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German Pages XV, 297 [306] Year 2020
Guido Wenski
Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf So erzielen Sie Win-Win-Lösungen im Beschaffungsmanagement
Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf
Guido Wenski
Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf So erzielen Sie Win-Win-Lösungen im Beschaffungsmanagement
Guido Wenski Guido Wenski Consulting Burghausen, Deutschland
ISBN 978-3-658-30438-6 ISBN 978-3-658-30439-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Manuela Eckstein Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
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Dieses Buch ist für Einkäuferinnen und Einkäufer sowie auch Einkaufsleiter mit Personalverantwortung geschrieben, die in technisch ausgerichteten Unternehmen tätig sind und mit Anbietern und Lieferanten verhandeln. Der Fokus liegt auf der Beschaffung strategischer Materialien, besonders sogenannter erklärungsbedürftiger Lieferungen und Leistungen im Investitionsgüterbereich. Hierzu zählen vor allem Maschinen und Anlagen (Equipment), deren Kauf oft umfangreiche Verhandlungen mit einem Paket an Verhandlungsobjekten bedingt. Die Themenauswahl hat sich in praktischen Schulungen bewährt und stellt eine Ergänzung zu meinen beiden Büchern Lösungsorientiert verhandeln im Technischen Vertrieb (Wenski 2019) und Beraterverkauf im globalen B2B-Equipmentgeschäft (Wenski 2020) für Vertriebsingenieure dar. Vier Fünftel des relevanten Verhandlungswissens sind für Ein- und Verkäufer in etwa deckungsgleich. Dieses übergreifende Wissen wird in einem separaten Kapitel dieses Buchs (Kap. 3) zusammengefasst, um weniger erfahrene Verhandler mit den essenziellen Grundlagen vertraut zu machen. Der Schwerpunkt liegt auf den fehlenden 20 Prozent, die den Unterschied zwischen der Kunden- und der Lieferantenperspektive ausmachen. Den Leser erwartet viel Spannendes und Neues aus der Welt der industriellen Beschaffungsgeschäfte, das Vertriebsingenieuren und Account Managern auf der anderen Seite des Tisches in der Regel verborgen bleibt. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf den erweiterten Verhandlungsprozess mit zahlreichen begleitenden Aspekten, die für eine erfolgreiche Einkaufstätigkeit maßgeblich sind. „Einkaufen kann doch jeder“, hören Mitarbeiter in Beschaffungsabteilungen der Unternehmen manchmal von Zeitgenossen, wenn sie erklären, dass ihre berufliche Hauptaufgabe eben Einkaufen ist. Dem sei gleich zu Anfang vehement widersprochen: Das, was der private Konsument beim Shoppen im Einzelhandel
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oder der Tourist auf einem orientalischen Basar treibt, hat nur bedingt etwas zu tun mit dem technischen und kaufmännischen Beschaffungswesen im B2BBereich (Business-to-Business). Der Unternehmenseinkauf ist zwar wie auch die erwähnte Privatperson für die zeitgerechte und kostengünstige Beschaffung von Verbrauchs- und Investitionsgütern zuständig, jedoch wird an die Beschäftigten dieses Kollektivs aufgrund ihrer Einbettung in eine Matrixorganisation, der Größe und Komplexität vieler Geschäfte sowie der betriebswirtschaftlichen und rechtlichen Risiken ein ganz anderer Anspruch gestellt als an einen Verbraucher. Der industrielle Einkauf ist heute eine Serviceabteilung, in der für den geplanten Geschäftserfolg kompetente, für ihre Tätigkeiten geeignete und ausbzw. fortgebildete Mitarbeiter in Kooperation gemeinsam mit internen Auftraggebern und Entscheidern wirken. Ziel ist ein reibungslos funktionierender Beschaffungsapparat, durch den benötigte Waren und Dienstleistungen aller Art pünktlich in der geforderten Menge zu attraktiven Konditionen beschafft werden. Dazu sollten alle an diesem Prozess beteiligten Parteien von den Geschäftsabschlüssen profitieren: Dienstleister und Bedarfsträger, Kunde und Lieferant – die klassische Win-Win-Situation. Zu Einkauf und Beschaffungswesen im Allgemeinen und der Kunst des Verhandelns mit den Anbietern im Speziellen ist bereits eine breite Auswahl an Publikationen verfügbar, die den signifikanten Anteil des Einkaufs am Geschäftserfolg belegen. Dieser Erfolg wird zweifellos durch Einsparungen und Zugeständnisse in Einkaufsverhandlungen (Savings) tatkräftig befördert – eine notwendige, aber lange noch nicht hinreichende Bedingung für den Erhalt der Ertragskraft eines Unternehmens. Zwar sollten Einkäufer stets versuchen, Beschaffungskosten zu reduzieren, denn das Resultat macht sich deutlich stärker im Ergebnis bemerkbar als Umsatzzuwächse – wobei Letztere allerdings ebenso relevant für die Ertragskraft sind. Doch der Erfolg bei der Beschaffung als Teil des Gesamterfolgs einer Gesellschaft wird nicht nur durch die Savings definiert, sondern auch durch eine Reihe weiterer Faktoren, die mit anschaulichen Beispielen, Hinweisen und Vorschlägen beleuchtet werden. In manchen Veröffentlichungen zum Beschaffungswesen taucht der Begriff Nachhaltigkeit auf, der es in den Titel dieses Werkes geschafft hat. Im Buch werden die maßgeblichen Voraussetzungen und Einflussgrößen analysiert und diskutiert, die nachhaltige und damit erfolgreiche Beschaffungsergebnisse erst ermöglichen, was ebenfalls in zahlreichen Tipps, Regeln und Handlungsempfehlungen mündet. Nachhaltigkeit wird dabei im Sinne einer „längere Zeit anhaltenden Wirkung“ verwendet, was die Notwendigkeit der Ressourcenschonung – in unseren Tagen wichtiger denn je – keineswegs in ihrer Bedeutung
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schmälern will. Die unter Berücksichtigung zahlreicher Einflussfaktoren herausgearbeitete Kernaussage (und gleichzeitig das Motto) lautet: Komplexe B2BEinkaufsverhandlungen sind nur dann erfolgreich, wenn sie zu nachhaltigen Vereinbarungen führen. Besonders der Einkäufer steht als zentrale Funktion für das Gelingen im Mittelpunkt, ob nun ein Dichtring für zehn Euro oder eine Großanlage für zehn Millionen Euro zu bestellen ist. Die Kleinbeschaffung wird er sicherlich allein und mit begrenztem Aufwand tätigen; im zweiten Fall kommt ein Verhandlungsteam zum Einsatz, über dessen Zusammensetzung und Wirken hier detailliert berichtet wird. Das volle Potenzial der Beschaffungsmöglichkeiten kann der Einkäufer mit seinen Kollegen allerdings jedoch erst ausschöpfen, wenn er durch ein zeitgemäßes Führungsverhalten des Top-Managements und vor allem des Einkaufsleiters innerhalb einer gut aufgestellten Organisation mit konstruktiver Unternehmenskultur tatkräftig unterstützt wird. Die strikte Befolgung von Gesetzen und internen Vorgaben (Compliance) darf sowohl für ihn als auch für das Gesamtunternehmen nicht verhandelbar sein. Die Anlage und Pflege einer soliden Lieferantenbasis ist mitentscheidend für den Beschaffungserfolg: Den verschiedenen Aspekten im Rahmen des Lieferantenmanagements ist daher wie auch dem Thema Führung ein eigenes Kapitel gewidmet. Ebenfalls mit dem Buchstaben L beginnen die relevanten Begriffe Legal, was auf die Notwendigkeit rechtssicherer Verträge hinweisen soll, und Lernen – ein Fingerzeig auf die Notwendigkeit von Mitarbeiterschulungen. Und letztlich vermag der beste Einkäufer nur wenig auszurichten, wenn Organisation und Geschäftsmodell einer gewinnorientierten Beschaffungstätigkeit im Weg stehen, etwa durch eine verbesserungswürdige Unternehmenskultur, teilweise nicht konkurrenzfähige Produkte sowie enge Absatz- und Beschaffungsmärkte. Die Aufteilung des Textes in Einzelthemen ergibt sich aus dem bisher Gesagten, wobei jedes Kapitel als in sich geschlossen betrachtet werden kann. Kap. 1 führt in die Gegebenheiten des industriellen Einkaufs ein. Kap. 4 analysiert die spezifischen Beschaffungsaufgaben in der dreistufigen Verhandlungsabfolge Vorbereitung – Durchführung – Nachbereitung. Kap. 3 fasst die allgemeinen Grundlagen des Verhandelns zusammen. Kap. 5 erläutert zehn bedeutende Verhandlungsregeln für technische Einkäufer. Kap. 8 schildert die praktische Umsetzung in einer Vergabeverhandlung. Kap. 9 bietet eine Übersicht über die wichtigsten Tipps und Hinweise in den vorausgegangenen Kapiteln. Um Person und Verhalten des Einkäufers und die geforderte Regeltreue ( = Compliance) geht es in Kap. 2, um die Führung der Einkaufsabteilung und die
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Organisation des Unternehmens in Kap. 6. Mit einem weiteren Doppelschlag in Kap. 7 (Lieferantenbetreuung und Geschäftsmodell) ist die ERFOLGsformel mit den sechs wesentlichen Faktoren für ein erfolgreiches B2B-Beschaffungssystem komplettiert. An dieser Stelle sind einige Vorbemerkungen angebracht: • Der Text verweist auf zahlreiche Referenzen, die für das Verständnis der Zusammenhänge hilfreich sind und die Ihnen Hintergründe erläutern, falls Sie daran Interesse haben. Da dies ein Buch für Einkäufer im betrieblichen Umfeld ist, habe ich leicht zugänglichen Quellen mit praxisnahen Inhalten den Vorzug gegeben und wissenschaftliche Schriften nur in Ausnahmefällen zitiert. • Die Verwendung englischsprachiger Wörter lässt sich in einem international geprägten Kontext nicht komplett vermeiden, denn es wäre der Kommunikation nicht zuträglich, wenn man versuchte, etablierte Anglizismen der Fachsprache durch wörtliche Übertragung ins Deutsche zu ersetzen. In vielen Fällen sind diese Anglizismen beim ersten Auftreten kursiv gedruckt. • Auch im Deutschen steckt der Teufel manchmal im Detail: Als Synonyme verwendete Begriffe müssen nicht zwangsläufig dasselbe bedeuten, etwa Unternehmen und Firma – die Firma ist lediglich der Name eines Unternehmens. Ähnlich gravierend ist der Unterschied zwischen Strategie und Taktik. Ich habe mir bei Einkauf, Beschaffung und Materialwirtschaft zugunsten eines flüssigen Schreibstils erlaubt, die betriebswirtschaftliche Genauigkeit hintenanzustellen und auf diese Weise Wortwiederholungen zu reduzieren. Sie lesen daher wahlweise von Einkaufs-, Beschaffungs- oder Vergabeverhandlungen. • Mit Blick auf die Übersichtlichkeit der Ausführungen wird darauf verzichtet, bei Personen betreffenden Angaben jeweils die männliche und weibliche Form zu verwenden, obwohl dies korrekt wäre. Es sind immer beide Geschlechter gemeint. Ich lade Sie nun dazu ein, mich zusammen mit einem jungen Gruppenleiter im Einkauf eines Halbleiterunternehmens durch die mannigfaltigen Aspekte des Beschaffungswesens zu begleiten. Dabei wird klar, dass für die erfolgreiche Einkaufstätigkeit neben SAP-Basiswissen und verhandlungstechnischer Grundlagen eine ganze Reihe weiterer Herausforderungen im kommunikativen, psychologischen, disziplinarischen und rechtlichen Bereich zu meistern sind. im April 2020
Dr. Guido Wenski
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Literatur Wenski G (2019) Lösungsorientiert verhandeln im Technischen Vertrieb. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27448-1 Wenski G (2020) Beraterverkauf im globalen B2B-Equipmentgeschäft. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27450-4
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1 Industrieller Einkauf: eine kreative Spielwiese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Erfolgreiche Einkaufsverhandlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Moderner Industrieeinkauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Externe Angelegenheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.4 Savings: ein einfacher Erfolgsindikator. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.5 Nachhaltige Verhandlungsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.6 Beschaffungs-ERFOLG planen und realisieren. . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.7 Fallbeispiel Equipmentbeschaffung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1 Kompetenzprofil des Einkäufers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2 Erste Verhandlungstipps. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3 Teamverhandlungen im Einkauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4 Motivation von Einkäufern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.5 Compliance im Beschaffungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.6 Bestechung und Bestechlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3 Grundlagen des Verhandelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.1 Verhandlungsregeln: Die Werkzeuge des Einkäufers . . . . . . . . . . . 70 3.2 Grundbegriffe zum Verhandeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.3 Verhandlungsziele und Verhandlungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.4 Hart oder Harvard? Verhandlungsstile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.5 Die Körpersprache des Verhandlers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.6 Verhaltensökonomische Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.1 Aufgaben in den drei Verhandlungsphasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2 Asymmetrische Informationsverteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.3 Vorbereitungsaktivitäten aus Einkäufersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.4 Nachbereitung einer Beschaffungsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.5 Rechtssichere Bestellungen schreiben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.6 Verhandlungscontrolling und -management . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.1 Heimspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2 Von Beginn an hellwach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.3 Respektvolles Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.4 Coole Typen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.5 Preiswerter Einkauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.6 Fragen und Antworten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5.7 Klare Ansage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.8 Vereinfachungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.9 Alleinanbieter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.10 Vertrauen ist gut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 6.1 Stellung, Aufgaben und Kompetenzprofil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6.2 Strategische und operative Ausrichtung des Einkaufs. . . . . . . . . . . 176 6.3 Management und Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6.4 Mitarbeiterführung und Schulung im Einkauf. . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.5 Verhandlungen im Mitarbeitergespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.6 Ein Blick auf die Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 7 Professioneller Umgang mit Lieferanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 7.1 Der Lieferant als Geschäftspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.2 Lieferantenmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 7.3 Sourcing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.4 Rhetorische Konter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 7.5 Zukunftsträchtiges Geschäftsmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
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8 Tagebuch einer Musterverhandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 8.1 Vorbereitungsaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 8.2 Durchführung der Verhandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 8.3 Nachbereitung und Vergabeentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 8.4 Verbraucherkäufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 9 Tipps, Vorlagen und Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 9.1 Übersicht Verhandlungstipps. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 9.2 Verhandlungsplaner für Einkäufer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 9.3 Verhandlungsprotokoll für Anlagenbeschaffungen. . . . . . . . . . . . . 268 9.4 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 9.5 Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Über den Autor
Guido Wenski, promovierter Chemiker, wurde 1960 in Köln geboren. Nach technologisch geprägten Funktionen und einer spannenden Zeit im strategischen Einkauf eines Halbleiterunternehmens arbeitet er seit mehreren Jahren als selbstständiger Verhandlungstrainer, Berater und Autor. Seine Seminare zu verschiedenen Verhandlungsthemen finden in Deutsch und Englisch statt. Bei Springer Gabler sind bereits zwei Praxishandbücher für Vertriebsingenieure erschienen: Lösungsorientiert verhandeln im Technischen Vertrieb (2019) und Beraterverkauf im globalen B2B-Equipmentgeschäft (2020). Dr. Guido Wenski wohnt in Burghausen. Kontakt: [email protected] www.wenski-consulting.com
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Industrieller Einkauf: eine kreative Spielwiese
Es beginnt mit Einkauf, Verhandlungen und Erfolg (eine ambitionierte Kombination, für die es eine Formel gibt), Nachhaltigkeit (im Sinne von längere Zeit anhaltend), Einkaufsorganisationen, Beschaffungsfeldern, externen und internen Angelegenheiten. Und mit den Aufgaben, die einen typischen Einkäufer täglich beschäftigen, sowie dem Auftakt zu einer Equipmentbeschaffung.
Sie halten ein Verhandlungsbuch für Industrieeinkäufer in den Händen, für ein kommerziell geprägtes Umfeld also, in dem sich Kunden bzw. Interessenten und Lieferanten bzw. Anbieter gegenübersitzen. Doch um es gleich vorweg zu sagen: Ein Einkäufer in der Wirtschaft verbringt den geringsten Teil seiner Arbeitszeit am Verhandlungstisch; dies sind quasi die Highlights im Tagesgeschäft, das Sahnehäubchen auf der Fülle der Aufgaben im Rahmen von Beschaffungsvorgängen. Daher scheint geboten, zunächst einen näheren Blick auf Struktur und Tätigkeitsfeld einer modernen technischen Einkaufsabteilung (Kap. 1) und seiner kompetenten Mitarbeiter (Kap. 2) zu richten.
1.1 Erfolgreiche Einkaufsverhandlungen Erfolgreiche Einkaufsverhandlungen – der Titel dieses Abschnitts weist den Weg mitten hinein in die Materie, um die es hier gehen soll. Er enthält drei Kernbegriffe, die zunächst erläutert und kommentiert werden. Unten sowie ausführlicher in Abschn. 1.5 kommt außerdem nachhaltig im Sinne von „anhaltend“ als Adjektiv hinzu, was zum Motto dieses Buchs führt:
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_1
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1 Industrieller Einkauf: eine kreative Spielwiese
Komplexe B2B-Einkaufsverhandlungen sind nur dann erfolgreich, wenn sie zu nachhaltigen Vereinbarungen führen.
Verhandlung Als früherer Industrieeinkäufer und heutiger Verhandlungstrainer stellt für mich das Verhandeln eine besondere, spannende, allgegenwärtige Form der menschlichen Kommunikation dar. Wie an vielen Stellen zu lesen ist, verhandelt der moderne Mensch nahezu ständig, im Beruf wie im privaten Umfeld. Entsprechend umfangreich ist das dazu angebotene Schrifttum, das von Standardwerken über Praxisbücher bis zu Artikeln für einen breiteren Leserkreis reicht. Eine Auswahl von nicht im Text zitierten Titeln ist in Abschn. 9.4 zusammengestellt.
Verhandlung Eine Verhandlung ist eine Gesprächsform über einen kontroversen Sachverhalt, die durch gegensätzliche Interessen der Parteien gekennzeichnet ist und einen Interessenausgleich anstrebt. Dieser Prozess findet mithilfe von Kommunikation und Strategie statt mit dem Ziel, sich widersprechende Bedürfnisse von zwei oder mehr Parteien auszugleichen. Der Rahmen erstreckt sich allerdings weit über die Grenzen dessen hinaus, was im Dialog der beteiligten (bei B2B meist zwei) Parteien am Verhandlungstisch erörtert wird. Die Vorarbeiten für wichtige Beschaffungsverhandlungen müssen nicht selten bereits Monate, wenn nicht Jahre zuvor erledigt werden: Für ein Geschäftsmodell sind Unternehmens- und Einkaufsstrategie zu entwickeln; geeignete Lieferanten müssen identifiziert und vielfach in Kooperation aufgebaut und betreut werden (Sourcing). Im Vorlauf zu einer individuellen Verhandlung sind Spezifikationen zu erstellen, Angebote zu sichten und zu vergleichen, Informationen zu beschaffen sowie Strategie, Taktiken und Ziele innerhalb des Verhandlungsteams bzw. der Organisation zu vereinbaren. Nach der Verhandlung wartet immer noch eine Menge Arbeit: Der Vertrag muss schließlich erstellt und umgesetzt werden. Für den Einkauf abgeschlossen ist ein Beschaffungsprojekt frühestens nach dem Ablauf der Verjährungsfrist für Mängelhaftung (umgangssprachlich „Gewährleistungszeitraum“ genannt).
Ein erfahrener Kollege im Equipmenteinkauf sagte einmal zu mir: „Verhandeln ist eine Sache – aber dann geht die Arbeit erst richtig los.“ Nach den ersten eigenen Beschaffungsprojekten wusste ich, was er damit meinte.
1.1 Erfolgreiche Einkaufsverhandlungen
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Einkauf Wie in Abschn. 1.2 erläutert wird, ist die Abgrenzung des Begriffs Einkauf von den Tätigkeits- bzw. Abteilungsbezeichnungen Beschaffung und Materialwirtschaft teilweise unscharf. Hier soll es primär um die Beschaffung erklärungsbedürftiger Waren und Dienstleistungen durch den strategischen Einkauf gehen, wobei die Verhandlung im Zentrum der Betrachtungen steht. Abnehmer, Auftraggeber, Besteller, Einkäufer, Interessent, Kunde, Prinzipal – dies sind Beschreibungen für Vertreter derjenigen Partei, die in kommerziellen Verhandlungen auf der vermeintlich richtigen Seite des Tisches sitzt, je nach Blickwinkel. Während Verkäufer meist sehr gut vorbereitet in Verhandlungen gehen, sind bei manchem Einkäufer gravierende Defizite zu beobachten, die aus fehlender Routine, mangelhafter Schulung und Fortbildung sowie falschem Selbstverständnis herrühren können; diese Punkte werden in späteren Kapiteln aufgegriffen. Herbert Langwasser
Einige meiner Leser und Seminarkunden kennen die WAFAG, die „Wafer AG“: ein fiktives Unternehmen aus der Halbleiterbranche mit Hauptsitz in Dresden, wobei bisher nie so richtig klar geworden ist, ob es sich etwa um einen Wafer- oder Device-Hersteller oder einen Weiterverarbeiter handelt und was dort genau produziert wird. Die Details sind jedoch für die Konzeption von Verhandlungsszenarien irrelevant. Wichtig zu wissen ist lediglich, dass die WAFAG ein modern geführtes, international tätiges, erfolgreiches Unternehmen ist, das für seine Geschäfte industrielle Großanlagen (Capital Equipment), Dienstleistungen (Services) sowie Hilf- und Betriebsstoffe (Consumables) benötigt. Herbert Langwasser stammt aus Dresden, geht auf die Vierzig zu und ist vom Naturell her ein ruhiger und besonnener, analytisch denkender Zeitgenosse. Während des Studiums war er mehrfach in einem der lokalen Halbleiterbetriebe als Werkstudent tätig. Nach seinem Abschluss als D iplomKaufmann an der TU Dresden konnte er die WAFAG im Vorstellungsgespräch überzeugen, ihm eine Chance im Unternehmen zu geben; er begann als Mitarbeiter im Controlling an einem Standort in der Nähe von München. Nach mehreren Jahren, in denen Langwasser auch mit globalen Aufgaben und Projekten betraut war und mehrfach ausländische Niederlassungen unter anderem in Singapur, Japan und Kalifornien besuchte, wechselte er auf eine interne Stellenausschreibung hin als Sachgebietsleiter (Manager) zum strategischen Einkauf der WAFAG zurück in seine Geburtsstadt.
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1 Industrieller Einkauf: eine kreative Spielwiese
Dort konnte er Anfang 2019 als zuständiger Einkäufer und Verhandlungsführer auf WAFAG-Seite die Beschaffung mehrerer Messgeräte beim japanischen Unternehmen Ishikawa Corp. erfolgreich abwickeln. (Dieser Fall ist – aus Vertriebssicht – in Wenski 2020a ausführlich beschrieben.) Nach dem plötzlichen Weggang seines singapurischen Chefs Daniel Chang zu einem Wettbewerber wurde Herbert Langwasser zum Gruppenleiter (Senior Manager Strategic Procurement) mit Verantwortung für die Beschaffung von Großequipment im Heißprozess- und Messgerätegebiet ernannt. Sein Vorgesetzter ist Thomas Krämer, Mitte Fünfzig, Abteilungsleiter Globaler Technischer Einkauf und obere Führungskraft (OFK), der aus Regensburg stammt und in jüngeren Jahren auf hohem Level Handball spielte. Dieser hatte sich bei der Ishikawa-Beschaffung erfreulicherweise zunächst aus dem aktuellen Verhandlungsgeschehen herausgehalten und lediglich im Hintergrund mitgearbeitet. Herbert Langwasser kommt Anfang August gut erholt aus dem Sommerurlaub zurück. Wir werden von ihm in den weiteren Abschnitten und Kapiteln noch mehrfach hören, denn es steht wieder mal eine größere Investition an. ◄ Erfolg Der Duden (2020a) definiert Erfolg als „positives Ergebnis einer Bemühung“ bzw. das „Eintreten einer beabsichtigten, erstrebten Wirkung“, das deutschsprachige Wikipedia (2020g) als „das Erreichen gesetzter Ziele“.
Erfolge und ihre Bestimmung sind nur möglich, wenn vorher Ziele festgelegt wurden.
Noch kürzer ausgedrückt: Erfolg beruht auf Zielen. (Tracy 2004) Ein erfolgreiches Verhandlungsergebnis bedingt also die Realisierung der vorher gesteckten bzw. intern abgestimmten Verhandlungsziele. Definition und Messung von Erfolgen im Beschaffungswesen hängen stets von der Qualität der Zielfestlegung (s. Abschn. 3.3) ab und liegen oft im Auge des Betrachters. In Abschn. 1.6 wird der Begriff „Erfolg“ allerdings neu formuliert – soviel sei bereits an dieser Stelle erwähnt. Es ist gewöhnlich zu kurz gesprungen, würde man die Bestimmung des Erfolgs nur punktuell am unmittelbaren Ausgang einer individuellen Beschaffungsverhandlung festmachen. Vielmehr sollte neben einer Auswertung der Savings als Maß für den Verhandlungserfolg (Abschn. 1.4) das gesamte Paket der Einflussgrößen und Rahmenbedingungen auf den Prüfstand kommen. Dabei
1.2 Moderner Industrieeinkauf
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erlangt der nichtmonetäre Wertbeitrag des Einkaufs neben der allgegenwärtigen Savings-Betrachtung einen immer stärkeren Einfluss. (Richard 2018, S. 5–9). Als Prämisse für Vertriebsingenieure im Kundendialog gilt: „Ein Verhandlungsergebnis ist dann gut, wenn es von beiden Seiten als fair empfunden wird.“ (Wenski 2019, S. 1) Und weiter: „Die drei Prinzipien des Verhandelns sind sorgfältige Vorbereitung, nachhaltige Ergebnisse, konsequente Umsetzung.“ (Wenski 2019, S. 18) Gemeint ist als Bedeutung von Nachhaltigkeit eine längere Zeit anhaltende Wirkung (Duden 2020b). Und dieser zunächst aus Vertriebssicht formulierte Blickwinkel lässt sich problemlos auf den Einkauf im B2B-Bereich übertragen: Das erfolgreiche Ergebnis einer Vergabeverhandlung basiert weniger auf dem kurzfristigen Triumph, die Gegenseite „besiegt“ zu haben, sondern stärkt die Partnerschaft zwischen Kunde und Lieferant und bietet Zukunftsperspektiven. Erfolgreiche Einkaufsverhandlungen führen zu Ergebnissen, die keine Partei übervorteilen und die Marktposition aller Beteiligten stützen oder sogar stärken. Als erfolgreich kann ein Verhandlungsergebnis und Beschaffungsvorgang dann bezeichnet werden, wenn die Vertragspartner auch in Zukunft wieder gerne Geschäfte miteinander machen wollen. Voraussetzung dafür ist, dass der Kunde und insbesondere der Einkäufer als Verhandlungsführer und Repräsentant dem Lieferanten auf Augenhöhe gegenübertritt. Arroganz, Überheblichkeit und Übervorteilung aufgrund realer oder vermeintlicher Verhandlungsmacht (s. Abschn. 2.1 und 3.3) sind hier fehl am Platz – und in manchen Branchen und Unternehmen dennoch anzutreffen.
1.2 Moderner Industrieeinkauf Die Begriffe Materialwirtschaft und Einkauf werden in der Regel als Synonyme verwendet, was durch die späte Auseinandersetzung der betriebswirtschaftlichen Forschung mit der Funktion bedingt ist. Einkauf bezog sich in der Betriebswirtschaftslehre (BWL) ursprünglich auf die operativen Tätigkeiten zur Versorgung eines Unternehmens mit Gütern und Dienstleistungen, die zur Durchführung des Produktionsprozesses oder der Handelsfunktion benötigt und von dieser Gesellschaft nicht selbst produziert werden. Mit zunehmender Bedeutung des Einkaufs werden unter diesem Begriff vermehrt ebenso strategische Aufgaben zusammengefasst. (Wikipedia 2020f) Die Materialwirtschaft verantwortet primär Verwaltung, Planung und Steuerung der Materialbewegungen innerhalb eines
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Unternehmens und zwischen ihm und seiner Umwelt. Sie koordiniert den Warenfluss zwischen Lieferanten, Kunden, Bedarfsträgern und Lagern und stellt in produzierenden Betrieben die Versorgung der Fertigungsbereiche mit direkten Gütern sicher. (Wikipedia 2020i). Eine weitere betriebliche Funktion, wozu neben einigen anderen Einheiten wie Wareneingang, Logistik und Kreditorenbuchhaltung auch der Einkauf von Ausgangsmaterial zählt, wird Beschaffung genannt. Während sich der Einkauf vor allem mit Marktanalysen, Lieferantenauswahl und -management, Angebotseinholung und Vertragsverhandlungen beschäftigt, also den in diesem Buch behandelten Themen, liegen die Schwerpunkte der Beschaffung im operativen Sektor. Aufgabe ist die Sicherstellung der bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Ausstattung mit Waren und dabei besonders die verlässliche Versorgung der Betriebe mit Material – eine ähnliche Formulierung wie bereits für die Materialwirtschaft angeführt. Das Gegenstück auf Lieferantenseite nennt sich Absatz. (Wikipedia 2020a) Die Bezeichnung „Beschaffung“ wird im Sprachgebrauch ebenfalls statt Einkauf verwendet. (Richard und Berg 2016, S. 4–6).
Für die in Zusammenhang mit dem Warenverkehr eines produzieren den Unternehmens verwendeten Begriffe Beschaffung, Einkauf und Materialwirtschaft existieren betriebswirtschaftliche Definitionen, die durch Überschneidung und flexible Auslegung keine exakte Abgrenzung der Bereiche erlauben. Im vorliegenden Werk wird Einkauf als übergreifende Organisations- und Tätigkeitsbezeichnung verwendet.
Wertschöpfung durch den Einkauf Die Bedeutung der Leistungen im Einkauf eines modernen Industrieunternehmens kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, egal ob es sich um eine mittelständische Gesellschaft oder einen mit Standorten weltweit präsenten Großkonzern handelt. Seit den 1990er Jahren hat sich der Anspruch an die Beschaffungsabteilungen durch eine Verringerung der Fertigungstiefe großer Unternehmen weiter erhöht; die von ihr verantworteten Ausgaben umfassen in den meisten Branchen den größten Kostenblock. (Lentz 2005, S. 7) Die Zeiten, in denen der vermeintlich übermächtige Einkauf lediglich monetäre Vorteile zu erzielen versuchte, sind zwar in vielen Unternehmen vorbei (vgl. M+M 2018). Dennoch wird regelmäßig viel Geld verschenkt, weil bestimmte Grundvoraussetzungen für das erfolgreiche Arbeiten nicht konsequent umgesetzt werden. Vielfach ist die Beschaffung immer noch zu stark auf die Erarbeitung von Preisreduktionen fixiert, denn ihre Leistung wird oftmals primär
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Abb. 1.1 Der lange Hebel des Einkaufs
über die verhandelten Konzessionen des Lieferanten (mit den Savings als Kennzahl, Abschn. 1.4) gemessen. Hauptaufgabe dieser internen Serviceabteilung ist keineswegs das Verhandeln von Preisreduktionen mit den Lieferanten, sondern die Sicherstellung der im Rahmen der Unternehmensorganisation notwendigen Beschaffungsvorgänge zu möglichst vorteilhaften Konditionen – mit allem Drum und Dran. Und das bedingt eine Menge Aufwand zusätzlich zu dem, was am Verhandlungstisch passiert. Ein kompetenter Einkauf unterstützt die Ertragssteigerung, indem seine Mitarbeiter ohne Tunnelblick auf Kosteneinsparungen (s. auch Abschn. 1.5) durch Einbindung in die Gesamtabläufe, insbesondere in die Produktentwicklung, bereits frühzeitig gestalterisch tätig sind. (M+M 2019) Der Einkäufer wird als Wertschöpfer im Unternehmen angesehen, und der Leiter des Einkaufs (Kap. 6) sollte unbedingt an den strategischen Entscheidungen der Geschäftsleitung teilhaben. (Brill 2005)
Der Gewinn liegt in der Beschaffung
„Ein um ein Prozent geringerer Materialkosteneinsatz erzielt bei einer Umsatzrendite von fünf Prozent denselben Ergebnisbeitrag wie ein Umsatzplus von 11,4 Prozent.“ Rainer Nowak, BSH (Scheytt (o. J.))
Die Hebelwirkung (Abb. 1.1) kennt natürlich jeder Einkaufsleiter und kann sie meist mit bemerkenswerten Zahlen belegen. Unklar ist vielerorts jedoch, wie dieser Hebel zum Einsatz kommt. Die Mitarbeiter einer Beschaffungsabteilung verstehen sich heute als Dienstleister (Business Partner) für die Bedarfsträger im Unternehmen sowie als Kontaktperson und Verhandlungs- bzw. Vertragspartner für die Lieferanten. Arrogant, ungehobelt und unangemessen fordernd auftretende Einkäufer der alten Schule (Old School; s. Wenski 2019, S. 23–24) stellen inzwischen die Ausnahme
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dar, da sich ihre Strategie der Einschüchterung als nicht optimal für das Erreichen bestmöglicherer Verhandlungsergebnisse erwiesen hat.
Die Zyniker vergangener Tage werden im modernen Einkauf nicht mehr gebraucht.
Organisation des Einkaufs In kleinen Unternehmen wickeln ein oder zwei Personen die gesamte Bandbreite der Aufgaben im Beschaffungswesen ab: Lieferantensuche, Verhandlung, Bestellung, Logistik, Vertrags- und Rechnungsprüfung, Lagerhaltung, Qualitätsmanagement usw. Eine größere Gesellschaft hat für jede dieser Funktionen eigene Gruppen bzw. Abteilungen, die in einer Matrixorganisation zusammenwirken. Im Rahmen dieser Betrachtung soll der Blick hier vor allem auf den strategischen Einkauf gerichtet werden. Seine Mitarbeiter sind zusammen mit den entsprechenden Pendants auf interner Kunden- bzw. Bedarfsträgerseite – wie Ingenieurtechnik und Prozessentwicklung – dafür verantwortlich, Alternativanbieter zu finden, zu prüfen und aufzubauen, die als Wettbewerber für bestehende Lieferanten infrage kommen oder gar verbesserte Leistungen offerieren können (zum Thema Sourcing s. Abschn. 7.3). Sie sind federführend im Dialog mit den Lieferanten, verantworten unter anderem deren Bewertung, betreiben Risikomanagement und streben die Schaffung eines ausgewogenen Lieferantenportfolios an (mehr dazu in Kap. 2 und 6). Strategische Einkäufer sind im Allgemeinen für mehrere, auch internationale Standorte ihrer Organisation zuständig und fördern eine globale Harmonisierung der Vertragsbedingungen. Operative Einkäufer wickeln dagegen überwiegend Warenbeschaffungen an einem Standort auf der Basis der Vorarbeit des strategischen Einkaufs ab und sichern damit die verlässliche Versorgung der Produktionsbetriebe mit Material. (Wenski 2020a, S. 38–40) Während der operative Einkauf zeitnahe administrative und ausführende Einkaufstätigkeiten wahrnimmt, trägt der strategische Einkauf die Verantwortung für langfristige Aufgaben. (Richard und Berg 2016, S. 7)
Zentraler oder dezentraler Einkauf?
Man unterscheidet verschiedene Arten von Beschaffungsstrukturen. In einer dezentralen Einkaufsorganisation besitzt jede Geschäftseinheit bzw. jeder Standort seinen eigenen Einkauf, der eigenständig und ohne
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Abstimmung mit anderen Einheiten agiert. Dagegen findet die Beschaffung durch einen Zentraleinkauf an nur einer Stelle im Unternehmen statt, die für sämtliche Tätigkeiten die Verantwortung trägt und alle anfallenden Aufgaben übernimmt. Die Vorteile eines Konzepts (z. B. Bündelung, Transparenz, kurze Entscheidungswege und Lieferzeiten) sind gleichzeitig die Nachteile des anderen. In der Praxis gibt es nicht die richtige Organisationsform, sondern die Entscheidung für eine Variante ist abhängig von mehreren Einflussfaktoren, wie etwa Größe und Marktstruktur. Die vielfach anzutreffende hybride Einkaufsorganisation ist daher eine Mischform, welche die Vorteile aus beiden Konzepten kombiniert. (Richard und Berg 2016, S. 8–9)
Das Einkaufsspektrum eines Unternehmens bzw. die daraus abgeleiteten Warengruppen lassen sich differenzieren in direkte und indirekte Bedarfe. Der direkte Einkauf beschreibt die Beschaffung von Materialien, die direkt ins Endprodukt einfließen, und bildet in den meisten Gesellschaften das Kerngeschäft im Einkauf (geschätzte 70 bis 85 Prozent des Gesamteinkaufsvolumens im produzierenden Gewerbe). Alle anderen Beschaffungskategorien werden über den indirekten Einkauf gesteuert. (Richard und Berg 2016, S. 6). Beschaffungsfelder Die Fülle und Vielseitigkeit der Beschaffungsfelder in der Industrie und der damit verbundenen Herausforderungen ist enorm, sodass es den dort Beschäftigten kaum langweilig werden wird; nachfolgend einige Beispiele: • Wasser und Energie (Kontakte zu Versorgern und teilweise Energiebörsen) • Roh- und Grundstoffe (bei Großanbietern und Zwischenhändlern, an Rohstoffbörsen) (Abb. 1.2) • Hilfstoffe und Verbrauchsmaterialien (Chemikalien, Ofeneinbauten, Schrauben u. v. m.) • Halbzeuge (zur Weiterverarbeitung in der Produktion) • Maschinen, Anlagen, Versorgungseinrichtungen usw. (Equipment) • Ersatzteile und Werkzeuge • Dienstleistungen aller Art (Reparatur, Wartung, IT, Logistik, Lagerhaltung, Fuhrpark, Personal, Reise, Planung, Konstruktion, Bau, Beratung, Schulung, Zertifizierung, Geschäftsabschluss u. Ä.) • Rechte (wobei etwa Lizenzen vielfach von der Rechts- oder Patentabteilung beschafft werden)
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Abb. 1.2 Beschaffung von Grundstoffen und zugehöriger Infrastruktur: Aufgabe des Einkaufs
• • • •
Projekteinkauf (z. B. Infrastruktur, Ausrüstung) (Abb. 1.2) Verpackungen und Frachten Büroartikel, Ausrüstung für Informationstechnik (IT) und Software Werbung und Marketing
Abb. 1.3 zeigt eine schematische Übersicht über die Typen von produktionsrelevanten Materialien. Hebelmaterialien sind in der Regel einfach erhältlich, das heißt das Beschaffungsrisiko ist gering. Ganz anders sieht es bei strategischen Materialien aus: Sie sind schwer zu beschaffen, und ihr wertmäßiger Anteil am Beschaffungsvolumen ist gewöhnlich hoch. Der Einkauf von Standardmaterialien sollte möglichst einfach abzuwickeln sein und standardisiert oder fremdvergeben werden. Für Engpassmaterialien stehen typischerweise nur wenige Lieferanten
1.3 Externe Angelegenheiten
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Abb. 1.3 Warengruppenportfolio. (In Anlehnung an Richard 2017, S. 22; mit freundlicher Genehmigung von © BME e. V. All Rights Reserved)
zur Verfügung, und das Bestreben ist, diese durch Standardmaterialien zu ersetzen. (Richard und Berg 2016, S. 15–16). Daneben kennt man noch Commodities, die fünfte Warengruppe in Abb. 1.3 – ein kaum präzise ins Deutsche übertragbarer Anglizismus (Wirtschaftsgüter, Rohund Verbrauchsstoffe trifft den Kern nur teilweise) für an Börsen gehandelte, normierte und in der einzelnen Art homogene Handelswaren. Darunter können Rohstoffe und auch standardisierte Investitions- und Konsumgüter fallen. (Wikipedia 2020c) Charakteristisch sind die Handelbarkeit und das Vorliegen eines Marktwerts, der sich im regelmäßigen Handel bzw. an Spot- und Derivatmärkten bildet. Die Preisbildung von Commodities erfolgt rein distributiv (s. Abschn. 3.2). Interessanterweise folgt diese Art der Darstellung derselben Systematik wie die Abbildung der fünf typischen Verhandlungsstile in Abb. 3.2 (vgl. auch Abb. 6.5).
1.3 Externe Angelegenheiten In der Regel sind es die strategischen Einkäufer, welche die größeren und komplexeren Verhandlungen meist mit Unterstützung interner Kollegen vorbereiten und durchführen, etwa über die Beschaffung von Investitionsgütern oder mittels Rahmenverträgen für Warenlieferungen bzw. Dienstleistungen. Abb. 1.4 zeigt das Dreiecksverhältnis Verhandler (der Einkäufer als Verhandlungsführer), Fachmann und Führungskraft. Der Fachmann ist der zuständige Techniker, Ingenieur, Entwickler und/oder Bedarfsträger, vereinfacht gesagt derjenige, der
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Abb. 1.4 Der Einkäufer als Verhandler im internen Dialog
das zu beschaffende Produkt oder die Leistung spezifiziert und anfordert und sich um die Finanzierung kümmert. Die Führungskraft kann Vorstand, Geschäftsführer oder Abteilungsleiter sein, gehört also dem Top- bzw. oberen Management an, und ist letztlich für die finale Beschaffungsentscheidung und die Mittelbereitstellung zuständig. Diese grob vereinfachte Sicht auf die Dinge hilft dem Einkäufer als Verhandler, seine unmittelbare Position im Unternehmen zu erfassen. Etwas vollständiger wird das Bild, wenn wie in Abb. 1.5 dargestellt das abgebildete Dreieck um 30 Grad nach links gedreht und mit der entsprechenden Situation im Unternehmen des Verhandlungspartners ergänzt wird. Der Einkäufer sitzt als Verhandlungsführer dem Verhandler der Gegenpartei (Verkäufer, Vertriebsingenieur und/oder Account Manager) in der Arena gegenüber, und gemeinsam streben sie gemäß der Definition von „Verhandlung“ in Abschn. 1.1 einen Interessenausgleich an. Beide stecken in derselben Dreiecksbeziehung innerhalb ihrer Organisation und können nicht völlig frei agieren. Die beiden Verhandler werden am Tisch unterstützt von einem oder mehreren Fachleuten (z. B. dem Bedarfsträger auf Kunden- und dem Konstrukteur oder Entwickler auf Lieferantenseite). Die Führungskraft als Entscheidungsträger und höhere Ebene sollte sich auf beiden Seiten zunächst im Hintergrund halten (s. Abschn. 2.3 und 6.3).
Abb. 1.5 Einkäufer und Verkäufer in einer Verhandlung
1.3 Externe Angelegenheiten
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Abb. 1.6 Das Umfeld des Verhandlers (vereinfachte Darstellung)
Für die Komplettierung des Gesamtbildes ist zu berücksichtigen, dass die Matrixorganisationen auf beiden Seiten viel weiter verzweigt sind, was Abb. 1.6 schematisch andeutet. Dabei kommen neben den genannten Instanzen Verhandler (= Einkäufer), Fachmann (= Bedarfsträger) und Führungskraft (= Entscheider) andere Organisationseinheiten ins Spiel, etwa die Produktion (sie ist gewöhnlich der interne Kunde), Finanz- und Rechnungswesen, Controlling, Qualitätsfunktionen, vielleicht sogar die Rechts- und Steuerabteilung. Das Bild ist also noch keineswegs umfassend, vermittelt jedoch einen verbesserten Eindruck. Bei der Betrachtung von Abb. 1.6 fällt auf, dass durch das Schema eine imaginäre Linie geht, welche die schwarz dargestellten Funktionen (in der eigenen Organisation) links im Bild und diejenigen in andersfarbiger Schrift rechts (Verhandlungspartner) trennt. Dies soll darauf aufmerksam machen, dass bei allen Vorgängen zwischen internen und externen Angelegenheiten klar zu unterscheiden ist. Jeder Verhandler, vor allem jeder Einkäufer, muss sich – obwohl dies wider besseres Wissen in den Entscheidungsebenen nach wie vor nicht durchgehend anerkannt wird – folgenden Leitsatz merken:
Externe Angelegenheiten sind in jedem Fall wichtiger als interne.
Insbesondere bei rechtlich verbindlichen Willenserklärungen und Vereinbarungen – wie Bestellungen, Verträgen usw. – ist die Beachtung dieses Merksatzes essenziell, um Nachteile verschiedener Art zu vermeiden. Und beispielsweise bei Budgetierungs- und sonstigen finanziellen Fragen wäre es in vielen Fällen töricht, dagegen zu verstoßen. Ich hatte in meiner Tätigkeit als Einkäufer und Verhandler
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manchmal (selten!) mit internen Bedarfsträgern zu tun, die sich lieber mit dem netten Lieferanten verständigt haben, als zum zuständigen Vorstandsmitglied im eigenen Unternehmen zu gehen und die Entscheidung für eine finanziell günstigere Lösung selbstbewusst zu diskutieren. Jede Organisation sollte die Kultur besitzen, dass kein Mitarbeiter auch nur einen Euro zu viel ausgibt, weil ihm der Mut fehlt, sich mit seinem Abteilungsleiter, Geschäftsführer oder Vorstand auseinanderzusetzen (vgl. Abschn. 6.6). In der Praxis bedeutet dies etwa, dass sich bei einem Werkvertrag die Abnahmeerklärung nicht damit begründen lässt, dass die Restgelder zum Jahresende ausgegeben werden müssen, oder dass Investitionsbudgets keineswegs so rigide gehandhabt werden, dass signifikante Kostenvorteile durch vorgezogene Bündelung notwendiger Beschaffungen ungenutzt bleiben. Beispiele
• Beispiel 1: Ein im Rahmen eines Werkvertrags beschafftes Equipment ist aus technischen Gründen noch nicht abnahmebereit, und es stehen relevante Nachbesserungen durch den Hersteller aus. Allerdings streben die Verantwortlichen eine Schließung des Projektkontos zum Jahresende an, und der Projektingenieur wird aufgefordert, trotz der Defizite die Abnahme zu erklären, damit die Restzahlung erfolgen kann. Hoffentlich tut er das nicht, denn dadurch würde die Rechtsposition seines Arbeitgebers verschlechtert – das Projekt kann genauso gut später abgeschlossen werden. • Beispiel 2: Der Kunde plant einen Ausbau seiner Fertigungskapazität; dazu wird für das Folgejahr ein entsprechendes Budget bereitgestellt, das von der Unternehmensleitung bewilligt ist. Ein Lieferant von Großanlagen hätte schon im laufenden Jahr aus buchungstechnischen Gründen gerne die Bestellung und wäre unter diesen Umständen zu einem zusätzlichen Preisnachlass bereit. Dann sollte der entsprechende Beschaffer mit dem Budgetverantwortlichen darüber diskutieren und die Beschaffung nicht einfach laufen lassen wie geplant – falls die Kaufentscheidung auf soliden Füßen steht, ist dies leicht gespartes Geld (s. Abschn. 1.4). • Beispiel 3: Mitarbeiter aus der Engineering-Abteilung des Kunden denken darüber nach, ein komplexes (und teures) Messgerät bereits im Dezember ausliefern zu lassen, um mittels Wareneingangsbuchung das Budget des laufenden Geschäftsjahres zu belasten. Doch weist das System im jetzigen Zustand Mängel auf, die unter signifikantem Aufwand für beide Seiten am endgültigen Aufstellort im Produktionsbetrieb behoben werden müssen. Die Lieferung sollte unter diesen ungünstigen Rahmenbedingungen unbedingt unterbleiben (s. auch Abschn. 2.5 zum Thema Regelbefolgung). ◄
1.4 Savings: ein einfacher Erfolgsindikator
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1.4 Savings: ein einfacher Erfolgsindikator Das erste Angebot des Lieferanten entspricht in nahezu allen Verhandlungen nicht dem endgültigen Paketpreis, der schließlich im Vertrag aufgeführt ist. Ein umsichtiger Anbieter hat insbesondere bei größeren Umsatzgeschäften im Angebot so viel preisliche Reserve einkalkuliert, dass unter Berücksichtigung der Deckung späterer Ausgaben – beispielsweise für umfangreichere Nachbesserungsarbeiten im Feld oder Verzögerungen beim Unterlieferanten – noch ausreichend Verhandlungsspielraum im Dialog mit dem Einkauf besteht. Eine typische Konzessionsstrategie für den Equipmenteinkauf könnte die Stufen 80 → 95 → 99 → 100 Prozent des späteren Einigungspreises einplanen. Markup vs. Savings Den in einer Verhandlung zur Disposition stehenden Aufschlag auf ein Angebot nennt man Markup. Der Lieferant baut ihn bewusst bei der Konzeption seines Angebots mit ein: Je weniger der Kunde davon abzwickt, desto mehr Gewinn bleibt für ihn selbst übrig. Aufgabe des Einkäufers in einer Verhandlung ist es vereinfacht ausgedrückt, im Gespräch herauszufinden, in welcher Größenordnung sich dieser Markup bewegt, um den Preis des Verhandlungsgegenstands durch taktisch kluges Vorgehen um einen möglichst hohen Anteil zu reduzieren. Damit ist die Zielsetzung für Einkaufsverhandlungen bereits relativ klar umrissen. Die Erfolgskennzahl dafür wird in Beschaffungsabteilungen neudeutsch als Savings („Ersparnis“) bezeichnet.
