Judentum sowie griechische und römische Formen der Biographie besonderer Menschen, z.B. neuplatonischer Philosophen. Für einen vergleichenden religionsgeschichtlichen Zugang vgl. Gemeinhardt/Heyden 2012. 10
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Die Kompetenz, eine Geschichte zu erzählen, war insbesondere demjenigen vertraut, der die Schule eines Rhetors besucht hatte, denn hier spielten unter den Standardtexten gerade Historiker wie T hukydides oder Sallust eine prominente Rolle.12 Darauf Bezug zu nehmen, sei es in Anknüpfung oder in Abgrenzung, stellte die Beherrschung der in der Spätantike dominierenden Bildung – im Sinne sowohl von Wissen als auch von literarischen Kompetenzen und kulturellen Codes – unter Beweis. Wo und wie sich ein Autor die Kunst, eine Geschichte zu erzählen, konkret angeeignet hatte, muss im Einzelfall geprüft werden, zumal wenn keine Informationen über den jeweiligen Bildungsweg zur Verfügung stehen und zumal der Hinweis auf den Besuch einer Rhetorenschule fehlt. Zahlreiche Bischöfe und T heologen hatten eine solche Schule besucht, aber es gab auch alternative Bildungsorte, in denen solche Kompetenzen erworben werden konnten, wie etwa monastische Gemeinschaften (z.B. unter Pachomius mit dem expliziten Ideal, dass Mönche Schreiben lernen sollen) und Unterricht an Bischofssitzen (dies wird u.a. von Kyrill von Skythopolis berichtet, jedoch ohne Hinweise auf gezielte Schreibübungen). Das Interesse des vorliegenden Bandes richtet sich freilich nicht auf Institutionen der Bildung als solche, sondern auf den Einsatz erzählerischer Kompetenzen in der Kommunikation über Heilige im Rahmen anderer erzählerischer Betätigung in der Spätantike – gerade hierfür mag sich der Blick auf den institutionellen Hintergrund aber als erhellend erweisen.
3. Hagiographie als „Storytelling“ Nach diesen Dimensionen kommunikativen Handelns zu fragen bedeutet, wie bereits erwähnt, spätantike christliche (und andere) Texte als Literatur wahrzunehmen. Das mag trivial klingen; es ist aber in der Erforschung hagiographischer Texte überhaupt nicht selbstverständlich, literaturwissenschaftliche, näherhin narratologische und intertextualitätsbezogene Perspektiven ausdrücklich und methodisch reflektiert anzulegen, wie es z.B. in der neutestamentlichen Exegese seit Längerem üblich ist.13 Man hat hagiographische Literatur oft für die Erschließung historischer Zusammenhänge nutzen wollen und dann feststellen müssen, dass sie dafür nur eingeschränkt brauchbar ist, weil ihr die historische Verlässlichkeit fehlt. Vor nicht allzu langer Zeit postulierte Timothy Barnes, man solle die authentischen, historisch verwertbaren Märtyrerakten des frühen Christentums von „fictitious hagiography“, etwa der Vita Antonii oder der Vita Martini, unterscheiden, wobei mit letzterer in historischer Perspektive nicht viel an12
Zur antiken und spätantiken Rhetorik vgl. jetzt umfassend Tornau 2018. Vgl. Van Uytfanghe 1994, 206 f.: „Die Formgeschichte der Evangelien stellt dem Historiker in der Tat ein ziemlich anwendbares Muster zu Verfügung, weil die Genese des narrativen Neuen Testamentes und der Hagiographie viele Ähnlichkeiten aufweist: sie haben eigentlich, wie schon gesagt, den hagiographischen Diskurs selbst gemeinsam.“ 13
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zufangen sei.14 Eine derart scharfe Abgrenzung des Historischen vom Fiktiven erweist sich im Blick auf Gattungen und Erzählformen selbst als unhistorisch. Neuerdings setzt sich in der Forschung zunehmend die Ansicht durch, dass auch spätantike Autoren recht genau wussten, wie sich „Fakt“ und „Fiktion“ in den von ihnen verfassten Texten zueinander verhielten; die moderne Frage nach der historischen Verlässlichkeit antiker Texte ist daher nicht immer und in jeder Hinsicht angemessen. Unabhängig von der Frage nach der historischen Akkuratesse haben hagiographische Texte literarische Bedeutung als Erzählungen von etwas Bedeutsamem im Verhältnis von Gott, Welt und Mensch, das sie mit narrativen Strategien inszenieren. Claudia Rapp spricht von einem „particular kind of storytelling“.15 Dem wird in den hier versammelten Beiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Grund gegangen.
4. Hagiographie und Literaturwissenschaft Der vorliegende Band unternimmt im Grunde etwas Naheliegendes: Er reflektiert, was die Erforschung der christlichen Hagiographie von literaturwissenschaftlichen Fachdiskursen lernen kann. Die Rezeption solcher Methoden und Perspektiven ist für die Analyse klassischer griechischer und lateinischer Texte fest etabliert.16 Erzählstrukturen und -techniken sind aber auch in der neutestamentlichen Exegese ein T hema17, ebenso in Bezug auf die lateinische und volkssprachliche hagiographische Literatur des Mittelalters.18 Mit der Frage nach narrativen Strategien sowie textinternen und -externen Beziehungen kommt allerdings sofort eine Vielfalt von möglichen T heorien und Methoden ins Spiel, die von uns der Übersichtlichkeit halber unter den Leitbegriffen „Narratologie“ und „Intertextualität“ subsummiert werden.19 Damit ist gemeint, dass auf der einen Seite Erzählstrategien und auf der anderen Seite Textbeziehungen für die Konstituierung und Plausibilisierung christlicher Text-Welten verantwortlich sind. Es geht also einerseits um die in einem Text zu beobachtende Art und Weise, wie von Heiligem erzählt wird, andererseits um die explizite oder implizite Einbeziehung anderer Texte in die je eigene Argumentation – und um das mögliche Zusammenspiel beider Perspektiven. Auf diese Weise soll versucht werden, literaturtheoretische Ansätze in den Fachdiskurs der Geschichte des Christentums einzuspeisen, um hier einen 14
Barnes 2010. Rapp 1998, 432. 16 Letztere beleuchtet in einem instruktiven Überblickswerk Schmitz 2006, vgl. zu den hier behandelten Aspekten bes. 55–75 (Narratologie) und 91–99 (Intertextualität). 17 Vgl. Alkier 2004 und Wilk 2016. 18 Vgl. nur die Monographie von Hammer 2015 sowie jetzt die Fallstudien in Weitbrecht u.a. 2019. 19 Dabei handelt es sich um hoch diversifizierte Forschungsfelder; vgl. für die Narratologie(n) z.B. Nünning/Nünning 2002, bes. die Übersicht auf S. 10–13; knapper auch Köppe/ Kindt 2014, 15–21. 15
Von der Erschließung spätantiker Text-Welten
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innovativen, textsensible(re)n Umgang mit Textzeugnissen zu befördern, in dem deren literarischer Eigenwert (über den historischen Informationsgehalt hinaus) die ihm gebührende Berücksichtigung findet und eine Erschließung spätantiker Text-Welten ermöglicht. Dabei geht es nicht um eine einlinige Beziehung. Gerade eine historische Herangehensweise vermag rein literaturwissenschaftliche Zugänge zu „erden“ und so das Postulat einer „cultural and historical narratology“20 zu realisieren. Und möglicherweise kann dadurch auch dem Befund entgegen gewirkt werden, dass hagiographische Texte in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen gar nicht oder nur als etwas Überholtes vorkommen, weil sie der jeweiligen Erzählkonzeption nicht entsprechen: So konstatiert Schmid, hagiographischen Texten fehle mit der „Imprädiktabilität“ ein entscheidendes Element der „Ereignishaftigkeit“, die für den Gegenstandsbereich der Narratologie kennzeichnend sei, und seien daher keine Erzähltexte, da ihr Ausgang vorhersehbar sei (der Heilige ist von Anfang an als Heiliger erkennbar, sonst würde von ihm gar nicht erst erzählt!).21 Dagegen unterscheiden Martínez und Scheffel zwischen der „lebensweltlich-praktischen“ Perspektive der Zeitgenossen und der „analytisch-retrospektiven“ Perspektive des Erzählers, die gemeinsam jeweils in ihrem Eigenrecht wahrzunehmen seien. Die Heiligenlegende fungiert dabei als Beispiel für ein Genre, das schon im Titel ein bestimmtes Handlungsschema ankündigt und „das Erzählte vom Ende her“ erfasst. Das erledigt aber nicht den Erzählcharakter einer Vita, sondern schärft den Blick für die notwendige Unterscheidung der Sichtweise der dramatis personae von derjenigen der Rezipienten eines Narrativs: „Die intuitive Überzeugung des Lesers von Heiligenlegenden von der Zukunftsgewissheit des heiligen Lebens entsteht vielmehr dadurch, dass der Leser die Gewissheit der retrospektiven Sicht auf die offene Agentenperspektive projiziert.“22 Heuristisch wird demnach unterstellt, dass kein Text ohne literarische Vorgaben auskommt und dass ebenso kein Narrativ ohne einen es umgebenden (Inter-)Text und beide wiederum nicht ohne einen geschichtlichen Bezugsrahmen entstehen und verstanden werden können. Dass nicht der Realitätsgehalt des jeweils Erzählten im Vordergrund steht, bedeutet nicht, dass die in diesem Band untersuchten Texte ohne Weiteres im modernen Sinn als (rein) fiktionale Texte behandelt werden könnten. Vielmehr wird zu überlegen sein, wie literaturwissenschaftliche Herangehensweisen mit dem Anspruch christlicher Hagiographen überein gebracht werden können, in narrativer Weise über Wirkliches, ja über die (mit einem modernen theologischen Begriff) „alles bestimmende Wirklichkeit“ 20 Vgl. etwa Nünning 1999, 345–373; zu entsprechenden Forschungstrends vgl. Erll/Roggendorf 2002. 21 Schmid 2014, 25; zu den Kriterien der Ereignishaftigkeit vgl. aaO. 14–19. Ein solcher Einwand würde allerdings jede Biographie treffen, deren Verfasser ja suggeriert, über diesen – und nicht über einen anderen – Menschen schreiben zu müssen, da dieser Interesse beim Publikum finden wird. 22 Martínez/Scheffel 2016, 127 f. (Zitat 128).
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zu schreiben, also die Heilige oder den Heiligen in ihrer bzw. seiner Beziehung zu Gott darzustellen, ins rechte Licht zu rücken, ja zu inszenieren.
5. Arbeitsdefinitionen Da die oben genannten Begriffe Narratologie und Intertextualität in der Literaturwissenschaft alles andere als unumstritten sind, seien sie in Form von knappen Arbeitsdefinitionen gefasst. Um mit Hilfe heuristischer Leitbegriffe eine größtmögliche Vielfalt an Phänomenen zu untersuchen, wurde die Bestimmung der beiden Zugänge bewusst offen gehalten; sie lehnt sich an einschlägige literaturwissenschaftliche Entwürfe an, ohne die entsprechenden Fachdiskussionen hier im Einzelnen nachzuzeichnen.23 Die Definitionen lauten wie folgt: – Unter Narratologie wird ein wissenschaftlicher Zugang zu hagiographischen Texten verstanden, der es erlaubt, diese als narrative Texte wahrzunehmen. Es gilt, mit dem begrifflichen Instrumentarium der Narratologie u.a. das Spannungsfeld von faktualem und fiktionalem Erzählen24 auszuloten sowie Einsichten in Erzählstrukturen zu gewinnen, die hagiographische Texte von anderen Texten unterscheiden oder aber mit ihnen verbinden und durch solche literarischen Operationen zu ihrer Plausibilität25 beitragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es nicht (im oben problematisierten Sinne von Barnes) um eine strikte Trennung von „fiktionaler“ Hagiographie und „faktualer“ Historiographie o.ä. gehen kann, sondern um eine Skalierung von Plausibilitätsansprüchen, die durch biographische oder an Biographien angelehnte Narrative begründet werden sollen.26 – Als Intertextualität wird die wissenschaftliche Analyse des direkten und indirekten Zusammenspiels verschiedener literarischer Texte aufgefasst. Dabei stehen weniger konkrete Positionen im Mittelpunkt, wie sie in den Debatten des 20. Jahrhunderts vertreten wurden (Strukturalismus, Poststrukturalismus, Konstruktivismus, Dekonstruktivismus), sondern die schlichte Beobachtung, dass hagiographische Texte stets durch andere Texte geprägt bzw. beeinflusst sind. Das bringt u.a. die Frage mit sich, ob der Autor in hagiographischen Tex23 Einführende Literatur in Auswahl: Fludernik 2013; Köppe/Kindt 2014; Martínez/ Scheffel 2016. 24 Vgl. hierzu Martínez/Scheffel 2016, 19–22 sowie die Arbeiten des Graduiertenkollegs 1767 „Faktuales und fiktionales Erzählen“ in Freiburg i.Br., z.B. Fludernik/Falkenhayner/ Steiner 2015; aus der Perspektive der biographischen Literatur der klassischen Antike De Temmerman 2016. 25 Vgl. zum Begriff der ‚hagiographischen Plausibilität‘ Gemeinhardt 2014, 306–308. 26 Vgl. Dillon 2006, 164: „I would suggest that the purposes of biography were then more or less what they are now, that is, to present a portrait of a life for our edification and instruction. Rather than try to make a rigid distiction between biography and hagiography in late antiquity, I think we would do better to think in terms of a sliding scale between theoretical extremes of factuality and fantasy […]“.
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ten „tot“ (Roland Barthes 1968) oder „lebendig“ ist, d.h. inwiefern er (oder sie) an Text- und Bedeutungskonstitution erkennbaren Anteil hat; daraus ergibt sich wiederum die Fragestellung, welches Verhältnis und welche Bedeutung literarische wie historische Kon-Texte bzw. Kontexte für den Text, der jeweils untersucht wird, haben. Diese beiden Arbeitsdefinitionen müssen freilich präzisiert und konkretisiert werden, um für die Analyse von hagiographischen Texten fruchtbar gemacht zu werden. Dies ist bisher nur für einzelne Texte unternommen worden. Ein narratologischer und intertextualitätsbezogener Zugang kann hier nur in Umrissen entworfen werden, ohne den Anspruch zu erheben, damit bereits ein elaboriertes Konzept einführen zu wollen. In beiden Hinsichten werden im Folgenden Leitbegriffe beschrieben, aus denen sich analytische Perspektiven ergeben, mit denen im vorliegenden Band an konkreten Texten gearbeitet wird und die sich auch darüber hinaus als nützlich erweisen mögen. 5.1. Narratologie In diesem Bereich sind für die klassische Antike von verschiedenen Autorinnen und Autoren Arbeiten vorgelegt worden. Insbesondere Irene de Jong hat – ausgehend von Untersuchungen zu Texten Homers – hierzu wegweisende Studien publiziert, deren methodische Erträge in ihren 2014 veröffentlichten „Practical Guide“ eingegangen sind, der im Folgenden herangezogen wird. Neben (a) der Frage nach dem Erzähler 27 sind als Instrumente der Analyse vor allem (b) Distanz und (c) Fokalisierung zu nennen, die den „Grad an Mittelbarkeit“ und die „Perspektivierung des Erzählten“ betreffen.28 (a) Der Autor, der einen Text physisch niederschreibt, kann, muss aber nicht mit dem Erzähler der Geschichte29 identisch sein.30 Letzterer ist eine literarische 27
Vgl. Martínez/Scheffel 2016, 71–94 sowie ausführlich Schmid 2014, 45–106.
28 Martínez/Scheffel 2016, 50. Zu diesen beiden auf die Erzähltheorie von Gérard Genette
zurückgehenden, viel diskutierten Konzepten vgl. die sehr differenzierte Darstellung aaO. 50–71; knapp, aber instruktiv: Fludernik 2013, 115–117; ausführlicher und mit vielen Beispielen: Köppe/Kindt 2014, 192–236. 29 Die Unterscheidung von Text und Geschichte ist narratologisch grundlegend, wird aber in der Forschung mit einer verwirrenden Vielzahl von Begriffen dargestellt (eine Liste der Terminologien bieten Martínez/Scheffel 2016, 28). De Jong 2014, 38 unterscheidet zwischen „text“, „story“ (oder „plot“ – die Erzählung in ihrer Darstellung, die z.B. von Prolepsen und Analepsen durchzogen ist und insofern nicht streng chronologisch sein muss) und „fabula“ (die chronologisch geordnete, rekonstruierte Handlung – was Köppe/Kindt 2014, 102–107 als „Handlungsschema“ und in diesem Sinne als „plot“ bezeichnen). Eine Lösung dieser terminologischen Diffusion kann hier nicht geleistet werden; festgehalten seien lediglich die drei Kategorien eines physisch vorliegenden Textes, einer (vor-)lesbaren, vom Autor gestalteten Erzählung und einer daraus extrapolierbaren Handlung i.S. der logischen Grundstruktur des Erzählten. 30 Zum Folgenden vgl. De Jong 2014, 19–26; zur Würdigung und weitergehenden Be-
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Rolle, die durch die Modi der Distanzierung und der Fokalisierung (s.u.) weiter ausgestaltet werden kann.31 Wichtig sind die Unterscheidungen von primärem und sekundärem und internem und externem Erzähler: Die Person, die eine Geschichte erzählt – z.B. der Hagiograph, der sich im Proömium an seine Adressat*innen wendet –, ist der primäre (nach Genette der extradiegetische) Erzähler, der Teile der Erzählung an weitere Figuren – z.B. Augenzeugen bestimmter Ereignisse – übertragen kann, die dann als sekundäre (intradiegetische) Erzähler fungieren. Beide Erzähler können weiterhin in der Geschichte selbst auftreten (interner bzw. homodiegetischer Erzähler), indem z.B. ein Hagiograph sich als Mitmönch oder Schüler des Heiligen zu erkennen gibt, oder diese aus der Außenperspektive betrachten, indem sie etwa eine Rahmenerzählung darbieten (externer bzw. heterodiegetischer Erzähler). Beide Leitunterscheidungen sind nicht als strikte Duale zu begreifen, sondern markieren jeweils die Enden einer Skala, auf der sich die konkrete Erzählposition identifizieren lässt; zudem sind sie zu kombinieren, was innerhalb und außerhalb der Kernerzählungen unterschiedliche Verschachtelungsebenen zu identifizieren erlaubt. Gerade angesichts des Sachverhalts, dass über viele Hagiographen wenig mehr bekannt ist, als was sie selbst in ihrem Text preisgeben oder behaupten, und unter Einbezug der Hypothese, dass auch die Rezipienten in den meisten Fällen nicht über mehr Informationen verfügt haben dürften, bietet die Frage nach der Identität des Erzählers gegenüber der oft aporetischen Frage nach dem Autor einen fruchtbaren Zugang zur Plausibilisierungsstrategie einer Heiligenvita; umgekehrt schärft diese Fragestellung den Blick dafür, in welcher Erzählposition ein Autor wie z.B. Athanasius von Alexandrien, über dessen Leben und Wirken wir tatsächlich viel wissen, auftritt. (b) Die Unterscheidung von erzählerischer Distanz und Nähe beschrieb schon Platon mit dem Begriffspaar διήγησις und μίμησις.32 Grob gesagt, spricht in der ersteren Erzählform, dem narrativen oder diegetischen Modus, der Berichterstatter (Erzähler, Historiker, Hagiograph), in der zweitgenannten, dem dramatischen oder mimetischen Modus, eine Figur in der Erzählung – so scheint es jedenfalls, wenn die erzählerische Distanz weitgehend aufgegeben wird, indem sich erzählte Zeit und Erzählzeit annähern und die Lesenden der Erzählfigur beim Verfertigen der eigenen Gedanken gewissermaßen über die Schulter schauen können. De Jong ergänzt zu der Zeit- auch die Raumdimension: Ein Erzähler kann ein „Panorama“ oder eine „Szene“ darstellen; beides ist sowohl heterodiegetischen als auch homodeutung ihrer Arbeiten zu Homer vgl. Schmitz 2006, 73: „Homers Epen zeigen bereits eine sichere Handhabung narrativer Techniken; sie sind nicht ‚primitiv‘, sondern Erzeugnisse einer raffinierten Kunst. Daher erweist sich die moderne Narratologie als geeignetes Mittel, diese Erzählungen zu analysieren.“ 31 Das von Köppe/Kindt 2014, 91–93 u.ö. bestrittene „Dogma der Erzähltheorie“, wonach jede fiktionale Geschichte einen fiktiven Erzähler benötigte, bekräftigt De Jong 2014, 19 für die antike Literatur. Entscheidend dürfte hier die Unterscheidung von Autor und Erzähler sein; ob letzterer fiktiv ist, bleibt dabei sekundär. 32 Platon, resp. III 393a–394b.
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diegetischen Erzählern möglich, kann also von einem „narratorial“ oder „actorial standpoint“ aus beschrieben werden.33 In Bezug auf Worte und Gedanken als Elemente von Erzählungen lässt sich dies schematisch so darstellen34: Narrativer Modus (mittelbar)
Dramatischer Modus (unmittelbar)
– – – –
– – – –
zunehmende Distanz „panoramic standpoint“ größeres Erzähltempo Rede und Gedanken – Nennung des Sprechakts – Gesprächsbericht – Bewusstseinsbericht
abnehmende Distanz „scenic standpoint“ verlangsamtes Erzähltempo Rede und Gedanken – direkte Rede – Gedankenzitat – innerer Monolog
Nota bene: Es handelt sich hier um Idealtypen, die in konkreten Texten in weiteren Graustufen vorliegen (können), z.B. indem verschiedene Formen der indirekten Rede zum Einsatz kommen.35 In hagiographischen Texten führt der jeweilige Modus von Nähe und Distanz zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Identifikation mit dem Protagonisten oder der Protagonistin, ggf. auch zur Nachvollziehbarkeit individueller Entscheidungen und damit zu einer Entwicklung der Persönlichkeit. Ein besonders interessanter Sonderfall sind die Confessiones Augustins, in denen der Ich-Erzähler die Leserinnen und Leser bewusst an seinem Innenleben teilhaben lässt, in dem ihm Gott „näher kommt als ich mir selbst“ (interior intimo meo), was aber im steten Wechsel mit autobiographischen Erzählpassagen erfolgt, so dass sich der Autor als Historiker und Hagiograph in eigener Sache betätigt – sozusagen als „Autohagiograph“. (c) Das Modell der Fokalisierung stammt von Gérard Genette und reflektiert unterschiedliche Perspektiven, aus denen eine Geschichte erzählt werden kann. Die Klassifizierung orientiert sich am Verhältnis des Wissens des Erzählers zum Wissen der Erzählfigur; die jeweilige Perspektivierung nennt Genette „Fokalisierung“, wobei er drei Varianten unterscheidet36:
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Vgl. De Jong 2014, 60–65. Das folgende Schema ist eine vereinfachte Version des bei Martínez/Scheffel 2016, 66 gebotenen. 35 Martínez/Scheffel 2016, 55 f. sprechen hierfür von Formen der „transponierten Rede“. 36 Vgl. Fludernik 2013, 117; Martínez/Scheffel 2016, 68 f.94; sehr ausführlich Köppe/Kindt 2014, 208–233. 34
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– Auktoriale oder Null-Fokalisierung: Der Erzähler (auctor) weiß mehr als die Erzählfigur. – Aktoriale oder interne Fokalisierung: Der Erzähler weiß soviel wie die Erzählfigur (actor). – Neutrale oder externe Fokalisierung: Der Erzähler weiß weniger als die Erzählfigur. Schematisierend könnte man sagen, dass im ersten Fall der Erzähler „allwissend“ oder jedenfalls „mehr wissend“ ist; er sieht nicht nur durch die Brille einer Figur innerhalb der Erzählung. Bei einer internen Fokalisierung ist hingegen genau dies der Fall, wobei längere Geschichten mit variablen internen Fokalisierungen arbeiten können, indem die Perspektive unter verschiedenen Figuren wechselt; der Erzähler weiß also immer so viel wie die (jeweilige) Erzählfigur.37 Eine externe Fokalisierung liegt schließlich vor, wenn nur die Handlungen der Figuren beschrieben werden, nicht aber ihre Beweggründe oder ihr Innenleben, der Erzähler und damit die Leser also auf äußere Beobachtungen angewiesen sind, um die motivationale oder kausale Struktur der Erzählung zu durchschauen. Unter der Voraussetzung, dass es keine Erzählung ohne Fokalisierung gibt (und sei es eine Null-Fokalisierung)38, verwendet De Jong durchgehend den Begriff des „narrator-focalizer“39, was unterstreicht, dass die hier referierten narratologischen Perspektiven nicht nebeneinander stehen, sondern einander ergänzen. Entsprechend kann ein primärer Fokalisator außerhalb oder innerhalb einer Erzählung stehen. Während im ersten Fall neben einem klar erkennbaren („overt“) auch ein unidentifizierter Fokalisator („covert“) denkbar ist, gibt er sich im zweiten Fall immer zu erkennen, ebenso wie ein sekundärer Fokalisator.40 Dazwischen verortet De Jong den Fall der „embedded focalization“, bei der die Erzählfigur nicht selbst (in direkter Rede) erzählt, die Lesenden aber an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben – hier muss allerdings im konkreten Fall eine genaue Unterscheidung getroffen werden.41 Erneut ist zu betonen, dass komplexere Geschichten mit vielen Erzählfiguren („Erzählwerke“) möglicherweise nicht nur der einen oder der anderen Fokalisierung zugeordnet werden können und dass Erzähler gerade mit dem Perspektivenwechsel kreativ arbeiten – „heranzoomen“ – können. Gerade in hagiographischen Texten eröffnet die Unterscheidung von Fokalisierungsstrategien vertiefte Ein blicke in die Skalierungsmöglichkeiten zwischen heils- und individualgeschicht37 Vgl. Köppe/Kindt 2014, 222 f. Martínez/Scheffel 2016, 70 ergänzen die fixierte und die multiple interne Fokalisierung: Im ersten Fall steht die Perspektive einer Figur durchgehend im Vordergrund (z.B. in Form eines autonomen inneren Monologs), im zweiten Fall wird „dasselbe Geschehen aus der Perspektive verschiedener Figuren vermittelt“. 38 Köppe/Kindt 2014, 230 f. bestreiten, dass – wie Genette postuliert – jede Erzählung einen (fiktiven) Erzähler haben müsse; „Null-Fokalisierung“ bedeute lediglich die Abwesenheit einer klar identifizierbaren Perspektive. 39 Hierzu und zum Folgenden vgl. ebenso ausführlich wie instruktiv De Jong 2014, 47–72. 40 Zu dieser Unterscheidung vgl. De Jong 2014, 26 f. 41 De Jong 2014, 50–56.
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licher Perspektive, die Hagiographen für ihre Zwecke verwenden. Für die christliche Hagiographie bleibt demnach auszuarbeiten, was De Jong auf der Basis ihrer Untersuchungen zur klassischen antiken Literatur festhält: „Focalization is arguably the most important new analytical tool that narratology has brought classics. T he analysis of the focalization in a given passage is usually complex, not least because of its inherent ambiguity (is it the focalizer or verbalizing narrator who is responsible for a certain word?), but always leads to the heart of the emotional or ideological force of that passage. T he simple question of ‚who sees‘, as Genette famously defined focalization, is, thus, always a crucial one when reading an ancient narrative text.“42
5.2. Intertextualität Intertextualität sei anhand einer triadischen Leitdifferenz näher erläutert, die Stefan Alkier im Anschluss an literaturtheoretische Erwägungen von Susanne Holthuis u.a. für die Exegese des Neuen Testaments adaptiert hat und die für klassische griechische und lateinische (zumal poetische) Texte bereits erprobt ist43, aber auch für hagiographische Texte geeignet erscheint. Dabei geht es im Kern um eine Unterscheidung von produktions-, rezeptions- und textorientierter Intertextualität, die sich schematisiert wie folgt darstellen lässt44: produktionsorientiert
rezeptionsorientiert texttypologisch
textorientiert
referenziell
begrenzte Intertextualität (konkrete Lektüren) unbegrenzte Intertextualität (kulturelle Enzyklopädie)
(a) Produktionsorientierte Intertextualität basiert auf Mechanismen und Strategien der gezielten Herstellung intertextueller Bezüge. Hier wird vor allem nach der Arbeit des Autors oder der Autorin am Text gefragt. Dabei geht es um eine spezifisch begrenzte Fragestellung: Wie stellt ein Text intentionale Bezüge zu einem anderen her? (b) Rezeptionsorientierte Intertextualität entsteht dagegen durch die Mitarbeit des Lesers oder der Leserin bei der Interpretation. Mit Holthuis ist Intertextualität nicht eine einem Text inhärente Qualität, sondern entsteht „im Kontinuum der Rezeption“45; doch kann im Text eine „intertextuelle Disposition“ vorliegen, und 42
De Jong 2014, 69. Vgl. z.B. Hinds 1998. 44 Zum Folgenden vgl. Holthuis 1993 und Alkier 2003. 45 Holthuis 1993, 31; vgl. Alkier 2003, 12–16. 43
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zwar in Form von „Intertextualitätssignale[n], die den Rezipienten dazu veranlassen können, nach Relationen zu anderen Texten zu suchen.“46 Die Wahrnehmung intertextueller Bezüge kann der Autor nicht „machen“ – und deswegen ist er unter dieser Perspektive schlicht uninteressant –, vielmehr muss und kann der Leser auf Signale reagieren. Das kann, so weiter Holthuis, texttypologisch erfolgen, indem ein gegebener Text als Exemplar einer Gattung erkannt und mit einem anderen Text als deren Prototyp in Verbindung gebracht wird, mit dem er stilistische und strukturelle Merkmale teilt. Oder die Intertextualität wird referentiell verstanden, indem nach Zitaten, Anspielungen und Paraphrasen gefragt wird (also nach dem, was mit Gérard Genette unter „Intertextualität“ zu verstehen wäre). Rezeptionsorientierte Intertextualität umfasst dabei auch Veränderungen, die der Rezipient erkennen kann und soll, wenn etwa zum selben T hema „Bildung“ in den Texten unterschiedliche Antworten gegeben werden. Zudem können innerhalb eines Textes Signale in verschiedene Rezeptionsrichtungen ausgesandt werden. Damit kann nach Rezeptionen sowohl in begrenzter als auch in entgrenzter Weise gefragt werden. (c) Von textorientierter Intertextualität ist zu sprechen, wenn die auf bekannte Texte begrenzte Bezugnahme auf die Menge aller möglichen Texte ausgeweitet – d.h. entgrenzt – wird. Denn natürlich begegnen in vielen Texten Motive und Begriffe, die aus vergleichbaren (früheren oder zeitgenössischen) Texten bekannt sind, ohne dass sich direkte Bezugnahmen feststellen ließen. Dabei ist die Bezugnahme nicht auf Exemplare derselben Gattung begrenzt, vielmehr kommt die Vielfalt von Texttypen und T hemen als Text-Welt in den Blick, innerhalb derer sich beide in Frage stehende Texte (und noch viele andere) bewegen.
6. Die Beiträge dieses Bandes im Überblick Den Reigen der Untersuchungen eröffnet die Latinistin T herese Fuhrer (LMU München) mit Überlegungen zur „Bio-Historiographie“, also zur Integration biographischer Modellierungen in Geschichtsdarstellungen der späten Republik (Sallust) und der Spätantike (Sulpicius Severus) – letztgenannter Autor stellt unzweideutig intertextuelle Bezüge zu ersterem her. Zu beobachten sind auffällige Parallelen in der Darbietung biographischer Informationen in nichtbiographischen Genres, wobei in Biographik und Hagiographie die moralische Vollkommenheit der Protagonisten ein wichtiges Kriterium der Darstellung ist. Unterscheidend wirkt hingegen „das Merkmal der Eindeutigkeit bzw. Ambiguisierung in der Darstellung und Kommentierung der Lebensleistungen der Akteure“: Heilige sind nie ambig – die Hauptfiguren in Sallusts Schriften schon; jene führen ein gelingendes Leben, diese scheitern, sind aber gerade dadurch als „biographische Ikonen“ von Interesse. Entscheidend ist in beiden Fällen nicht die Historizität, sondern die 46
Holthuis 1993, 33.
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überzeugende Typisierung des Berichteten, was auf die Rhetorik als Handwerkszeug von Historikern und eben auch Bio- und Hagiographen verweist. Einen Fall von explizit gemachter Intertextualität untersucht der Kirchenhistoriker Peter Gemeinhardt (Universität Göttingen) anhand der Vita Hypatii des Callinicus, die auf die knapp ein Jahrhundert ältere Vita Antonii des Athanasius Bezug nimmt. Die Behauptung, Hypatius habe „alles so gemacht wie unser Vater Antonius“, lässt sich freilich beim Vergleich auf der Erzählebene nicht verifizieren; zwischen den beiden Heiligenleben bestehen Gemeinsamkeiten, aber auch offensichtliche Unterschiede, die am Beispiel des Umgangs mit Bildung und des Lehrens der Heiligen illustriert werden können. Intertextualität ist aber auch nicht mit einfacher Imitation zu verwechseln: Hypatius eignet sich in der Darstellung seines Hagiographen das Vorbild des ägyptischen Wüstenvaters so an, dass es im Kontext eines Klosters im Umfeld der Kaiserstadt Konstantinopel plausibel wirken konnte – man kann hierfür von einer „Kontrastimitaton“ (Klaus T hraede) sprechen. Pointiert gesagt: Wirklich alles so zu machen wie das Vorbild hätte Plausibilität nicht generiert, sondern verhindert. Gleichwohl ist festzustellen, dass Hypatius’ literarischer Erfolg trotz aller Bemühungen seines Hagiographen hinter dem des Antonius dauerhaft und signifikant zurückblieb. Die lateinische Hagiographie kommt mit dem kirchengeschichtlichen Beitrag von Andreas Müller (Universität Kiel) in den Blick, der sich mit Sulpicius Severus’ Vita Martini und ihren intertextuellen Bezugnahmen auf Athanasius’ Vita Antonii befasst. Einleitend warnt Müller davor, „Gemeinplätze monastischen Lebens“ mit intertextuellen Bezügen zu verwechseln, die er aber in diesem Fall unzweifelhaft gegeben sieht. In der praefatio rezipiert Sulpicius Severus breit die rhetorische Topik seiner Zeit, setzt sich aber auch von Klassikern wie Sallust ab und hebelt „mit Hilfe der Aufnahme antiker Topoi letztlich die alten Vorbilder durch einen neuen Heiligen aus“. Eine solche Strategie der Überbietung verfolgt der Hagiograph auch gegenüber der Vita Antonii, wie Müller anhand des jeweiligen Weges zur asketischen Existenz aufzeigt, der bei Martin in vieler Hinsicht radikaler gestaltet wird als bei Antonius, bis dahin, dass Martin im Traum in direkte Interaktion mit Christus (und nicht nur mit der Bibel wie der Wüstenvater) tritt. Ganz ähnlich erweist sich Martin durch seine Wunderheilungen als alter Christus, während diese in der Vita Antonii konsequent Gott bzw. Christus selbst zugeschrieben werden. Wer von den beiden Heiligen in diesem „Konkurrenzkampf“ siegen würde, sollte nach Sulpicius Severus’ Willen nicht unklar bleiben – Intertextualität dient hier also der Überbietung. Dem zeitgleich wirkenden Hieronymus und seiner Vita Hilarionis widmet sich der Beitrag der Klassischen Philologin Christa Gray (University of Reading) unter der Leitfragestellung, wie Erbaulichkeit und Erziehung in hagiographischen Texten narrativ verbunden werden. Konkret richtet sie ihr Interesse auf das Zusammenspiel von Erzähler, Leser und handelnden Figuren und betont, dass gegenüber Genettes Fokalisierungsbegriff in einem umfassenderen Sinn von „Erzählperspektive“ gesprochen werden sollte, um die didaktische Funktion von Hei-
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ligenleben herauszuarbeiten. Hieronymus – als Autor und Erzähler – ist in der Erzählung in unterschiedlich expliziter Weise präsent und hält mit seiner eigenen Meinung nicht hinter dem Berg, lässt aber auch andere Autoritäten und Zeitgenossen des Heiligen zu Wort kommen, auch um ihn gegenüber seinem Lehrer und Vorbild Antonius zu profilieren (der Heilige selbst hat keine großen Redeanteile, was ihn von Antonius unterscheidet). Erneut haben wir es also mit intertextuellen Bezügen zur Vita Antonii zu tun, deren Wahrnehmung durch den implizierten Leser auf vielfältige Weise gelenkt wird, ohne diesem alle Freiheit der Interpretation zu nehmen – zumindest wird dieser Eindruck erweckt, worin sich gerade die subtile literarische Kunst des Hagiographen zeigt. Zurück in den Osten führt der Beitrag der Kirchenhistorikerin Maria Munkholt Christensen (Universität Göttingen, jetzt Bonn), allerdings mit einem anderen Fokus, nämlich der narrativen Etablierung von Frauen als Lehrerinnen, d.h. in einer Rolle, die sie in der Lebenswirklichkeit der Spätantike weder im öffentlichen Leben noch in den christlichen Gemeinden einnehmen konnten. Interessanterweise sind heilige Frauen – wie im Fall der Synkletike – von anderen Frauen umgeben, die gewissermaßen die Annäherung an die Protagonistin erzählerisch ermöglichen und als intratextuelle Adressatinnen ihrer erfahrungsbasierten Lehrtätigkeit fungieren, wobei die Bezeichnung Jesu Christi als des einzigen Lehrers nicht nur die Rolle der Heiligen, sondern auch möglicher männlicher Konkurrenten relativiert. Ausdrücklich als Lehrerin tritt hingegen die Paulusbegleiterin T hekla in dem spätantiken Konvolut ihrer Vita et Miracula auf; auch hierbei dienen „die Frauen um sie herum“ als intradiegetische Fokalisatorinnen. In der syrischen Vita Febroniae tritt schließlich eine Asketin aus einer vergleichbaren Gruppe sogar namentlich als Erzählerin auf; hier ist es die Situation des Märtyrertodes der Febronia, in der ihre Gefährtinnen sich zu ihr als ihrer Lehrerin bekennen. Texte über heilige Frauen sind also nicht einfach nur dasselbe wie Viten über männliche Heilige, sondern bringen offensiv Geschlechterrollen zur Sprache, die in der Lebenswelt von Autoren und Leserschaft innovativ waren, und relativieren damit die Normen des Denk- und Sagbaren. Mit einem auf den ersten Blick gar nicht narrativen Textcorpus befasst sich Dorothee Schenk (Kirchengeschichte, Universität Göttingen), nämlich mit den Collationes des Johannes Cassian. Sie hebt aber zu Recht hervor, dass die Rahmenerzählungen einer narratologischen Analyse offen stehen und für die Interpretation der Dialoge möglicherweise mehr Bedeutung haben, als bisher gesehen wurde. Insbesondere dienen die Rahmenerzählungen dem Transfer ägyptischer monastischer Spiritualität und Praxis in den Kontext Galliens, für den Cassian schreibt. Interessanterweise werden gerade kontroverse T hemen ausführlich erzählerisch gerahmt. Die Analyse richtet sich insbesondere auf die Betrachtung der Erzählebene, der Fokalisierung, der Frage nach diegetischem und mimetischem Modus sowie auf die Verteilung des Berichts auf unterschiedliche Erzähler- und Reflektorfiguren. Anhand der narrativen Einführung der Figuren des Chaeremon und T heonas macht Schenk plausibel, dass Cassian durch diesen Anmarschweg
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seinem Leser „zu einer eigenen Erstbegegnung mit dem Mönchtum verhilft“, wobei der Autor sich selbst in unterschiedliche Positionen begibt und auf diese Weise seine Ansicht, um der Vollkommenheit willen sei sogar eine Ehescheidung möglich, vortragen und sogleich relativieren kann. Im Corpus der Collationes ergibt sich damit eine „zunehmende Weitung der narrativen Perspektive“, zumal durch die Einführung weiterer Erzähler- und Reflektorfiguren. Auf diese Weise wird die in den Dialogen vorgetragene Lehre durch Einblicke in das Leben und die Erfahrung der Protagonisten – der Altväter, aber auch Cassians in verschiedenen Lebensphasen – für die Lesenden nachvollziehbar, was zum Erfolg der Unterweisung beiträgt. Noch einmal kommen Sulpicius Severus’ Martinsschriften bei dem Althistoriker Jan Seehusen (Universität Hamburg) in den Blick, diesmal allerdings hinsichtlich ihrer eigenen Wirkungsgeschichte in gallischen hagiographischen Texten des 5. und 6. Jahrhunderts, der Vita Genovefae und der Vita Germani Autissiodorensis. Über konkrete intertextuelle Bezüge hinaus steht die Konstruktion einer imitatio sanctorum im Blickpunkt, die die imitatio Christi, die für Heiligkeit konstitutiv ist, sozusagen iterativ in immer neue Lebenswelten einzeichnet. Sind es bei Germanus motivische Verbindungen zu Martin, so wird dieser in der Vita Genovefae sogar ausdrücklich genannt und zu einer weiblichen Heiligen in Beziehung gesetzt. Die textlichen Beziehungen liegen in ihrer Deutlichkeit zwischen „Anspielung“ und „Zitat“ und werden von Seehusen als „Benennung zentraler Motivverbindungen aus älteren Heiligenerzählungen“ klassifiziert. Im Unterschied zu kontrastiven Deutungen plädiert er dafür, dass Germanus von Martin her Legitimation erfuhr, gerade auch im Blick auf Erzählelemente, die in der Vita Martini keine Rolle spielten, wie z.B. die Funktion des Heiligen als Gesandter. In noch höherem Maße beglaubigt der Rekurs auf Martin das für eine Frau ungewöhnliche, ja anstößige – in der Logik der Erzählung aber zwingend notwendige – Handeln Genovefas. Dass in ihrer Vita wiederum Germanus auftritt, enthüllt ein Netzwerk gallischer Heiliger, die auf Martin bezogen bleiben, aber jeweils eigene Akzente setzen. Seehusen folgert, dass „die Martins-Überlieferung als Fokalisationspunkt diente, um Platz für andersartige Heilige im hagiographischen Diskurs zu schaffen“. Den Abschluss macht der Kirchhenhistoriker Christoph Brunhorn (Universität Göttingen) mit Beobachtungen zur biblischen Text-Welt, in die Kyrill von Skythopolis im 6. Jahrhundert die Mönchsheiligen der judäischen Wüste einzeichnet. Anhand des Schlussabschnitts der Vita Sabae zeigt Brunhorn, wie die Intertextualität mit alttestamentlichen Texten (Exodus, Jesaja und Psalmen) zur Interpretation der Gegenwart hoffnungstiftend fruchtbar gemacht wird. Die Erfahrungen des Volkes Israel mit Gott werden zur intertextuellen Blaupause für ein gelingendes monastisches Leben in der ausgehenden Spätantike. „Biblioforme Figuration“ dient dabei als hagiographische Strategie, um die Spannung, in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein, so aufzulösen, dass zumindest der Mönch in der Welt ganz bei sich selbst sein kann. Die Bibel wird dabei zum Medium einer „Kosmo-
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poiesis“, die allerdings nicht zu einer Phantasiewelt, sondern zum bewussten Einleben in eine normative Text-Welt führt, die offensichtlich die Umwälzungen der Jetztzeit erfolgreich zu bewältigen half.
7. Fazit und Ausblick: Dreizehn T hesen Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Herangehensweisen und T hemen eröffnet neue interdisziplinäre Perspektiven in methodischer und theoretischer Hinsicht. Insgesamt ergibt sich daraus ein differenziertes Bild auf spätantike Text-Welten und die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Erforschung. Im Mittelpunkt dieses Bandes stehen christliche Texte, die aber in ihren historischen und literarischen Kontexten beleuchtet und vor allem in der beschriebenen Weise methodisch kontrolliert untersucht werden. Die Erträge, die sich aus diesem Zugang ergeben, seien in Form einer (unabgeschlossenen) Reihe von T hesen zusammengefasst: 1. Die methodischen Bezugnahmen auf das begriffliche Instrumentarium intertextueller und narratologischer Zugänge zu Texten müssen sich in der praktischen Anwendung auf spätantike Texte bewähren. Im Blick auf die in diesem Band dokumentierten Probebohrungen lässt sich festhalten, dass es keine grundsätzlichen Spannungen zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Analyse gibt. Vielmehr können die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Zugänge einander unter bestimmten Fragestellungen ergänzen. 2. Die Begriff Intertextualität beschreibt den Umgang mit Texten in anderen Texten. Gerade diese offene Definition erlaubt es, ein sehr komplexes Phänomen auf den Begriff zu bringen. 3. Bei der narratologischen und intertextuellen Analyse von Texten ist zu berücksichtigen, dass sich Intertextualität seitens des Autors nur bis zu einem bestimmten Grad steuern lässt und dass die Rolle der Rezipienten bei der konstruierenden Wahrnehmung eines Textes von großer Bedeutung ist. 4. Die Zusammenschau von historischem Diskurs und literarischen Trägern des Diskurses stellt eine wechselseitige Bereicherung in Hinblick auf die jeweiligen Forschungsfragen dar. Damit wird deutlich, dass die Anwendung beider methodischer Zugänge zu einem besseren Verständnis sowohl eines Textes als auch seiner Kontexte beiträgt. 5. Als eine grundlegende Unterscheidung im Umgang mit narrativen Texten hat sich die narratologische Differenzierung von Autor, Erzähler und Figur erwiesen. Diese Unterscheidung führt zu einer kritische(re)n Haltung gegenüber den Texten.
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6. Unter dem Begriff der Fokalisierung lassen sich Prozesse der Ein- und Zuschreibung von Werten seitens des Autors bzw. Erzählers erfassen und ordnen. Zudem wird durch diese Perspektive auf die intradiegetischen Figuren erkennbar, wer wem welche Werte (z.B. Heiligkeit) und Bedeutungen zuschreibt.47 7. Die literarische Aufnahme autoritativer/normativer/heiliger Texte als Intertexte kann der Autorisierung eines Textes und den durch sie vermittelten T hemen, Leitmodellen, Figuren usw. dienen. Eine Rückwirkung der Träger eines bestimmten Diskurses auf den umfassenderen Diskurs ist hierdurch möglich und wird von Autoren häufig auch erkennbar angestrebt. Narrative Texte sind als solche in hohem Maße von dem Interesse geleitet, Identität(en) zu konstruieren. 8. Die in hagiographischen Texten verwendeten Topoi und Typologien gehören vielfach zum literarischen Instrumentarium von antiken Schriftstellern, dessen Beherrschung in der Rhetorenschule vermittelt wurde. An der Auswahl dieser darstellerischen Strategien und der damit verknüpften Texttraditionen kann beobachtet werden, mit Hilfe welcher literarischen Vorgaben die je eigene Gegenwart beschrieben und verstanden wurde – und welche Kenntnisse bei den Rezipienten erwartet oder erhofft wurden. 9. Die Einbindung der Rezipientenperspektive hat gezeigt, dass die Wirkung von Texten auf ihre Rezipienten ein ganzes Spektrum an (z.B. emotionalen und kognitiven) Effekten umfassen kann, das von Anstößigkeit bis zu Identifikation reicht. So können hagiographische Texte nicht nur als Literatur mit dem Ziel von Erziehung und (Selbst-)Bildung gelesen werden, sondern auch als Unterhaltung, die wiederum Momente von Erziehung und Bildung einschließen kann. 10. Die Frage nach möglichen Intertexten in einem Text führt daher auch zur Frage nach dem Wissen und der Bildung des Autors, seiner Umwelt und seiner Rezipienten. 11. Zitate und Anspielungen haben sich als Kategorien zur Analyse intertextueller Bezugnahmen bewährt. Allerdings gehen diese beiden Begriffe nicht im Begriff von Intertextualität auf, sondern stellen eine Facette dieses Phänomens dar. 12. In den Texten lassen sich performative Aspekte von Intertextualität (Ich-Modellierung, Autor-Modellierung) beobachten. Der Gebrauch von Intertexten seitens der Autor*innen und die Art und Weise ihres Einbezugs in den jeweils untersuchten Text erlauben Rückschlüsse auf die Person des Autors oder der Autorin und sein bzw. ihr Selbstbild, das literarisch vermittelt werden soll. Weitere Aspekte von Performanz48 sind dabei nicht ausgeschlossen. 47 Ausgehend vom Begriff der Fokalisierung ließe sich die Frage nach der literarischen Entstehung und Vermittlung von Werten im Sinne der sogenannten Make-Believe-T heory weiter untersuchen (vgl. Nordrum/Bareis 2015 und bereits Walton 1990). 48 Vgl. Fuhrer/Renger 2012.
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13. Die Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Phänomenen und ihre Darstellung führen zu der Einsicht, dass die wissenschaftliche Darstellung von Intertextualität eigentlich die Darstellung heutiger und früherer Rezeptionspotenziale ist. Entsprechend der Grundcharakteristik von Intertextualität, die gerade in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung grundsätzlich als Tätigkeit und Produkt der Rezipienten gesehen wird, kann es keine abschließende Zusammenstellung intertextueller Bezüge zwischen Texten geben.*
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Bio-Historiographie Zur Funktion biographischer Modellierungen in römischer Geschichtsschreibung und Hagiographie T herese Fuhrer 1. Vorbemerkungen: zum Konzept der ‚Bio-Historiographie‘ In der modernen Geschichtswissenschaft war lange Zeit, offenbar als Reaktion auf die Heroisierung oder auch Dämonisierung bestimmter Figuren in der jüngeren Geschichte, die Tendenz erkennbar, nicht mehr (nur) einzelnen Persönlichkeiten, sondern auch oder vor allem bestimmten Konstellationen von Akteuren sowie Institutionen und Lokalitäten Bedeutung zuzuschreiben.1 In jüngerer Zeit ist dagegen unter dem Stichwort ‚biographical turn‘ eine Gegenbewegung wiederum hin zur (mikrohistorischen) Individualbiographik auch in der Geschichtsschreibung und damit zur ‚Bio-Historiographie‘ eingetreten.2 Dabei interessieren nicht allein die historisch relevanten Daten der in einem Umfeld repräsentativen Gestalten, sondern auch die Texte selbst, die deren Lebensleistungen ins Zentrum stellen oder biographisches Material für bestimmte Zwecke (Ereignisgeschichte, Memorialkultur wie Nachrufe, Leichenreden) nutzen.3 Literarische ‚Porträts‘4 oder auch biographische Einlagen und Vignetten innerhalb eines Narrativs geben ihrerseits 1 Zur Begründung wird jeweils verwiesen auf T homas Carlyle’s Ausspruch „T he history of the world is but the history of great men“; dazu Götz 2008, 51; vgl. ebd. 53 zum Historiker Wilhelm Ostwald, der ebenfalls als „Verfechter des Mythos von der Geschichts- und Kulturmächtigkeit der ‚großen Männer‘“ bezeichnet wird. Vgl. dazu die Beiträge im Sammelband von Coudry/Späth 2001. 2 Die Begriffe „Individualbiographik“ sowie „Bio-Historiographie“ (mit Bezug auf T homas Carlyle) stammen aus Götz 2008, 52 f. Zum ‚biographic(al) turn‘ vgl. Swain 1997, 36. Einen Überblick bieten Renders u.a. 2016, die in ihrer Einleitung den ‚turn‘ mit der Frage nach der in der Handlungstheorie und in den Sozialwissenschaften entwickelten Begriff der ‚agency‘, dem Handlungsvermögen von Akteuren in einem bestimmten Handlungsspielraum, begründen. 3 Vgl. dazu die Beiträge in dem Sammelband von Renders u.a. 2016, im Besonderen von Binne de Haan („Personalized History: Biofiction, Source Criticism and the Topicality of Biography“), Joanny Moulin („T he Life Effect: Literature Studies and the Biographical Perspective“) und Christian Klein („Biography as a Concept of T hought: On the Premises of Biographical Research and Narrative“). 4 Den Begriff verwenden Edwards/Swain 1997 im Titel ihres Sammelbandes.
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Aufschluss über historische, soziale, politische und kulturelle Phänomene und Diskurse in ihren lebensweltlichen und kulturellen Kontexten: in der Frage nach der Exemplarität von Lebensläufen und der Vermittlungsfunktion weiterer ‚Botschaften‘ oder nach der Bedeutung memorialer Techniken der Lebensdarstellung. Dies sind Fragen, die in der altertumswissenschaftlichen Forschung bereits länger gestellt und diskutiert worden sind, da zumal in den klassisch-antiken Texten die Möglichkeiten einer ethisch-exemplarischen, politischen, enkomiastischen usw. Funktionalisierung biographischer Informationen oft genutzt werden.5 Der Terminus ‚Bio-Historiographie‘ bietet sich für meine folgende Textanalyse deshalb an, weil er auf ein breites Spektrum von Textsorten oder -gattungen anwendbar ist. Die spezifische Differenz zwischen ‚Biographie‘ und ‚Historiographie‘ lässt sich zwar prinzipiell durch ihren je unterschiedlichen Fokus bestimmen, ausgehend von der Frage, ob die Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen erzählt oder ob die eine Menschengruppe, Stadt oder Nation betreffende Ereignisgeschichte dargestellt wird. Doch wird bereits in der antiken Diskussion betont, dass die Grenzen nicht immer klar zu ziehen sind: zum einen, weil sich die Text sorten in Bezug auf Quellenbenutzung und Methoden wenig unterscheiden, zum anderen, weil die Historiographen sowie ihr Publikum immer auch oder sogar in erster Linie an den Handlungsträgern der Ereignisgeschichte und damit an biographischen Informationen interessiert sind.6 Relevant bleibt letztlich die Frage nach der Funktion biographischer Informationen in einer im Prinzip beliebigen Textsorte, die je nach T hematik oder Entstehungskontext in unterschiedlichem Maß biographisches, d.h. den ‚Bios‘ eines Individuums betreffendes Material verwendet.7 Je nach historischem Kontext und politisch oder kulturell geleitetem Diskurs wird dem Wirken einzelner Akteure mehr oder weniger Bedeutung zugeschrieben. Dementsprechend variieren Umfang und Frequenz biographischer Einlagen innerhalb historiographischer Narrative. So enthalten beispielsweise Tacitus’ Annalen, in denen die monokratische Macht der julisch-claudischen Kaiser und der Mitglieder von Familie und Hof im Zentrum steht, deutlich mehr und detailliertere Informationen über Herkunft, Jugendjahre, kulturelle und politische Bildung und Sozialisierung der historischen Akteure als Livius’ römische Universalgeschichte, in der die Genese der Stadt und der Macht Roms leitendes T hema ist.8 5 Vgl. die Beiträge in den Sammelbänden von Edwards/Swain 1997 und De Temmerman/ Demoen 2016 sowie auch Hägg 2012. 6 Dazu jetzt Schorn 2018, bes. 365−391 und 431−450; vgl. Stadter 2007; Schepens 2007 (gegen Stancliffe 1983, 88) sowie die jüngst erschienenen Bände der Abteilung „IV. Biography and antiquarian literature. A. Biography“ im Rahmen der Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist, ‚Der neue Jacoby‘). 7 Zum Begriff ‚biographisches Material‘ vgl. Stadter 2007, 528 f. Edwards/Swain 1997 sprechen im Titel von „biographical representation“, Swain 1997 von „biography and biographic“ bzw. „biographic literature“ oder „biographical approaches“, um die Gattungsgrenzen als fließend zu markieren. 8 Zur Nähe von Tacitus’ Annalen zum Genre ‚Kaiserbiographien‘ vgl. O’Gorman 2011,
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Doch sind nicht allein Machtpolitiker und politische Handlungsträger Gegenstand biographischer Darstellungen: Je nach Textsorte und inhaltsbezogenem Kontext sind die historischen Akteure (beiderlei Geschlechts), deren Biographie zumindest ausschnittweise erzählt wird, von unterschiedlichster staatspolitischer, militärischer, religiöser, kultureller Bildung und Bedeutung, sie stammen aus allen sozialen Schichten, agieren in verschiedensten Rollen. So lassen sich sowohl im Corpus der Textsorten, in denen das curriculum vitae eines Individuums im Zentrum steht, als auch in Texten mit anderem Fokus einerseits philosophische, historisch-politische, literatur- und kunsthistorische, lexikalische, enkomiastische bzw. panegyrische Interessen an einem oder auch mehreren Akteuren bzw. deren Lebensgeschichte erkennen und unterscheiden, andererseits variieren sowohl Quantität und Funktion biographischer Texte bzw. der Einlagen mit biographischem Material.9 So gesehen wird nicht allein der Unterschied zwischen Historiographie und Biographie im Prinzip irrelevant, sondern auch die Frage, welcher konfessionellen Gruppe der Autor und die dargestellten Figuren angehören. Auch die Grenzen zwischen (paganer) Biographie und (christlicher) Hagiographie werden damit fließend: Merkmale wie ‚Wundertaten‘ und ‚panegyrische/tendenziöse Darstellungsabsicht‘ finden sich sowohl in paganen wie auch in christlichen biographischen Darstellungen,10 ebenso das Element der Legendenbildung und Fiktionalisierung.11 Die Heterogenität bio- und hagiographischer Textsorten und auch die Unterschiedlichkeit von Form und Funktion der in Texten eingefügten biographischen Daten lassen sich daher nur schwer systematisch fassen. Entsprechend dem Versuch, den unterkomplexen Begriff ‚Hagiographie‘ durch den Sammelbegriff des ‚hagiographischen Diskurses‘ zu ersetzen,12 werde ich im Folgenden von biographischen Informationen sprechen, die entweder in ein nicht primär biographisches Narrativ eingeschoben sind oder die die Grundlage eines Textes bilden, die aber auch den Unterschied heraushebt (auch mit Bezug auf die Historien): „While Tacitus’ historical work scrutinizes both emperors and senators as actual or political agents, within the narratives of the Suetonian Lives and the HA, political efficacy seems largely limited to those holding or aiming at the position of princeps“ (Zitat S. 312). 9 Dazu Stadter 2007, 529−531; Tsakmakis 2018, 328: „Despite a typological variant (a bios could be a narrative text or not; written with literary ambitions or not; historical or fictional; extending over several books or extremely condensed, as e.g. an encyclopedic entry, ect.), a connecting factor across all types of Greek bioi is the pragmatic pre-supposition that their content is aligned to an implicit pattern: the prototypical narrative structure of human life.“ Schepens 2007, 350 spricht von „Bio-Strukturierung“ der Erzählung (hier bezogen auf T heopomps Philippika). 10 Dazu am besten Hofmann 1997, 443−457 („Hagiographie als Historiographie“). Zum Element der ‚Wundererzählungen‘ in der paganen Biographie vgl. Tsakmakis 2018; zur panegyrischen Funktion hagiographischer Texte vgl. Gray 2017. 11 Dazu unten Abschnitt 3. 12 Zum Begriff des ‚hagiographischen Diskurses‘ vgl. die (kritische, s.u. Anm. 57) Diskussion von Gemeinhardt 2014 (in einem Sammelband mit dem offen formulierten Titel Hagiographic Life Writing).
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der als Ganzes dem ‚Bios‘ eines Menschen gewidmet ist und daher als ‚Biographie‘ im engeren Sinn einer ‚biographischen Monographie‘ bezeichnet wird. Auch die Frage der ‚Heiligkeit‘, die mit dem Präfix ‚hagio-‘ aufgerufen wird,13 und der damit implizierten Vollkommenheit des Menschen, den diese Informationen betreffen, kann daher zunächst sekundär bleiben. Dennoch wird sie natürlicherweise als Gattungsmerkmal wichtig für die Texte, die sich dem hagiographischen Diskurs zuordnen lassen. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist das Kriterium der (moralischen) Vollkommenheit oder der Fallibilität der Akteure auch für die Analyse und Interpretation biographischer Informationen in historiographischen Texten, die auf die säkulare Geschichte fokussiert sind, relevant.
2. Fragestellung: zur spezifischen Differenz paganer und christlicher Bio-Historiographie Im Folgenden möchte ich am Beispiel der auto(r)biographischen14 Aussagen und einer Reihe biographischer Porträts in den historischen Schriften des römischen Geschichtsschreibers Sallust, dem Bellum Catilinae bzw. dem Bellum Iugurthinum, im Vergleich mit der Selbstaussage des Sulpicius Severus in der Praefatio im ersten Kapitel seiner Vita Martini zu zeigen versuchen, in welchen Punkten sich pagan-antike, säkulare Biographik und christliche Hagiographik doch auch grundlegend unterscheiden bzw. wie sich diese von jener absetzt. Die beiden Autoren Sallust und Sulpicius Severus eignen sich deshalb als Gegenstand einer textanalytisch gestützten Synkrisis, weil zumindest in der Praefatio der Vita Martini der intertextuelle Bezug auf Sallust deutlich erkennbar ist und offensichtlich auch erkennbar sein soll.15 Severus erarbeitet im ersten Kapitel der Vita Martini eine fast programmatische Definition von Form und Funktion christlicher Biographik, indem er die Zielsetzung sowohl der christlichen Lebensführung als auch der hagiographischen Texte klar von der säkularen Ausrichtung der paganen historiographischen Literatur absetzt. Die vergleichende Analyse der Texte beider Autoren kann insofern exemplarischen Wert beanspruchen, als sie prinzipiell auch auf andere Typen antiker biographischer Literatur übertragbar ist. Die folgenden Beobachtungen können, wie ich meine, auch für Nepos’, Suetons oder Plutarchs biographische Monographien sowie für weitere Texte der Gattung ‚Biographie‘ gelten, ebenso für biographische 13
Dazu Hofmann 1997, 443. Zum Begriff sowie zu Sallusts Autor-Selbstporträt vgl. Fuhrer (im Druck a). 15 Dazu Stancliffe 1983, 58 f., bes. 59: „T he opening of the Vita Martini appears to have been written as a kind of conscious dialogue with Sallust.“ Vgl. Fontaine 1967, 103−106; Fontaine 1968, 394−401.419−425; Smolak 2002; Burton 2017, 4.31 f.41.133.139−141. Huber-Rebenich 2010, 108−111 spricht – im Anschluss an Jacques Fontaine und Walter Berschin − von „ars poetica der christlichen Kunstprosa und Biographie“ (S. 110); so auch Praet 2016, 135 f. 14
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Einlagen in der griechischen und römischen Geschichtsschreibung. Auch lässt sich der Vergleich mit jedem hagiographischen Text anstellen, der die Lebensgeschichte christlicher Asket/innen, Mönche, Märtyrer/innen und/oder ‚Heiliger‘ erzählt. Meine T hese, die ich hier vorstellen und an den Texten Sallusts und Severus’ und den darin porträtierten Figuren plausibilisieren will, lautet: Die antike historiographische Literatur präsentiert biographisches Material prinzipiell mit der Funktion einer Diagnose historischen Geschehens. Die Informationen über daran beteiligte Akteure dienen dazu, kausale Zusammenhänge zwischen deren Handeln und der Ereignisgeschichte deutlich zu machen oder auch in Frage zu stellen. Die Handlungsträger erhalten je nach Ausmaß ihrer staatspolitischen oder handlungsstrukturierenden Bedeutung eine differenziertere Porträtierung, werden mit mehr oder weniger Stärken und Schwächen ausgestattet oder mehr oder weniger schillernd modelliert und ambiguisiert.16 Die Züge der christlichen ‚Heiligen‘ sind dagegen nie ambig, ihr Verhalten ist immer ohne Fehl(er) und Tadel, und die Bewertung ihres Handelns und Wirkens ist immer klar und unmissverständlich positiv. Selbst im Vergleich mit den Protagonisten der paganen enkomiastischen Biographik, beispielsweise mit Tacitus’ Agricola im Agricola, erscheinen die Märtyrer und Heiligen abgeklärter und über alle Zweifel und Kritik erhaben; ihre Lebensläufe sind zwar ebenfalls nicht geradlinig, und die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, erfordern – gemessen an den Widerständen, denen die (säkular)historischen Akteure ausgesetzt sind – teilweise übermenschliche Fähigkeiten und Wundertaten. Doch genau darin wird auch der Unterschied deutlich: Die Figuren in hagiographischen Texten sind entsprechend den ihnen begegnenden Herausforderungen so modelliert, dass sie genau diese enormen Leistungen und Wunder erbringen können, alle Widerstände und Widersacher überwinden und dem ‚Guten‘ zum Sieg verhelfen können.17 Dagegen sind selbst in der säkularen panegyrischen Biographik die Lebensleistungen eines Menschen nie ohne Uneindeutigkeiten positiv gewürdigt.18 Als differentia specifica zwischen Biographik und Hagiographik lässt sich – so meine T hese – mithin das Merkmal der Eindeutigkeit bzw. Ambiguisierung in der Darstellung und Kommentierung der Lebensleistungen der Akteure festhalten. Damit muss auch die Frage nach der Fiktionalität der Darstellung in den Hintergrund treten: Die gattungsbedingte Notwendigkeit der positiven Würdigung und der Einschränkung auf die gelingenden Leistungen in der Darstellung des ‚Bios‘ eines ‚Heiligen‘ drängt den Anspruch auf Historizität in den Hintergrund oder verdrängt ihn ganz aus dem Erwartungshorizont.19 16 Dazu Fuhrer 2018, bes. 425–428 und Fuhrer 2019. Zur narrativen Strategie der Ambiguisierung vgl. Scheffel 2009. 17 Vgl. dazu Burton 2017, 2−28, der die Christus-Darstellung der Evangelien zum Vergleich heranzieht. 18 Vgl. Sailor 2011, 51−118, bes. 71 f. und 91.101 zu Tacitus’ Agricola. 19 Dies betont auch Turner 2012, bes. 70, der die Hagiographie als Form von ‚literarischem Realismus‘ bezeichnet („literary realism“).
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Wichtig für die folgende Analyse ist auch die Frage nach dem historischen Diskurs, in den die Texte – das Bellum Catilinae bzw. Iugurthinum und die Vita Martini − und ihre Autoren − Sallust und Severus − je gehören und in dem sie gegenüber dem Lesepublikum wirken wollen, die Frage also, wie und mit welcher deutenden oder sinnerzeugenden Wirkungsabsicht biographische Informationen und Narrative in bestimmten politischen, ethischen, philosophischen und/oder theologischen Diskussionen eingesetzt werden.20 Dabei soll es nicht um die Historizität der erzählten biographischen Daten und ‚Fakten‘ gehen, auch nicht in erster Linie um die Figuren selbst, die Gegenstand der bio- bzw. hagiographischen Porträts sind, sondern vielmehr um die Frage, welche Funktion ihre Modellierung in den Texten selbst jeweils hat und welche Strategie mit der Darstellung ihrer je unterschiedlichen Eigenschaften, Verdienste, Erfolge und auch Misserfolge in einem weiteren Kontext verfolgt wird. Ich werde im Folgenden die T hese zu plausibilisieren versuchen, dass sich pagan-historische und christlich-hagiographische Biographik grundsätzlich dadurch unterscheiden, dass jene mehr an scheiternden Akteuren und misslingenden Taten interessiert ist, während diese ausschließlich das gelingende Leben der Protagonisten beschreibt und die Perspektive auf das ‚ewige Leben‘ im Jenseits aufzeigen will.