Savings sind alle Zugeständnisse, die der Verhandlungspartner auf Lieferanten seite im Rahmen einer Verhandlung macht und die einen in Geld messbaren Wert darstellen, also Nachlässe, kostenfreie Zugaben, zusätzliche Leistungen etc. Savings sind somit die Einsparungen, die in der Verhandlung oder – weiter gefasst – durch die Aktivitäten des Einkaufs erzielt werden, und sind inzwischen unter anderem für den Investitionsgütereinkauf wissenschaftlich gut untersucht (vgl. Maucher 2013 und dort zitierte Literatur). Der erste Schritt zur Einordnung eines Verhandlungsergebnisses führt in den meisten Unternehmen über eine Berechnung der Savings, die in der turnusmäßigen internen Berichterstattung eine finanztechnisch relevante Kennzahl mit mehr oder weniger hoher Aussagekraft repräsentieren. Savings werden entweder als absoluter Wert oder in Prozent vom Ausgabevolumen, eventuell getrennt nach verschiedenen strategischen oder operativen Beschaffungsfeldern, ausgewiesen. Hohe Savings
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sieht das Management eines Unternehmens in erster Näherung als Indiz für eine erfolgreiche Einkaufstätigkeit an. Allerdings hat Maucher (2013, S. 202–207) festgestellt, dass hohe Savings in der Equipmentbeschaffung primär über die Angebotsauswahl und weniger durch das Verhandlungsergebnis bewirkt werden. Für Savings existieren im Detail variierende Definitionen, die jedoch in eine ähnliche Richtung gehen; darunter ist alles zu verstehen, was sich in Geldbeträgen ausdrücken lässt und die Kosten des Verhandlungspakets reduziert.
Beispiele für Savings-relevante Einsparungen
• Markterfolg (bei mehreren gleichwertigen Angeboten Preisdifferenz des Favoriten vom Mittelwert aller Angebote; der Wert kann auch negativ sein) • Nachlass vom Angebotspreis, der entweder ausgehandelt oder vom Lieferanten bereits vorab gewährt wurde • Verbesserung der Zahlungsbedingungen (Ansatz eines fiktiven Risikozinses) • Verbesserung bei den Transportklauseln • Verlängerung der Verjährungsfrist für Mängelhaftung (Aufwand für den Lieferanten bei Großanlagengeschäften: rund 2 bis 5 Prozent vom Anschaffungspreis pro Jahr) • kostenlose benötigte weitere Lieferungen und Leistungen Eine beispielhafte Savingsberechnung aus dem Equipmenteinkauf findet sich in Abschn. 8.3.
An dieser Stelle sei davon abgeraten, dass sich Einkäufer auf das Gebiet des Hedgings, der Währungskurssicherung, verirren. Die meisten Lieferanten im internationalen Geschäft haben klare interne Vorgaben, in welcher Währung sie ihre Leistungen anbieten – in der Regel in der Heimatwährung, falls es sich um starke Währungen wie US-Dollar, Euro oder Yen handelt. Doch in Ausnahmefällen besteht eine Wahlmöglichkeit, welche Währung dem Beschaffungsvertrag zugrunde liegen soll. Die Richtlinien und Vorgaben auf Kundenseite müssen in diesem Fall von der Finanzabteilung kommen, vertreten in einer Aktiengesellschaft durch den Finanzvorstand (Chief Financial Officer, CFO). Dieser ist mit seinen Mitarbeitern für die aktuellen Deckungsgeschäfte verantwortlich und hat den Überblick, wie vorteilhaft vorzugehen ist – nicht der Einkäufer. Unerfreulich für Letzteren ist außerdem folgende Festlegung:
1.4 Savings: ein einfacher Erfolgsindikator
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Preissteigerungen bei identischer Spezifikation bedeuten negative Savings.
Nicht als Savings gelten im Allgemeinen Kosteneinsparungen durch verbesserte Prozesse, höhere Ausbeuten oder reduzierte Verbräuche in der Fertigung; dies bezeichnet man in der Fachsprache als Cost Reduction oder Cost Avoidance (Kostenvermeidung). Dasselbe trifft auf Einsparungen zu, die durch Austausch eines teureren durch ein kostengünstigeres Ausgangsmaterial zustande kommen, da auch hier die Ursache nicht primär in einer Verhandlungsleistung liegt. Selbstverständlich verbessern derartige Kostenoptimierungen die Gewinnsituation ebenfalls in vollem Umfang (Wenski 2016). Die reale Verhandlungsleistung Wesentlich schwieriger als die Berechnung von Savings nach den aufgeführten Kriterien gestaltet sich eine realistische Erfassung der wahren Verhandlungsleistung. Während der Einkäufer eines Großkunden beispielsweise bei der Beschaffung einer Anlage mit einem Listenpreis von zwei Millionen Euro und einem mehr oder weniger feststehenden Hausrabatt von 20 Prozent stolze 400.000 Euro als Savings ausweisen kann, klingt der 21. Prozentpunkt, der durch eine hartnäckige, akribisch vorbereitete und strukturierte Verhandlungsführung erzielt wird, reichlich unspektakulär. Dabei sind es gerade diese 20.000 Euro, welche die wirkliche Leistung eines guten Verhandlungsteams auf Kundenseite numerisch ausdrücken. Das führt zum Schluss, dass Savings als Kennzahl für den Verhandlungserfolg des Einkaufs nur sehr bedingt tauglich sind. Die Steuerung der Einkaufsabteilung eines Unternehmens lediglich anhand der Savings-Quote kann dazu führen, dass sich die Einkäufer auf die für dieses Ziel lukrativsten Beschaffungen konzentrieren und unter dem Strich wertschöpfendere Projekte und Potenziale vernachlässigen. Externe Einkaufsberater machen (aus Sicht der beratenen Gesellschaften) denselben Fehler, wenn sie sich in ihren Aktivitäten auf derartige günstige Gelegenheiten (Low-hanging Fruits) beschränken. Im schlimmsten Fall (mit Bezug zu Abschn. 2.5 und 2.6) stellt sich – oft sogar ohne Worte – zwischen Beschaffung und Vertrieb ein Einverständnis ein, dass Angebote mit ausreichend Luft für respektable Preisnachlässe ausgestattet werden, mit denen der Einkäufer anschließend glänzen kann (Wenski 2016). Die Erkenntnis liegt nahe, dass ein modifiziertes Vorgehen, dessen Basis ein realistisch definiertes und intern mit dem Verhandlungsteam und gegebenenfalls mit der Unternehmensleitung abgestimmtes Verhandlungsziel ist, wesentlich sinnvoller sein dürfte, denn:
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Der Erfolg einer Verhandlung lässt sich anhand der Abweichung des Erreichten von der Zielfestlegung ablesen.
Dazu müssen sich die Beteiligten bereits im Vorfeld auf einen Zielkorridor für den Wert des Verhandlungspakets, insbesondere den Kaufpreis, verständigen, der vom besten Preis (dem aus Kundensicht niedrigsten Preis) und dem Walk-out-Preis (dem höchsten gerade noch akzeptablen Preis) begrenzt wird (vgl. Abschn. 3.2). In diesem Korridor lässt sich der Zielpreis unter Einbezug aller verfügbaren Informationen und Rahmenbedingungen vorab vereinbaren. Auf die zugrunde liegende Thematik des Teamansatzes (Abschn. 2.3) und der Zielfestlegung (Abschn. 3.3) wird später ausführlicher eingegangen. Eine Abweichung des letztlich erzielten Ergebnisses zur schlechteren Seite hin (etwa über einen höheren Preisabschluss durch den Einkäufer) ist nicht unbedingt als Manko zu sehen, solange sie innerhalb des Erwartungskorridors bleibt; eine deutliche Differenz zur positiven Seite könnte für zu wenig fordernde Ansprüche ebenso wie für eine sehr gute Verhandlungsleistung sprechen. Punktlandungen wären optimal. In der Praxis wird es Resultate mit Über- und Unterschreitung des Zielpreises geben. Lässt sich dieser im Mittel durchsetzen, spricht dies für eine solide Verhandlungsvorbereitung und -planung (Wenski 2016; s. auch Abschn. 4.3 und 4.6).
1.5 Nachhaltige Verhandlungsergebnisse Wie im Vorwort und in Abschn. 1.1 unter dem Stichwort „Erfolg“ angedeutet, existieren für Nachhaltigkeit unterschiedliche, jedoch wesensverwandte Definitionen.
Nachhaltigkeit Unter dem vom Verb nachhalten abgeleiteten Begriff Nachhaltigkeit versteht man in der allgemeinen Wortbedeutung eine längere Zeit anhaltende Wirkung. (Duden 2020b) Zwei weitere, eng miteinander verwandte Bedeutungen von Nachhaltigkeit sind vor allem in der heutigen Zeit von Umweltzerstörung, Artenschwund und Klimawandel noch stärker im Fokus (Abb. 1.7) und gehen auf Hans Carl von Carlowitz (1713) zurück: • die ursprüngliche Bedeutung als forstwirtschaftliches Prinzip, nach dem nicht mehr Holz gefällt werden darf, als jeweils nachwachsen kann
1.5 Nachhaltige Verhandlungsergebnisse
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Abb. 1.7 Nachhaltigkeit bedeutet Ressourcenschonung, aber auch längere Zeit anhaltende Wirkung
• die moderne, umfassende Bedeutung im Sinne eines Prinzips, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann (Duden 2020b; Wikipedia 2020k; für den Beschaffungsbereich s. Richard 2017, S. 36–47) Der Club of Rome machte bereits 1972 in seiner Studie „Die Grenzen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972) deutlich, dass, falls die (damalige) Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde in naher Zukunft (man schätzte 1972 optimistisch „im Laufe der nächsten hundert Jahre“) erreicht werden (Wikipedia 2020e). Dennoch hatte der Begriff Nachhaltigkeit bis in die 1980er Jahre alltagssprachlich die Bedeutung von Dauerhaftigkeit und wurde nicht in politischem Sinne verwendet. Diese Erweiterung ergab sich erst aus der globalen umweltpolitischen Debatte, insbesondere mit den Definitionen der 1983 von den Vereinten Nationen eingesetzten Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommission), welche die Wortverbindung „nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development) prägte (Wikipedia 2020b, 2020j). Nachhaltigkeit durch Ressourcenschonung ist heute ein omnipräsentes Thema. Im Privatsektor geht es um regenerative Energien, nachhaltiges Reisen, nach-
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haltige Finanzanlagen, nachhaltige Kleidung sowie nachhaltig erzeugte (und fair vermarktete) Nahrungsmittel. Oft ist allerdings der Wunsch der Vater des Gedankens: Trotz ihrer gegenteiligen Angaben in entsprechenden Umfragen schrecken viele Verbraucher in den Industrieländern davor zurück, für sauberere Umwelt, gerechtere Verteilung und nachhaltigeren Konsum mehr Geld auszugeben (s. z. B. White 2019).
Nachhaltigkeit in der Wirtschaft
Mittlerweile steigt auch im Industriebereich die Einsicht (und vielfach die Akzeptanz), dass entsprechende Ansätze notwendig sind. Unter Corporate Social Responsibility (CSR) wird die gesellschaftliche Verantwortung als Teil des nachhaltigen Wirtschaftens verstanden (Wikipedia 2020d). Viele Unternehmen setzen die „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development Goals, SDGs) (UN 2012; Wikipedia 2020n) um oder haben zumindest Programme initiiert, in dieser Richtung tätig zu werden. Es handelt sich dabei um politische Zielsetzungen der Vereinten Nationen (UN), die weltweit der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene dienen sollen. Sie wurden in Anlehnung an den Entwicklungsprozess der Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) entworfen und sind am 1. Januar 2016 mit einer Laufzeit bis 2030 in Kraft getreten. Im B2C-Bereich helfen dem Verbraucher zahlreiche Label und Zertifikate, die Nachhaltigkeit von Anbietern und ihren Produkten zu beurteilen. Im B2B-Bereich spielt die 1996 eingeführte und 2015 novellierte Umweltmanagement-Systemnorm ISO 14001 eine wichtige Rolle, und die Normen ISO 14040/14044 beschäftigen sich mit dem Thema Ökobilanz (Bund (o. J.)). Nachhaltig wirtschaftende Unternehmen sind in der Regel wirtschaftlich erfolgreicher als ihre kurzfristig denkende und agierende Konkurrenz (Dämon 2016). Doch unabhängig von Betriebsgröße und Branche bedeutet Nachhaltigkeit für die in einer Studie befragten Top-Manager in erster Linie das dauerhafte wirtschaftliche Überleben. Über 87 Prozent assoziieren den Begriff mit seiner ökonomischen Dimension. Rund 66 Prozent denken an die soziale Sphäre im Sinne von Aktivitäten, die auf Belegschaft und Gesellschaft gerichtet sind, und nur drei Fünftel an die Schonung der Umwelt. (Hannig et al. 2011) Das Drei-Säulen-Modell
1.5 Nachhaltige Verhandlungsergebnisse
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der nachhaltigen Entwicklung (Soziales, Ökologie, Wirtschaft; englisch People, Planet, Profit) leidet an einer ausgeprägten Dysbalance. Da es nicht ausreicht, auf freiwillige Verpflichtungen zu setzen, wenn wirtschaftliche Interessen der Produzenten im Spiel sind, erhöht der Gesetzgeber in vielen Ländern und Bereichen trotz weitverbreitetem Lobbyismus den Druck, nachhaltiger zu produzieren. Beispiele sind im Chemikalienrecht die REACH-Verordnung für die chemische Industrie sowie die RoHS-Richtlinien zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten (Wikipedia 2020l, 2020m).
Nachhaltigkeit ist von einigen Autoren als Ziel von Verhandlungen bereits definiert worden und taucht gerne insbesondere in den Beschreibungen von Schulungsanbietern für ihre Leistungen auf. Mit spezifischem Blick auf den Einkauf liefern die erwähnten SDGs der Vereinten Nationen einen wertvollen Ansatz für eine nachhaltige Beschaffungstätigkeit; Gleiches gilt für den Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK), der sich als Instrument zum Aufbau einer Nachhaltigkeitsstrategie eignet und einen Einstieg in die Nachhaltigkeitsberichterstattung bietet (Jamal und Rochnowski 2019). Nachhaltige Beschaffung bedeutet eine Balance zwischen Ökonomie und Ökologie, und der Einkauf darf nicht bloß als „Milliardengrab“ (Kerkhoff 2008) betrachtet werden, den es auf maximale Sparziele zu trimmen gilt und der einer „Revolution“ bedarf (Versteeg 1999). Zerstörerische Rabatt- und Preisschlachten bis zum Ruin von Anbietern sind in manchen Branchen an der Tagesordnung. Während sich in vielen Wirtschaftszweigen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass der Einkäufer mit dem Vertriebsingenieur (bzw. der Kunde mit dem Lieferanten) auf Augenhöhe verhandeln sollte, herrschen beispielsweise in der Autoindustrie rauere Sitten (Häusler 2017; Eckl-Dorna 2018). Vor einem knappen Vierteljahrhundert trat im Automobilsektor ein Spanier als Einkaufsleiter aus dem Schatten und galt zunächst als Star am Beschaffungshimmel, da er durch seine unkonventionellen Methoden zur Kostenreduzierung und seinen Umgang mit Lieferanten, „wie sich später herausstellte, die ganze Branche revolutionierte“ (Versteeg 1999, S. 11–13) und diese „aus dem ‚Dornröschenschlaf‘ wachrüttelte“ (Kerkhoff 2008, S. 18–19). Zu Recht?
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Lopez-Effekt
1993 wurde Dr. José Ignacio López de Arriortúa vom Patriarchen Ferdinand Piëch gemeinsam mit sieben seiner „Krieger“ (so wörtlich von López ausgedrückt) unter dubiosen Umständen von General Motors als Einkaufsleiter abgeworben. Der „Würger von Wolfsburg“ (Wiedemann 1997; s. auch Blüthmann 1997), dessen Ansatz im Nachhinein betrachtet teilweise zu Unrecht gelobt und glorifiziert wurde, erreichte mit seiner kompromisslosen Verhandlungsführung in Kombination mit gefürchteten Werksbesichtigungen öffentliche Bekanntheit. (Wikipedia 2020h) Heute wird der Begriff Lopez-Effekt nach wie vor als Synonym für billige und oft mangelhafte Bauteile verwendet. Vereinfachte Montageleistungen in der Produktion der Fahrzeuge musste der Kunde später durch umfangreichere Reparaturen teuer bezahlen. 1996 endete der Spuk mit seiner Entlassung und einer Einigung zwischen VW und GM, in deren Rahmen VW einen hohen Schadenersatz zahlte und für eine Milliarde US-Dollar Teile von GM bezog. Über die finanziellen Folgen aus der naheliegenden Störung der Partnerschaft mit wichtigen Lieferanten ist wenig bekannt.
Bei zu großem finanziellem Druck auf etablierte Anbieter in einer für diese möglicherweise ungesunden Wettbewerbssituation gilt es zu bedenken: Ein insolventer Lieferant nützt dem Kunden nichts, sondern kann bei Gefährdung der Versorgung sehr schnell zu einem Problem werden (vgl. Helmold et al. 2019, S. 207–215). Und der Wechsel bzw. Ersatz eines Systemlieferanten als Ultima Ratio (s. Abschn. 5.9) ist meist ebenso für den Kunden ein teures Unterfangen. Doch nicht jede Branche und jeder Kunde geht so brachial vor. Moderne Wirtschaftsunternehmen wählen ihre Zulieferer sehr genau aus. Für einen nachhaltigen Einkauf setzen sie auf langfristige Kundenbeziehungen und entwickeln ihre regionalen Lieferanten aktiv weiter (M+M 2019). Bereits seit Längerem ist aus der Forschung bekannt, dass nachhaltiges Beschaffungsmanagement einen Beitrag zur Vermeidung von Unternehmenskrisen leisten kann (Lentz 2005).
Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf bedeutet, durch ein faires Ausloten der Schnittmenge der Interessen von Anbieter und Abnehmer eine Win-Win-Lösung zu erarbeiten, die für beide Parteien eine Verbesserung im Vergleich zur BATNA (Abschn. 3.4) bedeutet und zukünftige Geschäfte fördert. Die zusätzliche Beachtung der ökologisch geprägten Nachhaltigkeitsdefinition und des Drei-Säulen-Modells ist vom ökonomischen Standpunkt her ebenfalls von Vorteil.
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Dabei ist Fairness gegenüber Anbietern bzw. Lieferanten ein Gebot – „Leben und leben lassen“ und „Man sieht sich immer zweimal“ sind nicht ganz von der Hand zu weisende Volksweisheiten.
1.6 Beschaffungs-ERFOLG planen und realisieren Um alle Optionen einer Einkaufsorganisation mit Blick auf den wirtschaftlichen Erfolg nutzen zu können, bedarf es – wie erwähnt – weit mehr als der Strategie, lediglich auf den Preis der zu beschaffenden Güter loszugehen. Auch die Erweiterung des Anforderungskatalogs im Rahmen von Sourcing und Sicherstellung der Versorgung reicht nicht aus. Letztlich lassen sich ein halbes Dutzend Erfolgsfaktoren definieren und über eine Eselsbrücke zusammenführen. Akronyme sind in Zusammenhang mit gewerblichen Verhandlungen keine Seltenheit – hier tauchen unter anderem mit SMART (zu Eigenschaften von Zielen), NO TRICKS (für die Quellen von Verhandlungsmacht; beide in Abschn. 3.3) und BATNA (die Anfangsbuchstaben des Plans B aus dem HarvardKonzept; Abschn. 3.4) noch einige bekannte Vertreter auf. Für B2B-Einkaufstätigkeiten lässt sich das positiv belegte Wort Erfolg ebenso verwenden. Es setzt sich aus den Anfangsbuchstaben von Begriffen zusammen, die wichtige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Beschaffungswesen sind (Wenski 2020b). Im Folgenden werden sechs Themenfelder als Voraussetzungen für optimale Beschaffungserfolge betrachtet, deren Anfangsbuchstaben das Akronym ERFOLG bilden. Die sechs Themenfelder von ERFOLG An oberster Stelle der Kriterien steht ein leistungsstarker, wirksamer Einkäufer (E). In der Beschaffung und gerade als Verhandlungsführer ist resilientes, analytisch denkendes Personal gefordert, das über Voraussetzungen verfügen sollte, welche für die Lösung der teilweise komplexen Aufgaben erforderlich sind. Die Zeiten, in denen Organisationen an anderer Stelle nicht mehr benötigte Beschäftigte in die Beschaffung „entsorgten“, ist in den meisten Unternehmen der Industrie glücklicherweise weitgehend vorbei. Die Einkaufsabteilungen suchen sich passende Mitglieder aus, die im strategischen oder operativen Einkauf hochprofessionelle Arbeit leisten. Neben den fachlichen sind auch die persönlichen Fähigkeiten entscheidend, etwa eine ausgeglichene Balance zwischen Rationalität und Empathie sowie Souveränität, Durchsetzungsvermögen, Teamgeist und interkulturelle Kompetenz. Kap. 2 richtet den Blick gezielt auf den Einkäufer als Funktion und Person.
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Regeln (R) müssen sein, und das Unternehmen hat sicherzustellen, dass sein internes Regelwerk umfassend, jedoch nicht zu kleinlich verfasst ist und konsequent durchgesetzt wird. Unter Regeln sind organisatorische Vorgaben, vertragliche Vereinbarungen und gesetzliche Normen zu verstehen; Letztere betreffen Arbeits-, Vertrags- und Umweltrecht ebenso wie das Außenwirtschaftsgesetz und viele weitere Kodizes. „Regeltreue“ und „Regelkonformität“ sind halbwegs brauchbare Übersetzungen für das eingängige englischsprachige Wort Compliance. Diesem Spannungsfeld widmet sich Abschn. 2.5, und in Abschn. 2.6 wird die vor allem im Beschaffungssektor vorhandene Bedrohung durch Korruption aufgegriffen.
Die besten Einkäufer können sich nicht adäquat entfalten und gute Ergebnisse erarbeiten, wenn Vorgesetzte und Top-Management ihnen das Leben schwermachen.
(Das gilt selbstverständlich auch für andere Funktionen in der Organisation.) Dabei kommt es insbesondere auf den Einkaufsleiter an: nach welchen Kriterien er seine Mitarbeiter auswählt und wie er sie führt. Ergebnisorientierte Führung (F) setzt auf die Nutzung und Weiterentwicklung von Stärken sowie auf intrinsische Motivation und die Delegation von Verantwortung. Autoritäre Chefs, die Reisekostenabrechnungen penibel prüfen, Mikromanagement praktizieren und ihr Ego (oder ihre Entscheidungsschwäche) permanent zur Schau stellen, sind nicht mehr zeitgemäß. Moderne Einkaufsleiter lassen ihre Fachleute verhandeln und entscheiden und schalten sich möglichst erst dann ein, wenn strategische Vorgaben oder eine Eskalationsebene benötigt werden; so unterstützen sie den Beschaffungserfolg am effektivsten (s. Abschn. 6.2). Ein auf die Unternehmensziele zugeschnittenes Organigramm ist das A und O für den strategischen und operativen Erfolg. Sind die Leitungsfunktionen in einer den Anforderungen entsprechend konzipierten Organisation (O) – nicht nur im Einkauf – mit kompetenten Führungskräften besetzt, wirkt sich dies zwangsläufig positiv auf die Unternehmenskultur aus, die dadurch konstruktiver gestaltet wird (s. Abschn. 6.6). Innere (und reale) Kündigungen von frustrierten Beschäftigten (Abschn. 6.5) lassen sich so minimieren, und die Arbeitsleistung steigt. Dies wiederum setzt voraus, dass Job und Führungskraft zusammenpassen und Letztere vom Top-Management nach vorhandenem Profil für die jeweilige Aufgabenstellung ausgewählt wird. Das L ist über das Lieferantenmanagement primär den Anbietern vorbehalten. Obwohl sich der Kunde und dessen Mitarbeiter im Einkauf vielfach als auf einer
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höheren hierarchischen Stufe stehend sehen (was sich realistisch betrachtet nicht ganz von der Hand weisen lässt), ist eine starke, wirtschaftlich prosperierende Lieferantenbasis essenziell für den Geschäftserfolg auch des Kunden. Ein stringentes Lieferantenmanagement erfordert einen systematischen Ansatz, wie in Abschn. 7.2 ausführlich erläutert wird. Allerdings kommt das L umständehalber nochmals zum Einsatz, um die rechtlichen Fragestellungen im Einkauf zu würdigen: als erster Buchstabe des passenden englischsprachigen Begriffs – Legal. Mit dem juristischen E inkäuferABC beschäftigen sich Abschn. 4.5 und 9.3 mit Fokus auf rechtssichere Bestel lungen und Verträge. Das Legal-L taucht ebenfalls im Akronym PESTEL für die wichtigsten Einflussfaktoren der Makroumwelt auf (s. Abschn. 7.5). In der ersten Bedeutungszuordnung (Wenski 2020b) stand es außerdem für das Thema Lernen; dieser Aspekt ist im Hinblick auf Einkäuferschulungen in Abschn. 6.4 diskutiert. Übrig bleibt das G, welches das Geschäftsmodell des Unternehmens repräsentiert und das in Abschn. 7.5 analysiert wird. Natürlich haben der einzelne Einkäufer und selbst der Einkaufsleiter hierauf gewöhnlich nur einen sehr untergeordneten Einfluss. Dennoch ist die Gesamtausrichtung auch für Beschaffungserfolge relevant: Eine gravierende Rolle spielt, wie gewinnbringend sich einerseits die eigenen Produkte verkaufen lassen und wie andererseits der Anbietermarkt für die notwendigen Produktionsanlagen und Ausgangsstoffe strukturiert ist. Gelingt es dem Einkäufer, Wettbewerb aufzubauen, oder ist er Single-Source-Quellen und Quasi-Monopolisten machtlos ausgeliefert (vgl. Abschn. 7.3)? Je nach Beschaffungsobjekt und -land, Spezifikation und Marktsituation, Zentral- oder Lokaleinkauf kann man sich eine Vielzahl von Szenarien vorstellen, in welchen der Einkäufer als Bindeglied zwischen seinen Lieferanten und den internen Kunden eine entscheidende Rolle für den nachhaltigen Erfolg spielt. In vielen Unternehmen finden sich hinsichtlich des einen oder anderen genannten Themas Defizite. Doch mit dieser einfachen ERFOLGsformel1 lassen sich Schwerpunkte identifizieren und bearbeiten, auf denen Nachholbedarf besteht:
1Auch
wenn die heutige Fachsprache des Einkaufens und Verhandelns mit Anglizismen durchsetzt scheint, ist das Akronym ERFOLG ans Deutsche gebunden: Falls dieses Buch jemals ins Englische übertragen wird, steht der Übersetzer vor einem Problem.
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Die ERFOLGsformel
E inkäufer (persönliche Kompetenz) R egeltreue (funktionierendes Compliance-Wesen) F ührung (Kompetenz von Einkaufsleiter und Top-Management) O rganisation (Unternehmenskultur und lernende Organisation) L ieferanten (Auswahl und Management), auch: Legal (Recht) sowie Lernen G eschäftsmodell (Marktkonstellation, Wettbewerb und eigene Produkte)
Investitionen in Einkäuferauswahl und -schulung, Führungskräfteentwicklung und zukunftsträchtige Produktfelder besitzen eine deutlich größere Hebelwirkung auf den Unternehmenserfolg als bloße Preispolitik in der Beschaffung.
1.7 Fallbeispiel Equipmentbeschaffung Sehen wir uns an, welche Aufgaben auf unseren Protagonisten, den strategischen Einkäufer der WAFAG, warten. Hier und in den Folgeepisoden geht es um fiktive Gesellschaften, Produkte und Details; lediglich die Systematik der Großanlagenbeschaffung im Halbleiterbereich und die Markt-, Projekt- und Verhandlungsgepflogenheiten sind an die Realität angelehnt. Ähnliche Musterbeispiele lassen sich für eine Reihe weiterer Anlagentypen und Prozessschritte auch in anderen Industrien konstruieren, die zu vergleichbaren Schlussfolgerungen und Empfehlungen führen. Herbert Langwasser
Ein neues Projekt Um den Halbleitermarkt opportunistisch begleiten zu können, plant die WAFAG innerhalb der nächsten Jahre eine Produktionserweiterung zur großtechnischen und kostenoptimierten Herstellung einer neu entwickelten Produktgeneration. Dieser Ausbau soll mit zukunftsorientiertem Equipment in einem neu zu errichtenden Gebäude an einem bestehenden Standort erstellt werden. Unter Gewichtung aller bekannten Faktoren hat sich die Unternehmensleitung für Singapur entschieden, wo die WAFAG schon seit Jahren erfolgreich präsent ist. Für das Projekt existiert bereits eine vorläufige Budgetplanung.
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Aus diesem Anlass hat vor Kurzem am WAFAG-Hauptsitz Dresden eine Startsitzung für das Projekt (Kickoff Meeting) stattgefunden, zu welcher der Projektleiter Hans-Peter Burghardt eingeladen hatte. Die Verantwortung für die Errichtung und Bereitstellung von Gebäude, Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen sowie Lager, Büroausstattung u. Ä. soll zu gegebener Zeit über eine Ausschreibung an einen Generalunternehmer vergeben werden. Aus diesem Grunde verzichtet man auf die Benennung eines reinen Projekteinkäufers. Prozess- und Messanlagen werden jedoch von den WAFAGFacheinkäufern beschafft, und hier sind hinsichtlich Spezifikationen und Lieferantenauswahl noch längst nicht alle Entscheidungen gefallen. Herbert Langwasser, der von seinem Chef Thomas Krämer nach einer Ressortsitzung beim Finanzvorstand vorinformiert worden ist, weiß, dass auf ihn und seine Mitarbeiter mehrere Beschaffungsvorgänge vor allem für Prozessanlagen und Messgeräte zukommen werden. Während einige Anbieter mangels tauglicher bzw. qualifizierter Alternativen für das Projekt als „gesetzt“ angesehen werden, scheinen zur Ausstattung des Prozessschrittes Implantation Annealing, einem Aufheizschritt auf bis zu 1400 °C, mehrere Lieferanten für entsprechende Öfen infrage zu kommen. Nähere technische Angaben zu diesem Einzelscheibenprozess sind für das Verständnis des Szenarios unwichtig. Relevant für den Beschaffungsvorgang ist lediglich, dass ein Fabrikat vorab nach Dresden geliefert und dort eingehend hinsichtlich seiner Funktionalität getestet und bei Schlüsselkunden qualifiziert werden soll. Für den Ausbau in Singapur werden auf Basis der veranschlagten Fertigungskapazität vermutlich sechs dieser Annealing-Anlagen benötigt, die gemäß den Erkenntnissen aus der Testung in Dresden bestellt und konfiguriert werden sollen. Die Mitspieler Eine Woche später sitzen Herbert Langwasser und Bedarfsträger Klaus Auerbach, der spätere Anlagenverantwortliche, in Langwassers Büro zusammen, um die Details und das weitere Vorgehen vor dem Hintergrund des Projektzeitplans zu besprechen. Sie haben schon mehrfach bei Großbeschaffungen zusammengearbeitet, und Langwasser schätzt die langjährige Erfahrung und das ausgeglichene Naturell von Auerbach – Sachse wie er selbst –, der sich nach einer Lehre als Werkzeugmacher zum Techniker weiterbildete, mit den Jahren mehr Verantwortung im Unternehmen erhalten hat und ein Gefühl für Technik und für Menschen besitzt. „Wie stellst Du Dir das denn jetzt genau vor, Klaus?“ fragt Langwasser. Dieser entgegnet: „Wie Du weißt, Herbert, haben wir in der Produktion aktuell Annealing-Öfen von zwei Lieferanten im Einsatz. Für die neue Generation
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kämen sie von der Papierform her beide infrage.“ – „JT und DWE, nicht wahr? Was ist mit unseren deutschen Freunden aus Schwaben?“ JT (Joint Technologies Inc.) ist einer der weltgrößten Hersteller für Halbleiteranlagen mit Hauptsitz in Beaverton/Oregon (USA). Die Stadt in der Nähe von Portland gehört ebenso wie die Nachbarstadt Hillsboro zum sogenannte „Silicon Forest“: Man findet dort weltbekannte Halbleiterunternehmen wie Intel sowie den Hauptsitz von Nike. Joint Technologies ist in den letzten 20 Jahren durch Zukäufe rasant gewachsen, was die Aktionäre freut, und verfügt über ein weltumspannendes Netz von Produktionsstätten und Verkaufs- bzw. Servicebüros. Vor wenigen Jahren wurde in Singapur in der Nähe des Flughafens Changi eine neue ausgedehnte Fertigung für Halbleiterequipment in Betrieb genommen, aus der inzwischen die meisten Großanlagen für die Waferindustrie kommen. DWE (Dutch Wafer Equipment N. V.) ist ein niederländisches Unternehmen, das in der Provinz Holland, nahe Rotterdam, ebenfalls Anlagen für die Halbleiterindustrie herstellt und deutlich kleiner als JT ist. Dafür hat sich die Gesellschaft eher auf organisches Wachstum konzentriert und bietet Nischenprodukte an, ein Markt, den die Großanbieter in dieser Form und Flexibilität nicht bedienen können oder wollen. Wie JT ist auch DWE seit vielen Jahren ein Schlüssellieferant für die WAFAG. Der von Langwasser in die Diskussion gebrachte deutsche Anbieter aus der Nähe von Stuttgart, der sich mit Heißprozessen und dem Bau von Anlagen für spezielle beschichtete Wafer beschäftigt, kommt nach Aussage von Auerbach nicht in Betracht. „Ein solider Anbieter, hat aber bei der vorliegenden Spezifikation abgewunken. Und meiner Meinung nach fehlt dort die Erfahrung mit 300-mm-Wafern.“ Erste Aktionen im Projekt „Da waren’s nur noch zwei“, denkt Herbert Langwasser. Auf neue Anbieter aus Fernost, etwa Südkorea oder Japan, will die WAFAG aus strategischen Gründen verzichten, da bisher keine Kontakte bestehen und immerhin zwei etablierte Anbieter die neue strenge Spezifikation erfüllen können. „Ist ja immerhin etwas“, sagt er, „Wettbewerb wird der Vergabe sehr guttun. Wir brauchen ja laut Plan immerhin ein halbes Dutzend solcher Anlagen für Singapur. Wie sieht’s denn mit dem Geld aus?“ Klaus Auerbach erklärt, dass zunächst die Mittel für eine Test- und Qualifizierungsanlage bewilligt sind, die in Dresden im hochmodernen F&E-Bereich installiert werden soll. Das Budget wurde mit den Preisen der Vorgängermodelle hochgerechnet und (nach obligatorischen Kürzungen durch das
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Projektcontrolling) freigegeben; es enthält (einschließlich Nebenkosten) vier Millionen Euro und für die Produktionsanlagen in der Fab – ohne bisherige Freigabe – pro Stück entsprechend weniger. Herbert Langwasser soll als Verhandlungsbasis zeitnah kommerzielle Angebote der beiden Anbieter einholen. „Klaus, und wie steht‘s mit den Unterschriften unter den Specs?“ (Spec für „technische Spezifikation“ hat sich im Sprachgebrauch der WAFAG wie bei anderen Unternehmen eingebürgert, ebenso wie Fab für den etwas angestaubten Begriff „Fabrik“, denn rauchende Schlote sucht man dort vergeblich.) Auerbach sagt: „Von JT liegt sie vor. Das ging schnell, und wir haben eine relativ kurze Liste mit Änderungen und Sondervereinbarungen. DWE ist ebenfalls einverstanden, aber ich warte noch auf das offizielle Dokument.“ – „Schön, dann kann‘s ja losgehen.“ Die beiden legen die nächsten Schritte fest; Langwasser wird anschließend den Stand in Form eines Ergebnisprotokolls zusammenfassen und auch an die übrigen Beteiligten versenden: an Thomas Krämer (seinen Chef), Hartmut Eisleben (den Vorgesetzten von Klaus Auerbach) sowie natürlich an HansPeter Burghardt, den Projektleiter. Die To-do-Liste sieht momentan wie folgt aus: 1. Angebote für jeweils eine Anlage bei JT und bei DWE anfragen (HL, asap)2 2. Beschaffung Spec-Unterschrift DWE (KA, asap) 3. Prüfung und Auswertung der Angebote (HL, KA) 4. Bewertung der Angebote (erweitertes Verhandlungsteam) 5. Terminierung der beiden Vergabeverhandlungen für jeweils eine Anlage (HL) 6. formale Vorbereitung der Verhandlungen (erweitertes Verhandlungsteam) 7. Erledigung offener verhandlungsrelevanter Punkte (Verantwortliche) 8. Durchführung der beiden Verhandlungen (reduziertes Verhandlungsteam) 9. Bewertung und Einordnung der Verhandlungsergebnisse (erweitertes Verhandlungsteam) 10. Bestellung der ausgewählten Anlage (HL)
2„asap“
steht für as soon as possible, also „umgehend“. HL und KA sind die Initialen der Verantwortlichen für die entsprechenden Aufgaben. Im realen Wirtschaftsumfeld sind konkrete Daten zur Erledigung vorzugeben, was in unserem Beispiel der Übersichtlichkeit abträglich wäre.
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1 1. Lieferant, Installation und Prüfung der Anlage (Verantwortliche) 12. Beschaffungsentscheidung für Singapur-Fab (erweitertes Verhandlungsteam) ◄
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B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
Ein technischer Einkäufer sollte belastbar sein, Talent zur Kommunikation und zum Verhandeln besitzen und typische Todsünden vermeiden. Und es wird über spektakuläre Dinge wie Angst und Belohnung, Drogen und das FBI, Falschaussagen und Korruption sowie Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz und Kartellrecht berichtet – ausreichend Spannung ist also zu erwarten.
Die Bedeutung des Einkaufs ist – intern wie extern – aktuellen Studien zufolge in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Über die Hälfte der Unternehmen stellen das Beschaffungswesen auf Augenhöhe mit anderen Overhead-Bereichen wie Marketing, Vertrieb oder Finanzwesen. Die Zeiten, als der Einkauf lediglich die Funktion der Bestellabwicklung wahrgenommen hat, sind in den meisten Organisationen vorbei, und es bestehen in diesem Berufsumfeld zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten und spannende Betätigungsfelder. (Richard 2015, S. 8) Bei der Erläuterung der ERFOLGsformel in Abschn. 1.6 wurde betont, dass kompetente Einkäufer entscheidend für die Leistung und den Erfolg in der Beschaffung sind. Vom stärker werdenden Fachkräftemangel bleiben auch die Materialwirtschaftsabteilungen nicht verschont, und die Kunst ist, die geeigneten Bewerber für offene Stellen bzw. anstehende Aufgaben zu finden.
2.1 Kompetenzprofil des Einkäufers Das Berufsbild des typischen Einkäufers in der Industrie hat sich in den letzten 20 Jahren signifikant gewandelt – aus reinen Bestellorganen sind zunehmend strategische Dienstleister geworden. Eine moderne und erfolgreiche © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_2
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
Beschaffungsorganisation repräsentiert nicht nur einen wichtigen Hebel zur Kostensenkung, sondern hat sich aufgrund der Reduzierung der Fertigungstiefe und veränderter Marktstrukturen zu einem wesentlichen Führungsinstrument entwickelt. Dafür benötigen die Unternehmen Beschäftigte mit dem geeigneten Kompetenzprofil. Insbesondere in den Branchenzeitschriften für die Beschaffung sowie in den Jobbörsen findet sich in jüngerer Zeit eine Vielzahl an Beiträgen, welche die für einen Einkäufer erforderlichen bzw. passenden Eigenschaften umreißen (z. B. Neitzel 2017). So lässt sich zunächst anhand des geplanten Profils und der Aufgabenstellung eine grobe Vorauswahl an wünschenswerten Fähigkeiten für die entsprechenden Teilfunktionen erstellen. • Operative Einkäufer mit den typischen Tätigkeiten im Rahmen der Beschaffung von Waren und Dienstleistungen für Produktionsbetriebe (Materialwirtschaft; s. Abschn. 1.2) benötigen Organisationstalent, betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse und handwerkliches Einkaufsbasiswissen. Zudem sollte Interesse an den typischen Problemen und täglichen Herausforderungen in Einkauf und Beschaffung mit den dort bearbeiteten Aufgabenfeldern bestehen. • Strategische Einkäufer, die mit der Beschaffung hochwertiger, für die Unternehmen erfolgskritischer Güter betraut sind, müssen den jeweiligen Markt und die Branche, die Güter und ihre Lieferanten gut kennen und sich auf die relevanten Themen spezialisieren. Ihr Kompetenzprofil erfordert meist breitere Kenntnisse und Erfahrungen in vielen Bereichen. • Davon lassen sich über ihr Tätigkeitsprofil und die damit verbundenen Anforderungen Projekteinkäufer sowie Führungskräfte im Einkauf abgrenzen; für beide Funktionen sind wiederum andere oder ergänzende Eigenschaften notwendig. Wie heute im Rahmen der Mitarbeiterentwicklung üblich, lassen sich auch innerhalb der Einkaufsabteilung die drei prinzipiell möglichen Karrierepfade Experten-, Projekt- und Führungslaufbahn beschreiten (Richard 2015, S. 26–27). Der Technische Einkauf beschafft alle technischen Produkte, die ein Unternehmen benötigt (Richard 2015, S. 19; Klinkusch 2020; Eder (o. J.)). Der Schwerpunkt liegt dabei auf erklärungsbedürftigen Produkten – komplexe Waren und Dienstleistungen, die von Vertriebsingenieuren vermarktet und verkauft werden – und im Investitionsgüterbereich, beispielsweise im Kauf von Maschinen und Anlagen (Equipment).
2.1 Kompetenzprofil des Einkäufers
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Technischer Einkäufer Ein technischer Einkäufer plant, verhandelt und organisiert die Beschaffung technischer Produkte aller Art, etwa Maschinen und Anlagen, Bau- und Ersatzteile. Dazu findet in der Regel eine enge interne Zusammenarbeit mit Ingenieurtechnik und/oder Prozessentwicklung und ein breit angelegter externer Austausch mit den Lieferanten statt. Persönliche Kompetenzen Gerade in Hightech-Unternehmen ist auch für die Einkäufer ein entsprechendes Verständnis der zu beschaffenden Produkte von Vorteil, und schon kleine Einsparungen bei den Materialkosten können große Auswirkungen auf den Umsatz haben. Der Technische Einkauf grenzt sich vor allem vom Dienstleistungs-, Projekt- und IT-Einkauf ab; dieser Trennung überlagert ist die erwähnte Unterscheidung zwischen operativem und strategischem Einkauf. Für einen technischen Einkäufer mit strategischer Ausrichtung, der z. B. mit der Beschaffung industri eller Großanlagen befasst ist, sind unter anderem die nachfolgend aufgelisteten persönlichen Kompetenzen zur Erledigung der Aufgaben nützlich: • Sozial- und interkulturelle Kompetenz • Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen • Durchsetzungsvermögen und -stärke • Selbstständigkeit, Eigeninitiative und Organisationstalent • Dialog- und Kooperationsfähigkeit • Teamfähigkeit • Fähigkeit zum analytischen Zuhören, Denken, Argumentieren und Handeln • Kritikfähigkeit, Offenheit für Feedback und Fähigkeit zur Reflexion • klares, verständliches, präzises Formulieren und Abfassen von Texten • Empathie und emotionale Kompetenz • Geduld und Beharrlichkeit • Resilienz und Willensstärke • offene Einstellung zu kreativen Lösungen und Freude am Verhandeln • rasche Auffassungsgabe auch für komplexe technische und kaufmännische Sachverhalte • gutes Benehmen und sicheres Auftreten • Fähigkeit zum Smalltalk • Authentizität Doch lassen Sie sich als Interessent für eine Position im Einkauf nicht abschrecken: Die wenigsten Aspiranten erfüllen alle genannten Kriterien,
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
und kleine Schwächen gehören nun einmal dazu – sie machen Personen eher sympathisch.
Todsünden eines Einkäufers
Viel spannender als die oben stehende Positivliste der Einkäufertugenden liest sich, welche Charaktereigenschaften ein Einkäufer keinesfalls besitzen und welche Verhaltensweisen er niemals an den Tag legen sollte. Im Lichte des hier diskutierten nachhaltigen Verhandelns bietet sich dazu ein Blick in die klassische Theologie an: Dort unterscheidet man sieben Hauptlaster, die aus schlechten Charaktereigenschaften resultieren und durchaus zu Todsünden führen können (Klatt 2002; Wikipedia 2020e). 1. Hochmut (Stolz, Eitelkeit, Übermut) 2. Geiz (Habgier, Habsucht) 3. Wollust (Ausschweifung, Genusssucht, Begehren, Unkeuschheit) 4. Zorn (Jähzorn, Wut, Rachsucht) 5. Völlerei (Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Unmäßigkeit, Selbstsucht) 6. Neid (Eifersucht, Missgunst) 7. Faulheit (Feigheit, Ignoranz, Überdruss, Trägheit des Herzens) Wie unschwer erkennbar ist, dürften fast alle genannten Laster den Einkäufer in der Ausübung seiner Tätigkeit behindern. Von Überheblichkeit und Arroganz jeglicher Art (1.) sollte auch der Kunde unbedingt absehen und mit den Lieferanten möglichst auf Augenhöhe verhandeln: Man sieht sich immer zweimal. Der Slogan „Geiz ist geil“ (2.) hat sich in der Praxis als unbrauchbar erwiesen, denn im Einkauf hat alles seinen Preis (Abschn. 5.5). Unkontrollierte Emotionsausbrüche (4.) sind im Dialog meist ebenso wenig hilfreich wie die Haltung, den größten Teil des Verhandlungsgewinns (des „Kuchens“) für sich behalten zu wollen (6.), oder der als letzter Punkt aufgeführte Minimalismus im Bemühen (7.). Zu den Punkten 3. und 5. im weiteren Sinne ihrer Bedeutung sei auf die Compliance-Diskussion in Abschn. 2.5 und 2.6 verwiesen.
Sachkompetenzen Von den bereits bei Antritt der Stelle in der Beschaffungsorganisation vorhandenen Tugenden und der Abwesenheit einer Neigung zum genannten Fehlverhalten sind bestimmte Sachkompetenzen zu unterscheiden, die von vorne herein
2.1 Kompetenzprofil des Einkäufers
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vorliegen können und/oder teilweise berufsbegleitend in der neuen Funktion erworben werden können, unter anderem diese: • Fach- und Managementkompetenz • Grundkenntnisse in Einkauf und Beschaffung: Organisation, Aufgaben und Abläufe, Programme, Dokumentationswesen etc. • kaufmännisches Grundwissen: Kostenrechnung, Controlling, Budgetierung, Qualitätsmanagement, Lagerhaltung etc. • Unternehmensgrundkenntnisse: Entscheidungswege, Produkte, Prozesse, Strukturen, Strategien, Marktzyklen • juristische Grundkenntnisse: Vertragsrecht, elektronischer Geschäftsverkehr (und die Fähigkeit zu beurteilen, bei welchen rechtlichen Angelegenheiten Fachleute hinzugezogen werden müssen) • methodische Kenntnisse: Moderation, Teamarbeit, Konfliktmanagement, Projekt management • Fremdsprachenkenntnisse (Verhandlungssicheres Englisch ist für die Gestaltung vieler internationaler Verhandlungen und Verträge ein Muss.) • fundierte Kenntnisse in Verhandlungsführung und Verhandlungstechniken
Welcher Berufsabschluss für technische Einkäufer?
Anders als in Österreich existiert in Deutschland kein Ausbildungsberuf „Einkäufer“ (Richard 2015, S. 28). Die Bereiche Beschaffung und Einkauf werden z. B. in Ausbildungsgängen für Büro-, Einzelhandels- oder Industriekaufleute behandelt und eignen sich als Grundlage für eine Tätigkeit in der Materialwirtschaft. Jedoch lassen sich ebenfalls Mitarbeiter mit einer technischen Berufsausbildung, vor allem wenn sie über eine mehrjährige Berufserfahrung verfügen, erfolgreich in den Technischen Einkauf integrieren. Für Einkaufspersonal mit einem erweiterten oder gehobenen Verantwortungsprofil – sei es als Verhandler komplexer Beschaffungsverträge, verantwortlicher Projekteinkäufer oder im Führungsbereich als Gruppen- oder Einkaufsleiter – wird gewöhnlich ein Studienabschluss in einem technisch-naturwissenschaftlichen oder kaufmännischen Fachbereich gefordert. Von Vorteil für einen technischen Einkäufer sind dabei Kenntnisse relevanter technischer Zusammenhänge. Technische Einkäufer ohne Studienabschluss finden eher in kleinen und mittelständischen Unternehmen Chancen auf ein umfassendes Aufgabenspektrum.
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
Inzwischen haben sich in Deutschland zahlreiche Hochschulen an die Marktgegebenheiten angepasst und bieten als Hauptstudium oder berufsbegleitend Studiengänge wie Internationales Vertriebs- und Einkaufsingenieurwesen (FH Kiel), Einkauf & Logistik (TH Nürnberg), Management und Beschaffungswirtschaft (Hochschule Heilbronn) sowie Wirtschaftsingenieurwesen und Technischer Vertrieb an verschiedenen Hochschulen an (vgl. Richard 2015, S. 47–59 für eine Übersicht über infrage kommende Hochschulen). Abschlüsse in derartigen Fächern bilden eine aussichtsreiche Basis für den auch in Zeiten der Digitalisierung weiterhin gefragten technischen Einkäufer.
2.2 Erste Verhandlungstipps Die Fähigkeit zum Verhandeln ist wie in Abschn. 2.1 gesehen nicht die einzige Kompetenz, die ein strategischer bzw. technischer Einkäufer haben muss – aber eine nicht unerhebliche. Zwar lässt sich vieles durch Schulungen (Abschn. 6.4) und Training on the Job lernen, doch das grundsätzliche Talent zum Verhandeln sollte man mitbringen. Beschaffungsmitarbeiter sind (wie die Verkäufer auf der anderen Seite) vermutlich gerade deshalb in ihrer Position mit einem Anteil an Verhandlungstätigkeit gelandet, weil sie – neben den erforderlichen technischen und sonstigen Kenntnissen und Kompetenzen – eben diese (persönliche) Eigenschaft mitbringen. Insbesondere für einen Neuling im Einkauf ist die Unterstützung erfahrener Kollegen wertvoll, die ihnen die Dos and Don’ts nahebringen und sie in echten Verhandlungen coachen können. Das Feedback von Kollegen, dem Vorgesetzten oder sogar einem Mentor und die Bereitschaft, dieses anzunehmen und daraus resultierende Vorschläge umzusetzen, bilden einen Pfeiler bei der Weiterentwicklung des Verhaltens und der Persönlichkeit. Man lernt seine blinden Flecken kennen und kann daran arbeiten, sich in dieser Hinsicht zu verbessern, denn oft liegen Selbstbild und Fremdbild weit auseinander. Spin-out-Faktoren (Kriterien, welche die berufliche Entwicklung in besonderem Maße behindern können; s. Wildenmann 2015) werden dabei bevorzugt adressiert. Mit dem Feedback-Geber zu diskutieren oder ihm gar zu widersprechen wäre kontraproduktiv (s. Abschn. 6.5). Zur Einstimmung auf Kap. 3 und 5 folgen bereits an dieser Stelle ein paar grundlegende Vorschläge und einführende Hinweise für B2B-Einkäufer in Verhandlungen, deren Hintergründe im weiteren Text noch näher erläutert werden.
2.2 Erste Verhandlungstipps
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Erste Tipps für professionelle Einkaufsverhandlungen
• Bereiten Sie sich sehr gut auf die Sachthemen und auch auf Ihre individuellen Verhandlungspartner vor, indem Sie alle verfügbaren Informationen sammeln und konsolidieren, sich im Team abstimmen und gemeinsam adäquate Verhandlungsziele festlegen. • Eine professionelle Vorbereitung gibt Ihnen als Verhandlungsführer das notwendige Selbstbewusstsein und reduziert Stress, Anspannung und Nervosität. • Gehen Sie mit positiver Grundstimmung in eine Verhandlung und betrachten Sie die kommunikative Auseinandersetzung als Chance, den Verhandlungskuchen größer zu machen, nicht als Konfrontation mit dem Lieferanten. Streben Sie ein Win-Win-Resultat an. • Prüfen Sie Angebote und Zugeständnisse Ihres Verhandlungspartners genau im Hinblick auf Ihre Ziele und lassen Sie sich nicht von Nachlässen, Rabatten und Zugaben jedweder Art blenden. • Berücksichtigen Sie den Marktwert des Verhandlungsobjekts und die Ausprägung und Stärke Ihrer Verhandlungsmacht. Machen Sie keinesfalls vorschnelle Konzessionen. • Gestalten Sie die Verhandlung für Ihren Verhandlungspartner interessant und spannend und lassen Sie ihn Zugeständnisse erarbeiten. Bleiben Sie allerdings selbst bei hartem Verhandeln immer kooperativ und vorbildlich – verzichten Sie auf schmutzige Tricks. • Ein Verhandlungsergebnis ist dann gut und nachhaltig, wenn die Interessen aller Beteiligten befriedigt werden und beide Partner das Ergebnis als fair betrachten. In diesem Fall möchte man auch in Zukunft wieder Geschäfte miteinander machen.
Inzwischen laufen die Vorbereitungen beim Beschaffungsprojekt der WAFAG an. Herbert Langwasser
Herbert Langwasser, strategischer Einkäufer der WAFAG, hat im Rahmen eines Erweiterungsprojekts den Auftrag erhalten, die Beschaffung von Heißprozessanlagen vorzubereiten und in Kooperation mit seinen Kollegen abzuwickeln (Abschn. 1.7). Dazu hat er zunächst, wie mit seinem technischen Counterpart Klaus Auerbach abgesprochen, gemäß der technischen Spezifikation beim US-amerikanischen Anbieter JT sowie bei dessen niederländischem
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
Wettbewerber DWE die Zusendung kaufmännischer Angebote erbeten. Beide Anfragen laufen über die jeweiligen deutschen Vertriebsniederlassungen, und die Lieferanten sind darin über mögliche Folgebestellungen für das Singapur-Projekt informiert worden. Die Angebote Mittlerweile sind beide Angebote mit E-Mail eingetroffen, und Langwasser hat sie an seine involvierten Kollegen geschickt. JT hat die Spezifikation in eine Anlagenkonfiguration überführt, die sich auf Positionen (Features) stützt, die in der sehr umfangreichen Datenbasis des Auftragsbearbeitungssystems enthalten sind – vom Anlagengehäuse über Roboter bis hin zu Aufheizlampen, insgesamt mehrere Dutzende nummerierter Einzelposten. Die sich daraus im Angebot ergebende Summe ist eine sehr krumme Zahl von knapp sechs Millionen USDollar, die durch einen im Angebot bereits ausgewiesenen Nachlass von rund 25 Prozent auf glatte 4,50 Millionen U S-Dollar reduziert worden ist. Die Beauftragung soll unter den Regelungen einer gültigen kommerziellen Bestellvereinbarung (Commercial Terms Agreement, CTA) zwischen WAFAG und JT erfolgen; das aktuelle Angebot passt dadurch auf drei DIN-A4-Seiten. Gebaut werden derartige Großanlagen in JTs neuer Produktionsniederlassung in Singapur. Die Lieferzeit beträgt drei bis vier Monate ab Datum der Auftragsbestätigung. Während die Rückmeldung von JT innerhalb einer Woche vorliegt, dauert es im Falle von DWE – begleitet von mehreren technischen Rückfragen – dreieinhalb Wochen, bis der Vertriebsingenieur das entsprechende Dokument aus der Zentrale zur Weiterleitung erhält. Zwischenzeitlich wird ein erneuter Termin mit den WAFAG-Experten in Dresden notwendig, bei dem letzte technische Klärungen erfolgen. Letztlich bietet DWE die Annealing-Anlage für 4,39 Millionen Euro an (Lieferzeit sechs Monate ab Bestelldatum). Beide Angebote sind hinsichtlich Transport- und Zahlungsbedingungen (Incoterm FCA [Herstellort]; 90 Prozent Zahlung bei Lieferung/10 Prozent bei Abnahme; 30 Tage Zahlungsziel) identisch. Die erste Vorbesprechung Die Zeit ist somit gekommen, dass Herbert Langwasser zu einer Vorbesprechung einlädt, in der das genaue Vorgehen zur Beschaffung des Equipments abgestimmt werden soll. Neben ihm und dem Bedarfsträger nehmen noch Hartmut Eisleben, Technischer Leiter Annealing und Vorgesetzter von Klaus Auerbach, sowie der Prozessentwickler Dr. Jens Zimmermann teil, ein junger, umtriebiger und kreativer Zeitgenosse, der ursprünglich aus Bremen kommt. Zunächst gehen die Anwesenden die einzelnen Positionen und Ausführungen in den beiden Angeboten durch, und es werden keine
2.2 Erste Verhandlungstipps
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Abweichungen von der Spezifikation oder gar Probleme und Showstopper entdeckt. Die eine oder andere Optionen ist sicherlich diskutabel, etwa wie viel Prozessunterstützung durch Lieferanten erforderlich ist. „Passt im Prinzip so“, ist die einhellige Meinung. Langwasser erläutert (nicht zum ersten Mal), dass die Verhandlungsvorbereitung der wichtigste Schritt auf dem Weg zum Erfolg ist und die Eckdaten dazu im Team sorgfältig abzustimmen sind. Dazu soll ein Formular dienen, das er Verhandlungsplaner nennt und das vom Einkauf bei komplexen bzw. bedeutenden Verhandlungen verwendet wird (Muster in Abschn. 9.2). Er erklärt, dass alle Mitglieder des Verhandlungsteams auf jeden Fall mit einer Stimme zu sprechen haben, um den Anbietern nicht Uneinigkeit zu signalisieren. „Das sind Verkaufsprofis, die merken das sofort und nutzen es aus.“ (Abschn. 5.6) In der heutigen Besprechung soll die Grundrichtung für Vorbereitung und Verhandlungsführung festgelegt werden. Bei der etwas diffusen Diskussion zur Verhandlungsstrategie zeigt sich schnell, dass eine Präzisierung und Ausformulierung dessen angestrebt werden muss, was die WAFAG erreichen will und auf welchem Wege. Im Wesentlichen sieht es bekanntlich so aus, dass erst einmal eine Anlage vom ausgewählten Lieferanten in Dresden installiert, intensiv getestet und gegebenenfalls optimiert werden soll. Im weiteren Verlauf des Projekts ist auf der erzeugten Daten- und Erfahrungsbasis eine Entscheidung für den Volumenauftrag für Singapur zu treffen. Die nächsten Schritte Die Frage kommt auf, wann und in welcher Reihenfolge die beiden Verhandlungen stattfinden sollten. „Habt Ihr einen Favoriten, den Ihr als Lieferanten bevorzugt?“ fragt Langwasser die beiden Techniker und den Entwickler. „Nein, wir sind in beide Richtungen offen“, antwortet Auerbach. „JT ist in großem Stil unterwegs und schneller, DWE kleiner und flexibler. Beides sind gute Firmen, mit denen wir ständig zusammenarbeiten.“ Zimmermann erwähnt, dass die Kooperation mit DWE auf Prozessebene enger ist, „das läuft mit den Holländern familiärer, aber auch einen Tick chaotischer als mit den Amerikanern.“ Sie beschließen, für die beiden Anlagentypen und Konzepte einen formalen Vergleich durchzuführen (QFD-Analyse; Abschn. 4.3), und vereinbaren einen zeitnahen Termin. Gleichzeitig legen sie gemeinsam eine grobe Zeitleiste für die nächsten Aktivitäten fest, insbesondere die Kalenderwochen, in denen die beiden Verhandlungen stattfinden sollen. Aufgrund einer soliden Projektplanung besteht momentan kein akuter Zeitdruck. Wieder wird Langwasser ein kurzes Protokoll schreiben. Zum Ende meldet sich Technikleiter Hartmut Eisleben, der an der geplanten QFD-Analyse
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
wegen einer Dienstreise nicht teilnehmen kann. „Ich möchte allerdings unbedingt bei den Vergabeverhandlungen dabei sein, denn dies ist in unserem Bereich das wichtigste Projekt der nächsten Jahre.“ Betretenes Schweigen, weil Langwasser und Auerbach vorher übereingekommen waren, mit einer kleinen Mannschaft aufzulaufen, wie es die beiden Anbieter gewöhnlich ebenfalls tun. Die Teilnahme von Vertretern aus dem OFK-Bereich sollte zumindest in der ersten Verhandlungsrunde aus taktischen Gründen unterbleiben. „Es ist gut von Ihnen, Herr Eisleben, dass Sie sich in die Verhandlung einbringen wollen“, sagt Herbert Langwasser mit etwas pädagogischem Talent. „Doch wollen wir unser Pulver natürlich nicht schon am Anfang komplett verschießen.“ Eisleben gleiten die Mundwinkel nach unten. „Klaus, Jens und ich haben das im Griff. Sie benötigen wir – wie auch Herrn Burghardt und meinen Chef –, damit Sie uns bei Vorstand und Projektleitung den Rücken freihalten.“ Jetzt schaut der Ausgeladene wieder etwas freundlicher. „Als höhere Ebene sollten Sie zunächst im Hintergrund bleiben und als Eskalationsstufe zur Verfügung stehen.“ (Abschn. 1.6, 6.2 und 7.4) Einer Führungskraft vor Publikum so gegenüberzutreten erfordert zwar etwas Courage, aber Herbert Langwassers Verpflichtung als zuständiger Einkäufer besteht primär darin, das bestmögliche Verhandlungsergebnis zu erzielen – und dazu braucht es manchmal ein klares Wort. Langwasser, Auerbach und Zimmermann werden sich in den nächsten Tagen anhand des Verhandlungsplaners auf die beiden Vergabeverhandlungen vorbereiten, Termine mit den Anbietern vereinbaren und die erste Verhandlungsrunde zeitnah durchführen. ◄
2.3 Teamverhandlungen im Einkauf Das Wort Team ist anlässlich von Vergabeverhandlungen bereits mehrmals im Text aufgetaucht. In einem Unternehmen bezeichnet der Begriff ein für einen bestimmten Zweck aus Mitarbeitern zusammengesetztes Konglomerat. Teamarbeit ist wissenschaftlich gut untersucht; nach Tuckman (1965) gliedert sich die Teambildung in vier Phasen: Forming – Storming – Norming – Performing. Ein Verhandlungsteam hat kaum die Möglichkeit, diese klassischen vier Phasen zu durchlaufen: Dazu fehlt schlicht die Zeit angesichts einer wichtigen anstehenden Verhandlung. Um optimale Verhandlungsergebnisse erzielen zu können, sollten im Verhandlungsteam die Weichen zur Realisierung einer Beschaffung frühzeitig gestellt werden. Das beginnt damit, dass von den
2.3 Teamverhandlungen im Einkauf
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Entscheidungsträgern für jede bedeutende Verhandlung der passende Verhandlungsführer aus der Einkaufsabteilung ausgewählt wird. Dieser leitet das Beschaffungsteam – selbst dann, wenn ein hierarchisch höherstehender Kundenvertreter mit am Tisch sitzt (ansonsten wäre dieser der Verhandlungsführer). Ein Verhandlungsteam ist effektiver als ein einzelner Verhandler: Bei adäquater Vorbereitung und interner Abstimmung ist es einer Einzelperson klar überlegen, da man sich die argumentativen Bälle zuspielen kann und die individuelle Aufmerksamkeit größer ist. Andererseits bringen zu große Verhandlungsteams auch keinen zusätzlichen Vorteil. Der Teamansatz bleibt aus Ressourcengründen allerdings in der Regel umfangreichen Verhandlungen um höherwertige Güter vorbehalten.
Der Teamansatz in Verhandlungen
Die Zeiten sind in einigen Unternehmen noch gar nicht lange vorbei, als komplexe Einkaufsverhandlungen von Investitionsgütern oft so abliefen: Der zuständige Techniker kontaktierte mit der Spezifikation die Materialwirtschaft, die beim Lieferanten ein Angebot anforderte. In der Verhandlung war der zuständige Einkäufer auf Kundenseite der uneingeschränkte Herrscher im Ring; die anwesenden technischen Vertreter und sonstigen Kollegen dienten weitgehend als Staffage und durften höchstens nach seiner Aufforderung das Wort ergreifen. Zwar saßen in einem solchen Szenario mehrere Personen auf der Käuferseite am Tisch – doch konnte man nicht von einer echten Teamverhandlung sprechen. Heute hat der Teamansatz auch in der Beschaffung eine zunehmende Bedeutung erhalten, und Einkaufsverhandlungen profitieren regelmäßig von derartiger Arbeitsteilung. Wir reden hier nicht über eine Kleinbestellung von 10.000 Euro, deren Konditionen telefonisch zu vereinbaren sind. Es geht um sechs- bis achtstellige Beträge, und es wäre töricht, wenn der Einkäufer sich allein in die Verhandlung setzt. Ebenso kontraproduktiv scheint es, als Einkäufer die Anwesenheit von Kollegen – wie oben geschildert – nicht adäquat zu nutzen. Insbesondere Einkauf und Technik arbeiten als Partner zusammen, und jeder hat seine Rolle.
Teammitglieder Ein Verhandlungsteam setzt sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Fachbereiche zusammen, und nur die vorgesehenen Personen nehmen teil. Grundsätzlich ist die Vertretung folgender Funktionen denkbar:
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
• Der zuständige Einkäufer leitet das Team als Verhandlungsführer. Er ist für Tempo, Umsetzung der Strategie und Abschluss innerhalb des vereinbarten Zielkorridors verantwortlich, je nach Besetzung und Aufgabenverteilung ebenfalls für die Dokumentation der Ergebnisse, und er regelt Auszeiten. • Je nach Szenario ist es sinnvoll, dass ein weiterer Einkäufer an der Verhandlung teilnimmt. Dieser unterstützt den zuständigen Einkäufer, kann Mitarbeiter oder Kollege sein und führt gegebenenfalls das Verhandlungsprotokoll (s. Abschn. 9.3). Das soll dem Verhandlungsführer das analytische Zuhören und die Leitung des Gesprächs erleichtern. • Der mit dem zu realisierenden Projekt betraute Techniker bzw. Projektoder Anlageningenieur, der Bedarfsträger, gehört für Verhandlungen zu technischen Verhandlungsobjekten neben dem zuständigen Einkäufer zur Mindestbesetzung des Teams. Er ist für die Spezifikation verantwortlich und in der Lage, über technische Änderungen, Varianten und Optionen zu sprechen. Teilweise werden einzelne Bereiche, wie Mechanik und Elektrotechnik oder Bau und Versorgung, separat repräsentiert. • Betrifft die Verhandlung verfahrens- oder prozesstechnische Gesichtspunkte, ist der Prozessentwickler gefragt. • Darüber hinaus sind sonstige Funktionen wie IT, Controlling, Rechts- und Patentabteilung, Sicherheitstechnik, Logistik usw. in speziellen Verhandlungen zumindest im sie betreffenden Abschnitt der Verhandlung hilfreich bzw. erforderlich. In emotional stark aufgeladenen Situationen verhandeln Profis gewöhnlich nicht allein. Doch die Teilnahme des „weiteren Einkäufers“ wird in vielen Unternehmen als verzichtbar angesehen, und dem zuständigen Einkäufer fällt neben der Verhandlungsführung gleichzeitig die Aufgabe des Protokollanten zu. Nach der Verhandlungstheorie kann ein Verhandler nicht verhandeln, Protokoll führen und parallel analytisch zuhören (Einkaufsmanager 2019). Dass es dennoch in Beschaffungsverhandlungen geschieht, hat mehrere Gründe: Der Verhandlungsführer sieht den Zusatzaufwand als überflüssig an, will die genauen Inhalte des Verhandlungsprotokolls bestimmen oder findet aus Zeitgründen keinen verfügbaren Kollegen (vgl. Abschn. 8.2). Falls ein weiterer in Verhandlungsführung erfahrener Einkäufer an der Verhandlung teilnimmt, fällt ihm die Rolle eines Beobachters zu, der möglichst nicht in das Verhandlungsgeschehen eingreift. Vielmehr hört er sorgfältig zu und beobachtet, fertigt Notizen an, gibt dem aktiven Verhandler in Pausen und Auszeiten Rückmeldung oder Hinweise und macht taktische Vorschläge. Eine derartige Aufteilung kommt ursprünglich aus der Polizeiarbeit, speziell aus den
2.3 Teamverhandlungen im Einkauf
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Abb. 2.1 Teilnehmer an Teamverhandlungen (FBI-Konzept)
Ergebnissen und Konsequenzen vielfach gescheiterter Geiselverhandlungen vor allem in den 1970er und 1980er Jahren in den USA (Noesner 1999; Louden 1999; s. auch Shaw 2016). In Anlehnung an die Erkenntnisse der FBI-Akademie, personifiziert durch Special Agent Gary W. Noesner, wurde der Ansatz als FBI-Konzept, F BIMethode bzw. FBI-Prinzip bekannt und dient heute als Schulungsgrundlage für schwierige Verhandlungen aller Art, sogar in der Wirtschaft (Hofmann 2018, S. 73–75; Schranner 2020). Dabei werden drei, teilweise auch vier Funktionen im Team unterschieden, die in Abb. 2.1 zu erkennen sind. Die übrigen Teilnehmer an Beschaffungsverhandlungen, etwa der Bedarfsträger, spielen bei dieser Betrachtungsweise keine entscheidende Rolle.
Das FBI-Konzept
1. Der Verhandler, der Negotiator, ist der Verhandlungsführer und damit der primäre Ansprechpartner nach außen: in unserem Fall der verantwortliche Einkäufer, der die Verhandlung steuert. 2. Der teilnehmende zweite Einkäufer, der Beobachter, wird im klassischen Szenario der Geiselverhandlungen als Commander bezeichnet. Er hat die wichtige Aufgabe des mit am Tisch sitzenden internen Beraters, der sich aus dem Gespräch weitgehend heraushält. Anders als beim klassischen FBI-Konzept muss der Beobachter hier nicht zwangsläufig der Einkaufsleiter sein – der sich als Abteilungsleiter kaum auf die Rolle des stillen Zuhörers beschränken würde. Diese Rolle kann ebenfalls von einem Gruppen- oder Sachgebietsleiter wahrgenommen werden, der allerdings ein in der eigenen Organisation gehörter Meinungsbildner sein sollte.
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
3. Der Entscheider oder Entscheidungsträger, nach Noesner (1999) der Decision Maker, verantwortet das Ergebnis. Er sitzt nicht mit am Tisch und wird bei Bedarf später als höhere Ebene mit Entscheidungsmacht hinzugezogen (s. Abschn. 6.2). Im Rahmen von Einkaufsverhandlungen ist dies letztlich der Budgetverantwortliche, der das finale Okay gibt. 4. Im FBI-Fall gibt es noch den Hostage Taker, den Geiselnehmer, oder, wie ihn Schranner (2005) im Kontext des Geschäftslebens nennt, den Verhandlungsgegner. Da sich dieses Buch ausschließlich mit Partnern in der Verhandlung befasst, bleibt die Rolle in Beschaffungsverhandlungen unbesetzt; in Abb. 2.1 tritt an die Stelle des feindlichen Hostage Takers der partnerschaftliche Verhandler des Lieferanten, der Vertriebsingenieur oder Account Manager.
Aufgaben und Rollen im Team Daraus ergibt sich eine der Grundregeln auch für Beschaffungsverhandlungen: u
Wichtige Verhandlungen sollten immer im Team geführt werden. Es ist geboten, die Teilnehmer einer Verhandlung und deren Funktion und Rolle im Team während der Vorbesprechung genau festzulegen, wobei der Verhandlungsführer das letzte Wort hat.
Es muss jedem Beteiligen klar sein, dass eine Verhandlung der Identifikation gemeinsamer Interessen zwischen den Verhandlungspartnern dient, jedoch kein technischer Dialog ist, bei dem Vertreter der verschiedenen Fachrichtungen ihre Expertise beisteuern. Dies hat bereits im Vorfeld zu geschehen. Bei den Vorgesprächen sind oftmals deutlich mehr Personen involviert, als nachher am Verhandlungstisch sitzen. In vielen Fällen liegt die optimale Größe bei zwei bis drei Teilnehmern aus den eigenen Reihen; die Anzahl der Vertreter beider Parteien sollte nicht zu stark differieren. Im erweiterten Verhandlungsteam werden Positionen, Strategie und Taktik dezidiert abgestimmt. Die besten Lösungen sind zu erreichen, indem sich seine aktiven Mitglieder innerhalb der ihnen zugedachten Rollen ergänzen und „blind“ kooperieren. Insbesondere der Einkäufer als Leiter und Vertragsgestalter und der Techniker als Bedarfsträger und Budgetbeschaffer sollten dabei unbedingt am selben Strang ziehen und sich in der Verhandlung die Bälle gegenseitig zuspielen. Verhandlungserfahrene Teilnehmer aus den technischen Bereichen sind für den Verhandlungserfolg Gold wert. Umgekehrt spürt jeder geschulte und erfahrene
2.3 Teamverhandlungen im Einkauf
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Vertriebsingenieur, wenn im Kundenteam Uneinigkeit herrscht. Dazu passt diese Anekdote: Beispiel
Eine nicht ganz unbedeutende Verhandlung von Prozessanlagen war sorgfältig nach den Regeln der Kunst im Verhandlungsteam vorbereitet worden. Am Tage der Verhandlung saßen sich am Ort des Geschehens zwei Mitarbeiter des Lieferanten und auf Kundenseite Einkäufer, Anlageningenieur und Prozessentwickler gegenüber, und die Einstiegsphase nahm ihrem Lauf. Nach einer halben Stunde ging die Tür zum Verhandlungszimmer auf, und noch zwei Vertreter aus der Technik des eigenen Unternehmens erschienen. „Herr Schuster, wir glauben, Sie haben vergessen, uns zu dieser Verhandlung einzuladen.“ Es ist nicht überliefert, wie Verhandlungsführer Schuster in dieser Situation reagierte. Offensichtlich waren das Drehbuch und die darin vergebenen Rollen nicht allen Beteiligten bekannt. Hinausschicken sollte man die überflüssigen Teilnehmer nicht, denn dies hätte möglicherweise einen Gesichtsverlust bedeutet und die mangelhafte Abstimmung dokumentiert. Allerdings würde es Sinn machen, die Beiden in einer Verhandlungspause wieder zu verabschieden, bevor der kommerzielle Teil der Verhandlung beginnt. ◄ Kritisch zu bewerten ist die Teilnahme von Vertretern des oberen und TopManagements an Verhandlungen, also Abteilungsleiter, Vorstände oder Geschäftsführer – was nicht nur den erwähnten Einkaufsleiter betrifft. Eine Ursache ist in der höheren Hierarchieebene zu finden, der sie angehören. Das birgt das Risiko, dass sich der Verhandlungsführer – zumindest unterbewusst – in seiner Vorgehensweise eher den Managementvertretern (das heißt den internen Zwängen) als dem Verhandlungserfolg (der externen Angelegenheit; s. Abschn. 1.3) verpflichtet fühlt. Denn wer kann schon von sich behaupten, dass er die Geduld hat, im Beisein eines Vorstands wie Inspektor Columbo in der US-amerikanischen Krimiserie durch scheinbar ungeschickte Fragen Informationen zu beschaffen und durch geduldiges Schweigen die andere Seite zum Reden zu bringen? Der weitere – bereits erwähnte – Grund ist, dass diese höheren Ebenen gegebenenfalls später als Eskalationsstufe benötigt werden, wenn die zunächst tätigen Verhandler zu keiner Einigung kommen. Viele Zeitgenossen denken beim Stichwort Teamverhandlungen (und vielleicht auch beim FBI-Konzept) automatisch an das berühmt-berüchtigte Good Guy – Bad Guy-Spiel. Mittlerweile kennt jeder einigermaßen erfahrene Verhandler diese unsaubere Taktik, und bei ihrer Anwendung besteht die reale Gefahr, dass man
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sich der Lächerlichkeit preisgibt. Faires, sachbezogenes Verhandeln nach dem Harvard-Verhandlungskonzept (Abschn. 3.4) führt auf viel einfacherem Weg zu tragfähigen, nachhaltigen Ergebnissen.
2.4 Motivation von Einkäufern Eine Voraussetzung für erfolgsorientiertes Wirken vor allem im strategischen Einkauf ist ein hohes Maß an Selbstbestimmung der beteiligten Mitarbeiter. Diese Selbstbestimmung erzeugt bei den meisten die notwendige intrinsische Motivation, mit der sie ihre Aufgaben engagiert und zielstrebig angehen können. Nur darüber lässt sich der für kreatives und effizientes Arbeiten so wichtige F low-Zustand erreichen, das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit. (Csíkszentmihályi 2010, 2014) (Erinnern Sie sich an das 7. Hauptlaster in Abschn. 2.1: Faulheit.) Dazu zwei Definitionen:
Intrinsische Motivation bezeichnet das Bestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun – weil es einfach Spaß macht, Interessen befriedigt oder eine Herausforderung darstellt. Extrinsische Motivation Bei der extrinsischen Motivation steht der Wunsch im Vordergrund, gewisse Leistungen zu erbringen, da man sich davon einen Vorteil (Belohnung) verspricht oder Nachteile (Bestrafung) vermeiden möchte. Letztlich ist also maßgeblich, was uns antreibt – wir selbst oder die Umstände. Leistungsgerechte Bezahlung wird im gewerblichen Umfeld vorausgesetzt und ist ein Hygienefaktor, der in der Regel nicht zur intrinsischen Motivation beiträgt, sondern lediglich die Entstehung von Unzufriedenheit verhindert. Der Effekt von Gehaltserhöhungen verpufft erfahrungsgemäß spätestens nach drei bis sechs Monaten; wirkungsvoller ist die periodische Gewährung von Leistungen (Incentives) zusätzlich zu einem adäquaten Festgehalt, z. B. Projekt- oder Zielerreichungsprämien, Gewinnbeteiligung, Einkaufsgutscheine u. v. m. Doch auch dies ist keine Garantie für motivierte Mitarbeiter. Intrinsische Motivation bezieht ein Einkäufer ebenso wie Angestellte in weiteren Funktionen aus zusätzlichen Quellen, unter anderem über diese Rahmenbedingungen: • interessante Aufgaben und Herausforderungen mit Erfolgsaussichten • Wertschätzung für die geleistete Arbeit • Möglichkeit zum selbstbestimmten Arbeiten (s. o.)
2.4 Motivation von Einkäufern
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• erweiterte Kompetenzen und organisatorische Freiheiten • kollegiales Umfeld ohne atmosphärische Störungen • respektvolles und motivationsförderndes Führungsverhalten des/der Vorgesetz ten (s. Abschn. 6.3, 6.5 und 6.6) • individuelle Beratung, Förderung und Karriereentwicklung • ausgeglichene Work-Life-Balance In Abschn. 1.4 ist ausgeführt, dass Savings in vielen Unternehmen traditionell als wichtige Maßzahl für den Verhandlungserfolg fungieren, obwohl die Abweichung des Ergebnisses von der Zielsetzung ein geeigneteres Kriterium darstellen würde. Zum Verständnis der Motivation von (Ein-)Käufern im Business- und Konsumentenbereich wollen wir im Folgenden einen näheren Blick vor allem auf Preisnachlässe (= Rabatte) werfen, die über die Ausschüttung des Hormons Endorphin eine Belohnung für unser Gehirn bewirken können.
Kaufen macht glücklich
Der Mensch benötigt für das Starten jeglicher Art von Aktivitäten einen Antrieb. Dieses auch im Tierreich übliche Verhalten, das dem Überleben dient, hat die Natur zwecks Ressourcenschonung so vorgesehen; wir werden erst durch eine zu erwartende Belohnung aktiviert. Das kann im einfachsten Fall die Befriedigung der physiologischen Grundbedürfnisse etwa nach Nahrung oder Wärme sein – doch dieselben Mechanismen wirken genauso, wenn wir ein Sonderangebotsschild sehen oder uns jemand einen Preisnachlass anbietet. Käufer lieben Schnäppchen. Reduzierte Preise aktivieren in unserem Gehirn das Belohnungszentrum, und zwar in einer Art und Weise, dass das Gefühl verloren gehen kann, ob wir etwas tatsächlich benötigen und inwieweit der „ursprüngliche“ Preis in einem echten Bezug zum Warenwert steht. Dass der Verbraucher im Einzelhandel auf mannigfaltige Weise manipuliert wird, ist inzwischen vielen bekannt. (s. Abschn. 8.4) Dennoch funktioniert es bei den meisten Shoppern!
In professionellen Einkaufsverhandlungen sind die Kundenvertreter solchen unterschwelligen Einflüssen in der Regel nicht ausgesetzt. Dennoch: Auch hier meldet sich das Belohnungszentrum des Einkäufers mit einem biochemisch erzeugten Feuerwerk der Neuronen, wenn er einen Preisnachlass oder eine kostenlose Draufgabe erhält – was den nüchternen Blick auf die Dinge trübt
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2 B2B-Einkäufer: kompetent und regelkonform
Abb. 2.2 Preisnachlässe machen Einkäufer glücklich
(Abb. 2.2). Und es besteht ebenfalls die Problematik, dass der für den Rabatt maßgeblich Basis- oder Listenpreis rein willkürlich sein kann und lediglich der Setzung eines Preisankers („Ankerung“; s. Abschn. 3.6 und 5.7) dienen soll. Der biochemische Grund für dieses Hochgefühl liegt in der Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin tief im Mittelhirn, nachdem etwas gut geklappt hat. Dopamin wiederum aktiviert das Belohnungszentrum Nucleus accumbens im Vorderhirn, wo daraufhin Endorphine, opiumähnliche Botenstoffe, produziert werden. Diese körpereigenen Drogen lösen euphorische Glücksgefühle aus, wenn der Mensch eine wie auch immer geartete Belohnung erwartet und anschließend erhält; das kann das Aushandeln eines Rabatts ebenso sein wie ein Lob vom Chef oder der Genuss eines Stücks Schokolade. Der genauere Blick auf die phänomenologische Auswirkung von Belohnungen führt von der einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehung zu einer vierstufigen Abfolge. Beim Verständnis hilft das von Lyman W. Porter und Edward E. Lawler 1968 für die Arbeitszufriedenheit entwickelte Motivationsmodell (Porter und Lawler 1968; vgl. Semar 2008, S. 35–36).
Porter-Lawler-Modell
Die darin als Kernstück enthaltene Sequenz Anstrengung → Leistung → Belohnung → Zufriedenheit (Porter und Lawler 1968, S. 165) besagt, dass vor der Anstrengung die realistische Aussicht auf ein zu erreichendes Ziel
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bestehen muss. Der Arbeitnehmer soll eine extrinsische oder intrinsische Belohnung erhalten, für die er sich anstrengen muss. Die Auswirkungen der Handlung fließen als Erfahrung in das künftige Verhalten des Akteurs ein, weshalb das Schema alternativ Zirkulationsmodell genannt wird. Besagter Zusammenhang hat jedoch auch für andere Lebensbereiche Gültigkeit und erklärt ebenfalls die Zufriedenheit eines Verhandlers nach einem vorteilhaften Abschluss.
Dieser Hintergrund lässt einen differenzierten Blick auf Beschaffungsvorgänge zu. Ist eine Verhandlung erfolgreich verlaufen und konnte der Einkäufer einen signifikanten Nachlass und weitere Vorteile vereinbaren, belohnt sein Gehirn dies also mit einer Dopamin- und Endorphin-Ausschüttung, und er fühlt sich gut. Aber wie meistens hat die Natur einen Gegenpol geschaffen, der dafür sorgt, die Dinge in einer gewissen Balance zu halten. Der Antagonist des Belohnungssystems ist das über Serotonin, Noradrenalin und Cortisol gesteuerte Angstsystem. Das in der Amygdala (Mandelkern) verortete Angstsystem entscheidet, was Menschen meiden, um Gefahren zu entgehen, und ermöglicht erst ein soziales Miteinander. Der Mensch handelt prinzipiell auf der Basis dieser zwei grundlegenden, im Gehirn gegeneinander arbeitenden Systeme. Die Wechselwirkung des Belohnungs- und Angstsystems kann aktiv ausgenutzt werden – ein nicht ganz vorbildliches Vorgehen, das gemeinhin als „Zuckerbrot und Peitsche“ bekannt ist: Man stellt jemandem für den Erfolgsfall eine Belohnung und für den Misserfolg Sanktionen in Aussicht. Auch Taktieren in einer Verhandlung bedeutet teilweise nichts anderes, als mit dem Belohnungs- und Angstsystem des Gegenübers zu spielen: Der andere Verhandler freut sich auf die Belohnung eines gelungenen Abschlusses; gleichzeitig sitzt ihm die latente Angst im Nacken, dass aus einem angestrebten Vertragsabschluss nichts wird.
2.5 Compliance im Beschaffungswesen In Abschn. 6.4 wird ausgeführt, dass Loyalität eine der wichtigsten Eigenschaften von Angestellten ist. Vor allem für Mitarbeiter und Entscheidungsträger im Einkauf kommt noch eine zweite bedeutende Voraussetzung hinzu: Integrität. Einkauf und Beschaffung sind für ein Unternehmen Tore zur Außenwelt. Compliance
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– ein weiterer, im B2B-Bereich verbreiteter Anglizismus – ist daher ein unverzichtbares und brisantes Thema, dem sich jede Wirtschaftsorganisation und insbesondere die Materialwirtschaft stellen muss. Diesbezügliche Diskussionen sind in den Fachblättern und durch die Verbände allgegenwärtig (z. B. Wagner 2008; BME 2016; Kayser 2016; Falkenstein 2018; Neitzel 2018a, 2018b, 2019a, 2019b; Heinzelmann 2019; Lenhardt 2019; Inside Business (o. J.)). Obwohl das R für die ERFOLGsformel benötigt wurde, findet hier der gängigere Term „Compliance“ anstelle von „Regeltreue“ Verwendung.
Compliance bedeutet die Einhaltung von Verhaltensmaßregeln, Gesetzen, Richtlinien und freiwilligen Kodizes durch Unternehmen. Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) definiert Compliance als die in der Verantwortung des Vorstands liegende Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und unternehmensinternen Richtlinien (BAnz 2014). Die Definition von Krügler (2011) bezieht sich auf die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen, regulatorischer Standards und Erfüllung weiterer, wesentlicher und in der Regel selbst gesetzter ethischer Standards und Anforderungen. Top-Thema Korruption Beginnen wollen wir mit einer Übersicht über wesentliche Elemente, denn Compliance bedeutet für die Beschaffungsmitarbeiter mehr als das bloße Einhalten von rechtlichen Pflichten, wie die folgende Übersicht zeigt. Zwar umfasst Compliance auf der ersten Ebene auch die Einhaltung der relevanten Gesetze, z. B. aus dem Kartell-, Arbeits-, Datenschutz- oder Produktsicherheitsrecht. Doch neben stark regulierten Feldern wie Wirtschaftskriminalität oder Kartellrecht geraten zusätzlich soziale und umweltbezogene Anliegen immer mehr ins Blickfeld der Unternehmen (BME 2016). So ist die Auswahl von Lieferanten, die im Inund Ausland die Gesetze sowie die Kriterien für soziale Gerechtigkeit einhalten, ebenfalls ein Compliance-Thema, für das spezifische Regeln zu entwickeln sind.
Compliance-Themen im Unternehmenseinkauf
• Problematik der Annahme von Geschenken und Einladungen • Korruption (passive Bestechung; Verstoß gegen StGB-Normen) • Kartellrechtsvergehen (Verstöße gegen das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB) • Verfehlungen bei Ausschreibungen und Angebotsanfragen • Abschluss von Scheinverträgen
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• Verfehlungen beim Einsatz von Fremdressourcen, Werk- und Dienstleistungsverträgen (z. B. Verstöße gegen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG) • Verstöße gegen das Außenhandelsgesetz (AußHG) oder das Außenwirt schaftsgesetz (AWG) • Falschbilanzierung • Verstöße gegen die Europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) • Sorgfaltspflichten und Haftungsrisiken • Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung (z. B. Ressourcenschonung, fairer Handel und Verbot/Beschränkung von Kinderarbeit)
Laut der Studie „Wirtschaftskriminalität 2018 – Mehrwert von Compliance“ von PricewaterhouseCoopers und der Martin-Luther-Universität H alle-Wittenberg (zitiert bei Neitzel 2019a) werden Compliance-Verstöße durch Einkaufsmitarbeiter bevorzugt in den Bereichen Datenschutz (87 Prozent), Korruption (83 Prozent) und Kartellrechtsverletzungen (62 Prozent) beobachtet. Von befragten deutschen mittelständischen Unternehmen sehen in einer Untersuchung von 2014 (zitiert bei Kayser 2016) 83 Prozent Haftungsvermeidung als Motiv zur Beschäftigung mit dem Thema Compliance, 78 Prozent Korruptionsverhinderung und 72 Prozent die Prävention von Wettbewerbsdelikten. Bestochen wird in etwa zwei Dritteln der Fälle mit Bargeld, weit dahinter folgen Sachzuwendungen. Der Schwerpunkt liegt im Dienstleistungs- und Baugewerbe. Ziel ist die Erlangung von Aufträgen oder Genehmigungen durch Anbieter. Erfreulicherweise geht die Anzahl der schweren Korruptionsstraftaten in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich zurück (BKA 2019). Die Antikorruptionsnorm der International Standardization Organization ISO 37001 bietet einen systematischen Ansatz, um das Korruptionsrisiko in Unternehmen zu reduzieren. Die Norm soll aufeinander abgestimmte Strukturen schaffen und deren Überwachung sicherstellen, um Korruption zu erschweren. Sie schafft eine internationale Vergleichbarkeit bei der Definition von Korruption sowie den Anforderungen an Antikorruptionsmaßnahmen. (Neitzel 2019b). Darüber hinaus haben verschiedene Industrieverbände und Interessengruppen Vorschläge für Sätze von Regeln gemacht, die vielfach als Verhaltenskodex (Code of Conduct) bezeichnet werden (z. B. RBA 2020). United Nations Global Compact ist ein weltweiter Pakt, der zwischen Unternehmen und der UNO geschlossen wird, um die Globalisierung sozialer und ökologischer zu
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gestalten. Das zehnte Prinzip wurde im Jahr 2004 hinzugefügt und basiert auf der UN-Konvention gegen Korruption (UNCAC; Global Compact 2020; s. auch Abschn. 2.6).
Global Compact Prinzip 10 „Unternehmen sollen gegen alle Arten der Korruption eintreten, einschließlich Erpressung und Bestechung.“ (Global Compact 2020) Kartelle und andere Gefahren Immer wieder wird in den Medien über illegale Einkaufskartelle berichtet, z. B. das sogenannte „Schienenkartell“ (Bialdiga 2015). Inzwischen gilt es als erwiesen, dass die Gewinne aus Kartellen die verhängten Strafen bei Weitem übersteigen (Schmid 2020). Abseits dieser organisierten und spektakulären Fälle können einzelne Einkäufer mit dem Kartellrecht in Konflikt kommen, wenn sie im Austausch mit Wettbewerbern stehen. Insbesondere Abstimmungen bei Ausschreibungen, Preisabsprachen, Aufteilung von Märkten oder die Weitergabe sensibler Informationen sind gewöhnlich strafbar. (BME 2016) Während in Deutschland Kartellrechtsverstöße mit – teilweise drakonischen – Geldstrafen gegen die beteiligten Unternehmen geahndet werden (auch Einzelpersonen können mit Zahlungen bis zu einem Jahresnettogehalt oder einer Million Euro bestraft werden), wird in den USA eine durchschnittliche Haftstrafe von 24 Monaten verhängt. (BDI 2015; Mundt 2018; vgl. GWB § 81 Abs. 4)
Wissenswert für Geschäftsreisende ist, dass sich die kartellrechtlichen Systeme in den USA und in Deutschland signifikant unterscheiden. Schon eine entspannte abendliche Plauderei beim Essen oder an der Hotelbar mit Vertretern eines Wettbewerbsunternehmens kann in den USA im schlimmsten Fall die Verhaftung nach sich ziehen. Und sogar auf Tagungen und Kongressen ist extreme Vorsicht geboten für den Fall, dass Insiderwissen zur Sprache kommt.
Das Produkthaftungsgesetz spielt im Beschaffungswesen eine Rolle, wenn ein Produkt zwecks Weiterverarbeitung bzw. Weiterverkauf eingeführt wird. Und besucht der Einkäufer einen Lieferanten im Zuge eines Lieferantenaudits, sollte er zuvor prüfen, ob der Lieferant gleichzeitig als Wettbewerber auftritt: Ist dem so, darf der Kundenvertreter nicht oder nur eingeschränkt die Produktion des Lieferanten betreten, um sich nicht eines Kartellrechtsverstoßes schuldig zu machen (Inside Business (o. J.)).
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Beachtung verdient zudem die Tatsache, dass im Rahmen des Einkaufs von Seminarleistungen – gerade in Zusammenhang mit Kommunikationsthemen – sehr genau darauf geachtet werden muss, dass Anbieter und Lerninhalte nicht ideologisch unterwandert sind. Dies trifft in besonderem Maße auf die Sekte bzw. Religionsgemeinschaft Scientology zu, die über Tarnangebote versucht, in Unternehmen einzudringen, und im Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird (s. z. B. LfV BW 2016; KNA 2018; BMI 2019; BR24 2019; Kluge 2020). Allerdings hat die Organisation als Folge der Informationsverbreitung via Internet heute deutlich größere Schwierigkeiten als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten, Mitglieder anzuwerben oder sich subversiv zu betätigen. Diese Liste ist keineswegs abschließend, und jeder der aufgeführten Punkte verdient innerhalb eines Unternehmens und vor allem im Einkauf Beachtung. Hier folgt der Vorschlag für eine Maßnahmenliste, die aber nur dann wirken kann, wenn Leitung und oberes Management bedingungslos dahinterstehen und die Umsetzung sicherstellen und überwachen.
Wichtige Compliance-Maßnahmen in einer Beschaffungsabteilung
• Erstellung und Schulung von verbindlichen Compliance-Regeln in Form eines allgemein akzeptierten Verhaltenskodex‘ (Code of Conduct) • Benennung eines Compliance-Beauftragten als Verantwortlicher und Ansprechpartner • vertrauliches Hinweisgebersystem durch Beschäftigte (Whistleblowing) • Aufbau eines Compliance Management Systems (CMS) nach der ISONorm 19600 (Neitzel 2019a) • systematische und formalisierte Risikoanalyse der Einkaufsprozesse und der Lieferantenbasis • klare Vorgaben an Lieferanten zu Geschenken und Einladungen, z. B. Präsente bis x Euro Wert nur zu Weihnachten oder abwechselndes Bezahlen der Restaurantrechnung • Festlegung klarer Regeln zur Verhinderung von Bestechung und illegalen Preisabsprachen • Maßnahmen zur Verhinderung von Insich-Geschäften nach BGB § 181 sowie sonstiger Interessenskonflikte • Einführung und Nutzung eines internen Kontrollsystems (Innenrevision) • konsequentes Vorgehen gegen bewusste Rechtsverstöße aller Art durch Mitarbeiter
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• Unterschriftenregelung mit klaren Wertgrenzen vor allem für Bestellungen und Verträge unter Berücksichtigung des Vier-Augen-Prinzips • Durchführung regelmäßiger Lieferantenaudits und sonstiger Vor-OrtPrüfungen • Vornahme und Dokumentation einer sorgfältigen Wareneingangskontrolle • periodische Änderung der Zuordnung von Lieferanten und Aufgabengebieten (Jobrotation) • Einführung klarer Dokumentations- und Datenschutzregeln • Vereinbarungen mit Lieferanten über die Rechtmäßigkeit von Geschäften, Nachhaltigkeit und fairen Handel • Prüfung von Anbietern insbesondere für Schulungsleistungen auf subversive Einstellungen und Inhalte (Scientology und andere; zu den Prüfkriterien s. Kluge 2020) • Treffen strategisch bedeutender Einkaufsentscheidungen im Team • Multi-Sourcing und Aufbau von alternativen Lieferanten • Vorbildverhalten von Unternehmensführung und Einkaufsleitung • Funktionstrennung • Arbeiten nach den Leitlinien des ehrbaren Kaufmanns (Neitzel 2019a; Wikipedia 2020a)
Unternehmen sind gut beraten, die vorgeschlagene Benennung eines Compliance-Beauftragten ernst zu nehmen, der an der Einführung und Nutzung derartiger Maßnahmen mitwirkt und für die Systeme die Gesamtverantwortung übernimmt. Dieser berichtet direkt an die Leitung (in Aktiengesellschaften an den Vorstandsvorsitzenden bzw. CEO) und trägt in größeren Organisationen die Bezeichnung Chief Compliance Officer (CCO). In den heute meist obligatorischen turnusmäßigen Schulungen wird gerne gefragt: „Wer ist bei uns für Compliance zuständig?“ Vielfach sagen die Teilnehmer: „Der ComplianceBeauftragte.“ Falsch! Die korrekte Antwort lautet: „Alle Mitarbeiter.“
2.6 Bestechung und Bestechlichkeit Es scheint mit Blick auf den potenziellen Leserkreis geboten, ein ComplianceThema etwas ausführlicher zu behandeln: das Übel der echten, strafbaren Korruption und die zahlreichen Grenzfälle in der Grauzone zwischen Bestechlichkeit und noch akzeptablen Zuwendungen.
2.6 Bestechung und Bestechlichkeit
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Korruption (deutsch etwa „Verdorbenheit“) bezeichnet Bestechlichkeit, Bestechung, Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung. Im juristischen Sinn steht Korruption für den Missbrauch einer Vertrauensstellung, um für sich oder Dritte einen materiellen oder immateriellen Vorteil zu erlangen, auf den kein rechtmäßiger Anspruch besteht. Sie ist ein destruktiver Akt der Verletzung des allgemeinen Interesses zugunsten eines speziellen Vorteils. (Wikipedia 2020c) Das wichtige Kapitel Korruption ist hinsichtlich aktiver Bestechung bereits diskutiert worden (Wenski 2019, S. 213–215). Doch auch jede Einkaufsabteilung steht als potenzielles Target unter Beobachtung, denn wie ein Damokles-Schwert hängt die Versuchung der Bestechlichkeit über ihr. Belastbare Zahlen über das genaue Ausmaß in Deutschland liegen nicht vor, die Dunkelziffer ist hoch. Zunächst eine bedenklich stimmende Feststellung:
Beinahe die Hälfte aller strafbaren Handlungen in der deutschen Wirtschaft entfällt auf Vorgänge im Einkaufsbereich (Inside Business (o. J.)). Dabei steht die Annahme von Schmiergeldern und Gefälligkeiten ganz vorne.
Auswirkungen von Korruption Man schätzt, dass durch Korruption weltweit jährlich bis zu zwei Billionen USDollar verschlungen werden, was das globale Wirtschaftswachstum um ungefähr zwei Prozent schwächt. Damit gilt Korruption als langfristiger und nachhaltiger Wachstumsverhinderer. (SZ 2016) Der deutschen Wirtschaft gehen dadurch jedes Jahr mindestens 6,5 Prozent des Umsatzes verloren, das entspricht 335 Milliarden Euro (Lenhardt 2019). Die Spanne der Vergehen reicht von der Annahme unangemessener Geschenke (passive Korruption) bis hin zu illegalen Preisabsprachen sowie im weiteren Sinne auch Begünstigung, Vorteilsannahme und -gewährung, Betrug und Erpressung. Von Transparency International wird jährlich für jedes Land ein Korruptionsindex zwischen 100 (frei von Korruption) und 1 (extremes Ausmaß) ermittelt; in der jüngsten Auswertung sind 180 Länder erfasst (Transparency 2019). Die Rangfolge der Länder ist seit Jahren nahezu unverändert: Deutschland liegt mit 80 von 100 Punkten auf Rang 9. Davor können sich regelmäßig Neuseeland, die skandinavischen Staaten, die Schweiz und Singapur platzieren. Nach Japan (73 Punkte) und den USA (69), Indien und der Volksrepublik China (beide 40) geht es über Russland (28) und Nigeria (26) zum traurigen Ende der Liste mit Nordkorea, Venezuela und den Konfliktstaaten in Afrika und im Mittleren Osten.