3. Biographie als Erzählung Mit dem im Zuge des ‚biographical turn‘ verstärkten Interesse an der ‚Bio-Historiographie‘ und damit an biographischen Narrativen einher geht die in der Geschichts- wie auch der Erzählforschung oft gestellte Frage nach der Bedeutung narrativer und dabei auch fiktiver Elemente in der Beschreibung historisch relevanter Ereignisse. Wie die moderne Erzählforschung im Anschluss an Hayden White gezeigt hat, können historisches Geschehen und dokumentarische Daten durch die Narrativierung (das ‚emplotment‘) mit einem „narrativen Sinn“ versehen werden.21 In biographischen Darstellungen historischer Akteure sind die Möglichkeiten der Fiktivierung dadurch eingeschränkt, dass die Protagonisten, Akteure bzw. Handlungsträger22 eine reale Existenz außerhalb des Textes haben. Doch sind die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bzw. faktualem und fiktionalem Erzählen in der antiken historiographischen und biographischen Literatur fließender als in der modernen;23 in frühchristlichen hagiographischen Texten
20 Zu dieser Fragestellung in der historischen Diskursanalyse vgl. Gemeinhardt 2014, 24−29. Zur diagnostischen Funktion antiker Geschichtsschreibung vgl. Hose 1994, 23−52. 21 Zum ‚emplotment‘ und zur Erzähler-/Autorstimme vgl. Munslow 2007, 36−38.44−50; zum „narrativen Sinn“ Martínez/Scheffel 2016, 157; Rohbeck 2015, 96−102 spricht von „Handlungssinn“. 22 De Temmerman 2016 nennt diese „biographees“ (so z.B. S. 9). 23 Um den (in der Narratologie problematisierten) Gegensatz zwischen ‚faktual‘ und ‚fik-
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kann dies, da hier das von ‚Heiligkeit‘ und Wundern geleitete Wirken der historischen Figuren erzählt wird, umso mehr gelten.24 Die narrative Modellierung der Akteure selbst ist in der antiken Geschichtsschreibung nicht anders als in der fiktionalen Literatur immer auch von literarischen, insbesondere rhetorischen Techniken geleitet.25 Sie dient der Ursachenanalyse, mit der Erfolg und insbesondere Scheitern der Leistungsträger und/oder einer politischen und sozialen Gruppe in der Vergangenheit aufgezeigt werden sollen. Eine wichtige Rolle spielt auch der Vergleich mit früheren Ereignissen und daran beteiligten Akteuren: Der Bio-Historiograph modelliert und interpretiert ein Geschehen oder eine historische Figur, indem er durch intertextuelle Bezüge an bestimmte, in der (‚schönen‘) Literatur vorgeprägte Darstellungen von Handlungsverläufen und -schemata oder modellhaft gezeichnete Figuren und Präfigurationen erinnert. So wird deutlich, dass biographische Porträts für die literarische Charakterzeichnung in zweifacher Hinsicht wichtig sind: Sie bieten zum einen eine Palette historisch und auch typologisch fixierter Codes, mit denen ein neues Porträt semantisiert werden kann, zum anderen eine Folie sowohl für positive, identitätsstiftende als auch für negative, distanzierende Exemplarität.26 Ein bestimmtes Element – Herkunft, Erfolg, Scheitern, Sterben – in der Biographie eines ‚Helden‘ der römischen Geschichte kann in seiner Modellierung dazu dienen, sowohl die historische Persönlichkeit als auch das Geschehen in bestimmter Weise zu konnotieren: ihr eine historische Dimension zu geben, sie zu typologisieren, sie als über- oder unterlegen, als taktisch, politisch, intellektuell oder moralisch ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ erweisen zu können.27
tional‘ zu umgehen, zieht Jaeger 2009 den Begriff der ‚deskriptiven‘ demjenigen der ‚faktualen‘ Erzählung vor. 24 Dazu jetzt De Temmerman 2016; vgl. auch Turner 2012. 25 Zur Rolle der aus der antiken Rhetorik-Theorie bekannten Topoi der Charakterisierung von Personen vgl. De Temmerman 2010; Gray 2017, 108 f. 26 Zur Funktion der Exempla als Leitbilder in der römischen Historiographie vgl. Langland 2018; Roller 2018; zur christlichen Rezeption bzw. Weiterführung der Tradition vgl. Gemeinhardt 2014, 24−35; zum damit verbundenen Konzept der imitatio (Christi) vgl. Burton 2017, 39 f. 27 Zur Modell-Funktion von Figuren-Darstellungen oder -porträts in antiken biographischen Texten vgl. De Temmerman 2016, 21−25 („archetypal paradigm“); zur Rolle der ‚Figuration‘ in historiographischen Texten allgemein vgl. Munslow 2007, 35 f. Zur (biblischen) Tradition der typologischen Modellierung vgl. Burton 2017, 32−40, bes. 36 zum Begriff der ‚historischen Typologie‘, mit der jeweils mehrere mythische und historische Akteure als ‚typähnlich‘ oder sogar als jeweils neue Personifikation des oder der Älteren bzw. diese als Präfiguration des/der Späteren verstanden werden oder auch sich selbst als solche darstellen können (z.B. Augustus als neuer Romulus oder Camillus, Aeneas als Präfiguration des Augustus, Martin von Tours als figura Christi).
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4. Sallusts historiographische Porträts Mit exemplarischen Analysen aus den beiden historischen Monographien des römischen Geschichtsschreibers C. Sallustius Crispus möchte ich zeigen, wie und in welcher Funktion biographische Informationen im Prozess der Darstellung und Deutung der Ereignisgeschichte eingesetzt werden. Sallust war in den 50er Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts als Parteigänger Caesars selbst in der Politik aktiv; in den 40er Jahren, nach Caesars Ermordung bis in die ersten Jahre nach Beginn der darauf folgenden Bürgerkriege, widmete er sich seinem historiographischen Projekt, ausgewählte Episoden der römischen Geschichte zu beschreiben, die, wie er in der Praefatio seines Bellum Catilinae sagt, einer Deutung der Gegenwartsgeschichte nach dem Zerfall der republikanischen Staatsordnung dienen sollten (4,2). Informationen über ihre Leistungsträger, die Mitglieder der römischen sozialen und/oder politischen Elite sind und deren kulturelles Niveau und moralische Ansprüche und Defizite repräsentieren, sind für das Verständnis komplexer historischer Zusammenhänge wichtig. Deren ‚Bioi‘ können gleichsam als Symptome für die Befindlichkeit des Staatswesens gedeutet werden. 4.1. Ein Auto(r)porträt Im Bellum Catilinae stellt Sallust seiner Darstellung der ‚Verschwörung Catilinas‘ (66−63 v. Chr.) eine autobiographische Skizze voran, in der er die Aufgaben eines römischen Geschichtsschreibers umschreibt (Catil. 3,3−4,2).28 Mit den Ich-Aussagen konstruiert er seine Autor-persona als Figur, die selbst in der Politik aktiv war: Als Jüngling sei er Opfer einer korrupten politischen Umwelt geworden, der er sich in bestimmtem Maß entziehen und widersetzen konnte, der jedoch infolge seines Ehrgeizes selbst korrumpiert und von übler Nachrede und Neid verfolgt wurde (4,2). Die Autor-Figur erscheint als ein im Prinzip ‚anständiger‘, jedoch von der römischen Gesellschaft korrumpierter Jugendlicher,29 der jetzt, im fortgeschrittenen Alter, geläutert ist und nun endlich sein bereits in jungen Jahren begonnenes Projekt realisieren kann, die res gestae anderer darzustellen. Die Ich-Aussagen ergeben für sich genommen – d.h. ohne weitere faktuale Informationen zur Biographie des C. Sallustius Crispus – das Bild eines Autors, der über die nötige Erfahrung und ein kompetentes Urteil verfügt, um nun ein bestimmtes, erinnerungswürdiges historisches Ereignis (memoria digna) angemessen zu beschreiben und
28 Der hier zugrunde gelegte Text des Bellum Catilinae ist der OCT von Reynolds 1991 (pp. 5−53). Mit Ramsey 2007, 22 bezeichne ich den Text Catil. 1−4 als Proöm; anders Vretska 1976, 20.121 (bis Kap. 16). Zum Titel Bellum Catilinae oder Catilinarium vgl. Ramsey 22007, 5 Anm. 9. Zur Funktion der Selbst-Modellierung des historiographischen Autors allgemein vgl. Munslow 2007, 45−47. 29 So Catil. 3,3: ibique mihi multa advorsa fuere. nam pro pudore, pro abstinentia, pro virtute audacia, largitio, avaritia vigebant.
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zu analysieren.30 Der Ich-Schreiber figuriert sich als Beispiel eines fehlgeleiteten römischen adulescentulus, als Analogon zu den adulescentes der korrupten römischen Gesellschaft zur Zeit Catilinas, in der alle Voraussetzungen für die späteren Korruptionserfahrungen und auch für die folgenden ‚großen‘ Konflikte und Bürgerkriege bereits gegeben waren. Er fügt sich ein in eine Reihe von korrumpierten jungen Männern, und die Reihe ist nach den Ereignissen der 50er und 40er Jahre des ersten Jahrhunderts v. Chr. fast beliebig erweiterbar. Er ist durch ‚Schaden‘ in der Weise ‚klug‘ geworden, dass er die Mechanismen der Dekadenz und Korruption nun als Historiograph kompetent beschreiben und analysieren kann. Der empirische Autor verfügt damit über die für seinen Gegenstand wichtigen, spezifischen Erfahrungen, um auch weitere Episoden der Ereignisgeschichte, in denen er selbst nicht als Akteur beteiligt war, zu beschreiben, zu deuten und ihre Folgen und Auswirkungen in der eigenen Gegenwart dem Lesepublikum vor Augen zu führen. 4.2. Exponent/innen des (Miss)Erfolgs a) Catilina und Sempronia Auf dieses Auto(r)porträt folgen Informationen zum ‚Titelhelden‘ Catilina (Kap. 5), die gleichsam als ‚moralisches Porträt‘ dem historiographischen Narrativ vorangestellt werden.31 Die biographischen Angaben beschränken sich auf die adelige Herkunft (5,1: nobili genere natus) und die Entwicklung von den Jugendjahren bis in die Zeit der im Folgenden dargestellten Ereignisse (5,2: ab adulescentia […] ibique iuventutem suam exercuit).32 Der Protagonist wird mit einer Reihe von Eigenschaften ausgestattet, die ihn als körperlich und geistig widerstandsfähig und leistungsstark, aber auch als moralisch verderbt und verschlagen charakterisieren (5,3−5). Sein durch kein Maß und keine Scheu begrenztes Verlangen richtet sich nun auf die höchste Macht im Staat, die er nach der Niederlage in den Konsulatswahlen im Jahr 63 v. Chr. mit Gewalt – einem Staatsputsch – erlangen will (5,6). Getrieben ist er dabei auch von privaten Schulden und dem „Wissen um seine Verbrechen“ (5,7: conscientia sceleris) sowie den „verdorbenen Sitten von Staat und Gesellschaft“ (5,8: corrupti civitatis mores). Nach der Exposition der Fakten, die zur catilinarischen Verschwörung im Jahr 63 v. Chr. führen, schiebt sich ein weiteres Porträt in die Erzählung ein, das einer Frau gewidmet ist (Kap. 25). Der Einschub ist durch die Information begründet, dass Catilina die an Luxus gewöhnten und daher käuflichen Frauen für seine Putschpläne instrumentalisieren wollte, die hofften, nach Catilinas Machtergrei-
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Diese Funktion der Ich-Darstellung hebt Marincola 1997, 138−140 hervor. Catil. 4,5: de quoius hominis moribus pauca prius explananda sunt. 32 Die historischen Daten zu L. Sergius Catilina stellen Vretska 1976, 124 f. und Ramsey 2007, 229 zusammen. Zu den Topoi biographischer Porträts vgl. Vretska 1976, 121−124. 31
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fung ihren großzügigen Lebensstil wahren zu können (24,3 f.).33 Als Repräsentantin dieser Gruppe von Römerinnen zeichnet Sallust das Bild der Adligen Sempronia, die durch die Herkunft und soziale Stellung sowie ihre intellektuelle und kulturelle Begabung vom Schicksal begünstigt, jedoch durch ihre Gier nach Luxus, ihre sexuelle Libertinage und die Beteiligung und Mitwisserschaft an illegalen Geschäften moralisch verdorben war. Sempronias Rolle bleibt im historiographischen Narrativ auf diese Stelle beschränkt,34 und so wird die Funktion des Porträts deutlich: Sie ist gleichsam das weibliche Pendant zum Protagonisten Catilina: Beide sind ausgestattet mit den besten Eigenschaften und Voraussetzungen für ein gelingendes Leben. Beide sind sie jedoch Opfer der dekadenten römischen Gesellschaft, deren moralische Ordnung gestört ist und deren Elite, zu der sie selbst gehören, den Verfall nicht aufhalten kann und will.35 Das Bellum Catilinae schließt mit dem Blick auf das Schlachtfeld nach Catilinas Niederlage gegen das römische Staatsheer bei Pistoia im Frühjahr 62 v. Chr. (Kap. 61): Catilinas Truppen hatten sich ausgesprochen tapfer geschlagen, er selbst wird als Held stilisiert, der inmitten der gegnerischen Truppen den Tod gefunden hatte.36 Der Sieg ist für das Heer des Konsuln deshalb nicht glorreich, weil er gegen römische Bürger und teilweise Familienangehörige der Sieger errungen worden war. Der Schluss der Schrift ist aufschlussreich für das Verständnis der historiographischen Leistung Sallusts: Sowohl die historischen Ereignisse als auch die beteiligten Akteure werden immer wieder ambiguisiert; kein Urteil und keine kausale Verknüpfung wird ohne Infragestellung belassen. Der adlige Catilina ist zwar moralisch verkommen und unternimmt den Staatsputsch aus eigennützigen Gründen, doch ist der Staat selbst bereits stark korrumpiert: Die Leistungsträger der späten Republik sind allein nicht in der Lage, ihn zu führen, zu retten, geschweige denn zu reformieren.37 b) Marius und Sulla Das wird in Sallusts zweiter historischer Monographie weiter verdeutlicht, dem Bellum Iugurthinum,38 das auf der Zeitachse der Geschichte noch weiter zurückgeht: Hier stehen Roms Kriege gegen den numidischen Adligen Jugurtha in Nordafrika am Ende des zweiten Jahrhunderts (111−105 v. Chr.) im Zentrum. Zu den wichtigsten Akteuren auf römischer Seite gehört Marius, später Protagonist 33 Zur Funktion der Frauenfiguren in Sallusts Verschwörungsnarrativ vgl. Steenblock 2013, 106−108. 34 Sie wird in anderem Zusammenhang nur noch kurz erwähnt (40,5). Das Porträt hat auch die strukturelle Funktion, den chronologischen Sprung ins Jahr 63 zu überbrücken; dazu Ramsey 2007, 132. Für weitere Erklärungen vgl. Vretska 1976, 347 f. und 354. 35 Dazu auch Fuhrer 2017b und Fuhrer (im Druck b). 36 Vgl. die ‚Würdigung‘ bei Vretska 1976, 689 f. 37 Dazu Fuhrer 2017a, bes. 108–110. 38 Zugrunde gelegt ist hier der OCT von Reynolds (pp. 54−149).
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im Bürgerkrieg gegen Sulla, der seinerseits im Bellum Iugurthinum erst am Schluss auftritt. Beide erhalten an bestimmten Stellen im historiographischen Narrativ je eine biographische Würdigung (Kap. 63 bzw. 95).39 Das Marius-Porträt enthält folgende Informationen: Er stammte aus einer nicht-adligen Familie in der Kleinstadt Arpinum und „übte sich im Kriegsdienst“, also „nicht in griechischer Rhetorik“ und auch „nicht in den Raffinessen der Hauptstadt“.40 Sein unbescholtenes Leben und sein „integrer Charakter“ (63,3: integrum ingenium) wurden in der Folge durch seinen übermäßigen Ehrgeiz fehlgeleitet: Nach einer Reihe von militärischen und politischen Erfolgen erstrebte er das Konsulat, das die Nobilität einem sozialen Aufsteiger nicht gönnte und dem sie entsprechend Widerstand leistete (63,2−7). Im Jahr 107 v. Chr. wird Marius gegen den Widerstand des Adels zum Konsul gewählt; doch bleiben nun die Erfolge im nordafrikanischen Krieg gegen Jugurtha aus. Da tritt Sulla auf den Plan, der schließlich mit diplomatischem Geschick den römischen Sieg herbeiführt, den Marius im Jahr 104 v. Chr. in Rom mit einem Triumph feiert und somit für sich beansprucht.41 L. Cornelius Sulla, der später den Beinamen Felix erhielt, wird in seinem Porträt als Gegenfigur zu Marius gezeichnet: Als Angehöriger des alt-patrizischen Adels erhält er die der römischen Elite angemessene Bildung in griechischer und lateinischer Literatur und gibt sich dem Luxusleben und auch der Ruhmsucht hin. Abgesehen vom unehrenhaften Umgang mit seiner Gattin sei er als guter Redner und schlauer, umgänglicher und großzügiger Mensch bekannt und beliebt gewesen. Seine politischen und militärischen Erfolge, dabei auch den Sieg im Bürgerkrieg gegen Marius, habe er sowohl seiner eigenen Tatkraft als auch den glücklichen Umständen zu verdanken (95,4). Allerdings biete, wie der Erzähler zum Schluss bemerkt, der Ausblick auf seine weiteren Taten – offensichtlich seine Diktatur (82−79 v. Chr.), die blutigen Verfolgungen der politischen Gegner und die Durchsetzung der Privilegien des Adels – Anlass zu Scham oder Verdruss.42 Die beiden Porträts repräsentieren zwei gänzlich unterschiedliche Typen erfolgreicher, jedoch schließlich scheiternder Staatsmänner. Marius ist der unverbildete ‚Haudegen‘ und politische Aufsteiger, der mit der Unterstützung des Volkes und gegen den Willen der herrschenden Klasse an die Macht kommt. Sulla stammt aus der regierenden Schicht, ist gebildet und begabt, aber auch moralisch dekadent. Die beiden gegensätzlichen Charaktere sind später erbittertste Gegner im Bürgerkrieg, der in den 80er Jahren die lange Serie blutiger inner-römischer Auseinandersetzungen einleitete, die bis in die Zeit der Abfassung und Publikation der 39 Die historischen Informationen stellen Comber/Balmaceda 2009, 14−18 zusammen. Zur literarischen Modellierung der beiden ‚Charakter-Bilder‘ vgl. Koestermann 1971, 237−239.338 f. 40 Iug. 63,3: stipendiis faciundis, non Graeca facundia neque urbanis munditiis sese exercuit. 41 Die bekannten Fakten fasst Schmal 2001, 60 f. zusammen. 42 Iug. 95,4: postea quae fecerit, incertum habeo pudeat an pigeat magis disserere.
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Schrift (41/40 v. Chr.) fortdauerte.43 Für das rezipierende Publikum repräsentieren sie die unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen und offensichtlich unvereinbaren ideologischen Positionen in der römischen Politik und illustrieren exemplarisch die Ursachen der Selbstzerstörung der römischen Republik, deren ‚Untergang‘ bereits in zeitgenössischen Diskursen mit dem Beginn von Caesars Diktatur angesetzt wurde. Nicht nur sind ihrer beider Rollen, die sie in der Geschichte der späten römischen Republik spielen, für deren weitere Entwicklung in unterschiedlicher Weise folgenreich; auch sie selbst sind schillernde Persönlichkeiten, deren Streben und Handeln – wie im Fall der Figuren ‚Sallust‘, Catilina und Sempronia − von den äußeren Umständen geprägt und fehlgeleitet sind: Das soziale und politische Umfeld der römischen Republik generiert Fehlverhalten, und dementsprechend müssen die in ihr agierenden Figuren – zumindest phasenweise − moralisch und/ oder politisch scheitern.
5. Sulpicius Severus, Vita Martini: Hagiographie als Biographie des (eschatologischen) Gelingens Gleich zu Beginn der Praefatio der Vita Martini (Kap. 1) distanziert sich die Autor-Stimme des Sulpicius Severus klar von der ‚alten‘ (paganen) Literatur, die sowohl den „Namen“ der Autoren als auch dem von diesen beschriebenen „Leben berühmter Männer“ (vitas clarorum virorum) ein ruhmvolles und bleibendes Andenken verschaffen und mit diesen „Beispielen großer Männer“ (magnorum virorum exemplis) die Leser zum „Nacheifern“ (aemulatio) anstacheln wolle.44 Als Literatur, die der so beschriebenen Memorialkultur45 dienlich sei, können, wie mit den Anspielungen auf Sallust und Tacitus erkennbar gemacht wird,46 die pagane Geschichtsschreibung gelten, aber auch poetische oder philosophische Texte, die einen „dauerhaften Ertrag“ (1,2: perennem […] fructum), die „Erinnerung“ an die eigene Leistung (suam memoriam) und „Ruhm für ihre Schriften“ (scriptorum suorum gloria) erstreben (1,3).47 Severus stellt der ‚Weltbezogenheit‘ und den 43
Sallust hat bis Mitte der 30er Jahre gelebt (das Todesdatum wird um 35 v. Chr. angesetzt) und also den Sieg Oktavians im letzten Bürgerkrieg (31 v. Chr. gegen Marcus Antonius) und den Beginn des Prinzipats (27 v. Chr.) nicht mehr erlebt. 44 Mart. 1,1: memoriam nominis sui quaesierunt, si vitas clarorum virorum stilo il lustrassent; Mart. 1,2: propositis magnorum virorum exemplis non parva aemulatio legentibus excitabatur. Zugrunde liegt der Text der SC von Fontaine 1968, 250−254. 45 Der Begriff memoria erscheint im ganzen ersten Kapitel insgesamt fünfmal (§§ 1, 2, 4 und 6). 46 Deutlich sind die Anspielungen auf Sall. Catil. 1,3 und Tac. Agr. 1,1. Dazu Burton 2017, 140. S. auch oben S. 26 mit Anm. 15. Castelli 2018, 27–32 weist darauf hin, dass im Jahr 393 Hieronymus’ De viris illustribus erschienen war, und vermutet sowohl im Widmungsbrief an Desiderius als auch in Kap. 1 der Vita Martini eine kritische Stellungnahme gegen Hieronymus’ Versuch einer Fortsetzung der paganen biographischen Memorialkultur. 47 Zum Topos der ‚Perennität‘ der literarischen Wirkung kann auf Hor. carm. 3,30,1 und
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diesseits-gerichteten Zielsetzungen dieser Erinnerungspraktiken (der hominum oder inanis ab hominibus memoria) sein Angebot der Ausrichtung auf das „ewige Leben“ (die aeterna oder perennis vita) und den „ewigen Lohn“ (das aeternum praemium) gegenüber, den er für diese Leistung zu erlangen hofft (1,2; 1,4; 1,6).48 Der auf das saeculum beschränkten Glorifizierungsfunktion (1,4: occasura cum saeculo […] gloria), die die pagane Geschichtsschreibung für das „Leben berühmter Männer“ hat, stellt Severus also die Perspektive auf das „ewige Leben“ entgegen. Damit stehen sich auch zwei Konzepte von ‚Leben‘ und ‚Lebensleistungen‘ gegenüber: Das diesseitige Leben eines Menschen, das allein nach den „gegenwärtigen Taten“ (praesentibus actibus) bewertet werden kann, endet − trotz literarisch erzeugter Memoria − mit dem Tod (1,3); dagegen hat der Mensch, der im Diesseits „fromm, gottesgefällig und gottesfürchtig lebt“ (1,4: pie sancte religioseque vivendo) Aussicht auf ein Leben in der eschatologischen Ewigkeit.49 Die Lebensleistung des ‚Frommen‘ ist im Diesseits deshalb ‚erinnerungswürdig‘, weil sie über das diesseitige Leben hinaus auf das ewige verweist und weil ihre Beschreibung auch das Lesepublikum zu einem solchen Leben hinführt. Als Beispiel für ein solches pädagogisch und anagogisch wirksames Leben kann die Martins-Biographie gelten, die vita sanctissimi viri (1,6), die sancti Martini vita (1,7), nicht die eigene des schreibenden Autors (1,6: non ita viximus ut exemplo aliis esse possimus). Umso weniger können dies die in der paganen Literatur und Erinnerungskultur gewürdigten Figuren leisten. Das kann nur ein perfekt lebender Mensch. Damit wird klar, dass der ‚Bios‘ des Martin von Tours notwendigerweise idealisiert werden muss, um die in der Praefatio vorgestellte Wirkung erzielen zu können. Der Protagonist lebt seit frühester Jugend in der Nachfolge Christi, er musste seinen Weg zum ‚frommen Leben‘ nicht erst finden und musste keine Konversion erleben. Severus’ Martin ist „von Anfang perfekt“.50 Es stellt sich die Frage, in welchem historischen Diskurs sich Severus’ Vita Martini verorten will. Die literarisch modellierte Martins-Figur steht weltlichen und klerikalen Hierarchien distanziert gegenüber und repräsentiert das Modell des Rückzugs aus dem säkular orientierten Leben.51 Martin ist gleichsam das Ideal Sall. Catil. 1,1−4 verwiesen werden. Als Beispiele führt Severus Texte an, die Hektor oder Sokrates auftreten lassen; dabei ist an die Ilias bzw. Platons Dialoge zu denken. Dazu Smolak 2002, 232 f.; Burton 2017, 140−142; zum Motiv des „esprit commémoratif“ vgl. Gemeinhardt 2014, 26. 48 Zum Exordialtopos „alii-ego“ und dem Modus der Kontrastimitation in Absetzung von der paganen Historiographie vgl. Smolak 2002, 235. 49 Dass Severus das ‚Exemplum Christi‘ im Blick hat, macht er im Folgenden deutlich (2,4 f.; 5,6; 25 f.). Dazu Huber-Rebenich 2010, 117 f.; Burton 2017, 37−40. 50 So Huber-Rebenich 2010, 120: „Sein Martin entwickelt sich nicht nach und nach zur Vollendung, er ist von Anfang an perfekt.“ Zur Intensivierung idealisierender Züge in der spätantiken hagiographischen Literatur vgl. Van Uytfanghe 2005, 240−243; Gemeinhardt 2014, 26. Als Ideal ist Martin gleichsam über-historisch; vgl. dazu Burton 2017, 23−25 (auch gegen Fontaine 1967, 171−210). Zur Form der Typologisierung der Martinsfigur vgl. Fontaine 1967, 127−134; Burton 2017, 32−40 sowie den Beitrag von Andreas Müller im vorliegenden Band. 51 Dies betont Huber-Rebenich 2010, 106−120; vgl. auch Burton 2017, 1−9.
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eines christianisierten stoischen ‚Weisen‘, dem das Leben gemäß dem exemplum Christi perfekt gelingt.52 Der Bezug auf die Intertexte der paganen Geschichtsschreibung lässt sich auch vor diesem Hintergrund verstehen: Die historischen Akteure und auch ihre Biographen, die sich allein am Diesseits-bezogenen Wertesystem orientieren, können, wie am Beispiel von Sallusts Figuren-Modellierung deutlich wird, kein ‚gutes Leben‘ führen oder müssen scheitern. Davon lässt sich die Leitfigur des Bischofs Martin von Tours umso deutlicher abheben, da auch er zwar ein historischer Akteur ist, jedoch durch seine konträr zum säkularen Streben und konsequent auf die ewige Seligkeit im Jenseits ausgerichtete Lebensweise auch im Diesseits fehlerfrei bleibt. Der historische Akteur Martin wird als idealisierte Kunstfigur modelliert, um das Angebot, ein nicht an weltlich geleiteten Werten und Hierarchien orientiertes Leben zu führen, als realistisch und realisierbar erscheinen zu lassen. Die in der historischen Gegenwart verortete Biographie Martins in der Nachfolge Christi wird gleichsam zu einer Aktualisierung des Evangeliums, jedenfalls zu einem Grundlagentext für einen alternativen Lebensentwurf. In diesem Gegenentwurf zu den an der säkularen Wertewelt orientierten Akteuren der paganen Historiographie ist die Frage der Historizität der Martins-Biographie irrelevant.
6. Fazit: Funktionen biographischer Information An dem von Severus’ Martinsfigur und dem in der Martins-Vita narrativ vermittelten Konzept von ‚Leben‘ lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen hagiographischer und paganer- bzw. säkularer historiographischer Biographie festmachen: Im Leben eines sanctus vir ist kein Raum für Schwächen und Fehler. Die Martins-Vita zeichnet als Ganze das Porträt eines vollkommenen Menschen, das Narrativ besteht aus Elementen, die insgesamt ein ‚Heiligenbild‘ ergeben. Neben Severus’ Martin sind auch Athanasius’ Antonius oder Hieronymus’ Malchus zu nennen, und die Reihe ließe sich fortsetzen. Die Protagonisten sind von frühester Kindheit an ohne Fehl und Tadel, entscheiden sich intuitiv für das Richtige und realisieren es auch. Dieses Handlungsmuster ändert sich während der ganzen Lebensbeschreibung nicht. Der narrative Plot ist allein durch die von außen an die ‚Helden‘ herantretenden Prüfungen und ihr Bestehen bestimmt.53 Dieses Gattungsmerkmal einer literarischen ‚Ikonenmalerei‘ lässt sich im Prinzip auf alle Texte übertragen, die innerhalb des Spektrums des hagiographischen Diskurses dadurch herausragen, dass sie den ‚Bios‘ eines ‚Heiligen‘ ins Zentrum stellen und mithin als Hagiographie im engeren Sinn gelten können: Der ‚Hei52
Zum möglichen pelagianischen Einfluss vgl. Burton 2017, 7. dem Grund sind auch Augustins Confessiones kein hagiographischer Text, wie Schindler 2009 deutlich macht: Der Protagonist ist auch in der Gegenwart des Schreibens (in Buch 10) mit zu vielen Fehlern behaftet. Vgl. auch Fuhrer 2017b. 53 Aus
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lige‘ bewegt sich von Anfang an und in allen Lebensphasen auf den Spuren des exemplum Christi, und so kann er notwendigerweise nicht fehlgehen, sondern widersteht allen Versuchungen selbst dämonischer und satanischer Mächte; er ist auch fähig, Wunder zu vollbringen.54 Der christliche Heilige ist damit mehr als ein ‚holy man‘, wie er in den paganen Philosophen-Viten in der Gestalt Pythagoras’, Sokrates’ oder Plotins erscheint.55 Die vorbildliche Lebensführung eines ‚holy man‘ weist diesen als perfekt Strebenden, nicht als perfekten Heiligen aus. Auch die Texte, die dem breiten Spektrum des hagiographischen Diskurses zugewiesen werden können, bilden jeweils unterschiedliche Grade menschlicher Vollkommenheit ab, und dabei stehen die Viten von Heiligen von der Statur eines Martin oder Antonius am höchsten Punkt der ‚Perfektions-Skala‘. Dagegen sind die weitaus meisten Protagonisten der Textsorte ‚Biographie‘ bzw. die Figuren, denen biographische Einlagen oder Porträts innerhalb von historiographischen Texten gewidmet sind, auch mit Fehlern und Schwächen ausgestattet, und ihr Scheitern bestimmt den narrativen Plot ebenso wie ihre (Schein-) Erfolge.56 Selbst die ‚Helden‘ der paganen enkomiastischen Biographik tragen Züge, die zumindest ambig sind oder sie jedenfalls nicht als perfekten Menschen erscheinen lassen. Der Autor eines im weitesten Sinn historiographischen und damit auch hagiographischen Texts kann seine Figuren mittels biographischer Informationen jeweils so modellieren, dass sie als Phänotypen eines bestimmten (sozio-)historischen, moralischen, religiösen oder ganz allgemein kulturellen Diskurses erscheinen und ein darin wirksames Phänomen modellhaft illustrieren. Die Frage nach der Historizität des biographischen Materials und damit der Fiktivierung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, da die Selektion der Informationen ein Port54 Zum Versuch, die christliche Biographie durch das Auftreten von Wundererzählungen zu definieren, vgl. Stancliffe 1983, 91; vgl. aber oben S. 25 zur nicht-christlichen Tradition biographischer Wundererzählungen (mit Anm. 10). Differenzierter ist die Unterscheidung, die Gemeinhardt 2014, 25 formuliert: „T hus hagiography […] differs from historiography in its focus on religion, that is, on the manifestation of God’s salvific actions in a historical person’s life“; dabei wird auch klar, dass die Erzählung nicht statisch bleibt, sondern den Weg des ‚Heiligen‘ zu Gott beschreibt (Gemeinhardt 2014, 36 spricht von „Aufstiegsbiographie“). 55 So mit Dillon 2006 gegen Cox 1983 (den Unterschied verwischt auch Hägg 2012, 380−389); allerdings begründet Dillon den Unterschied mit der Historizität der „documentary evidence“ der pagan-philosophischen Viten von sog. ‚holy men‘. Zur Kritik an einer ähnlichen Unterscheidung bei Barnes 2010 s.o. S. 5 f. in der Einleitung zum vorliegenden Sammelband. 56 Vgl. Burton 2017, 32: „The Sallustian and Tacitean allusions suggest a generally pessimistic view of human life, both in its fragility and in the general tendency of moral ambition to be overcome by lust, avarice, or mere sloth.“ Mit Bezug auf das Greimas’sche Ak tantenmodell, das Gemeinhardt 2014, 32−35 zur Beschreibung hagiographischer Narrative heranzieht, könnte man sagen, dass die handelnden ‚Subjekte‘ in der aktantiellen Relation pagan-historiographischer Darstellungen zum einen den Versuchungen des ‚Anti-Subjekts‘ öfter und zum anderen den Angriffen der ‚Widersacher‘ häufiger erliegen und daher zu Opfern werden. Die sanctissimi viri hagiographisch-panegyrischen Typs widerstehen dagegen allen Anfechtungen.
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rät oder einen ‚Bios‘ je nach Fokus oder Leerstellen ganz unterschiedlich zeichnen kann und soll. Entscheidend ist die Funktion, die der Figur sowohl im erzählten Geschehen als auch im extratextuellen Diskurs zugeschrieben wird oder werden kann.57
Bibliographie a) Quellen Sallust: Catilina, Iugurtha, Historiarum Fragmenta Selecta, Appendix Sallustiana, hg. von Leighton D. Reynolds (OCT; Oxford: Oxford University Press, 1991). Sallust: Werke, Lateinisch/Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von T horsten Burkard (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010). Sulpicius Severus: Vie de saint Martin. Introduction, texte et traduction, commentaire et index, hg. von Jacques Fontaine (SC 133−135; Paris: Le Cerf, Bd. 1: 1967, Bd. 2: 1968, Bd. 3: 1969). Sulpicius Severus: Vita sancti Martini – Das Leben des heiligen Martin, Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Gerlinde Huber-Rebenich (rub 18780; Stuttgart: Reclam, 2010).
b) Literatur Barnes, Timothy D. (2010), Early Christian Hagiography and Roman History (Tübingen: Mohr Siebeck). Burton, Philip (2017), Sulpicius Severus’ Vita Martini (Oxford: Oxford University Press). Castelli, Emanuele (2018), Sulpicio Severo contro Girolamo. Per una nuova interpretazione della lettera prefatoria e del primo capitolo della Vita Martini: REAug 64, 17−34. Comber, Michael/Balmaceda, Catalina (2009), Sallust. T he War Against Jugurtha, ed. with an Introduction, Translation and Commentary (Aris & Phillips Classical Texts; Oxford: Oxbow Books). Coudry, Marianne/Späth, T homas (2001), L’invention des grands hommes de la Rome antique. Die Konstruktion der grossen Männer Altroms. Actes du Colloque du Collegium Beatus Rhenanus, Augst 16–18 Septembre 1999 (Paris: de Boccard). Cox, Patricia (1983), Biography in Late Antiquity. A Quest for the Holy Man (Berkeley u.a.: University of California Press). De Temmerman, Koen (2010), Ancient Rhetoric as a Hermeneutical Tool for the Analysis of Characterization in Narrative Literature: Rhetorica 28,1, 23−51. – (2016), Ancient Biography and Formalities of Fiction: De Temmerman/Demoen (2016) 3−25. 57 Zur Frage und Rolle der kontextuellen Situierung hagiographischer Texte vgl. Gemeinhardt 2014, 28 f., in kritischer Auseinandersetzung mit Van Uytfanghes Begriff des hagiographischen Diskurses. An dieser Stelle möchte ich meinen Gastgeber*innen am Maimonides Centre for Advanced Studies an der Universität Hamburg danken für die großzügige Unterstützung bei meiner Arbeit an diesem Beitrag, der im Rahmen meines Projekts “Strategies of unsettling and disconcertment. On the process of sending and receiving information in Roman historiography” entstanden ist.
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„Alles tat der heilige Hypatius, indem er unserem heiligen Vater Antonius folgte“ Die Vita Antonii und die Vita Hypatii: Intertextualität und Innovation Peter Gemeinhardt* 1. Einleitung Das Zitat im Titel legt einen offensichtlichen, ja geradezu krassen Fall von Intertextualität offen: „Alles tat der heilige Hypatius, indem er unserem heiligen Vater Antonius folgte!“1 Man könnte darin gewissermaßen eine lebensgeschichtliche Form des Plagiats erblicken: Ohne jeden Anspruch auf Innovativität hätte der Hagiograph des Hypatius – denn er ist es, der hier spricht – die Figurenzeichnung seines Heiligen einem existierenden Vorbild nachempfunden. Freilich ist Vorsicht gegenüber voreiliger Kritik geboten: Nicht nur herrschte in der Spätantike im Allgemeinen ein anderes Verständnis der literarischen Phänomene Nachahmung, Kopie und Plagiat – sich an Vorbilder anzuschließen war der Normalfall, und wer sich gegen diese abgrenzen wollte, brauchte dafür gute Gründe.2 Vor allem basierte die christliche Hagiographie im Besonderen auf dem Prinzip der Imitation: Der oder die einzelne Heilige zeichnete sich durch konsequente imitatio Christi aus; diese Nachahmung richtete sich freilich nicht unmittelbar auf das Leben, Leiden und Sterben Christi sowie auf die damit verbundene Hoffnung auf Auferstehung, sondern schloss im konkreten Fall an eine Kette früherer Heiliger an und bot wiederum einen Anknüpfungspunkt für weitere Glieder dieser successio sanctorum, die von den frühesten Märtyrerinnen und Märtyrern bis zu den monastischen Heiligen der Reichskirche reichte – also bis zu Antonius, Hypatius und ihren Zeitgenossen. Die Heiligkeit des Hypatius liegt demnach gerade darin begründet, dass sie der Heiligkeit des Antonius vergleichbar ist: Das Plagiat ist Programm. Dahinter tritt eine narrative Begründungsform zutage, die als „indi* Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt C 04: „Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft“. 1 Callinicus, v. Hypat. 53,4 (SC 177, 294 Bartelink): Πάντα οὖν ἀκολούθως πράξας ὁ ἅγιος Ὑπάτιος τοῦ ἁγίου πατρὸς ἡμῶν Ἀντωνίου. 2 Das ist z.B. sehr deutlich in der Bezugnahme auf den römischen Historiker par excellence, Sallust, bei Sulpicius Severus, Mart. 1,1 (SC 330, 250 Fontaine).
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rekt prozedural“ beschrieben werden kann: Nicht nur und nicht zuerst die eigenen Worte und Taten – die demgegenüber als „unmittelbar persuasiv“ gelten können – verbürgen die Heiligkeit des Hypatius, in erster Linie ist es die Passfähigkeit seines Lebens zu dem anderer, akzeptierter Heiliger.3 Alles wie ein allseits gerühmter Heiliger zu tun zeugt also nicht von einem bedenklichen Mangel an Eigeninitiative, sondern erscheint geradezu als Königsweg zur Heiligkeit. Auf der inhaltlichen Ebene drückt sich darin das monastische Grundprinzip aus, einem älteren, erfahreneren Einsiedler oder Klostermönch als geistlichem „Vater“ Gehorsam zu erweisen, auf dessen Worte zu achten, seinem Lebensvorbild nachzueifern und nicht etwa das asketische Rad selbst neu erfinden zu wollen. Für diese Haltung, die wir in hagiographischen Texten seit dem 4. Jahrhundert vielfach bezeugt finden4, ist Hypatius, der gleich ein wenig näher vorgestellt werden soll, ein perfektes Beispiel – wie zumindest sein Hagiograph behauptet. Und wenn ihm diesbezüglich zu glauben ist (was zu überprüfen sein wird), sollte sich der plakative Hinweis auf eine intertextuelle Beziehung zwischen der Vita Antonii und der Vita Hypatii auch an anderen Textphänomenen nachweisen lassen. Denn die Bezugnahme auf eine frühere Autorität wäre an sich noch nicht von besonderer Aussagekraft für das T hema des vorliegenden Bandes. Vielmehr ist ein solcher Traditionsbezug für hagiographische Texte der Spätantike typisch (und ebenso für vergleichbare Texte aus zeitgenössischen philosophischen Schulen). Antonius wurde im entstehenden Mönchtum schnell zu einem breit rezipierten Vorbild.5 Dabei ist zu beachten, dass die Rezeptionsgeschichte des Antonius in Ost und West durchaus nicht synchron verlief: Schon früh begannen im lateinischen Sprachraum Autoren damit, Heilige in Anknüpfung an bzw. Abgrenzung von Athanasius zu beschreiben. Hieronymus, Sulpicius Severus und andere griffen dabei auf die lateinische Übersetzung der Vita Antonii durch Evagrius von Antiochien zurück, die den Heiligen im lateinischen Sprachraum bekannt machte und darüber hinaus dazu beitrug, überhaupt erst eine monastische Terminologie zu kreieren – was Tertullian für die Trinitätslehre unternahm, erledigte Evagrius für die Hagiographie.6 Hieronymus reagierte schon in den 370er Jahren mit der Vita Pauli und zwei Jahrzehnte später mit der Vita Hilarionis ausdrücklich auf die Vita Antonii und setzte „seine“ Heiligen in Anknüpfung und Überbietung zu Athanasius’ Werk ins Verhältnis7; auch Martin von Tours wurde in der Darstellung des Sulpicius Se3 Vgl. dazu Gemeinhardt 2014, 319 (im Anschluss an die von Kaufmann 2009, 204 f. im Blick auf buddhistische Hagiographien geprägte Begrifflichkeit persuasiver Ereignisberichte). 4 Einen Überblick über die Traditionsgeschichte der Gehorsamsvorstellung in der Spätantike bietet Müller 2006, 298–399 mit besonderem Augenmerk auf dem pachomianischen und dem basilianischen Mönchtum sowie auf den Apophthegmata Patrum und mit der Beobachtung, dass die frühesten Texte über bzw. von Antonius (seine Briefe und die athanasianische Vita) noch kein dezidiertes Gehorsamskonzept erkennen lassen (348 f.). 5 Dazu Gemeinhardt 2013, 138–153. 6 Dazu Gemeinhardt 2018b. 7 Zur Vita Pauli vgl. Schulz-Wackerbarth 2017; zur Vita Hilarionis den Beitrag von
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verus als westliche Alternative zu Antonius entworfen. Das geschieht in der Vita Martini nur subkutan, ohne explizite Erwähnung der Vita Antonii, die gleichwohl ständig vorausgesetzt ist.8 Am Ende des dritten und letzten Buches seiner Dialoge sagt Sulpicius dann auch ausdrücklich: Kommst du (sc. Postumianus) bis nach Ägypten, das so stolz ist auf die Zahl und Wunderkraft seiner Heiligen, so soll es doch nicht die Kunde verschmähen, dass Europa ihm, ja dem gesamten Asien in dem einen Martinus nicht nachsteht.9
Bereits mit diesen wenigen Beispielen ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten, intertextuelle Bezugnahmen auf die Vita Antonii zu rekonstruieren – offensichtliche wie bei Hieronymus und eher verhüllte wie bei Sulpicius Severus; hinzuzufügen wären z.B. knappe Anspielungen im 429/30 verfassten Sermo de vita Honorati des Hilarius von Arles, der deutlich macht, dass es auch in Europa nicht nur den „einen Martin“ als Heiligen gab.10 Die Vita Antonii entfaltete also im lateinischen Westen bald nach ihrer Niederschrift und Übersetzung eine breite Wirkung, einschließlich Augustins Bericht von seiner Bekehrung.11 Anders liegt der Fall im griechischen Osten. Zwar pries Gregor von Nazianz um 380 n. Chr. Athanasius als literarischen Versöhner des eremitischen und koinobitischen Ideals12, und die große Bedeutung des Antonius für die Selbstund Fremdwahrnehmung des Mönchtums steht außer Frage, wie die Sammlungen der Apophthegmata Patrum einerseits, monastische Kollektivbiographien wie die Historia monachorum in Aegypto und Palladius’ Historia lausiaca belegen.13 Dennoch dauerte es Jahrzehnte, bis eine Rezeption der Vita Antonii als Textmodell innerhalb derselben Gattung einsetzte.14 Hierfür ist, wie gesagt, die Vita Hypatii das früheste Beispiel. Hier wird die oben skizzierte, für das Mönchtum charakteristische Beziehung zwischen Vater und Schüler das Verhältnis der Unterordnung und Nachfolge ausdrücklich literarisch konstruiert, indem die spätere auf Christa Gray im vorliegenden Band; zum Vergleich von Erzählstrategien in der (lateinischen) Vita Antonii, der Vita Pauli und der Vita Martini vgl. jetzt auch Benz 2019. 8 Vgl. hierzu bereits Tornau 2001 und nun mit weiterführenden Beobachtungen den Beitrag von Andreas Müller im vorliegenden Band. 9 Sulpicius Severus, dial. III 17,7 (SC 510, 360,32–35 Fontaine): Cum uero ad Aegyptum usque perueneris, quamquam illa suorum sanctorum numero sit et uirtutibus superba, tamen non dedignetur audire quam illi uel uniuersae Asiae in solo Martino Europa non cesserit. Übers. Pius Bihlmeyer, Die Schriften des Sulpicius Severus über den Heiligen Martinus, Bischof von Tours (BKV 20; Kempten/München: Kösel, 1914) 146. 10 Eine intertextuelle Analyse dieses Sermo (jetzt mit umfangreicher Einleitung und Übersetzung zugänglich in Jung 2013) wäre wünschenswert. 11 Augustin, conf. VIII 6,15; 12,29 (CChr.SL 27, 122,43–123,86; 131,26–30 Verheijen). Zur Wirkungsgeschichte der Vita Antonii in der spätantiken lateinischen Hagiographie vgl. Bertrand 2006, 39–60. 12 Gregor von Nazianz, or. 21,19 f. (SC 270, 148,17–150,22 Mossay). 13 Vgl. Gemeinhardt 2018a, 76–81.86–88. 14 Insofern trifft die pointierte Behauptung von Cain 2013, 354: „following its release in the late 350s the Greek Life became an instant ‚classic‘ in monastic circles throughout the East“ gerade nicht zu!
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die frühere Vita strukturell, thematisch und sprachlich Bezug nimmt. Athanasius gilt gemeinhin als Schöpfer der literarischen Gattung Vita und die Vita Antonii als Prototyp der christlichen Hagiographie – und es war Callinicus, der Hagiograph des Hypatius, der erstmals eine griechische Heiligenbiographie nach dem Vorbild der Vita Antonii modellierte, fast ein Jahrhundert nach deren Abfassung. Wie beide Viten als Texte zusammenspielen, möchte ich in meinem Beitrag unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität untersuchen. Entsprechend ist im Folgenden zu fragen: Wie nimmt diese auf die Vita Antonii Bezug – und mit welchem Ziel? Dabei geht es nicht primär um die literarische Kompetenz des Callinicus, sondern (mit Gérard Genette) in erster Linie um Intertextualität als „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“15 bzw. im Sinne der oben (S. 13) eingeführten Leitdifferenzen um „begrenzte Intertextualität“, d.h. um das konkrete Zusammenspiel zweier strukturell und sachlich verwandter Texte im hagiographischen Diskurs ihrer Zeit.16 Chronologisch ist die Rezeptionsrichtung klar, und dass Callinicus bei der Abfassung der Hypatiusvita die Vita Antonii tatsächlich vor Augen hatte, steht angesichts der zahlreichern Textsignale, auf die unten noch näher einzugehen sein wird, nicht infrage.17 Aber damit eröffnet sich allererst ein Feld interessanter Fragen: – Was ergibt die genaue Lektüre beider Texte und ihrer Beziehungen zueinander jenseits der Beobachtung einer literarischen Genealogie? – Welche Arten intertextueller Bezugnahmen lassen sich konkret unterscheiden? – Wird Hypatius als Heiliger von Antonius autorisiert, und wie? – Tat Hypatius wirklich alles genau so, wie es Antonius getan hatte? – Und welchen Status hat diese Berufung auf den Bios des ägyptischen Eremiten in der Vita des kleinasiatischen Klostermönches, der – wie wir sehen werden – tatsächlich vieles ganz anders machte als Antonius? – Ist trotz solcher signifikanten Differenzen in der Darstellung die Vita Antonii immer noch eine Matrix, ohne die die Vita Hypatii nicht zu verstehen ist? – Was lehrt uns all das über die literarische und theologische Dynamik des hagiographischen Diskurses im ersten Jahrhundert nach seinem athanasianischen „Urknall“? Solche Fragen können der Untersuchung der spätantiken Hagiographie neue Impulse verleihen. Bewusst spreche ich davon, lediglich Impulse setzen zu wollen, und zwar einfach deshalb, weil Konzepte wie Intertextualität auf die spätantike Hagiographie noch nicht systematisch angewendet worden sind; der vorliegende Band als ganzer will dazu einen Beitrag leisten und damit vor allem Anregungen für weitere Forschungen geben. Die Erschließungskraft narratologischer Methoden für Heiligenviten habe ich selbst in anderem Kontext – anhand der Viten des 15
Genette 1993, 10; vgl. Schmitz 2006, 95. Vgl. Alkier 2004, 60–63. 17 Vgl. Bartelink 1971, 34. 16
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Antonius und der mittelalterlichen Heiligen Elisabeth von T hüringen († 1231) – erprobt; die dort en passant angekündigte Einbeziehung von Ansätzen der Intertextualitätsforschung wird im vorliegenden Beitrag angegangen.18 Selbstverständlich soll und kann eine solche Analyse andere Perspektiven auf die spätantike christliche Hagiographie – zumal kultur-, sozial- und religionsgeschichtliche Untersuchungen – nicht ersetzen, sondern setzt sie vielmehr voraus. Einem knappen Abriss solcher Hinsichten auf beide Heilige ist der folgende Abschnitt (2.) gewidmet19, während es dann um intertextuelle Beziehungen zwischen beiden Viten geht (3.), die anschließend noch einmal anhand der Bildungsthematik in exemplarischer Weise zugespitzt werden (4.). Der abschließende Abschnitt (5.) summiert die Erträge und formuliert einige Fragen und Perspektiven zur Weiterarbeit, sei es an anderen Heiligenviten, sei es am T hema Intertextualität im spätantiken Christentum überhaupt.
2. Antonius und Hypatius – zwei monastische Lebensentwürfe Die Vita des 446 verstorbenen Hypatius entstand wohl nur wenige Jahre nach dem Tod des Protagonisten. Hypatius’ Familie stammte aus Phrygien und zog nach Konstantinopel, wo der Vater als Anwalt tätig war. Der junge Hypatius erhielt zu Hause eine profunde Erziehung in Grammatik, Rhetorik und Philosophie (s.u. S. 56), wandte sich aber einem kontemplativen Leben zu und führte ein einsames Leben als Schäfer. Weil er gut singen konnte, verpflichtete der Priester einer nahen Kirche Hypatius als Psalmsänger, verbunden mit dem Versprechen, ihn „Einsiedlern (μονάζοντες) zu übergeben“20; dass es sich dabei nicht um Klostermönche, sondern um eine Eremitengruppe handelte, macht die weitere Erzählung deutlich. Die Einbindung in das Leben und in den Dienst einer Kirchengemeinde blieb also ein Intermezzo. Hypatius schloss sich in T hrakien einer Gemeinschaft um einen geistlichen Vater namens Jonas an. Um 400 kam er wohl als Mittdreißiger mit zwei Gefährten nach Rufiniane, südlich von Konstantinopel, wo der Präfekt (392) und Usurpator (395) Rufinus ein Kloster hatte bauen lassen, das nach kurzzeitiger Besiedlung durch ägyptische Mönche leer stand. Klostergründungen auf senatorischen Domänen erfolgten an diversen Stellen im Umfeld von Konstantinopel und trugen erheblich zur nachhaltigen Christianisierung der Landbevölkerung 18
Hierzu vgl. Gemeinhardt 2014, 325 Anm. 46 et passim. Während die Forschung zur Vita Hypatii durchaus überschaubar ist, hat die Vita Antonii seit jeher viel Interesse auf sich gezogen und eine Flut von Literatur provoziert. Diese wird in der Einleitung zu meiner kommentierten Übersetzung (Gemeinhardt 2018a) ausgewertet, worauf hier verwiesen sei. Im Folgenden werden Forschungsbeiträge nur da herangezogen, wo sie für die hier vorgeführte Argumentation relevant sind. 20 Callinicus, v. Hypat. 2,8 (78 B.): διδόναι αὐτὸν μονάζουσιν. 19
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bei.21 Etwa 406 wurde Hypatius Hegumene (Vorsteher) des Klosters und blieb es vier Jahrzehnte lang bis zu seinem Tod, in einer Zeit, in der die Zurückdrängung der paganen Kulte unter T heodosius II. (408–450) zu einem Hauptziel kaiserlicher Politik avancierte.22 Hypatius wurde also zum Repräsentanten des Klostermönchtums, lernte aber zuvor verschiedene andere Lebensformen kennen: eine lockere Gemeinschaft um einen charismatischen Anführer, eine kollegiale Einsiedelei mit zwei Gleichgesinnten, am Anfang sogar eine solitäre Existenz. Die prägende Phase scheint dabei die Zeit in Jonas’ Anachoretengruppe gewesen zu sein. Hypatius verbrachte anderthalb Jahrzehnte unter der Aufsicht dieses Altvaters, der die geradezu selbstzerstörerischen asketischen Bemühungen des jungen Mannes in eine lebensdienlichere Richtung lenkte23, die dann auch für das Kloster Rufiniane prägend sein sollten; Bartelink spricht hierfür von „ascèse modérée“24. Aber auch diese Ausrichtung der Gemeinschaft und ihrer Leitungsfigur musste erst erkämpft werden: Nach einem Zerwürfnis innerhalb der anfänglichen Trias von Brüdern in Rufiniane kehrte Hypatius für eine Weile zu Jonas nach Halmyrissos zurück, versöhnte sich dann aber wieder mit seinem Freund und Konkurrenten Timotheus und wurde 406 Hegumene – ein Lehrstück, wie übertriebener Ehrgeiz eine monastische Gemeinschaft spalten kann und welcher Anstrengungen es bedurfte, um die allzu eifrigen Asketen am selben Strang ziehen zu lassen!25 Hypatius’ Tätigkeit als Vorsteher des Klosters wird einerseits ganz konventionell geschildert, indem die Liebe zu Gott und dem Nächsten im Vordergrund stehen, weiterhin das Gebet, der Kampf gegen die Dämonen bzw. Versuchungen und die Einübung der Tugenden. All das ist Gegenstand zweier langer Lehrreden, die deutlich machen, dass der Hegumene als Lehrer gefragt ist, dem das geistliche Wohlergehen seiner Mitbrüder anvertraut ist, die ihm unbedingten Gehorsam schulden und die er mit Lehre und Seelsorge begleitet. Das bringt ihn an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, d.h. er fürchtet um die Reinheit und damit um die Wirksamkeit seiner Gebete, weil er sich so viel mit anderen Dingen beschäftigt.26 21
Vgl. Dagron 1974, 185.379; Wölfle 1986, 60 f. Zu Hypatius’ Beitrag zur Durchsetzung des Christentums auf dem Land vgl. Trombley 1995, 76–96, zu seiner Auseinandersetzung mit paganen Praktiken Bremmer 2017, 40–46. 22 Zu den Lebensdaten – die sich sämtlich der Vita verdanken – vgl. Bartelink 1971, 17–19 und Wölfle 1986, 47–63. Eine Paraphrase der Vita mit kommentierenden Bemerkungen bietet de Vogüé 2015, 111–134. 23 Callinicus, v. Hypat. 5,8–10 (90–92 B.). 24 Bartelink 1971, 21. 25 Das Miteinander von Asketen ist ein zentrales T hema im monastischen Regelwerk des Basilius von Caesarea, vgl. etwa reg. fus. 7,4 (PG 31, 933B.): Στάδιον οὖν ἀθλήσεως, καὶ προκοπῆς εὐοδία, καὶ διηνεκὴς γυμνασία, καὶ μελέτη τῶν τοῦ Κυρίου ἐντολῶν, καὶ ἐπὶ τὸ αὐτὸ κατοίκησίς ἐστι τῶν ἀδελφῶν. Eine ausdrückliche positive Bezugnahme auf das kappadokische Mönchtum sucht man bei Callinicus allerdings vergeblich. 26 Callinicus, v. Hypat. 30,4; 48,35 (202.282 B.). Das Phänomen der Beeinträchtigung der asketischen Existenz durch die Ablenkung durch weltliche Geschäfte ist auch ein T hema in der Martinshagiographie, hier vor allem im Blick auf seine Wunderkraft, die nachließ, wenn
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Doch hält ihn das nicht davon ab, sich in kirchen- und allgemeinpolitische Fragen einzumischen, Partei für den 403 auf der sogenannten „Eichensynode“, die ausgerechnet in Rufiniane stattfand, abgesetzten Johannes Chrysostomus zu ergreifen27 und gegen den Patriarchen Nestorius und dessen christologische Lehre einzutreten (und zwar noch vor dessen synodaler Verurteilung in Ephesus 431). Im Streit um die Wiedereinführung dezentraler Olympischer Spiele im nahen Chalkedon stellte er sich sogar gegen den Ortsbischof Eulalius, der schließlich begriff, dass Hypatius „bereit war, sich kreuzigen zu lassen, alles um Gottes willen tat und Gott dies zur Wirkung brachte.“28 Hypatius war selbst Priester29, zelebrierte jeden Sonntag in der nahen Apostelkirche die Messe und wurde am Ende seines Lebens, „nachdem er vierzig Jahre lang die Herde Christi geweidet und das Priestertum heiligmäßig geziert hatte, als vollkommener und wohlgefälliger Diener Christi (von Gott) angenommen.“30 Antonius, dessen Lebensstationen hier im Anschluss an Athanasius’ Vita kurz referiert seien31, wurde um 250 n. Chr. in Mittelägypten geboren und begann mit zwanzig Jahren nach dem Tod seiner Eltern mit einem asketischen Leben, das ihn aus der Zivilisation hinaus in die Wüste führte. Über mehrere Stationen erreichte er schließlich den „inneren Berg“, auf dem er als Eremit lebte, ohne jedoch jeglichen Kontakt zur Welt abzubrechen. Vielmehr war Antonius als Asket ein Heiler, ein Wohltäter und nicht zuletzt ein „Lehrer für viele“ – um ein solcher διδάσκαλος werden zu können, hatte ihm niemand anderes als Gott selbst das erstrebte Martyrium während der Christenverfolgung unter Maximinus Daia verwehrt.32 Wenn man so will, war das der einzige Bruch in Antonius’ Biographie, die ansonsten geradlinig in Richtung immer konsequenterer – jedoch nicht übertriebener – Askese verlief. Narratologisch erscheint sein Besuch in Alexandrien – der genau in der Mitte der Vita platziert ist – als Wendepunkt: Das Leben dieses Heiligen läuft nicht auf ein blutiges Martyrium hinaus, sondern auf ein „Martyrium im Gewissen“33; das „Ziel“ oder „Ende“ seines Lebens (τέλος) ist erst mit dem natürlichen Tod im Alter von 105 Jahren erreicht, und sein Leben wird damit insgesamt zum „Ursprung (ἀρχή) der Askese“ oder, wie Athanasius bereits in der Vorrede angeMartin sich zu lange in Gesellschaft anderer, nicht asketisch lebender Bischöfe aufgehalten hatte; vgl. Sulpicius Severus, dial. II 4,1; III 13,5 (SC 510, 232,1–3; 342,25–28 Fontaine). 27 Callinicus, v. Hypat. 11,5–7 (112 B.). Zu Hypatius’ kirchenpolitischem Wirken und seiner Bedeutung unter den Äbten im Umfeld von Konstantinopel vgl. Hatlie 2007, 69–71. 28 Callinicus, v. Hypat. 33,13 (218 B.). Zu dieser um 435 geführten Auseinandersetzung vgl. Hatlie 2007, 111 f. 29 Callinicus, v. Hypat. 13,2 (122 B.). 30 Callinicus, v. Hypat. 50,1 (284–286 B.): Καὶ μετὰ τρεῖς μῆνας γενόμενος ὁ ἅγιος Ὑπάτιος ἐτῶν ὀγδοήκοντα καὶ καλῶς ποιμάνας τὰ τεσσαράκοντα ἔτη τὸ ποίμνιον τοῦ Χριστοῦ καὶ τὴν ἱερωσύνην ὁσίως κατακοσμήσας τέλειος δοῦλος Χριστοῦ εὐάρεστος ἀνεδείχθη. 31 Ausführlich zum Folgenden Gemeinhardt 2013, 34–135. 32 Athanasius, v. Anton. 46,6 (FC 69, 214,16–216,2 Gemeinhardt): ὁ δὲ Κύριος ἦν αὐτὸν φυλάττων εἰς τὴν ἡμῶν καὶ τὴν ἑτέρων ὠφήλειαν, ἵνα καὶ ἐν τῇ ἀσκήσει, ἣν αὐτὸς ἐκ τῶν γραφῶν μεμάθηκεν, πολλοῖς διδάσκαλος γενήται. 33 Athanasius, v. Anton. 47,1 (218,3 f. G.): μαρτυρῶν ἐν συνειδήσει.
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kündigt hatte, „für die Mönche zu einem Leitbild der Askese“.34 Das prägt allerdings die Vita von Anfang an, und schon vor der martyriumsträchtigen Reise nach Alexandrien platziert Athanasius eine umfangreiche Unterweisung des Antonius an die Einsiedler, die sich um ihn scharten; es ist also nicht seine Bewahrung für die Lehrfunktion, die im Erzählgang überrascht, sondern die für einen Eremiten durchaus unerwartete Wirksamkeit in der Welt, die er durch den Rückzug in die Wüste hinter sich lassen wollte. Tatsächlich wurde Antonius, je mehr er sich aus der „Welt“ zurückzog, umso gefragter als Ratgeber, bis zu Hofbeamten und Kaisern. Wie bei Hypatius das konstantinopolitanische Zeitkolorit in der Auseinandersetzung mit Häretikern und „Heiden“ zutage tritt, so ist für die Vita Antonii der Streit mit „Arianern“ und „Melitianern“ maßgeblich, also mit Gruppen, die Athanasius in Ägypten und im ganzen Mittelmeerraum das Leben schwer machten. Doch ist für unsere Fragestellung nicht entscheidend, ob und wie der im Exil befindliche Hagiograph seine theologiepolitische Agenda in das Antonius-Bild der Vita eintrug: Der strikt nizänisch-orthodoxe Antonius wurde hagiographisch genauso wirksam wie der Streiter wider Dämonen und Sophisten und der „Arzt, den Gott Ägypten gegeben hatte“35, aber auch der gelehrte Bildungsverweigerer, als der Antonius wahrgenommen wurde. Antonius starb 356, zehn Jahre vor Hypatius’ Geburt, und wurde seinem eigenen Wunsch gemäß im Verborgenen bestattet. Dass man sein Grab 561 „wiederentdeckte“, wäre gar nicht nötig gewesen, um sein Nachleben zu befördern: Antonius lebte längst, wie auch die Vita Hypatii bezeugt, im literarischen Gedächtnis und in der Praxis der Frömmigkeit des Christentums der Spätantike, des byzantinischen und abendländischen Mittelalters, der Reformation und des neuzeitlichen Katholizismus sowie zahlreicher orientalischer Traditionen weiter.36 Die bleibende Wirkung der Vita Antonii ist in ihrer ungeheuren Anschlussfähigkeit für Fragen der monastischen und der allgemein-christlichen Existenz, der T heologie und der Dämonologie, der Hochkultur und der Volksfrömmigkeit begründet. Damit ist sie ein überaus geeigneter Untersuchungsgegenstand für die Frage nach Intertextualität als begrenzter Präsenz eines Textes in einem anderen. Das möchte ich im Folgenden zunächst überblicksartig und dann an einem etwas ausführlicheren Beispiel beleuchten. Am Ende stellt sich darüber hinaus die Frage nach unbegrenzter Intertextualität, d.h. nach einer Einordnung beider Viten in die Textur des übergreifenden hagiographischen Diskurses der Spätantike.
34 Athanasius, v. Anton. 93,1 (308,1 f. G.); prol. 2 (104,12 f. G.): Ἔστι γὰρ μοναχοῖς ἱκανὸς χαρακτὴρ πρὸς ἄσκησιν ὁ Ἀντωνίου βίος. 35 Athanasius, v. Anton. 87,3 (294,3 f. G.): Καὶ ὅλως ὥσπερ ἰατρὸς ἦν δοθεὶς παρὰ τοῦ θεοῦ τῇ Αἰγύπτῳ. In der Vita Hypatii steht „dem Lande“ (τῇ χώρᾳ). 36 Zum Nachleben vgl. Gemeinhardt 2013, 154–196; für die orientalischen Traditionen Poirot 2014.
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3. Hypatius und Antonius – wirklich alles dasselbe? Ein Signal für Intertextualität bietet bereits der Titel meines Beitrags. Betrachten wir die Stelle im Kontext, woraus der doppelte Verweis auf die Vita Antonii klar hervorgeht: Hypatius hatte eine einzige Schwester, die, nachdem sie nach einer Einehe Witwe geworden war, woraus sie eine Tochter hatte, der Welt entsagte. Sie diente Christus und starb drei Tage vor ihrem Bruder. […] Nun folgte der heilige Hypatius in allem, was er tat, dem Beispiel unseres heiligen Vaters Antonius, bis hin zu seiner Schwester; jener hatte nämlich nur eine Schwester, und dieser auch nur eine. So sagte der heilige Hypatius nämlich, als er noch im Fleisch wandelte: „Wisst, meine Kinder, ich habe den heiligen Antonius, unseren Vater, gesehen zusammen mit den heiligen Aposteln; er umarmte mich, segnete mich und, nachdem er ein Gebet gesprochen hatte, entließ mich wieder.“37
Die Parallele springt ins Auge: Auch Antonius, der mit achtzehn Jahren Waise wurde, hatte eine jüngere Schwester, für die er zu sorgen hatte und die er, als er sich für ein asketisches Leben entschied, einer Jungfrauengemeinschaft anvertraute, deren Vorsteherin sie später wurde.38 Nun gibt es zwar auch andere Heilige mit Geschwistern, hinzu tritt aber eine weitere interessante Parallele: Antonius entschloss sich zur Askese, nachdem er in der Kirche Mt 19,21 gehört hatte: „Wenn du vollkommen sein willst, geh hin, verkaufe alles, was dein ist und gib (den Erlös) den Armen und folge mir, und du wirst einen Schatz im Himmel haben.“39 Er sorgte noch finanziell für die Schwester und ließ sie dann (gut behütet) zurück. Hypatius konvertierte zur Askese, als er – vor den Schlägen seines Vaters geflohen – in einer Kirche Mt 19,29 hörte: „Wer Vater oder Mutter, Brüder oder Schwestern, Frau oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlässt, wird’s hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben.“ Callinicus fügt erläuternd an: „Tatsächlich verließ er mit den Eltern auch eine kleine Schwester.“40 37 Callinicus, v. Hypat. 53,1.4–6 (294 B.): Εἶχεν δὲ καὶ ἀδελφὴν μίαν, ἥτις μονόγαμος γενομένη χήρα καὶ μίαν θυγατέρα ἐσχηκυῖα ἀπετάξατο καὶ δουλεύσασα τῷ Χριστῷ πρὸ τριῶν ἡμερῶν τοῦ ἀδελφοῦ αὐτῆς καὶ αὐτὴ ἀνεπαύσατο […] Πάντα οὖν ἀκολούθως πράξας ὁ ἅγιος Ὑπάτιος τοῦ ἁγίου πατρὸς ἡμῶν Ἀντωνίου μέχρι καὶ τῆς ἀδελφῆς αὐτοῦ. Κἀκεῖνος γὰρ μίαν ἀδελφὴν ἔσχεν καὶ οὗτος μίαν· ὡς γὰρ ἔλεγεν ὁ ἅγιος Ὑπάτιος περιάγων ἐν σαρκὶ ὅτι „Γινώσκετε, τεκνία, μετὰ τῶν ἁγίων ἀποστόλων ἐθεασάμην τὸν ἅγιον Ἀντώνιον τὸν πατέρα ἡμῶν, καὶ ἀσπασάμενος εὐλόγησέν με, καὶ εὐχὴν ποιήσας ἀπέλυσεν.“ 38 Athanasius, v. Anton. 2,1.5; 3,1; 54,8 (110,8–11; 112,9–114,2.6 f.; 232,14–16 G.). 39 Athanasius, v. Anton. 2,3 (110,18–112,4 G.): Ταῦτα δὴ ἐνθυμούμενος εἰσῆλθεν εἰς τὴν ἐκκλησίαν, καὶ συνέβη τότε τὸ εὐαγγέλιον ἀναγινώσκεσθαι καὶ ἤκουσε τοῦ Κυρίου λέγοντος τῷ πλουσίῳ· „Εἰ θέλεις τέλειος εἶναι, ὕπαγε, πώλησον πάντα τὰ ὑπάρχοντά σου, καὶ δὸς πτωχοῖς, καὶ δεῦρο ἀκολούθει μοι, καὶ ἕξεις θησαυρὸν ἐν οὐρανοῖς.“ 40 Callinicus, v. Hypat. 1,7–8 (76 B.): Μιᾶς γοῦν ἡμέρας, δείραντος αὐτὸν τοῦ πατρός, ἔχων τὴν πρόθεσιν ὑπεχώρησεν ἀπὸ τῶν γονέων καὶ ἐλθὼν μονὰς δύο ἢ τρεῖς, ὡς διηγήσατο, κατήντησεν εἰς ἐκκλησίαν καὶ ἀκούσας τοῦ ἁγίου εὐαγγελίου λέγοντος ὅτι εἶπεν ὁ Κύριος· „Ὅστις ἀφῆκεν πατέρα ἢ μητέρα ἢ ἀδελφοὺς ἢ ἀδελφὰς ἢ γυναῖκα ἢ τέκνα ἢ ἀγροὺς ἕνεκεν ἐμοῦ, ἑκατονταπλασίονα λήψεται καὶ ζωὴν αἰώνιον κληρονομήσει“ – ἀφῆκεν γὰρ σὺν τοῖς γονεῦσι καὶ μικρὰν ἀδελφήν […].