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Eine von der Gapminder-Stiftung in Stockholm entwickelte Visualisierungssoftware lädt zur kostenfreien Animation von Statistiken ein, was ein nicht minder dramatisches Bild erzeugt (Gapminder 2017; vgl. Rosling et al. 2018). Bei Ländern, für die entsprechende Zahlen bekannt sind, ergibt sich eine klare Korrelation zwischen dem Korruptionsindex als Funktion verschiedener statistischer Daten ökonomischer und bevölkerungspolitischer Natur. So sind das Pro-Kopf-Einkommen, die Lebenserwartung, die Überlebenswahrscheinlichkeit von Säuglingen (was als statistisch aussagekräftigeres Maß angesehen wird) sowie der Demokratieindex umgekehrt proportional zur Ausprägung der Korruption. Abb. 2.3 zeigt beispielhaft den Zusammenhang zwischen Demokratieindex eines Landes (je höher, desto demokratischer) und der Korruptionskennzahl (je höher, je weniger Korruption). Es lässt sich nun darüber streiten, ob niedrige Einkommen und autoritäre Regime die Korruption in einem Land fördern oder umgekehrt korrupte Systeme
Abb. 2.3 Korrelation zwischen Korruptionsrate und Demokratiefaktor für die Staaten der Erde. (Based on free material from Gapminder.org, CC-BY License; Gapminder 2017)
2.6 Bestechung und Bestechlichkeit
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ein demokratisches, prosperierendes Land innerlich aushöhlen und politisch und wirtschaftlich zerstören. Für beide Sichtweisen gibt es Beispiele und plausible Begründungen. Tatsache ist, dass in vielen Staaten mit wirtschaftlichen und politischen Problemen vor allem in Afrika und Asien Korruption und Misswirtschaft grassieren und sich einzelne Repräsentanten, Bürger, Interessenvertreter und Warlords die Taschen füllen. In einer Studie von EY (vorher Ernst & Young) (EY 2018) im Rahmen des „Global Fraud Survey“ gaben im Schnitt 38 Prozent der Teilnehmer an, dass Bestechung und anderes korruptes Verhalten in der Geschäftswelt ihres Landes vorherrschen. Doch muss man gar nicht so weit schauen: In Italien gehen mehr als zwei Drittel der Befragten davon aus, dass Korruption in ihrem Land weit verbreitet ist.
Korruption und Spieltheorie
Ein bekanntes Beispiel für die Anwendung der Spieltheorie ist das Gefangenendilemma: Zwei auf frischer Tat ertappte Einbrecher werden separat verhört und können entweder schweigen (Kooperation) oder gestehen (Defektion), was sich auf ihr späteres Strafmaß auswirkt. Individuell betrachtet ist Defektion vorteilhafter, vom kollektiven Standpunkt her (Addition des Strafmaßes) allerdings Kooperation. (s. z. B. Wenski 2020, S. 137–141; Wikipedia 2020b) Dieses Szenario lässt sich ebenso für das hier beschriebene Übel adaptieren: Korruption bringt individuell einen – scheinbaren – Vorteil. Scheinbar beispielsweise deshalb, weil nach Gapminder-Daten die statistische Lebenserwartung mit dem Ausmaß der Korruption sinkt und Geber und Nehmer von Schmiergeldern mittelfristig meist ein gefährliches Leben führen. Die kollektiven Folgen lassen sich in zahlreichen Krisenstaaten beobachten. Etwas einfacher ausgedrückt: Korruption lohnt sich spieltheoretisch betrachtet nicht. Die auf dieser Basis bewirkten Vereinbarungen und Handlungen sind (um beim Motto dieses Buchs zu bleiben) nicht nachhaltig.
Vor diesem erschreckenden geopolitischen Hintergrund sollte es jedem Bürger und Funktionsträger sowie allen Führungskräften und Mitarbeitern eines Unternehmens ein dringendes Anliegen sein, gezielt gegen Bestechung und Bestechlichkeit in jeglicher Form vorzugehen. Gemeint sind nicht die kleinen, steuerlich abzugsfähigen Geschenke von Lieferanten an das Einkaufspersonal (obwohl auch
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die verzichtbar sind und mit den Jahren weniger werden) und keineswegs die eine oder andere Einladung zum Essen. Es geht vor allem um das Big Picture: ausgeprägte Korruption und Vetternwirtschaft, von denen in Zusammenhang mit der Öffentlichen Hand und namhaften Industrieunternehmen immer wieder berichtet wird. Der Volksmund kennt in Deutschland für die damit verbundene Vorteilsnahme bzw. -gewährung verniedlichende Bezeichnungen wie Filz, Bimbes, Geschmäckle oder Kölscher Klüngel (zu Letzterem hat unter anderem der Westdeutsche Rundfunk bereits des Öfteren berichtet, z. B. unter ARD 2019). Einkäufer besonders gefährdet Man fragt sich, warum bei den in solche Machenschaften involvierten Personen das eigene Risikomanagement versagt. Die Rechtslage ist eindeutig: Korruption wird gemäß § 299 Abs. 1 StGB (Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr) mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Vorteilsgewährung, Vorteilsnahme und wettbewerbsbeschränkende Absprachen sind ebenfalls strafbar. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist das Vergaberecht anzuwenden; hier gelten durch das GWB teilweise strengere Vorgaben als in der Industrie.
Einkäufer sind als potenzielle Ziele von Bestechungsversuchen stark gefährdet. Jedem Mitarbeiter muss bewusst sein, dass er niemals Geschenke, Gefallen oder Annehmlichkeiten akzeptieren darf, wenn dies den Verdacht begründen könnte, geschäftliche Vorgänge in irgendeiner Hinsicht zu beeinflussen.
Ein derartiges Angebot darf nur angenommen werden, sollte es sich im Rahmen üblichen Geschäftsgebarens bewegen oder durch die Regeln des Anstands geboten sein. Als Maß für eine Obergrenze eignet sich in Deutschland der durch den Lieferanten gemäß § 4 Abs. 5 Nr. 1 EStG steuerlich absetzbare Betrag von 35 Euro für Zuwendungen aus betrieblichen Gründen und ohne Gegenleistung (s. z. B. Bast 2019; Hardenberg 2019). Im Zweifelsfall ist unbedingt Rücksprache mit dem Vorgesetzten oder dem Compliance-Beauftragten zu halten. Die private Annahme von Geld durch einen Einkäufer ist eindeutig Bestechlichkeit und durch nichts zu rechtfertigen – ein absolutes No-Go, das bei Entdeckung zu fristloser Kündigung, Strafverfolgung und möglicherweise Schadenersatzforderungen führt. Dem Einkäufer muss wie dem Verkäufer klar sein, dass er in Deutschland für Bestechung wie Bestechlichkeit persönlich zur Rechenschaft gezogen wird, in aller Regel aber nicht sein Arbeitgeber.
2.6 Bestechung und Bestechlichkeit
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Kostenloses Mittagessen
Plant ein Lieferant, dafür deutlich mehr als den steuerlich abzugsfähigen Betrag auszugeben, ist große Vorsicht geboten, denn es könnte sich um einen Bestechungsversuch handeln. Exzessive Geschenke und Unterhaltung sind ein Ersatz für die Zahlung von Geld unter dem Tisch. Eine Grundregel besagt: Geschenke basieren auf Gegenseitigkeit. Anschaulich ausgedrückt wird dies durch eine englischsprachige Redewendung mit doppelter Verneinung: There ain’t no such thing as a free lunch (abgekürzt TANSTAAFL). Der Satz drückt aus, dass für eine Person oder Gesellschaft etwas nie wirklich kostenlos sein kann, selbst wenn es den Anschein hat. In der Finanzmathematik wird der Ausdruck als informelles Synonym für das Prinzip der Arbitragefreiheit verwendet und findet auch in anderen Disziplinen wie Wirtschaft, Datentechnik oder Thermodynamik Anwendung. (Safire 1993; Wikipedia 2020d)
Insofern wird es nicht verwundern, dass in der Folge der Gefälligkeit eine gewisse Erwartungshaltung an den Einkäufer besteht. Welche Gegenleistung verspricht sich ein Vertriebsingenieur also dafür, dass er den Kunden – Einkäufer, Techniker, Entwickler, Management – mit Geschenken bedenkt und/oder zum Essen einlädt? Mitbringsel und Unterhaltung wirken sich im überschaubaren Rahmen wohl kaum unmittelbar auf einen Bestellvorgang aus. Einkäufer sollten jedoch immer bedenken, dass Verkäufer geschult sind, auf sehr subtile Weise zu versuchen, für eine nette Esseneinladung, Eintrittskarten oder „nur“ die Flasche Wein zu Weihnachten ein Gegenseitigkeitsverhältnis herzustellen. Ziele könnten die folgenden sein: • Erste Zugriffsmöglichkeit: Dieser Lieferant wird vom Kunden zuerst benachrichtigt, wenn sich eine neue Gelegenheit für ein Geschäft oder eine Zusammenarbeit ergibt. Dadurch hat er eventuell bessere Chancen als sein Wettbewerber, sich frühzeitig auf die Anforderungen oder die Gestaltung eines Projekts vorzubereiten. • Letzte Zugriffsmöglichkeit: Der Einkäufer oder Bedarfsträger lässt ihn ahnen, wie es beim Wettbewerber steht, und gibt ihm noch eine Chance, sein Angebot oder sein Leistungspaket zu verbessern. Was bei öffentlichen Ausschreibungen klar untersagt ist, sollte in der Privatwirtschaft ebenfalls unterbleiben.
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• Spec Consulting: Nur dieser Lieferant erhält die Möglichkeit, auf den Spezifikationsvorschlag Einfluss zu nehmen, um so Kostenvorteile zu realisieren, die sein Angebot attraktiver erscheinen lassen. • Zugang zu Entscheidern: Der Kunde bringt den Lieferanten – vielleicht in geselliger Runde – mit Entscheidungsträgern zusammen, an die der Wettbewerber nicht so einfach herankommt. • Guter Ruf: Angestellte des Kunden tragen ihre positive Meinung über das Lieferantenunternehmen in ein neues Umfeld weiter, nachdem sie ihre Aufgabe, Abteilung und sogar den Arbeitgeber gewechselt haben. • Nachsicht bei Preisen oder Leistungsstörungen: Der letzte Fall der keineswegs vollständigen Aufzählung ist gleichzeitig auch der gravierendste; der Einkäufer wird „milde“ gestimmt und verliert – bewusst oder unbewusst – einen Teil seines Bisses, wenn es um die konsequente Verhandlung von Positionen und die zu treffenden Maßnahmen bei Problemen und Leistungsstörungen geht. Oft ist die – versuchte – Einflussnahme auf den Einkäufer nicht unmittelbar ersichtlich. Vielfach hält der Kunde den Lieferanten mit Kleinigkeiten bei Laune. Die genannten Zuwendungen ergänzen dabei immaterielle Aktionen, z. B. Networking, Besuche, Protokollführung, Terminverfolgung, Informationsbeschaffung und vieles andere. Es gibt eine steigende Zahl von Unternehmen, die ihren Angestellten die Annahme von Präsenten in jeglicher Höhe oder die Teilnahme an Mahlzeiten auf Kosten des Lieferanten konsequent untersagen. Allerdings hat sich in der Praxis gezeigt:
Eine ausnahmslose Unterbindung der Annahme von Geschenken und Einladungen durch den Arbeitgeber führt meist zum Gegenteil dessen, was beabsichtigt wurde.
Das Gegenteil von gut ist bekanntlich gut gemeint, und so kann eine solche Anordnung diese Folgen haben: • Geschenke werden an die Privatadresse des Kundenvertreters geschickt und entziehen sich damit sämtlicher Kontrolle der Organisation. • Die damit verbundene Möglichkeit, eine persönliche Beziehung zwischen den Geschäftspartnern zu schaffen und weiterzuentwickeln, wird rigoros unterbunden.
Literatur
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• Bei interkulturellen Verhandlungen mag die konsequente Befolgung dieser Vorgabe als stark unhöflich empfunden werden und kann gar eine Störung der Geschäftsbeziehung bewirken. • Die Mitarbeiter sind in permanenter Gefahr, sich selbst bei Bagatellen wie der Annahme eines Kugelschreibers ins Unrecht zu begeben und eine Abmahnung oder gar Kündigung zu riskieren. • Unvermeidliche Ausnahmen für das obere Management sind in tieferen Hierarchieebenen schwer vermittelbar. • Die Identifikation der Belegschaft mit dem Geschäftserfolg des eigenen Unternehmens und der Wille zum Abschluss vorteilhafter und nachhaltiger Verträge werden dadurch nachweislich geschwächt.
Quintessenz: Ein verantwortungsbewusster Einkäufer ist integer und loyal seinem Dienstherrn gegenüber und handelt stets in kollektivem Interesse. Er lässt sich in seinen Beschaffungsentscheidungen nie durch Gefälligkeiten oder Zuwendungen von Anbietern bzw. Liefe ranten beeinflussen.
Literatur ARD (2019) Die Story im Ersten: Der Milliarden-Maurer vom Rhein. Ausgestrahlt 11. Dezember, im Internet verfügbar bis 11.12.2020. https://www.daserste.de/information/ reportage-dokumentation/dokus/videos/der-milliarden-maurer-vom-rhein-video-100.html Zugegriffen: 2. März 2020. Dazu im Internet zahlreiche Beschreibungen und Kommentare, z. B. Hoff H (2019) Kölscher Klüngel. Süddeutsche Zeitung, Internet-Veröffentlichung 9. Dezember. https://www.sueddeutsche.de/medien/fernsehfilm-koelscher-kluengel-1.4715956. Zugegriffen: 2. März 2020 BAnz (2014) Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Bekanntmachung des Deutschen Corporate Governance Kodex in der Fassung vom 24. Juni. https://www. dcgk.de/de/kodex/archiv.html?file=files/dcgk/usercontent/de/download/kodex/2014-0624_Deutscher_Corporate_Governance_Kodex.pdf. Zugegriffen: 2. März 2020 Bast V (2019) Geschenke für Geschäftspartner: So bleibt Ihr Geschenk steuerfrei. Impulse, Internet-Veröffentlichung 3. Dezember. https://www.impulse.de/recht-steuern/steuertipps/ geschenke-geschaeftspartner/2080486.html. Zugegriffen: 2. März 2020 BDI (2015) BDI Leitfaden Kartellrecht: Grundzüge, Risiken und Compliance. Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI) in Zusammenarbeit mit der Kartellrechtspraxis Gleiss Lutz, Publikations-Nr. 0032. Internet-Veröffentlichung Oktober. https:// bdi.eu/media/themenfelder/wettbewerb/publikationen/201510_Leitfaden-Kartellrecht. pdf. Zugegriffen: 2. März 2020
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Grundlagen des Verhandelns
Ein Werkzeugkasten wird mit Tools gefüllt, mit denen man sich selbst und andere zumindest nicht physisch verletzen kann. Es geht um Macht und Tricks, Verteilung und Integration, schlaue Ziele und gewinnbringende Abschlüsse. Und Sie erfahren, warum sich ein Verkäufer auf der Preistreppe immer abwärts und ein Einkäufer aufwärts bewegt – und sich beide hoffentlich irgendwo treffen.
Erfolgreiches Verhandeln ist eine Kunst, deren Perfektionierung von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig ist. Neben den in Abschn. 2.1 umrissenen Kompetenzen – insbesondere eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit sowie Rationalität gepaart mit Empathie – spielen Erfahrung und Lernbereitschaft eine bedeutende Rolle. Denn jede Verhandlung ist anders als alle vorherigen, und es wäre leichtsinnig und vermessen, bei der Vorbereitung einer Verhandlung von einem Selbstläufer auszugehen. Doch bei all dem darf nicht vergessen werden: Alle Verhandlungen – zu einem Beschaffungsgeschäft, einer Gehaltserhöhung oder sonstigen vertraglichen Vereinbarungen – gehorchen bestimmten Gesetzen, und dafür lassen sich Aspekte, Rahmenbedingungen und Regeln definieren. Deshalb hat auch in einem Verhandlungsbuch für Einkäufer ein Kapitel mit einer kompakten Zusammenfassung dieses allgemeingültigen Grundwissens seine Berechtigung.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_3
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3 Grundlagen des Verhandelns
3.1 Verhandlungsregeln: Die Werkzeuge des Einkäufers Geben Sie „Verhandlungstipps“ oder „Negotiation Tips“ in eine I nternetSuchmaschine ein, finden Sie umfassenden Rat, der das Verhandeln erleichtern soll. Wer sich die Mühe macht, die einschlägigen Veröffentlichungen und Beiträge systematisch zu studieren, trifft auf zahlreiche gut gemeinte Vorschläge. Man liest von Konzepten mit drei, zehn oder 30 goldenen Regeln. Eine der umfangreichsten kompakten Sammlungen hat Matthias Schranner (2013) zusammengestellt, dessen fast 100 Tipps einige meiner eigenen Erkenntnisse stützen, jedoch ebenfalls die für Beschaffungsverhandlungen eher unbrauchbare These begründen, dass es in Verhandlungen immer einen Gewinner geben muss und kein echtes Win-WinResultat möglich ist. (Schranner 2013, S. 15–38) Erwähnenswert ist außerdem die „Bible of Negotiation“ von Chester L. Karrass (Karrass 1996) mit einer rekordverdächtigen Anzahl an Tipps und Regeln. Einige dieser Hinweise und Kniffe sind ebenso wichtig wie naheliegend, andere hingegen weitgehend wertlos oder im B2B-Sektor ohne Kollateralschäden kaum umsetzbar. Im publizierten Sammelsurium an Verhandlungsregeln ist sicherlich für jeden etwas dabei – die Originalquelle lässt sich in der Mehrzahl der Fälle allerdings nicht mehr eruieren. Während der eine Teil aus gesundem Menschenverstand oder betriebswirtschaftlichen Betrachtungen resultiert, liegen die Grundlagen vieler weiterer Beispiele in psychologischem Basiswissen (zur Einführung s. z. B. Greene 2018). Viele Verhandlungstipps sind weltweit anwendbar: Das menschliche Gehirn arbeitet letztlich überall vergleichbar. Für andere wiederum ist der kulturelle Hintergrund des Gegenübers relevant. Von einigen Autoren wird auf einfache Wahrheiten abgestellt, die sich reißerisch darstellen und etwa in Verhandlungsschulungen gut verkaufen lassen. Doch nicht jedes Beratungs- und Trainingskonzept führt in allen Unternehmen und Märkten zum Erfolg, da oft die Belastbarkeit der Ergebnisse fehlt. Wie viel nützt ein kurzfristig einträgliches Verhandlungsergebnis, wenn es nicht nachhaltig ist und den Lieferanten an den Rand der Insolvenz bringt (vgl. Abschn. 4.4 und das Motto dieses Buchs in Abschn. 1.1)? Welchen Wert haben ausgefeilte Sachargumente, falls gleichzeitig Rhetorik und Körpersprache das Gesagte konterkarieren (Abschn. 3.5)? Und was hilft ein triumphaler Abschluss, dessen juristische Ausgestaltung in Vertragsform Mängel aufweist (Abschn. 4.5)?
3.1 Verhandlungsregeln: Die Werkzeuge des Einkäufers
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Verhandlungstricks
Zu den Begrifflichkeiten scheint erwähnenswert, dass unter Verhandlungstipps taktische Maßnahmen und Vorgehensweisen zu verstehen sind, die bei der Umsetzung der Verhandlungsstrategie helfen und daneben als Kniffe, Regeln oder Hinweise bezeichnet werden. Verhandlungstrick hingegen ist ein negativ belegter Begriff; man spricht auch von unsauberen oder gar schmutzigen Tricks – bei der Suche nach diesen ist das Internet ebenfalls ein Füllhorn (Wenski 2019, S. 155–185; vgl. Abschn. 7.4). Sie haben meist das Ziel, den Gegner mit unlauterer Absicht zu übervorteilen, und sind in einer fairen Verhandlung mit Partnern daher tabu. Denn es ist immer wieder festzustellen, dass ein Abschluss nur dann gelungen und nachhaltig ist, wenn er von beiden Seiten als fair angesehen wird und man sein Gegenüber als Partner und nicht als Gegner betrachtet (s. Abschn. 1.5).
Es ist unverzichtbar, dass einige Grundregeln beherzigt werden, die dem Einkäufer in Verhandlungen den Weg zum Erfolg ebnen. Diese verhindern, dass er seine Trümpfe voreilig und leichtfertig verspielt. Eine Reihe von etablierten und in der Praxis bewährten Vorschlägen für solche Regeln wird in diesem Kapitel eingeführt und diskutiert, die das B2B-Verhandeln im Allgemeinen betreffen und sich damit an Mitarbeiter in Vertrieb und Beschaffung gleichermaßen wenden. Sie stellen lediglich die Basis dar, sind jedoch noch nicht das Nonplusultra für den modernen Einkäufer und bilden keineswegs bereits das Gesamtkonzept erfolgreichen Verhandelns – hierzu sei auf die ERFOLGsformel (Abschn. 1.6) verwiesen. Das Set an vorgeschlagenen Tipps soll den Namen Toolbox erhalten.
Toolbox Unter der Toolbox wird hier ein Set von Regeln und Tipps verstanden, das wie ein Werkzeugkasten für die verschiedenen Aspekte eines Verhandlungsprozesses zu verwenden ist und dessen einzelne Fächer mit passenden, thematisch sortierten Werkzeugen (Tools) bestückt sind. Zunächst soll jede Schublade fünf bewährte Tools erhalten, die aber vor jeder Anwendung auf den Prüfstand gehören. Einige Beispiele sind in diesem Abschnitt aufgeführt; zusätzliche Möglichkeiten werden in den nachfolgenden Abschnitten erläutert. Erfahrene Verhandler legen weitere Tipps in ihre Toolbox (z. B. die in Kap. 5 vorgestellten Einkäuferregeln) und entfernen für die individuelle Verhandlungssituation ungeeignete Werkzeuge, wenn es sein muss. Dieses Gedankenmodell bedingt einen dynamischen Prozess, der im Prinzip nie
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3 Grundlagen des Verhandelns
beendet sein sollte. Bei weitem nicht jede Regel kann und wird in jeder Verhandlung zum Tragen kommen. Beginnen wir mit fünf Tools, die für nahezu jede Art von Verhandlung geeignet sind; einige klangen im bisherigen Text bereits in der einen oder anderen Form an:
Tools und Tipps für jede Verhandlungssituation
• Verhandeln bedeutet Tauschen und nicht Fordern. • Ziel einer Verhandlung sollte eine faire Vereinbarung auf Augenhöhe sein. • Das Talent zum Verhandeln muss man zu einem gewissen Grad im Blut haben. • Entwickeln Sie durch Erfahrung und Feedback eine gesunde Mischung aus Intuition und Rationalität sowie aus Spontaneität und Routine. • Benehmen Sie sich dem Verhandlungspartner und Ihren Teamkollegen gegenüber stets vorbildlich.
Der umfangreichste Teil einer Verhandlung ist deren Vorbereitung (Abschn. 4.3). Die Erstausstattung mit Werkzeugen geht von der Prämisse aus, dass eine unzureichende Vorbereitung insbesondere durch mangelhafte Informationsbeschaffung und Zielsetzung zum Improvisieren am Verhandlungstisch führt – Aufräumarbeiten mit oft unbefriedigendem Ausgang. Auf einige hier kurz angerissene Aspekte wird an anderer Stelle detaillierter eingegangen (z. B. Teamverhandlungen in Abschn. 2.3, Zielsetzung in Abschn. 3.3, BATNA in Abschn. 3.4).
Tools und Tipps für die Verhandlungsvorbereitung
• Gute Vorbereitung ist wichtiger als clevere Verhandlungstaktik. • Besorgen Sie sich alle relevanten Informationen. • Verbessern Sie bereits lange vor der Verhandlung Ihre BATNA, die Best Alternative To a Negotiated Agreement. • Je ambitionierter ein Verhandlungsziel festgelegt ist, desto besser gelingt der Abschluss. • Bedeutende Verhandlungen sollten im Team vorbereitet und geführt werden.
3.1 Verhandlungsregeln: Die Werkzeuge des Einkäufers
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Ein guter Verhandler ist immer auch ein guter Kommunikator. Er argumentiert schlüssig und überzeugend, weiß, wann er besser schweigt und zuhört, und ist in der Lage, durch eine geschickte Gesprächsführung direktiv zu wirken und der anderen Seite wertvolle Informationen zu entlocken. (vgl. Abschn. 5.6 zur Einkäufersicht)
Tools und Tipps für die Kommunikation in einer Verhandlung
• Reden Sie wenig, hören Sie aktiv zu und stellen Sie bevorzugt offene Fragen. • Entgegnen Sie auf Vorschläge nie typisch Deutsch mit „Nein“, sondern mit „Falls“. • Auskünfte der Gegenseite stärken Ihre Position: Wer fragt, der führt. • Lügen Sie Ihren Verhandlungspartner niemals an; Sie müssen jedoch nicht alle Teile der Wahrheit offenbaren. • Beachten Sie besonders auf internationalem Parkett kulturelle und sprachliche Unterschiede.
Die Durchführung einer Verhandlung ohne Emotionen scheint nicht möglich und zudem keineswegs erstrebenswert – auch in diesem Punkt stimmt meine Erfahrung nicht mit der Ansicht des ehemaligen Polizisten Matthias Schranner (2017) überein, der sagt: „Gefühle müssen zu Hause bleiben, wenn man sich in eine Verhandlung begibt“. Dies wird allerdings später (Schranner 2018) dahingehen relativiert, dass ein Verhandler nicht den Fehler begehen sollte, „sich von Emotionen überwältigen [zu] lassen“. Die kalkulierte Äußerung von Freude und Begeisterung einerseits oder Enttäuschung, Bedauern oder gar Ärger eines Partners andererseits kann helfen, verzwickte Konstellationen aufzulösen und Fortschritte zu bewirken. Dabei hat eine manipulative oder gar diskriminierende Motivation keinen Platz – von der Anwendung derartiger unsauberer Verhandlungstricks wurde oben bereits abgeraten.
Tools und Tipps zu Emotionen und Tricks
• Schieben Sie die Schuld an Ihren Problemen niemals der Gegenseite zu. • Die Methode des Feilschens bringt persönliche Beziehungen und Sachinteressen durcheinander.
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3 Grundlagen des Verhandelns
• Erkennen und artikulieren Sie Ihre Emotionen. Gestatten Sie auch dem Verhandlungspartner, Dampf abzulassen. • Wenn Sie zur Zielscheibe unsauberer Tricks werden, sprechen Sie dies sofort an und bitten um Korrektur. Brechen Sie ansonsten die Verhandlung ab. • Sehen Sie selbst davon ab, mit ethisch-moralisch verwerflichen Taktiken zu arbeiten.
An einem bestimmten Zeitpunkt in – geglückten – Verhandlungen offenbart sich deren Lösung und der darauf basierende Abschluss nahezu automatisch (zum Kipp-Punkt s. Abschn. 4.2). Wenn dieser erreicht ist, sollten beide Parteien eine verbindliche Einigung anstreben und davon absehen, länger um Details zu feilschen. Allerdings ist der erfahrene Verhandler darauf vorbereitet, dass die andere Partei zum Abschluss eine einseitige Detailforderung geringeren Wertes äußern könnte: der unsaubere Verhandlungstrick des Nibblings, des Anknabberns des Gesamtpakets („Aber Sie können uns doch zwei statt vier Wochen Zahlungsziel geben?“). Dem ist durch eine prompte adäquate Gegenforderung Einhalt zu gebieten (Abschn. 7.4 und 9.1).
Tools und Tipps für den Abschluss einer Verhandlung
• Seien Sie darauf vorbereitet, dass Ihr Gegenüber am Ende noch mit Kleinigkeiten ankommt. • Versuchen Sie nicht, aus jeder Verhandlung das Letzte herauszuholen. • Erschweren Sie das „Nein“ sagen und verdeutlichen Sie die Konsequenzen des Scheiterns. • Für Ihr Gegenüber ist der Verlauf wichtig, für Sie das Ergebnis. • Fassen Sie Vereinbarungen schriftlich zusammen und setzen Sie sie zeitnah um.
Es sei nochmals betont, dass die Gesamtheit der aufgeführten, nicht nur für Einkäufer verwendbaren Tipps und Regeln keineswegs in allen Konstellationen anwendbar ist und bei Bedarf Tools herausgenommen bzw. hinzugefügt werden sollten. Ein für die Praxis bestückter Werkzeugkoffer könnte beispielsweise so aussehen:
3.1 Verhandlungsregeln: Die Werkzeuge des Einkäufers
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Sortiment in der Toolbox eines Einkäufers (Beispiel)
• Hammer: Seien Sie sich über Ihre Verhandlungsmacht im Klaren und nutzen Sie sie. • Meißel: Erschüttern Sie das Erstangebot Ihres Gegenübers durch einen geschickt gesetzten Preisanker. • Zange: Besorgen Sie sich alle relevanten Informationen. • Bleistift: Fassen Sie Vereinbarungen schriftlich zusammen. • Lupe: Präsentieren Sie kleine Zugeständnisse an die Verhandlungspartner groß. • Meterstab: Für Ihr Gegenüber ist der Verlauf wichtig, für Sie das Ergebnis. • Schraubstock: Versuchen Sie nicht, aus jeder Verhandlung das Letzte herauszuholen. • Verbandkasten: Verdeutlichen Sie die Konsequenzen des Scheiterns. • Säge: Verändern Sie niemals Ihr Angebot, ohne zwischenzeitlich ein Gegenangebot erhalten zu haben. • Schraubendreher: Geben Sie nicht, ohne zu fordern. • Drehmomentschlüssel: Treten Sie sicher und locker auf. • Stromprüfgerät: Finden Sie Optionen zum beiderseitigen Vorteil.
Abschlüsse haben wir als Folge einer „geglückten“ Verhandlung bezeichnet. Allerdings führt bekanntlich nicht jede Verhandlung zu einem Abschluss und zum (Beschaffungs-)Vertrag. Eine Ursache liegt darin, dass in einer Wettbewerbssituation meist nur ein Anbieter den Zuschlag erhält. Darüber hinaus sind die Gründe, warum Verhandlungen richtiggehend scheitern können, mannigfaltig. Es ist zu unterscheiden zwischen Konstellationen, in denen eine Einigung möglich (also eine Schnittmenge der Interessen vorhanden) ist und solchen, bei denen sich aufgrund der konträren Interessen beim besten Willen keine Übereinkunft erzielen lässt. Mit Blick auf den erstgenannten Fall lassen sich mehrere Gründe benennen, die der Einigung im Wege stehen können. Hier – mit fallender Priorität – fünf einleuchtende Ursachen für das Scheitern der Einigungsfindung: 1. ungenügende Vorbereitung 2. mangelnde Berücksichtigung der berechtigten Interessen der anderen Seite 3. Versuch, der anderen Seite nur die eigenen Ideen und Positionen aufzuzwingen
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3 Grundlagen des Verhandelns
4. Vermischen von Sachebene und persönlicher Ebene 5. fehlende Kreativität (Annahme, dass der Kuchen begrenzt ist)
3.2 Grundbegriffe zum Verhandeln Das Konstrukt Verhandlung als Gesprächsform über einen kontroversen Sachverhalt ist in Abschn. 1.1 definiert. Eine Verhandlung kann als Dialog aufgefasst werden in der Absicht, Meinungsverschiedenheiten zu lösen, eine Einigung über das weitere Vorgehen zu produzieren, einen individuellen oder kollektiven Vorteil zu bewirken oder Ergebnisse zu erzeugen, die unterschiedliche Interessen befriedigen. Im Zuge der Vorbereitung und Durchführung von Verhandlungen ist eine Reihe von Grundlagen relevant, die nun in kompakter Form erläutert werden sollen. Bei Strategie und Taktik, wichtige Schlagwörter für jeden Verhandler, handelt es sich keineswegs um Synonyme. Auch hierzu soll die Begriffsbestimmung nicht fehlen:
Verhandlungsstrategie Die Verhandlungsstrategie ist eine möglichst kurze, prägnante und präzise Beschreibung der groben Richtung vom Motiv bzw. den Interessen zum Verhandlungsziel, vom Ausgangspunkt zum Ergebnis, die durch die Rahmenbedingungen begrenzt wird. Verhandlungstaktik Die Verhandlungstaktik ist der häufig gewundene Weg im Rahmen der festgelegten Verhandlungsstrategie; sie beinhaltet die konkrete Umsetzung der einzelnen Aktionen mit der übergeordneten Strategie als Leitlinie und lässt sich oft nicht detailliert planen. In anderen Worten: Die Verhandlungsstrategie ist der abstrakte Plan, der das Vorgehen zur Realisierung einer Aufgabenstellung festlegt. Sie wird während der Verhandlungsvorbereitung vom Verhandler bzw. dem Verhandlungsteam in Worte gefasst und bleibt für den Partner auf der anderen Seite des Tisches unbekannt. Die Verhandlungstaktik kann verschiedene Einzelelemente beinhalten, die sich aus der Anwendung der hier und im Folgenden erläuterten Verhandlungstipps und -regeln ergeben. Die Taktik soll helfen, die Strategie zu verschleiern. (Wenski 2019, S. 29–31) Die präzise verbale Ausgestaltung einer adäquaten Strategie ist eine der am meisten unterschätzten Herausforderungen während der Vorbereitung einer
3.2 Grundbegriffe zum Verhandeln
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individuellen Verhandlung; dies trifft sowohl auf die Einkaufs- als auch auf die Vertriebsseite zu. Sie resultiert auf der Beschaffungsseite aus der übergeordneten Geschäftsstrategie und der daraus abgeleiteten Einkaufsstrategie, die jährlich zu aktualisieren sind. Vielfach machen sich die Verhandlungsführer oder -teams nicht die Mühe, eine griffige Formulierung für die individuelle Verhandlungsstrategie auszuarbeiten, „denn wir wissen ja, was wir wollen“. Herbert Langwasser
Die Vorbereitungsaktivitäten zum Investitionsprojekt nehmen durch das nächste Treffen mit Klaus Auerbach Gestalt an. Mit dessen Input füllt Herbert Langwasser für jeden der beiden Anbieter einen Verhandlungsplaner (Abschn. 9.2) aus. Die Verhandlungen sind noch nicht terminiert, da die Reihenfolge bei der vorliegenden Wettbewerbssituation eine gewisse Rolle spielt und das Angebot von DWE relativ spät eingetroffen ist. Sie sollen beide zeitnah im Einkaufsgebäude der WAFAG in Dresden stattfinden. Als Lieferantenvertreter werden vermutlich Gottfried Krause (JT) sowie Arno van der Planken (DWE) kommen. Beide Herren sind als Key Account Manager im Hause WAFAG gut bekannt und verhandeln gewöhnlich recht sachorientiert. Hinsichtlich möglicher zusätzlicher Besucher herrscht zurzeit Unklarheit. Nachdem der allgemeine Teil der beiden Bögen ausgefüllt ist, wird zunächst an der Verhandlungsstrategie gearbeitet. Nach einigem Hin und Her einigen sich die Beiden auf diese Formulierung: „Erzielung einer technisch und finanziell optimalen Verhandlungslösung (Testanlage Dresden und 6 Produktionsanlagen für Singapur-Projekt) innerhalb des vorgegebenen Budgetrahmens durch Ausnutzung der Verhandlungsmacht ‚Wettbewerb‘“ (Abschn. 3.2 und 3.3). „Wir haben vier Millionen Euro Budget für die erste Anlage“, sagt Langwasser, „welche Nebenkosten müssen davon bestritten werden?“ Auerbach führt aus, dass die WAFAG für Transport, Raumvorbereitung und Anschlüsse grob etwa 150.000 bis 200.000 Euro benötigt. „Das heißt wir müssen für die erste Anlage bei JT weitere fünf Prozent Nachlass heraushandeln und bei DWE 15 Prozent. Das wird schwierig.“ – „Schwierig, aber durchaus machbar“, sagt Langwasser optimistisch. „Wir müssen eben versuchen, den Kuchen größer zu machen.“ Und die beiden Kollegen vertiefen sich in die Einzelheiten der Angebote, entwickeln und entwerfen Szenarien. Letztlich sieht es (bei einer Gesamtinvestition in der Größenordnung von 25 Millionen Euro) gar nicht so schlecht aus, ein vorteilhaftes Paket zu schnüren, bei dem sowohl Kunde als auch Lieferant gewinnt. Man darf
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3 Grundlagen des Verhandelns
annehmen, dass beide Anbieter – die deutsche Tochter-GmbH von JT sowie die DWE als viel kleinerer Konkurrent – den Zuschlag für das Geschäft anstreben und bereit sein dürften, dafür weitreichende Konzessionen zu machen. Und die gilt es opportunistisch zu nutzen. Die Frage steht im Raum, mit welchem Anbieter zuerst verhandelt werden sollte. Nach den Regeln der Kunst wäre dies der Kandidat, der aufgrund der Papierform die zweite Wahl darstellt. Dazu bietet sich an, eine QFD-Analyse in einem größeren Expertenkreis zu organisieren (Abschn. 4.3). ◄ Ohne Strategiefestlegung ist die sinnvolle taktische Planung und Ausgestaltung einer Verhandlung kaum möglich. Diese Nachlässigkeit kann einen Tunnelblick beispielsweise auf den Preis des Verhandlungsgegenstands erzeugen (die Disney’schen „Dollarzeichen in den Augen“), sodass zusätzliche Optionen nicht in Betracht gezogen werden. Denn nicht nur Verbraucher, sondern ebenfalls professionelle Ein- und Verkäufer denken zuerst an den Preis der Ware. Doch dies ist lediglich ein zu berücksichtigender Aspekt, der in den meisten Fällen erst dann angegangen werden sollte, nachdem eine Übersicht über die restlichen Verhandlungsobjekte des zu verhandelnden Pakets erarbeitet worden ist. Dazu bedarf es einer bereits im Vorfeld festzulegenden Strategie aus Anbieten und Nachgeben (zur Konzessionsstrategie s. Abschn. 1.4). Verhandlungstipps und -regeln sind die Basis für Taktiken. In Umsetzung der Empfehlung „Besorgen Sie sich alle wichtigen Informationen“ mag eine Taktik des Einkäufers lauten: „Nutzen Sie Ihre genaue Kenntnis der Bestellhistorie aus“, oder auch: „Wer fragt, der führt.“ Die übergeordnete Strategie könnte wie folgt formuliert sein: „Realisierung eines Vertragsabschlusses, der für das eigene Unternehmen kostengünstiger ist als die vorangegangene kommerzielle Vereinbarung mit diesem Partner.“ Schauen wir in das entsprechende Fach der Toolbox:
Tools und Tipps für die Preisfindung
• Reden Sie zunächst über alles andere, nur nicht über den Preis. • Entwickeln Sie faire, objektive Kriterien zur Preisfindung. • Bereiten Sie eine Konzessionsstrategie aus Anbieten und Nachgeben vor und verringern Sie Ihr Nachgeben mit jedem Schritt. • Verändern Sie niemals Ihr Angebot, ohne zwischenzeitlich ein Gegenangebot erhalten zu haben. • Verzichten Sie darauf, das erste Angebot zu machen, oder machen Sie eines, das Ihnen ausreichend Bewegungsfreiheit lässt.
3.2 Grundbegriffe zum Verhandeln
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Im Verlauf des Auf-sich-zu-Bewegens in einer Verhandlung besitzt der erste Tipp in der nachfolgenden Gruppe eine hohe Bedeutung: Machen Sie ohne zwischenzeitliche Gegenleistung niemals mehrere Zugeständnisse hintereinander (außer Sie werden dazu durch ungünstige Rahmenbedingungen gezwungen). Versuchen Sie, einen Verhandlungsablauf so zu strukturieren und zu dokumentieren, dass der rote Faden möglichst nicht verloren geht und am Ende klar und nachvollziehbar ist, was letztlich beschlossen worden ist.
Tools und Tipps für den Verhandlungsverlauf
• • • • •
Geben Sie nicht, ohne gleichzeitig zu fordern. Befassen Sie sich mit den Details. Vermeiden Sie feste Positionen und betrachten Sie andere Sichtweisen. Visualisieren Sie Angebote und (Zwischen-)Ergebnisse. Arbeiten Sie mit Meilensteinen und Fristen.
Ein ebenfalls relevantes Begriffspaar sind distributive und integrative Verhandlungen. Sehen wir uns die zugehörigen Definitionen an:
Distributive Verhandlung Eine distributive Verhandlung ist eine Verhandlung um einen einzigen Verhandlungsgegenstand. Integrative Verhandlung Bei einer integrativen Verhandlung wird der ursprüngliche primäre Verhandlungsgegenstand durch eine Reihe zusätzlicher Verhandlungsobjekte zum Paket erweitert. Jeder einzelne Verhandlungsgegenstand ist allerdings distributiv. Die Verhandlungsmasse, also der zu verteilende symbolische Kuchen, ist bei einer distributiven Verhandlung immer gleich groß, und der betreffende Verhandlungspunkt liegt in der Regel schon vorher fest. Der Gewinn der einen Partei entspricht dem Verlust der anderen. In Kaufverhandlungen geht es bei distributiven Verhandlungen typischerweise um den Preis: Je weiter der Lieferant seine Forderung reduziert, desto größer ist der Vorteil des Kunden, und umgekehrt. Doch sind rein distributive Verhandlungen in der Praxis die Ausnahme. Meist kommen zum primären Verhandlungsgegenstand einige nachgeordnete Verhandlungsobjekte hinzu, die manchmal nicht auf den ersten Blick zu erkennen
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3 Grundlagen des Verhandelns
sind: Kundenbindung, Marktpräsenz, Versorgungssicherheit usw. Typische Beispiele für distributive Geschäfte sind Börsentransaktionen aller Art; stark integrativen Charakter besitzen komplexe Beschaffungsvorgänge im Technischen Einkauf und im Investitionsgüterbereich. Eine hohe Bedeutung kommt der Festlegung des Preiskorridors zu, die den Verhandlern hinsichtlich der daraus resultierenden Konsequenzen ein Sicherheitsnetz aufspannt: Sie wissen damit präzise, wie weit sie mit ihren Konzessionen gehen dürfen, ohne ihre Kompetenzen zu überschreiten. In der Vorbereitung sind der beste Preis (der aus Einkaufssicht tiefste angestrebte Preis), der Zielpreis (die realistische Erwartung) und der Walk-out-Preis zu vereinbaren. Der Walk-out-Preis ist der schlechteste noch akzeptable Preis, sozusagen die „rote Linie“. Liegt das Angebot des Lieferanten darüber oder das des Kunden darunter, wird die Verhandlung zwecks interner Diskussion und Entscheidungsfindung unterbrochen oder sogar abgebrochen. Den Einigungsbereich einer distributiven Verhandlung nennt man ZOPA, die Abkürzung für Zone Of Possible Agreement. Dies ist der Überlappungsbereich der Verhandlungskorridore beider Parteien für dieses Verhandlungsobjekt. Eine ZOPA liegt dann vor, wenn der Walk-out-Preis des Lieferanten unter dem des Kunden liegt, wie aus Abb. 3.1 ersichtlich ist. Außerhalb der ZOPA – das heißt für den Lieferanten bei zu niedrigem und für den Kunden bei zu hohem Preis – ist eine Einigung nicht möglich. Im Hinblick auf die einzelnen Objekte einer integrativen Verhandlung ist von Bedeutung, ob es sich um Needs oder Wants handelt, ein weiteres unverzichtbares Begriffspaar.
Needs und Wants Needs sind Forderungen, die in einer Verhandlung unbedingt realisiert werden müssen, und Wants sind nicht zwingend notwendige Punkte, die im Laufe der Verhandlung getauscht werden können.
Abb. 3.1 Definition der Zone Of Possible Agreement in einer Verhandlung. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Calebsam/CC BY-SA 3.0, Wikipedia 2020b)
3.3 Verhandlungsziele und Verhandlungsmacht
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Ein Need aus Einkäufersicht ist das Erreichen eines Preisabschlusses unterhalb des zuvor festgelegten Walk-out-Preises. Als Need kommt auch der Liefertermin in Betracht, falls das Datum der Lieferung bzw. Installation oder Abnahme einer Anlage kritisch ist und beispielsweise auf dem roten Pfad eines Projektplans liegt. Weitere typische Needs sind die Einhaltung von Gesetzen, Normen, Spezifikationen etc.; eine ausreichend hoch eingedeckte Haftpflichtversicherung des Lieferanten; bei Anlagen Anlagendokumentation, Abnahmeprüfung und CE-Zertifizierung; bei Dienstleistungen entsprechende Qualifizierungsnachweise usw. Zu den Wants (scherzhaft als „goldene Wasserhähne“ übersetzbar) zählen natürlich bester Preis und Zielpreis. Weitere typische Wants sind Frachtbedingungen, verschiedene nicht zwingend erforderliche Optionen im Angebot, die Verjährungsfrist für Mängelhaftung sowie zusätzliche Garantieversprechen. Wants, die vielfach gut eingetauscht werden können, sind die Zustimmung zu einer Pressemitteilung des Lieferanten über ein größeres Geschäft oder der Verzicht auf eine mögliche Vertragsstrafe. Vor diesem Hintergrund lassen sich diese Tools formulieren:
Tools und Tipps zu Verhandlungsobjekten
• Vereinbaren Sie mit Ihrem Team während der Vorbereitung eindeutig, was bei der zu verhandelnden Beschaffung Needs und was Wants sind. • Needs müssen durchgesetzt werden, sonst ist der Abschluss unbrauchbar. • Definieren Sie Wants zum Tauschen und legen Sie mögliche Gegenleistungen dafür fest. • Finden Sie heraus, was der Verhandlungspartner wirklich haben möchte und wo seine Sachzwänge sind. • Präsentieren Sie kleine Zugeständnisse an den Verhandlungspartner groß.
3.3 Verhandlungsziele und Verhandlungsmacht Eine der Aufgaben im Rahmen der Vorbereitung besteht darin, Verhandlungsziele festzulegen – dazu zählt vor allem die Vereinbarung des abschlussfähigen Preiskorridors. Sinnvolle Ziele zur Bewirkung einer optimalen Leistung müssen generell bestimmte Kriterien erfüllen. Bei ihrer Formulierung hat sich die sogenannte SMART-Formel in der Praxis bewährt, die George T. Doran (1981)
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3 Grundlagen des Verhandelns
zugeschrieben wird. Inzwischen gehört die Formel zum Basiswissen und ermöglicht Zielfestlegungen nahezu aller Art, sei es im Mitarbeitergespräch, im Sport oder eben für Verhandlungen. Die fünf Einzelbuchstaben S.M.A.R.T., die zum englischen Wort smart („schlau“) führen, stehen für folgende Abkürzungen:
Vereinbarung von Zielen: Die SMART-Formel
S pecific M easurable A cceptable R ealistic T ime-related (oder Tough) Ein adäquates Verhandlungsziel sollte also spezifisch und messbar sein, das heißt möglichst quantitativ festgelegt werden, was die Zielerreichung bestimmbar macht. Beim Kaufpreis einer Ware lässt sich der Zielpreis im Team vereinbaren. Dieser muss für den Verhandler gleichzeitig akzeptabel sein, was bedeutet, er sieht sich mit seinem Verhandlungsteam in der Lage, ihn durch taktische Maßnahmen zumindest anzustreben und (aus Einkaufssicht) eventuell zu unterbieten. Erscheint ihm diese Möglichkeit auf der Basis von Markterkenntnissen, Herstellkosten des Anbieters, dem freigegebenen Budget und/oder der Verteilung der Verhandlungsmacht utopisch und kaum erreichbar, wird der Verhandler das Ziel schwerlich als realistisch akzeptieren können. Ebenso erschiene es für viele Hobbysportler unrealistisch, sich einen Marathonlauf als Ziel zu setzen (wobei dies für andere Athleten wiederum sehr ambitioniert, aber machbar wäre). Für das T in der SMART-Formel haben sich zwei Eigenschaften von Zielen gleichermaßen bewährt und durchgesetzt: Doran und viele andere Autoren stellen darauf ab, dass Ziele mit einer definierten Zeitachse versehen und terminierbar sein sollten. Dies mag bei Mitarbeitervereinbarungen eine Rolle spielen, jedoch wird in Beschaffungsverhandlungen die zeitliche Abfolge gewöhnlich von anderer Seite vorgegeben, und die Verhandler können nur bedingt Einfluss darauf nehmen. Für Verhandlungsziele scheint die Eigenschaft tough besser geeignet (Voeth und Herbst 2009, S. 113): Ein Ziel jeglicher Art spornt zu höherer Anstrengung an, wenn es anspruchsvoll und herausfordernd ist, ohne unrealistisch zu erscheinen. In der hier diskutierten Konstellation wird ein taffes Ziel dem Verhandler sein ganzes Verhandlungskönnen abfordern. Allerdings sei vor allem dem Top-Management davon abgeraten, ohne Vorliegen entsprechender
3.3 Verhandlungsziele und Verhandlungsmacht
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Verhandlungsmacht strenge Ziele zu oktroyieren – Verhandeln bedeutet letztlich Tauschen und nicht Fordern und Diktieren. Ein weiteres hier relevantes Akronym lautet NO TRICKS und bezieht sich auf die acht gängigen Quellen von Verhandlungsmacht (bzw. -stärke; s. Wenski 2019, S. 39–43). Denn die zur Verfügung stehende Verhandlungsmacht bildet keine feste Größe oder Eigenschaft, sondern rekrutiert sich aus verschiedenen Bereichen und lässt sich – teils mit erheblichem Aufwand – durch Optimierungsarbeiten an den einzelnen Faktoren steigern. Als Einstieg wiederum die Definition:
Verhandlungsmacht Unter Verhandlungsmacht versteht man die relative Stärke der Verhandlungsposition zwischen den beteiligten Parteien während eines Interessenausgleichs.
Quellen von Verhandlungsmacht: Die NO TRICKS-Formel
N eed Power (Notwendigkeit) O ptions Power (Alternativen) T ime Power (Zeit) R elationship Power (Beziehung) I nvestment Power (Aufwand) C redibility Power (Glaubwürdigkeit) K nowledge Power (Wissen) S kill Power (Verhandlungskönnen) Die Grundlagen für dieses Konzept finden sich bereits in den Geschäftsgepflogenheiten der Chinesen vor vielen Jahrhunderten: Fairness und gegenseitiges Vertrauen waren essenziell für nachhaltige und fruchtbare Handelsbeziehungen. Die heute gewöhnlich in Englisch bezeichneten Machtquellen übertragen sinngemäß die Geschäftsphilosophie der alten Chinesen in die Moderne. Die drei erstgenannten Vertreter bieten dabei das stärkste Potenzial in Verhandlungen. Eine bedeutende Frage für jeden Verhandler ist: Wer benötigt das Geschäft eher – der andere oder man selbst, Käufer oder Verkäufer (Need Power)? Denn wer kaufen bzw. verkaufen muss, hat die schlechteren Karten. Und was sind die Alternativen für beide Parteien, wenn aus dem Geschäft nichts wird? Je mehr
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3 Grundlagen des Verhandelns
und bessere Optionen verfügbar sind, desto stärker ist die daraus bezogene Verhandlungsmacht. Als dritter mächtiger Machtfaktor wäre Time Power zu nennen: Zeit ist ein mächtiger Verbündeter des Verhandlers. Das Ziel der Ausnutzung besteht darin, eine mögliche zeitliche Restriktion der anderen Seite herauszufinden und für eigene Zwecke zu nutzen, die ein Need darstellen könnte. Mit Relationship Power ist die Belastbarkeit der eigenen Beziehung zum Verhandlungspartner gemeint: Ein auf Vertrauen basierendes, robustes Verhältnis kann über viele Schwierigkeiten hinweghelfen. Eine hohe Investition in die Vorbereitung eines Geschäfts (Investment Power) stellt ebenfalls eine Machtquelle dar – und zwar durch die Hemmschwelle, eine Verhandlung scheitern zu lassen und den Aufwand als irreversible Kosten (Sunk Costs) abzuschreiben. Credibility Power bezieht man daraus, als Unternehmen am Markt wahrgenommen zu werden und etwa Geschäftsbeziehungen zu den Größen in der jeweiligen Industrie zu besitzen. Knowledge und Skill Power beziehen sich primär auf die persönlichen Leistungen der Verhandler am Tisch: Wie gut verstehen sie die kaufmännischen und technischen Hintergründe und das Metier des Geschäftspartners, und können sie qualifiziert mitreden und Punkte hinterfragen? Und last but not least: Wer ist der bessere Verhandler – Sie oder der Ihr Gegenüber?
Tools und Tipps zu Verhandlungszielen und Verhandlungsmacht
• Nutzen Sie die Bedeutung der Akronyme SMART und NO TRICKS. • Ein spezifisches, ambitioniertes Verhandlungsziel führt zu einer signifikanten Steigerung des Verhandlungsgewinns. • Der größte Fehler nicht nur bei der Verhandlungsplanung ist das Stecken von unrealistischen Zielen. • Seien Sie sich über Ihre Verhandlungsmacht im Klaren und nutzen Sie sie. • Arbeiten Sie bereits lange vor einer Verhandlung daran, Ihre Verhandlungsmacht zu stärken.
3.4 Hart oder Harvard? Verhandlungsstile Wer sich mit den Grundlagen und Hintergründen modernen Verhandelns beschäftigt, kommt nicht an den verschiedenen Möglichkeiten der Verhandlungsführung vorbei, die als Verhandlungsstile bezeichnet werden. Die gängigen fünf Stile sind in der schematischen Darstellung (Abb. 3.2) enthalten, welche die
3.4 Hart oder Harvard? Verhandlungsstile
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Abb. 3.2 Die typischen Verhandlungsstile. (In Anlehnung an Lewicki et al. 1998, S. 64; mit freundlicher Genehmigung von © Midas Verlag 1998. All Rights Reserved)
Ziele des Kunden denen des Lieferanten gegenübergestellt (vgl. Wenski 2019, S. 17–29). Bei den meisten gewerblichen Verhandlungen kann vorausgesetzt werden, dass beide Seiten etwas voneinander wollen und die Schnittmenge ihrer Interessen ausloten. Das Ziel sollte eine von beiden Parteien als fair empfundene Vereinbarung sein, die einen Tausch Leistung gegen Geld regelt. Von den fünf Verhandlungsstilen in Abb. 3.2 (die vier Quadranten sowie der Kompromiss) sind drei von besonderer Bedeutung. Beginnen wir mit dem Kompromiss im Zentrum: Er ist kennzeichnend für einen distributiven Ansatz in einer Verhandlung und keineswegs die beste Lösung – die Gewinne der einen Partei entsprechen den Verlusten der anderen, was die gestrichelte Linie andeutet. Auf zusätzliche Optionen, den Verhandlungskuchen größer zu machen, wird verzichtet. Hartes Verhandeln Dem – aus Sicht des Kunden – partnerorientierten „weichen“ Verhandlungsansatz (Lose-Win-Stil; Abb. 3.2 links oben) steht der harte Win-Lose-Stil (Abb. 3.2 rechts unten) diametral entgegen. (Aus Lieferantensicht betrachtet liegt der harte Verhandlungsstil links oben.) Dieser harte Verhandlungsstil bedingt, dass die Interessen des eigenen Unternehmens oder Auftraggebers konsequent und hartnäckig durchgesetzt werden. Die vorhandene Verhandlungsmacht wird opportunistisch ausgenutzt, und es sind keine größeren positionellen Schritte in Richtung des Verhandlungspartners zu erwarten. Ein harter Verhandler muss jedoch jederzeit in der Lage sein, zum unten skizzierten H arvard-Verhandlungsstil oder gar zum weichen Verhandeln überzugehen. Erwähnenswert ist, dass die einzelnen Stile fließend ineinander übergehen und sich voneinander nicht scharf abgrenzen.
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3 Grundlagen des Verhandelns
Hartes Verhandeln hat nichts mit Arroganz, schlechtem Benehmen und der Anwendung unsauberer Tricks zu tun – dies sind tradierte Vorgehensweisen, wie sie Verhandler zur Befriedigung des eigenen Egos an den Tag gelegt haben oder vielleicht sogar in guter Absicht, das Beste für ihre Auftraggeber herauszuholen. Verhandlungserfolge lassen sich nicht allein durch ausreichenden Druck auf die andere Seite realisieren (was vor allem in der Politik immer wieder vergeblich versucht wird); denken Sie an die in Abschn. 3.3 erwähnten Nachteile oktroyierter Ziele. Rücksichtsloses Verhalten zahlt sich mittelfristig in der Regel nicht aus, und Interessent und Anbieter, Kunde und Lieferant sollten selbst beim harten Verhandeln auf Augenhöhe agieren, allerdings ohne etwas zu verschenken. Bei einem belastbaren Ergebnis wird es keine Gewinner und Verlierer geben können, sondern nur Partner, die sich gegenseitig fordern und fördern. Die Quintessenz ist in folgenden fünf Tools zusammengefasst:
Tools und Tipps für das harte Verhandeln
• Erfolgreiches Verhandeln erfordert ebenso viel Härte wie Offenheit. • Hartes Verhandeln bedeutet hartnäckiges Verhandeln, nicht schlechtes Benehmen. • Bleiben Sie in Ihren Forderungen zunächst hart, verschließen Sie die Augen jedoch nie vor einer möglichen Win-Win-Lösung. • Trennen Sie auch beim harten Verhalten auf jeden Fall Person und Sache. • Betrachten Sie eine Verhandlung nie als Konfrontation.
In der Politik, wo Diplomatie eher gefordert ist als Egoismus, führt hartes Verhandeln oft in eine Sackgasse: Gerade in jüngerer Zeit ist zu beobachten, wie durch ein Win-Lose-Vorgehen von Staatspräsidenten Gesellschaften gespalten und zwischenstaatliche Bündnisse belastet werden – bis hin zur Einführung autokratischer Strukturen in gewählten Demokratien (BTI 2020). Dabei missachten die Verantwortlichen gewöhnlich die oben aufgeführten Regeln. Konsenserzielung und die Erarbeitung von Win-Win-Lösungen wären in den allermeisten Fällen der bessere Ansatz. Das Harvard-Konzept Bei den Tools für die Verhandlungsvorbereitung heißt es: Verbessern Sie Ihre BATNA. Die BATNA, die beste Alternative zur aktuell erreichbaren Einigung, eignet sich als Überleitung zum Harvard-Konzept des sachbezogenen Ver-
3.4 Hart oder Harvard? Verhandlungsstile
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handelns. Charakteristisch für diesen Ansatz ist, dass gemeinsam mit dem Verhandlungspartner eine Win-Win-Lösung gesucht wird und man – sofern darin erfolgreich – durch Vergrößerung des Kuchens im rechten oberen Quadranten in Abb. 3.2 liegt. „Harvard“ stellt den wohl bekanntesten normativen Problemlösungsansatz beim Verhandeln dar. Das Konzept der Harvard Law School wurde 1981 im Rahmen des Harvard Negotiation Projects der Universität erarbeitet (Fisher und Ury 1981) und beschreibt eine ergebnisorientierte, sachbezogene Methode des Verhandelns (Principled Negotiation). Sofern eine Übereinkunft überhaupt möglich ist, soll diese eine vernünftige Vereinbarung zum beiderseitigen Nutzen zustande bringen, die dem Kompromiss und der BATNA überlegen ist. Das Ergebnis rangiert über persönlichen Befindlichkeiten: Es hat effizient zu sein, und der höchste beiderseitige Nutzen steht im Vordergrund. Neben der sachlichen Einigung ist für beide Verhandlungsseiten auch der Erhalt einer guten persönlichen Beziehung relevant.
Die vier Bedingungen des Harvard-Konzepts
• Menschen und ihre Interessen werden getrennt voneinander behandelt. • Die Verhandler konzentrieren sich auf die Interessen der Beteiligten und nicht auf deren Positionen. • Man entwickelt in der Verhandlung Entscheidungsoptionen. • Es wird eine Vereinbarung auf der Basis objektiver Beurteilungskriterien angestrebt.
Mit anderen Worten, die Partner erarbeiten unter Vermeidung der Anwendung unsauberer Tricks gemeinschaftlich eine Verhandlungslösung zum beidseitigen Vorteil – unter gleichzeitiger Stärkung der persönlichen Beziehung zueinander. Schlechte Übereinkünfte sind zu vermeiden; stattdessen wird die BATNA zum Vergleich herangezogen und zur Not realisiert. Bei schwer annehmbaren Forderungen einer Seite schlagen die Entwickler des Konzepts beispielsweise vor, einen Vermittler einzuschalten (was bei gewerblichen Beschaffungsverhandlungen unüblich ist, in anderen Bereichen, etwa bei Tarifstreitigkeiten, aber gang und gäbe). Es ist für jeden Verhandler vor allem in schwierigen Konstellationen hilfreich, sich vor Augen zu halten, dass die potenziellen Geschäftspartner auf der Gegenseite des Tisches nicht ihre private Meinung vertreten, sondern die Interessen ihrer Organisation bzw. ihres Auftraggebers, und daher keinesfalls persön-
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3 Grundlagen des Verhandelns
lich angegangen werden dürfen. Zielführend ist vielmehr, das Gegenüber einzubeziehen und mit seinen Ideen zum aktiven Verhandlungspartner zu machen. Ganz wichtig für die Meta-Ebene: Erkennen und artikulieren Sie Ihre Emotionen. Gestatten Sie jedoch auch der Gegenseite, Dampf abzulassen (s. Abschn. 3.1). Das nimmt normalerweise nicht sehr viel Zeit in Anspruch, und anschließend können sich beide Parteien an eine konstruktive Lösung der Probleme machen.
Tools und Tipps für das Verhandeln nach dem Harvard-Konzept
• Versetzen Sie sich in die Lage Ihres Verhandlungspartners und beteiligen Sie ihn. • Erörtern Sie in Verhandlungen die Vorstellungen und Positionen beider Seiten. • Sprechen Sie über sich, nicht über die Gegenseite. • Machen Sie Ihre Interessen deutlich, und erkennen Sie die Interessen der anderen an. • Finden und entwickeln Sie Optionen zum beiderseitigen Vorteil.
3.5 Die Körpersprache des Verhandlers Mimik und Gestik des Verhandlungspartners erlauben bei genauer Beobachtung Rückschlüsse darauf, was der Betreffende denkt bzw. wie er sich fühlt. Und selbst sendet man – meist unbewusst, bedingt auch kontrolliert – über seine eigene Körpersprache ebenfalls Botschaften aus, sodass in einem persönlichen Gespräch eine nonverbale Zweiwege-Kommunikation stattfindet. Neben der Unterscheidung zwischen den Ebenen eigene Körpersprache und derjenigen des Gegenübers ist von Bedeutung, dass es einen gravierenden Unterschied zwischen bewusst und unbewusst ausgesandten Signalen gibt. Der Mensch beherrscht (wie Primaten) intuitiv eine Fülle von Einzelelementen der Körpersprache. Unter der enormen Vielfalt lassen sich leicht erkennbare Basisgesten identifizieren, die selbst in dieser Materie ungeübte Verhandler durch gezielte Beobachtung leicht identifizieren und für sich nutzen können (Wenski 2020, S. 67–95). Der Einstieg in das Thema führt über die Erkenntnisse von zwei US-amerikanischen Wissenschaftlern. Beide haben (vereinfacht ausgedrückt) beschrieben, dass der überwiegende Teil der menschlichen Kommunikation über nonverbale Elemente stattfindet.
3.5 Die Körpersprache des Verhandlers
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Nonverbale Kommunikation
Ray Birdwhistell stellte fest, dass nicht mehr als 30 bis 35 Prozent der Information über das gesprochene Wort übertragen wird. (Birdwhistell 1952) Nach Albert Mehrabian hat das, was in einem Dialog gesagt wird, gerade einmal sieben Prozent Anteil an der Gesamtwirkung; 38 Prozent werden über die Stimmführung und gar 55 Prozent über nonverbale Signale, also Mimik und Gestik, vermittelt. Diese Erkenntnis ist als 7-38-55-Regel bekannt geworden (7 % Verbal – 38 % Vocal – 55 % Facial). (Mehrabian 1971) Allerdings sah er sich viele Jahre später gezwungen klarzustellen, dass diese Einteilung lediglich für die Übermittlung von Gefühlen und Einstellungen (Likes/Dislikes) zutrifft und in anderen Bereichen sehr bedingt oder überhaupt nicht anwendbar ist. (Mehrabian 2009)
Menschen kommunizieren – natürlich auch in Verhandlungen – dennoch nur zum Teil über die Sätze und Worte an sich, die sie äußern, die Bits & Bytes, sondern vorwiegend über den Ton und vor allem die dabei verwendeten nonverbalen Signale. Manchmal sind es sehr kurzzeitig (das heißt bis zu einer Sekunde lang) beobachtbare Mikrogesten, in denen das Gegenüber seine Maske fallen lässt und sein wahres Gesicht zeigt (Greene 2018, S. 72–101, 274–275). Einen Einstieg in die Kategorisierung von gut erkennbaren Einzelelementen und deren Kombination zu Clustern von Gesten bieten die Werke von Allan und Barbara Pease (Pease 1988; Pease und Pease 2003, 2004). Die Nutzung der Gestenvielfalt zur falschen Zeit am falschen Ort kann allerdings zu Problemen führen: Beispiel
Ein Kreis aus Daumen und Zeigefinger („Ring“) hat je nach kulturellem Umfeld verschiedene Bedeutungen (Pease und Pease 2004, S. 107–126). • Europa und Nordamerika: okay • Mittelmeerregion, Russland, Brasilien, Türkei: negative, unbedingt zu vermeidende Geste (Körperöffnung, sexuelle Beleidigung usw.) • Belgien, Frankreich, Tunesien: Null bzw. wertlos • Japan: Geld, Münzen
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3 Grundlagen des Verhandelns
Derartige Variationen sind für eine Reihe weiterer geläufiger Fingerhaltungen bekannt, und so sollte man sich sehr zurückhalten, gerade im Umgang mit Vertretern anderer Nationen entsprechende Zeichensprache zu verwenden. Auch im westlichen Kulturkreis repräsentiert die Verwendung von Daumen, Zeigefinger und Faust vielfach negative Aggressions- und Überlegenheitsgesten. ◄ Doch gleichzeitig bilden Finger, Hände und Arme mit ihren intuitiven oder bewussten Gesten einfach zu studierende Buchstaben des Alphabets der Körpersprache. In Verbindung mit Kopf und Beinen sowie der Nutzung des Raumes bietet sich dem Verhandler eine Vielzahl von Anhaltspunkten dafür, die Einstellung und Position der Partner und außerdem den Verhandlungsfortschritt einzuschätzen. Aber beherzigen Sie bitte Folgendes: Lassen Sie Ihren Verhandlungspartner niemals merken, dass Sie ihn beobachten. Einzelelemente der Körpersprache • Hände: Handhaltungen sind relativ einfach zu deuten. Bereits als Kind lernt man, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Diese Geste wird ebenso unter Erwachsenen als Aggressionsgeste betrachtet. Daneben sind zwei Handhaltungen bedeutsam: Offene Handflächen (Innenseite zeigt nach oben – „keine Waffe vorhanden“) stehen für Offenheit und Ehrlichkeit, verborgene Handflächen (Innenseite nach unten) für Dominanz oder das mögliche Verschweigen relevanter Information. Wie alle Zeichen von Körpersprache ist die Handhaltung oft ein Automatismus, der nicht bewusst gesteuert wird, sondern die innere Haltung, die Gefühlswelt also, widerspiegelt. Man selbst erzeugt mit dem bewussten Zeigen offener Handflächen ohne viel Aufwand einen positiven Eindruck. • Arme: Menschen neigen automatisch dazu, in Gefahren- bzw. Abwehrsituationen die Arme vor der Brust zu verschränken; in abgeschwächter Form gilt dies für überkreuzte Beine oder Knöchel ebenso. Arm- und Beinbarrieren können in Verhandlungen ein Zeichen von Defensive oder Ablehnung sein. Ein Redner muss sein Publikum immer im Auge behalten, um festzustellen, ob seine Zuhörer durch gekreuzte Arme Desinteresse oder gar Missfallen signalisieren. Manche Menschen behaupten in diesem Zusammenhang, sie würden die Arme verschränkten, weil sie das bequem fänden. Das stimmt schon. Aber man findet eben genau die Haltung bequem, die zur momentanen Einstellung passt. Allerdings sollten solche Gesten nie isoliert betrachtet
3.5 Die Körpersprache des Verhandlers
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werden. Erst die Detektion mehrerer übereinstimmender Signale der Körpersprache, des oben erwähnten Clusters, ermöglicht sichere Schlüsse. In Besprechungen und Verhandlungen lassen sich Armbarrieren auch mit Gegenständen ergänzen – und vom aufmerksamen Beobachter sehr wohl erkennen. Über die „Kaffeetassen-Barriere“ (Pease und Pease 2004, S. 103) lässt sich eventuell herausfinden, wie Ihr Gegenüber disponiert ist: Reichen Sie dem anderen ein Getränk und analysieren Sie, wo es sein Behältnis hinstellt, nachdem es einen Schluck genommen hat. Jemand, der negativ denkt und unsicher oder vom Gehörten nicht überzeugt ist, wird seine Tasse unbewusst auf der entfernten Seite abstellen und so durch Arm und Tasse eine Barriere bilden. (Die Präsenz von Untertassen kann diesen Effekt jedoch stören.) Verschränkte Hände stellen eine weitere Barriere dar – je höher jemand die Hände hält, desto schwieriger scheint es, einen Widerstand aufzubrechen. Ein anderes simples Motiv, das ebenfalls vermieden werden sollte, ist das der seitlich vom Körper angewinkelten, in der Hüfte abgestützten Arme. Diese negativ belegte Geste lässt sich als Zeichen von Kampfbereitschaft deuten. Kopf und Gesicht: Bei der Kopfhaltung sind drei einfache Grundtypen unterscheidbar: Eine gerade Kopfhaltung signalisiert eine neutrale Einstellung, ein zur Seite geneigter Kopf spricht für Interesse und ein nach vorne geneigter Kopf meist für Missbilligung – häufig unterstützt durch Stirnrunzeln und zusammengezogene Brauen. Das Zur-Seite-Neigen des Kopfes ist eine Folge der Entspannung der Nackenmuskulatur, weil der Betreffende sich wohl fühlt und positiv gestimmt ist. Man schätzt, dass Menschen 250.000 verschiedene Gesichtsausdrücke zeigen und bei anderen deuten können (Pease und Pease 2004, S. 9). Unternehmen arbeiten an der Entwicklung von Software, die daraus Rückschlüsse auf die Stimmung des Betreffenden zieht. Das Gesicht spiegelt ohne bewusste Steuerung das Innere eines Menschen wider, ob er sich freut oder ärgert, ehrlich und offen ist oder lügt bzw. Teile der Wahrheit zurückhält. In letzterem Fall neigt die Person dazu, sich mit einer Hand verstärkt ins Gesicht zu langen: an Ohr, Auge oder Nase, oder hält sie gar vor den Mund. Dazu eine wichtige Regel zur Kontrolle der eigenen Körpersprache:
Greifen Sie im Dialog mit anderen nie mit den Händen in Ihr Gesicht.
Für den aufmerksamen Verhandler kann das Gesicht des Gegenübers der Schlüssel zum Erfolg bedeuten, denn das vielfältige Zusammenspiel der
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3 Grundlagen des Verhandelns
Gesichtsmuskeln offenbart eine Fülle an Informationen. Es ist von Vorteil, am eigenen Gesichtsausdruck zu arbeiten:
Ein freundlich-entspannter Blick öffnet viele Türen.
• Raum: Im Rahmen der Analyse von Mimik und Gestik kommt man nicht umhin, das – von unbewusstem Revierverhalten geprägte – Verhalten von Menschen in den sie umgebenden Räumen zu analysieren. Bemerkenswert ist die intuitive Ausrichtung der Füße oder sogar des gesamten Körpers, denn nicht nur mit Fingern und Händen lassen sich Zeigegesten ausführen. Eine diesbezügliche praxisnahe Regel lautet: Der Körper zeigt, wohin der Wille gehen möchte. Wenn Sie mit jemandem sprechen, dessen Füße in eine ganz andere Richtung weisen, müssen Sie in Betracht ziehen, dass der Betreffende an Ihren Äußerungen bestenfalls bedingt interessiert ist. Die Füße zeigen an, was der Mensch im Sinn hat. Der Platzierung von Teilnehmern an Besprechungen und Verhandlungen wird ein kritischer Einfluss auf deren Ergebnis zugeschrieben. Sind zwei Personen am Gespräch beteiligt, ist die Eckposition im Vergleich mit dem konfrontativen Gegenübersitzen zu bevorzugen. Treffen sich zwei Verhandlungsteams, bilden sie gewöhnlich Fronten auf beiden Tischseiten. Dies lässt sich eventuell auflockern, indem ein Verhandlungsraum mit quadratischem Tisch verwendet wird. Bei den Elementen der Körpersprache sind Barrieren erwähnt, die mittels Armen, Beinen oder Händen gebildet werden. Derartige Sperren lassen sich ebenso mit toten Gegenständen errichten. Im Raum selbst können dies Stühle, Blumentöpfe, Beistellmöbel oder Elektrokabel sein, und flugs ist der Zugang zu Tafel, Pinnwand oder dem Teamkollegen ebenso elegant abgeschnitten wie der „Fluchtweg“ zur Tür. Auf dem Konferenztisch eignen sich zwischen Sitznachbarn platzierte Papierstapel, Laptops, die erwähnte Kaffeetasse oder simple Stifte als Baumaterialien für künstliche Barrieren. Verhandler, die in diesen Dingen unbedarft sind, nehmen solche Feinheiten oft nicht bewusst war, sondern registrieren intuitiv, dass ihr Territorium und damit ihre Optionen begrenzt sind. Derartige Konstellationen muss der Verhandlungsführer erkennen und freundlich Abhilfe schaffen, vor allem im eigenen Hause. • Auftreten: Bereits der erste Eindruck, den man unmittelbar von einer bislang unbekannten Person erhält bzw. auf diese macht, kann den weiteren Dialog und die Zusammenarbeit ganz entscheidend prägen – steckt jemand erst einmal in einer bestimmten Schublade, ist es meist schwierig und lang-
3.5 Die Körpersprache des Verhandlers
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wierig, wieder herauszukommen. Daher ist von hoher Bedeutung, von neu vorgestellten wie auch im Umgang mit vertrauten Zeitgenossen positiv wahrgenommen zu werden. Im professionellen Umfeld und hier insbesondere im Rahmen von Verhandlungen resultiert dies aus verbindlich-freundlichem Benehmen, souverän-kompetentem Auftreten (wozu ebenfalls eine dem Anlass entsprechende Garderobe gehört) sowie dem Zeigen offener Gesten und einem gelegentlichen Lächeln. Nichts davon darf übertrieben erscheinen! Das macht das Leben allgemein und die Durchsetzung Ihrer Verhandlungsziele im Speziellen leichter. Die folgenden fünf Tools bringen das Gesagte für Verhandler auf den Punkt; versuchen Sie als aufmerksamer Verhandler anhand der Körpersprache herauszufinden, was den anderen „bewegt“.
Tools und Tipps für die Nutzung der Körpersprache
• Gestalten Sie den ersten Eindruck, den Sie auf andere machen, unbedingt positiv. • Treten Sie auf der Basis einer soliden Vorbereitung sicher und locker auf. • Präsentieren Sie sich selbst positiv mit einer geraden Körperhaltung und offenen Gesten. • Die innere Haltung entspricht der äußeren Haltung. Optimieren Sie zunächst Ihre innere Haltung. • Analysieren Sie die Körpersprache Ihres Verhandlungspartners im Hinblick auf Einzelgesten, Cluster von Elementen sowie Kongruenz.
3.6 Verhaltensökonomische Aspekte Die menschliche Natur und die einzelnen Verhaltensweisen von Individuen sind sehr vielfältig, doch lassen sich durch Erkennen der Muster und darauf basierenden strategischen Verhaltens schädliche Emotionen und subjektive Einschätzungen aus einem Dialog heraushalten oder zumindest reduzieren. Psychologisches Hintergrundwissen ist vor allem in Bezug auf Wahrnehmungsverzerrungen und kognitive Irrtümer für einen erfolgreichen Verhandler ebenfalls von Bedeutung. Es lauert permanent die Gefahr, dass man seine Ziele aus den Augen verliert und durch vorhersagbare Fehler unnötige Konzessionen macht und nicht optimale Abschlüsse tätigt. Heute ist bekannt, dass der Mensch bei vielen
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3 Grundlagen des Verhandelns
seiner Handlungen kein Homo oeconomicus, kein rationaler Nutzenmaximierer ist und wiederholt irrationale Entscheidungen trifft. Dabei hat die Beobachtung kognitiver Irrtümer eine lange Historie, wie das nachfolgende Beispiel einer bekannten Auktion in den Niederlanden zeigt. Beispiel
Nachdem seit den frühen 1630er Jahren die Preise für Tulpenzwiebeln durch Spekulation immer weiter in die Höhe getrieben wurden, trafen sich am 7. Februar 1637 Tulpenhändler zu einer Auktion in einer Schenke im holländischen Harlem. Einige der wertvollsten Zwiebeln standen zur Versteigerung. Aber die Spekulanten hatten sich selbst ausgetrickst, denn die Tulpen waren inzwischen so teuer, dass sie keine Käufer mehr fanden, auch nicht, als der Auktionator zweimal den Preis senkte. Die Händler verließen verstört das Lokal, und als sich die Nachricht von der geplatzten Auktion verbreitete, brach Panik aus. Prominentestes „Tulpenopfer“ war wohl der Maler Rembrandt van Rijn (1606–1669). Die Tulpenmanie wird als die erste relativ gut dokumentierte Spekulationsblase der Wirtschaftsgeschichte angesehen und mittlerweile metaphorisch zur Charakterisierung anderer, anscheinend irrationaler und riskanter Finanzentwicklungen gebraucht. (Wikipedia 2020a) ◄ Erste Arbeiten von Tversky und Kahneman (1974) befassten sich mit Grundlagen der Entscheidungsfindung. Die beiden Forscher fanden heraus, dass der Mensch in der Praxis keineswegs rationale Entscheidungen auf der Basis statistischer Wahrscheinlichkeiten trifft: Wir suchen ständig nach Kausalverknüpfungen; Abschätzungen und Heuristiken führen zu reproduzierbaren Fehlern. Ende der 1970er Jahre wurden zwei Artikel veröffentlicht, die eine neue Forschungsrichtung begründeten. Daniel Kahneman und Amos Tversky machten mit der Neue Erwartungstheorie den Anfang, die auf Eintrittswahrscheinlichkeiten und Entscheidungsverhalten in Lotterien fundiert (Kahneman und Tversky 1979). Richard Thaler (1980) nahm den Ball ein Jahr später auf und beschrieb die Unfähigkeit von Verbrauchern, rationale Entscheidungen zu treffen. Damit war die neue Forschungsrichtung der Verhaltensökonomik begründet. Die wesentlichen Erkenntnisse sind in zwei lesenswerten Übersichtswerken erläutert (Kahneman 2012; Thaler 2019).
Verhaltensökonomik Die Verhaltensökonomik beschäftigt sich mit menschlichem Verhalten in wirtschaftlichen Situationen und wendet die Erkenntnisse aus
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experimentellen Labor- und Feldstudien, insbesondere aus der Psychologie und anderen Sozialwissenschaften, in der Ökonomie an. Sie geht davon aus, dass die Leute laufend falsche Entscheidungen treffen – auch in Verhandlungen. Die Verhaltensökonomik ist heute ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaft, da der rationale Umgang mit knappen, also nur begrenzt verfügbaren Gütern analysiert wird. Die Forscher untersuchen Konstellationen, in denen Menschen im Widerspruch zur Modellannahme des Homo oeconomicus agieren. Die Resultate sind teilweise bemerkenswert und entlarven manche intuitive Bewertung als Täuschung und Fehleinschätzung. Und dies kann sich in einer Beschaffungsverhandlung sowohl auf Vertriebs- als auch auf Einkäuferseite zum Nachteil entwickeln (vgl. Wenski 2020, S. 97–129). Die Verhaltensökonomik ist für den Verhandler so etwas wie die Quantenmechanik für den Physiker, welche die klassische Physik vor einem knappen Jahrhundert aus den Angeln gehoben hat. Einige der wesentlichen Erkenntnisse sind nachfolgend zusammengefasst und kommentiert. System 1 und System 2 Menschen treffen im Widerspruch zur Modellannahme des Homo oeconomicus Entscheidungen häufig mit einer einfachen, schnellen und stabilen Faustregel, nicht nach Analyse aller Optionen. Ein solches Verhalten hat seinen Grund oft darin, dass spontane Entscheidungen intuitiv, nach Gefühl getroffen werden, was in Verhandlungen nicht immer von Vorteil ist, da kognitive Fehlleistungen vorprogrammiert sind. Der Titel von Daniel Kahnemans Übersichtswerk „Schnelles Denken, langsames Denken“ bezieht sich auf zwei unterscheidbare Arten des Denkens, die er „System 1“ und „System 2“ nennt. System 1 ist das automatische System, System 2 das willentliche. (Kahneman 2012, S. 31–136) • System 1 ist für das „schnelles Denken“ zuständig; es ist sehr energieeffizient, läuft ohne unser Zutun, lässt sich nicht abstellen und wird charakterisiert durch Begriffe wie Intuition, Heuristik, Mut zur Lücke, erster Eindruck und Bauchgefühl. • System 2 steht für „langsames Denken“ und befasst sich mit anstrengenden mentalen Aktivitäten, etwa komplexen Berechnungen. Diese Art des Denkens ist energieaufwendig, langsam und erfordert eine hohe Konzentration. Die Ergebnisse sind dafür rational begründet, analytisch, kalkuliert und genau.
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3 Grundlagen des Verhandelns
Im Gegensatz zu System 1 arbeitet System 2 nicht ständig auf vollen Touren, sondern befindet sich die meiste Zeit über in einem angenehmen Modus geringer Anstrengung. Es muss geradezu bewusst aktiviert werden, wenn es darauf ankommt. Die unabhängigen Systeme 1 und 2 entsprechen im weiteren Sinne den Begriffen Verstand und Vernunft, die in der Philosophiegeschichte eine zentrale Rolle spielen, vor allem bei Aristoteles und Kant (für eine Einführung s. z. B. Bremer 2001; S. 1–20; Hübl 2015, S. 264–294). Bei wichtigen Entscheidungen, etwa in Verhandlungen, ist System 2 von hoher Bedeutung, um über diese anstrengendere Vorgehensweise die intuitive Einschätzung von System 1 zu kontrollieren und zu überprüfen. Um die Möglichkeiten von System 2 als Korrektiv voll ausnutzen zu können, sollte man immer ausgeruht und konzentriert mit positiver Grundstimmung in bedeutende Verhandlungen gehen. Ankerung Der Ankereffekt bezeichnet die Tatsache, dass Menschen bei auszuwählenden Zahlenwerten von momentan vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflusst werden, ohne dass ihnen diese Wirkung bewusst wird. Dies geschieht selbst dann, wenn die Einflussfaktoren für die Entscheidung irrelevant sind. Es handelt sich also um einen Effekt, bei dem sich das Urteil an einem willkürlichen Anker orientiert.
Die Folge des Ankereffekts ist eine systematische Verzerrung in Richtung des subjektiven Ankers.
Im Rahmen von Beschaffungsverhandlungen arbeiten beim Preis des Verhandlungsgegenstands gewöhnlich beide Parteien mit dem Prinzip der Ankerung. Bereits mit dem ersten kommerziellen Angebot setzen viele Lieferanten einen Anker. Ein nach den üblichen Gepflogenheiten verfasstes (Anker-)Angebot setzt sich zusammen aus den Herstellkosten, einem betriebswirtschaftlich notwendigen Zuschlag sowie einem komfortablen Markup (Abschn. 1.4), der den Verhandlungsspielraum des Anbieters absteckt und meist die Spanne zwischen Walk-out-Preis und bestem Preis (Abschn. 3.2) darstellt. Der Einkäufer sollte jedoch auf jeden Fall davon absehen, diesen Anker als Ausgangspunkt für seine eigene Argumentation zu machen, denn dann wäre die Ankerung des Verkäufers geglückt.
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Top-down- und Bottom-up-Argumentation
Bei der Ankersetzung und dem Umgang mit Ankern der Gegenseite befinden sich die Verhandlungspartner des Vertriebs und Einkaufs gleichermaßen auf unsicherem Terrain, und letztlich entscheiden die Qualität der vorliegenden Informationen, die Verteilung der Verhandlungsmacht sowie das Verhand lungsgeschick über das Ergebnis. Der Verkäufer weiß nicht (oder nicht genau), wie hoch das Budget des Kunden ist bzw. wo dessen Walk-out-Preis liegt. Und der Einkäufer wird kaum über belastbare Erkenntnisse zu den Herstellkosten des Anbieters verfügen (s. auch Abschn. 4.2). Dabei wird die übliche Vorgehensweise routinierter Verhandler sein, den Anker der Gegenseite weitgehend zu ignorieren. In der Praxis bedeutet dies, dass der Einkäufer den Angebotspreis (z. B. 4,39 Millionen Euro für eine Großanlage) keinesfalls wiederholt und damit als Basis für seine Argumentation macht, sondern sagt: „Unsere Preisvorstellung liegt bei 3,31 Millionen Euro.“ Bei Zugeständnissen wird er sich von diesem – seinem – Anker preislich immer aufwärts bewegen (bottom-up). Der Vertriebsingenieur andererseits ist so geschult, dass er ausgehend von seinem Angebot schrittweise Abstriche macht (top-down). Im Idealfall wird man sich bei einem Preis treffen, der beiden Seiten entgegenkommt, sagen wir 3,80 Millionen Euro (Abschn. 8.2).
Verlustaversion Die Nobelpreisträger Daniel Kahneman und Richard Thaler zeigten in ihren Arbeiten als Erste, dass Verluste stärker zu Buche schlagen als Gewinne, wenn sie direkt miteinander verglichen oder gegeneinander gewichtet werden, und dass diese Verlustaversion gar das stärkste der untersuchten verhaltensökonomischen Phänomene darstellt (Thaler 2019, S. 58). Als Daumenregel lässt sich festhalten, dass Verluste subjektiv ungefähr doppelt so stark wahrgenommen werden wie Gewinne. Die Asymmetrie zwischen der Macht positiver und negativer Erwartungen oder Erfahrungen ist evolutionsgeschichtlich bedingt: Lebewesen, die Bedrohungen vordringlicher behandeln als Chancen, haben höhere Überlebensund Fortpflanzungschancen. (Kahneman 2012, S. 347–351) Durch ihre Beteiligung an Emotionen und Entscheidungen ist die in Abschn. 2.4 erwähnte Balance zwischen Belohnungs- und Angstsystem, die primär durch Nucleus accumbens und Amygdala gesteuert wird, an der Abwägung des Nutzens möglicher Gewinne angesichts drohender Verluste beteiligt.
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3 Grundlagen des Verhandelns
Abb. 3.3 Abkehr von fossilen Brennstoffen – die Energiewende beschert Verlustängste
Folgen der Verlustaversion lassen sich in den unterschiedlichsten privaten und kommerziellen Bereichen beobachten, vor allem in Zusammenhang mit Risikosituationen, und so werden regelmäßig zahlreiche Chancen vertan, indem für den Status quo gekämpft wird, bei dem man – kurzfristig betrachtet – nichts abgeben muss. Populäre Beispiele sind die sehr zaghaften, doch dringend notwendigen Korrekturansätze bei Energieversorgung (s. Abb. 3.3) und Verkehr sowie in der Steuer-, Renten- und Gesundheitspolitik. Eine wohldurchdachte Verhandlungsstrategie (nicht nur bei Beschaffungsgeschäften) sollte darauf ausgelegt sein, dass der jeweilige Verhandlungspartner Gewinne für sich verbucht und nicht so sehr Verluste wahrnimmt. Zur Erläuterung adäquater Vorgehensweisen wird zunächst ein weiterer dafür relevanter Begriff definiert.
Referenzpunkt Der Referenzpunkt ist ein reales oder fiktives Ausgangsniveau oder ein bestimmter Wert, von dem aus Gewinne oder Verluste berechnet werden, und lässt sich z. B. durch Ankerung subjektiv beeinflussen. Für einen Sportler kann der Referenzpunkt seine bisherige Bestleistung sein, die er steigern möchte. Für ein Geschäft kommt beispielsweise der Preis der letzten Beschaffung einer vergleichbaren Ware oder der Katalogpreis in Betracht. In
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einer Beschaffungsverhandlung versuchen beide Seiten, einen Referenzpreis zu ihren Gunsten zu installieren: der Verkäufer in der Nähe seines Angebotspreises (= Anker), der Einkäufer in der Nähe seines Gegenangebots (= Gegenanker). Hier liegt es am argumentativen Können (und den Nerven) der Verhandler, zu wessen Gunsten sich die Waage weiter neigt. Im Beispiel oben sind Referenzpunkte bei etwa 4,0 und bei 3,5 Millionen Euro plausibel; damit wäre durch Tauschen von Wants eine Lücke von einer halben Million Euro zu überbrücken. Um die psychologische Größenordnung der Verlustaversion abschätzen zu können, ist es von Bedeutung, sich über den zugrunde liegenden Referenzpunkt Klarheit zu verschaffen, von dem aus die Verluste – oder Gewinne – berechnet werden, und die eigenen Referenzpunkte als die geltenden zu etablieren. Der Vertriebsingenieur im Beispiel wird hartnäckig versuchen, den Kunden von seinem Referenzpreis von 4,0 Millionen Euro als Ausgangsniveau zu überzeugen, sodass dieser (beim ins Auge gefassten Endpreis von 3,8 Millionen Euro) einen „Gewinn“ von 200.000 Euro wahrnehmen würde und keinen (auf seinem eigenen Referenzpreis basierenden) Verlust. Ebenso wird der Einkäufer danach trachten, den vom Lieferanten wahrgenommenen Referenzpunkt nach unten zu verschieben und darüber diesem „Verluste“ zu ersparen. Andere Verzerrungen Daneben existiert eine Fülle weiterer Themenfelder in der Verhaltensökonomik, die angesichts der teils spektakulären Ergebnisse auch für den psychologischen Laien von Interesse sind. Dabei lassen sich diese Fehlleistungen vielfach vorhersehen und gegebenenfalls zum eigenen Vorteil ausnutzen. Verkäufer sind in der Regel besser als Einkäufer darin geschult und geübt, dies auszunutzen. Framing, die positive emotionale Belegung von Produkten, steigert deren Absatzchancen und Marktwert und ist eine Standardtechnik im Verkauf. Das Phänomen der kognitiven Leichtigkeit besagt, dass das Gehirn – das ständig neu entscheidet, ob alles gut läuft oder ob die Aufmerksamkeit neu ausgerichtet werden muss – Bekanntes, Gewohntes und Klares bevorzugt als wahr und authentisch akzeptiert, denn System 2 greift nicht korrigierend ein. Auf diese Weise gelangt der Mensch zu einer voreiligen Schlussfolgerung auf beschränkter Datenbasis (Urteilssprung), etwa bei der Bewertung eines Angebots anhand von Aufmachung und Druckqualität anstatt von harten Zahlen und Fakten. Beim Angebotspreis erhöhen „krumme Nummern“ im B2C-Bereich die Erfolgschancen, weil sie mehr Authentizität und eine realistische Kalkulationsgrundlage suggerieren. Bei B2B-Profis kann eine erhöhte Genauigkeit jedoch ins gerade Gegenteil umschlagen: Die Wirksamkeit der zunehmenden Präzisierung
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3 Grundlagen des Verhandelns
des Angebotspreises scheint einer umgekehrten U-Funktion zu folgen. (Mason et al. 2013; Loschelder et al. 2013, 2014, 2016)
Tools und Tipps zur Verhaltensökonomik
• Verhandlungspartner denken nicht immer hochrational, sondern werden von psychologisch bedingten Einflüssen geleitet. • Gehen Sie nur ausgeruht und konzentriert in eine Verhandlung. • Überprüfen Sie Ihr Bauchgefühl mit dem Verstand und mit harten Fakten sowie alle Informationen Ihrer Gesprächspartner auf Plausibilität. • Etablieren Sie vor allem beim Preis den Referenzpunkt so, dass Ihr Verhandlungspartner für sich Gewinne und nicht Verlust wahrnimmt. • Lassen Sie sich nicht von Ankern beeinflussen und nutzen Sie selbst bei Ihrem Gebot das Prinzip der Ankerung.
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3 Grundlagen des Verhandelns
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Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Verhandeln lässt sich wie Komponieren und Musizieren als Kunstform verstehen. Beides folgt Regeln und Konventionen, lebt aber auch von Intuition und Emotionen. Dreiklänge sind hüben wie drüben beliebt, Wechsel in Tempo und Tonart nicht unüblich. Bis zum Finale furioso muss ein Orchester sehr viel üben – und ein Verhandlungsteam sehr viel vorbereiten.
Unter einer Einkaufsverhandlung im engeren Sinne wird lediglich der konsensorientierte Dialog der beiden zukünftigen Vertragsparteien am Verhandlungstisch verstanden. Doch für die Erzielung erfolgreicher Abschlüsse ist es geboten, das Zeitfenster mit Blick auf die eine Verhandlung einrahmenden Handlungen deutlich zu weiten. Daher betreffen die Betrachtungen den gesamten mehrstufigen Ablauf eines Verhandlungsprozesses, der gewöhnlich chronologisch in drei Phasen (Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung) eingeteilt wird. Die meiste Arbeit ist in die Vorbereitung zu investieren; die Durchführung stellt den Höhepunkt der Spannungskurve dar. Und auch der Nachbereitung (Follow-up) kommt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, um Worten Taten folgen zu lassen (Wenski 2019, S. 17–19; vgl. Voeth und Herbst 2009, S. 170–189).
4.1 Aufgaben in den drei Verhandlungsphasen In jeder der drei Verhandlungsphasen sind spezifische Aufgaben zu erledigen; eine relevante Auswahl ist in Abb. 4.1 gezeigt. Es gilt zu bedenken, dass sich Verhandlungen zwar nach gewissen Richtlinien und Systematiken planen und ausführen lassen, aber zwei Verhandlungen sind nie gleich. Daher können © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_4
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Abb. 4.1 Wesentliche Aufgaben in den drei Phasen einer Beschaffungsverhandlung. Jeweils links unten farblich abgehoben: Typische Aufgaben nur für die Einkäufer- bzw. Kundenseite
abweichende oder zusätzliche Maßnahmen erforderlich sein, die hier möglicherweise nicht aufgeführt sind. Wie im Vorwort erwähnt, sind 80 Prozent der Ansätze, Aufgaben und Tätigkeiten eines Einkäufers in Zusammenhang mit Verhandlungen vergleichbar mit denen des Vertriebsmitarbeiters, insbesondere wenn man begriffliche Pendants zulässt: Einkäufer statt Vertriebsingenieur, Sourcing statt Akquise, Bestellung statt Auftragsbestätigung oder Kunden- statt Lieferantenmanagement (Abschn. 7.2). Für eine Zusammenfassung der allgemeinen Grundlagen des Verhandelns, die für nahezu alle Formate Gültigkeit besitzen – nicht nur im industriellen Beschaffungsumfeld –, sei auf Kap. 3 verwiesen. An dieser Stelle und den Folgeabschnitten wird der Blick auf Themen begrenzt, in denen sich die Einkaufs- von den Vertriebsaktionen grundsätzlich unterscheiden. Die Teilmenge relevanter beschaffungsspezifischer Aufgaben ist in Abb. 4.1 jeweils im linken unteren Bereich der Phasen positioniert und hervorgehoben. Die Grafik deutet an, dass
4.1 Aufgaben in den drei Verhandlungsphasen
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in erster Näherung ein Drittel der eingezeichneten Punkte im Rahmen der Vorbereitung sowie sogar die Hälfte der Follow-up-Tätigkeiten für den Kundenbereich spezifisch sind. Diese Themen beherbergen das Gros der 20 Prozent signifikanter Unterschiede zwischen Beschaffung und Vertrieb. Vor- und Nachbereitung einer Verhandlung durch den Einkäufer in Zusammenarbeit mit anderen involvierten Abteilungen auf Kundenseite werden in Abschn. 4.3 und 4.4 diskutiert; an dieser Stelle soll es zunächst um die Durchführung der Verhandlung gehen, sozusagen um den Showdown. In der dreistufigen Unterteilung einer Beschaffungsverhandlung unterscheiden sich die Aufgaben beider Parteien vor allem während der Vor- und Nachbereitung. In Abb. 4.1 ist ebenfalls erkennbar, dass bei der Durchführung der Verhandlung eine weitgehende Symmetrie in den Ansprüchen an die beiden Parteien herrscht: Lediglich zwei Begriffe sind markiert, in denen sich Einkauf und Vertrieb grundlegend unterscheiden. Der eine bezieht sich – der Natur der Sache geschuldet – auf das Konzept der ERFOLGsformel (Abschn. 1.6), wobei Teile davon (Compliance, Führungsverhalten, Geschäftsmodell) durchaus auch auf Lieferantenseite eine Rolle spielen, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Der zweite Punkt betrifft die asymmetrische Informationsverteilung, die in Abschn. 4.2 aufgegriffen wird. Die übrigen Aufgaben während der Verhandlungsdurchführung sind für beide Parteien relevant. Lieferant und Kunde, Anbieter und Abnehmer verfolgen zwar definitionsgemäß konträre Ziele und sind dennoch beide auf der Suche nach der Schnittmenge der Interessen und einer Win-Win-Lösung unter Vergrößerung des Verhandlungskuchens. Dabei spielen mit Verhaltensökonomik und Körpersprache, Tipps, Tricks und Taktik, Nachhaltigkeit und Compliance zahlreiche wichtige Aspekte eine Rolle, die hier behandelt werden. Selbst das Verhandlungsprotokoll, in dem die wesentlichen Details des geplanten Vertrags schriftlich fixiert und vereinbart werden, bringt zwar der Einkäufer in die Verhandlung ein und füllt es aus – und letztlich wird das Dokument zu einer Vertragshülse, die für beide Seiten durch ihre Unterschrift Vertragsbestandteil werden soll (vgl. Abschn. 4.5 und 9.3). Die „eigentliche“ Verhandlung Blicken wir aus Einkäufersicht auf die Präsenzphase einer Verhandlung. Im einfachsten Fall geht es um ein kleineres Geschäft, das zwischen Einkäufer und Vertriebsingenieur ohne Protokoll unter vier Augen im Büro, in der Kantine oder
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
sogar am Telefon besprochen wird und anschließend in einer formalen Bestellung (Purchase Order, PO) resultiert. Keine Verhandlung, in welcher der Einkäufer sein Unternehmen vertritt, sollte jemals unterschätzt werden. Im Wesentlichen gelten dieselben Regeln wie für komplexe Verhandlungen mit größerer Tragweite, doch wird der Aufwand gerade im Rahmen der Vorbereitung in diesem Falle wesentlich geringer ausfallen (vgl. Wenski 2019, S. 83–99).
Im Hinblick auf eine effiziente Ressourcenplanung innerhalb der Einkaufsabteilung sollte in Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung einer Beschaffungsverhandlung genau soviel Zeit und Energie investiert werden, wie aufgrund ihrer Bedeutung gerechtfertigt ist. Dafür sind vom Unternehmen die passenden Personalressourcen und Sachmittel zur Verfügung zu stellen.