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In diesem Sinne folgte Hypatius tatsächlich Antonius nach, selbst wenn des letzteren Schwester nicht heiratete, sondern einer Frauengemeinschaft beitrat und in dieser eine leitende Funktion übernahm, während wir von Hypatius’ Schwester erfahren, dass sie heiratete und Mutter und Witwe wurde; auch ihre Tochter entsagte mit ihrem Mann, solange dieser lebte, der Welt41, aus der Familie ging also eine asketische Dynastie hervor. Die Berufung auf die Schwester belegt die intertextuelle Bezugnahme auf die Vita Antonii. Durch die Traumvision von der Begegnung mit Antonius wird dies zusätzlich plausibilisiert – der Segen geht vom Heiligen auf den Heiligen über, Hypatius wird durch Antonius selbst in die successio sanctorum aufgenommen, was wiederum sein eigenes Lebensvorbild autorisiert. Im Unterschied zum jeweiligen Umgang mit der Schwester, der im Prinzip nachprüfbar gewesen wäre, erhebt Callinicus mit dem Referat der Begegnung der beiden Asketen im Traum einen Anspruch anderer Art, der sich der externen Nachvollziehbarkeit entzieht – aber durch die direkt davor berichtete Nachahmung eines konkreten Lebensvollzugs bestätigt wird. Der intertextuelle Bezug auf die Vita Antonii stiftet also einerseits den Bezug auf lebensgeschichtliche Handlungsweisen, die eines Asketen würdig sind, reicht andererseits darüber hinaus, indem Hypatius auch grundsätzlich in ein Nachfolgeverhältnis zu Antonius gesetzt wird. Ob der Anspruch, ein „second Antony“ zu sein42, vielleicht gerade deswegen so betont wurde, weil dies in der klösterlichen Gemeinschaft von Rufiniane oder in deren Umfeld umstritten war, muss mangels ergänzender Quellen offen bleiben. Auch sonst sind von Antonius her bekannte, mehr noch: für dessen Vita charakteristische Motive vielfach in der Vita Hypatii präsent.43 Das reicht von der Mahnung, wunderbare Heilungen mögen Gott, nicht den Heiligen zugeschrieben werden44, und dem Ruhm, den beide nicht aus eigener Macht, sondern als Geschenk von Gott erlangen45, über die Bezeichnung der Heiligen als „Ärzte“ für ihr jeweiliges Land46 und die strikte Feindschaft gegen alle Häretiker47 bis zur fast wörtlich zitierten Mahnung, „nicht die Trugbilder des Teufels zu fürchten“.48 Beide empfangen in jungen Jahren Unterweisung durch ältere Asketen und werden später selbst asketische Lehrer49, wobei ein dynamisches Element zutage tritt: v. Hypat. 53,2 f. (294 B.). So Kosiński 2016, 30 (mit Bezug auf die soeben diskutierte Passage) 43 Vgl. Wölfle 1986, 23–32. 44 Athanasius, v. Anton. 48,2; 56,1 (220,10–12; 236,19–23 G.); Callinicus, v. Hypat. 9,8; 22,6 (106.140 B.). 45 Athanasius, v. Anton. 93,4 (308,18–20 G.); Callinicus, v. Hypat. 6,8 (94 B.). 46 Athanasius, v. Anton. 87,3 (294,3 f. G.), zit. oben Anm. 35; Callinicus, v. Hypat. 44,37 (268 B.): ὡς ἰατρὸς ἦν παρὰ τοῦ θεοῦ δοθεὶς τῇ χώρᾳ ταϋτῃ. Vgl. Roldanus 1983, 215. 47 Athanasius, v. Anton. 68,1–69,6 (258,8–262,5 G.); Callinicus, v. Hypat. 32,14–16 (214 B.). Zu Hypatius’ Eintreten gegen Nestorius vgl. Kosiński 2016, 31. 48 Athanasius, v. Anton. 24,7 (172,17 f. G.); Callinicus, v. Hypat. 24,103 (178 B.): μήτε δελιῶμεν τὰς φαντασίας αὐτοῦ. 49 Athanasius, v. Anton. 3,3 f.; 4,1–4 (114,12–116,7; 118,3–120,10 G.); Callinicus, v. Hypat. 41 Callinicus, 42
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Ein geistlicher Vater ist man nicht, man wird es, und man ist nicht nur Vater für sich selbst, sondern logischerweise auch für andere; das bedeutet, dass Alleinsein paradoxerweise für einen Anachoreten („Auswanderer“) nicht die finale Bestimmung sein kann. Würdenträger wenden sich an beide Protagonisten „wie an einen Vater“ und fühlen sich durch deren Antworten geehrt.50 Dass es bei Antonius die Kaiser, bei Hypatius Kirchenmänner sind, mit denen Briefe gewechselt werden, verweist auf den veränderten kirchengeschichtlichen Kontext im 5. Jahrhundert, wobei dem aber signifikante Kontinuitäten der Kommunikation von Asketen mit der „Welt“ bestehen, einschließlich einer soliden Skepsis gegenüber ihrer sozialen und ekklesialen Umgebung. Die Beziehungen der Vita Hypatii zur Vita Antonii sind in semantischer und motivischer Hinsicht überaus vielfältig. Welche Schlüsse lassen sich aus diesem – hier nur überblicksweise behandelten – Befund ziehen? Die bis heute einzige monographische Studie zur Vita Hypatii von Eugen Wölfle kommt zu dem Ergebnis: Die VH des Kallinikos als literarisches Produkt ist abhängig von der VA des Athanasius. Das hat seinen Grund in dem Urdatum des Hypatios: Hypatios ahmt in seinem Mönchsleben sein großes Vorbild Antonius nach, den er aus der VA des Athanasius kennt.51
Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass Hypatius sich genau so verhalten und genau so geredet habe, wie es uns Callinicus überliefere; dieser habe, so Wölfle, die Vita Hypatii wirklichkeitsgetreu gestalten können, weil er selbst als Schüler des Heiligen dessen Leben beobachtet und dessen Lehre gelauscht habe, so dass das genannte „Urdatum“ historisch verifiziert sei. Es lässt sich freilich nicht jenseits der vorliegenden Texte überprüfen, wie es mit dem Leben des Hypatius „eigentlich gewesen“. Auf der textlichen Ebene stellt das genannte Argument schlicht einen Zirkelschluss dar und trägt wenig zum Verständnis der intertextuellen Relationen bei. Von „literarischer Abhängigkeit“ lässt sich prima facie sprechen, doch nur in wenigen Fällen werden Sätze aus der Vita Antonii eins zu eins in die Vita Hypatii übernommen, so dass auf keinen Fall im strengen Sinne eine Fortschreibung oder Umarbeitung jener Vita vorliegt. Zudem erweist der genauere Blick auf beide Texte, dass hinsichtlich des Inhalts neben offensichtlichen Ähnlichkeiten auch eklatante Diskrepanzen bestehen. Dies sei nur an einem Beispiel erläutert, an dem der Unterschied zwischen Wüstenvater und Klostermönch zutage tritt. Hypatius betont, als er sich mit seinen beiden Freunden in die Einsamkeit aufmacht: „Ich war das Leben auf dem Berg gewohnt, nicht die Stadt“, und beide antworten: „Wohin du gehst, gehen auch wir hin“ (vgl. Ruth 1,16!).52 Aber kurz darauf landen sie in Rufiniane, nicht weit von 3,8–12 (82–84 B.). Zu Heiligen als Lehrern (u.a. zu Antonius und Hypatius im Vergleich zu zeitgenössischen weiblichen Heiligen) vgl. jetzt Gemeinhardt/Munkholt Christensen 2019. 50 Athanasius, v. Anton. 81,1 (280,5 f. G.); Callinicus, v. Hypat. 36,7 f. (226 B.). 51 Wölfle 1986, 32. 52 Callinicus, v. Hypat. 8,3 (98 B.): λέγει πρὸς αὐτοὺς ὁ Ὑπάτιος· „Ἐγὼ συνήθισα εἰς τὸ ὄρος οἰκεῖν, οὐ γὰρ εἰς πόλιν.“ Ἀπεκρίναντο δὲ καὶ αὐτοί· „Ὅπου σύ, καὶ ἡμεῖς.“
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der Stadt des Ostens schlechthin, Konstantinopel, und Hypatius wird „Nachbar der größten und heiligen Apostel“, denen das nahegelegene Martyrium gewidmet ist.53 Während Antonius tatsächlich auf den Berg geht, Dämonen zu Nachbarn hat und (jedenfalls dem Text der Vita Antonii zufolge) nie wieder eine Kirche betritt, wird Hypatius Priester und Hegumene einer gut organisierten Gemeinschaft. Was soll es dann aber bedeuten, wenn Callinicus behauptet, er habe „alles wie unser Vater Antonius“ getan?
4. Vita Hypatii und Vita Antonii – zwei Bildungsbiographien im intertextuellen Vergleich Mit dem titelgebenden Zitat ist natürlich durch Callinicus auch gar nicht intendiert, dass die Vita Hypatii eine sachidentische Kopie der Vita Antonii sein sollte. Dass Hypatius „alles (dem Antonius) folgend tat“ (πάντα ἀκολούθως πράξας), erfordert entsprechend eine nähere Qualifizierung, in welchem Sinne er dies tat (oder auch nicht). Wie lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten der narrativen Strukturen und sachlichen Akzentsetzungen näher bestimmen? Hierfür erweist sich die Perspektive der Intertextualität als fruchtbar, und zwar im Detail ebenso wie für den vergleichenden Blick auf zwei je in sich komplexe Texte. Ich möchte dies an der Bildung der Heiligen näher untersuchen. Diese ist von der literarischen Kompetenz der Hagiographen zu unterscheiden: Die Bildung des Callinicus war moderat, wie der anonyme Herausgeber der Vita in seinem Widmungsbrief erklärt – der Hagiograph habe „in einfachem Stil“ (ἐν ἁπλότητι) geschrieben und aufgrund seines syrischen Hintergrundes diverse sprachliche Fehler gemacht; er (der Herausgeber) habe dies aufgrund seiner Bewandertheit ἐν σοφίᾳ κοσμικῇ (1 Kor 1,20) erkannt, aber nicht korrigiert, um Callinicus nicht bloßzustellen.54 Athanasius’ Bildung ist im Einzelnen schwer zu bestimmen, er verfügte über einen markanten Stil, den er aber eher durch die Lektüre von biblischer und christlicher Literatur erworben haben dürfte; eine profunde Kenntnis der paganen Klassiker ist nicht auszumachen.55 Freilich war genau dieser gewissermaßen biblisch imprägnierte Stil das Mittel der Wahl, wenn es galt, die oben 53 Callinicus, v. Hypat. 8,8 (100 B.): καὶ γέγονε γείτων τῶν κορυφαίων καὶ ἁγίων ἀποστόλων. 54 V. Hypat., ep. dedicatoria 7 (66 B.). Vgl. dazu Maxwell 2016, 90: „he simultaneously upholds his own cultural distinction as well as the humility of the writer and subject of the Vita.“ Nach Kosiński 2016, 24 habe Callinicus „a solid Christian education“ erhalten, „most probably in a monastic community“. Kurioserweise behauptet Barnes 2010, 247, dass Callinicus nur eine erste Version der Vita verfasst habe, die dann der anonyme Herausgeber „greatly expanded“ habe „by including additional material and removing linguistic asperities.“ An der zitierten Stelle behauptet der Anonymus genau das Gegenteil (vgl. Bremmer 2017, 41)! 55 Für eine genauere Analyse vgl. Gemeinhardt 2011, 79–82. Bezüglich der Vita Antonii unterstreicht Morales 2008, 185 „l’art littéraire d’Athanase qui, avec des moyens linguistiques assez élémentaires, parvient à composer un chef-d’œuvre dont la posterité a prouvé la valeur.“
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beschriebene imitatio Christi am Beispiel der zeitgenössischen Heiligen in den Vordergrund zu rücken.56 Im Folgenden frage ich nach dem Bildungsideal, das in beiden Viten aufscheint.57 Bei Antonius scheint die Sache klar: Bildung ist etwas, das der Eremit konsequent hinter sich lassen muss, besser: gar nicht erst erwerben soll. Antonius erscheint in der Vita als ungebildet, ja unverbildet: Von Kindesbeinen an weigerte er sich, Schulbildung zu erwerben.58 Dennoch war Antonius gebildet, nämlich θεοδίδακτος, „von Gott selbst belehrt“.59 So einfach liegen die Dinge jedoch nicht, wie längst schon bemerkt worden ist. Bereits der Blick in die heute als authentisch anerkannten Antoniusbriefe widerspricht Athanasius’ Darstellung, erscheint Antonius hier doch als geistlicher Mentor einer Asketengemeinschaft, die er in Form von Lehrschreiben leitet, und als spekulativer Kopf in der Nachfolge der großen Alexandriner Clemens und Origenes.60 Man kann sogar mit guten Gründen das spätantike Mönchtum insgesamt als eine – in sich überaus vielfältige – Bildungsbewegung beschreiben.61 Doch schon die Vita Antonii zeichnet, wie nicht immer gebührend beachtet worden ist, ein differenzierteres Bild. Antonius, der von höherer schulischer Bildung unbeleckte ἰδιώτης62, hatte als junger Mensch durchaus eine Schule besucht, und zwar jeden Sonntag: Er hatte nämlich derart auf die Verlesung [der Schrift] acht, dass nichts von dem, was geschrieben steht, von ihm zu Boden fiel (1 Sam 3,19), vielmehr blieb ihm alles erhalten (Lk 8,15); und so wurde ihm das Gedächtnis zum Ersatz für Bücher.63
„Gottgelehrt“ heißt demnach nicht: „von oben herab inspiriert“, sondern vor allem „biblisch gebildet“, was für das eremitische Mönchtum allgemein gilt.64 Augustin drückte die didaktische Dimension des Gottesdienstes später sinngemäß so aus: Christen und Christinnen sind Graduierte der schola Christi, die sich auf Erden befindet und deren Lehrer menschlich sind; aber diese agieren nicht auf eigene Rechnung, sondern im Namen Christi, der der eigentliche magister ist.65 Hier er56 Zu Bildung als T hema spätantiker Heiligenviten und ihrer Verfasser vgl. Gemeinhardt 2007, 246–306. 57 Zu Antonius vgl. Gemeinhardt 2013, 110–121 (mit weiterer Literatur), zu Hypatius Wölfle 1986, 47–51 (zur Bildung des Heiligen) und 94–97 (zu seinem Agieren als geistlicher Vater) sowie Maxwell 2016, 98–102. 58 Athanasius, v. Anton. 1,2 (108,3–7 G.). 59 Athanasius, v. Anton. 66,2 (252,14 f. G.). 60 Rubenson 1995 beleuchtet das Antoniusbild der Vita kritisch von den Antonius-Briefen her, die er überzeugend als authentisch einstuft. 61 Zum Phänomen monastischer Bildung vgl. zuletzt Larsen/Rubenson 2018. 62 Athanasius, v. Anton. 85,5 (290,17 G.). 63 Athanasius, v. Anton. 3,7 (116,14–118,2 G.): Καὶ γὰρ προσεῖχεν οὕτω τῇ ἀναγνώσει, ὡς μηδὲν τῶν γεγραμμένων ἀπ’ αὐτοῦ πίπτειν χαμαί, πάντα δὲ κατέχειν καὶ λοιπὸν αὐτῷ τὴν μνήμην ἀντὶ βιβλίων γίνεσθαι. 64 Eingehendere Analysen bietet dazu anhand der Vita Antonii, der Apophthegmata Patrum und der Collationes Johannes Cassians (und unter Verarbeitung älterer Literatur) Gemeinhardt 2019. 65 Aug., disc. chr. 15 (CChr.SL 46, 223, 379–384 vander Plaetse): quis est enim magister
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scheinen Bibel und Predigt als Bildungsgüter sui generis (auch wenn sich Christen beim fachgerechten Umgang mit Texten natürlich gerne der ihnen aus dem „weltlichen“ Schulunterricht verinnerlichten Techniken und Methoden bedienten!). Bei Hypatius liegt die Sache allerdings anders. Er verweigerte keineswegs den Bildungserwerb, sondern wurde standesgemäß zu Hause in der ἐγκύκλιος παιδεία unterrichtet: Sein Vaterland war aber von Natur aus bildungsliebend in literarischer Hinsicht. Seine Eltern stammten aus guter Familie und waren gottesfürchtig; sein Vater, selbst ein gebildeter Mann, erzog ihn (sc. Hypatius) hinlänglich in der Literatur.66
Hypatius’ Vater war ein σχολαστικός (Anwalt), der seinem Sohn das vermittelte, was er selbst gelernt hatte: Grammatik, Rhetorik und Philosophie.67 Aus zeitgenössischen Quellen ist bekannt, was der Bildungsgang eines σχολαστικός seinerzeit beinhaltete. Interessanterweise erhalten wir darüber die detailliertesten Informationen aus einer dem syrischen Mönchsvater Macarius zugeschriebenen Homilie, d.h. aus einem monastischer Text: Hier wird Bildung als stufenweises Voranschreiten (προκοπή) von der Schule des Elementar- zu der des Lateinlehrers und dann vom Grammatiker zum Rechtsgelehrten dargestellt, wobei man, sobald man auf einer Stufe der Beste (πρῶτος) geworden ist, auf der nächsthöheren Stufe erneut als Letzter (ἔσχατος), ja als blutiger Anfänger (ἀρχάριος) zu stehen kommt.68 Das entspricht dem Weg des geistlichen Gotteserkenntnis, bei der man allerdings nie zur Vollkommenheit gelangt. Das weiß nach Ps.-Macarius niemand besser als der σχολαστικός, „der hinreichend Bildung erworben hat“69, der also – so möchte ich paraphrasieren – auf seinem Bildungsweg erkannt hat, wieviel Bildung immer noch vor ihm liegt und dass er damit niemals fertig sein wird. Genau dieselbe allgemeine Formulierung für den Bildungserwerb (γράμματα μαθεῖν) begegnet auch in der Vita Antonii, aber mit der Pointe, dass Antonius, wie gesagt, auf solche Bildung von vorneherein verzichtet hatte. Auch hier folgt qui docet? non qualiscumque homo, sed apostolus. plane apostolus, et tamen non apostolus. an uultis, inquit, experimentum eius accipere, qui in me loquitur Christus? Christus est qui docet; cathedram in caelo habet, ut paulo ante dixi. schola ipsius in terra est, et schola ipsius corpus ipsius est. caput docet membra sua, lingua loquitur pedibus suis. Christus est qui docet. 66 Callinicus, v. Hypat. 1,1 (72 B.): κατὰ φύσιν δὲ ἡ πατρὶς φιλοπαιδεύτριά ἐστιν ἐν τῇ παιδεύσει τῶν γραμμάτων. Οἱ δὲ γονεῖς αὐτοῦ ἦσαν εὐγενεῖς καὶ φοβούμενοι τὸν θεόν, σχολαστικός τε ὢν ὁ πατὴρ αὐτοῦ ἐπαίδευσεν αὐτὸν τὰ γράμματα ἱκανῶς. 67 Nach Kosiński 2016, 33 war der Vater „an educated and sophisticated individual“. 68 Ps.-Macarius, hom. 15,42 (PTS 4, 152,583–590 Dörries/Klostermann/Kroeger): ὁ θέλων μαθεῖν γράμματα ἀπέρχεται πρῶτον καὶ μαντάνει τὰ σημεῖα, καὶ ὅταν γένηται ἐκεῖ πρῶτος, ἀπέρχεται εἰς τὴν σχολὴν τῶν ῾Ρωμαϊκῶν καὶ ἔστιν ὅλων ἔσχατος. πάλιν ἐκεῖ ὅταν γένηται πρῶτος, ἀπέρχεται πρὸς τὴν σχολὴν τῶν γραμματικῶν καὶ ἔστι πάλιν ἐκεῖ ὅλων ἔσχατος ἀρχάριος. εἶτα ὅταν γένηται σχολαστικός, ὅλων τῶν δικολόγων ἀρχάριος καὶ ἔσχατός ἐστι. πάλιν ὅταν ἐκεῖ γένηται πρῶτος, τότε γίνεται ἡγεμών· καὶ ὅτε γένηται ἄρχων, λαμβάνει ἑαυτῷ βοητὸν τὸν συγκάθεδρον. 69 Ps.-Macarius, hom. 26,17 (213,221 f. D./Kl./Kr.): ὁ σχολαστικὸς ὁ μετρίως μαθῶν γράμματα.
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Hypatius seinem Leitbild also keineswegs! Dennoch gibt es in seiner Vita einen Wiedergänger des Antonius, der bestaunt wird, „weil ein derart Ungebildeter (ἀγράμματος) und Unkultivierter (ἰδιώτης) eine solche Gnade vom Herrn empfangen hatte“.70 Doch es ist nicht Hypatius selbst, der hier in Anlehnung an die Apostel Petrus und Johannes (Apg 4,13) beschrieben wird, sondern sein geistlicher Mentor Jonas. In der Vita Hypatii erscheint dieser als ein in weltlichen Dingen völlig unbewanderter, aber in der geistlichen Praxis herausragender ὅσιος διδάσκαλος.71 Die Hauptfigur dagegen ist der gebildete Schüler eines (wie Antonius) Ungebildeten. Das Bildungsthema ist also präsent, wird aber quasi auf unterschiedliche Protagonisten verteilt, weshalb nicht nur Bildungsabstinenz, sondern auch -besitz positiv im selben Text gewertet werden können. Hypatius stellt nämlich seine Bildung erfolgreich in den Dienst der monastischen Existenz. Die erworbene rhetorische und philosophische Bildung ist dabei von erheblichem Nutzen: Einige von den Gebildeten sagten der Welt ab und wurden seine Schüler; wenn sie dann einmal mittels der Kunst ihrer Bildung im Gespräch Philosophie treiben wollten, sagte er ihnen geradewegs, ob sie recht geantwortet hatten, wie es sich gehört, oder nach der kunstfertigen Philosophie.72
Hypatius weiß aufgrund seiner eigenen Bildung, womit sich die σχολαστικοί brüsten und wie man ihnen so zu antworten hat, dass sie die Antwort des Überlegenen akzeptieren und seine „Jünger“ (μαθηταί) werden. Gleich zweimal ist in diesem einen Satz von der τέχνη (τῆς παιδεύσεως) bzw. von τεχνική als Attribut der Philosophie die Rede: Zu „philosophieren“ (φιλοσοφῆσαι) liegt im Bereich des menschlich Machbaren, jedoch nicht unbedingt im Bereich des Richtigen (ὀρθῶς) oder des Geziemenden (κατὰ τὸ δίκαιον). Was Hypatius hier übt, ist – in monastischer Terminologie gesprochen – die Kunst der discretio (διάκρισις), der Unterscheidung des Zu- vom Abträglichen, genauer gesagt: des von Menschen Anerkannten von dem vor Gott allein Geltenden. Hypatius tritt, wo er Bildungskritik übt, als Ebenbürtiger mit vergleichbarem Bildungshintergrund auf, was seine Autorität in dieser Konstellation untermauert. Bei Antonius ist dagegen die Antithese zwischen dem naturbelassenen, von Gott gelehrten Eremiten und der Sophisten, die ihn aufsuchten, um ihn zu verspotten, konsequent als Kontradiktion angelegt: In einer Debatte mit Sophisten, die ihn auf 70 Callinicus, v. Hypat. 6,8 (94 B.): Οἳ δὲ ὠφελούμενοι οὕτως ἐτίμων αὐτὸν ὡς ἀληθῶς δοῦλον Θεοῦ, ἅμα δὲ καὶ ἐθαύμαζον ὅτι ἀγράμματος ὢν καὶ ἰδιώτης τοιαύτην ἔλαβε χάριν παρὰ Κυρίου. 71 Callinicus, v. Hypat. 3,12 (84 B.). 72 Callinicus, v. Hypat. 29,3 (198–200 B.): Ἀπὸ σχολαστικῶν γάρ τινες ἀποταξάμενοι γεγόνασιν αὐτοῦ μαθηταί, καὶ εἴ ποτε ἐβουλήθησαν τῇ τέχνῃ τῆς παιδεύσεως αὐτῶν φιλοσοφῆσαι ἐν τῇ ὁμιλίᾳ, εὐθέως ἔλεγεν αὐτοῖς, εἰ ὀρθῶς ἀπεκρίναντο κατὰ τὸ δίκαιον ἢ μετὰ τεχνικῆς φιλοσοφίας. Vgl. Maxwell 2016, 99. Zu Hypatius’ guten Kontakten zu gebildeten Mitgliedern der urbanen Eliten und sogar zur Familie von Kaiser T heodosius II. vgl. Hatlie 2007, 80.86.
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seinem Berg aufsuchen, um ihn ob seiner vermeintlichen Unbildung zu verspotten, versetzt Antonius ganz im Sinne der paulinischen Antithese von der Weisheit der Welt und der Torheit Gottes (1 Kor 1,18–2,16): Wenn ihr zu einem Toren gekommen seid, war eure Anstrengung überflüssig; wenn ihr aber meint, dass ich verständig bin, dann ‚werdet wie ich‘ (Gal 4,12). Ziemt es sich doch, das Gute nachzuahmen.73
Was freilich beide Heilige verbindet, ist ihre Funktion als Lehrer. Wie die Vita Antonii beinhaltet die Vita Hypatii eine lange Lehrrede, die wie folgt eingeleitet wird: Dies lehrte er nun fortwährend uns, seine Schüler, und die Mönche und Freunde, die von außen kamen; ich will nämlich nicht den Nutzen seiner Lehre vergessen, sondern in Erinnerung rufen, wie sowohl die, die sich zu lernen wünschten, geistlichen Eifer für diese Tugend empfingen, als auch alle anderen Brüder, die seine hörten, (davon) Nutzen hatten.74
Mit den Stichworten „Lehre/Lehren“ (διδασκαλία, διδάσκειν), „Ermahnung“ (νουθεσία), „Schüler/Jünger“ (μαθηταί) und „Nutzen“ (ὠφέλεια) sind wir wieder bei eindeutigen Indikatoren intertextuellen Beziehungen. Innerhalb des hagiographischen Diskurses, in dem diese Aspekte vielfach eine Rolle spielen, sind sie für das Verhältnis zwischen der Vita Hypatii und der Vita Antonii in besonderer Weise prägend. Schon der Prolog des Hagiographen Athanasius macht deutlich, dass das Ziel der Vita Nutzen, Belehrung und Ermahnung der Leser ist75; all das sind aber auch in der Vita Antonii durchlaufende T hemen. Wie Antonius ist Hypatius sowohl „klug“ (συνετός) als auch „Gott (in sich) tragend“ (θεοφορούμενος).76 Allerdings wird auf dem Weg von Ägypten über Phrygien und T hrakien an den Bosporus aus dem „gottgelehrten“ Eremiten ein schulisch gebildeter Klostervorsteher – und damit ein neues und anderes Vorbild an Demut: Sich solche Bildung, wenn man sie nun einmal besitzt, nicht zu Kopf steigen zu lassen, ist die angemessene Form der Askese.
73 Athanasius, v. Anton. 72,4 (266,3–5 G.): Εἰ μὲν πρὸς μωρὸν ἤλθετε, περιττὸς ὑμῶν ὁ κάματος· εἰ δὲ νομίζετέ με φρόνιμον εἶναι, γίνεσθε ὡς ἐγώ. Δεῖ γὰρ τὰ καλὰ μιμεῖσθαι. 74 Callinicus, v. Hypat. 24,1 (146–148 B.): Ταῦτα οὖν ἐδίδασκεν ἡμᾶς ἀεὶ τοὺς αὐτοῦ μαθητὰς καὶ τοὺς ἔξωθεν ἐρχομένους μοναχοὺς καὶ φίλους· οὐ γὰρ ἐπιλάθομαι τῆς αὐτοῦ διδασκαλίας τὴν ὠφέλειαν, ἀλλὰ μνημονεύσω, ὅπως καὶ οἱ ποθοῦντες τοῦ μαθεῖν ζῆλον πνευματικὸν ἀναλάβωσι τῆς τούτου ἀρετῆς, καὶ οἱ ἄλλοι πάντες ἀδελφοὶ ἀκούσαντες τὴν νουθεσίαν αὐτοῦ ὠφεληθῶσι. Zusammen genannt werden διδάσκειν, μαθηταί und νουθεσία auch in v. Hypat. 25,1 f. (178–180 B.). 75 Callinicus, v. Hypat. prol. 6–8 (68–70 B.); vgl. Wölfle 1986, 20 f. 76 Athanasius, v. Anton. 72,1 (264,12 G.) und 14,2 (148,1 G.); Callinicus, v. Hypat. 29,2 (198 B.).
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5. Fazit: Intertextualität als Perspektive hagiographischer Forschung Spätantike hagiographische Texte sind grundsätzlich von einem dichten Netz intertextueller Beziehungen geprägt. Serapion von T hmuis hatte nach dem Tod des ägyptischen Eremiten dessen ägyptischen Schülern empfohlen, „Antonius zu werden“77; Antonius selbst hatte wiederum nach der pachomianischen Tradition den ägyptischen Klostermönchen Ermutigung zugesprochen, sie seien alle „wie Abbas Pachomius geworden“78, was nicht bedeutete, dass sie sich als dessen Wiedergänger gerierten, sondern das Erbe des Pachomius in neuen Situationen, auch in neuen Bedrängnissen, bewahrt und sich situativ je neu angeeignet hatten – und dazu in der Lage sein würden, die auch weiterhin zu tun. In diesem Sinne dürfte auch Callinicus’ T hese zu verstehen sein, dass Hypatius „in allem unserem heiligen Vater Antonius folgte“ – unter veränderten Umständen ein knappes Jahrhundert später wurde auch er in den Augen seines Hagiographen in neuer Weise „Antonius“. Was aber bedeutete es, dies im Umland von Konstantinopel lebenspraktisch und dann auch literarisch umzusetzen? Letzteres war die Herausforderung, vor der Hypatius’ Hagiograph stand. Man kann für das Verfahren des Callinicus von einer „Kontrastimitation“ sprechen, womit nach Klaus T hraede die „Übernahme von Junkturen zum Zwecke gegenteiliger Aussagen“ gemeint ist.79 Für die beiden Heiligenviten wäre das so verstehen, dass in der monastischen Praxis des Hypatius – auch und gerade wo sie von der des Antonius abweicht – die letztere präsent gehalten wird, gewissermaßen als Instanz, vor der sich die Innovation des Hypatius ausweisen muss, die aufgrund ihres ganz anderen zeitlichen und räumlichen Kontextes schlicht nicht mit Antonius’ Vorbild identisch sein kann. Zumindest für die Gemeinschaft in Rufiniane dürfte das plausibel gewesen sein. Das Zusammenspiel der Vita Antonii und der Vita Hypatii möchte ich abschließend in Bezug auf Intertextualität anhand der triadischen Leitdifferenz näher bestimmen, die in der Einleitung (S. 13 f.) vorgestellt wurde. Sie basiert auf der Adaptation des Intertextualitätsparadigmas, die Stefan Alkier im Blick auf die Exegese des Neuen Testaments vorgenommen hat, die aber auch für hagiographische Texte geeignet ist.80 Dabei liegt, wie oben ausgeführt, eine Unterscheidung von produktions-, rezeptions- und textorientierter Intertextualität zugrunde. Das bedeutet für den Vergleich der beiden hier untersuchten Heiligenviten: Serapion von T hmuis, ep. Ant. disc. 17 (Draguet 1951, 15). Vit. Pachom. graeca I 120 (SHG 19, 77,25 Halkin): Μὴ κλαίετε· πάντες ὑμεῖς ἐγενήθητε ὡς ἀββᾶ Παχούμιος. 79 T hraede 1962, 1039 (im Blick auf das lateinische christliche Epos der Spätantike des Prudentius, aber auch des Juvencus). – Für den Hinweis auf diesen Begriff danke ich herzlich T herese Fuhrer. 80 Zum Folgenden vgl. Holthuis 1993 und Alkier 2003; zusammenfassend ders. 2004, 60–63. 77 78
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– Produktionsorientierte Intertextualität fragt nach der gezielten Herstellung intertextueller Bezüge durch den Autor oder die Autorin am Text. Wie Callinicus Bezüge zur Vita Antonii herstellt, macht schon das Titelzitat meines Vortrags kenntlich, so dass sich auch zuvor nicht eindeutig markierte Bezugnahmen entschlüsseln lassen: Die Vita Hypatii soll im Licht der Vita Antonii gelesen werden. Das wird allerdings explizit erst im letzten Kapitel gesagt – der Autor motiviert Leser und Leserinnen damit dazu, die Vita Hypatii noch einmal im Licht der Vita Antonii zu lesen.81 – Rezeptionsorientierte Intertextualität entsteht dagegen durch Mitarbeit der Lesenden bei der Interpretation, wobei diese mitunter auf Intertextualitätssignale reagieren können. Texttypologisch geschieht dies, wenn die Vita Hypatii als Exemplar der Gattung „Heiligenbiographie“ erkannt und mit der Vita Antonii als deren Prototyp in Verbindung gebracht wird, mit der sie stilistische und strukturelle Merkmale teilt, wie z.B. die Erzählung über Jugend und Werdegang des Heiligen oder die Zusammenfassung wichtiger Informationen in einer längeren, als Rede gestalteten Passage. Refentiell wird nach Zitaten, Anspielungen und Paraphrasen gefragt, z.B. nach der Rede von dem Heiligen als „Arzt“ oder „Lehrer“, und nach Veränderungen, die die Rezipierenden erkennen können und sollen, wenn etwa beim T hema Bildung auf dieselbe Frage – (Wie) soll ein Heiliger gebildet sein? – in den Viten unterschiedliche Antworten gegeben werden. Zudem macht die Verbindung mit Ps.-Macarius deutlich, dass innerhalb eines Textes Signale in verschiedene Rezeptionsrichtungen ausgesandt werden können. – Von textorientierter Intertextualität ist zu sprechen, wenn die auf bekannte Texte begrenzte Bezugnahme auf die Menge aller möglichen Texte ausgeweitet – d.h. entgrenzt – wird. Denn natürlich begegnen in der Vita Hypatii Motive und Begriffe, die aus anderen zeitgenössischen hagiographischen Texten bekannt sind, ohne dass sich direkte Bezugnahmen feststellen ließen. Und auch die Vita Antonii steht nicht nur so offenkundig wie in Hieronymus’ Vita Pauli und Vita Hilarionis Pate, sondern steuert hintergründig das Heiligenideal der Vita Martini oder des Sermo de vita Honorati des Hilarius von Arles. Dabei ist die Bezugnahme nicht auf Exemplare derselben Gattung begrenzt, vielmehr ist der hagiographische Diskurs in seiner Vielfalt von Texttypen und T hemen die Text-Welt, innerhalb derer sich Antonius und Hypatius und viele andere Heilige der Spätantike bewegen.
81 Man könnte als Parallele auf den ursprünglichen Schluss des Markusevangeliums verweisen: Dass „sie (sc. die Frauen am Grab) sich fürchteten“ (ἐφοβοῦντο γάρ, Mk 16,8a), sollte nicht als finale Ratlosigkeit verstanden werden („Der Vorhang fällt – und alle Fragen offen“), sondern als Motivation, weiterhin Jesus nachzufolgen, der „euch nach Galiläa vorangegangen ist“ (προάγει ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν, Mk 16,7), also selbst auf dem Weg erneuter Lektüre zurück nach Galiläa zu gehen, wo mit Jesu Auftreten alles begann (Mk 1,14)!
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Diese beiden Viten einer intertextuellen Lektüre zu unterziehen bedeutet demnach, über die herkömmliche Frage nach Abhängigkeiten hinaus zu fragen, welche Signale in der Vita Hypatii den Leser und die Leserin dazu führen könnten, nach der Vita Antonii zu greifen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu verifizieren – oder auch nicht danach zu greifen, weil sich die Bezüge aus der den Lesenden vertrauten „Enzyklopädie“ ergeben, die intertextuelles Wissen bereitstelle, und zwar als „kulturell konventionalisiertes Wissen“.82 Damit ist sogleich ein weiteres Problem benannt, nämlich die Erfordernis eines „starken Lesers“ bei rezeptions- und textorientierter Intertextualität: Die Mitarbeit bei der Interpretation erfolgt eher im Zuge einer individuellen und intensiven Lektüre, weniger durch Teilnahme an einem Festgottesdienst zu Ehren des Heiligen. Hier bleibt man mangels verlässlicher prosopographischer Informationen über die Mönchsgemeinschaft von Rufiniane auf Spekulationen angewiesen; und dies lässt sich, von Ausnahmen abgesehen, wohl für den spätantiken hagiographischen Diskurs insgesamt vermuten, denn in aller Regel ist uns nur die Produktionsseite des kommunikativen Geschehens zugänglich. Was Leserinnen und Leser der Spätantike in Heiligenviten lasen und welche Text-Welten sich ihnen dabei erschlossen, kann demnach durch intertextualitätsorientierte Untersuchungen allein nicht beantwortet werden. Aber das sollte hier auch gar nicht behauptet werden. Dass es die Vita Hypatii – trotz aller redlichen Bemühungen des Hagiographen und des „Herausgebers“ der Vita – in Bezug auf ihre beobachtbare Nachwirkung mit der Vita Antonii nicht aufnehmen kann, zeigt, dass die Behauptung, man sei in allem so wie das Vorbild, auch schon vor anderthalbtausend Jahren dazu führte, dass die Leser im Zweifelsfall doch lieber zum Original griffen.
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So Alkier 2003, 22.24 mit Umberto Eco.
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Antonius redivivus oder gar alter Christus Die Darstellung des Martin von Tours in der Vita von Sulpicius Severus Andreas Müller 1. Einleitung Einleitend beginne ich mit einigen grundsätzlichen, warnenden Bemerkungen aus meiner Sicht zu dem T hema des vorliegenden Sammelbandes, die in der bisherigen Literatur so zugespitzt nicht zu finden sind: Intertextuelle Bezüge lassen sich ausschließlich in literarischen Quellen erheben. Insbesondere von den Protagonisten hagiographischer Literatur umgesetzte Topoi sind aber nicht zwangsläufig auf Prägung durch ältere Vorbilder in der Literatur zurückzuführen. Im spätantiken Mönchtum ist durchaus davon auszugehen, dass sich bestimmte monastische Verhaltensmuster und Ideale einfach nur durch die mönchische Lebenspraxis weitertradiert haben und deswegen in vergleichbarer Weise in der Literatur auftauchen. Verhaltensweisen bei Mönchen der Spätantike können dementsprechend lediglich auf Gemeinplätzen monastischen Lebens basieren. Dies erschwert die Erhebung von intertextuellen Bezügen. Vergleichbare biographische Züge etwa sind nicht zwangsläufig auf die Kenntnis entsprechender hagiographischer Texte als Folie für das Erstellen einer neuen Hagiographie zurückzuführen. In der nun zu fokussierenden Vita Martini ist allerdings u.a. eine Nutzung der Vita Antonii als zu überbietender Kontrastfolie so deutlich, dass von einer direkten Nutzung dieser Vorlage zur literarischen Konstruktion eines Heiligen auszugehen ist. Dies gilt auch dann, wenn Intertextualität nicht direkt in Form von Zitaten nachzuweisen ist. Intertextualität kann jedenfalls durchaus auch eine zentrale Bedeutung bei der Konstruktion monastischer Identität haben. Indem sich spätantike Hagiographen in ihren Texten auf literarische Vorbilder zurückbeziehen, konstruieren sie eine monastische Identität auch über die konkreten behandelten Persönlichkeiten hinaus. Dies möchte ich im Folgenden anhand eines berühmten Textes aus dem gallischen Raum erläutern.
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Kaum ein Text der Spätantike wirkt auf Anhieb so stark von Fiktion1 bestimmt und andererseits so intensiv von anderen Texten geprägt wie die Vita Martini des Sulpicius Severus. Der moderne Leser hält sie jedenfalls bereits bei oberflächlicher Lektüre für deutlich von den Intentionen des Verfassers der Vita geprägt. Im Zentrum des Textes stehen nämlich weniger konkrete historische Angaben bzw. biographische Fakten aus dem Leben des Bischofs von Tours, als vielmehr eine Fülle von Wunderberichten und Hinweisen auf die missionarische Tätigkeit des Bischofs. Insbesondere im Bereich der Chronologie des Lebens Martins lassen sich die Tendenzen des Sulpicius relativ leicht erkennen, Martin als einen optimalen miles Christi darzustellen, der nicht einmal lange im Heer gedient hat, sondern früh zu seiner Entscheidung für Christus gekommen ist. Unschwer wird deutlich, dass diese Feststellung weniger den Realitäten als vielmehr den Absichten des Verfassers der Vita entspricht.2 In der Forschung ist bereits deutlich erkannt, dass die Lebensbeschreibung nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf andere hagiographische Texte wie vor allem die Vita Antonii des Athanasius von Alexandrien zurückgreift.3 Ich halte daher die Beschäftigung mit der Vita Martini im Rahmen unserer Fragestellungen für äußerst ergiebig.
2. Die Intention des Sulpicius Grundsätzlich geht es Sulpicius Severus darum, mithilfe zahlreicher intertex tueller Verbindungslinien sein Idealbild eines Bischofs und Asketen zu entwerfen. Dieser Bischof ist nicht nur für christliche Leserinnen und Leser beein druckend. Dementsprechend stellt Sulpicius Martin gleichsam als alter Christus vor, als einen Menschen, der sich äußerst intensiv um die Nachfolge Christi bemüht und sich auch in dieser bewährt.4 Elemente aus der tatsächlichen Biographie des Martin wie sein langer Dienst im Militär werden zu diesem Zwecke umgebogen oder zumindest nivelliert. Hans Reinhard Seeliger hat zuletzt da-
1 Zur Diskussion über die Historizität respektive Fiktionalität der Vita Martini vgl. u.a. Stancliffe 1983; ferner Burton 2017, bes. 9 mit Verweis auf weitere Literatur. Ebd. 25–32 beschäftigt sich Burton auch mit dem Genre Hagiographie der Vita und weist auf Parallelen in Biblischer Literatur, Martyrologien und christlichen Viten hin. Vgl. auch ausführlich zur Historizität der Vita Fontaine 1967, 171–210; ferner Barnes 2010. 2 Vgl. u.a. Seeliger 2015, bes. 310 f. 3 Vgl. zum Verhältnis der Vita Martini zur Vita Antonii vor allem Tornau 2001; vgl. a. bereits in groben Zügen Fontaine 1967, 131; ferner Gemeinhardt 2013, 150–152. 4 Zu biblischen Typologien für Martin vgl. Burton 2017, 32–40. Auch Burton verweist auf die Parallelen zwischen der Schilderung Jesu und der des Martin. Fontaine 1967, 128 spricht von einer „typologie christique“, die er allerdings von einer „stylisation apostolique“ nicht getrennt wissen will. Vgl. zum Konzept der Typologie aber auch kritisch von der Nahmer 2017, 289 f.
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rauf hingewiesen, dass sich in der Vita Martins Ungereimtheiten finden, die sich nur so erklären lassen.5 In der folgenden Untersuchung werden wir sehen, dass Sulpicius auch mit anderen Paradigmen aus der Bibel und der spätantiken christlichen Literatur arbeitet, um Martin nicht nur als getreuen Nachfolger biblischer und späterer Vorbilder zu charakterisieren. Vielmehr überbietet der Protagonist der Vita diese Vorbilder auch noch auf ganz eigene Weise. Sulpicius Severus will Martin aber nicht nur einem christlichen Publikum nahebringen. Vielmehr wendet er sich mit seiner Vita auch an pagan geprägte Rezipienten. Dies wird besonders durch seinen Stil deutlich. In auffälliger Weise kopiert Sulpicius, der sich selbst in einer Art captatio benevolentiae in der praefatio als ungeeignet zum Schreiben darstellt,6 dann doch den Stil antiker Historiographie. Dadurch ist es ihm gelungen, nicht nur auf einen herausragenden Bischof hinzuweisen, sondern diesem auch ein stark rezipiertes literarisches Denkmal zu setzen. Gehen wir dem zunächst mit einem paradigmatischen Blick auf die praefatio der Vita nach. Ohne Schwierigkeiten ließen sich Intertextualitäten zu paganer Literatur auch an anderen Stellen der Vita finden.
3. Die adversative Rezeption antiker historiographischer Topoi – die praefatio Sulpicius Severus war an der gallischen Rhetorenschule zu Bordeaux ausgebildet worden und dementsprechend auch in der Lage, Schriften auf hohem literarischen Niveau abzufassen.7 Gleichwohl spiegelt seine praefatio eine Problematisierung dieser Bildung wieder. Dementsprechend betont Sulpicius, nur in einer ungepflegten Sprache (sermo incultior) schreiben zu können, weswegen er sein Werk auch von dem Adressaten Desiderius eigentlich nicht weiterverbreitet sehen wolle.8 In jedem Fall solle Nachsicht gegenüber der sprachlichen Ungenügsamkeit der Vita geübt werden. Der Inhalt sei schließlich auch viel wichtiger als die sprachliche Form. Letztlich hätten ja auch die Apostel nicht als Redner, sondern als Fischer in sehr erfolgreicher Weise das Heil verkündet. In direkter Abgrenzung von Sokrates und Hektor erklärt Sulpicius, dass man sich um andere Vorbilder bemühen müsse. Man kann also in der Praefatio sogar adversative intertextuelle Bezüge wahrnehmen. Heidnische Philosophen und heidnische Mythen gelten gleichsam als Gegenkonzept zur biblisch-christlichen
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Vgl. nochmals Seeliger 2015, 310 f. Vgl. zur Selbsteinschätzung des Sulpicius u.a. sein Dedikationsschreiben 1.5, Sulpicius v. Mart. Dedikationsschreiben 1 (SC 133, 248–250 Fontaine). 7 Vgl. von der Nahmer 1994, 165. 8 Vgl. Sulpicius, v. Mart. Dedikationsschreiben 1 (248 F.). 6
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Wahrheit.9 Dies ist allerdings nur eine Seite der Medaille, und sie ist enorm rhetorisch aufpoliert. Denn auf der anderen Seite bedient sich Sulpicius ja genau der Sprache, die er eigentlich verurteilt. Nur scheinbar übt er sich im sermo rusticus. Insbesondere seine Briefe machen deutlich, dass er mit der Vita Martini sogar explizit Ruhm gesucht hat.10 Die intertextuellen Bezüge der Praefatio, die der Untermauerung der Intentionen des Sulpicius dienen, hat u.a. Richard Klein in einer beachtenswerten Studie herausgearbeitet.11 Im Folgenden soll – unter Rückgriff auf die Beobachtungen u.a. von Klein – an ausgewählten Stellen noch genauer demonstriert werden, dass der Autor der Martinsvita intensiv auf pagane Literatur zurückgreift, die allerdings z.T. auch vor ihm von christlichen Autoren bereits rezipiert worden ist. Die Einleitung in die Schrift des Sulpicius lässt sich in zwei Teile gliedern.12 Zunächst stellt der Autor ein Widmungsschreiben an seinen – nicht mehr eindeutig zu identifizierenden – „innig geliebten Bruder Desiderius“ voran. Es folgt dann die eigentliche praefatio, in der die Intention und die Rahmenbedingungen der Schrift noch einmal – wohl auch für ein breiteres Publikum – aufgeführt werden. Praefationes bedienten sich bekanntlich spätestens seit der hellenistischen Zeit bestimmter Konventionen.13 Und auch wenn sich Sulpicius in demonstrativer Bescheidenheit übt und zumindest den Wortlaut (verba) seiner Schrift als wertlos darstellt, befolgt er doch auf der anderen Seite – wie bereits bemerkt – bis aufs äußerste rhetorische Konventionen, ja liefert eine stilistisch exzellente praefatio. Schon die einleitenden Bemerkungen des Widmungsschreibens entsprechen diesen Konventionen. Sulpicius betont, dass er keine Veröffentlichung vorgesehen, letztlich aber dem intensiven Drängen des Desiderius nachgegeben habe.14 Seit dem Auctor ad Herennium lässt sich eine ähnliche Argumentation in lateinischen rhetorischen Schriften beobachten. Cicero hat vergleichbare Topoi in seiner Schrift Orator festgelegt.15 Ähnlich wie Tacitus in seinem Agricola betont auch Sulpicius seine kunstlose und ungelenke Sprache, um durch solche loci modestiae Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu erhalten.16 Selbst die Bezeichnung seines Buches als libellus, als Büchlein, knüpft bereits an Vorbilder wie Cicero oder Catull an.17 Ähnliches gilt für weitere Ausdrücke der vermeintlichen Bescheidenheit. Wenn Sulpicius seine Schrift als scheda bezeichnet, als unfertiges literarisches Pro 9
Vgl. von der Nahmer 1994, 165. Vgl. von der Nahmer 1994, 165; 175 unter Bezug auf die Epistula ad Eusebium und Fontaine 1967, 49–58 und 76 sowie das Zeugnis des Posthumianus in den Martinsdialogen I 23. 11 Vgl. Klein 1988. 12 So auch Klein 1988, 12. 13 Vgl. Klein 1988, 6. 14 Vgl. nochmals Sulpicius, v. Mart. Dedikationsschreiben 1 (248 F.). 15 Vgl. Klein 1988, 6. 16 Vgl. Klein 1988, 6. 17 Vgl. Cicero, orat. 1,94 (Z. 4 f. Wilkins); Catull, carm. 1,1 f. (ed. Mynors) und Klein 1988, 13. 10
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dukt, so antizipiert er damit u.a. Formulierungen Isidors.18 Wenn er betont, dass das Buch vier geschlossene Wände nicht verlassen sollte, erinnert das ebenfalls an Cicero oder Horaz.19 Der Topos der eigenen Schwäche findet sich nicht nur in christlicher Literatur wie bereits bei Paulus,20 sondern u.a. auch bei Quintilian.21 Der vir genere et litteris nobilis (Gennadius)22 hat jedenfalls bewusst an Topoi der antiken Rhetorik angeknüpft, um die Menschen seiner Zeit, genauer die noch an der „heidnischen“ Lebensführung festhaltenden gallischen Adligen, die lediglich dem Namen nach bereits Christen waren, zu erreichen.23 Durch seine Rhetorik wollte Sulpicius sicher auch überzeugen, und zwar nicht nur sprachlich. Sein Stil wurde tatsächlich als hochstehend von Zeitgenossen eingeschätzt: Paulinus von Nola sprach mit Blick auf die historia des Sulpicius von einem dignus sermo und einem iustus affectus.24 Inhaltlich kommt Sulpicius auch an anderen Stellen paganem Denken sehr nahe. So betont er – wie bereits erwähnt – z.B., dass eher der Sache (res) als dem Wortlaut (verba) in seiner Schrift Beachtung zu schenken sei.25 Dieses Motiv, das auch von anderen christlichen Schriftstellern stark rezipiert worden ist, findet sich bereits in der Apologie des Sokrates bei Platon.26 Fast wörtlich existiert der Gedanke auch bei Origenes in den Homilien über Jeremias und Ezechiel: Res quippe volumus, non verba laudare.27 Sulpicius weicht von Origenes lediglich dadurch ab, dass er noch ein potius in seine Rede einfügt: Man müsse die Worte schon beachten, aber eben noch mehr die Sache.28 Der Autor macht selbstbewusst deutlich, dass das Heil nicht durch Redner, sondern durch Fischer vermittelt worden sei – salutem saeculo non ab oratoribus […] sed a piscatoribus praedicatam29 heißt es wörtlich. Bei aller vermeintlichen Bescheidenheit konstatiert Sulpicius in seinem Widmungsschreiben also, dass er letztlich durchaus mit antikem Stil mithalten kann. Die vielen deutlichen Anspielungen auf tradierte Topoi zeigen jedenfalls schon im Widmungsbrief traditionell geschulten Lesern an, dass es sich lohnt, die weitere Schrift auf ihre Qualität hin zu überprüfen. Bereits rein formal lassen sich also in gewissem Sinne intertextuelle Bezüge festhalten. Vgl. Isidor von Sevilla, orig. VI 14,8 (Z. 9 f. Lindsay). Vgl. Cicero, Cat. II 1,1 (Z. 10 f. Clark); Horaz, art. 386–389 (ed. Wickham/Garrod). 20 Vgl. u.a. Gal 4,13 f.; 1 Kor 2,1–5; 1 Kor 15,9; 2 Kor 11,30. 21 Vgl. Quintilian, inst. IV 1,8 (187,27 Winterbottom). 22 Gennadius, vir. ill. 19 (TU 14/1, 69,13 Richardson). 23 Vgl. Klein 1988, 12. 24 Vgl. Paulinus von Nola, ep. 11,11 (FC 25/1, 266, 13 f. Skeb): Benedictus igitur tu homo domino, qui tanti sacerdotis et manifestissimi confessoris historiam tam digno sermone quam iusto affectu percensuisti. 25 Sulpicius, v. Mart. Dedikationsschreiben 1 (248 F.): […] ut res potius quam uerba perpendant […]. 26 Vgl. Platon, apol. 17b1–5 (ed. Burnet). 27 Origenes, hom. in Ezech. praef. (GSC 33, 318,11 f. Baehrens). 28 Vgl. auch Klein 1988, 19. 29 Vgl. Sulpicius, v. Mart. Dedikationsschreiben 4 (248 F.). 18
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Sulpicius bleibt aber nicht bei dem positiven Anknüpfen an antike Topoi stehen. Er grenzt sich vielmehr in der eigentlichen praefatio auch deutlich von den paganen Gepflogenheiten ab. Dabei wendet er sich z.B. gegen das eitle Haschen nach Ruhm durch die Darstellung historischer Persönlichkeiten. Der Hagiograph strebt nach seiner eigenen Aussage – in deutlicher Abgrenzung von Cicero oder Seneca – nicht nach Ruhm, sondern nach seligem und ewigem Leben. Allerdings gesteht er – insbesondere in Anlehnung an Sallust – ein, dass durch exempla Erziehung möglich sei.30 Dabei müsse man sich aber an den richtigen exempla orientieren, nicht an solchen wie dem klassischen Hektor oder Sokrates. Nicht durch Schreiben, Kämpfen oder Philosophieren, sondern durch ein frommes, heiliges und gottgefälliges Leben erreiche man das ewige Leben (pie sancte religioseque uiuendo).31 Der Gegensatz zwischen der perennis uita und der perennis memoria ist wiederum eine Anknüpfung an antike Topoi, allerdings adversativer Art.32 Durch seinen Rückgriff auf antike Topoi kann Sulpicius also deutlich machen, wo er einen Neuanfang, eine neue Form von exemplarischer Existenz sieht. Exempla wie Martin führen nämlich zur wahren, ins Praktische gewendeten Weisheit.33 Und wer sie beschreibt, der erhält nicht zeitlichen Ruhm, sondern ewigen Lohn.34 Dadurch wird – anders als z.B. bei Sallust – das Werk des Schreibenden, der ein nachahmenswertes Leben öffentlich bekannt macht, gleichwertig mit den Taten des Beschriebenen. Beide können jedenfalls Lohn in der Ewigkeit erwarten.35 Trotz solcher adversativ gebrauchter Topoi bleibt Sulpicius sich aber auch als antiker Rhetor und Historiker treu, indem er z.B. mit dem Topos der brevitas-Formel betont, dass er sich nur auf das Wesentliche im Leben und Wirken Martins konzentrieren wolle. Damit steht er antiken Autoren wie Sallust, aber auch Cicero, Horaz oder Quintilian wieder sehr nah.36 Trotz der ständigen Anlehnung an dieselben lässt sich bei Sulpicius somit grundsätzlich eine „rigorose Haltung gegen die heidnische Bildungstradition“ beobachten.37 Mit Hilfe der Aufnahme antiker Topoi hebelt er letztlich die alten Vorbilder durch einen neuen Heiligen aus. Dies gilt aber keineswegs nur mit Blick auf die Konkurrenz antiker, paganer Historiographie. Die Tendenz zur Überbietung findet sich auch mit Blick auf andere hagiographische Werke. Zur Zeit der Entstehung der Vita Martini kursierte wohl auch in Gallien in beachtlichem Maß die Vita Antonii des Athanasius von 30
Vgl. ausführlich Klein 1988, 21. v. Mart. 1,4 (252 F.). 32 Vgl. auch Klein 1988, 26: „An die Stelle des heldischen Kampfes und philosophischer Ermahnungen ist der Lebensstil der Heiligkeit getreten.“ 33 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 1,6 (252 F.).: […] uitam sanctissimi uiri, exemplo aliis mox futuram, perscripsero, quo utique ad ueram sapientiam et caelestem militiam diuinamque uirtutem legentes incitabuntur. 34 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 1,6 (252 F.). 35 Vgl. auch Klein 1988, 28. 36 Vgl. Klein 1988, 29. 37 Klein 1988, 30. Vgl. zur Bildungskonzeption des Sulpicius auch Gemeinhardt 2007, 249 u.a. 31 Sulpicius,
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Alexandrien. Diese lag in einer lateinischen Übersetzung des Evagrius vor.38 In einem zweiten Schritt wollen wir beobachten, wie die Vita Martini auf das Vorbild des Antonius bzw. seiner Vita einging.
4. Der Weg zur Askese – Überbietung der Vita Antonii Die Tendenz zur Überbietung von tradierten Idealen der Hagiographie lässt sich bereits bei Hieronymus mit seiner Vita des Paulus von T heben beobachten – er stellt diesen zumindest als älter, ja gleichsam als Begründer eremitischer Lebensweise überhaupt dar.39 Die Dissertation von Yorick Schulz-Wackerbarth hat das erneut deutlich vor Augen geführt.40 Eine ähnliche Überbietung des Antonius ist auch in der Vita Martini angelegt – Sulpicius wollte der Vita Antonii gleichsam ein vollkommeneres Pendant gegenüberstellen.41 Intertextuelle Bezüge der Vita Martini zu dem monastischen Grundtext der Spätantike, der Vita Antonii sind schon lange bekannt bzw. diskutiert. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hat Ernest-Charles Babut in seiner Monographie über Martin von Tours die starke Orientierung des Sulpicius Severus an der Vita Antonii herausgearbeitet und dementsprechend die tatsächliche Biographie des Martin von literarischen Topoi befreien zu können gemeint.42 Darauf haben u.a. Hippolyte Delehaye43 und vor allem Jaques Fontaine44 sehr kritisch reagiert und sich darum bemüht, den Einfluss der Vita Antonii auf die Vita Martini als so gering wie möglich darzustellen. Die Diskussion wurde in prägnanter Weise von Christian Tornau auf der Oxforder Internationalen Konferenz für Patristische Studien 1999 wieder aufgenommen. Tornau konzentrierte sich dabei auf die Schlusskapitel der jeweiligen Viten und arbeitete sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten in der literarischen Strategie der Autoren heraus. Während Athanasius das Leben eines bereits verstorbenen, ihm aber persönlich durchaus noch bekannten Heiligen schilderte, hat Sulpicius Severus ein Buch mit der Vita einer noch lebenden Persönlichkeit verfasst.45 Beide Hagiographien beenden die reine Lebensbeschreibung mit einer Schlussformel, die zu einer Art Epilog überführt. Tornau gelingt es, die intertextuellen Rückgriffe der Vita Martini an dieser Stelle deutlich zu machen und somit 38
Vgl. die Edition Bertrand 2018. Vgl. von der Nahmer 1994, 164 f. Die schlechthinnige Überlegenheit Martins gegenüber Antonius wird demnach auch in den Dialogen des Sulpicius sichtbar. 40 Vgl. Schulz-Wackerbarth 2017. 41 Vgl. Klein 1988, 12: „Nachahmung, Vergleich und Steigerung treffen darin aufeinander, in erster Linie natürlich dort, wo sich der Autor um den Nachweis bemüht, daß Martin alle ägyptischen Mönche an Heiligkeit und Wunderkraft übertroffen habe.“ 42 Vgl. Babut 1912. 43 Vgl. Delehaye 1920. 44 Vgl. Fontaine 1967, 97–134, bes. 130 f. 45 Vgl. Tornau 2001, 159. 39
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Hinweise dafür zu liefern, dass dieser Text nicht nur Motive, sondern auch literarische Strukturen aus dem von Athanasius verfassten Text übernimmt.46 In beiden Fällen geht es den Autoren auch darum, enge persönliche Verbindungen zu dem jeweiligen Protagonisten darzustellen und sich somit als Biographen zu legitimieren. Bei Athanasius geschieht das vor allem durch die Übergabe der Melote des verstorbenen Mönchsvaters, bei Sulpicius Severus durch die Fußwaschung bei der Pilgerfahrt zu dem noch lebenden Mönchsvater.47 In der Vita Martini lassen sich allerdings nicht nur inhaltliche und strukturelle Parallelen zur Vita Antonii beobachten, es ist vielmehr auch die Überbietung der älteren Mönchsgestalt durch den gallischen Asketen festzustellen, die ich am Beispiel der jeweiligen Berufung zum Christen- respektive Mönchtum verdeutlichen möchte. Die Kenntnis der Vita Antonii in der lateinischen Übersetzung des Evagrius dürfte nicht nur bei Sulpicius Severus selber, sondern auch bei den meisten seiner Leser vorausgesetzt werden. Dementsprechend dürften auch in der Vita Martini geschilderte Lebensstationen im Vergleich mit denen des Antonius interpretiert worden sein. Deutlich lässt sich dies u.a. an dem Weg des Antonius bzw. des Martin zur jeweiligen monastischen Existenz machen. Eine direkte, literarische Abhängigkeit des Sulpicius Severus von Athanasius lässt sich dabei nicht ausmachen. Wer aber die Vita Antonii kannte, vermochte durchaus einen spektakuläreren Weg des Martin ins Mönchtum zu beobachten. Eine ausführliche Gegenüberstellung kann ich hier nicht bieten, möchte aber dennoch in einigen groben Zügen die beiden Viten gegenüberstellen: Der Ägypter Antonius stammte aus einem vornehmen und zugleich christlichen Haus.48 Dementsprechend wurde er christlich erzogen. Sein Lebensradius bestand im häuslichen Rahmen, er hielt sich sowohl von anderen Kindern als auch von der paganen Bildung fern, weil er „einfältig“ im Haus Gottes wohne wollte.49 Lediglich die Kirche besuchte er mit seinen Eltern und lebte ansonsten in großer Bescheidenheit. Etwa sechs Monate nach dem Tod der Eltern ging er wieder einmal in die Kirche und bedachte dabei die Vorbilder der ihren Besitz zu Gunsten der Armen entäußernden Apostel nach Apg 4. In der Kirche hörte er die Lesung über den reichen Jüngling nach Mt 19,21 und begriff sowohl sein eigenes Nachdenken über die Apostel als von Gott eingegeben als auch die Lesung als persönliches Zeichen für ihn, um zum Reich Gottes hingezogen zu werden (wörtlich in der lateinischen Übersetzung: Quo audito, quasi diuinitus huiusmodi ante memoriam concepisset et ueluti propter se haec esset Scriptura recitata, ad se Dominicum traxit imperium).50 46
Vgl. Tornau 2001, 161. Vgl. Tornau 2001, 164 f. unter Bezug auf Sulpicius, v. Mart. 25,3 (310 F.) und Athanasius, v. Anton. 91,8 (SC 400, 370,37–40 Bartelink). 48 Vgl. Athanasius, v. Anton. 1,1 (130,1–13 B.). 49 Vgl. Athanasius, v. Anton. 1,2 (130,3–8 B.). 50 Athanasius, v. Anton. interpr. Evagr. 2,4 (CCSL 170, 6,12–14 Bertrand). Der lateinische Text weicht hier deutlich vom griechischen Original ab. 47
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Dementsprechend verschenkte er nun fast alle seine Güter und ließ davon vieles den Armen zukommen. Ein zweiter Kirchenbesuch und die Lesung mit der Aufforderung zur Sorglosigkeit nach Mt 6,34 führte schließlich dazu, dass er auch noch die letzten Reserven, die er für seine Schwester aufbewahrt hatte, den Armen gab und sich selbst von nun an der strengen Askese widmete.51 Antonius kommt also durch eine Art göttliche Beeinflussung seiner eigenen Gedanken und durch das göttliche Wort in der Schriftlesung zwar nicht erst neu zum Christentum, dafür aber zu seiner asketischen Grundhaltung. Und diese steht in enger Verbindung mit der Sorge für die Armen. Bei Martin ist der Weg etwas komplizierter, dafür aber auch umso radikaler gestaltet. Martin kam ebenfalls aus einem vornehmen, aber nicht christlichen Elternhaus.52 Damit waren die Rahmenbedingungen für die Entwicklung hin zu einem christlichen Asketen und Heiligen von vorneherein schwieriger. Hinzu kam, dass Martin schon seit seiner Jugend im Militär diente, was für Christen zu seiner Zeit zwar möglich, aber keineswegs unproblematisch war.53 Dementsprechend merkt Sulpicius hier bereits an, dass er den Militärdienst nicht freiwillig (non tamen sponte) tat und – ähnlich wie Antonius – „ein bemerkenswerter Knabe, schon als kleines Kind ein Heiliger, fast von den frühesten Jahren an mehr vom Dienst an Gott beseelt war“54. Auch Martin suchte dementsprechend die Kirche auf, allerdings nicht mit seinen Eltern wie Antonius, sondern vielmehr bereits als Zehnjähriger gegen deren Willen, um dann auch bereits als Katechumene (catechumenus) aufgenommen zu werden.55 Schon mit zwölf Jahren – eine deutliche Anspielung auf Jesu Gespräch mit den Schriftgelehrten im Tempel ohne das Wissen seiner Eltern nach Lk 2,42–49 – kam in Martin der Wunsch auf, Einsiedler zu werden, was nur durch sein Alter noch nicht möglich war. Erst später sollte er seinen Wunsch „gottergeben“ (devotus) umsetzen.56 Dennoch überflügelte Martin durch diesen expliziten frühen Wunsch bereits Antonius, der lediglich genügsam lebte.57 Mit 15 Jahren zum Fahneneid genötigt, bediente Martin zumindest den ihm zugeteilten Sklaven und tauschte so deutlich die gesellschaftlich normierten Rollen.58 Sulpicius betont, dass sein Protagonist sich in knapp drei Jahren Militärdienst – eine Athanasius, v. Anton. 3,1 (134,1–136,8 B.). Vgl. Sulpicius, v. Mart. 2,1 (254,5–7 F.). 53 Zu Christentum und Militärdienst im antiken und spätantiken Christentum vgl. Karpp 1983. Es handelt sich um den Wiederabdruck eines Aufsatzes aus dem Jahr 1957. Grundlegend ist gerade auch im Blick auf die Zusammenstellung der Quellen zu dem T hema bis heute von Harnack 1905. Vgl. ferner Brennecke 1997; Brock 1988. Zu Martins Militärdienst vgl. auch Barnes 1996. 54 Sulpicius, v. Mart. 2,2 (254,10–12 F.): non tamen sponte, quia a primis fere annis divinam potius servitutem sacra inlustris pueri spiravit infantia (Übers. Huber-Rebenich, 13). 55 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 2,3 (254,12–14 F.). 56 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 2,4 (254,14–20 F.). 57 Vgl. nochmal Athanasius, v. Anton. 3,1 (136, 8 B.). In der lateinischen Übersetzung heißt es wörtlich: asperum atque arduum arriuit institutum (7,6 Bertrand). 58 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 2,5 (254,23–256,1 F.). 51 Vgl. 52
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Angabe, die historisch überaus zweifelhaft ist – nicht durch mit diesem verbundene Schuld befleckte, sondern vielmehr in Güte, Nächstenliebe, Geduld, Demut und Enthaltsamkeit nahezu wie ein Mönch (monachus) lebte, wofür ihn seine Kameraden auch entsprechend verehrt hätten.59 Schon während seines Militärdienstes hat der Taufanwärter (candidatus baptismi) demnach bereits erfüllt, was Antonius erst nach seiner Bekehrung zum Mönchtum explizit umgesetzt hat, die Sorge für die Armen. Sulpicius demonstriert dies mit einem unmittelbaren Rückbezug sowohl auf Mt 25 als auch hier auf Mt 6,34: Er stand nämlich den Notleidenden bei, half den Elenden, speiste die Bedürftigen, kleidete die Nackten und behielt von seinem Militärsold für sich nur so viel zurück, wie er zum täglichen Leben brauchte. Schon damals hatte er für die Lehre des Evangeliums ein offenes Ohr und dachte nicht an das Morgen.60
Die besondere Prädisposition Martins für ein heiliges und asketisches Leben verdeutlicht Sulpicius durch die bekannte Geschichte der Mantelteilung, die ebenfalls vor der Taufe Martins stattfand. Während Antonius also erst durch von Gott angeregte Gedanken und vor allem durch eine Schriftlesung letztlich den Weg zur Askese fand, hat Martin denselben bereits aus eigenen Stücken betreten. Schon als Katechumene besaß er jedenfalls nichts mehr als seine Waffen und einen einfachen Militärmantel (simplicem militiae vestem) bzw. eine Chlamys. Den Bettler bei Amiens stellt Sulpicius auffällig ähnlich dar wie den Überfallenen im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). Letzterer wurde in der Spätantike meist mit Christus selbst gleichgesetzt.61 Martin nun, der bereits gotterfüllte Mann (vir Deo plenus), übte Barmherzigkeit an dem, an dem alle übrigen vorübergingen (praeterirent).62 Barmherzigkeit, misericordia ist auch das Schlüsselwort in Lk 10,33. Selbst das Motiv des Vorübergehens findet sich hier. Auch in Lk 10,31 wird eine Form des Verbes praeterire dafür verwendet. Die Parallelisierung erscheint somit evident. Neben dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter klingt allerdings auch die Heilung des Blinden bei Jericho durch Jesus selbst an – auch dieser wurde um Barmherzigkeit gebeten.63 Die Reaktion auf die Mantelteilung stellt Sulpicius gemischt dar: Einige verspotteten, einige bewunderten Martin und waren über sich selbst beschämt. Entscheidend für Martins weiteren Weg zum Heiligen ist eine Traumvision, die Sulpicius in diesem Zusammenhang beschreibt:
Vgl. Sulpicius, v. Mart. 2,6 f. (256,1–9 F.). v. Mart. 2,8 (256,11–15 F.): adsistere scilicet laborantibus, opem ferre miseris, alere egentes, vestire nudos, nihil sibi ex militiae stipendiis praeter cotidianum victum reservare. Iam tum evangelii non surdus auditor de crastino non cogitabat (Übers. Huber- Rebenich, 15). 61 Zur Rezeptionsgeschichte des Barmherzigen Samariters im spätantiken Christentum vgl. zuletzt Roukema 2004; ferner Monselewski 1967. Zur frühmittelalterlichen ikonographischen Umsetzung der Geschichte Kuder 2015. 62 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 3,1 (256, 21–24 F.). 63 Vgl. Mt 20,29–34 par. Vgl. auch Burton 2017, 160 f. 59
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In der darauffolgenden Nacht nun sah Martin im Schlaf Christus mit dem Teil seines Mantels angetan, mit dem er den Armen bedeckt hatte. Ihm wurde befohlen, den Herrn ganz aufmerksam zu betrachten und das Gewand, das er hergegeben hatte, wiederzuerkennen. Alsbald hörte er Jesus laut und deutlich zu der Menge der umstehenden Engel sagen: „Martin, der noch Katechumene ist, hat mich mit diesem Gewand bedeckt.“ Wahrhaftig eingedenk seiner Worte, die er vormals gesprochen hatte: „Was immer ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40), gab der Herr offen zu erkennen, dass er [selbst] in dem Armen bekleidet worden war; und um seinem Zeugnis für die so gute Tat Nachdruck zu verleihen, geruhte er, sich in demselben Gewand zu zeigen, das der Arme empfangen hatte.64
Martin habe, so Sulpicius, mithilfe dieser Vision in seinem Werk die Güte Gottes erkannt (bonitatem Dei in suo opere cognoscens).65 Während Antonius also durch Gott angeleitet auf seinen asketischen Weg gelangt, wird Martins Verhalten durch eine Traumvision gleichsam in seinem christlichen, asketischen Verhalten durch niemand geringeren als Christus selbst bestätigt. Und er erkennt sich gleichsam als denjenigen, der Gottes Güte umsetzt. Damit wird Martin hier nicht nur als Mann Gottes oder auch als theios aner wie Antonius bezeichnet,66 sondern sogar als jemand, der göttliche Güte auf Erden gleichsam umsetzt. Dementsprechend entscheidet er sich mit 18 Jahren dann auch zur Taufe.67 Die Vita Martini verweist bei der Schilderung der Bekehrung Martins nirgends explizit auf die Vita Antonii. Es ist allein dem Text nicht zu entnehmen, dass Sulpicius Severus seinen Protagonisten und dessen Weg mit dem Weg des Antonius konfrontiert. Jedem Kenner der Vita Antonii muss aber auf Anhieb auffallen, dass der Weg Martins zu Christentum und Askese noch viel stärker einen – nahezu christusgleichen – Heiligen offenbart als der Weg des Antonius. Letztlich wird diese Einschätzung durch die geschilderte Traumvision rhetorisch gleichsam besiegelt. Es ist zu vermuten, dass spätantike Leser einen entsprechenden Vergleich ziehen konnten, auch wenn dieser an der vorliegenden Stelle nicht explizit nahegelegt wird. In anderen Kapiteln der Vita Martini legt sich ein solcher Vergleich noch näher, auch wenn hier kein expliziter Rückbezug und keine Intertextualität in Form von Zitaten vorliegt. Besonders im Bereich der Wundererzählungen gibt es Erzählungen, die Martin nicht nur in der Nachfolge Jesu, sondern auch im Kontrast zu Antonius schildern.
v. Mart. 3,3 f. (258,6–17 F.; Übers. Huber-Rebenich, 17). Vgl. Sulpicius, v. Mart. 3,5 (258,19 F.). 66 Vgl. zu Antonius als θεῖος ἀνήρ bereits Tetz 1982, 1–30, der die zwei Titel für Antonius einer potentiellen Quelle der Vita, nämlich einem Bericht des Serapion von T hmuis (göttlicher Mann) und deren Überarbeitung durch Athanasius (Mann Gottes) zuschreibt. 67 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 3,5 (258,20 F.). 64 Sulpicius, 65
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5. Die Dämonenaustreibung in Vita Martini 17,5–7 – Vita Antonii 63 – Lk 8,26–39 und Mk 1,21–28 Intertextuelle Bezüge lassen sich gut bei den einzelnen Wundererzählungen der Vita Martini ausmachen. Während Wunder, bei denen es in erster Linie um die Bekehrung von Heiden geht, eine Besonderheit gegenüber biblischen Erzählungen und auch denen der Vita Antonii darstellen, lassen sich zahlreiche andere Heilungswunder mit denen vorhergehender Erzähltraditionen gut vergleichen. Ich möchte dies an einem Beispiel aus Vita Martini 17 deutlich machen, einem Kapitel, in dem zwei Dämonenaustreibungen beschrieben werden. Die erste dieser Austreibungen nimmt Motive von mindestens vier Evangelien-Texten auf und kombiniert sie in bemerkenswerter Weise mit der Bekehrung eines Heiden.68 Anders ist die zweite Heilungsgeschichte in Vita Martini 17,5–7 gestaltet. In ihr wird nicht nur das Rasen des Dämons besonders anschaulich beschrieben, sondern auch die Art und Weise, mit der Martin diesem begegnet. Die Geschichte ähnelt auf der einen Seite der Erzählung vom besessenen Gerasener in Lk 8,26–39 oder der Dämonenaustreibung in Mk 1,21–28, andererseits aber auch Berichten über Dämonenaustreibungen des Antonius, am ehesten dem in Vita Antonii 63. Während die einzelnen Motive der jeweiligen Erzählungen durchaus verwandt sind, unterscheiden sich doch die jeweiligen Intentionen der Autoren deutlich. Mit vergleichbarem Erzählmaterial lassen sich dementsprechend ganz unterschiedliche Absichten verfolgen: Während die Dämonenaustreibungen in den Evangelien als Epiphaniegeschichten gestaltet sind und die Macht Christi an den Tag bringen, offenbaren sie bei Athanasius den in Gottes Namen handelnden und bei Sulpicius Severus den eigenmächtigen Asketen. Gehen wir diesen Ausprägungen im Detail genauer nach: Die Erzählung von der Bekehrung des besessenen Geraseners trägt einige sehr charakteristische Züge einer biblischen Dämonenaustreibung. Mehrere Punkte der Erzählung sind prägend für spätere hagiographische Darstellungen. Dies gilt schon für den Ort des Exorzismus. Jesus heilt hier nämlich gleichsam auswärts, im hellenistischen Bereich der Dekapolis (vgl. Lk 8,26). Durch die Dämonenaustreibung wird der Gerasener zur Nachfolge Jesu motiviert, die dieser allerdings ablehnt. An vorliegender Stelle könnte man Wunder durchaus mit missionarischen Tendenzen in Verbindung bringen, wie sie sich auch in der Vita Martini bei ihnen finden. Im Lukas evangelium wird eine solche missionarische Tendenz allerdings nicht hervorgehoben. Die Besessenheit führt in diesem Fall zur Selbstexklusion, einem Leben in Grabhöhlen und ohne Kleider. Entscheidend ist in der Erzählung des Lukas, dass der Besessene unmittelbar bei der Begegnung mit Jesus diesen erkennt und von einer Qual spricht, die von dem „Sohn des höchsten Gottes“ (υἱὲ τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψί68 Vgl. Burton 2017, 226. Burton verweist darauf, dass Sulpicius Motive aus Mt 8,5–13; Mt 17,14–17; Mk 9,16–26 und Joh 4,46–50 kombiniert.