In den Industrieländern fließt etwa ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts in langfristige Wirtschaftsinvestitionen, und jedes deutsche Unternehmen gibt zwischen fünf und zehn Prozent seines Beschaffungsvolumens für Investitionsgüter aus (Seegmüller 2012; s. auch Hofmann et al. 2012). Für die hier angestellte Betrachtung aus Einkäufersicht bietet sich als Beispiel daher eine integrative Verhandlung über ein Investitionsgut an, wie sie von unserem Schützling Herbert Langwasser im fortlaufenden Beispiel gerade vorbereitet wird. Dies kann eine umfangreiche Verhandlung über kostenintensive Maschinen und Anlagen sein, bei der neben dem Preis noch weitere Verhandlungsobjekte vorliegen, die im Laufe der Verhandlung getauscht werden können, um den Kuchen größer zu machen. Derartige Verhandlungen werden in den meisten Fällen wohlweislich auf beiden Seiten durch Verhandlungsteams geführt (Abschn. 2.3). Wie geht nun der Einkäufer oder das von ihm geleitete Verhandlungsteam vor? Erfolg versprechende Verhandlungsregeln und -tipps, die für Einkäufer und Vertriebsmitarbeiter gleichermaßen gelten, sind in Abschn. 3.1 und den Folgeabschnitten zusammengefasst. Generell gilt: Ein positiver äußerer Rahmen bringt beide Partner einem tragfähigen, im Sinne des Drei-Säulen-Prinzips People – Planet – Profit (s. Abschn. 1.5) sozialen, ökologisch-zukunftsorientierten und ökonomisch nachhaltigen Verhandlungsergebnis näher. Sofern die Verhandlung am Standort des Kunden stattfindet – was der Normalfall ist (Abschn. 5.1) –, sollte der Verhandlungsführer seine Rolle als Gastgeber ernst nehmen und bei den verhandlungsrelevanten Aspekten ebenfalls die weichen Faktoren wie Bewirtung und Smalltalk nicht vergessen.
4.2 Asymmetrische Informationsverteilung
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Über die allgemein gültigen Verhandlungsregeln hinaus existieren effektive Tipps und Taktiken gezielt für die Beschaffungsseite des Verhandlungstisches, die in meinen Vertriebsbüchern bisher keine Erwähnung gefunden haben. Eine in der Praxis bewährte Auswahl ist in Kap. 5 vorgestellt und aus Einkäufersicht erläutert. Doch bereits an dieser Stelle sei erwähnt:
Es existiert keine Regel und kein Tipp, Trick oder Kniff, mit dem ein Einkäufer jede Verhandlung zu seinen Gunsten „umbiegen“ und entscheiden kann. Eine Verhandlungslösung ergibt sich aus dem geduldigen, ergebnisorientierten Ausloten verschiedener Optionen und Lösungsmöglichkeiten durch die beteiligten Partner.
4.2 Asymmetrische Informationsverteilung In einer integrativen Beschaffungs- bzw. Vergabeverhandlung liegen selten alle Informationen auf dem Tisch: Sowohl Kunde als auch Lieferant verfügen über Wissen, Fakten und vor allem betriebswirtschaftliche Daten, die den Vertretern der anderen Partei nicht bekannt sind. Zwar lassen sich durch eine geschickte Fragetechnik etwaige verborgene Motive ans Tageslicht befördern, es bleibt aber ein Spiel mit teilweise verdeckten Karten (s. Wenski 2019, S. 144–149). Man spricht in solchen Fällen von asymmetrischer Information (vgl. Wikipedia 2020a). Prinzipal-Agent-Theorie Asymmetrische Informationsverteilung führt dazu, dass Vertragsparteien in ihrer Entscheidungsfindung eingeschränkt sind; das kann Kauf- und Werkverträge ebenso wie viele weitere Vertragsarten betreffen, etwa Beschäftigungsverhältnisse. Dies spannt den Bogen zur Prinzipal-Agent-Theorie (s. z. B. Groll et al. 2009; Weele und Eßig 2017, S. 143–146), in welcher der Lieferant (bzw. der Arbeitnehmer) der Agent und der Kunde (oder Arbeitgeber) der Prinzipal ist. Diese Theorie aus dem Jahr 1976 bietet ein Modell, um das Handeln von Menschen in einer Hierarchie zu erklären, und ermöglicht ebenfalls generelle Aussagen zur Gestaltung von Verträgen. Das abstrahierte Szenario ist in Abb. 4.2 verdeutlicht. Im Modell gibt es einen Auftraggeber (Prinzipal), der einen Auftragnehmer (Agent) mit einer Aufgabe betraut. Ferner wird den Beteiligten Opportunismus unterstellt: Jeder Vertragspartner handelt annahmegemäß im eigenen Interesse. Durch die Verfolgung unterschiedlicher Ziele sind Konflikte möglich.
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Abb. 4.2 Grundidee der Prinzipal-Agent-Theorie: P = Prinzipal (hier: Kunde); A = Agent (hier: Lieferant). (Eigene Darstellung in Anlehnung an Stern/CC BY-SA 3.0, Wikipedia 2020b)
Der Kunde hat als Prinzipal meist mit einem Informationsdefizit gegenüber dem Lieferanten als Agenten zu kämpfen.
Der Prinzipal nutzt im Modell den Agenten, um eigene Ziele zu verfolgen, und erwartet von ihm, dass sich dieser voll und ganz für die Auftragserfüllung einsetzt, also nicht seine eigenen Ziele, sondern die Ziele des Prinzipals verfolgt. Der Prinzipal kann in beiden Fällen jedoch das Engagement und/oder die Qualitäten seines Agenten lediglich mit Einschränkungen erkennen und sieht – wenn überhaupt – nur das Ergebnis von dessen Bemühungen. Wie hoch sind die Gestehungskosten für eine Anlage oder ein Gewerk? Wie aufwendig war eine Reparatur? Usw. Der Agent besitzt einen Informationsvorsprung, da er sein eigenes Verhalten im Hinblick auf den Erfolg besser beurteilen kann. Er hat die Option, diese Informationsasymmetrie durch entsprechendes Handeln zu Ungunsten des Prinzipals ausnutzen. Werden die entsprechenden Informationsmängel nicht korrigiert, ist die bestmögliche Lösung nicht erreichbar. Im Rahmen der Prinzipal-Agent-Theorie
4.2 Asymmetrische Informationsverteilung
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beschreiben Agenturkosten die Differenz der Kosten einer idealen Lösung (vollkommene Information) zu denen der realen Lösung. Ein sachbezogener Verhandlungsstil (s. Abschn. 3.4) in Verbindung mit einer konstruktiven Unternehmenskultur (Abschn. 6.6) führt zur Reduktion der Agenturkosten. Beispiel
Nahezu alle Prinzipal-Agent-Beziehungen lassen sich einer von drei Grundtypen asymmetrischer Information zuordnen: 1. Hidden Characteristics (Verborgene Eigenschaft): Der Auftraggeber kennt bestimmte Eigenschaften der angebotenen Leistung vor Vertragserfüllung nicht. Ein typisches Beispiel ist das Problem von zum Verkauf angebotenen Gebrauchtwagen und deren Qualität, auch als „Saure-Gurken-Problem“ oder „Problem der Montagsautos“ bekannt (Akerlof 1970). Bei Equipmentbestellungen darf der Kunde ebenfalls trotz detaillierter technischer Anforderungen nie ganz sicher sein, was er letztlich geliefert bekommt und wie gut es funktioniert; Abhilfe können präzise Spezifikationen, Garantien, Pönalen und ähnliche Zusagen sowie Vor-Ort-Überprüfungen schaffen. 2. Hidden Action und Hidden Information (Verborgene Handlung und Information): Dabei treten die Informationsasymmetrien erst nach Vertragsschluss und während der Vertragserfüllung auf. Hidden Action bedeutet, dass der Auftragnehmer Spielräume hat, da der Auftraggeber dessen Handlungen nicht (oder nicht vollständig) beobachten kann. Hidden Information liegt vor, wenn der Auftraggeber zwar die Handlungen beobachten, deren Qualität aber (z. B. aufgrund fehlender Fachkenntnis) nicht einzuschätzen vermag. Beispiele für Hidden Action sind Arbeitsverhältnisse ebenso wie die Leistung einer Kfz-Werkstatt. Hidden Information findet man ebenso bei einer Patient-Arzt-Beziehung sowie der Kunde-Lieferant-Konstellation bei erklärungsbedürftigen Verkaufsobjekten – der Kunde kennt sich meist nicht umfassend aus und ist auf kompetente Beratung angewiesen. In beiden Fällen kann der Auftraggeber auch nach Vertragserfüllung nicht beurteilen, ob das Ergebnis durch qualifizierte Anstrengungen des Auftragnehmers erreicht wurde oder ob (bzw. wie sehr) die Umweltzustände das Ergebnis beeinflusst haben. 3. Hidden Intention (Verborgene Absicht): Selbst wenn der Auftraggeber das Handeln des Auftragnehmers beobachtet und die genannten Asymmetrien
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
nicht vorliegen, können Probleme dadurch entstehen, dass er vor Vertragsschluss die Absichten des Auftragnehmers nicht kennt. Tätigt der Auftraggeber irreversible Investitionen, die er möglicherweise als Sunk Costs abschreiben muss, schwindet seine Verhandlungsmacht, und er kommt in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Auftragnehmer (s. Abschn. 3.3). ◄ Kipp-Punkte: die Entscheidung Praktiker wissen, dass eine Verhandlung oft an einem bestimmten Punkt ganz plötzlich entschieden ist und beendet werden kann – analog zum Sudden Death in einigen Sportarten (wie Eishockey, American Football oder Darts). In diesem Fall sollte das Ergebnis vereinbart und ein zeitnaher Abschluss gesucht werden. Ein Kipp-Punkt (= kritischer oder Umschlagpunkt) ist der Zeitpunkt in einer Verhandlung, an dem sich etwas gravierend verändert – eine Zäsur sozusagen, mit der wahrscheinlichen Folge ist, dass ein Durchbruch erzielt wird oder die Verhandlung scheitert1. Auch wenn es im Anschluss noch weiter geht und Details geklärt und fixiert werden, wissen beide Parteien meist sehr genau, wann der Kipp-Punkt gekommen ist und wodurch er verursacht wurde.
Ein Kipp-Punkt (Tipping Point) wird in der Regel entweder durch eine hohe emotionale Beanspruchung oder – bevorzugt – durch zwingende Sachargumente herbeigeführt, denen sich die Gegenseite nur schwerlich verschließen kann.
Die Existenz von Kipp-Punkten ist naturgemäß an das analoge persönliche Verhandlungsformat gebunden, und sie sind im digitalen Beschaffungsgeschäft oder bei Auktionen kaum zu finden. Insbesondere Verkäufer werden systematisch darin geschult, auf solche Kipp-Punkte hinzuarbeiten und diese zu erkennen. Hat der Verkäufer sein realistisch definiertes Verhandlungsziel erreicht und sieht keinen zusätzlichen Verbesserungsspielraum, dann wird er „den Sack zumachen“ und den umgehenden Abschluss suchen. Prinzipiell kann ein Kipp-Punkt in jeder Phase der Präsenzverhandlung erzeugt werden oder sich ergeben, und in kritischen Momenten ist ein Kippen in verschiedene Richtungen möglich. Droht ein Kippen in Richtung einer unvorteilhaften Entscheidung oder gar eines
1Bei der zweiten Möglichkeit wäre es der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
4.2 Asymmetrische Informationsverteilung
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Abbruchs, sollte der Verhandlungsführer aus dem Einkauf eine Auszeit nehmen und sich mit seinem Verhandlungsteam und eventuell dem internen Auftraggeber neu abstimmen. Kipp-Punkte aus Einkäufersicht
• Beispiel 1: Es ist die Beschaffung einer Anzahl teurer Prozessanlagen über mehrere Jahre bei einem Anbieter mit Hauptsitz in den USA geplant. Da aufgrund der Budgetierung beim Kunden sowie finanztechnischer Vorgaben der US-Behörden jeweils nur für die folgenden zwölf Monate bestellt werden kann, fällt der Mengenrabatt dürftig aus. Der Einkäufer macht den Vorschlag eines gestaffelten Nachlasses, bei dem die Anlagen für das erste Jahr jetzt mit dem zuvor angebotenen Nachlass und die für die Folgejahre zu bestellenden Exemplare später zu einem niedrigeren Preis bestellt werden. • Beispiel 2: Der Verkäufer möchte ein Geschäft unbedingt noch im alten Geschäftsjahr abschließen, das in seiner Gesellschaft nicht synchron mit dem Kalenderjahr verläuft und zwei oder drei Tage nach dem Verhandlungstag endet. Normalerweise dauert die Prozessierung einer derartigen Beschaffung beim Kunden fast zwei Wochen, bis alle Freigaben und Unterschriften vorliegen. Der Einkäufer sollte fragen: „Können wir das Geschäft zu unseren Bedingungen abschließen, wenn Sie die Bestellung morgen auf dem Tisch haben?“ (Und sicher sein, dass er dies innerhalb seiner eigenen Organisation auch realisieren kann …) • Beispiel 3: In Hightech-Anlagen werden für die Leistungsoptimierung immer kompliziertere Softwarepakete installiert. Natürlich kostet die Softwareentwicklung den Lieferanten viel Geld; jedoch hat jede einzelne Lizenz keinen physischen Wert. Den Durchbruch liefert oft der Vorschlag, dass der Lieferant eine bestimmte Software kostenfrei oder vergünstigt zum Paket dazugeben möge, um den Kuchen größer zu machen oder vorangegangene Leistungsstörungen vom Tisch zu bringen. • Beispiel 4: Und als letztes Beispiel sei auf eine Verlagerung des Geschehens hingewiesen, die vor allem bei interkulturellen Verhandlungen einen gezielten Vorteil bringen kann: Der Verhandlungsführer schlägt vor, die festgefahrene Verhandlung zu unterbrechen und gemeinsam zum Essen zu gehen – eine Einladung an die Gegenseite macht die Aktion noch effektiver. Beim Essen wird über alles geredet, nur nicht über das Geschäft. Vielfach erreicht man gerade im Dialog mit asiatischen Geschäftspartnern im Laufe des weiteren Abends oder am nächsten Tag eine für beide Seiten
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
befriedigende Lösung. (Unter westlichen Geschäftspartnern dürfte dieses Vorgehen manchmal auf Misstrauen stoßen …) ◄
Wenn der Einkäufer nach Vorbringen zwingender Argumente in der Verhandlung einen (für seine Partei vorteilhaften) Kipp-Punkt erkannt hat, sollte das Ergebnis umgehend fixiert und schriftlich vereinbart werden.
4.3 Vorbereitungsaktivitäten aus Einkäufersicht Eingerahmt wird die in Abschn. 4.1 skizzierte Präsenzverhandlung am Tisch (die „eigentliche“ Verhandlung) von den wichtigen Phasen der Vor- und Nachbereitung. Bis zu 80 Prozent des Verhandlungsgewinns liegt in der Vorbereitung; ein Beschaffungsergebnis wird nur zu maximal 20 Prozent in der Verhandlung selbst erarbeitet. Nach Nenninger (2009) sind lediglich fünf Prozent der Ergebnisbeeinflussung in der Vertragsphase anzusiedeln – dort geht es vorwiegend um die Sicherung und Durchführung des zuvor erreichten Ergebnisses (Abschn. 4.4). Die folgende Beschreibung beschränkt sich wiederum auf die in Abb. 4.1 gekennzeichneten kundenspezifischen Gesichtspunkte (für einen Überblick aus dem Blickwinkel des Lieferanten s. Wenski 2019, S. 47–81, 99–104). Als Einkäufer dürfen Sie davon ausgehen, dass Ihre Gesprächspartner aus dem Vertrieb in der Regel optimal präpariert in eine Verkaufsverhandlung gehen. Ein guter Vertriebsingenieur oder Account Manager kennt sich in der Organisation des Kunden besser aus als jeder Einkäufer: Mission und Visionen, Marktentwicklung, Aktienkurs, Publikationen und Pressemitteilungen sind ihm ebenso geläufig wie alle Informationen über vorausgegangene Geschäfte sowie zahlreiche weitere Aspekte. Für die geplante Verhandlung verfügt der Anbieter über eine fundierte Strategie, klare Ziele und die dafür notwendigen Argumente. Oft unterschätzt und zu spät begonnen Um bestmögliche Ergebnisse auch auf der Beschaffungsseite zu erzielen, sollte der Verhandlungsführer mit seinen internen Auftraggebern und dem Team zeitig mit einer umfassenden Vorbereitung beginnen. Die strategische Vorbereitung fängt schon lange vor dem Vorgespräch an. Eine weitere Analogie zum Sport: Beispielsweise in der Leichtathletik und beim Rudern kennt man den Spruch „Weltmeister werden im Winter gemacht“. Dies bedeutet, dass zur Erzielung herausragender Resultate während der späteren Freiluftsaison (hier: Verhandlung) ein systematischer und konzentrierter Trainingsaufbau (Verhandlungsvor-
4.3 Vorbereitungsaktivitäten aus Einkäufersicht
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bereitung) sehr zeitig erfolgen muss. Zeitig heißt bei trainierten Athleten mehrere Monate, beim Verhandeln kann es sogar Jahre bedeuten. Das Gros der Vorbereitungsaufgaben betrifft Anbieter und Abnehmer gleichermaßen. Beide Parteien werden ein geeignetes Verhandlungsteam (Abschn. 2.3) zusammenstellen, das in einem oder mehreren Vorbesprechungen primär Strategie, Needs, Wants und Zielkorridor (Abschn. 3.2) vereinbart sowie einige Taktiken vorbereitet und sich über die eigene Verhandlungsmacht und die Ziele (Abschn. 3.3) Klarheit verschafft. Idealerweise findet die letzte persönliche Abstimmung mindestens ein bis zwei Tage vor dem Verhandlungstermin statt, um bei Informationsdefiziten oder Diskrepanzen in den Positionen diese Lücken noch schließen zu können.
Für die Vorbereitung hat sich die Verwendung eines Verhandlungsplaners als sinnvoll erwiesen, auf dem vom zuständigen Einkäufer die wesentlichen Eckpunkte für die anstehende Verhandlung notiert und dadurch dokumentiert werden. Ein Muster ist in Abschn. 9.2 abgebildet.
Im Rahmen der Vorbereitung werden objektive Informationen und Marktbeobachtungen gesammelt und konsolidiert, auf deren Basis sich eine Verhandlungsstrategie definieren und Vorgehensweisen und Taktiken abstimmen lassen; auf Kundenseite sind dies vor allem die nachfolgend genannten Punkte. • Bestellhistorie: Was wurde in der Vergangenheit zu welchen Konditionen bei diesem Lieferanten oder auch bei direkten Wettbewerbern bestellt? • Hintergrund: Wie äußern sich Internet, Presse und persönliche Quellen zur strategischen, finanziellen und Auftragssituation des Verhandlungspartners? Wie ist er am Markt positioniert? • Wettbewerb: Liegt ein Konkurrenzangebot vor? Mit welchen Argumenten arbeitet der Anbieter die Einzigartigkeit seiner Leistung heraus? • Verhandlungspartner: Was sind seine Ziele? Mit welchen Forderungen oder Vorschlägen ist zu rechnen? Welche Fragen wird er stellen, und was wird er verschweigen? Welche Einwände sind zu erwarten? • BATNA: Wie lautet der Plan B? Welches Ausstiegsszenario bietet sich an? Auch die subjektive Vorbereitung des Verhandlers – die Phase der Vorwegnahme – kann eine wichtige Rolle spielen. Er versetzt sich in die Rolle seines Gegenübers und versucht, die Verhandlung durch dessen Augen zu sehen und ablaufen zu lassen. Diese anspruchsvolle Phase erfordert Talent und Erfahrung.
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Beispiel
In Einkäuferschulungen gebe ich den Teilnehmern gerne diese Aufgabe: „Stellen Sie sich vor, Sie wären Vertriebsingenieur und sollen mit Ihrem jetzigen Arbeitgeber ein Verkaufsgespräch führen. Bei welchen Schwachstellen würden Sie ansetzen, um in der Verhandlung Vorteile zu erzielen?“ Diese lehrreiche und kreative Übung wird meist sehr positiv aufgenommen, und jede Seminargruppe wartet mit einer Reihe von Punkten auf, die beispielsweise Abstimmungs- und Entscheidungsprobleme, vorhandene Netzwerke in der Organisation des Verhandlungspartners oder vertragsrechtliche Feinheiten zum Gegenstand haben. In einigen Fällen lassen sich zu den aufgespürten Schwachstellen unmittelbar Korrekturmaßnahmen definieren, die während einer Vorbereitung im Verhandlungsteam durchgesprochen und realisiert werden können. ◄ Auf begrenzter Datenbasis scheint der Schluss zulässig, dass Verkäufer allgemein besser geschult sind als Mitglieder des Einkaufs (s. Abschn. 6.4). Ein gegensätzliches Bild ergibt sich für den durchschnittlich verantworteten Umsatz: Während im deutschen Maschinen- und Anlagenbau von einem Außendienstmitarbeiter Verkäufe in Höhe von rund drei Millionen Euro jährlich getätigt werden, liegt das mittlere Beschaffungsvolumen eines Einkäufers etwa beim Dreifachen (Konjusic 2016; Neitzel 2017). B2B-Verkäufer verantworten also im Schnitt signifikant niedrigere Geschäftsvolumina als Einkäufer, werden aber über Fortbildungen besser vorbereitet. Dabei lernen sie vor allem, sich auf die solide Vorbereitung einer Verhandlung zu konzentrieren.
Know-how-Schutz
Im Zuge der Abwicklung technisch orientierter Beschaffungsgeschäfte sollte es im Eigeninteresse der involvierten Parteien liegen, dass eine beidseitige Geheimhaltungsvereinbarung (Non-disclosure Agreement, NDA) rechtskräftig abgeschlossen wird. Die Initiative dazu geht in der Regel vom Kunden und dort von der Rechts- oder Patentabteilung aus. Dadurch wird technisches Know-how geschützt, das nicht öffentlich bekannt ist, jedoch der jeweils anderen Seite zur Kenntnis gelangt. So soll verhindert werden, dass Geschäftsgeheimnisse wie Produktionsverfahren oder Anlagenkonstruktionen in falsche Hände gelangen, bevor beispielsweise Patentschutz darauf erteilt wird oder Wettbewerber vergleichbare Entwicklungen realisiert haben.
4.3 Vorbereitungsaktivitäten aus Einkäufersicht
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Damit dieser Schutz der Informationen (Intellectual Property) wirksam werden kann, muss rechtlich zweifelsfrei belegbar sein, welche Information wann von wem an wen in welcher Form unter welcher NDA-Nummer übergegeben wurde. Dazu sind alle infrage kommenden Dokumente (Spezifikationen, Pflichtenhefte, Zeichnungen etc.) mit einer Systemnummer sowie Versionsangabe, Datum, Autor bzw. Verantwortlichem und sonstigen relevanten Angaben zu versehen, und ihre Weitergabe ist systematisch zu erfassen. Darüber hinaus werden sie als „vertraulich“ und gegebenenfalls „revisionskontrolliert“ gekennzeichnet – am besten in Rot. Eine derartige Erfassung empfiehlt sich auch für bestimmte Einkaufsdokumente wie das Verhandlungsprotokoll.
Lieferanten-Vorauswahl Am Anfang aller Vorbereitung lange vor der Terminierung von Verhandlungen steht die systematische Lieferantensuche und -auswahl (Sourcing; s. Abschn. 7.3). Sind mögliche Lieferanten für bestimmte Beschaffungen, beispielsweise eine industrielle Großanlage, gefunden, wird durch Aussortierung ungeeigneter Kandidaten oft nicht mit jedem Anbieter selbst innerhalb der engeren Auswahl verhandelt. Im Rahmen der Verhandlungsvorbereitung ist eine fundierte Vorauswahl zu treffen, die zunächst auf Basis der angefragten technischen und kommerziellen Angebote sowie einer Sichtung der Unternehmen vorgenommen wird. In einer späteren Phase der geplanten Zusammenarbeit erfolgen Gespräche mit den infrage kommenden Anbietern, Vor-Ort-Besuche und sogar formelle Lieferantenaudits (s. Abschn. 7.2), gefolgt vielleicht von Anlagendemonstrationen beim Hersteller und der temporären Überlassung einer Testanlage oder eines Probegeräts. Im Wettbewerbsfall ist die endgültige Auswahl des zum Zuge kommenden Lieferanten und des genauen Vertragsgegenstands erst möglich, nachdem die Verhandlungen mit allen dafür ausgewählten Anbietern abgeschlossen sind (s. Abschn. 4.4). In solchen Wettbewerbssituationen bietet sich die Nutzung formaler Verfahren an, die bereits bei der Vorauswahl der Angebote Hilfestellung geben können. Ein Ansatz für eine nachvollziehbare Entscheidungsfindung z. B. zwischen verschiedenen Großanlagen (bzw. deren Anbietern) ist das als Methode der Qualitätssicherung entwickelte Quality Function Deployment („Qualitätsfunktionendarstellung“; deutsch meist QFD-Analyse) (Akao 1992). Dabei werden in einer Expertengruppe, in der neben dem Einkauf der Bedarfsträger, der interne Kunde und eventuell das obere Management und andere Fachvertreter
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
der Kundenorganisation vertreten sind, technische und kommerzielle Kriterien gewichtet und quantifiziert. Bei wesentlichen Spezifikationsanforderungen (Needs, „Killerkriterien“; s. Abschn. 3.2) dürfen keine Abstriche akzeptiert werden. Typische zu bewertende Kriterien (maximal zehn bis zwölf) sind mit Equipmentbezug Funktionalität, Benutzer- und Wartungsfreundlichkeit, Zukunftstauglichkeit, Einbindung in die eigenen Abläufe und die IT-Systeme sowie mit Blick auf den Lieferanten dessen Expertise und Marktpräsenz, bisherige Leistungen im Feld und wirtschaftliche Stabilität. Jedes Kriterium erhält einen Gewichtungsfaktor (meist 0–3), jedes Angebot wird in jedem Kriterium ebenfalls mit Punkten (oft 1–5 oder 1, 3, 10) bewertet. Durch Multiplikation und Aufsummieren der Zwischenergebnisse errechnen sich die gewichteten Einzelergebnisse und damit der Favorit. Ergeben sich neue Aspekte bzw. Daten, etwa nach der Durchführung der Verhandlungen und/oder praktischer Tests, erfolgt ein Update der QFD-Analyse. Herbert Langwasser
Die Vorbereitung der Verhandlungen im Rahmen des Projekts schreitet zielstrebig voran, und Mitte Oktober findet die geplante QFD-Analyse statt. Um einen geordneten Ablauf sicherzustellen, ist dafür eine interne Moderatorin aus der Qualitätsabteilung eingeladen worden. Teilnehmer sind – neben Langwasser, Klaus Auerbach und Dr. Jens Zimmermann – weitere Kollegen aus Forschung, IT und Controlling. Auch die beiden Führungskräfte Hartmut Eisleben [sic! Er hat seine Dienstreise extra verschoben.] und Hans-Peter Burghardt lassen es sich nicht nehmen mitzuwirken. Die Moderatorin erklärt nochmals die Spielregeln, obwohl die Anwesenden mit diesem Format bis dato mehrfach Erfahrungen gesammelt haben. Zunächst vereinbaren die Teilnehmer zwölf Kriterien, anhand derer Anbieter und Anlagentypen verglichen werden sollen. Für die Gewichtung jedes Kriteriums wird auf den üblichen paarweisen Vergleich aus Zeitgründen verzichtet. Stattdessen darf jeder eine bestimmte Anzahl von Punkten auf die für ihn bedeutenden Kriterien verteilen, woraus ein gerundeter Multiplikator von 1, 2 oder 3 ermittelt wird. Die wirtschaftliche Stabilität des Lieferanten und die Funktionalität der Anlage landen mit je drei Punkten in der Bedeutung ebenso ganz oben wie das Gesamtpaket für Singapur. Nun folgt der interessanteste Teil einer QFD-Analyse: die Bewertung der Angebote gemäß den vorgegebenen Kriterien. Dies geschieht in offener Diskussion durch Konsens- und in Ausnahmefällen Mehrheitsentscheidung. (Spätestens jetzt macht sich die Moderatorin bezahlt.) Pro Kriterium stehen
4.3 Vorbereitungsaktivitäten aus Einkäufersicht
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jeweils 1–5 Punkte zur Verfügung. Natürlich hat der Prozessentwickler eine etwas andere Sichtweise auf die Dinge als ein Techniker oder Abteilungsleiter, und so geht es unter genauer Bewertung der Angebote und der Anbieter hin und her. Nach einer Weile scheint einige Experten die Lust zu verlassen, und die Runde erzielt eine Einigung, welche die Moderatorin in die elektronische Auswertemaske einträgt. Killerkriterien haben die Experten nicht identifiziert. Die temporäre Auswertungstabelle für die QFD-Analyse sieht jetzt so aus:
Beide Lieferanten liegen mit ihren Angeboten zur Überraschung der Anwesenden mit 84 bzw. 83 von 120 maximal erreichbaren Punkten nahezu gleichauf. Unterschiede bei Marktdurchdringung (zugunsten JT) oder den erweiterten Möglichkeiten (für DWE) sind zu gering zur Ermittlung eines echten Favoriten, und dem Anlagenpreis bzw. der Cost of Ownership wird, wie in einer Equipment-QFD vielfach üblich, lediglich ein untergeordneter Einfluss beigemessen. Der Wert des Gesamtpakets für das Singapur-Projekt kann zu diesem Zeitpunkt – zugunsten von JT – letztlich nur grob abgeschätzt werden. Bleiben Sie dran – in Abschn. 5.5 kommt es zur ersten Verhandlung. ◄ Weitere Vorbereitungsaufgaben Im Rahmen der Vorbereitung des Lieferantenteams auf eine komplexe Verhandlung ist ein kleines Drehbuch mit der Rollenverteilung von praktischem Nutzen. Ein stringentes Hinsteuern auf die Verhandlungsziele sollte nicht konterkariert werden, etwa durch sich widersprechende Aussagen oder gar hilfreiche Hinweise an den Verhandlungspartner. Um dies zu verhindern, kann das Team vorher zumindest ungefähr festlegen, wer was wann sagt. So lassen sich die
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
geplanten Taktiken gezielter und Erfolg versprechender umsetzen. Der Einkäufer als Verhandlungsführer ist der Gesprächsleiter und hat dafür zur sorgen, dass die eigene Partei mit nur einer Stimme spricht – sämtliche störenden Ausprägungen von Besserwisserei (z. B. durch den Techniker oder Entwickler) oder Geltungsbedürfnis (falls wider besseres Wissen höhere Ebenen mit am Tisch sitzen) sind fehl am Platz. Beschaffungsbudgets, die in der Regel vom Bedarfsträger über einen Kreditantrag nachgefragt und von der Unternehmensleitung oder dem oberen Management freigegeben werden, sind in Abschn. 1.3 und 2.3 zur Sprache gekommen. Bei größeren Beschaffungsanfragen an den Einkauf hatte ich (wie Herbert Langwasser in Abschn. 1.7) es mir zur Gewohnheit gemacht, den Techniker als erstes zu fragen, ob er „Geld dafür hat“: in anderen Worten, ob das Budget bereits genehmigt ist oder sich das aktuelle Projekt noch in einer Vorphase befindet und konkrete Verträge mit Lieferanten nicht abgeschlossen werden können. Eine Vergabeverhandlung macht nur dann Sinn, wenn Mittel für die betreffende Beschaffung zur Verfügung stehen; ansonsten ist die Verhandlungsmacht des Kunden geschwächt, denn ein Anbieter wird sich ohne konkrete Auftragschancen kaum aus dem Fenster lehnen.
4.4 Nachbereitung einer Beschaffungsverhandlung Wie in Abb. 4.1 dargestellt unterscheiden sich die auf Einkaufsseite nach einer Vergabeverhandlung anfallenden Aufgaben in einigen Punkten gravierend von den Arbeiten des Vertriebsingenieurs. Zwar sind beide Seiten an einer einvernehmlichen und rechtssicheren vertraglichen Regelung interessiert (s. Abschn. 4.5), und auch die Durchführung der Vereinbarungen, insbesondere die Leistungserbringung (bei einer Anlage die Lieferung und Inbetriebnahme), betrifft beide Seiten. Doch während auf Lieferantenseite Ausgangsmaterial beschafft und geplant, geschraubt und geprüft wird, liegen die Aufgaben des Kunden und hier vor allem des Einkäufers im Bereich der operativen und strategischen Begleitung des Beschaffungsprojekts. Angebotsauswahl Abschn. 4.3 ist angesichts der Verhandlungsvorbereitung auf den Punkt eingegangen, dass der erfolgreiche Aufbau von Wettbewerb auf Anbieterseite die Verhandlungsmacht des Abnehmers steigert (s. auch Abschn. 7.4). Der Traum jedes Einkäufers ist, für kritische Güter und Leistungen auf mehr als einen kompetenten Lieferanten zugreifen zu können. Im Falle der Beschaffung eines industriellen Großequipments (Produktionsanlage, Messgerät, Versorgungsein-
4.4 Nachbereitung einer Beschaffungsverhandlung
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richtung usw.) wäre es optimal, zwei oder drei Anbieter mit geeigneten Produkten für eine Vergabeverhandlung zur Verfügung zu haben (außer man entscheidet sich von vornherein für einen einzigen Systemlieferanten oder eine höhere Anzahl an Wettbewerbern). Liegt letztlich ein Überblick über die Leistungseigenschaften und den Preis des Verhandlungsgegenstands vor, kann die endgültige Auswahl getroffen werden. In einer echten Wettbewerbssituation auf Angebotsseite spricht nichts dagegen, dass der Einkäufer nach Durchführung der Verhandlungen (meist telefonisch) versucht, mit dem ausgewählten Lieferanten einen zusätzlichen Nachlass zu verhandeln gegen die Zusicherung, dass dieser die Bestellung erhalten wird. (Zu einer derartigen Aussage sollte der Einkäufer allerdings berechtigt sein.). Die QFD-Analyse für die Angebotsauswahl ist in Abschn. 4.3 erläutert. Ein weiteres Hilfsmittel ist die SWOT-Analyse, die in den 1960er-Jahren ebenso wie das Harvard-Konzept an der Harvard Business School als Instrument der strategischen Planung zur Anwendung in Unternehmen entwickelt wurde. SWOT ist das Akronym für die englischsprachigen Begriffe Strengths (Stärken), Weaknesses (Schwächen), Opportunities (Chancen) und Threats (Risiken) (s. z. B. Pelz 2018; Wikipedia 2020d). Als methodischer Ansatz eignet sich die SWOT-Analyse für eine Vielzahl von Aufgabenstellungen einschließlich der Verhandlungsplanung und -auswertung, indem alle relevanten Informationen zusammengetragen werden. Dabei sollte das Team neben den Stärken auch die Schwächen einer Lösung realistisch und ehrlich einschätzen – viele Informationen in dieser Aufstellung sind wiederum für den Anbieter tabu. Für die Beschaffung eines Messgerätes für die Halbleiterindustrie könnte ein S WOTTableau wie folgt aussehen:
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Mit derartigen strukturierten Vorgehensweisen gelingt es, zwischen Alternativangeboten auf der Basis objektiver Kriterien auszuwählen. Dem oder den nicht zum Zuge kommenden Lieferanten wird vom Verhandlungsführer erst abgesagt, nachdem der Vertrag mit dem Wunschlieferanten zustande gekommen ist. In diesem Zusammenhang sind fest vereinbarte Termine und Zeitachsen im internen wie externen Dialog wichtig.
Formalisiertes Bauchgefühl
Nutzer eines solchen formalen Auswahlprozesses sollten sich vor Augen halten, dass das Ergebnis vielfach dem Bauchgefühl der Teilnehmer entspricht, da die zugrunde liegenden Kriterien und Wichtungen ein Abbild dessen sind und keine physikalisch begründeten Messergebnisse repräsentieren. Bei knappen Beschaffungsentscheidungen ist von hoher Bedeutung, dass die verfügbaren Informationen sorgfältig eingeordnet und kontrovers diskutiert werden, um die Versuchung zu starker Methodengläubigkeit auszuschließen.
Zahlungsfreigaben Während der Verkäufer sicherstellen muss, dass sein Kunde die gemäß Leistungsfortschritt zugesandten Rechnungen pünktlich zahlt, ist eine der Aufgaben des Einkäufers, diese nach Vorliegen der Voraussetzungen bei der Kreditorenbuchhaltung bzw. Finanzabteilung des Kunden zur Zahlung freizugeben. Dazu enthält der Vertrag gewöhnlich eine Zahlungsstaffel, nach der z. B. Anzahlungen sowie Zahlungen bei Lieferung, bei Abnahme (im Falle eines Werkvertrags) und zum Ablauf der Verjährungsfrist für Mängelhaftung fällig sind (Wenski 2019, S. 118–122). Die Abwicklung erfordert eine konsequente Terminverfolgung in Zusammenarbeit mit Bedarfsträger und internem Kunden. Falls eine Anzahlung vereinbart ist, wird von deutschen Unternehmen zur Absicherung in der Regel eine Bürgschaft nach definierten Kriterien verlangt; vor der Zahlungsfreigabe muss der Einkäufer diese von der zuständigen Fachstelle (Recht oder Finanzen) prüfen lassen. Besagte Zahlungsfreigaben erfolgen bei größeren Unternehmen meist elektronisch über Workflows vom Bedarfsträger oder anderer interner Funk tionen wie dem Wareneingang: zur Bestätigung der Auslieferungsfreigabe beim Lieferanten, der Anlieferung, der Abnahme sowie der erfolgreichen Erledigung von Wartungs- und Reparaturarbeiten. Bei all diesen Vorgängen und vor allem Zahlungsfreigaben muss auf sorgfältige Prüfung und nachvollziehbare Dokumentation
4.4 Nachbereitung einer Beschaffungsverhandlung
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geachtet werden. Bei Vorliegen gravierender Mängel oder dem Auftreten späterer Leistungsstörungen ist Vorsicht geboten und seitens des technischen Personals Rücksprache mit dem zuständigen Einkäufer erforderlich. Zur Einhaltung des Zahlungsziels ist zu berücksichtigen, dass ein Unternehmen nur an festgelegten Tagen sogenannte Zahlläufe durchführt – wöchentlich, alle zwei Wochen oder einmal pro Monat. Eine vorausschauende Zahlungsplanung stellt sicher, dass fällige Zahlungen pünktlich auf dem Konto des Lieferanten eingehen, auch um keinen Anspruch auf etwaige Skonti zu verlieren.
Lieferanteninsolvenz
Neben der Bereitstellung einer Bürgschaft wird ein wirtschaftlich schwacher Lieferant eventuell versuchen, eine Anzahlung gegen Eigentumsübertragung von Teilen und/oder Know-how (Zeichnungen, Bauplänen, Softwarecodes u. Ä.) zu erhalten. Auf einen solchen Kompromiss sollte sich der Einkäufer jedoch nur im begründeten Ausnahmefall einlassen und möglichst die Zustimmung entscheidungsbefugter Stellen im Unternehmen einholen, da deutlich höhere Verlustrisiken bestehen als bei Absicherung durch eine qualitativ hochwertige Bürgschaft. So kann es vorkommen, dass der Kunde im Insolvenzfall mit den Teilen oder Informationen mangels spezieller Kenntnisse nicht viel anfangen kann. Tritt der bedauerliche Fall einer Lieferanteninsolvenz ein, ist schnelles Handeln insbesondere auf Einkäufer- und Buchhaltungsseite geboten. Die erste und wichtigste Maßnahme ist der temporäre Stopp aller Zahlungen: Zahlungen auf das alte Konto des Unternehmens wirken möglicherweise nicht mehr schuldtilgend, weil der inzwischen eingesetzte Insolvenzverwalter ein anderes Konto dafür benannt hat. Bekanntestes Beispiel der Finanzgeschichte ist die Überweisung von knapp 320 Millionen Euro am 15. September 2008 durch die deutsche KfW an die bereits insolvente Lehman Brothers-Bank (Appel 2010). Nach Sperrung aller Zahlungen und Kreditorennummern ist es notwendig, dass der Einkäufer unverzüglich eine Übersicht erstellt, welche Geschäfte, Verträge und Verbindlichkeiten mit diesem Lieferanten offen bzw. aktuell sind, und im eigenen Unternehmen alle involvierten Kollegen sowie Management und Rechtsvertretung darüber informiert. Internetrecherchen und Kontakte zu anderen Geschäftspartnern können weitere Einsichten liefern. Der insolvente Lieferant wird aufgefordert, belastbare
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Angaben zum Stand zu machen, beispielsweise ob das Gericht den Einsatz eines Insolvenzverwalters oder eine Insolvenz in Eigenverwaltung verfügt hat. Letztlich sollte ein enger Kontakt zu Lieferantenvertretern und gegebenenfalls dem Insolvenzverwalter aufrechterhalten werden, um einen weitgehend reibungslosen Ablauf anzustreben, denn eine Insolvenz bedeutet nicht, dass die Geschäftstätigkeit umgehend beendet wird.
Wareneingang, Prüfungen und Mängelverfolgung Auch für diese Aufgaben, die von anderen Funktionen ausgeführt werden, ist der Einkäufer mittelbar verantwortlich. Alle Waren, die durch die Tore in ein größeres Werk eines Unternehmens geliefert werden, nimmt die Organisationseinheit „Wareneingang“ entgegen. Es macht natürlich einen Unterschied, ob etwa industrielle Flüssiggüter mit einem Tank-LKW oder der Bahn, Equipment mittels Schwertransport oder Quarz- und Grafitteile für ein Konsignationslager angeliefert werden. In allen Fällen erfolgt eine Wareneingangsbuchung im elektronischen Materialverwaltungssystem, und wenn es sich wie bei der Großanlage um ein Investitionsgut handelt, wird das Budget (zu 100 Prozent) belastet. Die Wareneingangskontrolle beschränkt sich meist auf die Prüfung der Dokumentation, und Bedarfsträger und Einkäufer werden elektronisch informiert. Eine Besonderheit ist mit dem Wareneingang beim vielfach verwendeten Incoterm FCA (Lieferung der Ware an den vom Käufer benannten Frachtführer) verbunden: Die Warenübernahme findet beim Lieferanten statt, was Auswirkungen auf die damit fälligen Zahlungen haben kann. Falls sich die Ware bei Ablauf der Zahlungsfrist noch auf dem Transportweg befindet (was vor allem bei Seetransporten durchaus der Fall sein kann), ist der Einkäufer gezwungen, für die Freigabe auf die Spediteurquittung als Wareneingangsbeleg zu vertrauen, die ihm ebenfalls elektronisch zugestellt wird (vgl. Wenski 2019, S. 114–122). Bevor eine Großanlage vom Lieferanten bzw. Hersteller ausgeliefert werden darf, sollte eine Funktionsprüfung vor Ort stattfinden, an der möglicherweise (nicht zwingend) der Bedarfsträger teilnimmt. Darüber wird ein schriftliches Protokoll erstellt und mit den Unterschriften der beteiligten Personen versehen (s. auch Abschn. 5.10). Die Tests umfassen in der Regel die mechanischen und Softwarefunktionen sowie Druck- und ähnliche Prüfungen. Eine Anlage wird dazu normalerweise nicht mit Chemikalien beaufschlagt oder auf Prozesstemperatur aufgeheizt.
4.4 Nachbereitung einer Beschaffungsverhandlung
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Bei solchen Trockenläufen lassen sich gravierende Soft- und Hardwarefehler erkennen und können vor der Auslieferung behoben werden. Erst dann erfolgt die Freigabe zur Auslieferung durch den Bedarfsträger. Diese ist nicht mit einer Abnahme bei einem Werkvertrag nach deutschen Recht zu verwechseln und sollte vom Kunden daher niemals als „Vorabnahme“ o. Ä. bezeichnet werden, um eine Schwächung seiner Rechtsposition bei Mängeln zu vermeiden.2 Mit der späteren Abnahme eines Werkes am Einsatzort bescheinigt der Bedarfsträger dem Lieferanten ebenfalls schriftlich, dass dieser geliefert hat und keine gravierenden Mängel (mehr) vorliegen. Geringfügige Mängel sind mit einem Enddatum für die Erledigung im Abnahmeprotokoll festzuhalten. Dieses Protokoll wird dem Einkäufer in Kopie zugestellt, der daraufhin die entsprechende Zahlung freigibt.
Es ist unüblich, dass Mitarbeiter des Einkaufs im Rahmen der Abwicklung von Werkverträgen Abnahmeprotokolle erstellen und unterzeichnen: Da es sich um technische Belange und nicht um Willenserklärungen zu kommerziellen Sachverhalten handelt, ist hierfür einzig der Bedarfsträger mit seinen Kollegen zuständig.
Falls es (was bei Vertragsabschluss niemand hofft) zu Leistungsstörungen kommt, nachdem die Abnahme erklärt wurde und die Verjährungsfrist für Mängelhaftung begonnen hat, ist der Einkäufer gefordert, umgehend zu handeln. Nachforderungen oder Nachträge durch Defizite und Mängel in Qualität oder Beschaffenheit sowie sonstige Abweichungen von der Spezifikation können zu erheblichen finanziellen Einbußen beim Kunden führen, vor allem wenn Produktionsstillstände zu befürchten sind. Im Nachforderungsmanagement (Claim Management) ist wiederum Verhandlungsgeschick gefordert, um als Prinzipal etwaige Probleme möglichst schnell und nachhaltig beheben zu lassen (s. Abschn. 4.2). Je nach Lage der Dinge sucht der Einkäufer zunächst informellen Kontakt zu seinem Geschäftspartner, dem Vertriebsingenieur oder Account Manager. Als weitere Maßnahme folgt eine schriftliche Mängelrüge und/oder Mahnung (Wenski 2019, S. 205–211; s. auch Helmold et al. 2019, S. 199–205).
2Ich
halte persönlich den für Funktionsprüfungen weit verbreiteten englischsprachigen Begriff Factory Acceptance Test (frei übersetzt „Abnahme beim Hersteller“; Abschn. 5.10) bereits für problematisch.
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Definition Bei einer Mängelrüge beanstandet der Kunde eine Ware oder Dienstleistung, weil vereinbarte Anforderungen nicht erfüllt werden. Eine Mahnung (bei Geldforderungen: Zahlungserinnerung) ist die bestimmte, eindeutige, einseitige und empfangsbedürftige Aufforderung des Gläubigers an den Schuldner, die geschuldete Leistung zu erbringen. Durch die damit verbundene Fristsetzung kommt der Schuldner in Verzug. Diese Auflistung der kundenspezifischen operativen Themen, die in der Folge einer Vergabeverhandlung zu erledigen sind, ist keineswegs abschließend; je nach Art des Beschaffungsprojekts warten zusätzliche Aufgaben auf die Beteiligten. Bei einem neuen Anlagentyp, den der Kunde noch nicht in Betrieb hat, sind eine Sicherheitsanalyse sowie eine Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse (Failure Mode and Effects Analysis, FMEA) durchzuführen. Bei der FMEA werden eventuelle Produktfehler aus der Nutzung der Anlage und weitere denkbare betriebliche Risiken nach ihrer Bedeutung für den Kunden, ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit und ihrer Entdeckungswahrscheinlichkeit mit jeweils einer Kennzahl bewertet und eventuelle Folgemaßnahmen definiert. Während die Teilnahme eines technischen Vertreters des Herstellers erforderlich sein kann, ist die Anwesenheit des Einkäufers ebenso wie bei der Abnahme in aller Regel verzichtbar – er sollte allerdings umgehend über das Ergebnis informiert werden.
4.5 Rechtssichere Bestellungen schreiben
Hinweis: Den Betrachtungen in diesem Abschnitt und in Abschn. 9.3 (mit Inhaltsvorschlägen für ein Verhandlungsprotokoll zur Anlagenbeschaffung) liegt deutsches Vertragsrecht zugrunde. Das gültige Recht und insbesondere seine Auslegung vor den Gerichten ist ständigen Veränderungen unterworfen. Deshalb sind die Erläuterungen und Hinweise lediglich als Empfehlungen für Vertragsinhalte zu verstehen. Einkäufern wird geraten, im Zweifelsfall Unterstützung durch Juristen aus der Rechtsabteilung oder einer externen Kanzlei zu suchen.
Einkaufsmitarbeiter fertigen im Rahmen ihrer Tätigkeiten Bestellungen für die Herstellung bzw. Lieferung von Waren und Dienstleistungen aus. Dies resultiert
4.5 Rechtssichere Bestellungen schreiben
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durch Annahmeerklärung des Lieferanten meist in einem Kaufvertrag, Werkvertrag oder Dienstleistungsvertrag. Abschluss eines Beschaffungsvertrags Ein Vertrag entsteht durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen bzw. durch Abgabe eines Angebotes (der „Antrag“) und dessen Annahme (durch ein einfaches „Ja“). In einem Vertrag müssen alle maßgeblichen Punkte bezeichnet sein, vor allem die Parteien, deren Verpflichtungen sowie die Art des Vertrags. Im Beschaffungswesen zwischen Kaufleuten (B2B) findet der Vertragsschluss in der Regel dadurch statt, dass entweder ein gemeinsam abgestimmtes Vertragsdokument von Vertretern beider Parteien rechtskräftig unterschrieben wird oder dass der Kunde eine Bestellung in einem elektronischen Bestellsystem ausfertigt und diese vom Lieferanten schriftlich, auf einer gemeinsamen Plattform oder mit E-Mail bestätigt wird. Die Einkaufsabteilung zumindest jedes mittleren und größeren Unternehmens greift auf ein elektronisches Datenverarbeitungssystem zu, und eine Bestellung kann vom Einkäufer erst verfasst werden, nachdem er die zugehörige Bestellanforderung vom Bedarfsträger erhalten hat – so ist z. B. über einen genehmigten Kreditantrag sichergestellt, dass die erforderlichen Freigaben erteilt und Finanzmittel verfügbar sind. In vielen Bestellungen wird auf die Gültigkeit einbezogener vorformulierter Allgemeiner Geschäftsbedingungen (AGB) vertraut (s. u.; Beispiele s. Wacker 2015; ZF 2015; KWS 2017; Hella 2018). Sind höhere Bestellsummen im Spiel, ist in der Praxis davon auszugehen, dass alle relevanten Aspekte detailliert geregelt werden, etwa durch Verwendung eines Verhandlungsprotokolls als Vertragshülse (Schött 2000; GA-tec 2013; Handtmann 2013). Sowohl beim Kunden (mittels Prüfung und Vertragsabstimmung durch die Fachabteilungen; Unterschriften gemäß Unterschriftenregelung) als auch beim Lieferanten (ebenfalls über eine sorgfältige fachliche und juristische Prüfung durch Experten) wird ein relativ hoher Aufwand betrieben, um genau die Punkte vertraglich abzubilden, die der Übereinkunft entsprechen. Ein beidseitig unterschriebener Vertragsentwurf bietet aller Erfahrung nach die höchste Rechtssicherheit.