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στου) ausgeht (Lk 8,28). Auffällig ist in der vorliegenden Wundergeschichte die Bezeichnung der Dämonen mit dem Namen Legion (vgl. Lk 8,30). Die Tatsache, dass eine ganze Legion von Dämonen in den Besessenen gefahren ist, steigert noch die Bedeutung der Wunderhandlung. Die Dämonen wehren sich gegen die Austreibung und fahren letztlich in eine Herde Schweine, die ertrinkt (vgl. Lk 8,32 f.). Der Exorzismus löst daraufhin Furcht vor dem Sohn Gottes aus (vgl. Lk 8,35). Er wird daher aufgefordert, nach Galiläa zurückzukehren (vgl. Lk 8,37). Die Geschichte ist im Zentrum somit eine Geschichte der Epiphanie des Gottessohnes bzw. Gottes selbst. Während Jesus den Gerasener auffordert zu berichten, wie große Dinge Gott an ihm getan hat, spricht dieser von den Taten Jesu (vgl. Lk 8,39). Dadurch werden Gott und Jesus, der von den Dämonen im Gerasener bereits als Gottessohn bezeichnet worden war, gleichgesetzt. Die Heilungsgeschichte dient also vor allem einer theologischen Aussage: Gott wirkt in diesem Menschen, ja er ist gleichsam Sohn Gottes oder Gott selbst. Ähnliche Texte wie Lk 8 finden sich auch an zahlreichen anderen Stellen des Neuen Testaments. So berichtet u.a. auch Mk 1,21–28 von einem Exorzismus unmittelbar zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu. In der Synagoge von Kapernaum begegnet Jesus einem Menschen, der von einem unsauberen Geist besessen ist. Auch dieser schreit Jesus abwehrend an und offenbart ihn zugleich, allerdings etwas zurückhaltender als im Lukasevangelium: Er bezeichnet ihn als Heiligen Gottes (ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ; Mk 1,24). Nachdem Jesus den Geist bedroht hatte und dieser aus dem Besessenen ausgefahren war, entstand unter den Anwesenden wiederum Entsetzen. Sie sprechen Jesus zumindest eine neue Lehre in Vollmacht (διδαχὴ καινὴ κατ’ ἐξουσίαν; Mk 1,27) zu. In jedem Fall handelt es sich auch bei Markus bei der Wundergeschichte zugleich um eine Art Epiphaniebericht, wenn auch nicht im selben Umfang wie bei Lukas. Bei Markus geht es vor allem um die ἐξουσία Jesu, die durch sein Handeln offenbar wird. Dämonenaustreibungen dieser Art finden sich nicht nur in der Bibel. Auch in der Vita Antonii lassen sich vergleichbare Handlungen beobachten, die in der Darstellungsweise an die biblischen Texte z.T. deutlich anknüpfen. In Vita Antonii 63 wird davon berichtet, wie Antonius mit seinen Mönchen in ein Schiff steigen wollte, um dort zu beten. Allein Antonius nimmt dabei einen widerwärtigen Gestank wahr, den die Schiffsinsassen auf Fische und Eingesalzenes im Boot zurückführen. Ähnlich wie in den biblischen Erzählungen schreit nun aber ein junger Mann auf, der von einem Dämonen besessen war. Athanasius führt den Aufschrei zwar nicht unmittelbar auf den Dämon zurück, stellt aber dennoch die Annäherung des Heiligen und des Besessenen als Grund für die Reaktion des letzteren dar. Relativ nüchtern stellt er dann weiter fest: Als der Dämon im Namen unseres Herrn Jesu Christi getadelt wurde, fuhr er aus; der Mensch wurde wieder gesund, die anderen aber erkannten, dass es der Gestank des Dämonen gewesen war.69 69 Athanasius,
v. Anton. 63,3 (FC 69, 249 Gemeinhardt).
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Anders als in der biblischen Erzählung geht es in Vita Antonii 63 also nicht um die Epiphanie des Heiligen oder gar des Sohnes Gottes. Vielmehr geschieht das Wunder – ähnlich wie bereits bei Wundererzählungen in der Apostelgeschichte – im Namen Jesu Christi (vgl. Apg 5,16; 16,18 u.a.; vgl. explizit ähnlich auch Vita Antonii 71). Offenbart wird lediglich der Dämon, nicht der Heilige selber. Wohl auch in diesem Sinne verzichtet Athanasius darauf, die Furcht gegenüber Antonius zu thematisieren. Vielmehr wird Antonius als Nachfolger Christi stilisiert, der entsprechend seiner Anweisung Dämonen in dessen Namen austreibt (vgl. Mt 10,8 par.). Ähnliches gilt auch für andere Dämonenaustreibungen70 wie z.B. im folgenden Kapitel der Vita Antonii. In diesem betet Antonius sogar für den jungen, besessenen Mann und bleibt die ganze Nacht mit ihm wach.71 Auch in diesem Fall wird also das Wunder nicht auf die Macht des Heiligen, sondern vielmehr auf Gott selbst zurückgeführt. Hier ist jedenfalls von einer Furcht gegenüber Antonius nicht die Rede. Generell betont Athanasius in Kapitel 56 der Vita Antonii, dass Heilung allein von Gott kommt und weder von Antonius noch von irgendeinem anderen Menschen.72 Obwohl sich also Elemente der Wundererzählungen der Evangelien in der Vita Antonii durchaus wiederfinden, wird in ihr bewusst eine andere Darstellung der Wunder gewählt. Man kann in erster Linie von adversativen intertextuellen Bezügen zu den biblischen Texten reden. Auch in der Vita Martini finden sich mehrere Berichte von Dämonenaustreibungen, die von ihrer Motivik her wiederum stark an parallele Berichte in der Vita Antonii erinnern. Allerdings stellt Sulpicius auch bei den Dämonenaustreibungen die Rolle seines Heiligen viel mehr in den Vordergrund als Athanasius. Beispielhaft dafür mag ein Bericht in Vita Martini 17 stehen. Martin betritt hier das Haus eines pater familias und erkennt – ähnlich wie Antonius beim Betreten des Schiffes – sofort die Anwesenheit des Dämons, auch wenn er ihn in diesem Fall nicht riecht, sondern unmittelbar sieht. Der Dämon befällt in der Geschichte dann den Koch des Hauses. Charakteristisch ist die weitere Schilderung in der Erzählung: Martin aber warf sich dem Rasenden entgegen und befahl ihm zunächst, stehenzubleiben; aber als er mit den Zähnen knirschte und mit weit aufgerissenem Mund zu beißen drohte, steckte Martin ihm die Finger in den Schlund und sagte: „Wenn du [nur] irgendetwas vermagst (si habes […] aliquid potestatis), [dann] verschlinge sie!“ Da zog er, als wäre ein glühendes Eisen in seinen Rachen gedrungen, die Zähne weit zurück und vermied es, die Finger des seligen Mannes zu berühren. Als er unter Martern und Qualen gezwungen wurde, aus dem besessenen Körper zu fliehen, und es ihm nicht einmal erlaubt war, aus dem Mund zu entweichen, wurde er mit einem Durchfall ausgeschieden und hinterließ dabei ekelhafte Spuren.73 70 Dämonenaustreibungen durch Antonius werden von Athanasius in den gesamten Kapiteln 57–64 der v. Anton. mehrmals, aber auch an anderen Stellen wie z.B. v. Anton. 71 thematisiert. 71 Vgl. Athanasius, v. Anton. 64 (248,15–17 G.). 72 Vgl. Athanasius, v. Anton. 56,1 (286,6 B.): […] ὅτι οὔτε αὐτοῦ οὔθ’ ὅλως ἀνθρώπων ἐστὶν ἡ θεραπεία, ἀλλὰ μόνου τοῦ θεοῦ […]). 73 Sulpicius, v. Mart. 17,6 f. (290,13–22 F.; Übers. Huber-Rebenich, 49).
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Der Text des Sulpicius ist auch an dieser Stelle angefüllt mit intertextuellen Verweisen auf vergleichbare Wundergeschichten in der Bibel und in postbiblischer christlicher Literatur, so etwa bei der Darstellung des Handelns des Dämonen. Bezüge sind sowohl zu Lk 9,37–42 als auch u.a. zu den Paralleltexten in Mt 17,14–17 und Mk 9,16–26 zu erkennen.74 Trotz solcher deutlichen Bezüge ist die Wundergeschichte auch durch Spezifika geprägt, die insbesondere im Vergleich mit der Vita Antonii auffallen. Martin nimmt bei Sulpicius eine ganz andere Rolle gegenüber dem Dämon ein als Antonius. So fällt bereits bei der Begegnung mit jenem auf, dass er ihm befiehlt (imperaret; imperat).75 Dieses Verb wird siebenmal in der Vita Martini verwendet.76 Sechsmal ist dabei Martin das Subjekt, einmal Gott – eine bemerkenswerte Parallelisierung.77 Überhaupt geht es in der Erzählung um eine Machtdemonstration, nämlich in einem anschaulich und sehr detailliert beschriebenen Kampf Martins mit dem Besessenen – potestas ist hier das Schlagwort.78 Der Dämon wird schließlich von Martin gezwungen, den Besessenen zu verlassen. Jener löst durch den Kampf innerhalb des Hauses auch Aufruhr, Verwirrung und sogar durch Furcht bedingte Flucht aus.79 In der vorliegenden Erzählung geht es nicht mehr darum, dass ein Mönch mit Gebeten und der Namensnennung Christi, also in konsequenter Nachfolge wie die Jünger Dämonen austreibt. In der Vita Martini geht es vielmehr um einen Machtkampf zwischen dem als beatus vir80 titulierten Heiligen und den bösen Mächten. Der Bericht von der Dämonenaustreibung hat also auch den Charakter einer Ephiphanie, zumindest der Epiphanie der Macht des Heiligen, seiner ἐξουσία wie im Markus-Evangelium. Man kann bei Martin dementsprechend nicht nur von einer konsequenten Nachfolge, sondern gleichsam einer imitatio Christi im wörtlichen Sinne sprechen. Dementsprechend ist er nahezu als alter Christus gestaltet. Texte, die sich derselben T hematik widmen und auch deutlich intertextuell verwoben sind, ermöglichen also gerade durch ihre Vergleichbarkeit, die Rolle ihrer Protagonisten zu unterstreichen. Während Jesus in den Evangelien durch seine Dämonenaustreibungen seine Macht und Göttlichkeit erweist, wird Antonius durch Athanasius als Nachfolger der Apostel charakterisiert, der im Namen Christi die Dämonen austreibt. Martin hingegen erscheint als ein beatus vir, der die Dämonen mit eigener Macht bekämpft. Er wird auch dadurch – ähnlich wie wir es im Blick auf andere intertextuelle Bezüge gesehen haben – durchaus über Antonius gestellt.
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Vgl. auch Burton 2017, 226, der allerdings die lukanische Parallele nicht im Blick hat. Vgl. Sulpicius, v. Mart. 17,5 f. (290,10.14 F.). 76 Vgl. das Register in Fontaine 1969, 1400. 77 Vgl. Burton 2017, 228. 78 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 17,5 (290,17 F.). 79 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 17,5 (290,12 f. F.). 80 Vgl. Sulpicius, v. Mart. 17,7 (290,19 F.); vgl. auch v. Mart. 3,5; 4,7; 7,7; 8,3; 12,5; 17,2; 26,5. 75
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6. Schluss Auch wenn sie an den meisten Stellen auf explizite Zitate anderer Schriften verzichtet, ist die Vita Martini aufs engste mit solchen Texten verwoben. Wir haben feststellen können, dass Sulpicius Severus dabei unterschiedliche Intentionen verfolgt. Zum einen bieten intertextuelle Bezüge die Möglichkeit der Anknüpfung an ältere Traditionen. Dies gilt bei dem gebildeten Gallier sowohl für pagane als auch für christliche Quellen. Wenn er an pagane Traditionen anknüpft, so geht es ihm dabei vor allem auch um stilistische Fragen. Mit traditionellen Topoi macht er deutlich, dass er trotz aller geäußerter Demut in der Lage ist, ein den antiken Schriften gleichwertiges opus zu bieten. Insbesondere inhaltlich kann sich Severus aber durchaus auch adversativ intertextuell engagieren. So betont er, dass sich mit seinem Protagonisten durchaus etwas Neues, das Alte Überholende ereignet hat. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die soteriologische und heilsgeschichtliche Funktion des Martin und der Beschäftigung mit ihm. Sulpicius knüpft darüber hinaus auch an biblische und patristische Traditionen an. Martin wird – vor allem im Blick auf seinen charismatischen Machterweis – deutlich in die Nähe Christi gestellt. An ihm wird ebenfalls die Güte Gottes sichtbar. Wunder vollbringt er nicht mehr – wie die Apostel und auch Antonius – im Namen Christi, sondern vielmehr in eigenmächtiger Weise. Sulpicius scheint dabei – wenn auch unausgesprochen, die Konkurrenz mit dem ägyptischen Wüstenvater bedacht zu haben. Der Konkurrenzkampf zwischen dem griechischen Osten und dem lateinischen Westen um die besseren Heiligen wird jedenfalls in der Vita Martini auch durch intertextuelle Bezüge ausgetragen, auch wenn diese nicht immer auf den ersten Blick sichtbar sind.
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Erzählperspektive und Wertung in der Vita Hilarionis des Hieronymus Christa Gray Die Ansätze und Methoden der Narratologie sind in der Literaturwissenschaft inzwischen fest etabliert. Obgleich diese sich zum größten Teil mit modernen, oft experimentellen Romanen befasst, wird sie seit mehreren Jahrzehnten auch in der klassischen Philologie genutzt, um Aspekte von Erzähltexten zu beschreiben, nicht zuletzt in Arbeiten zum antiken Roman. Seit einigen Jahren wird Hagiographie1 zunehmend als literarische Kategorie ernst genommen. Zwar haben vereinzelt Pioniere wie Walter Berschin, Dieter Hoster, T heodor Wolpers, Herbert Kech, Manfred Fuhrmann und andere schon in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wichtige Impulse geliefert2, doch ist in neuerer Zeit mit Projekten wie Koen De Temmermans „Novel Saints“3 ein Verlangen sichtbar, literarische Fragen systematischer als früher zu erforschen. Ein Kernproblem von Heiligenleben, das diese Ansätze ansprechen, liegt in ihrer speziellen Kombination von Narrativität und Diskursivität: ihre Darstellung von Lebenslauf und -wandel ihres Subjekts ist grundsätzlich durch das Ziel der religiösen Erziehung und Besserung motiviert, welches zumeist ‚unterhaltsame‘ Erzählstrategien verlangt. Zur Untersuchung des Zusammenspiels dieser Aspekte – Information, Erziehung und Unterhaltung – können narratologische Ansätze einen wertvollen Beitrag liefern.4 Darüber hinaus kann, wie Monika Fludernik 1
Eine genaue Definition dieses Begriffs ist schwierig; grob gesagt, umfasst er Texte verschiedener Typen, die der Förderung des Kultes von Heiligen und/oder ihrem Gedächtnis gewidmet sind (nach Delehaye 1927: „tout document écrit inspiré par le culte des saints, et destiné à le promouvoir“). Van Uytfanghe 1988, 1993 und 2001 hat den Begriff des „hagiographischen Diskurses“ etabliert, der das Augenmerk mehr auf formale Charakteristika von Texten als auf ihre pragmatischen Funktionen lenkt und eine noch größere Bandbreite an literarischen Genres einschließt. Zur Entwicklung und Bedeutung des Begriffs siehe auch Gemeinhardt 2015. Im engeren Sinn meine ich damit besonders biographisch konstruierte Narrative (Heiligenleben). 2 Berschin 1986–2004; Hoster 1963; Wolpers 1964; Kech 1977; Fuhrmann 1977. 3 „Novel Saints: Studies in Ancient Fiction and Hagiography“ (https://www.novelsaints. ugent.be). 4 Aktuelle Beispiele sind von Contzen 2016 und Staat 2018. Ein Sammelband, T he Hagiographical Experiment, der verschiedene narratologische und philologische Ansätze exempla-
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und andere gezeigt haben5, die Beschäftigung mit hagiographischer Literatur die Prinzipien und Methoden der Narratologie selbst radikal erneuern. Durch die Unterscheidung der Ebene der ‚story‘ und der des ‚discourse‘ ermöglicht die Narratologie eine Untersuchung des Zusammenspiels beider Ebenen, worin sich das Didaktische und das Unterhaltsame durchdringen. In einem separat veröffentlichten Aufsatz habe ich die Möglichkeiten eines solchen Ansatzes exemplarisch für die Vita Pauli und die Vita Malchi des Hieronymus dargelegt6; hier folgt eine Behandlung der Vita Hilarionis unter besonderer Berücksichtigung der Frage, mit welchen Methoden die narratologische Instanz des Erzählers die didaktische Wirkung des Textes bestimmt.
A. Einleitung 1. Erzählen als Beziehung: Erzähler- und Leserkonstellationen Um eine narratologische Kategorie wie die Erzählperspektive für die Analyse der rhetorisch-didaktischen Tendenz7 einer Erzählung nutzbar zu machen, muss sie im Rahmen einer Kommunikationstheorie behandelt werden: das heißt, es ist davon auszugehen, dass der Erzähltext einen Akt der Kommunikation darstellt.8 Wolfgang Iser zufolge ist das literarische „Werk“ als solches weder im Text an sich noch in der subjektiven Rezeption des Lesers zu finden, sondern in der Interaktion zwischen beiden.9 Im Text selbst ist dieser Akt durch das Verhältnis des Erzählers zum impliziten Leser eingeschrieben.10 In Erzähltexten geht es dabei nicht nur um die Darstellung erfundener oder realer Ereignisse, sondern auch – womöglich vorrangig – um deren Bedeutung, die erst im Zusammenspiel von Text und Leser konstruiert wird. Ein Text enthält aber „intersubjektiv verifizierbare Anweisungen für das Hervorbringen seines Sinnes“11, die selbstverständlich sprachlich kodiert sein müssen. Eine fundamentale Beziehungsstruktur in Erzähltexten ist das Verhältnis zwischen Erzähler, Figuren und Leser.12 Bei der genauen Bestimmung dieser Instanzen stimmen nicht alle Erzählwissenschaftler überein; aber ein ungefährer Umriss risch verfolgt, wird 2020 von James Corke-Webster und mir bei Vigiliae Christianae Supplements publiziert. 5 Fludernik 1996, 96–111; Altman 2008, 124–128; von Contzen 2016. 6 Gray 2017. 7 Der Begriff der ‚Tendenz‘ wird hier gebraucht, um den Bezug auf ‚Intention‘ zu vermeiden: letzterer suggeriert die Beweggründe der (historischen) Person des Autors, wohingegen ich unter ‚Tendenz‘ eine textimmanente Kategorie verstehe. 8 Vgl. Iser 1976, 7. 9 Iser 1976, 38–39; vgl. Pany 2000, 12. 10 Zur Rolle des impliziten Lesers siehe Iser 1976, 66. Bei Iser ist der implizite Leser nicht textimmanent, sondern bereits Teil des Vermittlungsvorgangs zwischen Text und Leser. 11 Iser 1976, 47. 12 Mit ‚Leser‘ ist hier jeder gemeint, der die betreffende Erzählung hört oder liest.
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der respektiven Bedeutungen ist relativ allgemein anerkannt. Danach ist der Erzähler die ‚Stimme‘, die das Erzählte mit eigenen Worten artikuliert. Diese Aufgabe kann im selben Text von mehreren ‚Personen‘ übernommen werden. Der Begriff des Erzählers unterscheidet sich also von dem des Autors13: Letzterer ist die reale Person (in unserem Falle Hieronymus), dessen physische Aktivität, ob Schreiben oder Diktieren, zur Entstehung des Textes führt. Dem Erzähler entspricht der implizite Leser, der vom historisch realen Leser zu unterscheiden ist. Diese Instanz ist ebenfalls in den Erzähltext eingeschrieben, obwohl sie sich gewöhnlich nicht durch Sprache ausdrückt; ihre vorweggenommene Rezeption der Erzählung kann nur anhand der diversen rhetorischen und kompositorischen Entscheidungen des Erzählers selbst rekonstruiert werden, in der Annahme, dass der Erzähler diese für effektiv erachtet, um auf den Leser in der erwünschten Weise einzuwirken. Eine dritte Kategorie ist die der handelnden Figuren, deren Charakter durch ihre Taten und Worte zum Ausdruck kommt, in direkter und indirekter Rede, sowie durch ihre Gedanken, soweit der Erzähler diese zu kennen behauptet. Die Erzählstimme bewegt sich in einem Spektrum zwischen Identifikation mit dem Autor und Empathie mit den Figuren: in den Heiligenleben des Hieronymus ist das ‚Ich‘ des Erzählers manchmal der Rolle sehr ähnlich, die der Autor in seinen Briefen oder Pamphleten annimmt; in anderen Fällen, wie etwa im Hauptteil der Vita Malchi, übernimmt eine Figur die Erzählung in der ersten Person (Vita Malchi 3–10). Die Übergänge können auch fast unmerklich geschehen: insbesondere kann der Erzähler die Perspektive einer anderen Figur einnehmen, ohne dass der Wechsel eindeutig markiert wird, etwa durch den Gebrauch von direkter oder indirekter Rede. Diese Übergänge werden meist als Wechsel in der ‚Fokalisierung‘ beschrieben: was eine Figur wahrnimmt, ist durch diese Figur ‚fokalisiert‘.14 Jedes Detail einer Erzählung kann also im Hinblick auf seine Fokalisierung analysiert werden, indem man die folgende Frage an den Text richtet: Wer bemerkt einen gegebenen Umstand oder Aspekt? Wenn jedoch die Frage der didaktischen Tendenz im Spiel ist, geht der Begriff der Fokalisierung nicht weit genug. Genettes Frage nach dem Fokalisierer, ‚wer sieht?‘, beinhaltet nicht unbedingt die Frage ‚wer fühlt/urteilt?‘; sie betont visuelle und kognitive, aber nicht ideologische Aspekte. Für solche Fragen ist der Begriff der ‚Erzählperspektive‘ vorzuziehen: er vereint die Frage nach dem Standpunkt des Beurteilers mit der nach dem Urteil selbst.15 Wenn der Erzähler stark mit dem Autor identifiziert und das Geschehen häufig 13 Der hagiographische Autor und seine Selbstdarstellung sind eingehend in Krueger 2004 untersucht worden. 14 Der Begriff der Fokalisierung wurde durch Gérard Genette 1972 eingeführt. Zur Kontroverse über die Definition und besonders die Grenzen seiner Brauchbarkeit siehe von Contzen 2016, 126. 15 In von Contzens Gebrauch erscheinen die Begriffe „perspective“ und „ideology“ geradezu als Synonyme, wenn sie schreibt (2016, 128): „Broadly speaking, perspective or ideology can be encoded explicitly and implicitly in the narrative“.
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interpretativ kommentiert wird, entsteht beim realen Leser leicht das Gefühl, die Interpretationsarbeit werde ihm abgenommen: er kann der vorgegebenen Meinung nur zustimmen oder widersprechen.16 „Unbestimmtheit“ und „Leerstellen“ sind also wichtige Mittel, um den Leser durch die Aufforderung, sich ein eigenes Bild von der erzählten Handlung zu machen, in die Konstruktion der Bedeutung einer Erzählung einzubeziehen.17 Wenn Unbestimmtheit geschickt gehandhabt wird, kann sie möglicherweise sogar den ideologischen Kern einer Erzählung auf effektivere Weise verstärken.18 Die pragmatische Dimension eines Textes wird gewöhnlich unter dem Blickwinkel der Diskursanalyse betrachtet. Es spricht jedoch einiges dafür, diese in die Disziplin der Narratologie zu integrieren, besonders wenn Erzähltexte nicht als freistehende Kunstwerke, sondern als Bausteine oder Spielzüge einer weiterreichenden Konversation angesehen werden. Das Konzept der Erzählperspektive nimmt den kommunikativen Charakter von Erzähltexten ernst und erweitert gleichzeitig den Spielraum des Erzählers. 2. Christliche Heiligenleben und die didaktische Funktion von Biographie Was nun hagiographische Literatur betrifft, so wurde sie lange Zeit hauptsächlich im Blick auf ihre historische Verlässlichkeit behandelt, und sie schnitt bei dieser Beurteilung nicht immer gut ab.19 Der linguistic turn ermöglichte eine mittlerweile etablierte Ehrenrettung hagiographischer Formen, indem die Aufmerksamkeit auf andere, literarische Aspekte der Texte gelenkt wurde. Die didaktische Dimension dieser Texte wird nun nicht mehr als Makel verstanden, der die Wahrhaftigkeit der Erzählung verzerrt und verfälscht, sondern als eine Eigenschaft, die selbst historisiert werden kann.20 Dabei sind Heiligenleben nur eine Variante einer größeren Kategorie von Texten, nämlich der Biographie, die mit verwandten Problemen ringt, wie Matthew Fox’ Rezension eines Sammelbandes über die antike Biographie zeigt: If the narrative of lives becomes the place where even distinctions between text and world fail, and where generic and narrative structures are likewise subject to endless variety, then ‚the biographic‘ could be employed as a category for describing something that has 16 Iser 1970, 16. Vgl. Barthes 1975, 4: „reading is nothing more than a referendum“ (kursiv im Original). 17 Iser 1970, 33. Vgl. Barthes 1975, 4: „the goal of literary work (of literature as work) is to make the reader no longer a consumer, but a producer of the text.“ 18 Vgl. Mitsis 1993 zur Funktion des Adressaten Memmius bei Lukrez. 19 Das ursprüngliche Ziel der belgischen Société des Bollandistes im Zuge der Gegenreformation war es, Kritik an der historischen Richtigkeit christlicher Hagiographien durch die Entwicklung von Methoden abzuwehren, die es ermöglichen sollten, Wahres von Erfundenem zu trennen. Siehe hierzu Delehaye 1927 und 1966 sowie Aigrain 2000. 20 Zu Hieronymus siehe bereits Kech 1977, der die erbauliche Intention der Heiligenleben betont. Schulz-Wackerbarth 2017 hat für Hieronymus’ Vita Pauli herausgearbeitet, wie das Konzept von Heiligkeit im Text konstruiert wird.
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often escaped the scholar: that commonplace attempt to entrap the spectre of subjectivity by writing, and in the process make it less spectral. Any idea of how human life should be described is bound to be as mutable as that life itself, but if ancient literature persists in using the individual character as a focus for competing versions of what a life ought to be in a moral sense, and ought to look like in a formal or aesthetic sense, then continuing the investigation along these lines will tell us more about how self-image, a vision of the social, and textual production work together.21
Hier geht es ebenfalls um historische Wahrheit, literarische Konstruktion und moralische Intention; und hier wie dort erweisen sich die drei als letztlich untrennbar. Kein Autor einer Vita, sei sie politisch oder religiös, kann einem menschlichen Subjekt vollständig gerecht werden; es lässt sich sogar argumentieren, dass der Leser sein Verständnis eines Textes nicht auf die Realität an sich beziehen kann, sondern nur auf bereits von ihm und seiner Gesellschaft geformte systematisierte Modelle der Realität.22 Dieser Beitrag unternimmt es entsprechend, mit Blick auf die Präsentation des Erzählers in einem bestimmten hagiographischen Text, der Vita Hilarionis des Hieronymus, die didaktische Dimension der Vita differenziert auszuleuchten. Indem die verschiedenen Erzählstrategien dargestellt werden, lässt sich die im Text konstruierte Beziehung des Erzählers zum Leser genauer darstellen. Zunächst bedarf es jedoch einiger Worte zu Kontext und Inhalt der Vita selbst. B. Die Rolle des Erzählers in der Vita Hilarionis 1. Historische Entstehungssituation und Zusammenfassung der Handlung Hieronymus verfasste die Vita Hilarionis in den späten 80er oder frühen 90er Jahren des dritten Jahrhunderts n. Chr., wahrscheinlich kurz nach der Vita Malchi. Nach allem, was wir wissen, war Hilarion eine real existierende historische Persönlichkeit.23 Er wurde wahrscheinlich in den neunziger Jahren des dritten Jahrhunderts nach Christus geboren und lebte als wunderwirkender Asket in Palästina, im Umland von Majuma, der Hafenstadt von Gaza. Laut der Vita des Hieronymus blieb er dort bis Julian ‚der Apostat‘ Kaiser wurde und, angeblich im Rahmen seiner Rehabilitierung der traditionellen Religion, den paganen Herrschern von Gaza die Lizenz gab, Hilarion zu verfolgen. Um 361 verließ Hilarion daher Hieronymus zufolge diese Region und reiste erst nach
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Fox 2000, 96. Vgl. Pany 2000, 23. 23 Die wichtigste externe Quelle ist die Kirchengeschichte des Sozomenus, worin der Autor Details aus dem Text des Hieronymus um Angaben aus seiner eigenen Familiengeschichte ergänzt: Historia Ecclesiastica 3,14,21–27; 5,10,1–2; 5,15,15 (hier konvertiert der Großvater des Sozomenus zum Christentum, der Zeuge ist, wie der Heilige einem anderen Mann, Alaphion, einen Dämon austreibt; dies wird in der Vita des Hieronymus nicht erzählt); 6,32,2–6 (GCS 50, 121–122. 206. 216. 288 Bidez/Hansen). 22
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Ägypten, dann nach Libyen, Sizilien, Dalmatien, und schließlich nach Zypern, wo er um 375 n. Chr. starb. Hieronymus portraitiert Hilarion als einen Anhänger Antonius ‚des Großen‘, dessen Vita kurz nach seinem Tod im Jahre 356 durch den Bischof Athanasius von Alexandrien veröffentlicht worden war. Athanasius’ Werk wurde sofort ein Bestseller, sowohl im griechischen Original als auch in mindestens zwei lateinischen Übersetzungen, die kurz nach dem Erscheinen des Textes in den späten 350ern oder frühen 360ern angefertigt worden waren.24 Wie schon die Vita Pauli des Hieronymus, so ist auch die Vita Hilarionis im engen Dialog mit der Vita Antonii konzipiert.25 Abgesehen von der anerkannten Historizität des Hilarion sind nur wenige Details außerhalb des Hieronymustextes belegt. Es ist also keineswegs eindeutig, inwiefern sich Hieronymus für seine narrative Konstruktion auf historische Fakten verlassen konnte; und ich möchte behaupten, dass wir die Vita, was ihre Struktur und Intentionalität angeht, prinzipiell wie eine fiktionale Erzählung behandeln können. Daneben muss sich die Tatsache, dass es sich beim Protagonisten der Vita um eine unabhängig bezeugte Figur handelt, nicht auf den Zugang zu diesem Text als literarische christliche Biographie auswirken:26 die sporadischen Gelegenheiten, bei denen Ereignisse der Erzählung mit historischen Daten in Verbindung gebracht werden (z.B. der oben erwähnte Regierungsantritt Julians, der laut Hieronymus die Verfolgung des Hilarion und seines Schülers Hesychius sowie die Zerstörung seiner Einsiedelei zur Folge hat)27, sind formal nicht von denen in der Vita Pauli zu unterscheiden28, deren Geschichtlichkeit zumindest zweifelhaft ist. 2. Erzählperspektiven in der Vita Hilarionis a) Ich-Aussagen des auktorialen Erzählers Der Erzähler der Vita Hilarionis nimmt keinen allwissenden Standpunkt ein. Obwohl der Großteil der Vita in der dritten Person erzählt wird, meldet sich der Erzähler immer wieder in der ersten Person zu Wort29, angefangen mit dem ersten Satz des Vorworts: 24
Siehe die neuen Ausgaben beider Übersetzungen durch Bertrand und Gandt 2018. Ein detaillierter Vergleich der Vita Hilarionis mit Athanasius’ Vita Antonii, bzw. mit deren lateinischer Übersetzung durch Evagrius, steht noch aus. 26 Möglicherweise haben sowohl die Vita Pauli als auch die Vita Malchi einen historischen Kern; dieser lässt sich jedoch nicht zuverlässig rekonstruieren. Vgl. Rebenich 2000, 25–27; Barnes 2010, 181–183. 27 Hieronymus, v. Hilar. 23,6. 28 Beispielsweise wird die Existenz eines Fauns in der Vita Pauli mit Bezug auf eine durch Kaiser Constantius II. mumifizierte Leiche eines solchen beglaubigt; siehe Gray 2017, 12. 29 Eine vollständige Liste der Stellen, an denen der Erzähler von sich selbst die erste Person benutzt (mit Ausnahme formelhafter Wendungen) ist im Appendix dieses Kapitels angegeben. 25
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Scripturus uitam beati Hilarionis habitatorem eius inuoco Spiritum sanctum, ut qui illi uirtutes largitus est, mihi ad narrandas eas sermonem tribuat, ut facta dictis exaeque rentur.30 Im Begriff, das Leben des seligen Hilarion zu schreiben, rufe ich den Heiligen Geist an, der in ihm wohnt, dass er, der ihm seine Tugenden schenkte, mir die Rede gebe, sie zu erzählen, damit seine Taten durch meine Worte erreicht werden mögen.31
Vom ersten Wort an32 signalisiert der Erzähler, dass er eindeutig mit dem Autor der Vita, also Hieronymus, zu identifizieren sei. Diese auktoriale Ich-Perspektive wird größtenteils zur Erläuterung und Rechtfertigung von Auswahl und Darstellung eingenommen. Bisweilen finden wir dazu auch einen expliziten Verweis auf den Leser, wie im folgenden Beispiel: Et quia longum est per diuersa tempora carptim ascensum eius edicere, comprehendam breuiter, ante lectoris oculos uitam eius pariter exponens, et deinceps ad narrandi ordinem regrediar. Und weil es zu weit führen würde, seinen [d.h. des Hilarion] Aufstieg Schritt für Schritt wiederzugeben, werde ich ihn kurz zusammenfassen, um sein Leben auf einmal vor den Augen der Lesenden auszustellen; danach werde ich zur Reihenfolge der Erzählung zurückkehren.33
Dieser Satz leitet einen Exkurs ein, welcher die fortlaufende Entwicklung der Ernährung des Hilarion zum Gegenstand hat. Diese Information ist damit für den Leser als Hintergrund verfügbar, vor dem sich die im Folgenden erzählten Wunder und anderen Taten des Hilarion ereignen. Der Erzähler identifiziert sich hier mit dem Autor, der das verfügbare Material ordnen und effektiv darstellen muss. Das Ziel ist die Anschaulichkeit für den Leser, der so den Fortschritt des Hilarion auf einen Blick erfassen soll und so zu einer Art Zuschauer gemacht wird. 30 Alle Zitate der Vita Hilarionis sind der Ausgabe von Edgardo Morales in Leclerc u.a. 2007 entnommen. Die Übersetzungen sind meine eigenen. 31 Hieronymus, v. Hilar. 1,1. 32 Eine in mehreren Handschriften überlieferte Version der Vita Hilarionis, die sogenannte „Asella-Edition“ (Leclerc u.a. 2007, 92 f.), enthält zwei zusätzliche Sätze, am Anfang und Ende des Vorworts, die sich im Rest der Tradition nicht finden, und die ebenfalls die erste Person für den Erzähler gebrauchen. Nach dem Incipit liest man hier in sanctis orationibus tuis memento mei decus ac dignitas uirginum nonna Asella decus ac dignitas („Erinnere dich meiner in deinen heiligen Gebeten, du Schmuck und Würde der Jungfrauen, Nonne Asella“, überliefert im Codex Monacensis 6393 und mit veränderter Wortstellung im Codex Bruxellensis 8216 18), und am Ende des Vorworts liest man opto ut in Christo permaneas et memor in orationibus tuis sis mei uirgo sacratissima („Ich wünsche, dass du in Christus verharren mögest und meiner in deinen Gebeten eingedenk seiest, heiligste Jungfrau“, ebenfalls im Monacensis 6393 und Bruxellensis 8216 18, sowie supra lineam im Codex Sangallensis 579). Es ist nicht eindeutig, ob diese Widmungszeilen von Hieronymus selbst stammen, womöglich in einer separaten Ausgabe des Werks (Asella war eine gute Bekannte aus Rom, deren Tugenden er noch zu ihren Lebzeiten in ep. 24, einem Brief an ihre Schwester Marcella, beschrieb; sie war auch die Adressatin von Hieronymus’ ep. 45). Ist dies der Fall, dann verstärken sie noch die pragmatische Intention des Vorworts. 33 Hieronymus, v. Hilar. 4,4.
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Es lässt sich also feststellen, dass der Gebrauch der ersten Person in einem starken Zusammenhang mit der Diskussion auktorialer Entscheidungen steht, die ihrerseits häufig von ideologischen Parametern bestimmt ist – z.B. als praeteritio, die die Vielzahl von Hilarions Wundern betont34. In mehreren Fällen ist die auktoriale Organisation in der ersten Person mit einer negativen Wertung gekoppelt, z.B. nachdem Hilarions Anhänger Hadrianus eine Anzahl von Geschenken stiehlt, die Hilarion von seinen Mitbrüdern übersandt worden waren, aus Frustration darüber, dass sein eigennütziger Versuch, Hilarion zur Rückkehr nach Palästina zu überreden, gescheitert ist: Super hoc sane, quia alter locus referendi non est, hoc tantum dixerim in terrorem eorum, qui magistros suos despiciunt, quod post aliquantulum temporis morbo regio computruerit. Über ihn [Hadrianus] werde ich, weil es keine andere Stelle gibt, um es zu berichten, immerhin noch sagen – um jenen einen Schreck einzujagen, die ihre Lehrmeister geringschätzen –, dass er nach kürzester Zeit an der königlichen Krankheit verfaulte.35
Hier will der auktoriale Erzähler dem Leser – genauer gesagt, einer bestimmten Kategorie von potentiellen Lesern, die ihre Lehrer verachten – also eine Lektion erteilen, und zwar in der Form eines chronologisch diskontinuierlichen Exkurses über Hadrianus’ unerfreulichen Tod. Hier sind also moralische Intention und editorische Technik verknüpft: die auktoriale Bewertung von Hadrianus’ Handeln motiviert ihn, den Exkurs in seine Erzählung einzuschließen. In nur einem Fall wird die erste Person vom Erzähler selbst in einer Situation gebraucht, wo es nicht um kompositorische Fragen geht: Mirentur alii signa eius et portenta, quae fecit, mirentur incredibilem abstinentiam, scientiam, humilitaten; ego nihil ita stupeo quam gloriam illum et honorem calcare potuisse. Mögen andere die Zeichen und Wunder bestaunen, die er vollbrachte, mögen sie seine unglaubliche Enthaltsamkeit, sein Wissen, seine Bescheidenheit bestaunen; mich selbst verblüfft nichts so sehr wie sein Vermögen, Ruhm und Ehre mit Füßen zu treten.36
Der Gebrauch der ersten Person für diesen Ausdruck großer Verwunderung ist also eine Ausnahme in der formalen Gestaltung der Erzählstimme. Indem sich der Erzähler zu dieser persönlichen Stellungnahme hinreißen lässt, wird die Stelle selbst noch stärker betont: es handelt sich um einen zusammenfassenden Höhepunkt von Hilarions Leben in Majuma, kurz bevor er den Ort auf der Suche nach Einsamkeit verlässt. 34 Vgl. Hieronymus v. Hilar. 3,10: Multae sunt temptationes eius et die noctuque uariae daemonum insidiae; quas si omnes narrare uelim, modum excedam uoluminis („Seine Ver suchungen waren viele, und Tag und Nacht stellten ihm die Dämonen verschiedenartige Fallen; wenn ich sie alle erzählen wollte, würde ich das Maß des Buchs überschreiten“) und 15,1: Tempus me deficiet, si uoluero uniuersa signa, quae ab eo perpetrata sunt, dicere („Die Zeit würde mir ausgehen, wenn ich alle Zeichen, die er vollbrachte, hersagen wollte“). 35 Hieronymus, v. Hilar. 24,4. 36 Hieronymus, v. Hilar. 20,1.
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Umgekehrt wird Kompositorisches allerdings auch in der dritten Person angesprochen, z.B. im unpersönlichen Passiv in der folgenden Stelle: Sed nec illud tacendum est, quod Orion, uir primarius et ditissimus urbis Ailae, quae mari Rubro imminet, a legione possessus daemonum ad eum adductus est. Jedoch darf das folgende Ereignis nicht verschwiegen werden: Orion, ein herausragender und überaus reicher Mann aus der Stadt Aila, die direkt am Roten Meer liegt, war von einer Legion Dämonen besessen und wurde zu ihm [Hilarion] geführt.37
Der Gebrauch der ersten Person ist also nicht notwendig für Kommentare, die sich mit Selektion und Anordnung der biografischen ‚Fakten‘ befassen; allerdings bietet die Tatsache, dass sie sich beinahe ausschließlich auf solche Aussagen beschränkt, Grund zu der Annahme, dass es sich insgesamt bei der Verteilung der auktorialen Ich-Aussagen um ein bewusst angelegtes Muster handelt. Zu Beginn des Textes ist ihre Dichte naturgemäß am höchsten: Das Vorwort ist traditionell der geeignetste Ort, um den Leser auf den Rest des Textes einzustimmen und auktoriale Entscheidungen zu verteidigen.38 Doch nicht in jedem Erzähltext mischt sich das Ich des auktorialen Erzählers fortwährend in die Darstellung ein. Der Blick dieser Erzählerfigur ist nach außen gerichtet, auf die künftige Rezeption des Werkes, und der häufige Gebrauch der ersten Person erweckt den Eindruck eines selbstbewussten und kompetenten Verfassers. Dabei macht die explizit dargestellte Subjektivität dieser auktorialen Aussagen dem Leser deutlich, dass es theoretisch möglich gewesen wäre, andere Entscheidungen zu treffen. Dem Leser wird also eine gewisse Freiheit zugestanden, zu anderen Schlüssen zu kommen. b) Interpretationshilfen: sachlich und ideologisch Mit diesen Aussagen des Erzählers in der ersten Person müssen seine weniger expliziten Kommentare in der dritten Person verglichen werden.39 Neben den Ich-Aussagen gibt der Erzähler dem Leser eine große Anzahl von Interpretationshilfen. Einige davon sind zum besseren Sachverständnis bestimmt; andere haben eine primär ideologische Funktion. Sachliche Interpretationshilfen sind in der Vita enorm häufig anzutreffen. Ein schönes Beispiel findet sich im Vorwort: Alexander Magnus Macedo, quem uel aes uel pardum uel hircum caprarum Daniel uocat, cum ad Achillis tumulum peruenisset: „Felicem te“, ait, „o iuuenis, qui magno frueris praecone meritorum“, Homerum uidelicet significans. Alexander der Große aus Macedon, den Daniel als „Erz“, „Leoparden“ und „Ziegenbock“ bezeichnet, sagte, als er das Grabmal des Achilleus erreichte: „Du hast Glück, junger
v. Hilar. 10,5. So die klassische rhetorische T heorie: Janson 1964, 25 f. 39 Vgl. zu diesem T hema von Contzen 2016, 64 f. 37 Hieronymus, 38
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Mann, dass du einen großen Herald deiner Verdienste hast“, womit er selbstverständlich Homer meinte.40
Die Symbole, die im biblischen Buch Daniel (2,32 und 2,39 für aes; 7,6 für pardus; 8,5, 8,8 und 8,21 für hircus caprarum)41 von Alexander dem Großen gebraucht werden, sind für die Anekdote überflüssig. Sie geben einen fadenscheinigen christlichen Rahmen für eine an sich rein pagane Episode ab, illustrieren aber gleichzeitig die Belesenheit des Autors in beiden Literaturen. Des Weiteren fungiert das Hinzufügen von Homerum uidelicet significans vorgeblich als Verständnishilfe für diejenigen, deren Bildung nicht ausreicht, den Namen des Verkünders von Achilleus’ Ruhm selbst aus dem Kontext heraus abzuleiten. Ein entsprechend gebildeterer Leser wäre vielleicht auch gern selbst auf den Namen gekommen und könnte sich durch die Erklärung des Erzählers bevormundet fühlen. Darüber hinaus ist die leitende und erklärende Funktion der ‚objektiven‘ Erzählstimme so allgegenwärtig, dass Beispiele nach Belieben herausgegriffen werden können. Die ständige Verknüpfung von Handlungseinheiten durch temporale, kausale, und modale diskursive Partikeln erzeugt den Eindruck einer Erzählhaltung, die den Leser stets im Blick behält. Übergänge von rein sachlicher Information zu ideologischer Leitung sind dabei fließend, wie der folgende Passus deutlich macht: Quinto igitur die uenit Pelusium uisitatisque fratribus, qui in uicina eremo erant et in loco qui dicitur Lychnos morabantur, perrexit triduo ad castrum T haubastum ut uideret Dracontium episcopum et confessorem, qui ibi exsulabat. Quo incredibiliter consolato tanti uiri praesentia, post aliud triduum multo Babylonem labore peruenit, ut uiseret Philonem episcopum, et ipsum confessorem. Constantius enim rex, Arianorum fauens haeresi, utrumque in ea loca deportauerat. Am fünften Tag erreichte er also Pelusium. Nachdem er die Brüder besucht hatte, die sich in der benachbarten Wüste aufhielten und den Ort, der „Lychnos“ genannt wird, bewohnten, ging er innerhalb von drei Tagen zum Lager T haubastum, um den Bischof und Bekenner Dracontius zu sehen, der dort sein Exil zubrachte. Nachdem dieser durch die Anwesenheit eines so großen Mannes gewaltigen Trost erfuhr, erreichte Hilarion nach drei weiteren Tagen mit viel Mühe Babylon, wo er den Bischof Philo besuchen wollte, der ebenfalls ein Bekenner war. Denn der König Constantius, der die Häresie der Arianer unterstützte, hatte beide an diese Orte verbannt.42
40 Hieronymus, v. Hilar. 1,3. Dieselbe Anekdote findet sich in einem sehr ähnlichen Kontext im Vorwort zur Vita Probi der Historia Augusta. Seit ihrer Entdeckung durch Schmeidler 1927 wird die Parallele kontrovers diskutiert. Bisher ist nicht eindeutig entschieden, ob es sich um eine Anleihe handelt, und wenn ja, in welche Richtung. Janson 1964, 150, glaubt an eine gemeinsame Quelle; Cameron 2011, 761–772, plädiert für Hieronymus als Plagiator; und Rohrbacher 2016, 107–134, argumentiert für eine satirische Imitation des Hieronymus durch den Autor der Vita Probi (alle mit weiteren Literaturangaben). 41 In der Stuttgarter Biblia Sacra Vulgata. 42 Hieronymus, v. Hilar. 20,9–11.
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Das igitur im ersten Satz deutet auf einen logischen Zusammenhang hin; in diesem Fall den, dass eine Reise an ihr erwünschtes Ziel führte. Der Stadt Pelusium wird keine Erklärung gewidmet: die Großstadt im Nildelta wird als bekannt vorausgesetzt. Dagegen lässt die Formulierung in loco qui dicitur Lychnos darauf schließen, dass dieser Ort ein weniger bekannter ist. Die Appositionen episcopum und confessorem, die beiden Exilanten zuerkannt werden, weisen sie ebenfalls als eher unbekannte Figuren aus. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass der Leser weiß, was ein confessor ist. Dieser Begriff ist aus der Märtyrerliteratur übernommen und bezeichnet einen Menschen, der für sein Bekenntnis zum Christentum leidet, aber (noch) nicht gestorben ist. Der Grund, weshalb sich Dracontius überhaupt in T haubastum befindet, wird in einem Relativsatz nachgeschoben (qui ibi exsulabat), der gleichzeitig seinen Status als confessor erklärt. Die deiktische Partikel ibi verweist dabei auf T haubastum zurück. Auf ähnliche, grammatikalisch jedoch abgewandelte Art, wird der Bekennerstatus von Philo erklärt, nämlich mit der Apposition et ipsum confessorem. Am Schluss wird der Grund für die Verbannung beider Bischöfe mit einem epexegetischen enim angehängt. Hier erscheint der Kaiser Constantius als tyrannischer Herrscher, dessen Bekenntnis zur „Häresie der Arianer“ ihn als typischen Verfolger erscheinen lässt – nicht der Christen allgemein, sondern der ‚Rechtgläubigen‘. Die Nachstellung mit enim43 erlaubt es dem Erzähler, die ideologische Spitze besonders eindrücklich zu positionieren. Eine beliebte Methode des Erzählers, in der dritten Person die eigene Meinung deutlich zu machen, ist der Gebrauch von wertenden Adjektiven und Adverbien. Besonders häufig sind hier mirus („wunderbar“, zwölf Fälle) und incredibilis („unglaublich“, fünf Fälle, darunter der adverbiale Gebrauch im eben zitierten Absatz). Ein frühes Wunder des Hilarion wird vom Erzähler so kommentiert: Et, o mira uirtus, statim quasi de tribus fontibus sudor pariter erupit („Und, welch wunderbare Heilkraft! Der Schweiß brach ihnen [den drei kranken Kindern der Aristokratin Aristaenete] gleichzeitig wie aus drei Quellen aus“)44. Derartige Ausrufe heben die emotionale Wirkung der Darstellung auf eine höhere Ebene. Insgesamt übt die Erzählstimme also ein hohes Maß an Kontrolle über den impliziten Leser aus.45 Der Erzähler macht es sich zur Aufgabe, Isersche „Leerstellen“ nach Möglichkeit zu stopfen, indem er dem Leser sowohl Verständnis als auch Interpretation des Erzählten erleichtert bzw. abnimmt.
43 Siehe Kroon 1995, 142 für die interaktive Funktion dieser Partikel: sie signalisiert Verständnis und mögliches Übereinstimmen zwischen dem Sprecher und seinem Adressaten. 44 Hieronymus, v. Hilar, 8.7. 45 Das T hema der Kontrolle des auktorialen Erzählers über die Aufnahme des Erzählten durch den (impliziten) Leser lässt sich für die Hagiographie gut am Vergleich der lateinischen Vita Malchi des Hieronymus mit ihrer bis zu drei Jahrhunderte später zu datierenden griechischen Übersetzung darstellen: die größere ‚Offenheit‘ des Originals wird vom Übersetzer systematisch reduziert. Siehe hierzu Gray 2016 und Staat/Van Pelt/De Temmerman (im Druck).
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c) Zurückziehen hinter andere Autoritäten und Perspektivverschmelzung Abgesehen von der direkten Äußerung seiner eigenen Ansichten und Wertungen kann der Erzähler die Perspektive auch so variieren, dass andere Autoritäten zu Wort kommen.46 Die höchste Autorität ist dabei Gott, dessen Haltung jedoch selten ganz ungefiltert zum Ausdruck kommt, wie das folgende Beispiel zeigt: In tantam enim a Domino eleuatus fuerat gloriam, ut beatus quoque Antonius audiens conuersationem eius scriberet ei libenterque eius epistulas sumeret, et si quando de Syriae partibus ad se languentes perrexissent, diceret eis: „Quare uos tam longe uexare uoluistis, cum habeatis ibi filium meum Hilarionem?“ Denn zu solcher Ehre wurde er vom Herrn erhoben, dass der selige Antonius selbst von seinem Lebenswandel hörte und ihm schrieb, und mit Freude seine Briefe empfing; und wenn einmal Kranke aus der syrischen Gegend zu ihm gelangten, pflegte er ihnen zu sagen: „Warum wolltet ihr euch so lange quälen, wo ihr doch dort meinen Sohn Hilarion habt?“47
Die Ehrung Hilarions durch den „Herrn“ findet ihren irdischen Ausdruck darin, dass er von einer anderen Autorität anerkannt wird, nämlich von seinem einstigen Mentor Antonius. Von diesem hatte Hilarion bereits zum Abschied einen Mantel erhalten48 – ein hochsymbolisches Kleidungsstück, das ihn als Nachfolger des Antonius auszeichnet. Mit seiner Frage an die Pilger aus der syrischen Gegend bestätigt Antonius diesen Status Hilarions, der auch schon durch die Bittstellerin Aristaenete zugesprochen wurde: Hilarion, serue Christi, redde mihi liberos meos. Quos Antonius tenuit in Aegypto, a te seruentur in Syria („Hilarion, Diener Christi, gib mir meine Kinder zurück. Lass sie, die Antonius in Ägypten bewahrte, von dir in Syrien gerettet werden“)49. Nach dem Tod des Antonius fordern die Anwohner der nahegelegenen Stadt Aphroditon, wo seitdem beständige Dürre herrschte, von Hilarion „als dem Nachfolger des Antonius“ ein Regenwunder (pluuias a seruo Christi, id est, a beati successore Antonii, deprecabantur)50, das Hilarion – ohne expliziten Bezug auf Gott – unverzüglich vollbringt, wobei der Regen nach biblischem Muster zunächst nicht Heil, sondern einen Schwarm von tödlichen Schlangen nach sich zieht, die wiederum von Hilarion bekämpft werden müssen.51 Dies ist der letzte Zusammenhang, in dem Antonius als Vorbild erwähnt wird.52 46 Vgl. von Contzen 2016, 135: „In terms of perspective and ideology, these references to authorities are crucial, especially in a time when hagiography had not yet become established as a genre for authorial self-fashioning“. Die Heiligenleben des Hieronymus stellen ebenso wie das durch von Contzen untersuchte Scottish Legendary ein frühes Stadium der Genrebildung dar. Zur ‚Autorisierung‘ christlicher Biographien der Spätantike im Allgemeinen siehe Williams 2008. 47 Hieronymus, v. Hilar. 15,2. 48 Hieronymus, v. Hilar. 3,1. 49 Hieronymus, v. Hilar. 8,6. 50 Hieronymus, v. Hilar. 22,3. 51 Hieronymus, v. Hilar. 22,5. 52 Der oben erwähnte „Bekenner“ Dracontius fungiert als ein weiterer anerkannter Heiliger, der Hilarions ebenbürtigen – oder sogar höheren – Status bestätigt: von ihm wird gesagt,
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Weiterhin ist das Beispiel der Bewohner von Aphroditon nur eines von vielen, die zeigen, wie Hilarion Zeit seines Lebens durch große Mengen von Menschen, von den einfachsten Leuten bis hin zu wichtigen Persönlichkeiten der Kirche und Politik, verehrt wird. Kurz bevor sich Hilarion entscheidet, aus Palästina fortzuziehen, gibt der Erzähler einen Überblick über den Ansturm der Massen: Concurrebant episcopi, presbyteri, clericorum et monachorum greges, matronarum quoque Christianarum – grandis temptatio – et hinc inde ex urbibus et agris uulgus ignobile, sed et potentes uiri et iudices, ut benedictum ab eo panem uel oleum acciperent. Es liefen zusammen Bischöfe, Presbyter, Horden von Geistlichen und Mönchen, und von christlichen Damen – eine große Versuchung – und von hier und da aus den Städten und von den Feldern das einfache Volk, aber auch mächtige Männer und Richter, in der Hoffnung, Brot oder Öl zu erhalten, das er gesegnet hatte.53
Das Zeugnis großer Menschenmengen ist ein wichtiger Baustein in der textuellen Konstruktion von Hilarions gutem Ruf. Auf diese Weise wird Hilarion in die Reihe der charismatischen christlichen Führungsfiguren eingereiht, von Christus selbst über die Apostel und Märtyrer bis hin zu Antonius (den Hilarion ja gerade wegen seiner übergroßen Popularität verlassen hatte)54. Die Menge der Verehrer und Bittsteller steht dabei für die angestrebte große Zahl der gläubigen Leser: sie symbolisiert die korrekte Haltung gegenüber Hilarion und seiner wundertätigen Heiligkeit. Die letzte und vielleicht wichtigste Autorität mit einer wertenden Perspektive ist der Protagonist, Hilarion. Letztlich ist der Leser an Hilarions eigenen Werten interessiert, die aber selten von ihm in großer Rede ausgelegt werden (im Kontrast zur Vita Antonii, in der etwa ein Drittel des Textes aus eigenen Reden des Protagonisten besteht). Hilarion sagt nicht viel über sich selbst, jedoch gibt er einer Anzahl von Wertungen Ausdruck. Diese sind oft sehr streng, oft mehr als die des Erzählers. So tadelt er beispielsweise eine blinde Frau, die seine Hilfe sucht, nachdem sie ihr ganzes Geld für Ärzte ausgegeben hat. Er weist sie an, dass sie es besser den Armen gegeben hätte.55 Des Weiteren weigert er sich, einem Mönch zu vergeben, der geizig war und seinen Geiz (zumindest vorgeblich) bereut.56 Neben diesen direkten Aussagen enthält der Text eine große Anzahl von Stellen, an denen die Wertungen des Erzählers nicht eindeutig von denen des Hilarion zu unterscheiden sind. Wir finden mehrere Szenarien vor, in denen Hilarions Perer sei „unglaublich getröstet durch die Gegenwart eines so großen Mannes“ gewesen (quo incredibiliter consolato tanti uiri praesentia, v. Hilar. 20,10). Die positive Wertung Hilarions als „ein so großer Mann“ wird hierbei zwar vom Erzähler ausgesprochen; die Perspektive ist jedoch gleichzeitig die des Bekenners, die den Grund für sein Getröstetsein angibt: siehe unten für diese Erzähltechnik der Perspektivüberlagerung, besonders von Heiligem und Erzähler. 53 Hieronymus, v. Hilar. 20,2. 54 Hieronymus, v. Hilar. 2,6. 55 Hieronymus, v. Hilar. 9,1 f. 56 Hieronymus, v. Hilar. 18.