Unklare Rechtslage
Liegen Bestellschreiben und Auftragsbestätigung vor, ist die präzise Beurteilung manchmal trotzdem schwierig, was letztlich exakt vereinbart worden ist. Unstreitig ist, dass das „Angebot“ des Lieferanten nicht das
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Angebot (der „Antrag“ gemäß §§ 145 ff BGB) im rechtlichen Sinne ist, falls der Kunde nicht durch ein „ja, ich nehme das Angebot wie unterbreitet an“ bestellt. Üblicherweise lehnt er im B2B-Bereich zumindest die AGB des Lieferanten ab und macht die seines Hauses geltend. Damit repräsentiert die Bestellung wiederum ein neues Angebot – in aller Regel ohne Spezifizierung einer Annahmefrist –, das der Vertragspartner in einer angemessenen Frist annehmen muss; tut er es nicht, ist die juristische Lage unklar. Die Bestellung sollte so formuliert sein, dass sie durch ein „Ja“ des Lieferanten (z. B. durch Rücksendung einer unterschriebenen und gestempelten Kopie des Bestellschreibens) eine günstige Rechtsposition des Kunden wahrt. Allerdings werden nicht alle Lieferanten ihren Kunden den Gefallen tun, in dieser Weise mit „ja“ zu antworten, sondern eine formale Auftragsbestätigung aus ihrem elektronischen Auftragsbearbeitungssystem zurückschicken. Auch dies stellt streng genommen wieder ein neues Angebot dar, das im Einkauf genau zu prüfen und bei Abweichungen vom Bestelltext gegebenenfalls zu reklamieren ist. Leider findet Letzteres bei Kleinbestellungen meist nicht routinemäßig statt.
Doch wie ist die Situation, wenn keine Auftragsbestätigung vom Vertragspartner zurückgeschickt wird? Vertragsanwälte gehen davon aus, dass dies eher von Nachteil für den säumigen Auftragnehmer sein kann. Solange der Lieferant die Bestellung des Kunden (die keinem einfachen „Ja“ entspricht) nicht bestätigt hat, obwohl dies zu erwarten war, liegt kein wirksamer Vertragsschluss vor, sondern möglicherweise ein schwebendes Rechtsgeschäft. In diesem Fall kann der Kunde seinen Antrag gegebenenfalls ohne Rechtsfolgen zurückziehen. Ein Werkvertrag kommt bei fehlender Einigung in Einzelfragen regelmäßig in den übereinstimmenden Punkten zustande, sofern Antrag und Annahme vorliegen oder bei fehlender Auftragsbestätigung mit der Ausführung gemäß Bestellung begonnen wird. An Stelle von nicht vereinbarten oder sich widersprechenden Vertragsinhalten treten die gesetzlichen Regelungen. Die Wortwahl „mit der Ausführung begonnen“ ist auslegungsbedürftig. In der Praxis versteht man darunter nicht den Beginn der Fertigung beim Hersteller, sondern die Übergabe des Werkes (hier: des Equipments) an den Besteller bzw. den von ihm beauftragten Frachtführer.
4.5 Rechtssichere Bestellungen schreiben
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Vorgabetexte im elektronisch erzeugten Bestelldokument Doch selbst beim Formulieren und Versenden von „Kleinbestellungen“, die in der Materialwirtschaft teilautomatisiert und mit möglichst wenig Aufwand gehandhabt werden, lauern Tücken. In der Einkaufsabteilung eines größeren Unternehmens, das – teils automatisiert – täglich eine Vielzahl an Bestellungen insbesondere über niedrige Auftragssummen versendet, sollten die Prozesse so eingesteuert und optimiert sein, dass auch ohne aktives Zutun der damit betrauten Personen und ihrer Vorgesetzten ein hohes Maß an Rechtssicherheit gegeben ist. Vielfach kommt dabei ein hochentwickeltes Computerprogramm zum Einsatz, etwa SAP ERP, das Hauptprodukt des deutschen Software-Unternehmens SAP SE, oder das entsprechende Produkt eines anderen Anbieters. Es hat sich als ratsam erwiesen, über diese Programme je nach Art der Bestellung eine Reihe von Vorgabetexten zu programmieren, die automatisch in Bestellungen bestimmter Kategorien gezogen werden.
Trotz des Komforts und der scheinbaren Sicherheit durch menügesteuerte oder automatisierte Anfertigung von Bestellschreiben muss sich jeder Einkaufsmitarbeiter – vom lokalen Sachbearbeiter bis zum Einkaufsleiter – stets im Klaren sein, dass das elektronische Bearbeitungssystem lediglich ein Werkzeug ist, das eine rechtlich verbindliche Willenserklärung des Bestellers abbildet.
Zunächst werden alle für die Ausführung der Bestellung notwendigen Angaben elektronisch abgefragt, wie Auftraggeber, Auftragnehmer, L iefer-/Leistungsort, Vertragsgegenstand (im Positionstext), Leistungsbeschreibung (z. B. Spezifikationsnummer oder Rahmenvertrag), Preis, Liefer- und Zahlungsbedingungen, Gerichtsstand usw. Außerdem sollte zwingend eine rechtssichere Formulierung aufgeführt sein, mit der die AGB des Lieferanten abgelehnt und die eigenen Einkaufsbedingungen eingebracht werden. Dies führt dazu, dass nur solche Klauseln wirksam werden, die in beiden AGB-Sammlungen enthalten sind oder sich nicht gegenseitig aufheben. Für divergente sowie nicht geregelte Fälle würde wiederum das Gesetz gelten, und mit Normen wie „24 Monate Verjährungsfrist für Mängelhaftung bei Neuteilen“ oder „unbegrenzte Haftung“ wäre dies in einigen relevanten Punkten von Vorteil für den Kunden. Dennoch gilt:
Wegen des Risikos, dass über AGB geregelte Inhalte durch widersprechende Klauseln der Gegenseite entfallen, sollten wichtige Aspekte immer als Individualvereinbarungen im Vertrag bzw. der Bestellung aufgeführt sein.
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Abb. 4.3 Bauleistungen erfordern vertragliche Sonderregelungen
Erbringen Lieferanten Bauleistungen (Abb. 4.3) im Sinne des § 48 EStG, sind sie an ihre Verpflichtung zu erinnern, dem Kunden rechtzeitig vor Fälligkeit der ersten Zahlung eine gültige Freistellungsbescheinigung (§ 48 b EStG) vorzulegen. Sofern Beschäftigte mehrerer Unternehmer oder Gewerke auf der Baustelle tätig werden, ist ein Sicherheits- und Gesundheitsschutzkoordinator (SiGeKo) vom Bauherrn zu bestellen, was ebenfalls vertraglich geregelt werden muss. Der SiGeKo übernimmt nach § 3 BaustellV Aufgaben während der Planung und Ausführung von Bauvorhaben (Wikipedia 2020c). Bei Dienst- und Serviceleistungen aller Art im Produktionsumfeld ist eine verbindliche Klausel in die Bestellung einzufügen, mit welcher der Lieferant und seine Erfüllungsgehilfen verpflichtet werden, die werksinternen Richtlinien und Anweisungen für die Arbeiten von Fremdunternehmen im Werk des Kunden einschließlich seiner Umwelt- und Abfallrichtlinien einzuhalten und deren Einhaltung zur Kenntnis zu nehmen und sicherzustellen. In diesem Zusammenhang erfordert die gemäß AÜG erlaubnispflichtige Überlassung von Arbeitnehmern im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit spezielle Vertragsformulierungen. Vom Einkauf individuell einzubringende Formulierungen Ein realistischer Blick auf Abläufe und Rahmenbedingungen im Einkauf zeigt: Es ist nicht sinnvoll und in der Regel kaum unmöglich, alle Eventualitäten über zwingende Vorgabetexte in den Bestellungen abzudecken – darüber hinaus
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bestünde die Gefahr, dass derart vorformulierte Vertragsentwürfe in einer gerichtlichen Auseinandersetzung als AGB gewertet würden und damit im Einzelfall durch die Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB ihre Wirksamkeit verlieren könnten. Daher hat der Einkauf die Aufgabe, wichtige individuelle Vorgabeklauseln sowie die Vereinbarungen mit dem Lieferanten manuell in die Bestellung bzw. den Vertrag einzufügen, sei es über den Bestelltext oder Zusatzdokumente. Dazu eignet sich die Vorgabe juristisch geprüfter Formulierungen, die sich je nach Bedarf aus einer Vertragsdatenbank in die individuelle Bestellung (oder einen Vertragsentwurf) ziehen bzw. kopieren lassen. Kein Einkäufer wird das Thema Haftungsbegrenzung von sich aus in einer Verhandlung mit Lieferanten aufbringen, um die Rechtsposition seines Unternehmens nicht unnötig zu schwächen. Sollte der Lieferant auf eine diesbezügliche Regelung bestehen (und dies erscheint nachvollziehbar), ist eine gerichtsfeste Klausel zu verwenden, die vor allem Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit ausschließt. Ein weiterer im Sinne des Kunden zu regelnder Punkt betrifft die Vertragskündigung. Im Wirtschaftsleben mag es aus verschiedenen Gründen notwendig sein, einen Vertrag zu kündigen, was nur in gegenseitigem Einvernehmen möglich ist. Kündigt der Besteller, steht dem Lieferanten insbesondere bei einem Werkvertrag meist die volle Vergütung zu, wobei er sich seine Ersparungen anrechnen lassen muss (§ 648 BGB). Der Kunde kann zur Stärkung seiner Stellung in den Vertrag einbringen, dass er lediglich die bis zu diesem Zeitpunkt nachweislich erbrachten Leistungen zu vergüten hat; die Vergütung sonstiger Auslaufkosten sowie entgangenen Gewinns ist auszuschließen. Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Lieferanten oder seiner Gesellschafter sollte zur außerordentlichen Kündigung des Vertrags durch den Kunden ermächtigen.
Cyber-Klausel
Teile der Lieferkette gelten als Schwachstelle der Datensysteme in Unternehmen. Mit einer Klausel zur Cyber-Sicherheit schützen sich Kunden, die mit Lieferanten online elektronische Daten austauschen, – bedingt – gegen das Risiko digitaler Angriffe auf die Unternehmensnetze. Die C yberKlausel formuliert Anforderungen an die IT-Sicherheit und die interne IT-Organisation beim Vertragspartner, etwa den Schutz von Daten, die regelmäßige Schulung der Mitarbeiter sowie die technische Ausstattung (Lenz 2019; s. auch Parenty 2020). Sie sollte in enger Kooperation mit der eigenen IT- und Rechtsabteilung formuliert werden.
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Die Anzahl weiterer möglicherweise regelungsbedürftiger Fragen in einer Bestellung ist Legion und hängt von den Absprachen und Usancen des individuellen Geschäfts ab. Eine Auswahl an Sachverhalten für Klauseln, die in juristisch korrekt abgefasster Form in Vertrag bzw. Verhandlungsprotokoll von technischen Großanlagen ihre Berechtigung haben, enthält Abschn. 9.3. In der Praxis ist es gewöhnlich so, dass umso mehr Punkte zu vereinbaren sind und diese in größerer Tiefe, je höher der Beschaffungswert ist. Investitionsgüterbestellungen oder Bauleistungsverträge für Millionenbeträge sind Beschaffungen, die umfangreiche Verträge erfordern. Gerade bei Vorliegen begleitender Schriftstücke wie Verhandlungsprotokolle oder Spezifikationen ist eine Rangfolge der Dokumente im Vertrag festzulegen.
Tipps für rechtssichere Bestellungen
• Die Ausfertigung und Versendung einer Bestellung (mit Unterschrift oder als Systemausdruck) an einen Lieferanten ist gemäß BGB eine rechtlich verbindliche Willenserklärung. Angestellte im Einkauf müssen unbedingt darauf achten, dass sie dabei im Rahmen ihrer durch Aufgabenübertragung und Unterschriftsregelung vom Arbeitgeber zugewiesenen Kompetenzen agieren. • Neben den Abfragen zu notwendigen Minimalinhalten einer Kleinbestellung sollten bei der elektronischen Auftragserstellung bestimmte Inhalte zur Verbesserung der eigenen Vertragsposition durch zwingende Vorgabetexte im Buchungssystem automatisch in das Bestellschreiben gezogen werden. • Darüber hinaus ist es ratsam, dem bestellenden Einkaufspersonal eine Auswahl weiterer geprüfter und stets aktueller Klauseln zur Verfügung zu stellen, die wiederkehrende regelungsbedürftige Aspekte juristisch korrekt abbilden. Diese können Haftung, Versicherungen, Kündigung, Vertragsstrafen, Datensicherheit und IP-Schutz, AÜG, Regiearbeiten, Abtretung von Ansprüchen, Compliance u. v. m. betreffen und werden manuell in die Bestellung eingefügt. • Ein Beschaffungsvertrag lässt sich rechtlich weniger angreifbar gestalten, indem die relevanten Einzelpunkte der Vereinbarung präzise definiert und dokumentiert werden (obwohl in vielen Verträgen dennoch Lücken zu finden sind). Dem Worst Case einer gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen Kunde und Lieferant wird damit aktiv entgegengewirkt – denn dies schafft nur Verlierer.
4.6 Verhandlungscontrolling und -management
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• Eine Abmachung ist dann gut und nachhaltig, wenn beide Seiten sie als fair empfinden und auch in Zukunft wieder Geschäfte miteinander machen wollen. In diesem Geiste sollte der Vertrag formuliert sein (vgl. Frydlinger et al. 2020).
4.6 Verhandlungscontrolling und -management Im Anschluss an erfolgreich verlaufene sachbezogene Verhandlungen nach dem Harvard-Konzept gibt es bei einem gelungenen Abschluss zwei Gewinnerparteien. Da die Verhandlung in aller Regel beim Kunden stattfindet, haben die Verkäufer, Vertriebsingenieure und/oder Account Manager auf Lieferantenseite während der Rückreise ausreichend Zeit, das Ergebnis zu reflektieren und zu zelebrieren. Auf Kundenseite sollte ebenfalls nicht vergessen werden, das besondere Resultat einer wichtigen Teamverhandlung zu feiern und – in begrenztem Umfang – Eigenwerbung zu betreiben. Im einfachsten Fall kann dies durch die von leichtem Stolz getragene Zusendung der Darstellung und Einordnung des Ergebnisses an die involvierten Führungsebenen im Unternehmen geschehen. Noch schöner im Sinne der Mitarbeitermotivation (s. Abschn. 2.4 und 6.5) wäre es, wenn Einkaufsleiter, Geschäftsführung oder Vorstand das erweiterte Verhandlungsteam nach herausragenden Leistungen zu einem Imbiss oder Essen einladen würden. Eine Aufgabe des Einkäufers ist die Berechnung der Savings in einem Beschaffungsprojekt (s. Abschn. 1.4). Hier wirkt sich erneut die in Abschn. 4.2 erwähnte Informationsasymmetrie aus: Der Verkäufer weiß aufgrund des Verhandlungsergebnisses relativ genau, wie hoch die vom Kunden ausweisbaren Savings sind. Der Einkäufer hat jedoch – wenn nicht mit dem Lieferanten Kostentransparenz (Open Book) vereinbart ist – keine Ahnung, wie groß der aufgeschlagene Markup ist und wie viel der Lieferant am Geschäft verdient. Verhandlungscontrolling Im Anschluss an eine erfolgreich beendete Beschaffungsverhandlung, nachdem die Savings berichtet und die Folgeschritte im Rahmen der Vertragsausfertigung adressiert worden sind, passiert in vielen Kundenunternehmen … nichts. Dass hierdurch Potenziale ungenutzt bleiben, ist offensichtlich. Anstelle des Nichts kann an dieser Stelle mit relativ wenig Aufwand sehr viel bewirkt werden.
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Die umfangreichen Aufgaben, Aspekte und Überlegungen, die sich aus den in Abb. 4.1 in Abschn. 4.1 aufgeführten einkäuferspezifischen Arbeitspaketen nach einer Verhandlung ergeben, rechtfertigen eine separate Betrachtung. Controlling und Verhandlungsmanagement repräsentieren Punkte, die auf zukünftige Beschaffungsvorgänge gerichtet sind (für eine ausführliche Darstellung s. Voeth und Herbst 2009, S. 189–211; vgl. Jakob et al. 2016; Jaspert 2016; Bühring-Uhle et al. 2017; Einkaufsmanager 2019). Die Treiberfunktion muss bei der Einkaufsleitung liegen, um einen flächendeckenden Einsatz der Maßnahmen in der Einkaufsabteilung sicherzustellen, denn auch effiziente und gut konzipierte Systeme schlafen ein, wenn sie nicht regelmäßig gepflegt und von der Leitung überwacht werden (s. Abschn. 6.2). Die Ergebnisse zumindest der strategisch bedeutenden Verhandlungen sollten im Sinne eines Verhandlungscontrollings ausgewertet und erfasst werden, um damit die Vorbereitung der Folgeverhandlungen zu erleichtern. Das Adjektiv „bedeutend“ kann in jeder Organisation anders definiert sein; je nach Größe und Umsatz sind 100.000 Euro ein brauchbarer Grenzwert. Das Verhandlungscontrolling ist auf der Vertriebsseite meist deutlich besser ausgeprägt als beim Einkauf – unter anderem, weil das im Vergleich zum Verkaufsumsatz deutlich höhere Beschaffungsvolumen pro Einkaufsmitarbeiter (Abschn. 4.3) eine derart tief greifende Analyse scheinbar nicht erlaubt (ein gefährlicher Denkfehler!). Beim Kunden herrscht oft eine schlechte Kommunikation über die Verhandlungsergebnisse („Wenn wir in unserer Firma wüssten, was wir wissen …“). Diese fehlende Transparenz birgt das große Risiko von falschen Entscheidungen und nachteiliger Schwerpunktsetzung in sich. Die Erfassung der Controlling-Ergebnisse sollte in Papierform oder bevorzugt elektronisch mithilfe von Tabellenkalkulationsprogrammen, Datenbanken oder Buchungssystemen erfolgen – von entscheidender Bedeutung ist, dass sich Details und Trends zu einzelnen Produkten, Warengruppen oder Lieferanten auf einfache Weise ablesen und auswerten lassen. Jeder Einkäufer kann dadurch schnell Rückschlüsse auf das Angebotsverhalten bestimmter Lieferanten und den zu erwartenden Spielraum in der nächsten Verhandlung ziehen. Dem Abteilungsleiter Beschaffung geben solche Datensammlungen wertvolle Hintergrundinformationen für die strategische Ausrichtung seiner Organisationseinheit und für die Unterrichtung von Unternehmensleitung und Anteilseignern an die Hand. Die Einbindung der Controlling-Abteilung ist hilfreich, wenn es um die Festlegung der Zielkorridore insbesondere für den Preis geht. Die dort beschäftigten Kollegen können beispielsweise bei Abschreibungsmodellen, maximalen Stück- oder Umarbeitungskosten und anderen finanztechnischen Aspekten kompetenten Input beisteuern.
4.6 Verhandlungscontrolling und -management
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Vertrauliche Informationen
Im Zuge eines komplexen und kostenintensiven Beschaffungsvorgangs fällt eine Reihe von Informationen und Dokumenten an, die als „vertraulich“ oder sogar „streng vertraulich“ einzustufen sind (vgl. Abschn. 4.3 zum externen Know-how-Schutz). Dazu zählen konsolidierte Erkenntnisse über den Angebotsmarkt, die Lieferanten und ihre Repräsentanten, strategische Vorgaben, der ausgefüllte Vorbereitungsbogen und Details zum bewilligten Budget, aber auch die angesprochenen Auswertungen bedeutender Verhandlungen nebst Implikationen für das Verhandlungsmanagement. Die Verwaltung und Bereitstellung derartiger Inhalte innerhalb des Einkaufs erfordert einen Spagat, wofür die Abteilungsleitung Vorgaben machen und überwachen muss. Die Daten sollten einerseits soweit über gemeinsame Laufwerke oder Server abrufbar sein, dass den zuständigen Mitarbeitern und Vorgesetzten auf einfache Weise alle relevanten und zweckdienlichen Informationen zur praktischen Nutzung schnell zur Verfügung stehen. Eine Verbreitung darüber hinaus ist gemäß dem Need to K now-Prinzip (jeder erfährt im Wesentlichen nur das, was er für seine Tätigkeit wissen muss) nicht ratsam und vielfach verzichtbar. Konsequenter Datenschutz ist vor allem dann geboten, wenn die Gefahr besteht, dass die vertraulichen Informationen an unberechtigte Dritte gelangen können, etwa durch den Unternehmenswechsel eines Mitarbeiters oder im Rahmen von Kooperationen (z. B. bei Joint Ventures oder Projekten mit externen Partnern). Zusätzlich sind natürlich auch im Einkauf die grundlegenden Regeln zur Datensicherheit zu beachten. Dazu zählt eine stringente Kontrolle oder gar das Verbot der Nutzung von USB-Sticks, die externe Versendung von Dateien ausschließlich in einem plattformunabhängigen Dateiformat (z. B. als PDF-Datei) sowie klare Vorgaben und die regelmäßige Schulung der Belegschaft hinsichtlich IT-Sicherheit und Internet-Nutzung (s. BSI 2020). Dessen ungeachtet muss der zuständige Einkäufer dafür Sorge tragen, dass die betreffende Einkaufsakte – elektronisch und mindestens bei unterschriebenen Originaldokumenten zusätzlich in Papierform – stets vollständig und sauber geführt ist. Dies ist sowohl für die Bearbeitung der Folgeschritte als auch für nachfolgende Projekte von Bedeutung. Und es wäre für ihn peinlich, wenn z. B. im Zuge eines Streitfalls relevante Schriftstücke nicht mehr auffindbar sind.
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
Verhandlungsmanagement Beim Thema Verhandeln sollten Organisationen den Mut besitzen, neue Wege zu beschreiten und neue Ansätze auszuprobieren. Verhandler müssen ermuntert werden, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und Abstand von den Ritualen ihrer Vorgänger zu nehmen. Warum macht man in Verhandlungen alles so wie schon immer? Für diese Veränderungen sind frische Ideen und junge Leute erforderlich. Vom Verhandlungscontrolling ist es nur noch ein relativ kleiner Schritt zu einem aktiven Verhandlungsmanagement. Ein erster Ansatz findet sich bereits in Abschn. 2.3 mit der Aufforderung an die Einkaufsleitung, zu jeder bedeutenden Verhandlung den passenden Verhandlungsführer zu benennen, und findet in der Zusammenstellung des Verhandlungsteams seine Fortsetzung. Daneben ist eine Priorisierung der in der Abteilung oder Organisation anstehenden Verhandlungen notwendig. Es gilt als altbekannte Tatsache, dass in manchen Unternehmen langfristig geredet und kurzfristig gehandelt wird. Um dem entgegenzuwirken, sollte eine klare Strukturierung der Abläufe im Einkauf in Verbindung mit gezielter Schwerpunktsetzung vorgegeben werden, die alle weiteren Aktivitäten initiiert. Über Verhandlungsportfolios lassen sich diejenigen Verhandlungen identifizieren, bei denen ein Verhandlungsmanagement Sinn macht (Voeth und Herbst, S. 39). Dabei hilft ein erneuter Blick auf Abb. 1.3, in der auf der Abszisse das Schwierigkeitsniveau des Verhandlungsprozesses und auf der Ordinate die Bedeutung des Ergebnisses aufgeführt ist. Eine Verhandlung von Büroartikeln wird meist unten links angesiedelt sein – Standardpreise und ausreichender Wettbewerb lassen Schwierigkeit und Folgen niedrig erscheinen. Wird als weitere Bezugsquelle für einen großtechnisch eingesetzten Ausgangsstoff (Commodity oder sogar Hebelmaterial) zum bestehenden Lieferanten ein preisgünstigerer Wettbewerber identifiziert, sind die Schwierigkeiten in vielen Fällen wohl überschaubar, allerdings liegt eine hohe Signifikanz vor. Handelt es sich um Hebelmaterialien aus einem knappen Anbietermarkt oder die Vergabeverhandlung für eine neuartige industrielle Großanlage, ein ganzes Gebäude oder einen umfassenden Wartungs- oder Liefervertrag für eine einzelne oder mehrere Produktionsstätten, landet man bei den strategischen Materialien (bzw. Dienstleistungen) im rechten oberen Feld von Abb. 1.3, und die Verhandlung ist sehr sorgfältig unter Einbeziehung von Vorgaben des oberen Managements zu planen und durchzuführen. Verhandlungsportfolios geben einen Überblick darüber, ob eine bestimmte Verhandlung unbedingt aktuell infrage kommt, zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll ist oder nur in Grundzügen notwendig oder gar verzichtbar erscheint. Darüber hinaus ist im Einzelfall über Teamgröße und Aufgabenverteilung im Team zu entscheiden.
Literatur
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Verhandlungsmanagement ist eine Führungsaufgabe und hat das Ziel, eine effiziente Nutzung der zur Verfügung stehenden Verhandlungsressourcen zu bewirken. Anhand von solchen Aufstellungen gelingt im Falle von Roh- und Hilfstoffen sowie Dienstleistungen und Ersatzteilen möglicherweise eine geschickte Bündelung gleicher oder gleichartiger Ausgangsmaterialien zu lukrativen Beschaffungspaketen. Voraussetzung ist die Vernetzung und Kooperation aller Standorte und Sparten eines Unternehmens, was über ein Einkaufskomitee oder ähnliche Gremien gelingen kann. Mit diesen Angaben kombiniert wird der Termin, wann die nächste Verhandlung in einem speziellen Segment ansteht. In Einkaufsabteilungen wird ein solches Planungswerkzeug auf Basis eines kalendarischen Systems oft als Verhandlungscockpit oder Verhandlungsradar bezeichnet. So sollte beispielsweise der Einkaufsleiter eine Ressourcenplanung durchführen und Verhandlungen höher priorisieren oder in ihrer Wichtigkeit herabstufen. Er stellt dadurch sicher, dass Effektivität und Effizienz gepaart und Energien nicht fehlgeleitet werden. Diese schematische Vorgehensweise lässt sich mit einigen Anpassungen ebenfalls auf indirekte, diskontinuierliche Beschaffungen etwa im Investitions- oder Projekteinkauf übertragen. In vielen Organisationen sind Equipment- und Projekteinkauf in separaten Beschaffungsgruppen gebündelt. So ist sichergestellt, dass für eine durchschnittliche Auslastung des Personals ausreichend Beschaffungsaufträge aus verschiedenen Bereichen vorhanden sind und die Expertise der Einkäufer in ihrem Gebiet bestmöglich genutzt wird. In einer weiteren denkbaren Aufgabenverteilung kommen alle strategischen Einkaufsleistungen (Anlagen, prozessspezifische Hilfstoffe und Dienstleistungen) für in sich abgeschlossene Produktionsbereiche aus einer Hand.
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
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4 Ablauf einer Einkaufsverhandlung
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Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Die Top Ten der Einkäuferregeln befassen sich mit dem äußeren Rahmen und mit inhaltlichen Fragen, mit Ideen und Informationen, Produkten, Preisen und Partnern. Die Auswahl reicht von Admirälen und Ankern über Kaffee, Kekse und Kreislauf bis hin zu Zahlungen, Zertifikaten und Zweifeln. Doch bei all dem darf nie der Respekt vor den Lieferanten verloren gehen.
Der Top-Verhandlungstipp, der in den meisten seriösen Sammlungen in der einen oder anderen Formulierung auftaucht, lautet „Bereiten Sie sich umfassend vor“ und wurde in Abschn. 3.1 und 4.3 bereits umfassend gewürdigt. Er ist für alle Arten von Verhandlungen und für beide beteiligten Parteien gleichermaßen sinnvoll. Die in Kap. 3 eingeführte Toolbox für Verhandler enthält darüber hinaus eine Auswahl weiterer brauchbarer Werkzeuge für taktische Maßnahmen, die sowohl Einkäufer als auch Vertriebsmitarbeiter anwenden können. In manchen Fällen muss dazu die Blickrichtung um 180 Grad geändert werden, etwa bei der Top-down- und Bottom-up-Argumentation beim Preis (Abschn. 3.6) oder den Möglichkeiten zur Stärkung der Verhandlungsmacht (Kunde: Multi-Sourcing anstreben; Lieferant: Einzigartigkeit seiner Verkaufsprodukte hervorheben; Abschn. 3.3). Daneben existiert eine Fülle von Empfehlungen und Hinweisen, die gezielt auf eine der beiden Seiten zugeschnitten sind. Über Erfolg versprechende Tipps, Kniffe und Regeln für Verkäufer habe ich an anderer Stelle berichtet (Wenski 2019, S. 217–221; Wenski 2020, S. 225–228). Unter der Vielzahl an Verhandlungstipps und -regeln für Einkäufer (s. z. B. Holtmann (o. J. a, o. J. b); Eichstädt und Reinecke 2008; Neitzel 2017) befinden sich neben durchaus wichtigen Hinweisen auch zahlreiche Allgemeinplätze und © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_5
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Selbstverständlichkeiten (No-Brainer). In diesem Kapitel erläutere ich meine persönlichen zehn Favoriten aus langjähriger Einkäufer- und Trainererfahrung. Die Reihenfolge der Nennung gehorcht mehr oder weniger dem chronologischen Ablauf einer Vergabeverhandlung.
5.1 Heimspiel Beginnen wir mit einem scheinbar trivialen Hinweis: Einkäuferregel 1
Verhandeln Sie im eigenen Territorium.
Es ist übliche Praxis, dass der Anbieter zum Interessenten reist, um sein Leistungsangebot zu erläutern bzw. anzupreisen und letztlich die Vertragsbedingungen für eine Beschaffung zu verhandeln. Aus diesem Grund haben Vertriebsingenieure im Schnitt eine deutlich höhere Anzahl an Reisetagen pro Jahr zu bewältigen als die Einkäufer oder Techniker auf Kundenseite. Daher finden nahezu alle Einkaufsverhandlungen (wenn man kleinere Geschäfte am Telefon oder mit E-Mail gedanklich außen vor lässt) beim (späteren) Kunden statt, was diesem einem großen territorialen Vorteil beschert, denn er bestimmt mit dem Einkäufer als Verhandlungsführer den Ablauf und die Rahmenbedingungen. In den eigenen Räumen hat ein Verhandler die „Lufthoheit“ und kann Störungen und sonstige unerwünschte Manöver verhindern. Einkaufsverhandlungen sind am Standort des Kunden oder bestenfalls an einem neutralen Ort (z. B. einem vom Kunden organisierten Konferenzraum im Hotel oder am Flughafen), jedoch nie im räumlichen Einflussbereich des Lieferanten durchzuführen. Nur dann sind unliebsame Überraschungen wie gezielter Stressaufbau, nachteilige Sitzordnung, Verzögerungstaktik oder das Erscheinen unangekündigter Teilnehmer der Gegenseite sicher auszuschließen. Herbert Langwasser
Die Hauptperson in unserem Beschaffungsszenario kennt sich inzwischen mit Räumlichkeiten für Verhandlungen hinreichend gut aus (s. Abschn. 3.5). Am Standort Dresden besteht die Möglichkeit, bei frühzeitiger Reservierung ein dem Treffen angemessenes Besprechungszimmer mit entsprechender
5.1 Heimspiel
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Bestuhlung auszuwählen: vom eigenen Büro für ein Vieraugengespräch über relativ spartanisch eingerichtete Räume im Stockwerk der Einkaufsabteilung bis hin zur gehobenen Ausstattung mit viel Holz und Leder für wichtige Termine im vierten Stock. Genau wie in der Münchner Niederlassung, seinem ersten Einsatzort. Die Auswahl der Bewirtung, über die er als Verhandlungsführer in den deutschen Niederlassungen entscheiden kann, lässt sich ebenfalls der Zielsetzung anpassen – und fällt bei länger dauernden Vergabeverhandlungen eher üppig aus, damit sich die Lieferantenvertreter willkommen fühlen und ihre Kooperationsbereitschaft gefördert wird. Daher ist es für Herbert Langwasser überhaupt nicht erwägenswert, die Verhandlung mit Joint Technologies in Singapur durchzuführen: Ebendies hat der deutsche Key Account Manager Gottfried Krause ihm am Telefon vorgeschlagen und angeregt, man könne sich in der Singapurer JT-Fab mit den entsprechenden technischen Experten treffen und die Vergabeverhandlung für die Annealing-Anlagen gleich dort durchführen. (Diese Lokalität kennt er bereits von einem Audit im Jahr zuvor; s. Abschn. 7.2.) Alternativ könne das Treffen nach Krauses Vorschlag am lokalen WAFAG-Standort abgehalten werden, in direkter Nachbarschaft des neuen Singapurer Projektgeländes. Mal abgesehen von den zusätzlichen Reisekosten, die sein Budget (und vermutlich auch das der Technikvertreter) über Gebühr belastet hätte (Abschn. 6.5): Aus taktischen Gründen verhandelt Langwasser am liebsten im gewohnten Umfeld in Dresden, um die vollständige Kontrolle über die Abläufe nicht aus der Hand zu geben. Als strategischer Einkäufer ist er zwar fachlich für den Standort in Singapur mit zuständig, jedoch obliegt die disziplinarische Leitung dem lokalen Management. Und dort herrscht die Einstellung, dass Lieferanten prinzipiell nicht viel zu melden haben und eine Bewirtung im Besprechungszimmer oder gar ein gemeinsames Essen auswärts kaum infrage kommen. Er konnte selbst wiederholt miterleben, wie in Lieferantengesprächen bestenfalls eine Plastikflasche mit 500 ml stillem Wasser pro Besucher serviert wurde und das Treffen nach einer halben Stunde beendet war (asiatische Gastfreundschaft und Beziehungspflege hin oder her). Dies wäre für eine Win-Win-Lösung in der anstehenden Verhandlung nicht gerade förderlich. ◄ Regel 1 ist auf den gewerblichen Einkäufer zugeschnitten. Anders gelagert ist die Situation bei Verbrauchergeschäften: Hier ist es ein Nachteil im Hinblick auf die Möglichkeit einer späteren Vertragskündigung, den Vertreter eines Anbieters zu sich nach Hause zu bitten.
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
5.2 Von Beginn an hellwach Die überragende Bedeutung der Verhandlungsvorbereitung wurde bereits mehrfach betont. Eine inadäquate Vorbereitung stellt den häufigsten Grund dar, warum Verhandlungen scheitern (Abschn. 3.1). Allerdings kann eine noch so gut vorbereitete Verhandlung einen katastrophalen Verlauf nehmen, wenn nachfolgende Regel missachtet wird:
Einkäuferregel 2
Schenken Sie dem Beginn der Verhandlung höchste Aufmerksamkeit und Sorgfalt.
Denn oft prägen die ersten zehn Minuten einer Verhandlung (oder schon der erste Eindruck einander unbekannter Teilnehmer voneinander) deren weiteren Verlauf. Daher sollte man diese Phase ebenfalls sorgfältig vorbereiten. Ein vielversprechender Auftakt wird am ehesten dadurch unterstützt, dass sich die Besucher wohlfühlen. Der Tisch ist gedeckt – und dies ist wörtlich gemeint: Darauf gehören als Mindestausstattung Kaffee, eventuell Tee, Mineralwasser und etwas süßes Gebäck oder Obst. Nach der gegenseitigen Bekanntmachung aller Teilnehmer unter Austausch von Visitenkarten wird den Besuchern erst einmal ein Getränk angeboten.
Falsche Sparsamkeit
Es gibt immer wieder Controller und sonstige ambitionierte Kollegen, die in Zeiten knapper Kassen jede Ausgabe auf den Prüfstand stellen. Dies ist gut so und im Sinne des Einkaufs. Andererseits wirkt es sich kontraproduktiv aus, in diesem Zusammenhang auf Bewirtungskosten in überschaubarem Rahmen, etwa für Kaffee und Kekse bei der Verhandlung (oder je nach Tageszeit und Situation belegte Brötchen, Mittag- oder Abendessen), zu verzichten. Kaffee belebt den Kreislauf. Kohlenhydrate sind der Hauptenergielieferant für den Organismus und im Gegensatz zu den Fetten relativ schnell verwertbar, da sie auch anaerob Energie liefern. Beides steht dem Auffinden kreativer Verhandlungslösungen zumindest nicht im Weg und führt im Allgemeinen eher dazu, dass der Gast sich wertgeschätzt fühlt. Und gemeinsam essen verbindet Menschen und Kulturen seit jeher.
5.3 Respektvolles Verhalten
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Selbst der Smalltalk zu Beginn der Verhandlung lässt sich im Vorfeld planen und im eigenen Verhandlungsteam vorbereiten. Dieser Part der gegenseitigen Annäherung darf keinesfalls unterschätzt werden. Asiatische Besucher überreichen in dieser Phase meist kunstvoll verpackte kleine Gastgeschenke, z. B. Süßigkeiten, und was liegt näher, als sich zunächst über ihre Anreise zu unterhalten. Das Gespräch wendet sich danach den allgemeinen geschäftlichen Dingen wie Auftragslage und ähnlichen Sachthemen zu, wobei der Einkäufer bereits wertvolle Informationen sammelt. Dies kann je nach Art der Verhandlung eine halbe Stunde und länger dauern, und so mancher forsche Technikkollege hat die Geduld des Verhandlungsführers in dieser Phase wohl innerlich schon einmal verflucht.
5.3 Respektvolles Verhalten Insbesondere in asiatischen Kulturen wird im Rahmen von Beschaffungsverhandlungen stets deutlich, dass Lieferanten auf einer niedrigeren hierarchischen Stufe stehen. Dies wird teilweise mit den konfuzianischen Über- und Unterordnungsverhältnissen erklärt. Eine Folge davon ist, dass in Japan, Taiwan oder Südkorea bei einer Win-Win-Verhandlungslösung die Vorteile asymmetrisch zugunsten des Kunden aufgeteilt werden. Im Deutschen fehlt zwar die entsprechende fernöstliche kulturelle Grundlage, aber es existiert zu dieser Thematik eine simple Regel: Wer zahlt, schafft an. Dieses Anspruchsdenken auf Kundenseite führt manchmal dazu, dass nicht nur in der Sache hart gerungen wird, sondern der Repräsentant des Lieferanten bzw. Anbieters sich als Person dem Druck der Gegenseite ausgesetzt sieht – ein Verstoß gegen die Prinzipien des Harvard-Konzepts und auch gegen die geschäftliche Etikette. Derart arrogantes Verhalten machen sich inzwischen sogar einige demokratisch gewählte Staatsoberhäupter zu eigen (s. auch Abschn. 3.4). In Beschaffungsverhandlungen verhalten sich oft Einkäufer oder Top-Manager alter Schule so, die es nicht anders gelernt haben. Lesen Sie folgende Anekdote: Beispiel
Die Einkaufsabteilung eines weltweit tätigen Unternehmens richtet eine jährliche Informations- und Diskussionsveranstaltung für seine Schlüssellieferanten aus. Diese Lieferantentage sind bei den Partnern sehr beliebt und die Einladungen begehrt, und der Kunde schafft es mit relativ überschaubarem finanziellem Aufwand, die Geschäftspartner bei Laune zu halten und an sich
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
zu binden (vgl. Abschn. 7.1). Am Ende des ersten Tages findet ein formelles Grand Dinner statt, das im beschriebenen Fall im Ballsaal eines pittoresken Schlosses ausgerichtet wird. Der Rahmen ist festlich, die Stimmung ausgezeichnet, und einige Anbieter erhalten Auszeichnungen für hervorragende Leistungen. Auf der Toilette begegnet der technische Vorstand des Ausrichters dem Geschäftsführer eines wichtigen Lieferanten; dazu muss der Leser wissen, dass sich beide in der Vergangenheit mehrfach über Qualitätsprobleme beharkt haben. Der Geschäftsführer sagt zum Vorstand: „Eine gelungene Veranstaltung, Herr Dr. Müller. Vielen Dank nochmals für die Einladung.“ Dr. Müller blafft nur zurück: „Ich habe Sie nicht eingeladen!“, dreht sich um und verlässt ohne weiteres Wort die Örtlichkeit. ◄ Ähnliche Beispiele respektlosen Verhaltens gegenüber Lieferantenvertretern finden sich in der Praxis zuhauf. Der Kunde lässt im Rahmen von Vergabegesprächen mehrere Wettbewerber gemeinsam im selben Raum warten. In Verhandlungen wird bewusst Stress auf der Anbieterseite erzeugt, sei es durch die Wahl der Räumlichkeiten (s. Abschn. 5.1), mangelnde Gastfreundschaft oder sogar verbale Angriffe auf die betreffenden Personen. In einigen Fällen muss man dabei schon unredliche Motive unterstellen mit der Absicht, über ein solch ungeschliffenes Benehmen Konzessionen zu erzwingen. Eine Sammlung unsauberer Tricks und möglicher Gegenstrategien findet sich z. B. in Wenski 2019, S. 155–185. Fehlender Respekt vor dem Geschäftspartner und seinen Repräsentanten ist unkultiviert und anachronistisch und darüber hinaus meist ein Indiz für geringe Verhandlungsmacht. Nachdem ein Lieferant zu diesem Schluss gekommen ist, gelingt es ihm leichter, die Angriffe der Kundenvertreter abperlen zu lassen – innerlich wird er allerdings die Augen verdrehen. Vor dem Hintergrund eines partnerschaftlichen Miteinanders wird der Einkäufer zusammen mit Kollegen und Vorgesetzten den größten Vorteil für das Unternehmen daraus beziehen, dass er den Anbieter nicht bewusst gegen sich aufbringt, sondern mit ins Boot holt. Vertriebsingenieure und Account Manager verrichten auch nur ihre Arbeit, und es besteht keine Notwendigkeit, sie dafür persönlich zu diskriminieren und gar anzugreifen.
Einkäuferregel 3
Behandeln Sie Lieferantenvertreter stets mit Respekt.
5.4 Coole Typen
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5.4 Coole Typen Bei den Tools für die Nutzung der Körpersprache heißt es in Abschn. 3.5 für beide Seiten des Verhandlungstisches: Treten Sie auf der Basis einer soliden Vorbereitung sicher und locker auf. Insbesondere für den Einkäufer dazu noch folgender Hinweis:
Lassen Sie nie Zweifel an Ihrer Kompetenz und Autorität aufkommen.
Souveränität und Selbstbewusstsein äußern sich in einem lockeren, unverkrampften Erscheinungsbild. Der Verhandlungspartner nimmt die damit verbundenen Signale mindestens im Unterbewusstsein auf, was die eigene Verhandlungsposition verbessert. Dies ist notwendig, um Kampf und Verkrampfung zu begegnen. Doch die Sicherheit und Lockerheit muss während der Verhandlung erhalten bleiben, indem der Verhandler auch in brenzligen Situationen Ruhe und Contenance bewahrt und keine Zweifel aufkommen lässt, dass er die Situation beherrscht. Der Einkäufer mit seiner Überzeugungskraft, Ausstrahlung, Beharrlichkeit und Integrität sollte jederzeit Herr der Lage in einer Verhandlung sein und durch sein kompetentes, authentisches Auftreten (ohne arrogant zu wirken) für eine kooperative, ergebnisorientierte Arbeitsatmosphäre sorgen.
Einkäuferregel 4
Egal, was in einer Verhandlung passiert – bleiben Sie immer cool und souverän.
Die menschliche Natur und die einzelnen Verhaltensweisen von Individuen sind sehr vielfältig, aber es lassen sich durch Erkennen der Muster und strategisches Verhalten vielfach schädliche Emotionen aus einem Dialog heraushalten oder zumindest reduzieren (s. hierzu z. B. Greene 2018, S. 14–41). Die Kunst eines guten Verhandlers besteht unter anderem darin, dass er seine eigenen Gefühle stets unter Kontrolle hat – trotz der Sondersituation mit einem erhöhten Adrenalinspiegel im Blut. Unkontrollierter Ärger, Wut, Angst vor Konsequenzen, jedoch auch Stolz und übermäßige Freude haben in einer konstruktiven Verhandlung nur geringen Raum, lassen sich jedoch nie ganz heraushalten – und helfen in Einzelfällen sogar bei der Lösungsfindung (s. Abschn. 3.1).
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Ist der Einkäufer in bestimmten Situationen (besonders beim harten Verhandeln; s. Abschn. 3.4) gezwungen, sinnbildlich mit der Faust auf den Tisch zu hauen, darf dies nie unkontrolliert geschehen, sondern muss ein bewusster und exakt dosierter Akt sein. Da Vertreter der Gegenseite möglicherweise ebenfalls im Beobachten der Körpersprache geschult sind, sollte man vor allem in emotional belastenden Phasen davon absehen, „mit Händen und Füßen zu reden“, wie es so schön heißt. Ratsam ist, bewusst positive Signale der Körpersprache auszusenden, anstatt mit den Händen herumfuchteln. Gehen Sie als Einkäufer mit starken Gefühlsausbrüchen des Verhandlungspartners rational und sachbezogen um und gestatten sie ihm (wie in Abschn. 3.1 und 3.4 erwähnt), Dampf abzulassen.
Wenn die Dinge nicht wie geplant laufen, nehmen Sie eine Auszeit.
Wer schreit, hat unrecht, lernt man in Kindertagen (noch eine zutreffende Lebensweisheit). Falls bei einem Verhandlungsteilnehmer oder einer Partei einmal die Gäule durchgehen – was durchaus menschlich ist –, bietet sich an, eine Pause einzulegen, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben. Es wirkt unprofessionell und ist nicht gerade ergebnisorientiert, sich von der Hektik der anderen Seite (oder in den eigenen Reihen) anstecken zu lassen und vielleicht noch Öl ins Feuer zu gießen. Eine solche Auszeit kann extrem hilfreich dabei sein, wieder zu einer angenehmen, konstruktiven Gesprächsatmosphäre zurückzukehren. Nehmen Sie derartige Emotionen nicht persönlich. Die im Harvard-Konzept geforderten fairen, objektiven Kriterien zur Lösungsfindung sind dabei sehr hilfreich. Verbessern Sie die zwischenmenschliche Beziehung, ohne auf der Sachebene Konzessionen zu machen. Bauen Sie goldene Brücken und helfen Sie Ihrem Gegenüber, sein Gesicht zu wahren, denn nur wenn er hinter der Übereinkunft steht und diese in seinem Hause erklären und verteidigen kann, liegt ein zukunftsorientiertes Geschäft vor. Wie gelingt es Ihnen als Einkäufer zusammen mit Ihren Teamkollegen, jederzeit cool und souverän zu bleiben? Dafür sind neben Verhandlungserfahrung und -routine primär drei Faktoren ausschlaggebend, die auch an anderer Stelle in diesem Buch gewürdigt und wegen ihrer Bedeutung hier nochmals explizit aufgeführt sind: 1. Sie sollten das für einen Einkäufer passende Naturell mitbringen, das heißt über eine geeignete Mischung aus Rationalität und Empathie verfügen. Choleriker und Narzissten sind hier ebenso fehl am Platz wie Fantasten und Dummschwätzer – Personen, die zu den in den Kästen in Abschn. 2.1 aufgeführten
5.5 Preiswerter Einkauf
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„Todsünden“ neigen, oder Vertreter der Dunklen Triade sind (s. Abschn. 6.1) sind als Verhandler denkbar ungeeignet. (Ein offenes Wort an alle, die mit nachteiligen Eigenschaften ausgestattet und bereits als Verhandler im Einkauf tätig sind: Arbeiten Sie an Ihrer Persönlichkeit und versuchen Sie, die Defizite zu verringern!) 2. Einen gravierenden Teil Ihrer inneren Ruhe beziehen Sie aus der Vorbereitung: Wer sich eine solide Informationsbasis erarbeitet hat und seinen Verhandlungskorridor als Sicherheitsnetz genau kennt, strahlt dies anderen gegenüber aus. 3. Bedeutende Verhandlungen werden sinnvollerweise nicht allein geführt. In einem taktisch gut eingestellten Verhandlungsteam hat jeder seine Rolle, und die Mitglieder spielen sich die Bälle untereinander geschickt zu. Auf geschäftliche Verhandlungen trifft diesbezüglich exakt das zu, was auch bei Verhandlungen mit Geiselnehmern gilt:
„Das Schlimmste, was einem Unterhändler bei Geiselnahmen passieren kann, ist der Verlust der Selbstkontrolle. Falls Sie Ihre eigenen Emotionen nicht kontrollieren können, wie wollen Sie dann auch nur ansatzweise diejenigen von anderen beeinflussen? Wenn Sie sich über deren Worte und Taten ärgern, Sie überreagieren, wenn sich diese Personen nicht an Absprachen halten oder Sie verbal angreifen, ist das nicht zielführend, sondern selbstzerstörerisch.“ Gary Noesner, ehemaliger Leiter der FBI Crisis Negotiation Unit (Shaw 2016; s. auch Abschn. 2.3) (Abdruck des Zitats mit freundlicher Genehmigung der Website © The Trace. All Rights Reserved. Deutsche Übersetzung: G. Wenski)
5.5 Preiswerter Einkauf Auf Englisch lautet eine wichtige Beschaffungsregel gleichermaßen für Verbraucher und für B2B-Einkäufer What you pay is what you get. Frei übersetzt:
Einkäuferregel 5
Im Einkauf hat alles seinen Preis.