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spektive so dargestellt wird, dass sie sich mit der didaktischen Intention des Erzählers überlagert. Hier einige Beispiele: Quodque his maius est omnibus, credens in Dominum Iesum, non circi furoribus, non arenae sanguine, non theatri luxuria delectabatur, sed tota illi uoluptas in ecclesiae erat congregatione. Und, was größer ist als all diese Errungenschaften [nämlich Hilarions exzellente Leistungen als Student der Grammatik und Rhetorik], er glaubte an den Herrn Jesus und fand keine Freude am Wahnsinn des Zirkus, noch am Blut der Arena, noch an den Ausschweifungen des T heaters; seine ganze Lust war die Versammlung in der Kirche.57
Die erste Wertung, dass der christliche Glaube „größer“ sei als Hilarions intellektuelle Errungenschaften, ist eindeutig die des Erzählers. Danach wird es komplizierter, wenn vom Inhalt des Glaubens und den daraus folgenden Werturteilen die Rede ist. Das Epitheton Dominus gibt zwar definitiv Hilarions eigene Perspektive wieder; es wäre aber nicht aus der distanzierten Perspektive eines nicht-christ lichen Erzählers denkbar,58 zeigt also gleichzeitig die gläubige Haltung des Erzählers. Ähnlich ist es mit den Begriffen furor, sanguis und besonders luxuria: diese drücken eine negative Sicht auf die Institutionen aus, die die allgemeine Bevölkerung zu Unterhaltungszwecken aufsucht. Wieder zeigt diese sprachliche Entscheidung das Urteil des Erzählers, und wieder könnte die Stelle von einem neutralen Erzähler nicht mit denselben Worten dargestellt werden59; gleichzeitig enthalten sie jedoch auch die Gründe, weshalb Hilarion sie nicht genießen kann, und so überlagert sich hier ebenfalls die Sicht des Erzählers mit der des Protagonisten. Diese Dynamik lässt sich auch im folgenden Abschnitt beobachten: Et statim ut eum uidit, mutato pristino habitu, duobus fere mensibus iuxta eum mansit, contemplans ordinem uitae eius morumque grauitatem, quam creber in oratione, quam humilis in suscipiendis fratribus, seuerus in corripiendis, alacer in exhortandis esset, et ut continentiam cibique eius asperitatem nulla umquam infirmitas frangeret. Und sobald er ihn sah, tauschte er seine frühere Tracht ein und verbrachte etwa zwei Monate an seiner Seite; er beobachtete aufmerksam den Ablauf seines Lebens und seine ernsthaften Gewohnheiten: wie häufig sein Gebet war, wie bescheiden er seine Brüder willkommen hieß, wie streng er sie tadelte, wie eifrig er sie ermahnte, und wie keine Schwäche jemals seiner Disziplin und seiner Toleranz grober Speise gefährlich wurde.60
v. Hilar. 2,3. die Wortstellung umgekehrt würde, könnte man immerhin credens in Iesum dominum als „glaubend an Jesus als seinen Herrn“ interpretieren, was eine Distanzierung des Erzählers von Hilarions Glauben wenigstens ermöglichen würde. 59 Ein moderner Übersetzer hätte die Möglichkeit, den Erzähler von diesen Wertungen durch Anführungszeichen zu distanzieren („am ‚Wahn‘ des Zirkus, am ‚Blut‘ der Arena, an den ‚Ausschweifungen‘ des T heaters“), aber da diese Möglichkeit im Lateinischen des 4. Jahrhunderts nicht besteht, würde eine solche Übersetzung dem Original nicht gerecht. 60 Hieronymus, v. Hilar. 2,5. 57 Hieronymus, 58 Wenn
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Die außergewöhnliche Selbstbeherrschung des Antonius ist in der Stimme des Erzählers beschrieben; gleichzeitig wird die Perspektive dem Beobachter Hilarion zugeschrieben. Während ordinem uitae, wie in meiner Übersetzung, noch neutral als „Ablauf“ verstanden werden kann (obwohl die wertende Interpretation „Geordnetheit“, also eine gute „Ordnung“, ebenfalls möglich ist), so ist morum […] grauitatem eindeutig eine positive Wertung. Die zweimal mit quam eingeleiteten Gliedsätze sind entweder als indirekte Fragen interpretierbar (also „er beobachtete […]: Wie häufig war sein Gebet? Wie bescheiden hieß er die Brüder willkommen? […]“) oder als Ausrufesätze („Wie häufig sein Gebet war! Wie bescheiden er seine Brüder willkommen hieß! […]“). Der letzte, mit ut eingeleitete Gliedsatz lässt sich jedoch nur schwer als Fragesatz interpretieren („Wie wurde keine Schwäche jemals seiner Disziplin […] gefährlich?“), sondern nur als Ausruf; daher ist es naheliegend, auch die koordinierten quam-Sätze als indirekte Ausrufe auszulegen. Damit wird das exemplarische Verhalten des Antonius nicht prüfend abgeschätzt, sondern bewundernd betont, und zwar ebenso vom Erzähler wie auch von Hilarion. Von Antonius’ Einsiedelei nach Palästina zurückgekehrt, richtet Hilarion sein eigenes Asketenleben nach biblischem Vorbild aus: […] et parentibus iam defunctis partem substantiae fratribus, partem pauperibus largitus est, nihil sibi omnino reseruans et timens illud de Actibus Apostolorum Ananiae et Saphirae uel exemplum uel supplicium, maximeque dominicae sententiae memor dicentis: „Qui non renuntiauerit omnibus quae sunt eius, non potest meus esse discipulus.“ […] und weil seine Eltern bereits verstorben waren, schenkte er einen Teil der Erbschaft seinen Brüdern und den anderen den Armen. Nichts hielt er für sich selbst zurück, denn er fürchtete das Beispiel, genauer gesagt die Bestrafung, des Hananias und der Saphira aus der Apostelgeschichte; besonders aber, weil er die Worte des Herrn im Gedächtnis behielt: „Wer nicht auf alles, was er besitzt, verzichtet, kann nicht mein Jünger sein“ [Lk 14,33, vgl. Mt 19,21].61
Hier gehören Furcht und Motivation eindeutig Hilarion; aber gleichzeitig ist die rhetorisch-didaktische Intention unverkennbar, und damit die Perspektive des Erzählers, der die korrekte Reaktion des Lesers im Blick behält. Das biblische Beispiel und die Mahnung Christi, die Hilarion motivieren, sind für alle Christen gültig, und damit auch für den Leser. Bei dieser Perspektivverschmelzung handelt es sich wahrscheinlich um eine Sonderform der Metalepsis, die seit Genette als wechselseitige Übertretung verschiedener Erzählebenen beschrieben wird.62 Diese Sonderform kann aus Gründen der Logik nur bei Wertungen beobachtet werden: Bei faktischen Aussagen wäre die Perspektivüberlagerung nicht als solche identifizierbar, denn entweder v. Hilar. 2,6. Sie ist quasi das Gegenteil der „Syllepsis“, die Selden 1994, 48 f. als eine Figur beschreibt, mit der in Erzählungen ein und dieselbe Darstellung verschiedenen Interpretationen zugrunde liegt. Siehe etwas ausführlicher dazu Schmeling 1994, 161 f. 61 Hieronymus, 62
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würden die Fakten naturgemäß auf beiden Ebenen als solche erkannt, oder eine divergente Wahrnehmung müsste durch den Erzähler explizit formuliert werden. Umgekehrt lässt sich daher sogar behaupten, dass eine solche Überlagerung bei der Darstellung einer subjektiven Wertung die Wertung selbst als Fakt präsentiert. Damit ist sie ein geeignetes Stilmittel für den hagiographischen Diskurs, jedoch keineswegs auf diesen beschränkt. So beschreibt etwa Timothy Duff die Stelle in Plutarchs Leben des Alexander, worin Alexander von seiner Kavallerie für seine „Selbstbeherrschung und edle Gesinnung“ gepriesen wird63, wie folgt: It is not wholly clear here to what extent the focalisation is to be taken as the narrator’s or merely that of Alexander’s men. But in fact there is no conflict: it is plain […] that the reader is expected to consider this a virtuous act. […] [M]ost readers will feel confident that the narrator’s viewpoint coincides with that of such onlookers, and that they are expected to share both.64
Vom Standpunkt der Autorisierung aus kann die Funktion dieser Figur in zweierlei Richtungen gehen: Entweder bestätigt der (auktoriale) Erzähler durch seine Übereinstimmung die Wertung der Erzählfigur(en); oder (was bei der Darstellung eines überlegenen Charakters wie einem Heiligen besonders passend ist) die Erzählfigur bestätigt das Urteil des Erzählers mit ihrer eigenen Autorität. Indem der Erzähler der Vita Hilarionis durch seine Wortwahl zeigt, dass seine Wertung mit der des Heiligen übereinstimmt, erhöht er gleichzeitig die Autorität seiner eigenen wertenden Darstellung. Außerdem wird der Leser durch die Übereinstimmung mit einer eindeutigen Wertung konfrontiert: der Text lässt keinen Abstand zwischen heiligem Subjekt und Erzähler, der anderenfalls als „Leerstelle“ eine Distanzierung ermöglichen könnte.65 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Erzählperspektive der Vita Hilarionis als eine höchst komplexe Konstruktion erweist, die die ideologische Funktion des Erzählinhalts maßgeblich interpretiert und verstärkt. Erstens deutet die Tatsache, dass die erste Person vom Erzähler beinahe ausschließlich für kompositorische Anliegen verwendet wird, auf einen bewussten Gebrauch der Erzählerinstanz hin. Zweitens leitet der Erzähler den Leser sowohl durch Kommentare als auch durch mehr oder weniger subtile lexikalische Elemente zur korrekten Interpretation an; und drittens trägt die Wiedergabe und Evaluation der wertenden Aussagen der Erzählfiguren selbst zur ideologischen Konstruktion des Textes bei.
Alex. 42,6–10. Duff 2011, 66. Derselbe Kunstgriff wird auch in modernen Romanen verwendet, wo er jedoch die Möglichkeit der Distanzierung durch Ironie offen lässt. Es ist unwahrscheinlich, dass Hieronymus eine ähnliche Ironisierung dieser Figur in seinen Texten befürwortet hätte. 65 Gray 2017. 63 Plut. 64
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C. Schlussfolgerungen Hieronymus’ Vita Hilarionis gehört zu den Texten, die die Gattung ‚Mönchsbiographie‘ erst begründen.66 Sein großer Einfluss auf die Entwicklung dieser Literatur macht einen genauen Blick auf seinen Umgang mit den Erzählstrukturen lohnend, die durch die spätere Rezeption zu Konventionen avancieren. Hagiographie ist eine voreingenommene literarische Kategorie: selbst wenn sie historische Fakten nicht verfälscht oder verzerrt darstellt (wie ihr oft vorgeworfen wird), ist es doch immer ihr Ziel, die Protagonistinnen und Protagonisten als Heilige zu präsentieren, was einen ideologischen Rahmen voraussetzt. Der Bezug auf diesen Rahmen ist also eine erzählerische Notwendigkeit, ohne den eine Einordnung in diese Kategorie nicht möglich wäre. Wenn es darum geht, diesem Anspruch gerecht zu werden, hat der Erzähler jedoch viele gestalterische Mittel zur Verfügung, von denen nur eine begrenzte Auswahl in dieser Untersuchung angesprochen werden konnte. Trotz der durchgehenden ideologischen Lenkung des Lesers vermeidet die Vita Hilarionis durch den abwechslungsreichen Gebrauch verschiedener Erzählper spektiven den Eindruck von eintöniger Gängelei. Eine besonders subtile Variante ideologischer Lenkung ist die Überlagerung von Wertungen des Hilarion mit denen des Erzählers, die den Interpretationsspielraum des Lesers fast unmerklich und doch einschneidend beschränkt. Diese Fallstudie einer frühen und grundlegenden Heiligenbiographie zeigt also das rhetorische Können des Verfassers, der das Medium der Erzählperspektive nutzt, um die unbeschreibliche Größe seines Helden so eindrücklich wie möglich darzulegen und daneben – ähnlich wie sein Vorgänger Athanasius – eigene kirchenpolitische Belange, wie die Geißelung der „Arianer“ und das Lob der Askese, zu befördern. Appendix: Ich-Aussagen des Erzählers der Vita Hilarionis Diese Liste enthält alle Stellen, in denen ein Verb, Pronomen oder Partizip in der ersten Person Singular auf den Erzähler bezogen ist (d.h. außerhalb direkter Rede und ohne formelhafte Wendungen wie nescio quid und quid multa dicam?). 1,1 Scripturus uitam beati Hilarionis habitatorem eius inuoco Spiritum sanctum, ut qui illi uirtutes largitus est, mihi ad narrandas eas sermonem tribuat, ut facta dictis exaequerentur. Im Begriff, das Leben des seligen Hilarion zu schreiben, rufe ich den Heiligen Geist an, der in ihm wohnt, dass er, der ihm seine Tugenden schenkte, mir die Rede gebe, sie zu erzählen, damit seine Taten durch meine Worte erreicht werden mögen.
66 Siehe den demnächst erscheinenden Aufsatz von Alan Ross, der am Beispiel von Hieronymus’ Vita Pauli darlegt, dass, obwohl die Vita Antonii des Athanasius den entscheidenden Anstoß zu dieser Entwicklung gibt, das Genre nicht nur durch einen Ausgangspunkt, sondern ebenso durch dessen kreative Rezeption bestimmt ist.
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1,4 Porro mihi tanti ac talis uiri conuersatio uitaque dicenda est, ut Homerus quoque, si adesset, uel inuideret materiae uel succumberet. Des Weiteren muss ich von den Angewohnheiten und dem Leben eines Mannes von solcher Statur und Qualität reden, dass selbst Homer, wäre er anwesend, mir entweder meinen Stoff neiden würde oder davor aufgeben würde. 1,6 Vnde et nos fauore magis illius quam iniuria coeptum ab eo opus aggredientes maledicorum uoces contemnimus, qui olim detrahentes Paulo meo nunc forsitan detrahent et Hilarioni […]. Deshalb verachte auch ich, während ich an die Arbeit herangehe, die jener (Epiphanius) begonnen hat, die Schmähworte derer, die einst meinen Paulus beanstandeten und nun vielleicht auch an Hilarion etwas auszusetzen haben werden […]. 1,8 Verum destinato operi imponam manum et Scyllaeos canes obturata aure transibo. Doch werde ich Hand anlegen an die mir bestimmte Aufgabe und an den Hunden der Scylla mit zugestopftem Ohr vorbeifahren. 3,10 Multae sunt temptationes eius et die noctuque uariae daemonum insidiae; quas si omnes narrare uelim, modum excedam uoluminis. Seine Versuchungen waren viele, und Tag und Nacht stellten ihm die Dämonen verschiedenartige Fallen; wenn ich sie alle erzählen wollte, würde ich das Maß des Buchs überschreiten. 4,4 Et quia longum est per diuersa tempora carptim ascensum eius edicere, comprehendam breuiter, ante lectoris oculos uitam eius pariter exponens, et deinceps ad narrandi ordinem regrediar. Und weil es zu weit führen würde, seinen Aufstieg durch die verschiedenen Zeiten schrittweise auszuführen, werde ich ihn kurz zusammenfassen, indem ich sein Leben vor den Augen des Lesers mit einem Mal darstelle, und danach werde ich zur Reihenfolge meiner Erzählung zurückkehren. 5,7 Sed iam tempus est ut ad ordinem reuertar. Doch es wird schon Zeit für mich, zur Ordnung zurückzukehren. 10,10 Rem loquor inauditam. Die Sache, von der ich spreche, ist unerhört. 15,1 Tempus me deficiet, si uoluero uniuersa signa, quae ab eo perpetrata sunt, dicere. Die Zeit würde mir ausgehen, wenn ich alle Zeichen, die er vollbrachte, erzählen wollte.
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17,5 Porro suscepti ab alio monacho, cui Sabas uocabulum est – debemus quippe parci tacere uocabulum, largi dicere… Daraufhin wurden sie von einem anderen Mönch aufgenommen, dessen Name Sabas ist – wir müssen nämlich den Namen des Geizigen verschweigen und den des großzügigen Mannes weitergeben… 19,5 […] Aristaenete illa, cuius supra fecimus mentionem, praefecti uxor sed nihil de ambitu praefecti habens […]. […] jene Aristaenete, die wir oben erwähnt haben, die Frau des Präfekten, die jedoch frei von jeglichen Allüren eines Präfekten war […]. 20,1 Mirentur alii signa eius et portenta quae fecit, mirentur incredibilem abstinentiam, scientiam, humilitaten; ego nihil ita stupeo quam gloriam illum et honorem calcare potuisse. Mögen andere die Zeichen und Wunder bestaunen, die er vollbrachte, mögen sie seine unglaubliche Enthaltsamkeit, sein Wissen, seine Bescheidenheit bestaunen; mich selbst verblüfft nichts so sehr wie sein Vermögen, Ruhm und Ehre mit Füßen zu treten. 21,1 Et quia se praebet occasio et ad id loci uenimus, dignum uidetur breui sermone habitaculum tanti uiri describere. Und weil sich die Gelegenheit bietet und wir an diesem Punkt angekommen sind, erscheint es angemessen, die kleine Wohnstätte eines so großen Mannes in wenigen Worten zu beschreiben. 24,4 Super hoc sane, quia alter locus referendi non est, hoc tantum dixerim in terrorem eorum, qui magistros suos despiciunt, quod post aliquantulum temporis morbo regio computruerit. Über ihn werde ich, weil es keine andere Stelle gibt, um es zu berichten, immerhin noch sagen – um jenen einen Schreck einzujagen, die ihre Lehrmeister geringschätzen –, dass er nach kürzester Zeit an der königlichen Krankheit verfaulte. 30,1 Praetermitto cetera, ne uidear in narratione signorum uolumen extendere. Hoc solum dicam, quod, prospero cursu inter Cycladas nauigans, hinc inde clamantium de urbibus et uicis et ad litora concurrentium immundorum spirituum uoces audiebat. Ich übergehe die anderen, damit ich nicht den Umfang des Buches mit der Erzählung seiner Zeichen überschreite. Nur das Folgende werde ich sagen: dass er nämlich, als er mit günstigem Wind durch die Cycladen segelte, immer die Schreie der unreinen Geister aus Städten und Dörfern und an der Küste zusammengelaufen hörte. 33,1 Non mihi uidetur in calce libri tacenda Constantiae illius sanctissimae mulieris deuotio, quae perlato ad se nuntio, quod corpusculum Hilarionis Palaestinae esset, statim exanimata est, ueram in seruum Dei dilectionem etiam morte comprobans. Am Ende meines Buches darf ich die Hingabe der Constantia, jener heiligsten Frau, nicht verschweigen: als sie die Nachricht erreichte, dass der Leichnam Hilarions in Palästina sei, verließen sie sogleich die Sinne und sie bewies ihre Liebe zum Diener Gottes selbst mit ihrem Tod.
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Diese Liste zeigt, dass die erste Person vom Erzähler für sich selbst fast nur dann gebraucht wird, wenn es um die Darstellung des Kompositionsprozesses geht. Dabei handelt es sich um Fragen der Inklusion und Exklusion sowie der Ordnung von Erzählpunkten. Dieses Muster identifiziert den Erzähler stark mit dem Autor.
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„Ach, meine Herrin und meine Lehrerin!“ Die narrative Etablierung von Frauen als Lehrerinnen in der spätantiken Hagiographie Maria Munkholt Christensen* 1. Einleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Frauen als Lehrenden in hagiographischen Texten der Spätantike, insbesondere mit den folgenden drei Viten: Vita Syncleticae, De Vita et Miraculis S. T heclae und Vita Febroniae. Von den verschiedenen spätantiken hagiographischen Texten, in denen Frauen als Protagonisten auftreten, werde ich aus diesen drei Viten Textbeispiele hervorheben, in denen eine Frau auf der Ebene der Erzählung als Lehrerin beschrieben oder jedenfalls als Lehrerin wahrgenommen wird. Positive Darstellungen von Frauen als christliche Lehrerinnen finden wir in der Spätantike fast nur in Erzähltexten, und zwar meistens in hagiographischen Texten. Man kann diese Tatsache so deuten, dass es zu dieser Zeit in narrativen Texten möglich war, Frauen als Lehrerinnen plausibel zu machen, was z.B. in Rechtstexten nicht ging.1 Frauen hatten fast keine formelle Autorität in der Spätantike, und es musste immer erst einmal erklärt und legitimiert werden, warum sie als literarische Figuren überhaupt auf der Ebene der Erzählung mit Autorität reden. Viele andere antike Texte versuchen dagegen eher Frauen zum Schweigen zu bringen. Beispiele dafür finden wir schon in den kanonischen Schriften des Neuen Testaments, etwa das Lehrverbot im 1. Brief an Timotheus und das Schweigegebot im 1. Korintherbrief.2 Darauf greift z.B. Tertullian in De baptismo zurück, einer * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt C 04: „Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft“. 1 Schenk 2017 zeigt, dass man auch in der christlichen, spätantiken Grabkunst gelehrte Frauen finden kann. 2 1 Tim 2,11 f.: Γυνὴ ἐν ἡσυχίᾳ μανθανέτω ἐν πάσῃ ὑποταγῇ· διδάσκειν δὲ γυναικὶ οὐκ ἐπιτρέπω οὐδὲ αὐθεντεῖν ἀνδρός, ἀλλ’ εἶναι ἐν ἡσυχίᾳ. – 1 Kor 14,33b–35: αἱ γυναῖκες ἐν ταῖς ἐκκλησίαις σιγάτωσαν· οὐ γὰρ ἐπιτρέπεται αὐταῖς λαλεῖν, ἀλλ’ ὑποτασσέσθωσαν, καθὼς καὶ ὁ νόμος λέγει. εἰ δέ τι μαθεῖν θέλουσιν, ἐν οἴκῳ τοὺς ἰδίους ἄνδρας ἐπερωτάτωσαν· αἰσχρὸν γάρ ἐστιν γυναικὶ λαλεῖν ἐν ἐκκλησίᾳ.
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Schrift aus dem dritten Jahrhundert, in der er ablehnt, dass Frauen lehren dürfen. Er meint, es sei – wenn Frauen lehren – „Die Frechheit der Frau aber, die sich anmaßte zu lehren (usurpavit docere).“3 1.1 Spätantike Hagiographie und feministische Narratologie Die hier verfolgte methodische Herangehensweise ist es, mit Impulsen aus der Narratologie hagiographische Texte als Erzählungen zu betrachten. Das heißt, darauf zu achten, wie Geschichten über heilige Lehrerinnen erzählt werden (auf der discourse/récit-Ebene), und nicht nur darauf, was erzählt wird (auf der story/histoire-Ebene).4 Wegen des kritischen Ansatzes der feministischen Deutungen und des T hemas „Lehrerinnen“ scheint es mir relevant, Impulse aus der sogenannten feministischen Narratologie aufzunehmen, obwohl die feministische Narratologie mit Bezug auf Autorinnen und Texte aus der Neuzeit entwickelt worden ist. Die feministische Narratologie geht insbesondere auf Susan S. Lanser zurück und achtet vor allem darauf, wie Frauen in textlichen Strukturen zum Wort kommen können, und was Texte mit und für Frauen „tun“.5 Seit den ersten Forschungen von Lanser hat sich das Interesse gewissermaßen von Frauen auf Geschlecht und Gender verschoben.6 Diese Deutungsperspektive, Geschlecht und Gender, bringt die Narratologie mit dem historischen Kontext eng in Verbindung. Es ist ein Schwerpunkt der feministischen und gender-theoretischen Herangehensweise zu zeigen, wie auch fiktionale Texte nicht völlig formalistisch betrachten werden können, sondern etwa als Sprechakte, die auch etwas über die außerliterarische Welt aussagen.7 Im deutschen Kontext beschreiben Vera und Ansgar Nünning den Gewinn des feministischen Ansatzes so: „Im Gegensatz zur notorischen Ahistorizität der Narratologie und der antiformalistischen Ausrichtung der meisten feministischen Ansätze geht Lanser (1992) von der historischen Variabilität und Konventionalität von Erzähltechniken aus. Sie fasst narrative Form nicht bloß als ein Produkt gesellschaftlicher Ideologien auf, sondern als Verkörperung sozialer, ökonomischer und literarischer Bedingungen…“ 8. Susan Lanser hat sich intensiv mit der Erzählstimme, der „narrative voice“, beschäftigt, ebenso mit Fragen darüber, wer in Texten spricht und wie. Das bringt sie zu Überlegungen zu den Perspektiven, aus denen eine Erzählung geschrieben und gelesen werden kann. In ihrer Arbeit übernimmt sie viele Konzepte der 3 Tertullian, bapt. 17,4 (FC 76; 204,21 Schleyer): petulantia autem mulieris quae usurpavit docere utique non etiam tinguendi ius sibi rapiet… Taceant, inquit, et domi viros suos consulant. Übers. aaO. 205. 4 Vgl. Nünning/Nünning 2004, 143. 5 Lanser 1992. 6 Vera und Ansgar Nünning haben diese Ideen mit der Einführung „Erzähltextanalyse und Gender Studies“ in deutsche Literaturstudien eingeführt (Nünning/Nünning 2004). 7 Lanser 1981, 147; Lanser 1986, 343 f. 8 Nünning/Nünning 2004, 17.
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klassischen Narratologie, so etwa die Unterscheidung zwischen hetero-, auto- und homodiegetischem Erzähler9, sie verwendet auch den Begriff der Fokalisierung (für point of view) und zeigt, wie einige weibliche Autorinnen der Neuzeit eine kollektive Erzählform, a communal voice, benutzt haben und dadurch Autorität gewonnen haben.10 Auf diese Konzepte werde ich mich unten in der Textanalyse beziehen. Susan Lanser selbst hat sich mit Autorinnen der Neuzeit beschäftigt und mit den Entwicklungen der Erzähltechniken, um weibliche Perspektiven in die Diskussion einzubringen. Lansers Meinung nach änderte sich die Literatur im 18. Jahrhundert, als die männliche Stimme zur dominierenden Erzählperspektive in den ersten Romanen der Neuzeit wurde, während Frauen sich weiterhin in „privateren“ Formen ausdrückten, wie Briefen, Tagebüchern oder Texten für andere Frauen. Dennoch entwickelten Autorinnen mit der Zeit spezifische Erzählformen, in denen auch Frauen eine autoritative Erzählstimme erhielten. Der Blickwinkel einer Erzählung ist wichtig, weil er sowohl gewisse Erfahrungen unterdrückend ausschließen als auch die (Erzähl-)Welt von innen heraus transformieren kann. Das drückt Susan Lanser z.B. mit diesem Kommentar aus: Authorial voice, with its structurally superior position and its superhuman privilege, seems to me always in danger of constructing its own hegemony, yet it can be a powerful tool for dislodging an existing authority.11
Susan Lansers Ergebnisse kann man nicht direkt auf die Antike übertragen, doch kann man dieselben Fragen stellen: Welche Blickwinkel findet man in der spätantiken Literatur, und wie wurden Frauen mit Lehrautorität in die (Erzähl-)Welt eingebunden? Aus welchen Perspektiven heraus sind Frauen Lehrerinnen? Auch wenn wir uns im Folgenden mit Texten beschäftigen, die (wahrscheinlich) von Männern über Frauen geschrieben worden sind, spielt die Gender-Frage wegen der weiblichen Protagonisten eine große Rolle. Frauen hatten in der Antike im Allgemein keinen Zugang zum „öffentlichen“ Diskurs, und insofern ist es spannend, wie Frauen in einigen Fällen dennoch in diesem Diskurs wahrgenommen wurden, z.B. in einigen hagiographischen Texten.12 Im Hinblick auf den hier gewählten methodischen Zugang muss gesagt werden, dass ich nur sehr sporadisch einen Vergleich mit hagiographischen Texten über heilige Männer machen werde. Das heißt, ich postuliere nicht einen grundsätzlichen Unterschied 9
Lanser 1981, 159 f. 10 Nünning/Nünning
2004, 146 f. Lanser 1992, 278. 12 Die Rolle der Frau im öffentlichen Diskurs ist aber nicht komplett eindeutig. Anne Jensen hinterfragt in ihrem Buch über die T hekla-Akten (aus dem 2. Jh) die Annahme, dass Frauen der Antike überhaupt keinen Zugang zur Öffentlichkeit hatten. Den Akten zufolge sind aber, als T hekla vor dem Richter steht, Frauen um T hekla herum präsent, die gegen ihre Strafe protestieren – d.h. es gibt im Text eine „öffentliche Solidarisierung der Frauen mit der verurteilten Christin“ (Jensen 1999, 86). Jensen erwähnt auch einen nicht-christlichen Text (Livius, Ab urbe condita 34,1 und 34,5), worin Frauen in gewissen Situationen in der Öffentlichkeit reden (Jensen 1999, 86–89). Solche Fälle kommen aber doch nur selten und sporadisch vor. 11
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zwischen heiligen Männern und Frauen, sondern ich untersuche die spezifischen Textstrukturen, die heilige Frauen umgeben. Lynda L. Coon hat sich bereits mit hagiographischen Texten als Literatur beschäftigt und darauf hingewiesen, dass man sie nicht als Fenster der Geschichte missverstehen dürfe, da hagiographische Texte voll biblischer Topoi, literarischer Erfindungen und moralischer Normen seien.13 Sie warnt im selben Atemzug davor, hagiographische Erzählungen über Frauen aus einer feministischen Perspektive zu deuten und dadurch den theologischen Sinn der Literatur zu verpassen.14 Diese Vorbehalte sind wichtig. Es bedeutet aber wiederum nicht, dass man an den literarischen Formen nicht auch viel über den historischen Kontext erkennen kann (wie es die feministische Narratologie behauptet). Selbst ist Lynda L. Coon auch der Ansicht, dass „an understanding of vitae within their historical context can do much to illuminate perceptions of male and female capacities that have shaped the fate of both sexes throughout western history“15. Ein ähnliches Verständnis von der Wechselwirkung zwischen literarischen Formen und historischem Kontext drückt Laura S. Nashrallah in einem Aufsatz aus. In ihrer Arbeit mit Texten, die wahrheitsfremd den Anspruch erheben, vom Apostel Paulus oder über Paulus geschrieben worden zu sein (Pseudepigraphie), fragt Nashrallah: „What practices of history led to such writings and what contexts – whether of education, status, theology, politics, or even love – drove such practices?“16 Dieselbe Frage spielt in diesem Aufsatz auch eine Rolle in Bezug auf die hagiographischen Texte: In welchem Kontext konnte man über heilige Frauen als Lehrerinnen schreiben? Es sind insbesondere die asketischen Strömungen des spätantiken Christentums, die hier auffälligerweise Raum für inhaltliche und erzähltechnische Entwicklungen bieten.17 Geoffrey Galt Harpham bringt in seinem Buch T he Ascetic Imperative in Culture and Criticism (1987) Askese, Feminismus und Narratologie zusammen, indem er betont, dass hagiographische Erzählungen (im Allgemeinen) voller Möglichkeiten sind, und nicht als geschlossen gelesen werden sollen, womit er sich an die feministische Kritik der klassischen Narratologie anschließt: „feminists and others are right to insist on a ‚processual‘ view of narrative, a view that should entail a reassessment both of narrative‘s effects and of narrative form“18. Harpham ist der Meinung, dass Hagiographie, auch wenn sie primär männliche Vorbilder zeigt, nicht als patriarchalisch zu verstehen ist, denn auch Geschlecht und Selbstverständnis werden in der hagiographischen Literatur immer wieder hinterfragt:
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Vgl. Coon 1997, 143. Vgl. Coon 1997, 143. 15 Coon 1997, 143. 16 Nasrallah 2015, 74. 17 Für terminologische Klärungen und inhaltliche Reflexionen zum T hema „heilige Lehrer*innen“ vgl. Munkholt Christensen/Gemeinhardt 2019. 18 Harpham 1987, 82. 14
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For within its fascinated concentration on the masculine, hagiography focuses on the doubling and self-subversion of the subject […]. In other words, hagiography both establishes the masculine programme and destabilizes it […].19
Es gehört, laut Harpham, gewissermaßen zum asketischen Programm, dass der Asket ständig die Welt interpretiert und Versuchungen widersteht. Die ständige, kritische Auseinandersetzung mit der Welt ist, laut Harpham, ein asketischer und narrativer Akt, in Harphams Analyse fließen die Erzählebene und Erzählerintention gewissermaßen ineinander. Wir werden im Folgenden näher betrachten, wie heilige Frauen als Lehrerinnen charakterisiert werden. Der Fokus liegt auf dem Erzähler und den Fokalisatoren in den Erzählungen. Am Ende werde ich mit Bezug auf diese Beispiele überlegen, inwiefern die Etablierung von Lehrerinnen in der erzählten Welt auch mögliche Auswirkungen außerhalb der Texte gehabt haben könnte. Zunächst folgen allgemeine Überlegungen zum Begriff „Lehrerin“. 1.2 Lehrerin In der Spätantike passiert es im Allgemeinen selten, dass Frauen direkt als Lehrerinnen charakterisiert werden, während andere Begriffe häufiger in hagiographischen Texten benutzt werden, um den erhabenen und nachahmenswerten Charakter heiliger Frauen zu erläutern; so kommen z.B. „Herrin“, „Mutter“ oder „Schwester“ häufiger vor.20 Frauen „lehren“ dennoch häufiger, als sie als Lehrerinnen bezeichnet werden. Im Griechischen gibt es nicht einmal eine weibliche Form für den Begriff „Lehrer“, διδάσκαλος, und wenn überhaupt werden Frauen mit ἡ διδάσκαλος bezeichnet. Die (neben der Paulus-Begleiterin T hekla) vielleicht bekannteste „Lehrerin“ der christlichen Antike wird von Gregor von Nyssa als solche beschrieben, nämlich wenn er am Anfang seiner Schrift Über Seele und Auferstehung seine Schwester Makrina als „Schwester und Lehrerin“ bezeichnet.21 In Gregor von Nyssas Vita Macrinae lehrt Makrina viel und wird durchaus als Vorbild dargestellt, dennoch wird sie in diesem Text „nur“ zwei Mal als „Lehrerin“ bezeichnet und dann nicht allgemein, sondern in Bezug auf ihren Bruder Peter und die Jungfrauen um sie.22 In der Vita Macrinae beschreibt Gregor sie nicht als seine Lehrerin.23 Es ist aber 19
Harpham 1987, 81. den beiden Versionen der Vita Melaniae wird Melania, die häufig lehrt, nicht als Lehrerin beschrieben, aber sie wird mit anderen Worten geehrt, auch im Kontext ihres Unterrichts, z.B. bei Gerontius, v. Melan. prol. 1 (SBF CMi 41, 152,3 Laurence): matris nostrae; 48 (246,5 L.): mater nostra et domina; 62 (280,1 L.): domina mater. 21 Gregor von Nyssa, anim. et res. 1 (GNO III,3, 12,15 f. Spira/Mühlenberg): ἡ ἀδελφὴ καὶ διδάσκαλος. 22 Gregor von Nyssa, v. Macr. 12 (SC 178, 182,13 Maraval): διδάσκαλος und 26 (230,9 M.): ἡ διδάσκαλος. 23 Meissner 1992, 33: „Die Bedeutung Makrinas für Gregor persönlich wird […] kaum in der VMacr., die von vornherein für ein breiteres Publikum bestimmt ist […] gewürdigt“. 20 In
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überhaupt einzigartig, wie Gregor seine Schwester als Autorität in den beiden erwähnten Schriften beschreibt. Das Zögern, das den Begriff „Lehrerin“ hinsichtlich seiner faktischen Verwendung in der hagiographischen Literatur umgibt, zeigt uns bereits, dass er sowohl wichtig als auch aussagekräftig ist. Dass die Verwendung des Lehrer-Begriffs nicht völlig eindeutig ist, kommt etwa im Titel der Vita Syncleticae zum Ausdruck. Für diesen pseudathanasianischen Text aus dem fünften Jahrhundert sind nämlich zwei unterschiedliche Titel überliefert, sowohl Leben und Lebensführung unserer heiligen und gesegneten Mutter (μητρός) Synkletike als auch Leben und Lebensführung unserer heiligen und gesegneten Lehrerin (διδασκάλου) Synkletike.24 Obwohl die beiden Begriffe, Mutter und Lehrerin, in diesem Kontext wohl als Synonyme zu verstehen sind – für eine Person, der Autorität zugeschrieben wird –, könnte man auch einen subtilen Kommentar in diesem Unterschied erkennen: Die „Lehrerin“-Variante ist also nicht immer verwendet worden, wahrscheinlich weil sie nicht immer als angemessen empfunden wurde. Die Titel sagen uns allerdings nicht viel über das früheste Verständnis des Textes, weil wir nicht annehmen können, dass diese Titel ursprünglich sind. Tatsächlich wird Synkletike in ihrer Vita nicht direkt als Lehrerin bezeichnet, obwohl der größte Teil des Textes ihr Lehrvortrag ist, und das wird klar mit dem Schlussworten markiert: „Das sind die Unterweisungen der ehrwürdigen und ganz tugendhaften Synkletike, und zwar mehr durch ihre Taten als durch Worte.“25 Obwohl Synkletike also durch viele Unterweisungen (τὰ διδάγματα) lehrt, zögert der Autor, den Titel „Lehrerin“ zu verwenden. Die anderen Viten, mit denen wir uns hier beschäftigen, tragen das Wort „Lehrerin“ nicht im Titel und nur gelegentlich finden wir es im Text. Die Frage, wann und wie Frauen als Lehrerinnen bezeichnet werden, wird uns in den nächsten Abschnitten anhand einiger konkreter Beispiele näher beschäftigen.
2. Textanalyse Die hagiographischen Texte, in welchen Lehrerinnen vorkommen, lassen sich typologisch in drei Kategorien einordnen: 1) Berichte über Frauen, die lehren und dazu durch ihre Erfahrung autorisiert sind; 2) Berichte, in denen diese Begrün24 Lamprinē G. Ampelarga erwähnt die unterschiedlichen Titel der frühesten Manuskripte: Das Manuskript L, Parisinus Coisl. Gr. 303, saec. X/XI, vertritt die διδασκάλου- Variante. Frühere und mehrere Manuskripte führen das Wort μητρὸς im Titel, und deswegen hat Ampelarga sich für den folgenden Titel entschieden: Βίος καὶ πολιτεία τῆς ὁσίας καὶ ἀοιδίμου μητρὸς ἡμῶν Συγκλητικῆς (Ps.-Athanasius, v. Syncl., ed. Ampelarga, 182 f.). Vgl. McClintock/Strong 1879, 363. 25 Ps.-Athanasius, v. Syncl. 103 (258,1075–1077 A.): ταῦτα τῆς σεμνῆς καὶ παναρέτου Συγκλητικῆς τὰ διδάγματα, καὶ μᾶλλον πράξεις ἢ ῥήματα· καὶ ἄλλα δὲ πολλὰ καὶ μεγάλα ὑπ’ αὐτῆς ἐ γνωρίσθη πρὸς ὠφέλειαν τῶν ἀκουσάντων τε καὶ θεασαμένων. Übers. Frank 2008, 70.
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dung in der mirakulösen bzw. göttlich inspirierten Form ihres Unterrichts liegt; und 3) Erwähnungen heiliger Lehrerinnen in einem Kontext, in dem die jeweilige Schülerinnen-Gemeinschaft über den Verlust ihrer verstorbenen Lehrerin trauert. 2.1 Erfahrung als Begründung von weiblicher Lehrautorität Ein erstes Beispiel findet sich in der schon erwähnten Vita Syncleticae, die aus dem fünften Jahrhundert stammt. Hier geht es um die Eremitin Synkletike, die, laut dem Erzähler, in einer Höhle in der Nähe von Alexandria lebte und dort ihre Askese zur Perfektion brachte.26 Wir erfahren nur sehr wenig über ihr Leben, aber viel über die Situation und den Inhalt ihrer Lehre.27 Ihr Lehrvortrag ist in die Erzählung eingebunden, was dem Zweck dient, ihren Unterricht durch die Beschreibung ihrer asketischen Praxis und Authentizität zu untermauern – das entspricht völlig ihrer Lehre, weil sie der Ansicht ist, dass die Praxis den Vorrang gegenüber intellektuellem Wissen einnehmen muss. Synkletike zufolge sollte man überhaupt nur aus Glauben heraus reden, und zwar aus einem Glauben, der sich auch im Handeln, genauer in freiwilliger Armut, ausdrückt. „Unterweisung jedoch, die auf asketischer Erfahrung beruht, kann nicht einmal in alle Ewigkeit zerstört werden. Denn das Wort, das die Kanten der Seele wegmeißelt, prägt den Gläubigen das ewige Bild Christi ein.“28 Synkletike spricht nicht leere Worte, sondern geistliche Lehre, die schon praktiziert und erprobt worden ist: ἔμπρακτον διδασκαλίαν. Wort und Handeln werden dadurch zusammengehalten. Dass Synkletikes Vita dadurch schon mehr als nur ein reiner Lebenslauf ist, verrät auch bereits der oben erwähnte Titel dieser Vita: Βίος καὶ πολιτεία (der Standardtitel in der byzantinische Hagiographie); es geht darum, wie sie lebt, und auch darum, wie man leben soll, eben die πολιτεία. Das kann man nicht allein durch intellektuelle Anstrengungen lernen. Der Erzähler der Synkletike-Vita bleibt für die Leserschaft unbekannt, doch spricht er über den eigenen Schreibprozess und Nutzen der Vita, indem er mit erster Person Plural über sich selbst redet: Wir jedoch sind nach unserem eigenen Vermögen ihren Spuren nachgegangen. Von ihren Zeitgenossen haben wir eigenes über die Anfänge ihres Lebens gehört; ihre Handlungen selbst haben uns ein wenig Licht gebracht. Deshalb machen wir uns ans Schreiben und erwarten für uns selbst eine heilsame Speise.29 v. Syncl. 21 (197,183–184 A.). Constantinou 2008, 194–197. 28 Ps.-Athanasius, v. Syncl. 79 (243,786–88 A.): τὴν δὲ ἔμπρακτον διδασκαλίαν οὐδ’ ὁ πᾶς αἰὼν διαλῦσαι δυνηθείη· τὰ γὰρ στερεὰ τῆς ψυχῆς ἐκκολάπτων ὁ λόγος αἰώνιον ἄγαλμα Χριστοῦ τοῖς πιστοῖς δωρεῖται. Übers. Frank 2008, 59. 29 Ps.-Athanasius, v. Syncl. 3 (184,18–185,22 A.): ἡμεῖς δὲ κατὰ τὴν οἰκείαν δύναμιν ἰχνηλατοῦντες τὰ κατ’ αὐτὴν καὶ ἐκ τῶν συνηλίκων δὲ αὐτῆς τὰ κατὰ τὸν πρῶτον βίον ἀκροθιγῶς ἀκούσαντες καὶ ἐξ αὐτῶν δὲ τῶν πραγμάτων ἀμυδρῶς τὸν πρῶτον βίον ἀκροθιγῶς 26 Ps.-Athanasius, 27
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Hinter diesem „Wir“ könnte sich durchaus eine Frau verbergen, die Erzählstimme wird aber traditionell als männlich empfunden, weshalb auch die Schrift Athanasius zugeschrieben wurde. Der Erzähler ist zwar vorbereitet auf die Erzählung, weiß aber nicht mehr, als ihm vorgelegt worden ist; das heißt, erzähltheoretisch haben wir es mit einem heterodiegetischen Erzähler und externen Fokalisator zu tun. Grundsätzlich ist der Erzähler nicht mit dem Innenleben der heiligen Frau bekannt, was gut dazu passt, dass die Heilige der Welt fremd und enthoben ist, und der Erzähler seine Geschichte als wahr vorstellt. Der Erzähler hat eine D istanz zu dem, was er erzählt, weil er nicht selbst dabei war. Erzählerisch wird aber die historische Distanz überwunden, indem eine Gruppe von Frauen als Verbindungselement wirkt. Sie werden so in die Erzählung eingeführt: Gott weiß ja, wie er durch sich selbst die bekannt machen kann, die ihn lieben, um jene zur Besserung zu führen, die hören. Deshalb kamen damals einige Frauen im Verlangen nach Besserung zu ihr und trugen ihr ihre Bitten um Anregendes zu ihrer eigenen Er bauung vor.30
Diese Gruppe von Frauen kommt ganz nah an die heilige Frau heran und kann eine Nähe zu ihr etablieren, woran sich auch die Lesenden anschließen können. Die Frauen haben ein Verlangen nach Besserung und die Lesenden außerhalb der Geschichte können sich auch zu denen zählen, die Gott – laut des Textes – zur Besserung führt. Die Gruppe von Frauen kommt aber nicht nur räumlich nah an die heilige Frau heran, sondern wird auch als Subjekt in den Unterricht mit hineingenommen. Im Lehrvortrag von Synkletike gibt es eine sprachliche Brücke zwischen der heiligen Frau und den Zuhörerinnen, wenn Synkletike gelegentlich eine kollektive Redeweise benutzt und sich selbst und die Hörenden von Anfang an als „wir“ bezeichnet. Karl Suso Frank ist der Meinung: „Die Distanz zu den Hörenden wird da und dort durch das verbindende ‚wir‘ abgeschwächt.“31 Das gilt auch außerhalb des Textes, wo sich jeder mit dem intradiegetischen „wir“ identifizieren kann. Synkletikes Unterweisungen folgen nicht sofort, denn sie weigert sich – wie eine typische gute christliche Frau – zu reden. Deswegen gibt es erstmal einen Dialog zwischen ihr und den anwesenden Frauen. Sie stellen eine Frage, die als asketi-
κούσαντες καὶ ἐξ αὐτῶν δὲ τῶν πραγμάτων ἀμυδρῶς καταυγασθέντες ἐπὶ τὸ γράφειν ἀ ἥκομεν ἑαυτοῖς τροφὰς σωτηριώδεις ἀποθησαυρίζοντες. Übers. Frank 2008, 29. 30 Ps.-Athanasius, v. Syncl. 21 (197,186–198,89 A.): Οἶδε γὰρ ὁ Θεὸς τοὺς αὐτὸν ἀγαπῶντας καὶ δι’ αὐτῶν κηρύττειν πρὸς διόρθωσιν τῶν ἀκουόντων. τότε μὲν οὖν τῇ βουλήσει τοῦ κρείττονος ἤρξαντό τινες παραβάλλειν καὶ πρὸς οἰκοδομὴν οἰκείαν ἱκετηρίους τὰς ἐντεύξεις ποιεῖσθαι. Übers. Frank 2008, 35 f. Noch weiß man als Lesende/r nicht, ob es sich um Frauen handelt, denn noch geht es um „einige“ (τινες), die Synkletike aufsuchen. In den folgenden Sätzen werden sie aber mit Partizipien (fem. pl.) als Frauen gekennzeichnet. 31 Frank 2008, 25.
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scher locus classicus bezeichnet werden kann: „Wie kann man gerettet werden?“32 Synkletike antwortet ihnen: „Warum denkt ihr so Großartiges von mir Sünderin, als ob ich etwas Gutes zu tun oder zu sagen fähig wäre. Wir haben einen gemeinsamen Lehrer, den Herrn. Wir schöpfen geistliches Wasser aus einer Quelle. Wir saugen die Milch von den gleichen Brüsten, dem Alten und Neuen Testament.“ Doch sie sagten zu ihr: „Wir wissen wohl, dass wir als einen Erzieher (παιδαγωγός) die Schrift haben und auch den einen Lehrer (διδάσκαλος). Aber du hast mit hellwachem Eifer den größeren Fortschritt in der Tugend gemacht und es gehört sich, dass die, die in Gutem erfahren sind, also die Stärkeren, den Schwächeren zu Hilfe kommen, weil eben sie, dazu fähig sind […]“. Sie fühlte Mitleid mit ihnen und nahm wahr, dass ihre Worte nicht ihr zum Lob gereichten, vielmehr Nutzen stifteten unter den Anwesenden.33
Synkletike wird nicht direkt als „Lehrerin“ bezeichnet, aber sie wird erzählerisch mit Christus als Lehrer verbunden, und zwar aufgrund ihrer Erfahrung.34 Synkletike weist von sich selbst weg auf Christus hin als Lehrer und auf die biblischen Schriften als Lehrinstanzen. Sie weigert sich zu lehren. Die Zuhörer gaben zu, dass der Herr Lehrer ist, aber sie wissen schon, dass Synkletike unter den hier Anwesenden (auch, meine ich, außerhalb der Textwelt) die größeren Fortschritte gemacht hat. Sie wissen auch, dass sie ihnen deswegen helfen sollte. Synkletikes Autorität beruht auf den schon erlangten asketischen Fortschritten. Wie oben erwähnt wird gerade die „Unterweisung […] die auf asketischer Erfahrung beruht“ als vorbildlich hervorgehoben.35 Ohne dass der Autor Synkletike ausdrücklich als „Lehrerin“ bezeichnet, füllt sie ab diesen Punkt in der Erzählung diese Rolle aus. Die Vita Syncleticae wurde zunächst Bischof Athanasius zugeschrieben, weil einige den Text als ein Gegenstück zur Vita Antonii gesehen haben. Diese Hypothese lässt sich aber nicht verifizieren, obwohl es Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Viten gibt.36 Falls der Autor der Vita Syncleticae tatsächlich Antonius bzw. dessen Vita als Vorbild vor Augen hatte, wäre es bemerkenswert, dass Antonius von Athanasius ausdrücklich als Lehrer benannt wird, wogegen Synkletike nur indirekt als Lehrerin charakterisiert wird. Athanasius schreibt über Antonius: v. Syncl. 21 (198,191 A.): Πῶς δεῖ σωθῆναι; v. Syncl. 21 (199,202–213 A.): Τί οὕτω περὶ ἐμοῦ τῆς ἁμαρτωλοῦ φαντάζεσθε ὡς πραττούσης τι ἢ καὶ λεγούσης; κοινὸν ἔχομεν διδάσκαλον τὸν Κύριον· ἐκ τῶν αὐτῶν πηγῶν ἀρυόμεθα τὰ πνευματικὰ νάματα· ἐκ τῶν αὐτῶν δὲ μαζῶν γαλακτοτροφούμεθα, τῆς τε παλαιᾶς καὶ καινῆς Διαθήκης. αἱ δὲ πρὸς αὐτήν φασιν· Οἴδαμεν καὶ ἡμεῖς ὅτι μία ἡμῶν ἐστι παιδαγωγός, ἡ Γραφή, καὶ ὁ αὐτὸς διδάσκαλος· ἀλλ’ αὐτὴ ἐπαγρύπνῳ σπουδῇ προέκοψας ταῖς ἀρεταῖς, καὶ δέον τὰς ἐν ἕξει τῶν καλῶν γενομένας ὥσπερ δυνατωτέρας ἐπιτάττειν τοῖς μειρακίοις·… ἤρξαντο δὲ αὖθις παρακαλεῖν αὐτήν. ἡ δὲ σπλαγχνισθεῖσα καὶ γνοῦσα ὅτι τὰ λεγόμενα οὐ νέμει μὲν αὐτῇ ἔπαινον, ταῖς δὲ παρούσαις κατασπείρει ὠφέλειαν […]. Übers. Frank 2008, 36 f. 34 Zur Vorstellung von Christus als (eigentlichem oder sogar alleinigem) Lehrer der Gläubigen vgl. Gemeinhardt 2020. 35 Vgl. Fußnote 28. 36 Forman 1993. 32 Ps.-Athanasius,
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Der Herr aber war es, der ihn zu unserem und zum Nutzen anderer bewahrte, damit er auch in Bezug auf die Askese, die er selbst aus der Schrift gelernt hatte, zum Lehrer für viele würde.37
Dagegen wird Synkletike in Vita Syncleticae nicht direkt als διδάσκαλος bezeichnet (abgesehen von dem ab und zu verwendeten, aber wahrscheinlich später entstandenen Titel der Vita, der Synkletike als Lehrerin würdigt). Ob man daraus ein allgemeines Zögern ablesen kann, bleibt eine offene Frage. Sicher ist nur, dass Synkletike gegen ihren ursprünglichen Willen lehrt und dies erst dann tut, als sie aufgrund ihrer Erfahrung im Dialog dazu aufgefordert wird. Erst durch den Blickwinkel und wegen der Forderung der Frauen um sie, wird sie Lehrerin. 2.2 Die mirakulöse bzw. göttlich inspirierte Form des Unterrichts als Begründung von weiblicher Lehrerschaft In dem anonymen Werk De vita et miraculis T heclae, ebenfalls aus dem fünften Jahrhundert, treffen wir auf eine weitere christliche Lehrerin: die berühmte T hekla, Begleiterin des Paulus, die selbst predigte, womöglich sogar taufte und in Seleukia starb, wo sie im 5. Jh. verehrt wurde. Das Werk De vita et miraculis T heclae über sie ist zweigeteilt: Der erste Teil ist eine Art „rewriting“ der apokryphen Akten des Paulus und der T hekla aus dem zweiten Jahrhundert. Der zweite Teil beschreibt die Wundertaten T heklas. Der Autor ist wiederum nicht namentlich bekannt, obwohl er sich ab und zu direkt im Text zu Wort meldet, weil er offenbar gerne für sich selbst Nutzen aus dem Text ziehen will und die heilige Frau zwischendurch im Gebet darum bittet, dass sie ihm „einen guten Ruf unter den Rednern“ geben soll, „die so zahlreich sind, wie sie bewundernswert sind“38. Im Text wird T hekla nicht häufig als Lehrerin bezeichnet, obwohl sie mehrmals lehrt und dazu auch von Paulus berufen worden ist.39 In einem Abschnitt kommt aber auch der Titel „Lehrerin“ vor, und zwar in der Erzählung des 45. Wunders, worin wir von einer Frau namens Xenarchis hören. Wir erfahren, dass T hekla Xenarchis wegen ihrer Tugendhaftigkeit mochte, obwohl sie verheiratet war, wie der Text es beschreibt. Es wird beschrieben, wie diese tugendhafte Xenarchis ein Buch bekommt – die Evangelien. Sie weiß aber nicht, wie sie es nutzen soll, weil sie nicht lesen kann. Dann kommt eine unvollständige Aussage, die zeigt, dass X enarchis T heklas Hilfe braucht, und dass sie von ihr als „Lehrerin meines [Xenarchis] Lebens (ἡ τοῦ βίου μου διδάσκαλος)“ bezeichnet wird. Xenarchis sagt nämlich: 37 Athanasius, v. Anton. 46,6 (FC 69, 214,16–216,2 Gemeinhardt): ὁ δὲ Κύριος ἦν αὐτὸν φυλάττων εἰς τὴν ἡμῶν καὶ τὴν ἑτέρων ὠφέλειαν, ἵνα καὶ ἐν τῇ ἀσκήσει, ἣν αὐτὸς ἐκ τῶν γραφῶν μεμάθηκεν, πολλοῖς διδάσκαλος γένηται. Übers. aaO. 215–217. 38 V. et Mirac. S. T heclae, Mirac. Epilog (SHG 62, 412.36–41 Dagron): τὴν πειθὼ τῶν ἀκροωμένων […] καὶ διὰ σέ μοι καὶ h καὶ τὸ εἶναί τι δοκεῖν ἐν τοῖς λέγουσι, πολλοῖς τε οὖσι καὶ θαυμασίοις. 39 V. et Mirac. S. T heclae, Vit. 26 (274.58–67 D.)
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„Diese Gabe ist göttlich, bewundernswert, außergewöhnlich, und es gibt keine zwei so wie sie auf der Erde – das Buch ist mir gegeben,“ fügte sie hinzu, „aber mir, die das Alphabet nicht kennt und die auch nicht weiß, woher und wie man mit dem ganzen Fluss von Worten und Sätzen umgeht, wozu dient es mir? Ausgenommen, dass sie dann und auch jetzt die Lehrerin meines Lebens ist […]“.40
Es ist die literarische Figur Xenarchis, mit deren Hilfe T hekla an dieser Stelle vom Erzähler wortwörtlich als Lehrerin figuriert wird. Mit dem Konditionalsatz, der mit „Ausgenommen, dass“ (εἰ μή που ἄρα) anfängt, ruft Xenarchis T hekla wieder in Erinnerung und verdeutlicht damit zugleich ihre Bedeutung für sie persönlich: entweder muss ihr die „Lehrerin ihres Lebens“ helfen, oder die Worte des Evangeliums bleiben verborgen. Der Text geht wie folgt weiter: Beim Reden machte sie [Xenarchis] das Buch auf und öffnete es, beugte sich darüber, als wollte sie darüber nachdenken oder es küssen. Sobald sie ihre Augen auf die Buchstaben gerichtet hatte, fing sie an zu lesen, und [dies] so fließend und ohne zu zögern, dass alle Frauen um sie herum erstaunt waren und mit dem Evangelium gesprochen haben: „Wie kennt diese die Schrift, wenn sie es doch nicht gelernt hat?“ (vgl. Joh 7,15). Aber auch dieses große Wunder gehört natürlich der Märtyrerin, die damals gegenwärtig war und dies hörte und dies vollbracht hat.41
Hier wirkt die Lehrerin T hekla, ohne überhaupt in der Erzählung anwesend zu sein. Sie bringt der Frau sozusagen das Lesen bei, allerdings ohne weltlichen Zweck, sondern gezielt, um ihr einen Zugang zu den biblischen Schriften zu eröffnen. Im Text gibt es ein Zitat von Joh 7,15, worin Jesus im Tempel lehrt und sich einige Juden fragen: „Wie kennt dieser die Schrift, wenn er es doch nicht gelernt hat?“ In der T hekla-Erzählung wird das Zitat sozusagen verweiblicht, was am femininen Subjekt αὕτη zu erkennen ist: Woher kennt sie also die Schrift? Man konnte als Leser oder Hörer daraus ableiten, dass es derselbe Geist ist, mit dem Jesus im Tempel gebildet lehren konnte, der es dieser tugendhaften Frau möglich macht zu lesen. Gott wirkt also, wenn auch nicht ohne die vermittelnde Tätigkeit T heklas. Vielleicht muss man hier auch Jesu Antwort aus dem Johannesevangelium in Erinnerung haben: „Jesus antwortete ihnen und sprach: ‚Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat.‘“ Mit diesem Intertext weist T heklas Wundertat wieder von ihr und Xenarchis weg und stattdessen auf 40 V. et Mirac. S. T heclae, Mirac. 45 (406.8–13 D.): Τὸ μὲν δῶρον θεῖόν τε καὶ ἀξιάγαστον καὶ ὑπέρμεγα καὶ οἷον οὐκ ἄλλο τι τῶν ἐπὶ τῆς γῆς, ἀλλ’ ἐμοί—φησί—τῇ μὴ ἐπισταμένῃ μήτε τὰ πρῶτα ταῦτα στοιχεῖα καὶ γράμματα, μηδὲ ἀφ’ ὧν κεῖται καὶ πρόεισι ταῦτα στοιχεῖα καὶ γράμματα, μηδὲ ἀφ’ ὧν κεῖται καὶ πρόεισι τὰ τῶν λόγων ἅπαντα ῥεῖθρα καὶ νάματα, εἰς τί ἔσται τοῦτο, εἰ μή που ἄρα καὶ νῦν ἡ τοῦ βίου μου διδάσκαλος […]. 41 V. et Mirac. S. T heclae, Mirac. 45, Variante A (406.13–408.21 D.): Καὶ μεταξὺ ταῦτα λέγουσα λύει τὸ βιβλίον καὶ ἁπλώσασα ἐπέκυψεν, ὅσον κατανοῆσαί τε ἢ καὶ ἀσπάσασθαι. Ὡς δὲ μόνον τοῖς γράμμασιν ἐπήρεισε τοὺς ὀφθαλμούς, ἄρχεται καὶ ἀναγιγνώσκειν, καὶ οὕτως ὀξέως καὶ οὕτως ἀνενδοιάστως ὡς ἐκπλαγῆναί τε καὶ τὰς σὺν αὐτῇ πάσας καὶ τὸ εὐαγγελικὸν ἐκεῖνο εἰπεῖν “Πῶς γράμματα οἶδεν αὕτη μὴ μεμαθηκυῖα;”, τῆς δὲ μάρτυρος δηλονότι καὶ τοῦτο τὸ πολὺ θαῦμα καὶ παρεστηκυίας τε τότε καὶ ταῦτα ἀκουούσης καὶ ταῦτα ἐργασαμένης.
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die Offenbarung hin. Das Lesen wird insofern als Mittel der Offenbarung dargestellt.42 Alle diese direkten und möglichen Assoziationen des Textes werden durch die „Frauen um sie herum“ (τὰς σὺν αὐτῇ πάσας) geweckt. Sie verleihen der Geschichte Glaubwürdigkeit und eröffnen Deutungsmöglichkeiten, sodass das Wunder durch T hekla in einen gewissen Rahmen eingesetzt wird. Das heißt, wie in der Geschichte über Synkletike, dass die anwesenden Frauen auch hier eine Rolle als Fokalisatoren spielen. 2.3 Schüler und Schülerinnen, die über den Verlust ihrer Lehrerin trauern, als Autorisierungsinstanzen weiblicher Lehrerschaft Es gelingt den beiden Erzählern in Synkletikes Vita und T heklas Wundergeschichte, die Frauen als Lehrerinnen darzustellen, ohne dass die Frauen selbst willentlich als Lehrerinnen agieren oder gar – im Fall von T hekla – in den entsprechenden Erzählungssequenzen anwesend sind. Es gibt daneben noch eine weitere Weise, mit der die Lehr-Funktion erwähnt wird, ohne dass die Frauen direkt als Lehrerinnen auf der Ebene der Erzählung agieren. Wir finden solche Beispiele am Ende verschiedener Viten, wenn vom Tod der Hauptfiguren berichtet wird. Hier können in der Erzählung die Schüler und Schülerinnen als Fokalisatoren eingesetzt werden, durch die die didaktische Rolle der Heiligen hervorgehoben wird. Es leuchtet ein, dass diese Rollenzuschreibung in diesen mehr oder weniger biographischen Texten am Ende erwähnt wird, weil es sich dann im Laufe der Erzählung schon gezeigt hat, ob jemand würdig ist, als Lehrerin bezeichnet zu werden. Ein Beispiel, in dem eine solche Zuschreibung vorkommt, stammt aus der Vita Febroniae, die im späten sechsten Jahrhundert verfasst wurde und deren Protagonistin in der syrischen Stadt Nisibis lebte.43 Als eine von nur wenigen Viten der Spätantike erhebt dieser Text den Anspruch, mit der Nonne T homais eine weibliche Erzählerin zu haben.44 Diese Identifizierung des Erzählers mit der Nonne findet aber erst im allerletzten Abschnitt statt und drückt gewissermaßen eine communal voice aus, weil sie bis zum letzten Abschnitt nicht identifiziert wird und 42
Dass Bibelkenntnis in dieser Weise von außen kommt und sich wie ein Wunder ereignen kann, ist in Kontexten, in denen heilige Männer und Frauen lehren, üblich. Ein Beispiel hierfür finden wir im westlichen Bereich in der Vita sancti Martini aus dem späten vierten Jahrhundert. Hier heißt es über den heiligen Martin: „Wie scharfsinnig, wie wirkungsvoll, wie gut gerüstet und gewandt war er bei der Lösung von Fragen zu den [heiligen] Schriften! […] so ist es indes doch erstaunlich, dass es einem ungebildeten Mann nicht einmal an dieser Gabe mangelte!“ (Sulpicius Severus, v. Mart. 25,6–8; Huber-Rebenich 68,10–18): quam acer, quam efficax erat, quam in absolvendis scripturarum quaestionibus promptus et facilis! […] Nisi quod mirum est homini inlitterato ne hanc quidem gratiam defuisse). 43 Die Ereignisse der Vita sind nicht historisch verifizierbar, vgl. Brock/Harvey 1987, 150–152. Eva M. Synek ist aber der Meinung: „Es ist durchaus möglich, wenn auch nicht beweisbar, dass sie [die Vita Febroniae] rund um die Erinnerung an eine historische Märtyrerin gewoben wurde“ (Synek 1993, 366). 44 V. Febron. 43 (AMSS 5, 614 Bedjan)
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eine Repräsentantin einer Gruppe von Frauen ist. Erst am Ende wird die gemeinsame Erzählstimme also an einer Stelle individualisiert.45 In diesem Text gibt es am Ende mehrere Fälle, in denen Febronias Schülerinnen ihre Rolle als Lehrerin bestätigen. Das passiert in dem Moment, in dem die dramatische Geschichte ihren Höhepunkt erreicht, nämlich als die christliche Jungfrau Febronia als Märtyrerin zum Tod verurteilt wird. Dabei wird beschrieben, wie furchtbar sie in der römischen Arena gefoltert wird. Währenddessen reagieren ihre Schülerinnen, indem sie mehrmals ihr Lehrerin-Schülerinnen-Verhältnis bekennen. In Abschnitt 20 heißt es über die weib lichen Laien, die Febronia früher aufgesucht haben, um ihr beim Vorlesen der heiligen Schrift zuzuhören: Als sie zu dem Platz rannten, wo das Spektakel stattfinden sollte, weinten sie und schlugen sich auf ihre Brüste, und trauerten über den Verlust ihrer Lehrerin.46
Diese Trauer wird, wie auch die Folterung von Febronia, ausführlich beschrieben. Noch 15 Abschnitte später trauern die Schülerinnen: „Auch alle Laienfrauen weinten und beklagten den Verlust ihrer Lehrerin […].“47 Mit einer Senatorenfrau, Hieria, hatte Febronia besonders viel zu tun und auch für sie hat Febronia im Laufe der Erzählung die Bibel vorgelesen. Jetzt, am Ende der Vita, erfahren wir, dass Hieria zu Hause bei ihren Eltern ist, und dass sie außer sich ist, weil Febronia sterben wird. Hieria will unbedingt zu der Arena, in der sich das Martyrium ereignen soll, und erklärt: „Meine Lehrerin steht vor Gericht, weil sie Christin ist.“ Ihre Eltern bemühten sich, sie zur Ruhe zu bringen, aber sie trauerte und weinte umso mehr. „Lasst mich in Ruhe um meine Schwester und Lehrerin Febronia weinen“ […].48
Hier wird sogar eine besonders emphatische Art des Possessivpronomens im Syrischen benutzt, um Hierias Beziehung zu Febronia auszudrücken, was etwa heißt „und zwar die von mir“ statt nur „meine“: „und zwar die Schwester und Lehrerin von mir“. Als Hieria dann in der Arena ist, bestätigt sie erneut die Beziehung: Hieria selbst schrie mit lauter Stimme auf: „Ach, Febronia, meine Schwester, ach, meine Herrin und meine Lehrerin. Heute werden wir deiner Unterweisung beraubt“ […].49 45 Vgl. 46
Nünning/Nünning 2004, 146 f. V. Febron. 20 (AMSS 5, 592 B.):
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V. Febron.35 (AMSS 5, 608 B.):
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V. Febron.20 (AMSS 5, 592 B.):
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V. Febron. 25 (AMSS 5, 597–598 B.):
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Weil die Erzählung hier sehr dramatisch ist und die physische Gewalt gegen Febronia detailliert beschrieben wird, bin ich der Ansicht, dass der Autor mit diesem Abschnitt gezielt eine emotionale Wirkung auf die Rezipienten erreichen will. Hierias fast bekennender Stil – als sie mit dem Possessivpronomen ihre Beziehung zu Febronia bestätigt, also „meine Lehrerin“ sagt – soll nicht nur Sympathie wecken, sondern vielleicht auch eine Art Identifikation zwischen den Lesenden und der Schülerinnen der heiligen Frau ermöglichen. Könnte Febronias Lehrtätigkeit schon über die erzählte Welt hinausgewirkt haben? Wird Febronia in und mit dem Text auch zur Lehrerin für diejenigen, die die Geschichte gerade lesen oder hören?50 Diese Verbindung wird jedenfalls durch die Schülerinnen ermöglicht, die eine starke Verbindung zu Febronia zeigen. Damit ist ein weiteres Beispiel gegeben, worin die Schülerinnen in der erzählten Welt auf die Lehrerin zeigen, und sie dadurch eine Rolle als Lehrerin inner- und außerhalb der Erzählung ausfüllt.
3. Zusammenfassung Wenn wir auf die Erzähltechnik schauen, scheint es mir, als ob die Autoren dieser drei hagiographischen Texte geradezu Meister darin sind, den Unterschied zwischen dem intendierten bzw. implizierten Adressaten und uns außerhalb der Textwelt indirekt auszublenden. Das geschieht subtil, so wie oben beschrieben, als in Synkletikes Vita beim Auftakt gesagt wurde: „Gott weiß ja, wie er durch sich selbst die bekannt machen kann, die ihn lieben, um jene zur Besserung zu führen, die hören.“ Soll nicht auch die Leserschaft verstehen, dass sie auch zu denen gehört, die hören können, und die durch den Text zur Besserung geführt werden soll? Oder im Fall der Vita Febroniae, worin ständig stärkere Beziehungen zur Hauptfigur ausgedrückt werden: „Ihre Lehrerin“ wird letztendlich unter Tränen als „meine Schwester und Lehrerin“ bezeichnet – hier besteht die Möglichkeit, sich mit den Schülerinnen der erzählten Welt zu identifizieren. Ich halte es für sehr plausibel, dass das reale Publikum hier indirekt angesprochen und einbezogen wird. Ebenso bin ich der Ansicht, dass am intradiegetischen „Publikum“ gezeigt wird, wie man auf christliche Lehrinhalte und Lehrerinnen reagieren sollte, insofern also verstehen sollte, dass Gott in und durch die Lehrerinnen wirkt, auch um bei jedem möglichen Rezipienten eine innere Wandlung zu bewirken.
50 Karen L. King äußert sich wie folgt dazu, inwiefern die narrative Struktur der „suspended endings“ eine kreative Auswirkung auf die Leserschaft haben kann, und erblickt darin „[a] potential to turn readers into authors and even characters“ (King 2015, 64 f.). Es gibt mehrere Textstrukturen, die in dieser Hinsicht produktiv sind, und die die Lesenden miteinbeziehen können.
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Die hagiographischen Texte versuchen etwas Neues zu zeigen und zu bewirken, z.B. dass Frauen auch Lehrautorität haben können – jedenfalls mindestens auf der literarischen Ebene des asketischen und hagiographischen Diskurses. Die Darstellungsweise ist natürlich stilisiert und gewissermaßen vorsichtig. Heilige Frauen werden meistens nicht einfach als Lehrerinnen vorgestellt, sondern werden nur in bestimmten persönlichen Beziehungen als Lehrerinnen bezeichnet: vom Autor als „ihre Lehrerin“, von Schülerinnen als „meine Lehrerin“ oder „die Lehrerin meines Lebens“. Die Texte zeigen uns auch, dass weibliche Lehrautorität verliehen bzw. zugeschrieben werden muss. Die Erzähler zeigen sowohl, dass den Frauen letztendlich von Gott Autorität verliehen wird, als auch, dass weibliche Lehrautorität durch die Erzählung im Sinne von Leitbildern vermittelt werden kann. Überraschend ist vielleicht, wie häufig die Autoren intradiegetische Fokalisatoren zu Wort kommen lassen und dadurch Frauen ausdrücken lassen, wer im Text Lehrautorität hat. In den drei untersuchten Beispielen sind es immer Frauen, die Frauen als Lehrerinnen bezeichnen. Das ist in anderen Texten nicht immer der Fall, aber wahrscheinlich können wir darin eine Tendenz in Bezug auf weibliche Autorität sehen, dass eher Frauen andere Frauen als Lehrerinnen bezeichnen. Insgesamt werden Frauen nur relativ selten als Lehrerinnen bezeichnet. Der Begriff „Lehrerin“ wird benutzt, wo Frauen einen Wissensbestand oder eine Fähigkeit weitergeben oder eine Umwandlung anregen – häufig beim Reden oder (Vor-) Lesen. Es lässt sich vermuten, dass der aktive Aspekt der weiblichen Lehrrolle im täglichen Leben der spätantiken Gesellschaft problematisch war. Daher könnte es anstößig gewesen sein, eine Frau als Lehrerin zu bezeichnen. Die Texte tun es aber trotzdem, und ihre Autoren verwenden dabei vielerlei Fokalisatoren. Wir können auf dieser Grundlage Laura Nashrallahs Frage vom Anfang dieses Beitrags beantworten: „What practices of history led to such writings and what contexts […]?“51 Die christliche asketische Kultur spielte gewiss eine große Rolle als neuer Kontext, worin (heilige) Frauen neue Rollen ausprobieren konnten. Obwohl Lehrerinnen im Christentum nicht als ein reguläres Rollenvorbild etabliert wurden, zeigen die hier erwähnten hagiographischen Texte innovative Gedanken darüber, was im spätantiken Christentum möglich und denkbar war – nicht nur in Bezug darauf, wer Wissen vermitteln könnte, sondern auch mit Blick auf den Adressaten innerund außerhalb des Textes. Die hagiographischen Erzählungen sollen zeigen, dass christliche Lehre von Nutzen ist und von allen erkannt werden kann, die wirklich hören. Ich behaupte damit nicht anachronistisch, dass die spätantike Hagiographie proto-feministisch war, sondern dass uns die feministische Kritik und deren Fokus auf den point of view zeigen kann, dass bereits die hagiographischen Texte gelegentlich mit mehreren Blickwinkeln arbeiteten. Das zeigt ein gewisses Interesse der asketischen und hagiographischen Literatur an einer Entfaltung von Per51
Nasrallah 2015, 74.
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Maria Munkholt Christensen
spektiven mit dem Ziel, dass die asketische Lehre und die Lehrerinnen der Askese breit rezipiert werden sollten. Susan S. Lanser hat bemerkt: „Nonhegemonic writers and narrators may need to strike a delicate balance in accommodating and subverting dominant rhetorical practices.“52 Meines Erachtens passiert genau das in den hier erwähnten hagiographischen Texten. Der asketische und hagiographische Diskurs richtet sich gegen etablierte Normen und benutzt dazu die vielen Möglichkeiten der Erzählung.
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Von monastischen Reisen und idealen Lehrern Eine Untersuchung der Rahmenerzählungen in Johannes Cassians Collationes Patrum unter narratologischen Aspekten Dorothee Schenk* 1. Einleitung Johannes Cassian schrieb zwischen 425 und 429 n. Chr. im südgallischen Marseille die Collationes Patrum, um dort ein monastisches Ideal, das dem der ägyptischen Anachoreten entspricht, zu etablieren. Cassians Collationes sind weder ein – zumindest nicht im engeren Sinne – hagiographischer Text1, noch würde man sie auf den ersten Blick, aufgrund ihrer dialogischen Form, primär als erzählende Texte wahrnehmen. Dennoch lässt sich auch an diesen Texten gewinnbringend mit narratologischer Methodik arbeiten; vielleicht ist sie gerade für diese Texte von Nutzen, da sie hilft, Aspekte der Collationes, die bisher wenig fokussiert wurden, wahrzunehmen.2 Wie das im Detail funktioniert, wird im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele untersucht. In den drei Bänden der Collationes gibt Cassian wieder – bzw. gibt vor, wiederzugeben –, wie sein jüngeres Ich und sein Reisebegleiter Germanus an verschiedenen Orten in der ägyptischen Wüste 24 Gespräche mit 15 verschiedenen Altvätern geführt haben. K.S. Frank prägte für diese Erzählstrategie den Begriff der „fiktiven Mündlichkeit“: * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt C 04: „Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft“. 1 Ein „hagiographischer Text im engeren Sinne“ ist ohnehin kaum klar zu definieren, denn Hagiographie ist keine bestimmte Gattung, sondern vielmehr ein Diskurs, der durch unterschiedliche Gattungen hindurch begegnet (s. hierzu die Einleitung dieses Bandes, oben S. 4). Einige typische Elemente dieses Diskurses, wie die wiederholte Bezeichnung einer Gestalt als sanctus oder bestimmte Konversionsmotive, sind auch in den Collationes anzutreffen, sodass sie – und insbesondere die Rahmenerzählungen (s.u.) –, wenn auch nicht als hagiographisch im Vollsinne, so doch zumindest als hagiographisch angehaucht gesehen werden können (vgl. Gemeinhardt 2015, 1153–1159). 2 Ein Großteil der Literatur zu den Collationes beschäftigt sich mit dem Inhalt der Reden der Altväter, nicht mit ihrem Setting (s.u.).
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Dorothee Schenk
Fiktive Mündlichkeit ist [….] ein Stück Literatur, das unmittelbar wiedergegebene Mündlichkeit sein will. Sie gibt vor, eine tatsächlich gehaltene Rede oder ein tatsächlich stattgefundenes Gespräch schriftlich festzuhalten. Sie will einfach verschriftlichte Mündlichkeit sein. Diese vorgetäuschte Mündlichkeit kann ein ganzes Buch bestimmen oder nur bestimmte Teilstücke eines Werkes, etwa eingefügte Reden oder Gespräche, die wörtlich wiedergegeben werden. Sie ist keine Erfindung der monastischen Literatur, auch keine Neuschöpfung der christlichen Literatur, sondern in der klassischen Literatur der Antike vorgegeben. Ihre bevorzugte Ausdrucksform ist der Dialog, aber auch die fiktive Rede.3
Narratologisch präziser hingegen ließe sich die Gestalt der Collationes m.E. mit Martínez in Anlehnung an Genette als faktuale Erzählung fassen, da sie nichtdichterisch erscheinen (wollen) und den Anspruch erheben, bzw. den Anschein erwecken wollen, ein reales Geschehen wiederzugeben.4 T hematisch kreisen die Unterredungen um nahezu alle Aspekte des (anachoretischen) Mönchtums, formal bestehen sie aus meist kurzen Fragen und Bemerkungen des Germanus, auf die der jeweilige Altvater seine Unterweisung aufbaut. Die dialogische Form wurde aus zweierlei Gründen gewählt: Zum einen verleihen die Altväter durch ihren Erfahrungsschatz den Aussagen eine höhere Autorität als sie sie hätten, wäre Cassian allein der Autor; zum anderen ermöglicht die Form dem Leser, der sich von den Aussagen der Altväter direkt adressiert fühlen kann, eigene Erfahrungen mit dem Gesagten zu machen.5 Auch wenn die Handlung der Collationes gänzlich in der ägyptischen Wüste verortet ist und die erzählte Zeit auf ca. 380–399 v. Chr. zu datieren ist, ist anzunehmen, dass Cassian beim Schreiben noch eine weitere (Text-)Welt, nämlich die der südgallischen Klöster in den 420er Jahren, im Blick hatte. Der Unterschied zwischen den beiden Welten, die Cassian scheinbar mühelos aufeinander beziehen kann, ist nicht nur chronologisch und geographisch immens, sondern auch in Bezug auf die Kenntnis monastischer Lebens- und Lernformen. Bei diesem Übertrag handelt es sich um ein Worldmaking, dessen Absicht von Nünning/Nünning wie folgt definiert wird: T heir [ways of worldmaking] function is to impart some sort of structure to the amorphous and chaotic reality, thus serving as cognitive unifiying and ordering devices.6
In Südgallien war zu dieser Zeit ein koinobitisches Mönchtum verbreitet, das zwar nicht wirklich „chaotic“ genannt werden kann, demgegenüber aber von Cassian die strenge(re) Askese der Eremiten Ägyptens als Ideal stilisiert wird.7 In den Un3
Frank 1997, 53. Dass sie dabei, allein durch den Prozess der zeitversetzten Verschriftlichung, zu einem gewissen Maß der „dichterischen Freiheit“ Cassians ausgesetzt sind, lässt sie zu einem „Sonderfall der faktualen Erzählung“ werden (vgl. Martínez/Scheffel 2016, 12). Nach Martínez bezöge sich „fiktiv“ auf den ontologischen Status der Erzählung und das würde heißen, dass das Geschilderte nicht real ist, war oder sein kann (vgl. Martínez/Scheffel 2016, 16). 5 Vgl. Holze 1992, 141–147; Kelly 2012, 3.14. 6 Nünning/Nünning 2010, 9. 7 In der T heorie des „Worldmaking“ beschreiben Nünning/Nünning die Intention dieses 4
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terredungen, die Cassian ‚wiedergibt‘, wird immer wieder der durch vorübergehendes gemeinsames Leben mit dem anachoretisch-ägyptischen Altvater geschaffene, geteilte Erfahrungshorizont als für gelingende Unterweisung zwingend notwendig herausgestellt.8 Wie aber kann ein Ideal, das im Erleben einer zeitlich und räumlich unerreichbaren Lebensform wurzelt, maßgebend sein? Die Antwort lautet: Rahmenerzählung. So bezeichne ich die narrativen Blöcke, die den Unterredungen im engeren Sinne vorgeschaltet sind.9 Bisher haben diese Rahmenerzählungen wenig Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren und die einschlägige Cassian-Literatur kann sie meist mit einem Satz abhandeln: „T hese ‚historical‘ elements create the framework for his writings.“10 Vernichtender fällt das Urteil von O. Chadwick aus: „T he little narratives at the beginning and the end of each homily are the scantiest of conventional frames.“11 Nicht alle Collationes haben eine Rahmenerzählung, sondern nur die, in denen ein Abbas zu reden beginnt.12 Diese Rahmenerzählungen fallen höchst unterschiedlich aus: Teils werden die Altväter ausführlich biographisch vorgestellt, teils nur wenige Stichworte zu dem Setting, in dem Cassian und Germanus sie antreffen, formuliert. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Rahmenhandlungen jener Collationes, die ein ‚populäres‘ T hema, d.h. ein T hema, das auf einer breiten Tradition fußt und entsprechend bekannt ist, verhandeln, deutlich knapper eingeleitet werden als die Collationes, die ein komplexeres, weniger fassliches T hema besprechen. Die Altväter, denen keine13 bzw. eine stark verkürzte Vorstellung14 zukommt, ‚sprechen‘ über die T hemen, für die Cassian und die Collationes zentral und in ihrer theologischen Pointe wenig angreifbar scheinen: immerwährendes Gebet, Hauptlaster und Schriftauslegung. Fast scheint es, als ob die Autorität dieser drei Altväter so klar aus ihrer Rede spräche, dass es keine, bzw. kaum eine erzählend-erklärende Einleitung mehr braucht. Dass diese Altväter bei Cassians Rezipienten bereits bekannt sind und deshalb nicht eingeführt werden müssen, ist auszuschließen, denn Cassian ist der Erste, der den Brückenschlag aus der ägyptisch monastischen Tradition in ein westliches, gallisches, Umfeld wagt.15 Aber hält diese T hese einer Gegenprüfung stand? Ist die Rahmenerzählung proportional zur Komplexität bzw. Strittigkeit des T hemas wachsend? NarratoloProzesses mit Ricœur als „prefiguration, configuration, and refiguration“ (Nünning/Nünning 2010, 10); Ziel ist also eine Integration der Textwelt in die Lebenswelt. 8 Z.B. Johannes Cassianus, Collationes prol. I (CSEL 13, 3,1–5,21 Petschenig). Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Quellenzitate auf diese Edition. 9 Vgl. Fludernik 2010, 229 f. 10 Stewart 1998, 27. 11 Chadwick 1968, 20. 12 Johannes Cassianus, Coll. 1.3.4.5.6.7.9.11.14.16.18.19.20.21.24. 13 Abbas Isaak, coll. 9 f. 14 Abbas Serapion, coll. 5 (… fuit vir nomine Sarapion, adprime gratia discretionis ornatus 121, 6 f.) und Abbas Nesteros, coll. 14 f. (…, ut abbatis Nesterotis praeclari in omnibus summaeque scientiae viri institutio subsequatur 398, 9–11). 15 Vgl. z.B. Casiday 2007, 1–6.
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gisch am ausführlichsten eingeführt werden die Altväter Chaeremon und T heonas. Chaeremon ‚spricht‘ in Collatio 11–13 über die Vollkommenheit der Liebe, die Keuschheit des Leibes und des Herzens und über die Gnade Gottes und den Willen des Menschen. T heonas ‚spricht‘ in Collatio 21–23 über die vorösterliche Fastenzeit, den Kampf gegen die Laster und die Frage, ob der Mensch ohne Sünde sein kann. Mit dem T hemenbereich Sünde/Wille/Gnade, der in den Collationes primär von diesen beiden Altvätern vertreten wird, ist der Teil von Cassians Werk, der zeitgenössisch und nachfolgend am kontroversesten diskutiert worden ist, angesprochen.16 Ist Cassian die partielle Anstößigkeit der T hemen bei der Abfassung bewusst, sodass er eine besonders umfassende Legitimation der jeweiligen Lehrautorität für notwendig hält oder reagiert er im Modus der Rahmenhandlung gar auf bereits erfolgte, kritische Rückfragen? Wie kann mit Hilfe einer mehr oder weniger kurzen Rahmenerzählung der für die monastische (Aus-)Bildung in Gallien notwendige Erfahrungshorizont einer zeitlich und räumlich weit entfernten (Religions-)Kultur eingeholt werden? Welche narrativen Werkzeuge nutzt Cassian, um seine Leser in die Wüste mitzunehmen? Diese und weitere Fragen werden im Folgenden anhand der beiden letztgenannten Beispiele, Chaeremon und T heonas, näher untersucht. Dabei haben sich vor allem drei erzähltheoretische Kategorien als maßgebend erwiesen: Die Betrachtung der Erzählebene und der Fokalisierung, beide in Anlehnung an G. Genette, sowie die Frage nach diegetischem und mimetischem Modus, bzw. telling und showing, in Anlehnung an F. K. Stanzel. Selbstverständlich sind diese Kategorien nicht aus ihren übergeordneten Zusammenhängen zu lösen, sodass die ‚großen Fragen‘ nach Ordnung, Dauer und Modus der vorliegenden Erzählung stets mitschwingen. Die Rede von verschiedenen Erzählebenen wird verständlich, wenn man sich Genettes Unterscheidung von Geschichte, Erzählung und Narration anschaut: Der Inhalt ist die Geschichte, der narrative Text bzw. der Diskurs ist die Erzählung, der narrative Akt (real oder fiktiv) ist die Narration.17 Die Ebene der Erzählung ist die diegetische Ebene – näher zu unterscheiden in homo- (der Erzähler ist eine Figur auf der diegetischen Ebene), hetero- (der Erzähler ist keine Figur der Handlung) und autodiegetisch (der Ich-Erzähler ist gleichzeitig die Hauptfigur)18 –, während der auktoriale Erzähler, der mit einer Nullfokalisierung erzählt, auf der extradiegetischen Ebene zu verorten ist. Erzählungen innerhalb der Geschichte finden auf intradiegetischer Ebene statt – ihr Inhalt ist eine Ebene nach unten, auf eine hypodiegetische Ebene verschoben.19 Wie bereits angedeutet, geht die Untersuchung der Erzählebenen eng mit der Frage nach der Fokalisierung ein16 So z.B. Prosper von Aquitanien, c. coll. (PL 51, 214–276), der sich vorrangig gegen coll. 13 wendet, die Abbas Chaeremon zugeordnet ist, vgl. Hwang 2010 und Macqueen 1977. 17 Vgl. Genette 2010, 12. 18 Vgl. Fludernik 2010, 217.223 f. 19 Vgl. Fludernik 2010, 221.
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her: Neben der genannten Nullfokalisierung unterscheidet Genette interne (Blickwinkel eines Protagonisten der Erzählung) und externe Fokalisierung (lediglich die Außenansicht der Protagonisten ist bekannt, nicht ihre Innensicht.20 Die Unterscheidung diegetischer/narrativer und mimetischer, berichtender und szenischer Erzählmodi ist seit der Antike bekannt und begegnet in vielen Erzähltheorien unter verschiedenen Bezeichnungen.21 Stanzel fügt die erhellende Unterscheidung zwischen einer Erzähler- und einer Reflektorfigur hinzu: Eine Erzählerfigur erzählt, berichtet, zeichnet auf, teilt mit, übermittelt, korrespondiert, referiert aus Akten, zitiert Gewährsmänner, bezieht sich auf ihr eigenes Erzählen, redet den Leser an, kommentiert das Erzählte usw. […] Eine Reflektorfigur reflektiert, d.h. sie spiegelt Vorgänge der Außenwelt in ihrem Bewusstsein wieder, nimmt wahr, empfindet, registriert, aber immer stillschweigend, denn sie ‚erzählt‘ nie, das heißt, sie verbalisiert ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle nicht, da sie sich in keiner Kommunikationssituation befindet. Der Leser erhält, wie es scheint, unmittelbar, das heißt durch direkte Einschau in das Bewusstsein der Reflektorfigur, Kenntnis von den Vorgängen und Reaktionen, die im Bewusstsein der Reflektorfigur einen Niederschlag finden.22
Diese Beobachtungen werden durch Irene J. F. De Jong in ihren Ausführungen zum Erzähler ergänzt: Narratives usually have more than one narrator, acting on different levels. T he narrator who recounts the main story, and whose voice is usually the first we hear when the story begins, is the primary narrator. T his primary narrator may hand over the presentation of events to a character who recounts a story in direct speech, in which case we speak of a secondary narrator.23
Es ist also durchaus möglich und zu erwarten, dass innerhalb einer Erzählung mehr als eine Figur eine erzählende bzw. darstellende Rolle einnimmt und der Leser somit vom Autor von einer dieser Figuren an die andere ‚weitergereicht‘ wird und mit ihnen verschiedene Ebenen der Erzählung durchlebt und erfährt. Das Zusammenspiel von Erzählebenen, Fokalisierung, Modus und Erzählerfigur(en) erweist sich, wie im Folgenden exemplarisch ausgeführt wird, als ausgesprochen fruchtbar für eine differenzierte Wahrnehmung der Funktion und der inhaltlichen Akzentuierung der Rahmenhandlungen der Collationes.
2. Der erste Kontakt zu den Wüstenvätern: Chaeremon Die Rahmenerzählung, die Collatio 11–13 eröffnet, umfasst fünf Kapitel. Bevor es allerdings konkret um Chaeremon geht, erfolgt eine drei Kapitel umfassende Hinführung bzw. eine Beschreibung des Weges zu seinem Monasterion. Während 20
Vgl. Genette 2010, 121–124 und die Einleitung dieses Bandes. Vgl. Stanzel 2008, 190–196. 22 Stanzel 2008, 194. 23 De Jong 2014, 19 f. 21
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Germanus und der junge Cassian in den ersten zehn Collationes Gespräche mit Altvätern in der Sketis führen24, ist der zweite Teil der Collationes, also Collatio 11–17, früher angesiedelt. Hier wird der Erstkontakt der beiden Reisenden mit den ägyptischen Wüstenvätern, nach ihrer Abreise aus dem Koinobion bei Bethlehem, geschildert. Als Motivation für den Auf- bzw. Ausbruch aus dem Kloster wird der Wunsch, die weltweit (per universa 314,12) bekannten Heiligen (sancti 314,11) kennenzulernen, genannt. Nach einer Schiffsreise gehen sie in T hennesus, im Nildelta, an Land. Besonders beeindruckt zeigen sich die beiden Reisenden von den Salzseen, die die Karg heit dieser Region ausmachen. In coll. 11,1 werden sie bereits genannt, um in 11,3 mit Hilfe von Ps 103,7 als göttliche Strafe für menschliche Bosheit gedeutet zu werden. Während die landwirtschaftlichen Konsequenzen des Meerbebens, das die Salzseen hat entstehen lassen, verheerend sind, bieten sie jedoch ideale Lebensbedingungen für sich nach Einsamkeit sehnende Anachoreten. Die erste Person, die sie nach ihrer Landung treffen, ist Bischof Archebius, der gegen seinen Willen aus einem Anachoretenverband gerissen und zum Bischof der Stadt gemacht wurde. Aber auch diese unerbetene Verpflichtung erträgt er mit monastischer Demut, immun gegenüber weltlichem Ruhm.25 Das Bischofsamt ist ihm keine Ehre, sondern als Vertreibung aus der anachoreseos disciplina (315,2 f.) vielmehr eine Strafe für mangelnde monastische Befähigung. Diese in coll. 11,2 beschriebene Begegnung wird als Fügung einer Gottheit, nicht Gottes (divinitas statt deus, 314,21) gedeutet. Cassian und Germanus drängt es, in die entlegenen Teile Ägyptens zu reisen, um die dort lebenden sancti patres (315,8) zu treffen. Archebius jedoch bremst den Überschwang aus und verweist die beiden Reisenden zunächst an jene Altväter (senes 315,10), die nicht so weit entfernt leben. Von ihnen heißt es, dass das Betrachten ihrer vom Alter gebeugten Körper und der Heiligkeit ihrer Antlitze bereits eine große Lehre sei.26 Nach dieser geographischen und mentalen Hinführung, die das im Prolog des zweiten Teilbandes der Collationes Angekündigte einholt, nämlich durch präzise Beschreibung eine reale Wüstenreise der Auftraggeber Cassians obsolet zu machen27, beginnt in coll. 11,4 die eigentliche Vorstellung des Abbas Chaeremon. Dieser hat das einhundertste Lebensjahr bereits überschritten und ist durch Alter und beständige Gebetshaltung so gebeugt, dass die Arme den Boden erreichen. Archebius wählt ihn als ersten Gesprächspartner für den jungen Cassian und Gercoll. 1,1. bedient Archebius, wenn auch nicht als sanctus tituliert, einen hagiographischen Topos, vgl. Pratsch 2005, 140–143. 26 Coll. 11,2: uidete interim senes haud longe a nostro monasterio consistentes, quorum ita et antiquitas in corporibus iam curuatis et sanctitas in ipso etiam fulget aspectu, ut uel sola contemplatio eorum magnam intuentibus possit conferre doctrinam (315,9–13). 27 Coll. 11 praef.: necessario hoc mihi uirtus caritatis extorsit, ut unius desiderio, alterius etiam labori consulens tam abruptum scribendi periculum non uitarem, dummodo et priori apud filios adderetur auctoritas et secundo tam periculosae nauigationis necessitas demeretur (311,14–20). 24 Vgl.
25 Damit
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manus aus, da er nicht nur räumlich am nächsten, sondern auch der älteste der drei in diesem Gebiet siedelnden Altväter ist. Auch wenn Cassian den Eindruck äußert, dass Chaeremon trotz seines desolaten Zustandes nichts von seiner früheren Strenge verloren habe, ist Chaeremon selbst deutlich kritischer. Die Bitte um Unterweisung lehnt er zunächst mit dem Argument ab, dass die Altersschwäche ihm die Glaubwürdigkeit genommen habe. Er könne nichts lehren, was er selbst zu tun nicht mehr in der Lage sei. Diese Argumentation nimmt die Aussage des Archebius unter negativen Vorzeichen wieder auf: Archebius sagte, dass allein der Blick auf die Altväter eine große Lehre sein könne. Auch Chaeremon ist sich dieser Beispielhaftigkeit seiner Lebensweise bewusst, allerdings schätzt er seine Tauglichkeit als Vorbild deutlich kritischer ein als Archebius, Cassian und Germanus. Über diese Ablehnung der Bitte um Unterweisung sind Cassian und Germanus zunächst bestürzt, dann aber stellen sie fest, dass allein schon die schaurig abgelegene Lage des Ortes für ihr jugendliches Gemüt Lehre genug sei, selbst wenn Chaeremon es vorziehen würde zu schweigen. Als alternative Lösung schlagen sie dem Greis vor, dass eventuell nicht nur Nachahmung (imitatio 317,11) seines Lebenswandels, sondern auch Bewunderung (admiratio 317,12) seiner Erzählung hinreichend sein könnte, um seinem Beispiel zu folgen. Zudem betonen sie, dass ihre lange Reise eigentlich eine Belohnung wert sei und es die Sehnsucht nach Fortschritt gewesen sei, die sie aus dem Kloster in Bethlehem hierhergetrieben habe. Eines dieser Argumente muss überzeugend auf Chaeremon gewirkt haben, denn in coll. 11,6 beginnt er zu reden und damit auch zu lehren. Die fünf Kapitel umfassende Rahmenerzählung zu coll. 11 zerfällt in zwei Teile. Erst der zweite Teil kreist um die Figur des Altvaters im Konkreten. Der erste Teil setzt sich aus einem Reisebericht und der Begegnung mit Archebius zusammen. Dabei gibt es eine Geschichte, die die beiden Erzählungen eint: Es geht nicht nur um den Inhalt der Lehre des Abbas, sondern auch um seine Lebensweise. Deren Anschauung und Nachahmung ist essentiell für ein Gelingen der monastischen Unterweisung. Archebius erläutert diesen Sachverhalt im ersten Teil der Rahmenerzählung (diegetisch), Chaeremon bringt ihn in seiner anfänglichen Weigerung zur Ausführung (mimetisch). Um es mit Genette und Stanzel zu beschreiben: Archebius ist eine intradiegetische Erzählerfigur, De Jong würde ihn einen second narrator nennen. Er beschreibt etwas und legt es damit einerseits auf der diegetischen Ebene den anderen Protagonisten dar. Andererseits wird durch diese Einschaltung dem Leser der Collationes das nachfolgend beschriebene Verhalten des Chaeremon erst einsichtig, womit eine gewisse extradiegetische Funktion der Rede des Archebius gegeben ist. In dieser Rahmenerzählung operiert Cassian mit einer internen Fokalisierung. Da diese die Perspektive seines jüngeren Ichs und Germanus’ einnimmt, ist sie im weitesten Sinne auch autodiegetisch. Die Identität zwischen Autor und Protagonist ist an dieser Stelle allerdings zu vernachlässigen. Auch Cassian selbst negiert sie, indem er einen weiteren Protagonisten auftreten lässt, der Cassian (jung) und Germanus in die Rahmenbedingungen des ägyptischen Mönchtums einweist –
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Cassian (alt) hat dieses Wissen, begibt sich an dieser Stelle aber nicht in eine auktoriale Erzählposition, die notwendig wäre, um es direkt mit seinen Adressaten zu teilen. Coll. 11,5 stellt gewissermaßen eine Schnittstelle bzw. den Übergang zwischen Rahmenerzählung und nachfolgender Unterredung dar: Einerseits spricht Chaeremon zwar bereits, lehrt aber noch nicht. Andererseits kann Cassian (alt) noch auf einer diegetischen Ebene von Germanus und Cassian (jung) berichten. Anders als in den Unterredungen im engeren Sinne mischen sich hier direkte Rede des Altvaters (mimetisch) sowie die Beschreibung der Gedanken und Empfindungen seiner Schüler in einer internen Fokalisierung (diegetisch). Cassians Spiel mit den Ebenen der Erzählung wirkt erfahrungskonstitutiv auf den Leser. Anstatt sich selbst in eine nullfokalisierte und über die diegetische Ebene hinausragende Erzählposition zu begeben und den Leser dadurch direkt belehren zu wollen, wählt Cassian einen subtileren Weg, indem er dem Leser gewissermaßen zu einer eigenen Erstbegegnung mit dem Mönchtum verhilft. Dass diese geografische und durch Archebius angeleitete Hinführung erst im zweiten Teilband der Collationes erfolgt, ist der zeitlichen Ordnung der drei Bände geschuldet, sowie der Tatsache, dass das Medium der Rahmenerzählung im ersten Teilband, vermutlich ob der Eingängigkeit der T hemen, noch wenig genutzt wird. Cassian erzeugt bewusst Spannung, indem er den Leser gemeinsam mit den Protagonisten der Rahmenhandlung die anfängliche Weigerung Chaeremons ertragen lässt. Diese – zusammen mit den mahnenden Worten des Archebius, dass Lehre nur unter Anschauung des Lebens des Lehrers erfolgreich sein kann – fordert die Wertschätzung der nachfolgenden Unterweisung. Dadurch, dass kurz gebangt werden musste, ob Chaeremon anfangen würde zu reden, wächst der Dank für, die Begierde auf und die Demut gegenüber seinen nachfolgenden Worten.
3. Umkehr um jeden Preis? – T heonas Einen noch längeren Anlauf braucht es, bevor Abbas T heonas in coll. 21 anfängt zu reden: Ganze elf Kapitel lang wird sein Werdegang zum Altvater mit Lehrautorität beschrieben. Germanus und Cassian kommen mit coll. 18 im dritten Band der Collationes in der Nähe von Dioclos an, wo sie auf Abbas T heonas treffen. Bevor Cassian jedoch dessen Unterweisung ‚wiedergibt‘, soll die Geschichte der Umkehr (conuersio 573,22) dieses erhabenen Abbas (summus vir, 573,20 f.) erzählt werden. Cassian gibt an, hiermit ein pädagogisches Interesse zu verfolgen, nämlich dem Leser so Verdienst und Gnadengaben des Abbas deutlich vor Augen treten zu lassen. In dieser Rahmenhandlung nimmt Cassian eine andere Erzählperspektive als bei der Einführung Chaeremons ein: Dort ist er – bzw. die literarische Figur seines jüngeren Ichs – konstant selbst Teil der Erzählung, berichtet nur, wie er die Ankunft in der Sketis selbst erlebt, nimmt also eine homodiegetische Position ein. Als es darum geht, die Taten des T heonas darzulegen, begibt sich Cassian
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in eine extradiegetische Erzählposition, indem er von Dingen berichtet, die sich lange vor seiner Ankunft bei T heonas ereignet haben. Cassian zählt einige entscheidende Stationen auf dem Lebensweg des T heonas auf: Als T heonas ein junger Mann war, hat er geheiratet – der auktoriale Erzähler Cassian deutet diese Heirat eindeutig negativ, spricht von der Fessel der Ehe (uinculum coniugalis 574,3), die T heonas aus gesellschaftlichen Gründen angelegt wurden. Nach einigen Jahren der Ehe trifft T heonas auf Abbas Johannes, der aufgrund seiner wunderbaren Heiligkeit (mira sanctitas 574,8) der örtlichen Diakonia vorsteht. T heonas kommt mit vielen anderen zu ihm, um den Zehnten seines Ernteertrags zu opfern. Abbas Johannes beschließt, sich für die reichen Gaben mit einer mahnenden Predigt (sermo adhortationis 574,20, coll. 21,2–5) zu revanchieren. Diese Predigt nimmt ihren Ausgang bei den Opfergesetzen des Alten Testaments, die aber laut Johannes nicht ausreichen, um den Gipfel der Vollkommenheit zu erreichen, da mit ihrer Hilfe nur die Gerechtigkeit des alten Gesetzes erlangt werden kann. Dann nennt er Figuren des Alten Testaments, die diese Gerechtigkeit bereits überboten haben, indem sie nicht nur den Zehnten, sondern ihr ganzes Leben Gott geopfert haben (Abraham, David, Elia, Jeremia). Ihre besondere Gerechtigkeit zeichnet sich durch Verzicht auf Besitz, Nächstenliebe, Jungfräulichkeit, Ehelosigkeit und strenges Fasten aus. Diese alttestamentlichen Beispiele präfigurieren die monastischen Tugenden und dienen in der Predigt als Beispiel für ein Opfer, das den geforderten Zehnten weit übersteigt. Diese Überlegung ist stichwortgebend für den Gedankensprung in das Neue Testament, wobei der u.a. aus der Vita Antonii bekannte ‚monastische Klassiker‘ Mt 19,21 herangezogen wird.28 Die Predigt schließt mit Reflexionen über Gesetz und Evangelium: Gnade werden nur die erlangen können, die sich nicht bereits mit den leichten Geboten, wie der Abgabe des Zehnten, schwer tun, sondern nur die, die nach Höherem streben und auch bereit sind, sich im Erlaubten zu mäßigen, die also das Gesetz freiwillig überbieten. Während das Alte Testament allen eine Last auflegt, macht das Neue Testament denen, die es wollen, ein Angebot, das wiederum nicht für alle zugänglich sein kann. Vielmehr ist es seine Absicht, den freien Willen (liberum arbitrium 579,12) des Menschen anzusprechen und in ihm die Sehnsucht nach Vollkommenheit zu wecken.29 Bei T heonas weckt diese Predigt zweierlei Gefühl: zum einen – wie in der Predigt angelegt – eine starke Sehnsucht, sich auf den Weg zur Vollkommenheit zu 28 Vgl. Athanasius, v. Anton. 2,3 (FC 69, 112 Anm. 24 Gemeinhardt). Es kann als sicher gelten, dass Cassian die Vita Antonii kannte, sodass dies als Beispiel bewusster Intertextualität angesehen werden kann (vgl. Stewart 1998, 36). 29 Damit ist das Zusammenspiel von freiem Willen des Menschen und Gnade Gottes angesprochen, das Cassian fälschlicherweise den Vorwurf des Semipelagianismus einbrachte – v.a. ausgehend von coll. 13 (vgl. z.B. Macqueen 1977). Dass genau dieser Gedankengang hier an einem ganz anderen Punkt der Erzählung begegnet, lässt vermuten, dass er nicht einer Erzählerfigur, sondern Cassian selbst zuzuschreiben ist.
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machen, zum anderen eine große Traurigkeit, dass ihm dieser Weg aufgrund seiner Lebensumstände versperrt bleiben wird. Hier ist ein weiterer Unterschied zur Darstellung des Chaeremon zu entdecken: Während Cassian dort lediglich sein eigenes Unverständnis über dessen Entscheidungen ausdrücken kann, erzählt er hier mit einer Nullfokalisierung, d.h. er kennt nicht nur den Wortlaut der weit zurückliegenden Predigt, sondern auch die Gefühlswelt seines Objekts. Was dann folgt, ist eine der Cassian-Passagen, die für spätantike, asketische Texte nicht ungewöhnlich ist, aber dennoch kirchlicherseits umstritten war: die Rechtfertigung der Ehescheidung.30 Alle noch so eloquenten Bemühungen des T heonas, seine Frau von einem Leben in – eventuell sogar gemeinsamer – Askese zu überzeugen, scheitern. Es bleibt ihm also nur die Schlussfolgerung mit Mt 5,30, dass es besser sei, nach dem Abhacken eines Körperteils als Invalide in den Himmel einzutreten, als mit unversehrtem Körper zu Höllenqualen verurteilt zu werden. Es folgt eine Passage, in der Cassian T heonas schriftgelehrt weitere Argumente für eine Ehescheidung finden lässt – für einen landwirtschaftenden ‚Normalbürger‘, der erst vor kurzen durch eine Predigt zur Umkehr getrieben wurde, eine theologisch erstaunliche Leistung, die die Hand des Autors erahnen lässt. Grundaussage dieser Rede ist abermals die Überbietung alter Gesetze, die eine Scheidung aufgrund des Wunsches nach Vollkommenheit legitimiert und über eine Scheidung aufgrund von Ehebruch stellt; somit besteht eine klare Stichwortverbindung zur Predigt des Johannes. All das kann aber den Willen (intentio 584,7) der Frau nicht zu Christus wenden, sodass T heonas für sich beschließt, dass eine Trennung auf menschlicher Ebene gefahrloser sei als eine Trennung von Gott. Die Ausführung schließt mit dem Vermerk des Erzählers, dass T heonas – wie es sein Wunsch war – in das Monasterion eintreten konnte und von so großer Heiligkeit und Demut war, dass er als würdiger Nachfolger seines Lehrers, Abbas Johannes, anerkannt wurde. In coll. 21,10 relativiert Cassian das Gesagte wieder: Er schreibt, dass niemand die Absicht hätte, zur Ehe-Scheidung aufzurufen, dass allein die wahrheitsgetreue Wiedergabe der Umkehr des T heonas sein Ziel gewesen sei. Die Wahrhaftigkeit seines Berichts und die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des T heonas sieht Cassian dadurch bestätigt, dass Gott und die Väter die Entscheidung des T heonas gutgeheißen hätten, indem sie ihn zum Nachfolger von Johannes gewählt hätten. Während die vorhergehende Argumentation von Cassian durch die Figuren des Johannes und des T heonas bestritten wurde, wendet er sich hier m.E. erst- und einmalig außerhalb der drei Prologe in dieser Ausführlichkeit in seiner Funktion als Autor direkt an die Leserschaft31 und bittet um gemäßigte Reaktionen auf das 30 Vgl. Stewart 1998, 67–69; Foucault 2019, 335–433, bes. 416–422 zur Unlösbarkeit des Ehebundes. Neben einer Rechtfertigung der Lüge unter bestimmten Voraussetzungen, ist dies die Passage der Collationes, für die Cassian am stärksten kritisiert wurde, vgl. Chadwick 1981, 654 f. 31 Dieser breite Exkurs ist m.E. nicht mit einer kurzen Notiz wie der pädagogischen Begründung in coll. 21,1 zu vergleichen, dort heißt es lediglich: Priusquam uerba conlationis
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Vorhergehende, die seine Integrität achten.32 In coll. 21,11 kehrt er in die Position des Erzählers zurück und schildert kurz das konkrete Setting, in dem die Unterweisung, die der junge Cassian und Germanus von T heonas erhalten haben, stattfindet, bevor in coll. 21,12 die tatsächliche Unterweisung beginnt. Diese nimmt ihren Ausgang bei Fragen zur konkreten Gestaltung der Quinquagesima und ihren Unterschieden in verschiedenen Monasteria – schließt also auf den ersten Blick nicht direkt an die Rahmenhandlung und ihre Inhalte an. Anders als in der ersten untersuchten Rahmenhandlung gibt es hier nicht die eine Geschichte, die erzählt wird. Es gibt kein eindeutiges T hema, wie den Zusammenhang von Leben und Lehre in coll. 11, das dem Leser durch unterschiedliche Erzählungen vermittelt wird. Dies ist der Ordnung und zeitlichen Abfolge der Erzählung geschuldet: Cassian berichtet nicht linear von einem wenige Tage oder Wochen umfassenden Ereignis wie oben, sondern zoomt punktuell bestimmte Ereignisse auf dem Lebensweg des T heonas heran. Stärker als im ersten Beispiel kommen hier Erzähler- und Reflektorfiguren zu Wort. Die wegweisende Ansprache der Erzählerfigur, des second narrator, Abbas Johannes ist in ihrer Funktion mit der des Archebius in coll. 11 zu vergleichen. Narratologisch weicht sie jedoch in einigen Punkten gravierend ab: Nicht Germanus und Cassian (jung) sind ihre Adressaten, sondern T heonas. Dadurch, dass die Predigt, die auf einer intradiegetischen Ebene, ohne das der primary narrator beteiligt war, stattgefunden hat, in vollem Umfang und Wortlaut eingefügt wird, wird eine hypodiegetische Erzählebene eröffnet. Dies zeigt sich darin, dass die Predigt des Johannes v.a. auf T heonas wirkt und sein Handeln sowie seine Argumentation pro Ehescheidung initiiert. Damit wird T heonas zur Reflektorfigur dieser Rahmenerzählung: Obwohl theologisch (vorgeblich) ungebildet kann er einen ausführlichen Monolog, der die Argumentation des Johannes aufnimmt und ausweitet, zum T hema führen. Auch wenn Cassian sich selbst (alt wie jung) durch den Einsatz von Erzähler- und Reflektorfiguren zurücknimmt, scheint er sich der Angreifbarkeit ‚ihrer‘ Positionen dennoch bewusst zu sein bzw. sie bereits erfahren zu haben. Die ersten neun Kapitel von coll. 21 finden ohne Beteiligung von Cassian (jung) und Germanus statt. Auch wendet Cassian (alt) sich, abgesehen von 21,1 (s.o. Anm. 31), nicht als Erzähler an seine Leser. Umso überraschender ist die direkte Ansprache der Leser in coll. 21,10. Jegliche Erzählebene wird verlassen. Statt einer Erzählung in interner Fokalisierung (coll. 11) oder Nullfokalisierung (coll. 21,1–9), wird aus dem Erzähler plötzlich der Autor: der Autor nämlich, der meint, sein Werk rechtfertigen zu sollen und erklären zu müssen, wie der Leser es zu verstehen habe (coll. 21,10). Offensichtlich sah sich Cassian mit dem Vorwurf, zur Ehescheidung aufzuruhuiusce habitae cum summo uiro abbate T heona incipiamus euoluere, necessarium reor ut initium conuersionis eius breui sermone perstringam, quia ex hoc uel meritum uiri uel gratia euidentius poterit patere lectori (573,20–574,2). 32 Coll. 21,10: a quo bona gratia hoc primum deposco, ut, siue hoc ei placeat siue displiceat, quoquo modo me a calumnia alienum esse concedens in suo hoc factum aut laudet aut reprehendat auctore (584,25–585,1).
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fen, konfrontiert. Dies negiert er und möchte das problematische T hema ganz dem wahrheitsgemäßen Bericht der Umkehr des T heonas unterordnen. Oder ist der plötzliche Sprung auf die extradiegetische Ebene nur ein weiterer geschickter Kunstgriff, der das Vorhergehende ganz klar als faktuale Erzählung kennzeichnen und den primary narrator zum neutralen Berichterstatter machen möchte?
4. Fazit: Der Nutzen narratologischer Überlegungen für die Analyse der Collationes Die exemplarische erzähltheoretische Untersuchung der beiden längsten Rahmenhandlungen der Collationes hat gezeigt, dass Cassian ein breites Spektrum narrativer Mittel nutzt. Es gibt kein festes Schema, nach dem die Rahmenhandlungen aufgebaut sind, vielmehr werden sie individuell an die nachfolgende Collatio, hier als die Unterredung im engeren Sinne verstanden, angepasst. Sie dienen vor allem der Legitimation der Autorität des Altvaters (coll. 21) und einer Einführung in die Rahmenbedingungen monastischer Unterweisung (coll. 11). Mit der nachfolgenden Unterredung, die der jeweils vorgestellte Altvater führt, stehen sie in keiner offensichtlichen Verbindung. Cassian variiert verschiedene Fokalisierungen und Erzählebenen. Dabei lässt sich feststellen, dass durch die Collationes hindurch nicht nur ein quantitatives Wachstum der Rahmenerzählungen zu beobachten ist, sondern auch eine zunehmende Weitung der narrativen Perspektive. Während es sich zu Beginn meist um einfache Situationsbeschreibungen des homodiegetischen Erzählers Cassian (jung) handelt, begegnen zunehmend weitere Erzähler- und Reflektorfiguren und auch der primary narrator ist nicht mehr zwangsläufig homodiegetisch, sondern kann auch extradiegetisch-nullfokalisiert begegnen. Damit setzen sich die Collationes m.E. aus bis zu drei erzählerischen Ebenen zusammen: a) der Unterredung zwischen Cassian (jung), Germanus und dem jeweiligen Altvater; b) der homodiegetischen Situationsbeschreibung durch den jungen Cassian in interner Fokalisierung; c) den Reden bzw. Gedanken weiterer Erzähler- und Reflektorfiguren, die auf intradiegetischer Ebene stattfinden und z.T. von einem Erzähler auf extradiegetischer Ebene eingeleitet werden. Alle 24 Collationes enthalten Ebene a), mit einer Ausnahme (s.o.) alle, in denen ein Abbas anfängt zu reden, auch Ebene b) und einige, wie die beiden hier untersuchten, auch Ebene c). Ein wenig diffizil ist das Verhältnis von Autor/Cassian (alt) und Erzähler/Cassian (jung) zu bestimmen.33 Auch wenn der junge Cassian in den Rahmenerzählungen als Wir-Erzähler begegnet und seine Rede in der eigentlichen Unterredung mit ego einleitet (z.B. 413,23), ist er nicht mit dem Autor der Collationes identisch, sondern vielmehr ein Abbild seines jüngeren, monastisch noch wenig erfahrenen Ichs. So zumindest in weiten Teilen. Ab und an wird der Erzähler Cassian aber von 33
Vgl. De Jong 2014, 17–19.
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dem Autor Cassian, der auch in den drei Prologen der Collationes zu Wort kommt, unterbrochen und ins rechte Licht gerückt. Diese direkte Ansprache des Lesers/ der Adressaten ist ein deutlicher Bruch der verschiedenen zusammenspielenden diegetischen Ebenen. Sowohl Autor als auch Leser sind nicht Teil der Erzählung und schon gar nicht der Geschichte, sodass dies als Unterbrechung oder Notiz auf der Ebene der Narration gewertet werden muss. Dadurch, dass diese Notizen des Autors Teil des Gesamtwerks geworden sind, wird dem Leser noch eine vierte Ebene der Collationes vor Augen geführt: d) die Umsetzung der Erzählung in ihrem südgallischen Kontext. Das Zusammenspiel dieser vier Ebenen ist für den authentisch-anachoretischen Lernprozess, den die Collationes ihren Lesern ermöglichen sollen, ausschlaggebend. Die anachoretische Lehre ist in den Unterredungen (Ebene a)) enthalten. Authentisch wird sie allerdings erst in Kombination mit dem Erleben der Lebensumstände der Altväter (Ebenen b) und c)). Dieses Erleben wird durch die wohldurchdachte Konzeption der Rahmenhandlungen ermöglicht. Der primary narrator der ersten Rahmenerzählungen (coll. 11), der junge Cassian, bietet ein hervorragendes Identifikationspotential für junge Mönche in Gallien, die über die Klostermauern hinaus nach anachoretischen Idealen streben. Sie können sein Staunen über die Salzseen und das Bangen um Unterweisung dank der internen Fokalisierung förmlich miterleben. Der nullfokalisierte primary narrator der zweiten Rahmenerzählung (coll. 21) dient vor allem dazu, den Erzähler- und Reflektorfiguren Johannes und T heonas Raum zu schaffen. Diese beiden überbieten die ursprüngliche Funktion der Rahmenerzählungen noch, indem sie nicht nur ein Erleben der Umstände der Unterweisung ermöglichen, sondern den Leser mit einem Wissensvorschuss, der über die Perspektive des Erzählers in coll. 11 hinausgeht, in die nachfolgende Unterredung schicken. Dieser Sachverhalt bietet zwei Interpretationsmöglichkeiten: Entweder ist die Bekehrung des T heonas über alle Widerstände hinweg wirklich so herausragend und einzigartig, dass er allen monastischen Wanderschülern bekannt war und deshalb auf diesem Wege eingebracht werden muss34, oder der Autor Cassian nutzt das Medium der Rahmenerzählung schlicht, um theologische T hesen und Topoi, die in den Unterredungen selbst keinen oder seines Erachtens zu wenig Platz gefunden haben, noch in sein Werk einzufügen. Letzteres scheint ihm – so die Deutung seiner Rechtfertigung in coll. 21,10 – zeitgenössisch vorgeworfen worden zu sein. Dass Brüche der Erzählung, wie hier, oder Hinführungen zu den Erzählungen, wie in den Prologen, Teil der Collationes sind (Ebene d)), umschließt die verschiedenen Ebenen der Erzählung mit einer meta- bis extrafiktionalen Ebene, die dadurch, dass sie die Fiktionalität des vorhergehenden, bzw. nachfolgenden Textes thematisiert, auf den Vorgang der Narration verweist.35 34 Die Literatur lässt diese Vermutung allerdings unwahrscheinlich werden: Über T heonas ist nichts bekannt, nicht einmal seine Wirkstätte lässt sich mit Sicherheit bestimmen (vgl. Kelly 2007, 129 und Stewart 1996, 137). 35 Vgl. Fludernik 42013, 225.
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Während die Ebenen a) – c) also einem Nachempfinden und Verinnerlichen anachoretischer Lehre dienen, dient Ebene d) einer gelingenden Lehre im südgallischen Kontext, bzw. um es im Rekurs auf die Einleitung auszudrücken: Ebene d) stellt die Verbindung zwischen den beiden monastischen Welten, die Cassian zu verknüpfen beabsichtigt, dar. Mit diesem inhaltlichen Abschluss ist die eingangs formulierte Vermutung, dass die Arbeit an einem nicht auf den ersten Blick erzählenden Text von einer Untersuchung unter narratologischen Aspekten nur profitieren kann, eindeutig zu bejahen. Ohne die Frage nach Autoren, Erzählern und Reflektoren, nach Ebenen und Fokalisierungen, hätten die Rahmenerzählungen womöglich unter dem Urteil – und damit faktisch der Nichtbeachtung – von Chadwick und Stewart (s.o.) verbleiben müssen. Und das wäre ausgesprochen schade gewesen, denn die Rahmenerzählungen der Collationes – in ihrer gesamten Breite und Vielfalt – sind es, die die Worte aus der Wüste, die zugegebenermaßen den Großteil der Collationes ausmachen, ins rechte Licht rücken. Aber nicht nur das, auch über den Autor und Erzähler Cassian, über seine Kenntnis antiker Erzähl- und Lehrtechniken, über seinen theologischen Standpunkt und über die daraus resultierenden Konflikte vermögen sie mehr Auskunft zu geben, als die Unterredungen im engeren Verständnis. In diesem Sinne kann die vorliegende exemplarische Untersuchung nur Mut machen, auch die restlichen zwölf Rahmenhandlungen näher in Augenschein zu nehmen.
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Das Fortwirken der Martins-Überlieferung des Sulpicius Severus in der Vita Germani und der Vita Genovefae – zwei Modelle von Intertextualität? Jan Seehusen „Das frühe Mittelalter erblickt in der Martinsvita einen Prototyp asketisch-politischen und heiligmäßigen Lebens. Dieses Leben erscheint zahlreichen Männern und Frauen dieser Zeit als nachahmenswert“1. Dieses Zitat Gisela Muschiols zeigt die Bedeutung, welche die Vita Martini des Sulpicius Severus über Jahrhunderte hinweg nach ihrem Bekanntwerden im gallischen Raum besaß. Als Sulpicius Severus die Vita kurz vor dem Ableben des Bischofs Martin von Tours im Jahre 397 abfasste, konnte er nicht ahnen, wie wirkmächtig die Vita im hagiographischen Diskurs2 werden sollte: Der als ‚Mönchs-Bischof‘3 bezeichnete Martin gereichte in seiner rigorosen Askese, der Zerstörung paganer Heiligtümer sowie in seiner Fähigkeit, Wunder zu wirken, vielen Hagiographen der Spätantike und des Frühmittelalters zum Vorbild. Die Beliebtheit des ersten miles Christi steigerte sich so rasch, dass Sulpicius Severus weitere Berichte über den Heiligen nachliefern musste: Drei Briefe, die der Hagiograph kurz nach dem Tod des Heiligen verfasste, schildern ein Feuerwunder, aber vor allem den Tod und die Himmelfahrt Martins. Die am Anfang des fünften Jahrhunderts entstandenen Dialogi hingegen schmücken in drei Dialogen weit ausführlicher Martins Leben aus und suchen zunächst den Beweis zu erbringen, dass der Heilige den Anachoreten des Ostens gleichzustellen sei. Die zwei weiteren Dialoge des Werks berichten von Martins Wirken in der Touraine und ergänzen weitere Begebenheiten, etwa die Konflikte 1
Muschiol 1999, 88. Der Begriff des hagiographischen Diskurses wird in Anlehnung an Marc van Uytfanghe verwandt, wie ihn die Herausgeber zu Anfang dieses Sammelbandes definiert haben, vgl. S. 4. 3 Sulpicius Severus, v. Mart. 10,2 (30 Huber-Rebenich): „Und er [Martin] kam den Amtspflichten eines Bischofs voll Würde und Gnade in einer Weise nach, dass er dennoch die Einstellung und Tugenden eines Mönchs beibehielt“ (atque ita plenus auctoritatis et gratiae inplebat episcopi dignitatem, ut non tamen propositum monachi virtutemque desereret). Die Übersetzungen aus der Vita Martini stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, aus der Ausgabe von Huber-Rebenich. 2
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mit weltlichen Machthabern. Von Bedeutung ist, dass die Martins-Überlieferung des Sulpicius Severus, bestehend aus der Vita, den Briefen und den Dialogi, geschlossen rezipiert wurde und die Abfassung anderer Heiligenviten erheblich beeinflusste.4 Beim intertextuellen Fortwirken der Martinsfigur müssen also sowohl die Vita als auch die Briefe und die Dialogi einbezogen werden. Ich werde in diesem Beitrag das intertextuelle Fortwirken der Martinsfigur anhand zweier Heiligenviten untersuchen, der Vita Germani und der Vita Genovefae, die am Ende des fünften und am Beginn des sechsten Jahrhunderts entstanden. Die Vita Germani wurde zwischen 475 und 4805 von Constantius verfasst, einem Priester aus Lyon. Sie schildert Germanus, der zum Bischof von Auxerre berufen wurde, als Diplomaten, der Gesandtschaftsreisen im Auftrag der gallischen Bevölkerung unternahm. So erwirkt Germanus etwa Steuererleichterungen beim Prätorianerpräfekten in Arles6 und weiß mit Gentilfürsten zu verhandeln, um drohende Plünderungen und Zerstörungen abzuwehren7. Stark mit dem Tätigkeitsfeld des Germanus vergleichbar ist die Stadtheilige von Paris, Genovefa, welche die Bürgerschaft vor Elend und Hungersnöten bewahrt. Die Heilige tritt vor allem zur Zeit des Hunnensturms in der Mitte des fünften Jahrhunderts auf. Sie versteht es, die Lebensmittelversorgung der Stadtbevölkerung zu sichern8 und mit den ersten fränkischen Herrschern Childerich und Chlodwig zu verhandeln, um Kriegsgefangene zu befreien9. Der Autor, welcher die Vita um 520 verfasste, ist unbekannt.10 Wie wurde das Fortwirken der Martins-Überlieferung in diesen Viten bisher erforscht? Die Beiträge, welche die Vita Germani untersuchen, beschränken sich oft auf die allgemeine Feststellung, dass die Lebensbeschreibung Anleihen an die Martins-Überlieferung des Sulpicius Severus vornehme.11 Bei den Ansätzen, die sich den intertextuellen Zusammenhängen eingehender widmen, ist zu erkennen, dass zumeist die Aufzählung einzelner motivischer Ähnlichkeiten im Vordergrund steht, ohne nach dem ‚Sitz im Leben‘ zu fragen, den die Vita Germani unter Einbeziehung der Martins-Überlieferung aufweist.12 Einzig Van Egmond, Christensen und Chadwick entwickeln pointierte Überlegungen, warum ein textueller 4
Dass die Martins-Überlieferung des Sulpicius Severus geschlossen fortwirkte, lässt sich nicht nur im Hinblick auf die intertextuellen Bezugnahmen späterer lateinischer Heiligenviten feststellen, sondern auch ex post aus dem Auftreten des Martinellus rekonstruieren. Dies ist ein im Scriptorium des Martinsklosters in Tours entstandener Buchtypus aus dem neunten Jahrhundert, der neben anderen Schriften die Vita, Briefe und Dialogi des Sulpicius Severus einschließt, vgl. Vielberg 2007, 136. 5 Datierung nach Hoare 1995, 76. 6 Vgl. die Unterredung mit Auxiliaris in Constantius, v. Germ. 24 (SC 112, 168 Borius). 7 Vgl. die Verhandlung mit Goar in Constantius, v. Germ. 28 (174–176 B.). 8 Vgl. v. Genov. 35 (MGH.SRM 3, 229–230 Krusch). 9 Vgl. v. Genov. 56 (237,16–19 Kr.). 10 Vgl. zur Debatte um den Autor der Vita Genovefae unten S. 146 f. 11 Vgl. Barrett 2009, 197; Griffe 1965, 289; Chadwick 1955, 251.265 f. 12 Vgl. Borius 1965, 31.33.35–37.65; Levison 1904, 110.
Das Fortwirken der Martins-Überlieferung
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Rekurs auf die Martinsfigur in der Lebenswelt des Constantius von Lyon sinnvoll gewesen sein könnte.13 Ähnlich verhält sich die Situation hinsichtlich der Vita Genovefae, deren Einbezug der Martins-Überlieferung bereits vielfach erforscht wurde. Auch hier sind zunächst die Untersuchungen zu erwähnen, die in allgemeiner Weise zur Erkenntnis der textuellen Zusammenhänge zwischen den Martins-Schriften des Sulpicius Severus und der Vita der Stadtheiligen von Paris beitrugen.14 Mit der Analyse der Vita Genovefae ist im deutsch-französischen Raum vor allem der Name Martin Heinzelmanns verbunden, der in einem längeren Aufsatz nach der Funktion der Martins-Überlieferung in der Lebensbeschreibung fragte.15 Während sich dessen Ausführungen auf die Vita Genovefas beschränken, beziehen Muschiol und Wittern in ihren Studien andere Viten ein, vor allem die heiliger Frauen.16 Allen Ansätzen ist gemein, dass die Bezugnahmen auf die Martinsfigur in der Vita Genovefae nicht im Vergleich zur Vita Germani betrachtet werden. Es ist ein großes Desiderat, den Rekurs auf die Martins-Überlieferung im direkten Gegenüber beider Viten zu untersuchen, da diese hagiographischen Texte ähnlich öffentlich wirksame Heilige porträtieren und zugleich demselben Zeitraum entstammen. In zweierlei Hinsicht soll dieser Beitrag daher eine Lücke schließen: Zum einen erfordert der intertextuelle Umgang mit christlicher Hagiographie im weiteren und Heiligenviten im engeren Sinne, Modelle zu entwickeln, welche verschiedene Möglichkeiten einer intertextuellen Bezugnahme voneinander unterscheidbar machen, was eine der Aufgaben des vorliegenden Bandes darstellt. Beschreibungsmodelle für die Intertextualität zur Martins-Überlieferung sind bisher weder für die Vita Germani noch für die Vita Genovefae vorhanden. Zum anderen müssen diese intertextuellen Bezüge immer hinsichtlich ihrer Wirkungsabsicht und des ‚Sitzes im Leben‘ betrachtet werden: Denn spätantike Hagiographen des lateinischen Westens haben es vor dem Hintergrund einer produktionsorientierten Intertextualität17 durchaus verstanden, den Rekurs auf ältere Heiligenviten bewusst zu nutzen. Neben der allgegenwärtigen imitatio Christi weisen diese Quellen damit auch eine imitatio sanctorum18 auf, die einer Vita zusätzlich Glaubwürdigkeit verleiht. Auf welche Art und Weise wird auf die Martins-Überlieferung des Sulpicius Severus Bezug genommen? Wie kann diese Art der Intertextualität definiert werden? Und warum griffen die Hagiographen der Vita Germani und Vita Genovefae auf die Martins-Überlieferung zurück? Diesen Leitfragen werde ich im Folgenden nachgehen. Zunächst werde ich auf die intertextuellen Zusammenhänge der Viten zu sprechen kommen. Der anschließende Teil beschäftigt sich damit, wie der Be13
Vgl. Van Egmond 2006, 34; Christensen 1988, 228–230; Chadwick 1955, 273. Vgl. Poulin 1986, bes. 127.141 f.; Heinzelmann 1985, 538.543; Dubois 1983, 67. 15 Vgl. Heinzelmann 1986, bes. 54.57.59–61.66. 16 Vgl. Muschiol 1999, 80–82; s. auch Wittern 1995, 78–80. 17 Vgl. die Einleitung zum vorliegenden Sammelband, S. 13. 18 Vgl. Gemeinhardt 2014, 306 f. zum Heiligen als imitator sanctorum. 14
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zug auf die Martins-Überlieferung in beiden Viten zu unterscheiden ist. Zuletzt werde ich fragen, inwiefern diese Unterscheidung zur Deutung der Wirkungsabsicht beider Viten verhelfen kann.
1. Die Bezug zur Martins-Überlieferung in der Vita Germani und der Vita Genovefae Zunächst soll die Vita Germani im Vordergrund stehen. Es finden sich vielfach Stellen, die an einzelne Begebenheiten oder Formulierungen aus der Martins-Überlieferung erinnern. So spricht Constantius im Brief an den Bischof Censurius, welcher der Vita vorausgeht, davon, dass der Bischof ihm aufgetragen habe, das kleine Verzeichnis (paginula) weiterzuverbreiten, welches er bis dato innerhalb des nächsten Umfeldes geheim gehalten habe (intra secreti vicina19). Diese Aussagen weisen Gemeinsamkeiten mit der Formulierung des Sulpicius Severus auf, er habe beschlossen, das Büchlein (libellus) über Martin zurückzuhalten und innerhalb seiner heimischen Wände einzusperren (intra domesticos parietes cohibere20). Auch wenn hier ein unterschiedliches Vokabular gewählt wird, ist die Metaphorik im Hinblick auf das ‚Verstecken‘ der abgefassten Viten und deren erst zögerlich erfolgende Verbreitung als ähnlich zu bewerten. Bei einer Lektüre der Vita Germani fallen weitere Stellen ins Auge, die einen Zusammenhang zur Martins-Überlieferung vermuten lassen. Als Germanus in ein Kloster tritt, ist ein Mönch von einem Dämon befallen. Dem Heiligen gelingt es, ihn zu vertreiben und daraufhin thematisiert die Erzählung, wie der Dämon den Mönch verlässt: „Er bat um nichts anderes, als mit irgendeiner körperlichen Krankheit weggehen zu können. Das aber wurde ihm untersagt. So hinterließ er häßliche Spuren und verschwand mit dem ihm eigenen Gestank“21. Vergleicht man diese Formulierungen mit der Vita Martini, so ist dort von einem sehr ähnlichen Exorzismus die Rede. Martin entfernt hier einen Dämon aus einem Koch. Der besiegte Dämon wird anschließend mit einem Durchfall ausgeschieden und hinterlässt, wie in der Vita Germani, unansehnliche Überbleibsel.22 In der Gesamtschau beider Stellen ist ein ähnlicher Erzählaufbau und der in Teilen identische lateinische Wortlaut auffällig (foeda relinquens vestigia).23 19 Constantius, Ep. ad Censurium (114,10 f. B.). Übersetzungen aus der Vita Germani folgen Frank 1975. 20 Sulpicius Severus, Mart. praef. 1 (6 H.-R.). 21 Constantius, v. Germ. 9 (138,22–25 B.): Nihilque aliud deprecatus est quam ut cum aliqua corporis debilitate discederet. Quo interdicto, foeda relinquens vestigia, cum eo quo erat dignus foetore discessit. 22 Sulpicius Severus, v. Mart. 17,7 (48 H.-R.): Et cum fugere de obsesso corpore poenis et cruciatibus cogeretur, nec tamen exire ei per os liceret, foeda relinquens vestigia fluxu ventris egestus est. 23 Vgl. zu dieser motivischen Ähnlichkeit auch Borius 1965, 35.
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Eine weitere Begebenheit lässt darauf schließen, dass die Vita Germani Bezugnahmen zur Martins-Überlieferung vornimmt. Auf einer Reise bricht sich Germanus den Fuß und rastet in einer Hütte. Als ein Feuer ausbricht, werden alle Hütten des Dorfes von Feuer aufgezehrt, aber die des Heiligen nicht: „Nur das Haus, in dem er lag und das der Kranke beschützte, blieb verschont. Die wilde Flamme zog am Unterschlupf des heiligen Mannes vorüber; wütete rundum; mitten im Feuersturm blieb die Hütte unversehrt“24. Dieses in der frühen lateinischen Hagiographie selten auf diese Weise geschilderte Wunder findet eine Parallele in einem Brief des Sulpicius Severus. Auch Martin wird dort von einem Feuer überrascht und legte sich voller Vertrauen mitten in die Flammen. Durch das Gebet, „ihm möge der Flammenkreis unschädlich [sein]“25, wird der Heilige von den Flammen verschont. Sowohl von Martin als auch von Germanus geht eine unsichtbare Macht aus, welche die Flammen zurückweichen lässt. Eine letzte Gemeinsamkeit sticht ins Auge: Germanus wird im gesamten Verlauf der Vita als tatkräftig und dynamisch beschrieben; so schreibt ihm die Vita bereits am Beginn den ducatus26 zu, der jedoch nicht als konkretes Amt zu verstehen ist, sondern wohl eine allgemeine Leitungsfunktion des Heiligen beschreibt.27 Auf einer seiner Britannienreisen wird die Eignung des Germanus zum Anführer am stärksten zum Ausdruck gebracht: Als Sachsen und Pikten einen Angriff auf die einheimische Bevölkerung verüben, ruft sich der Heilige zum Anführer der Schlacht aus (Germanus ducem se proelii profitetur 28), setzt sich an die Spitze des Heeres und vertreibt mit himmlischen Waffen, einem vom gesamten Heer mehrfach gesungenen ‚Alleluja‘, die feindliche Übermacht. Das Verhalten des Germanus, als dux proelii mit allein himmlischen Waffen einen Sieg gegen die Feinde zu erringen, passt auffallend stark zum Auftreten Martins gegenüber Julian. Denn der Heilige lehnt an der vielleicht prominentesten Stelle der Vita eine weitere militärische Betätigung mit der Begründung ab, nur noch als miles Christi streiten zu können, was Waffengänge im Namen des Caesar ausschließe.29 Die folgenden Absätze schildern die Wut des Herrschers und Martins Beweis, dass auch ohne Waffen ein Ergebnis des Konfliktes herbeizuführen sei: Als der Heilige waffenlos und allein mit dem Kreuz versehen vor die Feinde tritt, schickten diese Diploma24 Constantius, v. Germ. 16 (154,20–25 B.): Quod vero iacens et infirmus defenderat reservatur. Hospitium sancti viri expavescens flamma transilivit, ultra citraque desaeviens, et inter globos flammantis incendii incolome tabernaculum […] emicuit. 25 Sulpicius Severus, ep. 1,13 (SC 133, 322 Fontaine): Innoxio sibi orbe flammarum. Die Übersetzungen aus den Epistulae stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, vom Verfasser. 26 Constantius, v. Germ. 1 (122,15 B.). 27 Auch Borius übersetzt ducatus culmen unspezifisch mit „une haute charge gouvernementale et administrative“. Vgl. zu den duces zwischen Antike und Mittelalter jetzt Zerjadtke 2019. 28 Constantius, v. Germ. 1 (156,26 f. B.). 29 Vgl. die zentrale Äußerung in Sulpicius Severus, v. Mart. 4,3 (18 H.-R.): Christi ego miles sum: pugnare mihi non licet.
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ten für Friedensverhandlungen und unterwarfen sich.30 Beide Heilige, Martin und Germanus, sind daher in der Eigenschaft eines christlichen Streiters mit himmlischen Waffen tätig. Insgesamt stellt also die Vita Germani an vier Stellen thematische Ähnlichkeiten zur Martins-Überlieferung her: Im bisherigen ‚geheimen‘ Zurückhalten der Vita, dem parallelen Aufbau des Feuerwunders und des Exorzismus sowie dem waffenlosen Streiten beider Heiliger sind Anleihen an das prominente Vorbild des Bischofs von Tours zu beobachten. Etwas anders ist der intertextuelle Bezug in der Vita Genovefae geartet. Zu Beginn der Vita rettet Genovefa die Stadt Paris vor den hunnischen Plünderungen, die in der Mitte des 5. Jh. unter Attila in ganz Gallien vonstattengingen und im Zuge dessen verschiedene Städte geplündert wurden, Paris jedoch verschont blieb. Der Heiligen gelingt es, die Pariser Matronen von der Wirksamkeit intensiven Betens und Fastens, was gewissermaßen als ‚geistliche Waffe‘ dient, zu überzeugen und so das Heer an Paris vorbeiziehen zu lassen.31 Daraufhin folgt die Bemerkung: Die höchsten Bischöfe Martinus und Annianus sind im Angesicht der Verehrung ihrer Wundertaten sehr gelobt worden, weil der eine bei der Stadt der Vangionen, nachdem er sich am Tag zuvor unbewaffnet im Kampf hatte anbieten müssen, und nachdem das Wüten beider Heere beruhigt worden war, einen Friedensschluss erlangte […].32
Diese Aussage ist ein direkter Verweis auf die Vita Martini des Sulpicius Severus. Hier wird auf das oft rezipierte Kapitel 4 der Vita angespielt, das ebenfalls der Vita Germani als Vorlage zur Figurierung des dux proelii diente. Es ist ersichtlich, dass die Bezugnahme auf die Martins-Überlieferung an dieser Stelle viel expliziter erfolgt, als es in der Vita Germani der Fall war: Einerseits wird Martin hier direkt genannt, andererseits werden wesentliche Elemente des Kapitels aus der Vita Martini zusammengefasst, der Kampf bei Worms (apud Vangionum civitatem), das unbewaffnete Anbieten im Kampf und der Friedensschluss beider Heere. Dem Autor der Vita Genovefae dient der Bezug zur Martins-Überlieferung einem ganz konkreten Zweck, der Ehrung Genovefas, wie im folgenden Satz der Vita zu lesen ist: „Ist es nicht wert, dass Genovefa geehrt wird, die durch ihre Gebete dasselbe zuvor genannte Heer in die Ferne vertrieb, damit es nicht Paris umzingele?“33. In der gewaltlosen Vertreibung der Feinde sind, so wird zwischen den Zeilen deut-
Vgl. Sulpicius Severus, v. Mart. 4,7 (18 H.-R.). V. Genov. 12 (219,16–18 Kr.): Quorum matronas convocans Genuvefa, suadebat, ut ieiuniis et orationibus ac vigiliis insisterent, quatenus possint, sicut Iudith et Ster, superventura clade evadere. 32 V. Genov. 14 (220,15–17 Kr.): Summi antestites Martinus et Annianus pro virtutum suarum admiratione valde laudati sunt, eo quod unus aput Vangionum civitatem post pridie in bello inhermis offerendus, utriusque exercitus sevitia sedata, foedus obtenuit. Übersetzungen aus der Vita Genovefae stammen vom Verfasser. 33 V. Genov. 14 (220,19–21 Kr.): Porro Genuvefa nonne dignum est honorari, quae idem orationibus suis predictum exercitum, ne Parisius circumdaret, procul abegit? 30 31
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lich, beide Heilige durchaus vergleichbar. Genovefa reiht sich damit direkt in die hagiographische Tradition des ersten miles Christi ein. Ein Bezug zur Martins-Überlieferung wird an einer zweiten Stelle hergestellt. Die Vita der Jungfrau von Paris berichtet von einem starrsinnigen Mann, den Gott durch Genovefa mit Fieber strafte, weil er seinen Diener nicht begnadigen wollte. Da selbst die Fürbitte der Heiligen den Diener nicht von der Strafe erlösen konnte, sei der Mann von einem so starken Fieber geschüttelt worden, dass er Genovefa zu Füßen um eine Erlösung von der Krankheit bat, die ihm zuteilwurde. Die durchaus als hart zu bezeichnende Strafe wird im darauf folgenden Kapitel gerechtfertigt: Ohne Zweifel schlug ihn der Engel Gottes nieder, wie auch den äußerst sturen Richter Avitianus, vor dessen Tür, wie man sagt, der heilige Martin in stürmischer Nacht gekommen war, um für die Besiegten zu bitten; die Lektüre überliefert, dass dieser vom Engel geohrfeigt wurde34.
Hier wird auf ein ganzes Kapitel der Dialogi angespielt. Martin tritt dort vor den comes Avitianus, um für Gefangene einzutreten, die der Amtsträger freilassen soll. Avitianus war zunächst von einem tiefen Schlaf befallen, wurde aber „durch einen hereinbrechenden Engel niedergeworfen“35, der ihn wachrüttelte und zur Unterhaltung mit dem Heiligen schickte. In recht eigenwilliger Manier nimmt die Vita Genovefae nun auf dieses Kapitel Bezug: Während zunächst auf das Eingreifen eines Engels hingewiesen wird, der sowohl den starrsinnigen Mann als auch Avitianus zur Räson brachte (angelus Domini adfligebat, angelo ingruente), stellt die Formulierung lectio tradit einen direkten Hinweis auf die Martins-Überlieferung dar. Freilich kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob die konkrete Stelle in den Dialogi gemeint ist oder mündliches Erzählgut, das im Umlauf war. In jedem Fall spiegelt die Formulierung lectio tradit eine deutliche Anspielung auf eben jene Begegnung zwischen Martin und Avitianus wider, die für uns in den Dialogi fassbar ist. In der Zusammenschau beider Stellen aus der Vita Genovefae und den Dialogi ist festzuhalten, dass die Strafe des starrsinnigen Mannes mit einem Hinweis auf die göttliche Strafe des Engels, die Avitianus bereits in der Martins-Überlieferung zuteilwurde, gerechtfertigt wird. Fasst man das Fortwirken der Martins-Überlieferung in der Vita Genovefae insgesamt zusammen, lässt sich davon sprechen, dass explizit auf die Martins-Über-
34 V. Genov. 44 (233,19–22 Kr.): Sine dubitacione angelus Domini eum adfligebat, quemadmodum Avicianum iudicem pertenacissimum, ante cuius ianuam sanctus Martinus intempesta nocte pro vinctis rogaturus advenisse legitur; quem etiam colafizatum ab angelo lectio tradit. Das Niederschlagen durch einen Engel ist möglicherweise eine Anspielung auf Spr 17,11 und wird auch in der griechischen Hagiographie aufgegriffen, vgl. etwa Kyrillos Skythopolitanus, v. Euthym. 18 (83,17 f. Festugière). 35 Sulpicius Severus, dial. 3,4,2 (SC 510, 302,11 f. Fontaine): Angelo ingruente percellitur. Die Übersetzungen aus den Dialogi stammen vom Verfasser.
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lieferung hingewiesen wird (lectio tradit36, Martinus et Annianus laudati sunt37), Kapitel der Martins-Überlieferung zusammengefasst und für die Rechtfertigung von Genovefas Handeln nutzbar gemacht werden.
2. Verschiedene Formen von Intertextualität in der Vita Germani und der Vita Genovefae? Wie sind die verschiedenen Bezugnahmen auf die Martins-Überlieferung in der Vita Germani und der Vita Genovefae zu charakterisieren? Ist es möglich, zwei verschiedene Formen von Intertextualität zu unterscheiden? Legt man das Augenmerk auf die Vita Germani, so sind die intertextuellen Zusammenhänge als motivische Ähnlichkeiten zu bewerten. Zwar gibt es im Falle des Exorzismus eine wörtliche Übereinstimmung (foeda relinquens vestigia38), alle anderen Stellen sind vom Vokabular jedoch recht unterschiedlich: Der geheime libellus und die geheimen paginula, die Unversehrtheit beider Heiliger mitten im Feuer und das Auftreten des miles Christi und dux proelii weisen darauf hin, dass Anleihen an die Martins-Überlieferung durchaus vorhanden sind, diese aber unspezifisch gehalten werden. Der dux proelii allein böte deshalb keinen Anlass, eine Intertextualität zwischen der Vita Germani und der Martins-Überlieferung zu vermuten. Aufgrund der Häufung ähnlich strukturierter Binnenerzählungen und einer ähnlichen Bildsprache ist jedoch ein intertextueller Zusammenhang beider Viten anzunehmen. Rezipienten der Vita Germani sollten an das große Vorbild des Bischofs von Tours erinnert werden. Offenbar stellte es aber kein dringendes Erfordernis dar, ausdrücklich auf Martin hinzuweisen, wie es in der Vita Genovefae der Fall ist, sondern es genügten Anspielungen. Im Unterschied zur Vita Germani benennt die Vita Genovefae die Anleihen an die Martins-Überlieferung sehr konkret: Die Formulierungen Martinus et Annianus laudati sunt und lectio tradit weisen auf das Zirkulieren von Heiligenerzählungen hin, die in der Vita Martini und den Dialogi überliefert wurden. Es ist gar nicht entscheidend, ob der Hagiograph der Vita Genovefae die Schriften neben sich liegen hatte: Offenbar waren die Kenntnisse des Publikums über Martin so groß, dass der unbekannte Hagiograph Gemeinsamkeiten beider Heiliger ohne weiteres herausstellen konnte. Die intertextuellen Bezugnahmen sind indes nicht als Zitat zu bezeichnen, da auch hier keine wörtlichen Übereinstimmungen zu beobachten sind. Als Ergänzung zur Anspielung und zum Zitat, welche die Herausgeber dieses Bandes als Formen von Intertextualität postulieren,39 möchte ich als V. Genov. 44 (233,22 Kr.). V. Genov. 14 (220,15 f. Kr.). 38 Constantius, v. Germ. 9 (138,24 B.). 39 Vgl. dazu die Einleitung von Brunhorn, Gemeinhardt und Munkholt Christensen in diesem Band, S. 14. 36 37
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weiteren Modus von Intertextualität die Benennung zentraler Motivverbindungen aus älteren Heiligenerzählungen einführen.40 Denn in den vorliegenden Beispielen der Vita Genovefae wird deutlich, dass entscheidende Elemente einzelner Erzählungen aus der Martins-Überlieferung stichwortartig benannt werden, welche die Kenntnis eines größeren Erzählzusammenhanges voraussetzen: Für die Vertreibung der Hunnen, die Genovefa durch ihre Gebete bewirkte, gilt als wesentliche Motivverbindung der Martins-Überlieferung das waffenlose Darbieten Martins im Kampf und der erwirkte Friedensschluss. In Bezug auf die Strafe des starrsinnigen Herrn werden als wesentliche Erzählelemente Martins nächtlicher Gang zu Avitianus, seine Fürsprache sowie die Ohrfeige des hereinbrechenden Engels genannt. Bereits eine textimmanente Analyse erweist daher den großen Nutzen der intertextuellen Erforschung hagiographischer Quellen: Während die Martinsfigur Parallelen im Handeln zwischen Martin und Germanus unterstreicht, die eher im Bereich der motivischen Ähnlichkeiten liegen, wirken Benennungen zentraler Motivverbindungen aus der Martins-Überlieferung als älteres hagiographisches Erzählgut plausibilisierend für Genovefas Handeln. Dies ist eine zentrale Differenz in der Art der intertextuellen Bezugnahme und wirft die Frage auf, wie dieser Befund zu bewerten ist.
3. Die Funktion der Martins-Überlieferung in der Vita Genovefae und der Vita Germani Warum nutzten also die Hagiographen der Vita Germani und der Vita Genovefae diese Formen von Intertextualität zur Porträtierung ihrer Heiligen? Was die Vita Germani betrifft, äußerten Van Egmond und Christensen die T hese, Germanus sei als Heiliger in Konkurrenz zu Martin von Tours aufgebaut worden. Von Bedeutung sei einer der zwei Widmungsbriefe, die der Vita vorangestellt sind: Dass Patiens, Bischof von Lyon (gest. 480/91)41, die Vita in Auftrag gab, weise auf dessen Ehrgeiz hin, einen konkurrierenden Heiligenkult zum rasch berühmt gewordenen Martin aufzubauen.42 Den Willen, Germanus als Heiligen zu propagieren und verehren zu lassen, zeige sich laut Christensen auch darin, dass der in der Vita auftretende Hilarius,43 mit dessen Namen das mächtige Inselklos40 In der Forschung zum Psalter wird die Verkettung einzelner Psalmen und Psalmenzyklen durch literarische Motive oder Motivverbindungen concatenatio genannt, vgl. einführend Seybold 1997, 617 f. mit Beispielen. Im vorliegenden Falle der Vita Genovefae handelt es sich um ein anderes, mehr auf Eindeutigkeit zielendes Phänomen, da es sich um das Aufgreifen von Motivverbindungen handelt, die aus einem fremden Prätext stammen, nämlich aus der Martins-Überlieferung des Sulpicius Severus. 41 Vgl. zur Datierung Sidonius Apollinaris: Epistulae, hg. von Helga Köhler, 61 (Anm. 2). 42 Vgl. Van Egmond 2006, 34; Christensen 1988, 230. 43 Vgl. Constantius, v. Germ. 23 (166–168 B.).
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ter Lérins und der Bischofssitz in Arles verbunden sind, eher Germanus untergeordnet zu sein scheint.44 Aus verschiedenen Gründen ist diese Argumentation schwierig. Zunächst weist der Widmungsbrief an Patiens, welcher der Vita vorangestellt ist, kein Anzeichen einer Konkurrenz zum Martins-Kult auf. Die Bemerkung, Patiens wolle die Tugend des Germanus durch eine Vita besonders herausstellen lassen und zum Nutzen aller wiederholt Beispiele seiner Wundertaten festhalten,45 findet sich oft in lateinischen Heiligenviten.46 Wenn Constantius ein Wetteifern mit dem Heiligenbild des berühmten Bischof aus Tours gewollt hätte, wäre eine aemulatio weitaus direkter möglich gewesen: Ein in der lateinischen Hagiographie berühmt gewordenes Beispiel findet sich in der Vita Pauli des Hieronymus, die der Kirchenvater in enger Auseinandersetzung mit der Vita Antonii verfasste. Dort wird Antonius in einer Offenbarung deutlich, dass es in Paulus einen Mönch gebe, der viel besser (melior) sei als er, den man – so Hieronymus – fälschlich als Gründervater des Mönchtums ansehe.47 Wäre es Constantius wirklich darauf angekommen, einen Heiligenkult im Umfeld von Auxerre und Lyon als Gegenpol zu den mächtigen Zentren in Tours und Arles aufzubauen, hätte diese Abgrenzung deutlicher markiert werden müssen. Die motivischen Anleihen zur Martinsfigur geben deshalb keinen Anlass, die Beziehung beider Heiligenfiguren als Konkurrenzverhältnis zu beschreiben. Viel eher bietet das Bischofsamt des Germanus einen Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum sich Parallelen zur Martins-Überlieferung lohnen: Im Gallien der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts war es dringend erforderlich, das Bild eines heiligen Bischofs in aktualisierter Form in den hagiographischen Diskurs zu überführen. Der Widerstand gegen die Westgoten in der Auvergne unter Sidonius Apollinaris ist nur ein Beispiel dafür, dass Bischöfe im Übergang zur gentilen Herrschaft zunehmend administrative Aufgaben übernahmen, was die ältere Forschung als Anlass dafür nahm, eine ‚Bischofsherrschaft‘ ab dem fünften Jahrhundert anzunehmen.48 Vor dem Hintergrund des zunehmenden zivilen Aufgabenprofils spätantiker Bischöfe kam Chadwick deshalb zu dem Schluss, Constantius habe einen Heiligen geschaffen, der im Gegensatz zu Martin „acceptable to the
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Vgl. Christensen 1988, 229. Constantius, Ep. ad Patientem (112,5–7 B.): Itaque, papa venerabilis, dum et sanctum virum inlustrare virtutibus suis desideras et profectui omnium mirabilium exempla largiris. 46 Vgl. zum Nutzen, den Heilige für die Gesamtheit gläubiger Christen bieten, gerade die Viten, die als ‚Auftragsarbeiten‘ gelten können, etwa Paulinus Mediolanensis, v. Ambros. 1 (50 Pellegrino); s. auch V. Caes. Arel. I 1 (SC 536, 146,11 Delage), wo die Verfasser meinen, das Leben des Heiligen sei per totum mundum bekannt und deshalb der Aufzeichnung würdig. 47 Hieronymus, v. Pauli 7,2 (SC 508, 156,6–158,8 Morales/Leclerc); Atque illi per noctem quiescenti revelatum est, esse alium interius multo se meliorem. Zu Antonius’ Ruhm als (vermeintlichem) Erfinder der monastischen Lebensform vgl. v. Pauli 1,2 (144,6–9 M./L.). 48 Vgl. grundlegend den Aufsatz von Prinz 1974. 45 Vgl.
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Church as a whole“49 gewesen sei. Dagegen lässt sich aber viel genauer herausarbeiten, inwiefern sich der Bezug zur Martins-Überlieferung lohnte: Dem tatkräftigen und zivil wirkenden Bischof, der vielfach Gesandtschaften übernahm, eigneten motivische Ähnlichkeiten zur Martinsfigur, um die Wirkmächtigkeit eines ‚politischeren‘ Bischofs zu erhöhen. Obwohl Martin der Überlieferung nach ganz andere Aufgaben übernahm, wie die Zerstörung paganer Heiligtümer, und sich wesentlich schlechter mit bischöflichen Amtskollegen und weltlichen Autoritäten verstand, konnte seine Figur als Vorbild dienen: Es genügte, in hagiographischen Gemeinplätzen (Bescheidenheitstopos, Exorzismus) motivische Ähnlichkeiten herzustellen, die aufgrund von Martins Prominenz zunächst plausibilisierend wirkten, tatsächlich aber zur Verbreitung eines vollkommen neuartigen Heiligenbildes beitrugen. Letztlich ist davon auszugehen, dass die Präsenz des umstrittenen Mönchsbischofs in der Vita Germani möglicherweise zur Akzeptanz gänzlich neuartiger Erzählelemente verhalf, wie der Rolle des Germanus als Gesandter, die in lateinischen Heiligenviten bisher so nicht zu finden war.50 Während es in der Vita Germani aufgrund der zunehmenden zivilen Aufgabenprofile spätantiker Bischöfe durchaus plausibel war, dass der Heilige als Gesandter in administrative Tätigkeitsfelder eintrat, stellte sich die Situation in der Vita Genovefae anders dar: Dass eine Jungfrau politische Aufgaben übernahm, wie beispielsweise die Nahrungsmittelversorgung, war für eine Vita ungewöhnlich und musste dem Publikum viel stärker nahegebracht werden. Darauf weisen bereits Bemerkungen hin, die direkt auf die Abwehr des Hunnensturms folgen. Die Bürger empörten sich, dass Genovefa eine pseudopropheta51 sei und sie in der Erwartung eintretender Verwüstungen zu Unrecht verboten habe, die Güter aus Paris in andere, sicherere Bürgerschaften zu überführen.52 Es kam soweit, dass die Pariser Bürger sich verschworen und überlegten, ob sie die Jungfrau mit Steinen erschlagen oder im Wasser ersäufen sollten.53 Der Rekurs auf die Martins-Überlieferung, der im nächsten Kapitel folgt, nahm eine Schlüsselrolle ein: Er rechtfertigt, warum die Heilige völlig rechtmäßig handelte, als sie zu geistlichen Waffen griff und die Hunnen aus der Nähe von Paris vertrieb. Hierzu musste das große Vorbild aus Tours wortwörtlich benannt und einzelne Erzählstränge mussten als zusammenhängende Motivverbindungen aufgerufen werden. Anspielungen reichten nicht aus: Dem Publikum sollte genau vor Augen stehen, dass das En-
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Chadwick 1955, 273. Auch in der griechischen Hagiographie bis zum sechsten Jahrhundert nehmen Heilige selten die Rolle von Gesandten ein. Vgl. zu einem Beispiel aus dem sechsten Jahrhunderts die Gesandtschaft des Sabas, der als Vertreter des Jerusalemer Erzbischofs auf Kaiser Anastasius trifft, Kyrillos Skythopolitanus, v. Sab. 50–52 (66–71 Festugière). Christoph Brunhorn verdanke ich die Hinweise auf die Parallelen in der griechischen Hagiographie. 51 V. Genov. 12 (219,23 Kr.). 52 Vgl. v. Genov. 12 (219,23–25 Kr.). 53 V. Genov. 13 (220,1 f. Kr.): Aut lapidibus obrutam aut vasto gurgite mersam punirent. 50
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gagement der Pariser Stadtheiligen im Einklang mit der Handlungsweise früherer prominenter Heiliger stand. Interessanterweise tritt darüber hinaus Germanus als Figur in der Vita Ge novefae auf. Bereits am Anfang der Vita ist es der Bischof von Auxerre, der die Heilige zur Jungfrau weiht54 und ihr eine durchbohrte Kupfermünze zur Erinnerung an sich schenkt55. Während des Mordkomplotts der Pariser Stadtbevölkerung taucht dann unvermittelt ein Erzdiakon auf, der mit Berufung auf das testimonium sancti Germani56 bezeugt, dass Genovefa eine fidelissima famula Dei57 sei. Erst sein Auftreten kann die Verschwörung beenden. Neben der Martins-Überlieferung verhilft daher Germanus als weiterer Bischof dazu, das erstmalige ‚politische‘ Engagement einer weiblichen Heiligen zu rechtfertigen. Dass ein Erzdiakon für Genovefa eintritt, deren Wirken im Sinne der Pariser Bevölkerung auch als diakonisch zu beschreiben sein könnte, hat sicher die Rechtmäßigkeit ihres Handelns zusätzlich unterstrichen. Die Notwendigkeit, den Parisern durch einen hochrangigen Geistlichen die Anerkennung eines prominenten Bischofs bezeugen zu lassen, macht einmal mehr deutlich, dass es einem Publikum zu Beginn des sechsten Jahrhunderts ungewöhnlich erschienen sein muss, die Leitung der Stadt einer rührigen Jungfrau zu übertragen.58 Es gibt einen weiteren Grund, warum es sich lohnte, Genovefa dem Vorbild Martins anzugleichen: Nach dem Zeugnis des Gregor von Tours wurde Martin zu einem der wichtigsten Heiligen der Merowinger und konnte bei der Herbeiführung militärischer Siege behilflich sein. Vor der entscheidenden Schlacht gegen die Westgoten bei Vouillé 507 versicherte sich Chlodwig durch Gesandte dem Wohlwollen Martins und betrachtete die erfolgreiche Gesandtschaft infolgedessen als Vorzeichen seines Sieges.59 Nach der gewonnenen Schlacht weihte Chlodwig dem Heiligen in der Martinsbasilika von Tours viele Geschenke.60 Schenkt man Gregor Glauben, war daher die Rolle Martins in der Expansionspolitik des Merowingers entscheidend. Hier kommt nun die Vita Genovefae ins Spiel: Wenn Martin nicht nur auf intertextueller Ebene wirkte, sondern seine Verehrung auch an wichtigen Schaltstellen in der Lebenswelt des frühen sechsten Jahrhunderts von Bedeutung war, konnte vermutlich kein anderer Heiliger besser in der Lage sein, die 520 verfasste Lebensbeschreibung einer Pariser Heiligen zu plausibilisieren.61 Später ließen sich Chlodwig und Chrodechilde mit Genovefa in der Apostel kirche von Paris bestatten, der späteren Kirche Sainte-Geneviève.62 Nach dem v. Genov. 5 (216,15–27 Kr.). v. Genov. 6 (217,6–9 Kr.). 56 V. Genov. 13 (220,9 f. Kr.). 57 V. Genov. 13 (220,10 Kr.). 58 Vgl. zur Rolle des Germanus in der Vita Genovefae auch Wittern 1995, 87. 59 Vgl. Gregorius Turonensis, Franc. 2,37 (AQDGMA 2, 130,12–25 Buchner). 60 Vgl. Gregorius Turonensis, Franc. 2,37 (134,6 f. B.). 61 Vgl. auch Heinzelmann 1986, 66. 62 Vgl. zum archäologischen Befund Périn 1997a; Périn 1997b; Sasse 1996, 100. 54 Vgl. 55 Vgl.
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Zeugnis der Vita war es Chlodwig, der diese Kirche zu bauen begann und nach dessen Tod im Jahre 511 Chrodechilde, die den Bau vollendete.63 Die gemeinsame Grablege weist auf einen weiteren Deutungshorizont hin, den besonders Heinzelmann eröffnete: Möglicherweise wurde der unbekannte Hagiograph von Chrodechilde beauftragt, die Vita zu verfassen, um durch das Narrativ auf eine weitere Weise die enge Verbindung des fränkischen Königspaares mit der Heiligen zum Ausdruck zu bringen.64 Diese T hese hat einiges für sich. Denn auch wenn die Herkunft des Hagiographen nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, fällt doch auf, dass das fränkische Königshaus in der Lebensbeschreibung gelobt wird.65 Es handelt sich bei der Vita Genovefae also höchstwahrscheinlich um das Bemühen des fränkischen Königshauses, die einvernehmliche Beziehung der Machthaber zur Heiligen zu demonstrieren, was später im gemeinsamen Grabbau seinen größten und letzten Ausdruck fand.66 Martin als weiterer bedeutender Heiliger des Königshauses war dabei in der Lage, durch sein explizites Aufrufen in der Vita die Plausibilität der ungewöhnlich ‚politischen‘ Heiligen zu stärken.
4. Fazit Das Fortwirken der Martins-Überlieferung in der Vita Germani und der Vita Genovefae zeigt, dass zwei Modi von Intertextualität unterscheidbar sind: Während in der Vita Germani mittels motivischer Ähnlichkeiten Bezüge zur Martinsfigur hergestellt werden, ist für die Vita Genovefae die Benennung ganzer Motivverbindungen aus der Martins-Überlieferung entscheidend. Diese erstmals herausgearbeitete Unterscheidung veranschaulicht, dass Parallelen zu älteren Heiligen sowohl unspezifisch in Form eines ähnlichen Handelns (Vita Germani) als auch in starkem Bezug auf das Erzählgut, das mündlich und schriftlich im Umlauf war, hergestellt werden konnten (Vita Genovefae). Daneben konnte die Untersuchung zeigen, dass die Martins-Überlieferung als Fokalisationspunkt diente, um Platz für andersartige Heilige im hagiographiv. Genov. 56 (237,19–238,4 Kr.). Vgl. Heinzelmann 1986, 53–57. 65 Vgl. die Bezeichnung Chrodechildes als precellentissimae […] regine in v. Genov. 56 (237,20–238,1 Kr.). Vgl. dazu Wittern 1995, 63, deren nachfolgende Ausführungen zu den intendierten Adressaten und der Funktion der Vita, Gegensätze zwischen der einheimischen Bevölkerung und den fränkischen Eroberern zu überwinden, jedoch nicht überzeugen vermögen. Denn es stellt sich die Frage, warum der Hagiograph dann am Beginn der Vita die Auftragsarbeit nicht benennt, wie es in lateinischen Heiligenviten oft der Fall ist, vgl. dazu die Beispiele aus der Vita Ambrosii (Bischof Augustinus als Auftraggeber) und aus der Vita Caesarii (die Äbtissin Caesaria als Auftraggeberin) in Anm. 46. 66 Das Begräbnis in der Nähe Genovefas kann zusätzlich unter dem Aspekt der heilsmäßigen Sicherheit betrachtet werden: Möglicherweise hoffte das Königspaar auch, durch die Bestattung ad sanctos ebenso wie die Heilige ein ewiges Leben zu erlangen. Vgl. zu den Bestattungen ad sanctos einführend Gemeinhardt 2010, 40; Kötting 1990, 75. 63 Vgl. 64
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schen Diskurs zu schaffen. Die motivischen Ähnlichkeiten zur Martinsfigur dienten in der Vita Germani dazu, die Vita eines administrativ tätigen heiligen Gesandten zu plausibilisieren, was in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor dem ereignisgeschichtlichen Hintergrund längst überfällig war. Die Vita Genovefae zeigt hingegen, inwiefern die Martins-Überlieferung als wesentliche Stütze diente, um ein Heiligenbild zu funktionalisieren, das dem Publikum aufstoßen konnte: Wenn Chrodechilde tatsächlich den unbekannten Hagiographen damit beauftragte, die Vita einer ‚politisch‘ tätigen Jungfrau zu verfassen, musste dieser mit Erstaunen, möglicherweise sogar mit Empörung seiner Adressaten rechnen, die eine derart öffentlich tätige Heilige bisher nicht gewohnt waren. Dafür spricht die bereits innerhalb der Vita erwähnte Verschwörung der Pariser Stadtbevölkerung, die nur durch das Auftreten des Germanus als Erzählfigur und mithilfe der Martins-Überlieferung verhindert werden konnte. Es stellt ein großes Desiderat dar, die Bezüge zur Martins-Überlieferung in weiteren Heiligenviten zu prüfen und festzustellen, ob den Viten heiliger Frauen ein expliziterer Bezug zur Martinsfigur eignet, als es bei den Viten heiliger Männer, insbesondere denen heiliger Bischöfe, der Fall ist. Es hat sich darüber hinaus gezeigt, dass der Schritt, die verschiedenen Formen von Intertextualität auf den ‚Sitz im Leben‘ einer Vita zu beziehen, durchaus fruchtbar ist. Für die Martins-Überlieferung ergibt sich hier die Chance, das Fortwirken des vielleicht prominentesten lateinischen Heiligen in den Umbruchsphasen des fünften und sechsten Jahrhunderts zu beobachten, in denen ‚politischere‘ Heilige in den hagiographischen Diskurs eintreten.67
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Das Fortwirken der Martins-Überlieferung
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Sidonius Apollinaris, Epistulae, hg. von Helga Köhler (Bibliothek der Mittellateinischen Literatur 11; Stuttgart: Hiersemann, 2014). Sulpicius Severus, Dialogi, hg. von Jacques Fontaine (SC 510; Paris: Éditions du Cerf, 2006). Sulpicius Severus, Epistulae, hg. von. Jacques Fontaine (SC 133; Paris: Éditions du Cerf, 1967). Sulpicius Severus, Vita Martini, hg. von Gerline Huber-Rebenich (Stuttgart: Reclam, 2010). Vita Caesarii, hg. von Marie-José Delage (SC 536; Paris: Éditions du Cerf, 2010). Vita Genovefae, hg. von Bruno Krusch (MGH.SRM 3; Hannover: Hahn, 1977 = 1896).
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Zwischen den Welten ganz bei sich selbst? Die monastische Hagiographie Kyrills von Skythopolis als Erzählung* Christoph Brunhorn 1. Einleitung In diesem Beitrag möchte ich zeigen, was es heißt, als sabaitischer Priestermönch des sechsten Jahrhunderts in der Judäischen Wüste bei Jerusalem „zwischen den Welten ganz bei sich selbst zu sein“ und wie sich das näherhin im Verfassen und Wahrnehmen von Erzählungen niederschlägt, die aus monastischer Perspektive über Mönchsheilige und ihre Geschichte berichten und die dabei in hohem Maße von Intertextualität geprägt sind. Unter dieser Fragestellung betreten wir einerseits die Welt des spätantiken Mönchtums, die uns literarisch vermittelt wird, und andererseits das komplexe Geflecht der vielen (Text-) Welten, ohne die Leben, Erzählungen und die Erzählungen eines Lebens nicht auskommen.1 Es geht also um die Frage, wie im spätantiken Mönchtum Erzählungen entstehen und wie diese mit der jeweiligen Identität – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und bereits vorhandenen Texten in Zusammenhang gebracht werden. Bevor wir uns der in sieben einzelne Viten gegliederten monastischen Hagiographie Kyrills von Skythopolis (525–558) und deren Rezeption biblischer Texte zuwenden2, die als Beispiel für die Bedeutung von Intertextualität im Zentrum * Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen meiner Tätigkeit im DFG-Sonderforschungsbereich 1136 „Bildung und Religion“ (Teilprojekt C 05 „Der christliche Katechumenat von der Spätantike bis zum Frühmittelalter und seine religionspädagogische Rezeption“) an der Universität Göttingen entstanden. Die in diesem Beitrag verwendeten Teilübersetzungen von Kyrills monastischen Heiligenviten entstammen den Vorarbeiten zu meiner eigenen Gesamtübersetzung des Textes, die beim Herder Verlag (Freiburg i. Br.) in der Reihe Fontes Christiani erscheinen wird. Als Grundlage für die Übersetzung wurde die Edition von Eduard Schwartz verwendet. Die hier übersetzten Passagen wurden mit den Übersetzungen von Festugière, Baldelli/Mortari und Price verglichen (s. die genauen Angaben im Literaturverzeichnis). 1 Zum Begriff der ‚Text-Welt‘ siehe die Einführung in diesem Band (oben S. 2). 2 Bislang wurde die Rezeption biblischer Referenzen im hagiographischen Corpus Kyrills von Skythopolis nur marginal untersucht. Allein Pieter W. Van der Horst hat sich mit der umfangreichen Rezeption biblischer Texte bei Kyrill von Skythopolis beschäftigt und in
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dieses Beitrags stehen und an einer exemplarischen Textstelle ausführlich diskutiert werden soll, empfiehlt es sich, dass wir uns in aller Kürze dem Titel dieses Beitrags aus biblischer Perspektive nähern, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie und von was für einer „Welt“ ein christlicher Mönch eigentlich geneigt ist zu erzählen. Anders ausgedrückt: Was für ein Welt-Verständnis können wir bei einem christlichen Mönch der Spätantike erwarten? Eine Idee davon soll das folgende Zitat aus dem Johannesevangelium (Joh 17,14.18) geben. Christus spricht hier zu Gott-Vater: „Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hasst (ἐμίσησεν) sie; denn sie sind nicht von der Welt (οὐκ εἰσὶν ἐκ τοῦ κόσμου), wie auch ich nicht von der Welt bin. […] Wie du mich gesandt (ἀπέστειλας) hast in die Welt (εἰς τὸν κόσμον), so habe auch ich sie in die Welt (εἰς τὸν κόσμον) gesandt (ἀπέστειλα).“3
Es kommt hier für unsere Frage allein darauf an, dass an dieser Stelle entscheidende Leitmotive für ein christliches und insbesondere monastisches Welt-Verständnis gesetzt werden: Nachfolge Christi bedeutet zwar „in“ der Welt zu sein, aber nicht „von“ der Welt zu sein. Der gegen die Jüngergemeinschaft4 gerichtete „Hass der Welt“ gehört der Logik dieser Passage zufolge zur christlichen Existenz wesentlich hinzu, weil sie ganz wie Christus „nicht von dieser Welt“ ist. Die enge persönliche Zugehörigkeit zu Gott versetzt die an Christus und sein Wort Glaubenden in einen spezifischen Widerstand gegen die Welt. Was bedeutet dieses biblische Weltverständnis5 nun für das christliche Mönchtum? Die „Weltflucht“ der Mönche ist eines der wesentlichen Merkmale des christlichen Mönchtums schlechthin, ob nun die Wüste oder das Kloster das Ziel dieser Flucht darstellt. Natürlich weiß der Mönch, und auch die jüngere Forschung, dass diese „Weltflucht“ immer unvollständig bleibt – die „Welt“ ist in der erzählenden monastischen Literatur in vielfältiger Weise präsent, als Um-Welt wie auch als
seinem Beitrag erstmals alle bis dahin identifizierten Zitate und Anspielungen erfasst und geordnet: vgl. Van Der Horst 2001, 127–145. Daneben gibt es vereinzelte Beiträge, in denen auf mögliche Quellen Kyrills eingegangen wird: vgl. Binns 1994, 56–76, zur Bibelrezeption insbesondere 60–62; Binns 1991a, xlvii–li; Krueger 2004, 75–79 und Krueger 1997, 713–719 gehen zudem auch auf Aspekte der hagiographischen Komposition und des Autorenverständnisses ein. 3 Joh 17,14.18: ἐγὼ δέδωκα αὐτοῖς τὸν λόγον σου καὶ ὁ κόσμος ἐμίσησεν αὐτούς, ὅτι οὐκ εἰσὶν ἐκ τοῦ κόσμου καθὼς ἐγὼ οὐκ εἰμὶ ἐκ τοῦ κόσμου. […] καθὼς ἐμὲ ἀπέστειλας εἰς τὸν κόσμον, κἀγὼ ἀπέστειλα αὐτοὺς εἰς τὸν κόσμον· Vgl. auch Joh 15,19 f. 4 Der traditionelle Begriff „Jünger“ für μαθηταί bringt in der Übersetzung mit „Schüler“ besser zum Ausdruck, dass die Zugehörigkeit zur Schülerschaft Jesu offen ist und damit insbesondere das christliche Mönchtum ansprechen konnte. 5 Gewiss soll mit dieser Formulierung nicht behauptet werden, dass es das „eine“ biblische Weltverständnis gäbe. Vielmehr lassen sich aus den biblischen Schriften heraus verschiedene Weltverständnisse entwickeln. Die Bibel konnte in allen ihren Teilen (unabhängig von heutigen historisch-kritischen Einsichten) als Quelle für die Deutung von Welt und Selbst dienen. Mit „biblisch“ ist also dieser umfassende normative Anspruch gemeint.
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(konkurrierende) Text-Welt.6 Dennoch hat dieses Ideal bleibende Geltung in allen Formen christlichen Mönchtums. Die Antwort auf die Frage, in welcher Welt ein christlicher Mönch eigentlich leben wollen kann, ist meines Erachtens mit dem Verweis auf die erzählte Welt der biblischen Texte gegeben. Die Weltbilder, die christliche Mönche in den biblischen Texten finden konnten, boten ihnen sowohl Hoffnungsbilder als auch Schreckensbilder, die ihrem Leben als elementares Korrektiv sowie als Norm dienen konnten. Mit Hilfe dieser biblischen Weltbilder haben die Mönche über die Zeit hinweg in allen möglichen Formen versucht sich selbst und die Welt zu transformieren. Der ideale Mönch soll die biblischen Schriften bis zu einem so hohen Grad verkörpern,7 dass der Unterschied zwischen ihm selbst und dem Text unsichtbar wird: Lebensform und Lebensführung entsprechen im Idealfall biblischen Geboten und bilden Motive, Strukturen sowie Narrative der biblischen erzählten Welt im individuellen Leben ab. Im Grunde kann und soll das ganze Leben biblisch durchdrungen werden. Die als sündhaft empfundene Welt wird in christlicher Perspektive dennoch und gerade so als Gottes geliebte Schöpfung wahrgenommen. Vor dem Hintergrund eines derart wichtigen Welt-Verständnisses, wie es das christliche Mönchtum entworfen und sich angeeignet hat, scheint mir die Frage wesentlich zu sein, ob und inwiefern sich dieses Welt-Verständnis im Umgang der Mönche mit den erzählten Welten der biblischen Texte zeigt. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass das christliche Gottes-, Selbst- und Weltverständnis einen kontinuierlichen Transformationsimpuls freisetzt, der sich auch in spezifischen Formen von Erzählungen, einem religiös durchdrungenen Autoren- und Textverständnis und entsprechenden Rezeptionsperspektiven niederschlägt.8 Kyrill schreibt sich selbst als religiöses Individuum in die von ihm erzählte Geschichte der Mönchsheiligen der Judäischen Wüste ein und gibt sich als Verehrer dieser Heiligen und ihrer Wunderwirksamkeit zu erkennen, nicht zuletzt, indem er das Schreiben dieser Viten als Effekt einer Intervention des Euthymius und Sabas im Traum beschreibt. Damit werden die Texte selbst zu „offerings of devotion“9. Die Tätigkeit des Hagiographen wird somit zu einer ausdrucksstarken religiösen Handlung, die eigene religiöse Erfahrung am Text und durch denselben ermöglicht.10 Der ‚heilige Text‘ kann in diesem Sinne zum ‚heiligenden Text‘ werden, 6
Vgl. Rapp 2014 („Die unvollständige Weltflucht des frühen Mönchtums“), 167–179. Burton-Christie hat diese Aneignungstendenz des frühen Mönchtums auf den Begriff gebracht und spricht vom „doing the word“ (Burton-Christie 1993, 151). 8 Auf diese Aspekte haben besonders Claudia Rapp und Derek Krueger hingewiesen: siehe Rapp 1998, Krueger 1997, 2004 und 2006. Vgl. bes. Krueger 1997, 714: „[…] Cyril’s writings afford an understanding of hagiography as not merely a description of a religious world, but as an artifact that participates in that world.“ 9 Krueger 1997, 718. 10 Krueger 1997, 718: „By employing rhetoric drawn from early Byzantine Christian practice, T heodoret and Cyril pattern the composition of saints‘ lives in continuity with other devotional forms. T his ritualizing of the compositional act cues readers to understand 7
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wenn Menschen von ihm erwarten, dass von ihm eine sie transformierende Kraft und Wirkung ausgehen kann. Der zweite Aspekt, der im Titel meines Beitrags anklingt, das „Ganz-bei-sichselbst“-Sein, betrifft sowohl die Frage nach dem literarischen bzw. kompositorischen Umgang des Autors eines Textes mit den vorgegebenen erzählten Welten verschiedener Texte, auf die er Bezug nehmen kann, als auch die Frage nach dem auktorialen Selbstverständnis. Mit Blick auf die uns hier interessierende monastische Hagiographie Kyrills ist damit zudem die Bedeutung der monastischen Lebensform und ihrer Ideale für Phänomene von Intertextualität angesprochen. Im Folgenden möchte ich vor dem Hintergrund des Erläuterten zeigen, welche Welten (Erzählwelt, erzählte Welt, intra- und intertextuelle Welten) sich in Kyrills monastischen Heiligenviten und ihrer Rezeption biblischer Texte unterscheiden lassen und wie diese zusammenhängen. Dabei gehe ich davon aus, dass Kyrill als Autor und Erzähler erkennbar ist und sein möchte, ebenso davon, dass seine monastische Hagiographie als Bildungsliteratur11 wahrgenommen werden soll, d.h. als eine Literatur, die (religiöse) Bildungsprozesse initiiert und steuert und die selbst medialer Bestandteil dieser Prozesse ist. „Narratologie“ und „Intertextualität“ werden dabei als heuristische Leitbegriffe eingesetzt und implizieren nicht die Bezugnahme auf ein geschlossenes Literaturkonzept einer bestimmten Provenienz.12
2. Die erzählte Welt der biblischen Schriften und die erzählte Welt Kyrills monastischer Hagiographie: Welt-Verschmelzung Die monastische Hagiographie, auch diejenige Kyrills, lebt ganz wesentlich von Intertextualität.13 Es sind vor allem die biblischen Texte, die von monastischen Autoren in ihre eigenen Texte integriert werden, um hierdurch etwa zu zeigen, dass die im eigenen Text erzählte Welt mit der biblischen erzählten Welt mindestens in Beziehung steht, wenn nicht sogar – und das ist in der Regel der Fall – mit ihr korreliert oder identisch ist. Dass dabei die auktoriale Wahrnehmung des geschichtlichen Gegenwartskontextes die kompositorische Auswahl und Integration
riting as pious performance, and expands participation in ‚popular‘ devotions into the texw tual realm.“ 11 Siehe hierzu meinen Beitrag: Birkner 2017. 12 Zu den hier verwendeten Begriffen von Narratologie und Intertextualität siehe die Einführung zu diesem Band (oben S. 8–14). 13 Intertextuelle Bezüge zu anderen hagiographischen Texten, die sich in Kyrills Werk identifizieren lassen, wurden von Draguet 1949, Garitte 1957 und Flusin 1983 herausgearbeitet. Ich werde an anderer Stelle ausführlich hierauf eingehen, konzentriere mich in diesem Beitrag jedoch auf die Rezeption biblischer Texte.
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biblischer Texte zum Zweck der Erzählung einer bestimmten Geschichte grundsätzlich bestimmt, soll im Folgenden deutlich werden. Kyrill hat seine monastische Hagiographie in der Mitte des sechsten Jahrhunderts in der Neuen Laura bei Jerusalem verfasst.14 In zwei der sieben Viten palästinischer Mönchsheiliger beschreibt er nicht nur das Leben der Mönchsheiligen Euthymius und Sabas, sondern verbindet ihre Biographien mit verschiedenen Aspekten, die wir aus antiken Hagio-, Historio- und Häreseographien kennen. Diejenigen Ereignisse, die Kyrills literarische Tätigkeit massiv beeinflusst haben und von denen er eben dieses zu erkennen gibt, sind die als positiv empfundene Regierungszeit Kaiser Justinians I. und die Verurteilung des Origenes, die von der jüngeren Forschung nicht auf dem Konzil, sondern im Vorfeld des Zweiten Konzils von Konstantinopel 553 verortet wird.15 Aus Binns’ und Hombergens Sicht steht der Abschluss der Haupterzählung Kyrills – d.h. die sich über zwei Mönchsheiligenleben erstreckende Geschichte des palästinischen bzw. judäischen Wüstenmönchtums – unter der Überschrift: „the victory of orthodoxy“16. Dies ist die Stimmung, die Kyrill in v. Sab. 90 evoziert. Beginnen wir nun mit der exemplarischen Analyse genau des Abschnitts, der vom „Sieg“ der neochalkedonensischen Partei handelt, zu der auch Kaiser Justinian und Kyrills monastische Gemeinschaft, die Sabaiten, gehören. Das Zitat stammt aus v. Sab. 90 und bietet die letzten Zeilen der Haupterzählung: „Ich aber werde passenderweise an dieser Stelle, während ich im Begriff bin, den Bericht über den göttlichen Alten abzuschließen, den prophetischen Ausspruch erwähnen: Die Wüste soll jubeln und erblühen wie eine Lilie [Jes 35,1 LXX], denn Gott hat sich ihrer Kinder erbarmt, wobei er Jenes zu sich selbst sagte: Sehend habe ich das Leiden meines Volkes in Jerusalem gesehen und ich habe ihr Seufzen gehört und ich will sie befreien [vgl. Ex 3,7 f. LXX]. Und da er es wollte, hat er [uns] besucht; und indem er uns besucht hat, hat er uns gerettet und befreit von der Unterdrückung durch die Origenisten. Und er hat sie von unserem Angesicht vertrieben und lässt uns in ihren Zelten wohnen [vgl. Ps 77,55 LXX]. Ihre Mühen hat er uns zugelost, damit wir seine Rechtssatzungen bewahren und sein Gesetz erforschen [vgl. Ps 104,44 f. LXX]. Ihm [sei] die Ehre in Ewigkeit. Amen.“17 14
Vgl. Binns 1991a, xlvii. Zum Hintergrund der sogenannten Zweiten Origenistischen Krise und ihrem Bezug zu Kyrills Werk siehe Diekamp 1899 und Hombergen 2001. Ich werde demnächst zu diesem T hemenkomplex eine Untersuchung in einem Sammelband in der Reihe Adamantiana einschließlich einer Teilübersetzung der relevanten Abschnitte bei Kyrill vorlegen. Zur Religionspolitik Kaiser Justinians I. und ihrer Bezüge zum Mönchtum siehe Hasse-Ungeheuer 2016. 16 Vgl. Binns 1991a, xlvii und Hombergen 2001, 57–130. 17 Kyrillos von Skythopolis, v. Sab. 90 (TU 49/2, 200,4–16 Schwartz): […] ἐγὼ δὲ ἐνταῦθα στῆσαι μέλλων τὸν περὶ τοῦ θείου πρεσβύτου λόγον τὴν προφητικὴν φωνὴν προσφόρως ἐρῶ· ἀγαλλιάσθω ἡ ἔρημος καὶ ἀνθείτω ὡς κρίνον, ὅτι ἠλέησεν ὁ θεὸς τὰ τέκνα αὐτῆς, ἐκεῖνα πρὸς ἑαυτὸν εἰπών· ἰδὼν εἶδον τὴν κάκωσιν τοῦ λαοῦ μου τοῦ ἐν Ἱεροσολύμοις καὶ τοῦ στεναγμοῦ αὐτῶν ἀκήκοα καὶ βούλομαι ἐξελέσθαι αὐτούς· καὶ βουληθεὶς ἐπεσκέψατο καὶ ἐπισκεψάμενος ἔσωσεν καὶ ἐλυτρώσατο ἡμᾶς ἐκ τῆς καταδυναστείας τῶν Ὠριγενιαστῶν καὶ ἐξέβαλεν αὐτοὺς ἀπὸ προσώπου ἡμῶν καὶ κατεσκήνωσεν ἡμᾶς ἐν τοῖς σκηνώμασιν αὐτῶν 15
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Die Erzählwelt Kyrills, die durch ein gewisses Siegesgefühl gegenüber den Origenisten gekennzeichnet ist, wurde bereits erwähnt. Um dieses Siegesgefühl und die Äußerung Kyrills am Ende der Haupterzählung jedoch etwas genauer einordnen zu können, möchte ich an dieser Stelle die herausragende Bedeutung dieses Konflikts hervorheben, die er innerhalb der monastischen Hagiographie Kyrills und im Leben der sabaitischen Gemeinschaft eingenommen hat: Der Konflikt der Sabaiten mit den Origenisten entwickelt sich zunächst als ein interner Konflikt innerhalb der sabaitischen Gemeinschaft und verschärft sich im Erzählungsverlauf zunehmend; zunächst unter der Leitung der Gemeinschaft durch Sabas, dann unter seinen Nachfolgern als Hegumenos. Es geht dabei um monastische Ideale (vereinfacht gesagt, stehen sich asketische, monastische und theologische Tradition und Innovation gegenüber) und um die Leitung der Gemeinschaft bzw. um die dazu benötigte Leitungskompetenz. Schließlich kommt es zur Abspaltung eines Teils der Gemeinschaft, die mit dem sabaitischen Ethos und Leitungspersonal nicht einverstanden ist und daher die Neue Laura als eine Art monastischen Gegenentwurf zur Größten Laura gründet. Im Erzählverlauf lässt sich das Ringen der Sabaiten um eine gewisse Einheit und Vereinigung mit den „Feinden der Orthodoxie“ ablesen. Die Erzählung gipfelt – in Kyrills Darstellung – in der Intervention der Sabaiten unter Abba Konon bei Kaiser Justinian I. und der Verurteilung des Origenismus auf dem Zweiten Konzil von Konstantinopel 553. Hinter dem „Siegesgefühl“, das Kyrill zum Ausdruck bringt, verbirgt sich insofern eine Leidens- und Konfliktgeschichte, die so ziemlich alle Aspekte monastischen Lebens in Mitleidenschaft gezogen hat, wenn wir seiner Darstellung folgen. Diese kurze Zusammenfassung einiger wichtiger Aspekte dieses Konflikts soll genügen, um den historischen Kontext von v. Sab. 90 etwas mehr vor Augen zu haben, wenn wir uns nun den Details der hagiographischen Verarbeitung des Konflikts zuwenden. Welche anderen erzählten Welten können wir hier nun erkennen und was lässt sich über ihren Zusammenhang feststellen? Betrachten wir zunächst die biblischen Referenzen in ihrem Ursprungskontext:18
καὶ τοὺς πόνους αὐτῶν κατεκληρονόμησεν ἡμᾶς, ὅπως ἂν φυλάξωμεν τὰ δικαιώματα αὐτοῦ καὶ τὸν νόμον αὐτοῦ ἐκζητήσωμεν. αὐτῶι ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας. ἀμήν. 18 Wörtliche Übereinstimmungen zwischen Bibeltext und Kyrill sind in der Tabelle fettgedruckt.
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Septuaginta19 Kyrill Εὐφράνθητι, ἔρημος διψῶσα, ἀγαλλιάσθω ἀγαλλιάσθω ἡ ἔρημος καὶ ἀνθείτω ὡς κρίνον ἔρημος καὶ ἀνθείτω ὡς κρίνον, […]. Freue dich, dürstende Einöde, es jubele die Die Wüste soll jubeln und erblühen wie eine Einöde und blühe wie eine Lilie […]. Lilie [Jes 35,1 LXX] [Jes 35,1 LXX; 200,6 f. Schwartz] εἶπεν δὲ κύριος πρὸς Μωυσῆν ᾿Ιδὼν εἶδον ἰδὼν εἶδον τὴν κάκωσιν τοῦ λαοῦ μου τοῦ ἐν τὴν κάκωσιν τοῦ λαοῦ μου τοῦ ἐν Αἰγύπτῳ Ἱεροσολύμοις καὶ τοῦ στεναγμοῦ αὐτῶν καὶ τῆς κραυγῆς αὐτῶν ἀκήκοα ἀπὸ τῶν ἀκήκοα καὶ βούλομαι ἐξελέσθαι αὐτούς· ἐργοδιωκτῶν· οἶδα γὰρ τὴν ὀδύνην αὐτῶν· καὶ κατέβην ἐξελέσθαι αὐτοὺς ἐκ χειρὸς Αἰγυπτίων καὶ ἐξαγαγεῖν αὐτοὺς ἐκ τῆς γῆς ἐκείνης καὶ εἰσαγαγεῖν αὐτοὺς εἰς γῆν ἀγαθὴν καὶ πολλήν, εἰς γῆν ῥέουσαν γάλα καὶ μέλι, εἰς τὸν τόπον τῶν Χαναναίων καὶ Χετταίων καὶ Αμορραίων καὶ Φερεζαίων καὶ Γεργεσαίων καὶ Ευαίων καὶ Ιεβουσαίων. Es sagte aber der Herr zu Mose: Ich habe wahrhaftig die Unterdrückung meines Volkes in Ägypten gesehen, und ich habe ihre Klage angesichts ihrer Antreiber gehört; denn ich kenne ihr Leid: Und ich bin herabgestiegen, um sie zu retten aus der Hand der Ägypter und um sie aus jenem Land herauszuführen und sie hineinzuführen in ein gutes und geräumiges Land, ein Land, das Milch und Honig strömen lässt, in das Gebiet der Kanaanäer und Chettäer und Amorräer und Pherezäer und Heväer und Gergesäer und Jebusäer. [Ex 3,7 f.]
Sehend habe ich das Leiden meines Volkes in Jerusalem gesehen und ich habe ihr Seufzen gehört und ich will sie befreien.
[vgl. Ex 3,7 f. LXX; 200,8–10 Schwartz]
καὶ ἐξέβαλεν ἀπὸ προσώπου αὐτῶν ἔθνη καὶ ἐξέβαλεν αὐτοὺς ἀπὸ προσώπου ἡμῶν καὶ ἐκληροδότησεν αὐτοὺς ἐν σχοινίῳ καὶ κατεσκήνωσεν ἡμᾶς ἐν τοῖς σκηνώμασιν κληροδοσίας καὶ κατεσκήνωσεν ἐν τοῖς αὐτῶν σκηνώμασιν αὐτῶν τὰς φυλὰς τοῦ Ισραηλ. Und er vertrieb vor ihrem Angesicht Völ- Und er hat sie von unserem Angesicht verkerschaften und verteilte an sie Erbteile trieben und lässt uns in ihren Zelten wohnen durch eine Messschnur und ließ die Stämme Israels in ihren Zelten Wohnung nehmen. [Ps 77,55 LXX] [vgl. Ps 77,55 LXX; 200,12 f. Schwartz]
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Die Übersetzung der Bibelzitate stammt aus der Septuaginta Deutsch.
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Septuaginta Kyrill καὶ ἔδωκεν αὐτοῖς χώρας ἐθνῶν, καὶ καὶ τοὺς πόνους αὐτῶν κατεκληρονόμησεν πόνους λαῶν ἐκληρονόμησαν, ὅπως ἂν ἡμᾶς, ὅπως ἂν φυλάξωμεν τὰ δικαιώματα φυλάξωσιν τὰ δικαιώματα αὐτοῦ καὶ τὸν αὐτοῦ καὶ τὸν νόμον αὐτοῦ ἐκζητήσωμεν. νόμον αὐτοῦ ἐκζητήσωσιν. Und er gab ihnen Länder von Völkerschaften, und Erträge von Völkern erbten sie, damit sie seine Rechtsbestimmungen bewahrten und sein Gesetz eifrig suchten. [Ps 104,44 f. LXX]
Ihre Mühen hat er uns zugelost, damit wir seine Rechtssatzungen bewahren und sein Gesetz erforschen [vgl. Ps 104,44 f. LXX; 200,13–15 Schwartz]
Ich kommentiere die vier biblischen Referenzen zunächst, um anschließend ihr Zusammenspiel zu beschreiben. Dabei geht es mir nicht darum, moderne exegetische Einsichten so darzustellen, als hätte Kyrill diese kennen können. Sie sollen den Hintergrund der biblischen Referenzen erläutern und zudem veranschaulichen, dass – um in der Sprache dieses Beitrags zu bleiben – ganze Welten zwischen den biblischen Texten und Kyrills Text liegen, wenngleich der Kontext der einzelnen biblischen Verse auch zeigt, wie hoch das intertextuelle Identifikationspotenzial ist, wenn wir davon ausgehen, dass die Mönche immer auch mehr mit einem Bibelzitat verbinden konnten, als nur ein einziges Motiv aus einer größeren Erzählung.20 Bei der ersten Referenz handelt es sich um ein direktes Zitat aus dem Buch des Propheten21 Jesaja, der wohl etwa im 8. Jh. v. Chr. gelebt hat. Die Übersetzung des Jesaja-Buches ist wahrscheinlich im Verlauf des zweiten Jahrhunderts v. Chr. in Ägypten entstanden.22 Kapitel 35 gehört zur sogenannten Grundsammlung, in der sowohl Gerichtsprophetie als auch Heilsverheißungen eine wichtige Rolle spielten. Der Makrokontext in Jes 32–35 handelt thematisch vom „Reich des Friedens am Sion“.23 Damit ist ein Anknüpfungspunkt zu Jerusalem und dem näheren 20 Die kurzen einleitungswissenschaftlichen Informationen (Datierung, Makrostruktur) stammen – sofern nicht anders angegeben – aus den Einleitungen zu den jeweiligen biblischen Schriften: vgl. Septuaginta Deutsch, 56 (Ex).749–752 (Ps).1230 (Jes). 21 Die Spätdatierung der prophetischen Texte scheint heute weitgehend Konsens zu sein. Siehe hierzu Kratz 2003, 41–51. Gegen Ende des dritten, Anfang des zweiten Jahrhunderts v. Chr. sei, so Kratz, die Fortschreibung in den Prophetenbüchern zum Stillstand gekommen (vgl. ebd., 47). Entstanden seien die Bücher der Propheten in einem Zeitraum von ca. 500 Jahren, vom etwa achten bis ins frühe zweite Jahrhundert v. Chr.; die Untergrenze markiere den Abschluss der Bücher und sei für alle mehr oder weniger gleich, wohingegen die literarische Produktion zu unterschiedlichen Zeiten eingesetzt habe (vgl. ebd., 52). 22 Vgl. Baltzer u.a. 2011, 2484. 23 Zur zentralen Bedeutung der Zionstheologie an dieser Stelle siehe Beuken 2010, 30–33, ebenso zur Auslegung 326–352. Beuken 2010, 335 hält zur Bedeutung Zions in Jes 35 fest: „Die Rückkehr zum Zion, die das Hauptthema von Jes 35 darstellt, wird in der Verkündigung des historischen Propheten keine Rolle gespielt haben, jedoch in ihrer Aktualisierung für die
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Umland gegeben, nicht zuletzt aufgrund der religiösen Bedeutung für Judentum und Christentum. Als Feinde, unter denen Israel leidet, werden die Assyrer unter Sanherib, die „Völker“ und „Gesetzlosen auf dem Sion“ genannt. Die Rettung des Gottesvolks wird noch erwartet. Sobald diese Rettung eingetroffen sein wird, solle die Einöde „blühen“ und „Wasser [aus ihr] hervorbrechen“. Zielpunkt dieser Passage ist die künftige Sammlung des Gottesvolkes in Jerusalem um des Herrn willen. Die schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit im Exil werden der Freude über die Gottesnähe am Zion weichen,24 so die Verheißung im Kontext von Jes 35,1. Anhand der hier verwendeten Semantik hat Beuken überzeugend dargestellt, dass in dieser Passage mit einer Oszillation zwischen einem geographischem „zweiten Exodus“ und einem mentalen Exodus zu rechnen ist.25 Gerade die Exodus- und Wüsten-Motivik 26 birgt Deutungspotenzial für die von Kyrill erzählte Geschichte der sabaitischen Gemeinschaft. Die zweite Referenz stammt aus dem Buch Exodus (Ex 3,7 f.) und gehört damit zum Pentateuch des Alten Testaments. Kapitel 3 befindet sich am Anfang der Erzählung der Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten und von der Macht der Pharao. Die Übersetzung des masoretischen Textes der Exodus-Erzählung entstand vermutlich vor 210 oder 260 v. Chr.27 Die weitere Datierung des historischen Ereignisses vor 1000 v. Chr. gestaltet sich äußerst schwierig und wird kontrovers diskutiert.28 Vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf unseren Zusammenhang zu erwähnen, dass in diesem Text bereits eine erzählte Welt vorliegt, die bewusst gestaltet worden ist. Im Kontext unserer Verse wird vom Leiden der Israeliten unter der Knechtschaft in Ägypten berichtet. Das Leiden des Gottesvolks wird, so der Text, von Gott wahrgenommen und er selbst wendet sich ihm helfend zu. In Exilierten eine wichtige Funktion übernommen haben (pace Kuan 1996: Es stammt aus der Zeit, als der assyrische König Sanherib 701 seinen Feldzug unternahm).“ 24 Beuken 2010, 332 schreibt über die Leserschaft des Prophetenbuchs: „Somit zeigt sich, dass sich Kap. 35 an Leser richtet, die sich in das Exilsmotiv des zweiten Buchteils hineinfinden müssen. Sie haben in ihrem kummervollen Dasein die Orakel des historischen Propheten als Wirklichkeit erfahren; das Ende jener Not ersehnen sie nun.“ 25 Beuken 2010, 345: „In dieser Hinsicht lässt sich die Bedeutung der Passage nicht auf einen geographischen ‚zweiten Exodus‘, der nun aus Babel erfolgt, beschränken. Ebenso wenig kann der Wüstenzug jeglicher geographischen Konnotation entbunden und darauf beschränkt werden, dass es in einer heiligen Lebensführung von Verzagtheit Abstand zu nehmen gilt.“ 26 Siehe zur Bedeutung der Wüste im Kontext von Jes 35 Beuken 2010, 350–352. 27 Vgl. Septuaginta Deutsch, 56. Zenger datiert die Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische, d.h. die Septuaginta, in die Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. bis zum Anfang des zweiten Jahrhunderts n. Chr. (vgl. Zenger 2012, 59 f.). Als Entstehungsort von ExLXX wird Ägypten, genauer Alexandria, angenommen (vgl. Schaper 2011, 268). 28 Zur Datierung und der Frage nach der Historizität des Exodus siehe Dohmen 2015, 71–78. Die innerbiblische Chronologie lässt für die Datierung des historischen Exodus das neunzehnte oder fünfzehnte Jahrhundert v. Chr. zu (vgl. Dohmen 2015, 71). Allerdings treten erhebliche Probleme bei der Korrelation des biblischen und außerbiblischen Befundes auf, die eine Identifizierung und Verifizierung eines historischen Exodus letztlich ausschließen (vgl. ebd., 73).
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Kapitel 3 finden wir die Erzählung vom brennenden Dornbusch, an dem Mose ein Engel erscheint und Gott sich ihm selbst als Gott der Erzväter zu erkennen gibt. Die uns interessierenden Verse 7 f. sind die ersten Verse, die den Abschnitt über die „Sendung des Mose“ einleiten, gehören szenisch also noch zur Dornbusch-Erzählung;29 hier spricht Gott direkt zu Mose und teilt ihm mit, dass er das Leiden seines Volkes in Ägypten gesehen hat und ihre Klage gehört hat. In Vers 8 spricht Gott weiterhin zu Mose und erklärt ihm, dass er „herabgestiegen“ sei, um sein Volk „aus der Hand der Ägypter zu retten“ sowie um sie aus diesem Land herausund in ein besseres Land hineinzuführen, in dem „Milch und Honig“ strömt.30 In Vers 10 erfolgt schließlich die Sendung des Mose, die darauf zielt, Mose zum Akteur des Exodus gegenüber Gottesvolk und Pharao zu machen. T heophanie und Berufung bilden gewissermaßen einen Erzählzusammenhang.31 Am Ende von Kapitel 3 heißt es, dass Gott „die Hand gegen die Ägypter ausstrecken werde“ und dass das Gottesvolk Ansehen und Wohlstand erreichen werde.32 Die dritte Referenz entnimmt Kyrill dem Psalter, dem Gebetsbuch des Alten Testaments, das dort mit dem Namen Sefer Tehillim – Buch der Loblieder o.ä. – bezeichnet wird. Wo und wann der LXX-Psalter entstanden ist, lässt sich nicht genau klären, man geht jedoch heute davon aus, dass der Psalter seine Endgestalt zwischen 200 und 150 v. Chr. erhalten hat.33 Erzählt wird in Ps 77 LXX die Geschichte des Gottesvolkes von der Zeit der Gabe des Gesetzes, von der Zeit in Ägypten bis in die Zeit der Regierung Davids. Ziel des Psalms ist es, der gegenwärtigen jüdischen Welt Lehren aus der Geschichte Israels zu vermitteln. Geschichtserzählung und Lehre fallen hier zusammen. Gottes Treue und die Untreue seines Volkes sind dabei wichtige Motive.34 In den Versen 13–72 wird das geschichtliche 29
Vgl. Utzschneider/Oswald 2013, 125. Dohmen 2015, 152: „Mit dem Herabsteigen Gottes ist gemeint, dass Gott trotz und unbeschadet der – de facto immer bestehenden – Trennung zwischen Gott und Welt/Mensch zu jedem innerweltlichen Geschehen (in Raum und Zeit) in Beziehung tritt bzw. treten kann […]. In V 8 muss das schon geschehene Herabsteigen mit dem Erscheinen im Dornbusch identifiziert werden, denn Gott tritt mit Mose in Beziehung, um durch ihn bzw. mit seiner Hilfe die Israeliten aus Ägypten herauszuführen, ganz so wie V 8 es als Ziel formuliert.“ 31 Vgl. Dohmen 2015, 141 f. 32 Siehe zu den Details der synchronen Analyse von Ex 3 Utzschneider/Oswald 2013, 125–132. 33 Vgl. Zenger 2012, 447. Zur Kompositions- und Redaktionsgeschichte des Psalters siehe Zenger 2012, 445–447. 34 Kraus 1978, 702 f. beschreibt den Duktus dieses Psalms folgendermaßen: „In [V.] 1–2 wird ein Weisheitsgedicht angesagt. In 4 dagegen ergeht – wie im hymnischen Introitus – der Hinweis auf die großen Heilstaten Gottes. Und in 5–11 wird, unter Berufung auf die in Israel aufgerichtete תורה, kundgetan, daß der Psalm Mahnung und Warnung aus der ersten Geschichten Jahwes mit seinem Volk herausheben werde. Es folgen dann in 12 ff. die geschichtlichen Rückblicke. […] Der ganze Psalm trägt einen lehrhaften Akzent. Man müßte von einer Geschichtslehre sprechen, die in Ps 78 ausgebreitet wird. Doch wie immer im Einzelnen definiert wird, der Psalm gehört zur Formgruppe der Lehrdichtungen […]. Die Lehrdichtung des Ps 78 setzt ein mit einer ‚Lehreröffnungsformel‘ […], die von Anfang an auf ein Geheimnis, ein ‚Rätsel‘ hinweist, das in der zur Sprache kommenden Geschichtsdarstellung 30
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Handeln Gottes an seinem Volk ausführlich in Erinnerung gerufen und gipfelt schließlich in der Erwählung des Stammes Juda, Zions und Davids.35 Hierzu gehört auch unsere Stelle mit Vers 55. Auf die Gabe des göttlichen Gesetzes folgen laut der Erzählung des Psalms der Abfall davon und die Untreue des Gottesvolks gegenüber Gott und seinem Bund mit ihm. Der Psalm und die in ihm erzählte erinnerte Geschichte dienen der gegenwärtigen jüdischen Welt als Warnung vor solchem Verhalten. Konkret wird unmittelbar auf „die Wundertaten“ verwiesen, die Gott an „den Vätern“ „im Land Ägypten“ getan hat, und die drohten und drohen vergessen zu werden. Der größte Teil des Psalms liest sich wie ein Hin und Her einerseits zwischen Gottes Liebe zu seinem Volk und dessen zeitweiser Treue zu ihm sowie andererseits zwischen Gottes Zorn und dessen zeitweiser Erinnerung an die Wohltaten Gottes. Gott führte sein Volk letztlich trotz allem aus der Wüste (52) weiter „zum Gebiet seines Heiligtums“ (54). Nach dem Bericht über den Exodus berichtet Vers 55 nun davon, wie Gott „Völkerschaften“ aus dem Angesicht seines Volkes „vertreibt“ und „Erbteile an sie verteilt“ und dass er schließlich „die Stämme Israels in ihren Zelten Wohnung nehmen ließ“. Der Psalm gipfelt in der Erwählung des Berges Zion durch Gott, worauf er sein Heiligtum baute (68 f.), und in der Erwählung des guten Hirten David zum König Israels. Mit dieser friedlichen Perspektive auf die Regierungszeit Davids über Gottes Volk endet der Psalm. Gott und sein Volk sind gewissermaßen „angekommen“, beieinander und in Jerusalem. Die vierte und zugleich letzte Referenz stammt ebenfalls aus dem Psalter. Das gedankliche Zentrum von Psalm 104 LXX, der ebenfalls als Geschichtspsalm36 eingeordnet werden kann, stellt die Bundestreue37 Gottes zu seinem Volk dar (vgl. V. 8). Hierfür soll das Volk Gott preisen und danken, sich aber auch kontinuierlich an die Taten erinnern, die Gott ihm zum Wohl getan hat. Landverheißung, Fremdheit unter den Völkern, die Zeit in Ägypten, die Erwählung des Mose, die Zehn Plagen, der Exodus und das wundertätige Mitsein Gottes sind wesentliche Motive des Psalms. Der Psalm endet mit Jubel und Freude unter Gottes Volk über die erfolgte Landnahme. Unsere Verse 44 f. bilden die beiden Schlussverse des Psalms. In ihnen kommt zum Ausdruck, dass sich Israel mit Gottes Hilfe gegen die „Völker“ durchgesetzt hat und ihre „Länder“ und „Erträge“ erhielt, „damit sie seine Rechtsbestimmungen bewahrten und sein Gesetz eifrig suchten“. Die Pointe dieses Psalms ist die beständige Zuwendung Gottes zu seinem Volk, das er letztlich aufgrund seiner Bundestreue mit den Erzvätern in das verheißene Land
verborgen liegt, nun aber weisheitlich-lehrhaft aufgetan werden soll. Andeutend kann schon jetzt darauf hingewiesen werden: Das Mysterium der Geschichte Israels mit seinem Gott ist die unablässige Heilswirksamkeit Jahwes auf der einen Seite, und die ebenso unablässige Abkehr des Volkes auf der anderen Seite.“ 35 Vgl. die Gliederung des Psalms bei Kraus 1978, 703. 36 Vgl. Kraus 1978, 890. 37 Vgl. Kraus 1978, 893.
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geführt hat, damit es dort seinerseits dem Bund in Gestalt von Gesetzestreue entspricht.38 Die kurzen Kommentare sollten verdeutlichen, mit welchem zeitlichen, religiösen und sachlichen Material Kyrill literarisch „arbeitet“ und welche Erfahrungen aus der Geschichte des Volkes Israel sich darin niedergeschlagen haben. Er rekurriert zur Beschreibung der aktuellen Situation des sabaitischen Mönchtums im sechsten Jahrhundert n. Chr. in und um Jerusalem auf Textwelten bzw. erzählte Welten, die selbst innerhalb des Alten Testaments nicht identisch sind, auch wenn sie gewissermaßen in Kyrills Sicht aus der „einen“ biblischen erzählten Welt stammen. Zwar hat sich gezeigt, dass die einzelnen alttestamentlichen Texte zum Teil starke Bezüge zur Exodus-Erzählung herstellen, doch müssen wir strenggenommen in jedem einzelnen Fall die unterschiedlichen historischen Kontexte beachten, um den spezifischen aktuellen Sinn zu verstehen. Zum Teil wird in den biblischen Texten selbst das Exodus-Narrativ im Blick auf die historische Situation aktualisiert bzw. neu kontextualisiert. In der christlichen Rezeption einzelner Verse aus diesen biblischen Texten wird dieser Umstand – außer in der Kommentarliteratur – jedoch kaum deutlich: Die erzählte biblische Welt wird einheitlich als normative Vergangenheit und als Quelle für gegenwärtige Deutungen wahrgenommen. Auf den ersten Blick könnte man den Eindruck haben, alle von Kyrill hier verwendeten Zitate erzählten von demselben Exodus und den ursprünglichen Erfahrungen, die sich mit ihm verbanden. Was wiederum umso deutlicher wird, ist die gezielte Verwendung einzelner Verse alttestamentlicher Texte, die – kurz gesagt – von Gottes rettendem Handeln an seinem erwählten Volk berichten und deren geschichtlichen Kontext sozusagen in den Ohren der Rezipienten erneut erinnernd anklingen lassen. Der Hagiograph scheint mit den narrativen und historischen Unschärfen bewusst zu spielen, um den Eindruck kohärenter (Heils-) Geschichte zu erwecken. Allein die Referenz aus Jes 35,1 wird als „prophetischer Ausspruch“ in einer Weise markiert, dass die Rezipienten hierin ein Intertextualitätssignal erkennen können. Implizit könnte dieses Signal auch auf die folgenden Referenzen ausstrahlen, die durch den Wechsel zwischen Gottesrede (Ex 3,7 f. LXX) und der deskriptiv-kon38 Mit Blick auf den Schlussvers 45 hält Kraus 1978, 895 f. zur Bundestheologie fest: „Doch tritt 45 aus dem vorgegebenen Strukturprinzip der Überlieferung […] heraus. Zuletzt wird auf die Weisungen der Sinai-Tradition Bezug genommen. Ja, alles zuvor Berichtete ist nur geschehen, damit Israel nach Jahwes Geboten wandelt. Hier klingt der deuteronomische Gedanke an, daß der Gehorsam gegen Jahwes תורהder Dankbarkeit für Jahwes Heilstaten und seine Bundestreue entspringt […]. Die wesentliche Aussage des Ps 105 liegt in der Konsequenz beschlossen, daß Jahwes Bundestreue einen neuen Gehorsam gegen die Gebote Gottes erwecken und bewirken soll. Deutlich aber treten in der Rühmung der großen Taten Gottes auf die weltweite und völkerbeherrschende Macht Jahwes hervor. Souverän schaltet und waltet der Gott Israels im Bereich fremder Völker. Er führt die Seinen durch alle Schwierigkeiten hindurch, erfüllt sein Wort, gedenkt beständig seines Bundes und erweist in Wundern und Gerichten seine Macht und Gnade.“
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statierenden Anverwandlung der biblischen Referenzen durch den Erzähler auffallen. Was im Zwischenraum sichtbar wird, ist die Stimme des Erzählers bzw. Autors Kyrill, der sich als biblisch gebildeter Hagiograph und Mönch zu erkennen gibt. Er ist es schließlich, der die verschiedenen erzählten Welten in Person und seiner Deutung der Vergangenheit zusammenführt. Die Befreiungsabsicht Gottes, die in Ex 3,7f. LXX noch als zukünftige Handlung beschrieben wird, stellt Kyrill nunmehr als erfüllte Verheißung dar: Die Sabaiten wurden durch Gott von der Unterdrückung der Origenisten befreit. Ps 77,55 LXX stellt bei Kyrill den Bezug zur Vertreibung der Origenisten aus der Neuen Laura her, die mit orthodoxen Mönchen neu besetzt wurde. Schauplatz des gesamten Geschehens ist in Anknüpfung an das erste Zitat aus Jes 35,1 LXX die „Wüste“. Mit der „Blüte“ der Wüste wird ein Bezug zum Leitthema des Zur-Stadt-Machens der Wüste durch Sabas hergestellt, das mehrfach im hagiographischen Corpus Kyrills zu finden ist.39 Die in Ex 3,7f. LXX anklingende Unterdrückung durch die Ägypter bzw. im Land Ägypten wird bei Kyrill durch die Origenisten und Jerusalem ersetzt, von denen die Sabaiten schließlich durch Gottes Hilfe befreit werden. In dieser neuen Freiheit ist es der monastischen Gemeinschaft um Kyrill nun wieder möglich, Gottes „Rechtssatzungen zu bewahren“ und sein „Gesetz zu studieren“. Es drängt sich am Ende von v. Sab. 90 der Eindruck auf, als wollte Kyrill seiner Leser- und Hörerschaft vermitteln, dass der Exodus der Sabaiten zu einem glücklichen Ende im gelobten Land gekommen sei und sie dort nun ihrer eigentlichen Bestimmung, dem monastischen Leben, ungestört nachgehen könnten. Dies scheint mir die effektive Erzählstrategie an dieser Stelle zu sein. Kyrill stellt die Geschichte des sabaitischen Mönchtums, insbesondere den Kampf gegen und den Sieg über die Origenisten als eine aktualisierte Version von Gottes rettendem Handeln an seinem Volk dar. Die biblischen Referenzen, die Kyrill verwendet, dienen gezielt dazu, die gegenwärtige Zeit und ihre jüngste Geschichte besonders im Lichte der Exodus-Erzählung zu verstehen. Entsprechend erfolgt die Auswahl der biblischen Referenzen offenbar vorrangig nach folgendem Kriterium: Biblische Narrative (z.B. Exodus) müssen strukturelle und inhaltliche Parallelen zur Geschichte der Sabaiten aufweisen und können dann etwa als Erfüllung von biblischen Verheißungen in der eigenen (post-biblischen) Geschichte präsentiert werden. Die Passung von biblischer Vorgabe und ihrer Rezeption bei Kyrill betrifft Semantik und T heologie bis ins Detail. Biblische erzählte Welten und die gegenwärtige Erzählwelt verschmelzen in der monastischen Hagiographie Kyrills. Der literarische (Kompositions-) Akt kann insofern als Prozess, Produkt und Medium von Kosmopoiesis begriffen werden. Der Hagiograph erschafft literarisch eine eigene Textwelt, indem er auf die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Welt seiner selbst sowie der monastischen Gemeinschaft der Sabaiten Bezug nimmt und diese mit den biblischen erzählten Welten verbindet.40 Diese Art der 39
Vgl. Kyrillos, v. Sab. 6 (TU 49/2, 90,5–10 Schwartz). (S. 7) die Einleitung zum vorliegenden Band: „Heuristisch wird demnach un-
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Verschmelzung41 von unterschiedlichen Welten geschieht einerseits durch den Autor, andererseits durch die Rezipienten seines Textes, die diesen mit ihrer individuellen Kenntnis von intertextuellen Bezügen erschließen. Schematisch lässt sich dieses im Grunde spiralförmige, iterative und akkumulative Phänomen vereinfacht in etwa so darstellen: Ereignis Deutung und Produktion einer erzählten Welt (ggf. Rückgriff auf bekannte erzählte Welten) neues Ereignis erneute Deutung und Produktion einer neuen erzählten Welt (ggf. Rückgriff auf bekannte erzählte Welten) Rezeption als Verschmelzung dieser Welten… Lesen wir die von Kyrill verwendeten biblischen Referenzen für sich, erkennen wir zwar die T hemen wie die „Freude der Wüste“, die Wahrnehmung der „Leiden eines Volkes“ und die Zuwendung Gottes zu ihm sowie die Landgabe, doch ohne biblischen Kontext der einzelnen Verse, ohne den rekonstruierbaren historischen Kontext, bleiben diese Texte als Referenzen relativ bedeutungslos und theologisch unterbestimmt. Gehen wir aber davon aus, dass die jeweiligen Kontexte erinnert werden konnten, gewinnen die einzelnen Verse das Gewicht und die Bedeutung ganzer Bücher und Geschichte füllender Erzählungen. Die Kommentare, Auslassungen und Einfügungen, die Kyrill zwischen biblischen Texten und seinem eigenen Text vornimmt, sind hagiographische Mittel, um die erlebte Gegenwart und die jüngste Geschichte mit Gottes heilsgeschicht lichem Handeln zu verbinden und die aktuelle Situation hierein einzuschreiben: Sabas ist für Kyrill und seine Mönchsgemeinschaft der „neue Mose“42, die „Völker“ und „Bedränger“ sind die Origenisten, das verheißene Land ist die Stadt Jerusalem und das Umland, „Ägypten“ ist Sinnbild für die Bedrängung des sabaitischen „Gottesvolks“ in und um Jerusalem durch die Origenisten. Gott ist und bleibt der Gott des Bundes und des Exodus, der von Israel wie von den Mönchen fordert, seinem Gesetz treu zu sein und danach zu leben. Insgesamt möchte ich dieses Phänomen als ‚biblioforme Figuration‘ bezeichnen, womit der literarische Aufbau von im weitesten Sinne verstandenen Figuren (z.B. Individuen und Gruppen) gemeint ist, der sich an biblischen Vorgaben orientiert.
terstellt, dass kein Text ohne literarische Vorgaben auskommt und dass ebenso kein Narrativ ohne einen ihn umgebenden (Inter-) Text und beide wiederum nicht ohne einen geschichtlichen Bezugsrahmen entstehen und verstanden werden können.“ 41 Hans-Georg Gadamer hat für die philosophische Hermeneutik den vergleichbaren Begriff der „Horizontverschmelzung“ geprägt. Siehe hierzu Gadamer 1960. 42 Vgl. Kyrillos, v. Sab. 32 (TU 49/2, 117,5–7 Schwartz).
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3. Schluss Ziel der Darstellung der einzelnen erzählten Welten (auch der biblischen Referenzen) war es, zu zeigen, dass die Berücksichtigung des historischen und inter-/intratextuellen Kontextes für das Verständnis einzelner zitierter Verse an sich und innerhalb eines anderen Textes von großer Bedeutung ist. Die mit einem einzelnen Verszitat aufgerufenen Assoziationen und Erinnerungen sind die Reaktionen der Rezipienten auf die vom Autor Kyrill literarisch angelegte Intertextualität.43 Diese Reaktionen können in hohem Maße dazu beitragen, sozusagen ganze Welten in einzelnen Versen mitwahrzunehmen. Dabei kann der Autor zwar Intertextualitätssignale im Text setzen, aber die faktische Wahrnehmung von intertextuellen Bezügen liegt außerhalb seines Einflussbereichs, nämlich bei der Leserschaft.44 Die bei Kyrill häufig vorkommende ‚biblioforme Figuration‘ ist meines Erachtens nicht zuletzt Ausdruck des monastischen Weltverständnisses, das wesentlich darauf aus ist, die erlebte Welt im Lichte der biblischen erzählten Welt wahrzunehmen. Hagiographische erzählte Welten kommen hierfür ebenfalls in Betracht, nur stehen sie in der normativen Geltung45 in einem nur je konkret zu beschreibenden Verhältnis zu den biblischen Schriften und wurden in diesem Beitrag zugunsten der Konzentration auf Intertextualität zu biblischen Texten bewusst ausgeblendet. Entsprechend ist beispielsweise Kyrills monastische Hagiographie von dieser biblischen Welt geprägt. Diese Perspektive auf Texte, Kontexte, Intra- und Intertexte erlaubt es im Falle Kyrills, anzunehmen, dass seine Form der Schriftauslegung religiöse Kontinuität in einer Zeit des Umbruchs innerhalb und außerhalb seiner Mönchsgemeinschaft generiert. Die Frage danach, wie und von welchen erzählten Welten in monastischen Texten berichtet wird, kann Antworten darauf geben, welches Gottes‑, Selbst- und Weltverständnis in einer solchen Gemeinschaft vorliegt. So ist es auch aufschlussreich, dass Kyrill keine paganen Texte verwendet, um die Geschichte seiner monastischen Gemeinschaft zu beschreiben.46 Die Aus43 Zur Bedeutung der Textintention gegenüber der Intention eines Autors und den möglichen Interpretationen der Rezipienten schreibt Eco 2000, 294: „Das Seelenleben des empirischen Autors ist gewiss unergründlicher als seine Texte. Zwischen der mysteriösen Entstehungsgeschichte eines Textes und dem unkontrollierbaren Driften künftiger Lesarten hat die bloße Präsenz des Textes etwas tröstlich Verläßliches als ein Anhaltspunkt, auf den wir stets zurückgreifen können.“ 44 Vgl. dazu die Einleitung zum vorliegenden Band (S. 13 f., mit Bezug auf Holthuis). 45 Gemeinhardt 2019, 249 f.: „Die Pointe liegt darin, dass innerhalb einer Welt, die voll von Büchern war, in eremitischem Kontext nur eines dieser Bücher als legitime Quelle des notwendigen Wissens galt, dies aber (in eklatantem Unterschied zur soziokulturellen Differenzierung der umgebenden Gesellschaft) für alle Mönche: die Bibel.“ 46 Hierzu Gemeinhardt 2019, 279: „In der Wüste entstand eine spezifisch christliche Bildung, die in der ‚Welt‘ und in der ‚Volkskirche‘ kein Erfolgsrezept sein konnte, weil die Verweigerung der Schulbildung eine Selbstexkommunikation aus der Gesellschaft mitsamt ihren kulturellen Codes bedeutet hätte. Dort, wo man dieser Umwelt programmatisch absagte, bestand die Möglichkeit, eine eigene Bildung zu konzipieren und zu praktizieren – deren Grundtext die Bibel war, die mit charismatischer Autorität ausgelegt wurde. Dass dabei ‚welt-
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wahl der zitierten oder angespielten Texte zeigt im Falle Kyrills die enge Fokussierung auf die biblische erzählte Welt als die maßgebliche Welt, von der man erzählt, um die gegenwärtige Welt zu verstehen und zu verändern.47 Schriftauslegung als Kosmopoiesis ist, wenn man so will, das eigentliche Geschäft des Hagiographen und Priestermönchs Kyrill.48 Seine monastische Hagiographie ist auch an dieser Stelle als religiöse Bildungsliteratur zu verstehen: Mit Hilfe seines Textes kann sich eine ganze monastische Gemeinschaft die hierin überlieferten Ideale zu Eigen machen und sich an und mit ihnen bilden. Das geschieht nicht zuletzt durch die vermutlich eintretenden (nicht nur literarischen) Entdeckungserlebnisse während der geneigten Lektüre oder während des Hörens einzelner Abschnitte an Gedenktagen der Mönchsheiligen, die individuelle wie kollektive Entwicklungen freisetzen und prägen, auch außerhalb der eigenen monastischen Gemeinschaft.49 Kyrills hagiographisches Corpus scheint vorrangig auf die interne Kommunikation angelegt zu sein, gleichwertig mag es noch liche‘ Interpretationstechniken eine Rolle spielen konnten, widerspricht nicht dem innovativen Potential eremitischer Bildung.“ 47 S. dazu die Einleitung (oben S. 2): „Christliche Hagiographen und die von ihnen beschriebenen Heiligen fanden sich immer schon in einer umfassenden Text-Welt vor – in einem Kosmos vielfältiger und verfügbarer Texte, deren Methoden und Vorbilder darstellerische Plausibilität und argumentative Anschlussfähigkeit gewährleisteten. […] Der Anspruch christlicher Heiligenviten war ja gerade, das Aufscheinen der Wirklichkeit Gottes in einem konkreten Menschenleben und seiner mehr oder weniger detailreich ausgemalten Lebenswelt zu beschreiben. Das impliziert aber gerade, dass solche Texte nicht nur und nicht zuerst dokumentarisch ausgerichtet sind: Auch wo Hagiographen sozial-, kultur- oder religionsgeschichtlich relevante Informationen bieten, wollen sie nicht nur über die Welt berichten, wie sie ist und war, sondern darüber hinaus aufzeigen, wie sie sein könnte. Die Texte führen also einen Überschuss an Bedeutung mit sich, der auf Aneignung des je beschriebenen Leitbildes drängt und damit individuelle Kreativität bei den Lesenden freisetzen kann.“ 48 Mit Blick auf Autobiographie und das Erzählen hat Bruner 2016, 235 f. etwas festgehalten, das ich mit Bezug auf die hagiographischen Erzählungen Kyrills hervorheben möchte: „[…] Philosophisch gesprochen, ist der Ansatz, mit dem ich an das Erzählerische herangehe, konstruktivistischer Natur. Diese Sichtweise geht von der zentralen Prämisse aus, die wichtigste Funktion des Geistes sei die, ‚die Welt zu erschaffen‘, und zwar sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Künsten. […] So wie der Philosoph Nelson Goodman argumentiert, nämlich dass Physik oder Malerei oder Geschichte ‚Weisen der Welterzeugung‘ seien, so sollte dann auch die Autobiographie (formell oder informell) als eine Reihe von Verfahrensweisen für ‚das Erschaffen eines Lebens‘ betrachtet werden. Und genauso wie es sich lohnt, im Einzelnen zu untersuchen, wie die Physik oder die Geschichte bei der Erschaffung der Welt vorgehen, sind wir sicher auch gut beraten, detailliert das zu untersuchen, was wir tun, wenn wir uns selbst autobiographisch konstruieren. Selbst wenn dieses Verfahren einige nicht veränderbare Dilemmata hervorbringen sollte, könnte es dennoch das, was wir vielleicht mit Ausdrücken wie ‚ein Leben‘ meinen, ein wenig verdeutlichen.“ 49 Gemeinhardt 2019, 250 hält für andere hagiographische Texte der Spätantike fest: „Athanasius, Hieronymus und anderen Mönchshistorikern, aber auch den Kompilatoren der alphabetischen und systematischen Sammlungen der Apophthegmata Patrum ging es primär darum, dass die jeweils dargestellten asketischen Lebensformen jenseits der Wüste wahrgenommen und gewürdigt wurden. Die literarischen Quellen dienten der Kommunikation von Idealen und Lebensformen in monastischen und nicht-monastischen Kontexten; sie griffen auch in Debatten mit philosophischen Gemeinschaften ein, die eine asketische
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im innermonastischen Diskurs gewirkt haben. Ein Wirken dieser Texte „jenseits der Wüste“, wie Gemeinhardt es als primäres Interesse spätantiker Autoren beschreibt, erkenne ich bei Kyrill nicht. Sein Interesse richtet sich zunächst auf den religiösen Eigenwert des Schreibens der sieben monastischen Heiligenviten und dann auf die Rezeption innerhalb seiner Gemeinschaft und des Mönchtums. Die Funktion auch seiner Texte innerhalb des monastischen Diskurses bleibt von der Einschränkung bezüglich der Adressatenwahl seitens des Autors unberührt. Für den Hagiographen Kyrill ist der Umgang mit den verschiedenen Text-Welten und das Schreiben seiner monastischen Heiligenviten selbst eine religiöse Handlung.50 Das Erzählen in Gestalt dieser Literatur und deren Wahrnehmung durch Rezipienten kann als Prozess einer Welt-Verschmelzung verstanden werden, die in diesem Fall religiös begründet ist. Das Erzählte wird zudem durch den Bezug auf die als ‚heilig‘ geltenden biblischen Schriften autorisiert51, wodurch eine Art heilsgeschichtliche Kohärenz zwischen den Ereignissen der Bibel und denen, über die Kyrill in seiner monastischen Hagiographie berichtet, in Bezug auf Gottes Wirken in der Geschichte hergestellt wird. Die ‚Heiligkeit‘ der biblischen Schriften wird zwar nicht auf die Texte Kyrills übertragen, aber sie wird so sehr auf diese ausgedehnt, dass sie normative Geltung beanspruchen können. Ohne die Perspektiven der Narratologie und Intertextualität wären diese Bedeutungsebenen (nicht nur) Kyrills monastischer Hagiographie vermutlich länger als nötig eine Welt für sich geblieben.
Bibliographie a) Quellen Cirillo di Scitopoli, Storie monastiche del deserto di Gerusalemme, übers. von Romano Baldelli/Luciana Mortari, eingel. von Lorenzo Perrone (Edizioni Scritti Monastici; Bresseo di Teolo: Abbazia di Praglia, 1990). Cyril of Scythopolis, Lives of the Monks of Palestine, übers. von Richard M. Price, eingel. von John Binns (CistSS 114; Kalamazoo: Cistercian Publications, 1991). Cyrille de Scythopolis, Les moines d’Orient, Bde. III/1–3 Les moines de Palestine, hg. von André-Jean Festugière (Paris: Les Éditions du CERF, 1962/1963). Kyrillos von Skythopolis, hg. von Eduard Schwartz (TU 49/2; Leipzig: J. C. Hinrichs, 1939).
Lebensführung praktizierten und die ihrerseits Bildungsansprüche erhoben und sich dabei auf autoritative Texte beriefen.“ 50 Vgl. Krueger 1997, 718: „pious performance“. 51 Vgl. die Einleitung (oben S. 19, T hese 7).
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Christoph Brunhorn
b) Literatur Baltzer, Klaus u.a. (2011), Esaias/Isaias/Das Buch Jesaja: Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament (hg. von Martin Karrer/Wolfgang Kraus; Bd. II; Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft) 2484–2695. Beuken, Willem A. M. (2010), Jesaja 28—39 (HT hKAT; Freiburg i.Br.: Herder). Binns, John (1991a), Introduction: Cyril of Scythopolis. Lives of the Monks of Palestine (hg. von Richard M. Price/John Binns; CistSS 114; Kalamazoo: Cistercian Publications) ix–lii. – (1991b), Notes: Cyril of Scythopolis. Lives of the Monks of Palestine (hg. von Richard M. Price/John Binns; CistSS 114; Kalamazoo: Cistercian Publications). – (1994; reprinted 2002), Ascetics and Ambassadors of Christ. T he Monasteries of Palestine, 314–631 (OECS; Oxford: Clarendon Press). Birkner, Christoph (2017), Hagiography and Autobiography in Cyril of Scythopolis: Biblica, Philosophica, T heologica, Ethica, Hagiographica, Ascetica (hg. von Markus Vinzent; StPatr XCI; Leuven: Peeters) 249–256. Bruner, Jerome (1987), Das Leben als Erzählung: Texte zur T heorie der Biographie und Autobiographie (hg. von Anja Tippner/Christopher F. Laferl; Stuttgart 2016; Reclam). Burton-Christie, Douglas (1993), T he Word in the Desert. Scripture and the Quest for Holiness in Early Christian Monasticism (New York/Oxford: Oxford University Press). Diekamp, Franz (1899), Die origenistischen Streitigkeiten und das fünfte allgemeine Concil (Münster i.W.: Aschendorff). Dohmen, Christoph (2015), Exodus 1–18 (HT hKAT; Freiburg i.Br.: Herder). Draguet, René (1949), Réminiscences de Pallade chez Cyrille de Scythopolis: RAM 98–100, 213–218. Eco, Umberto (1994), Zwischen Autor und Text: Texte zur T heorie der Autorschaft (hg. von Fotis Jannidis u.a.; Stuttgart 2000: Reclam) 279–294. Flusin, Bernard (1983), Miracle et Histoire dans L’Œuvre de Cyrille de Scythopolis (CEAug 96; Paris: Études Augustiniennes). Gadamer, Hans-Georg (1960), Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen: Mohr Siebeck). Garitte, Gérard (1957), Réminiscences de la Vie d’Antoine dans Cyrille de Scythopolis: SBNE 9, 117–122. Gemeinhardt, Peter (2019), „Habe für alles ein Zeugnis aus der Heiligen Schrift!“. Monastische Diskurse über Schriftauslegung und Bildung in der Spätantike: Scriptural Interpretation at the Interface between Education and Religion (hg. von Florian Wilk; TBN 22; Leiden/Boston: Brill) 248–283. Hasse-Ungeheuer, Alexandra (2016), Das Mönchtum in der Religionspolitik Kaiser Justi nians I. Die Engel des Himmels und der Stellvertreter Gottes auf Erden (Millennium-Studien 59; Berlin/Boston: De Gruyter). Hombergen, Daniël (2001), T he Second Origenist Controversy. A New Perspective on Cyril of Scythopolis‘ Monastic Biographies as Historical Sources for Sixth-Century Origenism (StAns 132; Roma: Centro Studi S. Anselmo). Kratz, Reinhard G. (2003), Die Propheten Israels (München: C. H. Beck). Kraus, Hans-Joachim (51978), Psalmen (2. Teilband Psalmen 60–150; BKAT XV/2; Neu kirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag). Krueger, Derek (1997), Writing as Devotion. Hagiographical Composition and the Cult of the Saints in T heodoret of Cyrrhus and Cyril of Scythopolis: ChH 66, 707–719.
Zwischen den Welten ganz bei sich selbst?
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– (2004), Writing and Holiness. T he Practice of Authorship in the Early Christian East (Divinations: Rereading Late Ancient Religion; Philadelphia: University of Pennsyl vania Press). – (2006), Literary Composition and Monastic Practice in Early Byzantium. On Genre and Discipline: Monastères, Images, Pouvoirs et Société à Byzance. Nouvelles approches du monachisme byzantin (hg. von Michel Kaplan; Byzantina Sorbonensia 23; Paris: Publications de la Sorbonne) 43–47. Schaper, Joachim (2011), Exodos/Exodus/Das zweite Buch Mose: Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament (hg. von Martin Karrer/Wolfgang Kraus; Bd. I; Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft) 258–324. Utzschneider, Helmut/Oswald, Wolfgang (2013), Exodus 1—15 (Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament; Stuttgart: Kohlhammer). Van Der Horst, Pieter W. (2001), T he Role Of Scripture in Cyril of Scythopolis‘ Lives of the Monks of Palestine: T he Sabaite Heritage in the Orthodox Church from the Fifth Century to the Present (hg. von Joseph Patrich; OLA 98; Leuven: Peeters Publishers) 127–145. Zenger, Erich (u.a.; 82012 [1995]), Einleitung in das Alte Testament (KStT h 1,1; Stuttgart: Kohlhammer).
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Autorinnen und Autoren Christoph Brunhorn (geb. Birkner): Studium der Evangelischen T heologie an der Universität Göttingen. 2009–2015 studentische und wissenschaftliche Hilfskraft der Patristischen Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 2015–2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen im SFB 1136 „Bildung und Religion“ (Teilprojekt C 05: „Der christliche Katechumenat von der Spätantike zum Frühmittelalter und seine religionspädagogische Rezeption“). Promotionsvorhaben zum T hema „Kyrill von Skythopolis: Mönchsviten. Überlieferung, Kontexte und T heologie“. Seit September 2019 Vikar der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Bad Sooden-Allendorf. Neuere Veröffentlichungen: Hagiography and Autobiography in Cyril of Scythopolis: Studia Patristica, Bd. 91 (hg. von Markus Vinzent; Leuven: Peeters, 2017) 249–256; Die Bedeutung Jerusalems für das Mönchtum der Judäischen Wüste: Monastische Topographie im hagiographischen Corpus Kyrills von Skythopolis: Jerusalem II: Roman-Byzantine Times (hg. von Katharina Heyden/Maria Lissek; COMES; Tübingen: Mohr Siebeck, 2020 [im Druck]); Kontrollverlust? Der Bericht Kyrills von Skythopolis über die ‚Zweite Origenistische Krise‘ als Konflikt um Bildung, Autorität und Macht: Der Origenismus in der Spät antike I. Verurteilung des Origenes – Kaiser Justinian und das Konzil von Konstantinopel 553 (hg. von Alfons Fürst/T homas Karmann; Adamantiana; Münster: Aschendorff [im Druck]). T h erese Fuhrer: Promotion (1989) und Habilitation (1995) an der Universität Bern (Schweiz). 1996−2013 Professorin an den Universitäten Trier, Zürich, Freiburg i.Br. und an der Freien Universität Berlin; seit 2013 Inhaberin des Lehrstuhls für Klassische Philologie/ Latinistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: klassische lateinische Dichtung, römische Philosophie sowie Spätantike, insbesondere Augustinus von Hippo. Autorin bzw. Mitherausgeberin: (mit Marco Formisano) Décadence: ‚Decline and Fall‘ or ‚Other Antiquity‘? (Heidelberg: Winter, 2014); (mit Felix Mundt and Jan Stenger) Cityscaping. Constructing and Modelling Images of the City (Berlin/Boston: de Gruyter, 2015); (mit Martin Hose) Das antike Drama (München: Beck, 2017); (mit Simone Adam) Augustinus, Contra Academicos, De beata vita, De ordine (Bibliotheca Teubne riana; Berlin/Boston: de Gruyter, 2017); (Mit-) Herausgeberin der Zeitschrift Philologus, der Reihe Philologus Supplemente, des Augustinus-Lexikon und der Realenzyklopädie für Antike und Christentum (RAC). Peter Gemeinhardt: Studium der Evangelischen T heologie an den Universitäten Marburg und Göttingen. 2001 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Marburg. 2006 Habilitation an der Universität Jena. Seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte (Schwerpunkt: Alte Kirche) an der Universität Göttingen. 2015–2020 Sprecher des SFB 1136 „Bildung und Religion“. Neuere Veröffentlichungen: Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike (STAC 90; Tübingen: Mohr
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Autorinnen und Autoren
Siebeck, 2014); (Hg., mit Peter Van Nuffelen und Lieve Van Hoof) Education and Religion in Late Antique Christianity. Reflections, Social Contexts, and Genres (London/New York: Routledge, 2016); (Hg. und Übers.) Athanasius von Alexandrien: Vita Antonii. Das Leben des Antonius (FC 69; Freiburg u.a.: Herder, 2018); (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4; Tübingen: Mohr Siebeck, 2019); Mitherausgeber u.a. der Encyclopedia of the Bible and Its Reception (Berlin/Boston: de Gruyter), der Buchreihen Fontes Christiani (Freiburg u.a.: Herder) und Archa Verbi – Subsidia (Münster: Aschendorff) sowie der Lehrbuchreihe Neue theologische Grundrisse (Tübingen: Mohr Siebeck). Christa Gray: Studium der Literae Humaniores mit Abschluss MA (Oxon) sowie der Classical Languages and Literature mit den Abschlüssen MSt (Oxon) und DPhil (Oxon). 2014/15 Research Associate am ERC-Projekt „Fragments of the Republican Roman Orators“, University of Glasgow; seit 2016 Lecturer in Classics, University of Reading; 2016– 2018 Humboldt-Stipendiatin am Lehrstuhl für Alte Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin. Neuere Veröffentlichungen: Jerome, Vita Malchi: Introduction, Text, Translation, and Commentary (Oxford Classical Monographs; Oxford: Oxford University Press, 2015); (Hg., mit Henriette van der Blom und Catherine Steel) Institutions and Ideology in Republican Rome: Speech, Audience and Decision (Cambridge: Cambridge University Press, 2018); (Hg., mit Andrea Balbo, Richard Marshall und Catherine Steel) Reading Republican Oratory: Reconstructions, Contexts, Receptions (Oxford: Oxford University Press, 2018); (Hg., mit James Corke-Webster) T he Hagiographical Experiment: Developing Discourses of Sainthood (SVigChr 158; Leiden/Boston: Brill, 2020). Andreas Müller: Studium der Evangelischen T heologie in Bethel, Bern und Heidelberg sowie der Orthodoxen T heologie in T hessaloniki. 1995 Promotion zum Dr. theol. in Heidelberg, 2003 Habilitation in München. Lehrstuhlvertretungen in Jena, Kiel und Berlin. Seit 2009 Professor für Kirchen- und Religionsgeschichte des 1. Jahrtausends an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Vorsitzender der Sektion Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft für T heologie. Neuere Veröffentlichungen: Das Konzept des Geistlichen Gehorsams bei Johannes Sinaites. Zur Entwicklungsgeschichte eines Elements orthodoxer Konfessionskultur (STAC 37; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006); Do ut des – evangelische caritas bei Cyprian von Karthago: Entdeckungen des Evangeliums. Festschrift für Johannes Schilling (hg. von Jan Lohrengel/Andreas Müller; FKDG 107; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017) 27–46; T he Cult in the Cell. Domestic Religiousness in Monasticism in Late Antiquity: Archiv für Religionsgeschichte 18/19 (2017) 187–200; T he Monastic Fathers of Mount Sinai as Teachers of Spirituality: Teachers in Late Antique Christianity (hg. von Peter Gemeinhardt/Olga Lorgeoux/Maria Munkholt Christensen; SERAPHIM 3; Tübingen: Mohr Siebeck, 2018) 228–240. Maria Munkholt Christensen: Studium der T heologie an der Universität Aarhus. 2015 Promotion im Fach Kirchengeschichte ebendort. 2015–2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1136 „Bildung und Religion“ (Teilprojekt C 04: „Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft“) an der Universität Göttingen. Seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte an der Evangelisch-T heologischen Fakultät der Universität Bonn. Neuere Veröffentlichungen: Holy Women as Humble Teachers. An Investigation of hagiographical texts from Late Antiquity: Teachers in Late Antique Christianity (hg. von Peter Gemeinhardt/Olga Lorgeoux/Maria Munkholt Christensen; SERAPHIM 3; Tübingen: Mohr Siebeck, 2018) 147–164; Relating through Prayer: Identity Formation in Early
Autorinnen und Autoren
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Christianity (ECCA 21; Frankfurt am Main: Peter Lang, 2019); (mit Peter Gemeinhardt) Holy Women and Men as Teachers in Late Antique Christianity: ZAC 23 (2019) 288–328. Dorothee Schenk: Studium der Evangelischen T heologie (Magister T heologiae) in Göttingen und Toruń. Seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der T heologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen (Lehrstuhl für Kirchengeschichte). Assoziiertes Mitglied im SFB 1136 „Bildung und Religion“. Neuere Veröffentlichung: Die Christianisierung Islands zwischen Religion und Politik: ZKG 129 (2018) 1–27. Jan Seehusen: Studium der Germanistik und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien an den Universitäten Hamburg und Tromsø (Norwegen). 2016–2017 Stipendiat der Stu dienstiftung des deutschen Volkes. Seit 2017 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Alte Geschichte der Universität Hamburg. Neuere Veröffentlichung: Das eManual Alte Geschichte – ein digitales Lernszenario der Alten Geschichte: Digital Classics Online 3,3 (2017) 61–66.
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Register 1. Stellen a) Bibel Exodus 3 164 3,7 f. 159, 161, 163 f., 166 f. 3,8 164 3,10 164 Ruth 1,16 53 1. Samuel 3,19 55 Psalmen (nach LXX) 77,1–2 164 77,4 164 77,5–11 164 77,13–72 164 77,52 165 77,54 165 77,55 159, 161, 165, 167 77,68 f. 165 103,7 128 104,8 165 104,44 f. 159, 162, 165 104,45 166 Sprüche 17,11 145 Daniel 2,32 92 2,39 92 7,6 92
8,5 92 8,8 92 8,21 92 Jesaja 32–35 162 35 162 f. 35,1 159, 161, 163, 166 f. Matthäus 5,30 132 6,34 73 f. 8,5–13 76 10,8 78 17,14–17 76, 79 19,21 51, 72, 97, 131 20,29–34 74 25 74 25,40 75 Markus 1,14 60 1,21–28 76 f. 1,24 77 1,27 77 9,16–26 76, 79 16,7 60 16,8a 60 Lukas 2,42–49 73 8 77 8,15 55 8,26 76 8,26–39 76
180 8,28 77 8,30 77 8,32 f. 77 8,35 77 8,37 77 8,39 77 9,37–42 79 10,25–37 74 10,31 74 10,33 74 14,33 97 Johannes 4,46–50 76 7,15 115 15,19 f. 156 17,14 156 17,18 156 Apostelgeschichte 4 72 4,13 57 5,16 78 16,18 78 1. Korinther 1,18–2,16 58 1,20 54 2,1–5 69 14,33b–35 105 15,9 69 2. Korinther 11,30 69 Galater 4,12 58 4,13 f. 69 1. Timotheus 2,11 f. 105
Register
b) Autoren und Texte Athanasius von Alexandrien Vita Antonii prol. 2 50 1,1 72 1,2 55, 72 2,1.5 51 2,3 51, 131 3,1 51, 73 3,3 f. 52 3,7 55 4,1–4 52 14,2 58 24,7 52 46,6 49, 114 47,1 49 48,2 52 54,8 51 56 78 56,1 52, 78 57–64 78 63 76, 78 63,3 77 64 78 66,2 55 68,1–69,6 52 71 78 72,1 58 72,4 58 81,1 53 85,5 55 87,3 50, 52 91,8 72 93,1 50 93,4 52 (Ps.–) Athanasius von Alexandrien Vita Syncleticae 3 111 21 111–113 79 111 103 110
1. Stellen
Augustin von Hippo Confessiones 8,6,15 45 8,12,29 45 De disciplina christiana 15 55 Basilius von Caesarea Regulae fusius tractatae 7,4 48 Callinicus Vita Hypatii Epistula dedicatoria 7 54 Prologus 6–8 58 1,1 56 1,7–8 51 2,8 47 3,8–12 53 3,12 57 5,8–10 48 6,8 52, 57 8,3 53 8,8 54 9,8 52 11,5–7 49 13,2 49 22,6 52 24,1 58 24,103 52 25,1 f. 58 29,2 58 29,3 57 30,4 48 32,14–16 52 33,13 49 36,7 f. 53 44,37 52 48,35 48 50,1 49 53,2 f. 52 53,4 43 53,1.4–6 51 Catull Carmina 1,1 f. 68
Cicero De oratore 1,94 68 In Catilinam 2,1,1 69 Constantius von Lyon Epistula ad Censurium 142 Epistula ad Patientem 148 Vita Germani 1 143 9 142, 146 16 143 23 147 24 140 28 140 Evagrius von Antiochien Vita Antonii abbatis 2,4 72 Gennadius von Marseille Liber de viris inlustribus 19 69 Gerontius Vita Melaniae prol. 1 109 48 109 62 109 Gregor von Nazianz Orationes 21,19 f. 45 Gregor von Nyssa De anima et resurrectione 1 109 Vita Macrinae 12 109 26 109 Gregor von Tours Historia Francorum 2,37 150
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Register
Hieronymus Epistulae 24 89 45 89 Vita Hilarionis 1,1 89, 99 1,3 92 1,4 100 1,6 100 1,8 100 2,3 96 2,5 96 2,6 95, 97 3,1 94 3,10 90, 100 4,4 89, 100 5,7 100 8,6 94 8,7 93 9,1 f. 95 10,5 91 10,10 100 15,1 90, 100 15,2 94 17,5 101 18 95 19,5 101 20,1 90, 101 20,2 95 20,9–11 92 20,10 95 21,1 101 22,3 94 22,5 94 23,6 88 24,4 90, 101 30,1 101 33,1 101 Vita Pauli 1,2 148 7,2 148 Hilarius von Arles Sermo de vita Honorati 45, 60 Historia Augusta Vita Probi
92
Historia Monachorum in Aegypto
45
Horaz Carmina 3,30,1 34 De arte poetica 386–389 69 Isidor von Sevilla Etymologiae sive origines 6,14,8 69 Johannes Cassianus Collationes Prologus I 125 1 125 1,1 128 3 125 4 125 5 125 6 125 7 125 9 125 11 125, 133–135 11 praef. 128 11,1 128 11,2 128 11,3 128 11,4 128 11,5 130 11,6 129 11–13 126 11–17 128 13 126, 131 14 125 14 f. 125 16 125 18 125, 130 19 125 20 125 21 125, 130, 133– 135 21,1 132, 133 21,1–9 133 21,2–5 131 21,10 132 f., 135 21,11 133 21,12 133
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1. Stellen
21–23 126 24 125 Kyrill von Skythopolis Vita Euthymii 18 145 Vita Sabae 6 167 32 168 50–52 149 90 159, 167
Quintilian Institutio Oratoria 4,1,8 69
(Ps.-) Macarius Aegyptus Homiliae 15,42 56 26,17 56
Sallust Bellum Catilinae 1–4 30 1,1–4 34 f. 3,3 30 3,3–4,2 30 4,2 30 4,5 31 5,1–8 31 24,3 f. 32 25 31 40,5 32 61 32 Bellum Iugurthinum 63,2–7 33 95,4 33
Origenes Homiliae in Ezechielem praef. 69
Serapion von Thmuis Epistula ad Antonii discipulos 17 59
Palladius Historia Lausiaca
Sidonius Apollinaris Epistulae
Livius Ab urbe condita 34 107
45
Paulinus von Mailand Vita Ambrosii 1 148 Paulinus von Nola Epistulae 11,11 69 Platon Apologia 17b1–5 69 Politeia 393a–394b 10 Plutarch Alexander 42,6–10 98 Prosper von Aquitanien De gratia Dei et libero arbitrium 126
147
Sozomenus Historia Ecclesiastica 3,14,21–27 87 5,10,1–2 87 5,15,15 87 6,32,2–6 87 Sulpicius Severus Dialogi 1,23 68 2,4,1 49 3,4,2 145 3,13,5 49 3,17,7 45 Epistulae 1 68, 143 Vita Sancti Martini Epistula dedicatoria 67–69 Praefatio 1 142 1 34 1,1 34, 43
184
Register
Tacitus Agricola 1,1 34
1,2 34 f. 1,3 34 1,4 35, 70 1,4 35 1,6 35, 70 1,7 35 2,1 73 2,2 73 2,3 73 2,4 73 2,4 f. 35 2,5 73 2,6 f. 74 2,8 74 3,1 74 3,3 f. 75 3,5 75, 79 4 144 4,3 143 4,7 79, 144 5,6 35 7,7 79 8,3 79 10,2 139 12,5 79 17 78 17,2 79 17,5 79 17,5 f. 79 17,6 f. 78 17,7 79, 142 17,5–7 76 25 f. 35 25,3 72 26,5 79 25,6–8 116
Tertullian De baptismo 17,4 106 Vita Caesarii Arelatensis 1,1 148 Vita Febroniae 20 117 25 117 35 117 43 116 Vita Genovefae 5 150 6 150 12 144, 149 13 149 f. 14 144, 146 35 140 44 145 f. 56 140, 151 Vita Malchi 87 f., 93 3–10 85 Vitae Pachomii Graeca prima 120 59 Vita et miracula S. Theclae Mirac. 45 115 Mirac. Epilogus 114 Vit. 26 114
2. Orte Aila 91 Alexandrien 10, 49 f., 66, 71, 88, 111, 163 Amiens 74 Arles 45, 60, 140, 148 Arpinum 33 Auvergne 148 Auxerre 140, 148, 150
Babylon 92 Bordeaux 67 Britannien 143 Cycladen 101 Dalmatien 88
2. Orte
Gallien 70, 126, 135, 144, 148 Gaza 87 Halmyrissos 48 Jericho 74 Jerusalem 149, 155, 159, 161–163, 165–168
185
Palästina 87, 90, 95, 97, 101 Paris 140 f., 144 f., 149 f., 152 Pelusium 92 f. Phrygien 47, 58 Pistoia 32 f. Rom 33, 89 Rufiniane 47–49, 52 f., 59, 61
Konstantinopel 15, 47, 49, 54, 59, 159 f.
Sizilien 88
Lérins 148 Libyen 88 Lychnos 92 f. Lyon 140 f., 147 f.
Thaubastum 92 f. Thrakien 47, 58 Touraine 139 Tours 66, 140, 144, 146, 148–150
Majuma 87, 90 Marseille 123
Vouillé 150
Nisibis 116
Zypern 88
Worms 144
3. Moderne Autorinnen und Autoren Aigrain, René 86 Alkier, Stefan 3, 6, 13, 46, 59, 61 Altman, Rick 84 Ampelarga, Lamprinē G. 110 Angelini, Anna 1 Harvey, Susan Ashbrook 116 Babut, Ernest Chr. 71 Balmaceda, Catalina 33 Baltzer, Klaus 162 Bareis, J. Alexander 19 Barnes, Timothy D. 5 f., 8, 37, 54, 66, 73, 88 Barrett, Anthony 140 Bartelink, Gérard J.M. 46, 48 Barthes, Roland 9, 86 Benz, Maximilian 45 Berschin, Walter 26, 83 Bertrand, Pascal H.E. 45, 71, 88 Beuken, Willem A.M. 162 f. Binns, John 156, 159 Birkner s. Brunhorn, Christoph Borius, René 140, 142 f. Bremmer, Jan N. 48, 54
Brennecke, Hanns Christof 73 Brock, Peter 73 Brock, Sebastian P. 116 Bruner, Jerome 170 Brunhorn, Christoph 17, 146, 149, 158 Burton, Philip 26 f., 29, 34–37, 66, 74, 76, 79 Burton-Christie, Douglas 157 Cain, Andrew 45 Cameron, Alan 92 Carlyle, Thomas 23 Casiday, Augustine M.C. 125 Chadwick, Nora 140, 148 f. Chadwick, Owen 125, 136 Christensen, Arne S. 140 f., 147 f. Comber, Michael 33 Constantinou, Stavroula 111 Contzen, Eva von 83–85, 91, 94 Coon, Lynda L. 108 Corke-Webster, James 84 Coudry, Marianne 23 Cox, Patricia 37
186
Register
Dagron, Gilbert 48 De Certeau, Michel 4 De Haan, Binne 23 De Jong, Irene J.F. 9–13, 127, 129, 134 De Temmerman, Koen 2, 8, 24, 28 f., 83, 93 De Vogüé, Adalbert 48 Delehaye, Hippolyte 71, 83, 86 Demoen, Kristoffel 2, 24 Diekamp, Franz 159 Dillon, John 8, 37 Dohmen, Christoph 163 f. Draguet, René 158 Dubois, Jacques 141 Duff, Timothy 98 Dupont, Anthony 1
Hasse-Ungeheuer, Alexandra 159 Hatlie, Peter 49, 57 Heinzelmann, Martin 141, 150 f. Heyden, Katharina 4 Hinds, Stephen 13 Hoare, Frederick R. 140 Hofmann, Heinz 25 f. Holthuis, Susanne 13 f., 59, 169 Holze, Heinrich 124 Hombergen, Daniël 159 Hose, Martin 28, 175 Hoster, Dieter 83 Huber-Rebenich, Gerlinde 26, 35, 139 Hwang, Alexander Y. 126
Eco, Umberto 61, 169 Edwards, Mark J. 23 f. Erll, Astrid 7
Jaeger, Stephan 29 Janson, Tore 91 f. Jensen, Anne 107 Jung, Franz 45
Falkenhayner, Nicole 8 Fludernik, Monika 8 f., 11, 83 f., 125 f., 135 Flusin, Bernard 158 Fontaine, Jacques 26, 34 f., 66, 68, 71, 78 Forman, Mary 113 Foucault, Michel 132 Fox, Matthew 86 f. Frank, Karl Suso 110–112, 123 f., 142 Fuhrer, Therese 3, 14, 19, 26 f., 32, 36, 59 Fuhrmann, Manfred 83 Gadamer, Hans-Georg 168 Gandt, Lois 88 Garitte, Gérard 158 Gemeinhardt, Peter 3 f., 8, 15, 25, 28 f., 35, 37 f., 44 f., 47, 49 f., 53–55, 66, 70, 83, 85, 108, 113, 123, 141, 151, 169–171 Genette, Gérard 9–14, 46, 85, 97, 124, 126 f., 129 Götz, Thomas 23 Gray, Christa 15, 25, 29, 45, 84, 88, 93, 98 Griffe, Elie 140 Hägg, Thomas 2, 24, 37 Hammer, Andreas 6 Harnack, Adolf von 73 Harpham, Geoffrey G.H. 108 f.
Iser, Wolfgang 84, 86
Karpp, Heinrich 73 Kaufmann, Paulus 44 Kech, Herbert 83, 86 Kelly, Christopher J. 124, 135 Kindt, Tom 6, 8–12, 21 King, Karen L. 118 Klauck, Hans–Josef 1 Klein, Christian 23 Klein, Richard 68–71 Köppe, Tilmann 6, 8–12 Koestermann, Erich 33 Kötting, Bernhard 151 Kosiński, Rafał 52, 54, 56 Kratz, Reinhard G. 162 Kraus, Hans-Joachim 164–166 Kroon, Caroline 93 Krueger, Derek 85, 156 f., 171 Kuder, Ulrich 74 Lanser, Susan S. 106 f., 120 Larsen, Lillian I. 55 Leclerc, Pierre 89 Levison, Wilhelm 140 Macqueen, D.J. 126, 131 Marincola, John 31
3. Moderne Autorinnen und Autoren
Martínez, Matías 7–9, 11 f., 28, 124 Maxwell, Jaclyn 54 f., 57 McClintock, John 110 Meissner, Henriette M. 109 Mitsis, Phillip 86 Monselewski, Werner 74 Morales, Xavier 54, 89 Moulin, Joanny 23 Müller, Andreas 15, 35, 44 f. Munkholt Christensen, Maria 3, 16, 53, 108, 146 Munslow, Alun 28–30 Muschiol, Gisela 139, 141 Nahmer, Dieter von der 66–68, 71 Nasrallah, Laura S. 108, 119 Nordrum, Lene 19 Nünning, Ansgar 3, 6 f., 106 f., 117, 124 f. Nünning, Vera 3, 6 f., 106 f., 117, 124 f. O’Gorman, Ellen 24 Ohst, Martin 3 Oswald, Wolfgang 164 Pany, Doris 84, 87 Périn, Patrick 150 Poirot, Éliane 50 Poulin, Joseph-Claude 141 Praet, Danny 26 Pratsch, Thomas 128 Prinz, Friedrich 148 Ramsey, John T. 30–32 Rapp, Claudia 6, 157 Rebenich, Stefan 26, 35, 88, 139 Renders, Hans 23 Renger, Almut–Barbara 19 Reynolds, Leighton D. 30, 32 Roggendorf, Simone 7 Rohbeck, Johannes 28 Rohrbacher, David 92 Roldanus, Johannes 52 Roller, Matthew 29 Roukema, Riemer 74 Rubenson, Samuel 55 Sailor, Dylan 27 Sasse, Barbara 150
Schaper, Joachim 163 Scheffel, Michael 7–12, 27 f., 124 Schenk, Christine 105 Schenk, Dorothee 3, 16 Schepens, Guido 24, 25 Schindler, Alfred 36 Schmal, Stephan 33 Schmeidler, Bernhard 92 Schmeling, Gareth 97 Schmid, Wolf 7, 9 Schmitz, Thomas A. 6, 10, 46 Schorn, Stefan 24 Schulz-Wackerbarth, Yorick 44, 71, 86 Seeliger, Hans Reinhard 66 f. Selden, Daniel L. 97 Seybold, Klaus 147 Sieger, Marcus 3 Smolak, Kurt 26, 35 Späth, Thomas 23 Staat, Klazina 83, 93 Stadter, Philip 24 f. Stancliffe, Clare 24, 26, 37, 66 Stanzel, Franz K. 126 f., 129 Steenblock, Maike 32 Steiner, Julia 8 Stewart, Columba 125, 131 f., 135 f. Strong, James 110 Swain, Simon 23 f. Synek, Eva M. 116 Tetz, Martin 75 Thraede, Klaus 15, 59 Tornau, Christian 5, 45, 66, 71 f. Trombley, Frank R. 48 Tsakmakis, Antonis 25 Turner, Peter 27, 29 Utzschneider, Helmut 164 Van der Horst, Pieter W. 155 f. Van Egmond, Wolfert S. 140 f., 147 Van Uytfanghe, Marc 4 f., 35, 83, 139 Vielberg, Meinolf 140 Vretska, Karl 30–32 Walton, Kendall L. 19 Weitbrecht, Julia 6 White, Hayden 28
187
188
Register
Wolpers, Theodor 83
Wilk, Florian 6 Williams, Michael 94 Wittern, Susanne 141, 150 f. Wölfle, Eugen 48, 52 f., 55, 58
Zenger, Erich 163 f. Zerjadtke, Michael 143
4. Sachen Adressaten 10, 16, 93, 118 f., 130, 133 Aktanten (-modell) 37 Altvater → Vater (geistlicher) Ambiguität 13 f., 27, 32, 37 Anachorese, Anachoretentum 48, 53, 123–125, 128, 135 f. Analepse 9 Anknüpfung 5, 44, 70, 77, 80, 167 Anspielung 14, 17, 19, 34, 45, 73, 145 f., 150, 156 Arzt (Heiliger als) 50, 60 Askese 49–52, 58, 71, 73–75, 97, 99, 108 f., 111–114, 120, 124, 132, 139, 160, 170 – Asket, Asketin 15, 17, 27, 48, 49, 52 f., 66, 72–76 Autobiographie 11, 30, 170 – Autohagiographie 11 Autor 3, 5 f., 8–11, 13 f., 16 f., 19, 25, 26, 30 f., 34 f., 37, 44, 60, 68–72, 76, 84–87, 89, 92, 106 f., 114, 118 f., 124, 127, 132– 136, 144, 156–158, 167–171 – Autor-persona 30 Autorität, Autorisierung 4, 16, 19, 44, 46, 52, 57, 94, 95, 98, 105–107, 110 f., 113, 116, 119, 124–126, 134, 149, 169, 171 Bekehrung → Konversion Bibel 2 f., 15, 17, 29, 54–56, 66 f., 76–80, 92, 94, 97, 108, 113, 115–117, 155–163, 169, 171 Bildung 5, 14 f., 19, 24 f., 33, 47, 54–57, 60, 67, 70, 72, 92, 126, 158, 170 f. – Bildungsabstinenz, -verweigerung 50, 56–58 – Bildungskritik 57, 70 – ἐγκύκλιος παιδεία 56 – eines Hagiographen 54, 70, 85, 167 – eines/einer Heiligen 54–58 – und Erziehung 15, 19, 47, 83
– Schulbildung 5, 19, 33, 55 f. 58, 67, 69, 169 → Schule – Unbildung, ungebildet (ἀγράμματος, ἰδιώτης) 55, 57, 58, 72, 116, 133 Biographical turn 23, 28 Biographie 4, 7 f., 24–31, 33–41, 46, 49, 60, 65 f., 71 f., 83, 86, 88, 91, 94, 99, 125, 159 – Aufstiegsbiographie 37 – Bildungsbiographie 54 – Individualbiographie 23 – Kollektivbiographie 45 Bio-Historiographie 14, 23–29 Catilinarische Verschwörung 30 f. Charisma, charismatisch 48, 80, 95, 169 Dämonen 23, 37, 48, 50, 54, 76–79, 87, 90 f., 100, 142 – Dämonenaustreibung 76–79, 87 Demut 58, 74, 80, 128, 130, 132 Dialog 16 f., 26, 35, 45, 71, 112, 114, 123 f., 139 f., 145 f. Diskurs 3–6, 17–19, 24–26, 28, 34–38, 46, 50, 58, 60 f., 83, 86, 107, 126, 171 – biographischer 24, 37 f. – hagiographischer 3–9, 17, 25 f., 36 f., 46, 50, 58, 60 f., 98, 107, 119 f., 123, 139, 148, 151 f. – historiographischer 4, 24 f., 35 Diskursanalyse 28, 86 Distanz und Nähe 9–11, 29, 34, 35, 96, 98, 112 Einsiedler → Eremit Enkomion, enkomiastisch 24 f., 27, 37 Enzyklopädie 13, 61 Epiphanie 76–79, 116 Eremit, Eremitentum 44–47, 49, 50, 55– 59, 71, 73, 111, 124, 169 f.
4. Sachen
Ermahnung 58, 70, 96 Erzählebene 15 f., 97, 109, 126 f., 130, 133– 135 Erzählen, Erzählung 1–12, 16–19, 28–31, 60, 75–79, 83–102, 106–108, 123–136, 142, 146 f., 149, 155–171 – faktuales und fiktionales Erzählen 6, 7, 8, 10, 12, 25, 27, 28 f., 37, 66, 86, 88, 106, 123 f., 126, 134 f. Erzähler 7, 9–13, 15–19, 28, 84–99, 102, 106–109, 111 f., 123–136, 167 – auktorialer Erzähler 12, 16, 30, 88 f., 126, 130 f. – extradiegetischer und intradiegetischer Erzähler 10, 16, 19, 112, 129, 131, 133– 135 – homodiegetischer Erzähler 10 f., 107, 134 – interner und externer Erzähler 10, 12, 134 – primärer und sekundärer Erzähler 10, 127, 129, 133–135 Erzählstrategien 4, 6, 17, 19, 28, 45, 71, 83, 87, 93, 118, 123, 158, 167 Erzählfigur 10–12, 98, 152 Erzählwelt und erzählte Welt 1–7, 14, 17–18, 107, 118, 125, 158, 160, 166–171 Eschatologie 34 f. Ewiges Leben 28, 35 f., 51, 70, 151 Exempla 24, 26, 30, 70, 97, 148 Exemplum Christi 35–37 Exordium, Exordialtopik 2, 35 Exorzismus 76 f., 87, 142, 144, 146, 149 Faktualität 6, 8, 28–31, 99, 124, 134 Fallibilität 26 Figurenzeichnung 43 Figur 10, 12–19, 23, 25, 27–30, 32–38, 43, 57, 84 f., 88, 91, 95, 98, 105, 115–118, 126–135, 140 f., 147–152 – Reflektorfigur 16 f., 127, 133–136 Figuration 17, 29, 115, 125, 144, 168 f. Fiktion, Fiktionalität 6–8, 10, 25–29, 37, 66, 88, 106, 135 Fiktionalisierung (Fiktivierung) 25, 28, 37 Fischer (-predigt) 67, 69 Fokalisator 12, 16, 109, 112, 116, 119
189
– Narrator-focalizer 12, 23 Fokalisierung 10–12, 15, 19, 85, 107, 126, 129–136 – aktoriale (interne) Fokalisierung 12, 127, 134 – auktoriale (Null-) Fokalisierung 12, 126 f., 130, 132–135 – neutrale (externe) Fokalisierung 12, 127 Fortschreibung 53, 162 Gebet 48, 51, 74, 79, 90, 96 f., 114, 125, 128, 143 f., 147, 164 Geist – böser Geist 77, 101 → Dämonen – heiliger Geist 89, 99, 115, 170 Gender, Geschlecht 16, 25, 106–108 Gottgelehrtheit (θεοδίδακτος) 55, 58 Grammatik 47, 56, 96 Hagiographie 1–17, 19, 23, 25–28, 34–37, 43–48, 54, 58–61, 65 f., 70 f., 76, 83–87, 93 f., 98 f., 105–111, 118–120, 123, 128, 139, 141, 143, 145–149, 151 f., 155–160, 166–171 – Hagiographischer Diskurs → Diskurs, hagiographischer Handlungsschema 7, 9, 29, 134 Hegumene 48, 54 Heilig, Heiligkeit 1–8, 10, 14–17, 19, 26 f., 29, 36 f., 43–49, 51–55, 58–61, 65, 70–75, 77–80, 95, 98 f., 108, 112, 116, 131 f., 139, 141, 143, 145, 147–152, 163, 165 – Heiligenviten/-leben 2–7, 10, 15, 36, 46, 59, 83, 85 f., 140 f., 146–148, 158–161, 171 – heilige Texte 3, 19, 73, 77, 113, 116 f., 157 f. → Bibel Heilung 15, 52, 74, 76–78 Heilsgeschichte 80, 168, 171 Heroisierung 23 Historiographie 2, 4, 8, 14, 23–26, 36–38, 67, 70 Historizität 14, 27, 36 f., 88, 106, 163 Holy Man 37 Ikonenmalerei, literarische 14, 36 Imprädiktabilität 7
190
Register
Innovation 43, 59, 160 Institution 5, 96 Intertextualität 4–9, 13–20, 26, 29, 36, 43–47, 50–54, 58–61, 65, 67–71, 75 f., 78–80, 115, 131, 139–141, 144, 146 f., 150–152, 155, 158, 162, 166, 168–171 – begrenzt / unbegrenzt 13 f., 46, 50, 60 – produktionsorientiert 13, 59–61, 141 – rezeptionsorientiert 13 f., 59–61 – textorientiert 13 f., 59 f. Intertextualitätssignale 14, 46, 51, 60 f., 166, 169 Intertextuelle Bezüge 4 f., 13–20, 26, 29, 36, 45 f., 52, 59–61, 65, 67–69, 71, 76, 78–80, 141–152, 158, 166, 168 f. – adversativ 67, 70, 78, 80 Kanonisierung 1, 3 Katechumene, Katechumenat 73–75 Kloster 15, 44, 47 f., 128 f., 140, 142, 156 Klostermönchtum → Koinobitentum Koinobitentum 44, 47 f., 53, 59 Konsul, Konsulat 31–33 Kontextualisierung 24, 33, 38, 106, 158, 166 Kontrastimitation 15, 35, 59 Konversion 35, 45, 74–76, 123 f., 128, 135 Lebenswelt 2, 7, 16 f., 25, 125, 141, 150 Legitimation 17, 72, 105, 126, 132, 134 Lehre 17, 44, 48 f., 53, 58, 74, 77, 128 f., 133, 135 f., 164 – didaktische Tendenz 15, 55, 84–87, 96 f., 116 Lehrer 16, 48 f., 52, 55 f. 58, 60, 90, 105– 120, 123, 128 f. – Elementarlehrer 56 – Grammatiklehrer 56 – Lateinlehrer 56 – Rhetoriklehrer 56 Lehrerin 16, 105–120, Leitbild 1–3, 29, 50, 57, 119, 170 Leitmotiv 156 Leser und Leserinnen 4, 7, 11, 12–17, 28, 31, 35, 58, 60 f., 66, 69, 72, 75, 84–87, 89–93, 97–100, 118, 124, 126 f., 129 f., 132 f., 135, 163, 169 – starker Leser 61 Linguistic turn 86
Macht 24 f., 31, 33, 76–80, 140, 143, 151, 163, 166 – Machtkampf 79 – böse Mächte 37, 79 → Dämon und böser Geist Märtyrer, Märtyrerin 1, 4 f., 16, 27, 43, 93, 95, 115–117 Martyrium 49 f., 54, 117 – Martyrium im Gewissen 49 Martyrologie 66 Memoria, Memorialkultur 24, 30, 34 f. Mentor 55, 57, 94 Metalepse 97 Militärdienst 25, 33, 66, 73 f., 139, 143, 145 f., 150 Modellierung 14, 19, 23, 27–30, 33, 35–37, 46 Modus 10 f., 16, 35, 126 f. – dramatischer (mimetischer) Modus 10 f., 16, 126 – narrativer (diegetischer) Modus 10 f., 16, 126 Motivverbindung 17, 147, 149, 151 Mönch 5, 10, 27, 44, 46 f., 50, 53, 58 f., 65, 71 f., 74, 79, 95, 99, 101, 135, 139, 142, 148, 155–159, 166–170 Mönchtum 17, 44 f., 47, 55, 65, 71, 74, 124, 129 f., 148, 155–159, 167, 171 Mündlichkeit 1, 123 f., 145, 151 Mutter (geistliche) 109 f. Mythos, Mythen 23, 29, 67 Nachahmung 43, 52, 70 f., 129, 139 – imitatio Christi 17, 29, 43, 55, 79, 141 Nachfolge 35 f., 45, 52, 55, 66 f., 75 f., 78 f., 94, 132, 156 Narratee 4 Narrativ 1–13, 15–17, 19, 23–25, 28 f., 31–33, 36 f., 43, 83, 85 f., 88–90, 99–101, 105 f., 109, 118, 123–127, 133–135, 151, 157, 166–168 Narrativierung 28 Narratologie 5–13, 18, 46, 49, 83 f., 86, 106–109, 123–125, 133, 136, 158, 171 – feministische Narratologie 106–109, 120 Nutzen 5, 23, 57 f., 111, 113 f., 119, 123
4. Sachen
Orthodoxie 50, 159 f., 167 Panegyricus, panegyrisch 25, 27, 37 Perfektion 35–37, 111 Performanz 19, 158, Perspektive 7, 10–13, 15–17, 19, 83–99, 106 f., 129, 134 f. → Fokalisator und Fokalisierung Philosophie 4, 25, 28, 34, 37, 44, 47, 56 f., 67 Plagiat 43, 92 Plausibilisierung 1 f., 8, 10, 15, 27, 52, 147, 149–152 Plot 9, 36 – Emplotment 28 Poetik, poetisch 13, 34 Praefatio(nes) 15, 26, 30, 34 f., 67 f., 70 Predigt 1, 56, 131–133 Prolepse 9 Publikum 7, 24, 28, 31, 34 f., 67 f., 109, 118, 146, 149 f., 152 Rahmenerzählung 10, 16, 123, 125–127, 129 f., 134–136 Rezeption 2, 6, 13 f., 20, 44–46, 59–61, 67, 84 f., 91, 99, 155–158, 166–168, 171 – adversativ 67 Rezipienten 7, 10, 14, 18–20, 34, 60, 118, 125, 146, 166, 168–1171 Rhetorik 4 f., 15, 19, 29, 47, 56 f., 67–70, 75, 84 f., 96 f. 99, 120, 157 Rollenzuschreibung 116 Schule 5, 55 f. – Rhetorikschule 5, 19, 67 – Schola Christi 55, – Schulbildung 55, 169 – Schulunterricht 56 Sermo rusticus / piscatorius / incultior 67–69 Sophisten 50, 57 f.
191
Sozialisation 24 Storytelling 5 f. Successio sanctorum 43, 52 σχολαστικός 56 f. Textwelt 1–4, 6 f., 14, 17 f., 60, 113, 118, 124 f., 155, 158, 166 f. Topoi, Topik 4, 15, 19, 29, 31, 34 f., 65, 67– 71, 80, 108, 135, 149 – biblische Topoi 108 Traum, Traumvision 15, 52, 74 f., 157 Typologie, Typologisierung 19, 25, 29, 35, 110 – biblische Typologie 66 – texttypologisch 13, 14, 60 Überbietung 15, 44, 70–72 Unterhaltung 9, 83 f., 96 Unterweisung → Lehre Vater (geistlicher) 15, 43 f., 72, 80, 124 f., 130 Verschmelzung 94, 97, 158, 167 f., 171 Vir Dei / sanctus vir / beatus vir 36 f., 74 f., 79, 130 Volksfrömmigkeit 50 Vollkommenheit 14, 17, 26, 36 f., 49, 51, 71, 126, 131 f. → Perfektion Vorbild → Exempla Wertung 90 f., 94–99 Worldmaking 3, 124 Wüstenvater → Eremit Wunder, Wunderberichte 15, 25, 27, 29, 37, 48, 52, 66, 71, 75–80, 87, 90, 93–95, 101, 114–116, 143 f.. 157, 165 f. Zitat 11, 14, 17, 19, 65, 75, 80, 115, 146, 159, 162, 166 f., 169 Zuschreibung 3, 23, 75, 116