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Auch wenn Rabatte glücklich machen (s. Abschn. 2.4): Sparen am falschen Ende hat sich noch nie gelohnt. Jeder Verbraucher kann sich leicht davon überzeugen, dass in Europa hergestellte Produkte nicht nur mehr kosten als solche aus Fernost, sondern dafür gleichzeitig länger halten. Es muss sich nicht einmal um Plagiate aus Billigländern handeln, sondern um Teile, die im Auftrag von Weltkonzernen aus Industrienationen gefertigt werden. Entsprechende Beobachtungen lassen sich gleichfalls in der Industrie machen. Einfache Bauteile wie Dichtungen, Ventile oder Durchflussmesser, von Billiganbietern bezogen, können bei Ausfall ein Vielfaches (bis zu mehreren Zehnerpotenzen) der beim Kauf gesparten Mittel verschlingen. Die besten Preise bringen nichts, sofern das falsche oder minderwertiges Material gekauft wird. Entscheidend ist, dass die für den jeweiligen Einsatzzweck erforderliche Qualität in Spezifikation oder Pflichtenheft exakt definiert, vom Anbieter als Leistungsgrundlage akzeptiert und von diesem auch verlässlich geliefert wird.
Qualität Der Begriff Qualität (deutsch etwa „Beschaffenheit“) hat verschiedene Bedeutungen und lässt sich neutral als die Summe und bewertet als die Güte aller Eigenschaften eines Objekts, Systems oder Prozesses verstehen. In Zusammenhang mit Spezifikationen ist Qualität der Grad der Übereinstimmung mit den Anforderungen. (vgl. Wikipedia 2020b) Aufgabe des Verhandlers ist es, diesen Preis einer Ware festzustellen und zugunsten seiner Organisation zu optimieren – durch die Brille der Materialwirtschaft betrachtet also möglichst weit nach unten. Allerdings sollte jeder Einkäufer zu schätzen wissen, dass anspruchsvolle Qualität Geld kostet. Dabei gilt es neben verlockend niedrigen Stückpreisen zusätzliche versteckte Kosten zu identifizieren und in einer Vollkostenrechnung zu berücksichtigen (Wikipedia 2020c). Dies können bei Roh- und Hilfsstoffen beispielsweise die je nach Herstellort höheren Transportkosten oder Zölle sein, mit Blick auf Maschinen und Anlagen die späteren Wartungs- und Reparaturkosten und dafür notwendigen Stillstandzeiten (Life Cycle Costs).
Gerechte Preise
Das Motto dieses Buchs besagt, dass B2B-Einkaufsverhandlungen nur dann erfolgreich sind, wenn sie zu nachhaltigen Vereinbarungen führen. Dazu ist es notwendig, dass sich die Verhandlungspartner auf einen
5.5 Preiswerter Einkauf
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beiderseits akzeptablen Preis für den Verhandlungsgegenstand einigen, einen „gerechten Preis“. Die Frage der Preisgerechtigkeit ist Thema der Wirtschaftsethik und in ihrem Ursprung auf Aristoteles zurückzuführen. Über die Jahrhunderte hat es nicht an Versuchen von Philosophen und Ökonomen gefehlt, die Begriffe Preis, Wert und Nutzen ins Verhältnis zu setzen. (Wikipedia 2020a) Das lateinische Substantiv pretium bedeutet gleichzeitig „Preis“ und „Wert“. Das Konzept wird heute in marktwirtschaftlich orientierten Systemen als nicht praktikabel angesehen, weil es kein objektives Verfahren zur Bestimmung eines „gerechten“ Preises gibt. In den westlichen Industrieländern akzeptieren die Akteure mehrheitlich das Marktpreis-Prinzip, das die Preisbildung dem Angebot und der Nachfrage überlässt, wobei die Ordnungspolitik eine Rahmenordnung z. B. durch die Wettbewerbs- und Sozialpolitik vorgibt. (Wikipedia 2020a)
Selbst wenn alternative Lieferungen die Spezifikation des Kunden erfüllen, kann es trotzdem sein, dass sie als Ersatz für Produkte eines etablierten Anbieters nicht infrage kommen. Einige originäre Ausgangsmaterialien und komplexe Anlagen sind in ihren Eigenschaften so individuell, dass sie sich nicht beliebig durch Alternativprodukte ersetzen lassen; dies lässt sich in der Halbleiterindustrie gut beobachten. Ein aktuelles Übel dort sind Plagiate – zu billige oder gar gefälschte Komponenten in Standardgehäusen, gegen die Chiphersteller wie Infineon inzwischen rigoros vorgehen (Eckstein 2018). Doch auch bei regulär erworbenen Produkten steckt der Teufel teilweise im Detail. So lassen sich in der Wafer- und Bauelementeindustrie bestimmte scheinbar identische Ausgangsmaterialien und Hilfstoffe von unterschiedlichen Herstellern trotz strenger Spezifizierung überhaupt nicht oder lediglich unter Prozessanpassung untereinander austauschen. Dies betrifft etwa Quarz- und Grafitteile für Heißprozesse, Ätz- und Reinigungsmischungen, Poliermittel und -tücher oder Siliciumwafer für die Chipfertigung (Abb. 5.1). Diese Materialien besitzen einen Finger Print, verfügen also über höchst individuelle, meist nicht quantitativ erfassbare Eigenschaften, die sich auf die Prozessführung auswirken. Dasselbe trifft auf manche Produktionsanlage und viele hochspezialisierte Messgeräte zu – die Ergebnisse von verschiedenen Systemen lassen sich oft nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht korrelieren.
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Abb. 5.1 Siliciumwafer für die Chipfertigung (Mit freundlicher Genehmigung der © Siltronic AG, München. All Rights Reserved)
Herbert Langwasser
Klaus Auerbach und Herbert Langwasser sind mit dem komplettierten Verhandlungsplaner gut auf das Gespräch mit JT vorbereitet. Sie stimmen auf Basis der vorherigen Erfahrungen überein, dass von diesem Anbieter kaum weitere preislich signifikante Konzessionen zu erwarten sind, haben sich jedoch ein paar Taktiken zurechtgelegt, um vor allem die Wettbewerbssituation mit DWE zu nutzen. Gottfried Krause wird die Verhandlung allein mit den beiden WAFAG-Vertretern bestreiten. Der Einfachheit halben machen sie es sich in Langwassers geräumigem Büro bei einem Latte macchiato aus dem abteilungseigenen Vollautomaten gemütlich. Während der QFD-Analyse (Abschn. 4.3) lautete der Tenor der Teilnehmer, dass rund vier Millionen Euro für einen besseren „Ausheizofen“ immerhin eine ganze Menge Geld sind, und bei manchem regte sich der Verdacht, ob nicht beide Lieferanten völlig überteuerte Angebote abgegeben haben. Entsprechend niedrig fiel die Bewertung des Preis-Leistungs-Verhältnisses aus. Diese Frage richtet Herbert Langwasser direkt an Gottfried Krause zum Auftakt der Vergabeverhandlung – und fällt bewusst mit der Tür ins Haus. Der muss lächeln und antwortet: „Meine Herren, Sie wissen doch genau, welche Komplexität in derartigen Systemen hard- und softwaretechnisch verbaut ist. Wenn Sie billigere Lösungen suchen, wären
5.5 Preiswerter Einkauf
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Hersteller in China eine Alternative.“ Dies ist für die WAFAG momentan keine Option, denn der Reifegrad solcher Anlagen und die Kompetenz der Anbieter erfüllen (noch) nicht an die geforderten Standards. Gute Parade von Krause! Erwartungsgemäß ist der Verhandlungserfolg an diesem regnerischen Vormittag in Dresden bescheiden. Zwischen der WAFAG und JT liegt ein gültiger Rahmenvertrag für Anlagenbeschaffungen vor, der nahezu alle relevanten Punkte abdeckt: Incoterm FCA Singapur; Zahlung 90 Prozent bei Lieferung, 10 Prozent bei Abnahme innerhalb von 30 Tagen; Haftungsbegrenzung auf die Höhe der Bestellsumme; Vertrag nach US-amerikanischem Recht (Staat Oregon). Da außerdem die technische Spezifikation mit einigen vereinbarten Änderungen vom Lieferanten bereits unterschrieben ist, steuert die Verhandlung relativ schnell auf die Schnürung eines kommerziellen Pakets zu. Krause ist bewusst, dass ein Alternativangebot existiert und dass er mit Blick auf die Zukunftssicherung der GmbH wettbewerbsfähige Konditionen anbieten muss. Auf die Forderung nach einer weiteren signifikanten Preisreduktion sagt er nachdrücklich: „Ich habe Ihnen schon 25 Prozent Rabatt gegeben!“ Das stimmt bekanntlich, und der Listenpreis reduziert sich dadurch auf 4,50 Millionen US-Dollar (Abschn. 2.2). Langwasser lässt erkennen, dass „ein vorliegendes Konkurrenzangebot vorteilhafter erscheint“. (Er sagt bewusst nicht „günstiger ist“, weil er keine nachprüfbare Unwahrheit äußern will, was die Geschäftsbeziehung beschädigen könnte.) Krause fragt nicht weiter nach, und beide Parteien überlegen, wie sie in Erwartung des Singapur-Projekts den Kuchen größer machen und eine Win-Win-Lösung erarbeiten können. Die JT-Argumente gehen in Richtung hohe weltweite Präsenz und Qualität sowie Nähe der Anlagenfertigung und -betreuung zum späteren Einsatzort WAFAGSingapur-Fab. Die beiden Kundenvertreter betonen, dass sich das Projekt auch in schwächerem Marktumfeld rechnen muss und daher anspruchsvolle Budgetrestriktionen vorhanden sind. Langwasser offenbart Krause selbstverständlich nicht, dass er für die erste Anlage ein Budget von gut 3,8 Millionen Euro zur Verfügung hat, was bei dem zugrunde liegenden Projekt-Wechselkurs von 1,15 US-$/€ etwa 4,4 Millionen US-Dollar entspricht. (Mögliche Kursverschiebungen bleiben unberücksichtigt, da der WAFAG-Einkauf kein Hedging betreibt. Zumal der Halbleitermarkt weltweit überwiegend in US-Dollar kalkuliert.) Er rechnet realistisch betrachtet damit, dass das Budget für die geplanten sechs Annealing-Anlagen in Singapur nochmals um fünf Prozent reduziert wird.
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Bis zur Mittagszeit haben sie sich nach einigem Hin und Her recht unprätentiös auf einen vergrößerten Kuchen mit den aufgelisteten Einzelpunkten geeinigt und gehen (auf Kundeneinladung) zum Essen in die Kantine: • Preis der Test- und Qualifizierungsanlage für Dresden 4,375 Mio. US-$ (27 % Nachlass vom Listenpreis) • 125 Stunden Unterstützung Anwendungstechnik enthalten (AT-Support; Wert: 35.000 US-$) • Stückpreis bei Abnahme von mindestens vier weiteren Anlagen nach derselben Spec: 4,200 Mio. US-$ (30 % Nachlass) • pro Anlage 20 Stunden AT-Support und 500 Stunden Service zusätzlich zur Verjährungsfrist für Mängelhaftung von zwölf Monaten (Wert pro Anlage: 90.000 US-$) • Gültigkeitsdauer der Vereinbarung 24 Monate ab heutigem Datum Herbert Langwasser ist mit dem Paket zufrieden, denn er ist überzeugt, dass Gottfried Krause selbst nach Rücksprache mit seiner Zentrale keine weiterreichenden Zugeständnisse hätte machen können. Natürlich lässt er sich von den 27 respektive 30 Prozent Nachlass nicht blenden, doch immerhin ist das Paket durch die erzielten preislichen Konzessionen und die Zusatzstunden etwas runder geworden. Auerbach und er konnten ihr heutiges Verhandlungsziel, für die geplanten insgesamt sieben Anlagen unter 30 Millionen US-Dollar zu bleiben und dabei erweiterte technische Unterstützung zu bekommen, erreichen: Der mittlere Stückpreis der sieben Anlagen errechnet sich zu 3,671 Millionen US-Dollar, wobei die Ersparnisse beim Support den Einzelpreis auf glatte 3,600 Millionen US-Dollar drücken würden. ◄
5.6 Fragen und Antworten Wer fragt, der führt kam bereits als Tool in Abschn. 3.1 zum Einsatz. Es ist bekannt, dass gute, routinierte Verhandler mehr als doppelt so viel fragen wie unerfahrene. Sie reden allerdings weniger als ihre Gegenüber, hören aktiv zu und stellen gerne offene Fragen. Bevor eine Frage gestellt wird, sollte dem Frager klar sein, was er damit beabsichtigt. Die Antwort darf nicht gleich mitgeliefert werden (außer es handelt sich vielleicht um eine Suggestivfrage). Eine der Tugenden beim Verhandeln ist, Geduld zu üben und zu warten – die besten Informationen kommen vielfach am Ende. Hören Sie Ihren Gesprächspartnern aufmerksam zu: In der Antwort des anderen liegt Ihre nächste Frage.
5.6 Fragen und Antworten
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Die Fähigkeit zu schweigen ist für erfolgreiche Verhandler eine Notwendigkeit, und unabhängig von der Hierarchieebene beherrschen viele Verhandlungsteilnehmer diese Grundanforderung nicht: Einem inneren Trieb folgend, der sie reden lässt, unterbrechen sie nach wenigen Sekunden die Stille – was der Gegenseite einen taktischen Vorteil bescheren kann. Und Menschen, die bestimmt, aber freundlich sprechen, die Fragen stellen und dann zuhören können, setzen sich eher durch und verzeichnen in Verhandlungen bessere Erfolge als extrovertierte Draufgängertypen. Naheliegende Gründe dafür sind primär • der verbesserte Zugang zu wertvollen Informationen, • die Vermeidung einer Blockadehaltung des Gegenübers und • die Tatsache, dass konstruktives Verhalten im Allgemeinen mehr geschätzt wird als kämpferisches. Bevor das Wesentliche dieses Abschnitts in der Einkäuferregel 6 zusammengefasst wird, möchte ich noch drei einfache No-Gos für die Kommunikationspraxis erläutern.
Beantworten Sie niemals eine Frage, die nicht gestellt wurde.
Die gewählte Fragetechnik in einer Verhandlung ist gewöhnlich eine Art Gratwanderung. Doch nicht gestellte Fragen im Kontext der Verhandlung – außer beim Smalltalk – zu beantworten bedeutet, ohne Gegenleistung Informationen preiszugeben, was je nach Situation überhaupt nicht wünschenswert ist. Der Verhandler darf nie dem Drang erliegen, mit der unnötigen Offenbarung von internen Kenntnissen beim Lieferanten Eindruck schinden zu wollen. Oft ist weniger mehr, und ein Kundenvertreter sollte selbst auf eine direkte Frage des Lieferanten keine Informationen liefern, die nicht für dessen Augen und Ohren gedacht sind. In gewissen Fällen kann die Weitergabe von streng vertraulichen Einzelheiten eine Pflichtverletzung und sogar Straftat darstellen.
Beantworten Sie nie die Frage eines Kollegen an den Verhandlungspartner.
Dies ist ein Klassiker bei den Don’ts, den man nicht genug betonen kann. Die Beantwortung von Fragen an den Verhandlungspartner durch den eigenen Kollegen entspricht etwa beim Skat der Abfolge, dass ohne Not bzw. ohne taktischen Grund der Pik-Bube vom Mitspieler mit dem Kreuzbuben gestochen
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
wird. (Der Leser wird Analogien in vielen anderen Spielen und Sportarten finden.) Insbesondere Nicht-Einkäufer im Verhandlungsteam müssen wissen, dass vor allem der Verhandlungsführer ab und an Kontrollfragen stellt, deren Antwort er bereits kennt. Solche Grundregeln der Kooperation innerhalb des Verhandlungsteams sollten im Rahmen der Vorbereitung diskutiert und eventuell durch kurze Rollenspiele vorbereitet werden (zur Idee eines „Drehbuchs“ s. Abschn. 4.3).
Diskutieren Sie in einer Verhandlung keinesfalls.
Verhandlungen sind kein Forum für Diskussionen, in dem Vertreter der verschiedenen Fachrichtungen ihre Expertise beisteuern und austauschen. Dies hat in technischen Gesprächen und ähnlichen Formaten während der Vorbereitungsphase stattzufinden, weshalb bei den Vorgesprächen üblicherweise mehr Personen und Funktionen vertreten sind, als an der Präsenzverhandlung teilnehmen. Bei einer Verhandlung geht es nicht darum, Recht zu haben und sich in einem wissenschaftlichen Disput zu verteidigen, sondern einen Interessenausgleich durch das Ausloten der Schnittmenge in den Positionen beider Parteien zu erreichen.
One Face to the Supplier
Unter dem Motto One Voice to the Customer versuchen Unternehmen besonders im B2C-Bereich, sich mit einem einheitlichen Markenauftritt an ihre Kunden zu wenden. Im engeren Sinne bedeutet das Konzept, dass der Käufer beim Anbieter nur einen Ansprechpartner hat, der ihn berät, die Vertragsbedingungen vereinbart und ihn auch später beim After Sales Service betreut – was im Dialog mit Verbrauchern z. B. durch ständig belegte Hotlines oder das Abwimmeln berechtigter Gewährleistungsforderungen oft ad absurdum geführt wird. Dem soll an dieser Stelle das One Face to the Supplier-Ideal für die Einkaufsseite im B2B-Kontakt gegenübergestellt werden. Es besagt, dass lediglich eine Person in der Kundenorganisation, nämlich der Einkäufer, mit den Lieferanten in Kontakt steht, bevorzugt über den Vertriebsingenieur oder Account Manager, und sämtliche Konversation auf diese Weise kanalisiert und weitergeleitet wird. Die Befolgung des One Face to the Supplier-Ideals ist aus mehreren Gründen kaum vollumfänglich möglich. Nicht nur Schlüssellieferanten
5.6 Fragen und Antworten
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stehen mit dem Kundenunternehmen gewöhnlich über unterschiedlichste Funktionen und Ebenen in Kontakt: Einkauf, Technologie, Ingenieurwesen, Abteilungsleitungen und Vorstand oder Geschäftsführung, und viele Dinge werden „auf dem kleinen Dienstweg“ geregelt. Jeder Vertriebsingenieur wird dahin gehend geschult, dass er, um etwas zu verkaufen, über den Techniker sicherstellen muss, dass Bedarf nach seinen Produkten vorhanden ist oder geschaffen wird. Daher darf der Kunde es keinesfalls zulassen, dass ein Verkäufer hinter dem Rücken der Beschaffung ein eigenes Netzwerk aufbaut. Daneben ist für den zuständigen Einkäufer allein aus Ressourcengründen der Anspruch nicht realistisch, die gesamte Kommunikation mit dem Lieferanten handhaben zu können. Über technische Aspekte sollte er zumindest in den Grundzügen informiert sein. Allerdings dürfen sich nie relevante kommerzielle Dinge seiner Kontrolle entziehen oder gar ohne sein Wissen stattfinden, da dies die Verhandlungsposition des Lieferanten stärken würde. Unter Umständen muss er sich die benötigten Informationen aktiv beschaffen. Sind höherrangige Kollegen aus anderen Abteilungen oder sogar die Unternehmensleitung involviert, die Gesprächsinhalte nicht adäquat kommunizieren bzw. unzureichend mit der Fachabteilung kooperieren, ist Vorsicht geboten – der Einkäufer kann bei dieser problematischen internen Konstellation nur verlieren.
Ein bissiger (und unrichtiger) Spruch im Vertrieb lautet: „Der Einkäufer ist der natürliche Feind des Verkäufers.“ Eher schon hat diese Formulierung der Aussage ihre Berechtigung: „Der Prozessentwickler ist der natürliche Feind des Einkäufers.“ Diese Erfahrung macht Beschaffungspersonal, wenn verhandlungsunerfahrene Kollegen mit am Tisch sitzen, die sich über ihre Rolle nicht ganz im Klaren sind. Nachdem der Forscher oder Entwickler geäußert hat, „Aber Sie sind doch die einzige Firma, die uns dieses Produkt liefern kann“, weiß der Einkäufer, dass er das Rennen um die Preisgestaltung verloren hat. Daher:
Einkäuferregel 6
Sagen Sie dem Lieferanten niemals, wie dringend Sie sein Produkt benötigen.
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
5.7 Klare Ansage Das Spielfeld ist vorbereitet, und die beiden Verhandlungsteams haben den ersten Kaffee, Smalltalk und letzte technische Abstimmungen hinter sich gebracht. Interessen werden in einem munteren Frage-und-Antwort-Spiel erkundet und Verhandlungspakete geschnürt. Irgendwann sollte und muss es dann schließlich ums Geld gehen. Während der in Abschn. 3.2 erwähnte Tunnelblick auf den Preis heute bei vielen modernen, gut geschulten Einkäufern nicht mehr zu befürchten ist, stellt sich dennoch an einem bestimmten Punkt in einer Vergabeverhandlung die Frage, wie und mit welcher Preisforderung man sich positioniert. Zu diesem Aspekt zunächst einer der erwähnten No-Brainer:
Es gibt keinen Verkäufer ohne Verhandlungsspielraum.
Akzeptieren Sie niemals das erste Angebot des Lieferanten, denn dieser hat in über 95 Prozent der Fälle noch Zugeständnisse im Ärmel. Die allerwenigsten Anbieter reisen zum Kunden und stehen im Hinblick auf Konzessionsforderungen mit leeren Händen da. Im einfachsten Fall können dies zwei Prozent Skonto oder eine geringfügige Verbesserung der Liefer- oder Zahlungsbedingungen sein. Bei komplexen Geschäften ergibt sich meist eine Vielzahl von Varianten, durch den Austausch von Wants ein für beide Seiten günstigeres Verhandlungspaket zu erarbeiten. In Seminaren stelle ich den Teilnehmern gerne die Frage, ob sie beim privaten Kauf höherwertiger Güter – wie HiFi- und Kommunikationsgeräte, Bohrmaschinen, Fahrräder oder Möbel – nach einem Nachlass fragen. Das sollte man sich zur Gewohnheit machen und ein gewisses Gefühl entwickeln, wie viel bei einem Kauf „drin ist“. Verbraucher haben oft Hemmungen, im Laden zu sagen, dass sie bei einer größeren Einkaufssumme einen Preisnachlass erwarten.1 Dadurch verschenken sie bares Geld. Im Geschäftsleben gilt genau dasselbe: Woher soll der Lieferant wissen, was der Kunde von ihm will, wenn es der Einkäufer nicht klar artikuliert?
Einkäuferregel 7
Man bekommt nur das, wonach man fragt.
1Allerdings
hilft es aus verschiedenen Gründen niemandem, sich zunächst im Geschäft beraten zu lassen und anschließend zu Kampfpreisen im Internet zu bestellen.
5.7 Klare Ansage
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Eine Vorgehensweise von harten Verhandlern der alten Schule zielt darauf ab, das Erstangebot des Gegenübers zu erschüttern (der Meißel in der Toolbox in Abschn. 3.1). Doch selbst ohne eine derart brachiale Wortwahl ist es unbedingt ratsam, bei der ersten Preisforderung einen Anker zu setzen. Denn auch Experten unterliegen dem Effekt, dass ein willkürlich gesetzter Anker den Entscheidungsprozess beeinflusst. Das Phänomen der Ankerung (s. Abschn. 3.6) führt vor allem im Bereich der Kauf- und Verkaufsentscheidungen zu einer signifikanten Entscheidungsverzerrung und konnte in etlichen Studien, sei es im Einzelhandel oder in der Immobilien- und Gebrauchtwagenbranche, an Kauf- und Verkaufspreisen oder verkauften Mengen nachgewiesen werden.
Mit dem ersten Preis einen Anker setzen
Eine erste Preisforderung des Einkäufers ist auf jeden Fall so zu setzen, dass sie (a) nicht lächerlich wirkt und gleichzeitig (b) einen Preisanker darstellt, an dem sich der Lieferant zunächst orientiert. Wenn drei Prozent Nachlass erwartet werden, wird man vermutlich nach fünf bis zehn Prozent fragen. Falls es zehn Prozent werden sollen, darf die Latte anfangs ruhig auf 15 Prozent oder etwas höher gelegt werden – 30 Prozent zu verlangen wäre ohne starke Argumente wie ein entsprechendes Wettbewerbsangebot wohl eher töricht. Wenn das erste Preisangebot sitzt, ist das für den Einkäufer oft schon ein wichtiger Schritt zum Verhandlungserfolg („die halbe Miete“). Unterstützend bietet sich an, diesen Preis auf Tafel oder Flipchart zu schreiben – ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte.
Eine wesentliche Verhandlungsregel aus der Toolbox (Abschn. 3.2) besagt: Bereiten Sie eine Strategie aus Anbieten und Nachgeben vor und verringern Sie Ihr Nachgeben mit jedem Schritt. Doch wer macht den ersten Schritt? Das hängt von der Situation ab, und hier liegt in den meisten Fällen keineswegs ein Henne-Ei-Problem vor, sondern sie lassen sich einer überschaubaren Anzahl von Szenarien zuordnen. In professionellen Einkaufsverhandlungen beginnen die beiden Parteien nicht erst am Verhandlungstisch mit dem Austausch von Angeboten. Es ist davon auszugehen, dass der Lieferant im Vorfeld ein schriftliches Angebot auf Basis der gewünschten Spezifikation oder des Pflichtenhefts gemacht hat, das die Einladung zu einer Verhandlung nach sich zieht. Damit existiert bereits etwas, auf das die Einkaufsseite aufsetzen kann. Dies sieht im Privatleben beim Reparaturangebot eines Handwerkbetriebs nicht anders aus.
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Zur Unterstützung der Verhandlungsziele bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, die allesamt situationsabhängig sind. Es gibt unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob der Verhandlungsführer auf Kundenseite vor diesem Hintergrund eine erste Preisforderung äußert oder zunächst den Verkäufer nach der Höhe des Nachlasses fragt. Prinzipiell lassen sich in diesem Zusammenhang nach meiner Erfahrung zwei Szenarien formulieren (zu davon abweichenden Ratschlägen s. z. B. Einkaufsmanager 2019). • Szenario A: Das eigene Team weiß ungefähr, was das Verhandlungsobjekt wert ist, etwa über Kataloge mit Listenpreisen oder vorherige Beschaffungsvorgänge. Selbst wenn es um ein neuartiges Kaufobjekt geht, hat der Kunde dennoch ein Gefühl für das Markup- und Rabattverhalten des Lieferanten oder kann vorherige Preise extrapolieren. Dann sollte der Verhandlungsführer als Erster einen – zwecks Ankerung deutlich zu niedrig angesetzten – Vorschlag zu machen. Das schafft eine solide Basis (allerdings noch keine „Erschütterung“ des Angebotspreises), gegen die der Lieferant während der Verhandlung „top-down“ anarbeiten muss. • Szenario B: Das Team des Einkäufers ahnt nicht einmal, welchen Marktwert das Verhandlungsobjekt besitzt oder in welchem Rahmen sich die Herstell- bzw. Bereitstellungskosten bewegen. Solche Fälle sind typisch bei Verhandlungen mit bisher nicht beauftragten Lieferanten oder über Neukonstruktionen. Vor allem wenn der Anbieter mit seinen Produkten erst in den betreffenden Markt eintreten will, zeigt er vielleicht die Bereitschaft, einen Kampfpreis zu machen oder zusammen mit weiteren Verhandlungsobjekten ein lukratives Paket zu schnüren. In diesem Fall ist unbedingt geduldig darauf zu warten, dass der Anbieter den ersten Nachlassvorschlag für den Preis macht. Sollte eine längerfristige Geschäftsbeziehung daraus resultieren, kann dieser erste kritische Schritt der Preisfindung eine sehr große Hebelwirkung besitzen. Der Fall des Handwerkers aus dem Privatleben mag dies illustrieren: Beispiel
Ein Eigenheimbesitzer muss seine Heizung reparieren lassen und wendet sich an einen namhaften Fachbetrieb. Das postalisch versandte Angebot für den aufwendigen Job wird telefonisch durchgesprochen und vom Kunden für plausibel befunden; die veranschlagten Stundensätze entsprechen dem ortsüblichen Durchschnitt. Der Angebotspreis ist ein Pauschal-Festpreis. Letztlich interessiert ihn, ob ein Nachlass erhältlich ist.
5.7 Klare Ansage
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Szenario A: Der Kunde hat bereits in der Vergangenheit mit dem Heizungsbauer zusammengearbeitet und weiß, dass maximal drei Prozent Skonto gegeben werden. In diesem Fall wird er nach fünf Prozent Nachlass fragen und im Endeffekt mit den drei Prozent Skonto zufrieden sein. Szenario B: Der Kunde hat den Anbieter über eine Empfehlung ausgewählt und kennt die typischen Nachlässe auf dessen Angebote nicht. Dann sollte er allgemein höflich-verbindlich fragen, welcher Preisnachlass drin ist. Er würde sich nämlich ärgern, wenn er nach drei Prozent Skonto fragt, und zehn Prozent Nachlass wären möglich gewesen. ◄ Im Rahmen der verhaltensökonomischen Forschung hat sich herausgestellt, dass bei gewerblichen Verhandlungen (wie in Abschn. 3.6 erwähnt) am besten mit ungeraden Preisen gestartet wird und, falls primär der Preis maßgeblich ist, vorteilhafterweise die eigene Partei das erste Angebot macht. Geht es in einer integrativen Verhandlung um ein ganzes Paket von Objekten, ist Zurückhaltung geboten. (Loschelder et al. 2014). Eine gravierende Steigerung der Verhandlungsmacht bedeutet es, nicht nur über ein zu beschaffendes Exemplar des Verhandlungsgegenstandes zu sprechen, sondern in der Position zu sein, mehrere Einheiten zu bestellen. Oft führt in professionellen Einkaufsverhandlungen schon die Verdopplung der Einkaufsmenge zu einem günstigeren Preis. Zwar ist der amerikanische Sale-Ansatz Buy one, get one free im B2B-Sektor eher unüblich, doch besteht die realistische Möglichkeit, das Geschäft vor diesem Hintergrund für beide Seiten attraktiver und damit den Kuchen größer zu machen. Beispiel
Volumeneffekt: Was für den privaten Heizölkauf gilt, trifft ebenso im Geschäftsleben zu. Je mehr ein Lieferant von einer Sache verkauft, desto günstiger kann er normalerweise die einzelne Einheit anbieten. Denkbare Gründe sind, dass er seine Marktposition damit stärkt, seine Anlagenauslastung höher und damit seine Deckungsbeitragsrechnung günstiger ist, er selbst Vorprodukte zu niedrigeren Preisen einkauft, vielleicht Umrüstzeiten entfallen. Sollten also spätere Beschaffungen geplant sein, andere Einheiten, Standorte oder gar Konzernunternehmen bei demselben Lieferanten kaufen oder seine Quotierung bei Aufteilung der Einkaufsmenge durch den Kunden
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
beeinflussbar sein: Dies alles sind wertvolle Hebel, die vorteilhaftere preisliche Bedingungen schaffen können. (vgl. Beispiel 2 am Ende von Abschn. 1.3) Koppelgeschäfte: Manchmal ist es so, dass bei der Verhandlung eines Beschaffungsobjekts mit einem Lieferanten keine unmittelbare Verständigung gelingt, aber weitere Produktgruppen dort gekauft werden, deren Bedingungen aktuell nicht zur Verhandlung anstehen. Lassen sich hier irgendwelche Synergien nutzen? Eventuell kann bei ertragsschwächeren Produkten in bestimmtem Umfang eine Quersubvention erfolgen. Allerdings muss buchhalterisch alles korrekt zugehen: Weder budgettechnische Unsauberkeiten innerhalb der eigenen Organisation oder der des Lieferanten noch die Eliminierung von Wettbewerb beispielsweise bei Ausschreibungen dürfen in Betracht gezogen werden. ◄
5.8 Vereinfachungen Verhandlern wird vielfach geraten, ihr Gegenüber solange wie möglich über die wahren Ziele im Unklaren zu lassen (z. B. Wenski 2019, S. 140). Was auf den Verkäufer zutrifft, gilt natürlich auch für den Einkäufer: Er sollte ebenfalls versuchen, seine tieferen Absichten erst einmal zu verbergen. Die geschulten Vertriebsmitarbeiter wissen meist ganz genau, wie sie eine Vergabeverhandlung – selbst in fremdem Territorium – gestalten müssen, um den Interessenten in Richtung eines für sie vorteilhaften Abschlusses zu manövrieren. Sie beherrschen es, eine diskrete und zielorientierte, für den Kunden spannende Show abzuziehen, bei welcher Letzterer den Eindruck gewinnt, hart und gut verhandelt zu haben (Wenski 2019, S. 91). Drehen Sie als Einkäufer den Spieß doch einfach mal um und spielen Sie mit Ihrem Lieferanten ebenso nach einem vorbereiteten Drehbuch. Eine Verhandlung lässt sich als ein Prozess verstehen, in dem die Schnittmenge zwischen den Positionen der Verhandlungspartner eruiert und so mit fortschreitender Zeit eine kontinuierliche Vereinfachung erzeugt wird. Bei komplizierten Fällen lohnt sich vielleicht der Mut des Verhandlers, Seitenwege zu beschreiten und eine Taktik des Hakenschlagens einzusetzen. Hierzu noch eine (nicht ganz einfach zu realisierende) Verhandlungsregel mit einem gewissen Reiz – einer meiner Lieblingstipps aus der Praxis:
5.8 Vereinfachungen
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Einkäuferregel 8
Erzeugen Sie in einer Vergabeverhandlung zunächst Komplexität und redu zieren Sie sie zum Schluss wieder.
Hierzu stellen wir uns eine Verhandlungssituation mit einem ganzen Bündel von Verhandlungsobjekten vor, beispielsweise die Beschaffung von hochtechnisierten industriellen Produktionsanlagen auf Basis einer umfangreichen Spezifikation. Eine derartige Verhandlung läuft nach Klärung technischer Fragen abstrahiert etwa so ab, dass erst alle weiteren Verhandlungsobjekte abgehandelt und zum Abschluss als primärer Verhandlungsgegenstand der Preis im Rahmen eines Gesamtpakets vereinbart wird. Der Weg bis dahin ist vielfach gewunden, und eine solche Verhandlung wird sich über Stunden bis hin zu mehreren Tagen bzw. Terminen erstrecken. Dabei liegen die Nerven der Beteiligten zwischendurch schon mal blank, insbesondere wenn es partout nicht vorwärts geht und eine mögliche Einigung immer wieder durch Bedenken, Ablehnung und gar Sturheit verhindert wird. Glücklicherweise ist eine systematische Blockadehaltung bei industriellen Beschaffungsverhandlungen (anders als in der Politik oder bei Tarifverhandlungen) die Ausnahme. Eine Erfolg versprechende Taktik des Einkaufs könnte in einer solchen Situation sein, die Komplexität des anzubahnenden Geschäfts durch umfangreiche Erörterungen und Hinterfragen von Einzelposten bewusst zu steigern. Befassen Sie sich als Verhandlungsführer mit den Details und haken Sie nach. (Hiermit ist nicht der unethische Verhandlungstrick „absichtliche Verwirrung des Gegenübers“ – Scrambled Eggs – gemeint, s. Wenski 2019, S. 176, 183.) Dies kann so weit gehen, dass von Kundenseite ein Open-Book-Vertrag vorgeschlagen wird, bei dem alle anfallenden Kosten der Anlagenerstellung dezidiert aufgeführt, verrechnet und abschließend minutiös geprüft werden (Wenski 2019, S. 74, 136–142). Bei einer solchen kompletten Kostenoffenlegung hat der Lieferant bzw. Anbieter deutlich mehr zu verlieren als der Kunde, und es gelingt ihm nicht immer, ein ausreichendes finanzielles Polster für spätere unvorhergesehene Risiken aufzubauen. Die geschilderte Vorgehensweise ist gerade dann in Betracht zu ziehen, wenn die stärkere Verhandlungsmacht auf Kundenseite liegt und der Lieferant das Geschäft eher benötigt. Die Erfahrung lehrt, dass der Auftraggeber bei einem solchen Geschäftsmodell oft im Vorteil ist. Erläutern Sie als Verhandlungsführer die Anwendung dieser Taktik vorab Ihrem Verhandlungsteam und legen Sie den Vorschlag Ihrem Verhandlungspartner ruhig und voller Überzeugung vor – und
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
lassen Sie ihn zunächst über Ihr wahres Ziel im Unklaren, nämlich eine simple Festpreislösung zu vereinbaren. Ich habe nicht nur einmal erlebt, wie sich Anbieter insgeheim freuen, nachdem letztendlich unser Angebot lautete: „Das ist natürlich alles recht kompliziert und aufwendig, warum einigen wir uns nicht auf glatte zwei Millionen Euro pro Anlage?“
5.9 Alleinanbieter Vielen Einkäufern und Managementvertretern verdirbt es regelmäßig die Laune, wenn sie mit Alleinanbietern für bestimmte Produkte und Leistungen zu tun haben, denn in einer solchen Konstellation scheinen die „Optionen“ der NO TRICKS-Formel (Abschn. 3.3) zu fehlen. Aus Lieferantensicht ist das Problem in Wenski 2020, S. 46–49 beleuchtet worden; hier scheinen ein paar Worte für die Abnehmerseite passend. Gerne verwendet ein Kunde leichtfertig den negativ geprägten Begriff Monopolist für einen Lieferanten, der eine marktbeherrschende Stellung innehat – und vielfach fälschlich. „Monopol“ nennt man eine Marktsituation, in der für ein ökonomisches Gut nur ein Anbieter vorhanden ist. Eine solche Situation liegt jedoch bei genauem Hinsehen in den allermeisten Fällen gar nicht vor. Der industrielle Einkauf ist vielmehr des Öfteren mit Quasi-Monopolisten oder monopolähnlichen Situationen vor allem bei Roh- und Grundstoffen oder Mischungen, aber auch im Geräte- und Anlagensektor konfrontiert. Im ersten Fall kann es sich um Seltenerdmetalle handeln oder Spezialchemikalien und Formulierungen mit einer hohen Reinheit, was Wettbewerber abhält, dieses Marktsegment zu betreten, z. B. Tensid- oder Ätzmischungen für die Halbleiterindustrie. Im zweiten Fall führt die Spezialisierung eines Anlagenanbieters dazu, dass Marktdominanz geschaffen wird, was eine gewisse Standardisierung zur Folge hat. Der Suche nach einer Ersatzlösung steht außer Zeit und Kosten prinzipiell nichts im Wege. Vorhandene Schutzrechte machen die Lage noch komplizierter.
Kein Patentrezept
Der Umgang mit marktbeherrschenden Unternehmen, Alleinanbietern oder sogar Monopolisten stellt an den Einkäufer besonders hohe Anforderungen – auch und gerade für diesbezügliche Verhandlungen existiert kein Patentrezept. Jedoch kommt selbst in scheinbar aussichtslosen Verhandlungssituationen
5.9 Alleinanbieter
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oft letztlich eine zufriedenstellende Einigung zustande, wenn man die Sache richtig anpackt.
Entscheidend für den Umgang mit marktbeherrschenden Parteien ist folgende Feststellung: Ein Überzeugen auf der Sachebene ist bei inhaltlichen Differenzen nicht immer möglich, denn die Positionsdiskussionen drehen sich teilweise im Kreis. Vielmehr sollte der Geschäftspartner versuchen, einen Gewinn auf der persönlichen Ebene zu erreichen, etwa durch die Schaffung von Begeisterung – was sich leichter vorschlagen als umsetzen lässt. Für diesen Ansatz müssen die Sachinteressen des Harvard-Konzepts temporär ausgeblendet werden, denn das Einvernehmen auf der persönlichen Ebene ist eng mit der Person des Gegenübers verknüpft. Leider sind die Dr. Müllers aus dem Beispiel in Abschn. 5.3 noch lange nicht alle im Ruhestand. Sie verkennen weiterhin das Abhängigkeitsverhältnis ihrer Gesellschaft vom Lieferanten und hauen völlig unangebracht aufs Blech. Gewöhnlich fällt es ihnen schwer zu akzeptieren, dass sie als Unternehmenslenker diesmal nicht das Heft des Handelns in der Hand halten. Einkäufer und Verhandlungsführer, welche die Situation aufgrund ihrer Schulung und Erfahrung realistisch einschätzen können und mit ihrem Verhandlungsteam eine adäquate Strategie aufbauen wollen, werden in der eigenen Organisation nicht immer gehört und können als „Anwalt des Lieferanten“ durchaus in Erklärungsnot kommen. Doch nutzen Lieferanten in bestimmten Branchen wie der Halbleiterindustrie ihre Dominanz selten aus, was letztendlich neben ihren Vertragspartnern auch dem Markt und damit ihnen selbst schaden würde. Sie versuchen vielmehr, das Image des eigenen Unternehmens zu verbessern und dem Kunden das Gefühl zu geben, dass er gute Leistung für gutes Geld bekommt. Zum Umgang mit Quasi-Monopolisten – und nicht nur mit diesen – gilt für die Kundenvertreter:
Überwinden Sie Ihr möglicherweise negatives Bild vom Lieferanten.
Denn ein Lieferantenwechsel ist aufwendig und teuer und stellt die Ultima Ratio dar, deren vorschnelle Anwendung vermieden werden sollte. Die Frage für den Kunden lautet also: Wie lässt sich mit einem marktbeherrschenden Lieferanten sinnvoll umgehen und die Beziehung stabilisieren oder gar optimieren? Die längerfristige Option ist natürlich, Wettbewerb aufzubauen. Als kurzfristige Lösung bleibt lediglich, das Beste aus der Situation zu machen – und das gelingt
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
nicht mit Meißel und Brechstange. Dabei gilt es für den Einkäufer, sowohl in Richtung des Lieferanten als auch innerhalb der eigenen Organisation Überzeugungsarbeit zu leisten. Ein einleuchtender Ansatz ist, sich für einen Lieferanten „attraktiv“ zu machen, doch dieser Tipp wird bei manchen Kundenvertretern nur ungern vernommen – er konterkariert offensichtlich die Regel Wer zahlt, schafft an. Die Umsetzung kann gelingen, indem rationale und emotionale Kriterien gleichermaßen berücksichtigt werden. Auf der Sachebene betrifft dies Punkte wie Erreichbarkeit, Zuverlässigkeit, Informationsweitergabe und ein professionelles Lieferantenmanagement (s. Abschn. 7.2). Die Meta-Ebene wird durch Lob, Aufwertung, Interesse an der Person und die konsequente Vermeidung unsauberer Tricks bedient – und durch die Einladung zu einem Lieferantentag, vielleicht sogar verbunden mit einer Ehrung. Ein Plädoyer für das Harvard-Konzept.
Einkäuferregel 9
Machen Sie Ihre Lieferanten zu Partnern und Ideengebern.
Die effektivste Methode der Zusammenarbeit ist, Vorschläge und Ideen des Lieferanten aufzugreifen und ihn gar dazu zu ermuntern. Denn wer sollte – neben den technischen Kollegen des Einkäufers – die Details von Eigenschaften, Design und Konstruktion und deren Auswirkungen auf Kosten und Ursache-Wirkungs-Prinzipien besser verstehen können als der Hersteller des Produkts und der Anbieter der Leistung? Die Triebkräfte zu seiner Motivation lassen sich anhand der Pyramide in Abb. 5.2 veranschaulichen, die ähnlich der
Abb. 5.2 Motivation von Lieferanten
5.10 Vertrauen ist gut
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Maslow’schen Bedürfnishierarchie konstruiert ist (die verschiedene Ebenen von physiologischen Bedürfnissen bis hin zur Selbstverwirklichung abbildet). Während im Beschaffungswesen die Erzielung und Maximierung von Gewinn und die Erreichung einer Liefersicherheit die Basis für die Geschäftsbeziehung darstellen, werden die Eigenschaften zur Spitze der Pyramide hin deutlich anspruchsvoller bis hin zur höchsten Auszeichnung, den Lieferanten zum Ratgeber und sogar Entwicklungs- und Wertschöpfungspartner zu machen (vgl. Richard 2017, S. 23).
5.10 Vertrauen ist gut … Kontrolle ist besser! Eine weitere Lieblingsregel habe ich mir für den letzten Abschnitt in diesem Kapitel aufgehoben; sie lautet in freier englischsprachiger Übersetzung so:
Einkäuferregel 10
You get what you inspect – not what you expect.
Der Spruch, zu dessen Herkunft verschiedene Versionen existieren (z. B. Toedt 2015), drückt aus, dass ungeprüfte Annahmen und Aussagen Dritter nicht als Tatsache akzeptiert werden dürfen, sondern wesentliche Sachverhalte stets einer eigenen Prüfung unterliegen müssen. Diese Vorgehensweise erweist sich in verschiedenen organisierten Abläufen von Vorteil, die eine Qualitätskontrolle erfordern, etwa dem Finanzwesen, dem Vertragsmanagement, der Mitarbeiterführung, im Projektmanagement sowie bei der Messung von geschäftlichen Erfolgen (Davies (o. J. a); Thomet 2007, S. 10; Neely 1998, S. 153). Der mit Blick auf den Einkauf abgewandelte Spruch lautet: „You get what you pay for, not what you say you want.“ (Davies (o. J. b)) Im Personalbereich heißt es nach dem ehemaligen IBM-CEO Louis V. Gerstner: „People don’t do what you expect but what you inspect.“ (Gerstner (o. J.)). Diese Aussagen verbindet die wesentliche Erkenntnis, dass ein Käufer nie auf das vertrauen sollte, was er vom Verkäufer als Leistung erwartet, sondern aktiv Maßnahmen treffen muss, auch wirklich das zu bekommen, was bestellt wurde. „You get what you inspect, not what you expect“ ist gerade bei Beschaffungen in sogenannten Billigländern wie der Volksrepublik China von hoher Bedeutung: Um ein böses Erwachen zu vermeiden, sind guānxì –
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
Beziehungen – zum Management der chinesischen Unternehmen sehr wichtig. Eine Vor-Ort-Besichtigung der Produktion mit Überprüfung von Qualitätswesen und verfügbaren Kapazitäten ist dringend geboten, bevor eine nähere Zusammenarbeit mit einem neuen Lieferanten geplant wird. Dabei darf sich ein Interessent im Hinblick auf kostengünstige Beschaffungen in diesem Land nie auf Lieferantenselbstauskünfte verlassen. (Faust 2012; vgl. Faust und Yang 2013; Wenski 2020, S. 195–201) Fehlt hierfür ein entsprechendes Reisebudget, wird sicherlich am falschen Ende gespart. Es lassen sich zwei Typen von derartigen Vor-Ort-Inspektionen unterscheiden. • Strategische Besuche: Bereits bevor eine größere Bestellung bei einem Anbieter getätigt werden soll – und damit lange vor einer Funktionsprüfung vor Ort – ist sicherzustellen, dass der infrage kommende Lieferant die Bedürfnisse des Kunden erfüllen, also mit seinen Produkten dessen Problem lösen kann. Dies stellt insbesondere bei neuen Lieferanten einen wesentlichen Prüfstein dar, vor allem wenn der Anbieter noch nicht stark im (beispielsweise westlichen) Markt präsent ist. Hierfür können verschiedene Formate dienen: ein technisches Gespräch oder Workshop, ein Management-Meeting, ein informeller Besuch des Kunden mit Betriebsführung oder gar ein komplettes formales Lieferantenaudit (Abschn. 7.2). • Funktionsprüfungen: Wenn industrielles Großequipment bestellt wird, beispielsweise Produktionsanlagen oder Messsysteme für die Halbleiterindustrie, ist in vielen Fällen vor Erteilung der Freigabe zur Auslieferung eine Funktionsprüfung (Source Inspection oder Factory Acceptance Test, FAT) durch Kundenvertreter geboten. In der Regel wird dies im Beisein von technischem Kundenpersonal, meist dem zuständigen Anlageningenieur oder -techniker, durchgeführt. Aufgabe ist es, die Funktionstüchtigkeit des Equipments so realitätsnah wie möglich zu überprüfen (s. Abschn. 4.4).
Hinter den Vorhang geschaut
Gerade bei neuen Lieferanten bzw. Produkten oder Baureihen ist es ratsam, hinter die Kulissen zu blicken. Beim Audit bietet sich an, Arbeitsbereiche auch außerhalb der vorgesehenen Window Tour zu inspizieren. Im Rahmen von Funktionsprüfungen sollten sich die Kundenvertreter beim Besuch zumindest stichprobenartig relevante Zertifikate, Materialbelege und weitere Unterlagen zu installierten Komponenten wie auch Prüfunterlagen anlässlich der Erstellung (z. B. Druck- und Schweißnahtprüfungen) zeigen
Literatur
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lassen. Es kann sinnvoll sein, frühzeitig belastbare Informationen darüber zu verlangen, welche Teile an später nicht mehr zugänglichen Stellen verbaut werden. So wird weitgehend vermieden, dass Lösungen realisiert sind, die nicht der vereinbarten Spezifikation und dem zugrunde liegenden Stand der Technik entsprechen, etwa unterdimensionierte mechanische oder elektrische Komponenten sowie falsche Materialauswahl, Stabilisierung, Fixierung etc.
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5 Verhandlungsregeln für technische Einkäufer
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Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
Im Folgenden erfahren Sie – fast – alles, was Sie als Einkaufsleiter in einem modernen Industrieunternehmen wissen müssen. Als ein zentraler Garant für den wirtschaftlichen Erfolg sind Sie offen für Neues und haben bereits vielfältige Erfahrungen gesammelt. Obwohl Sie als Manager in Fachaufgaben schnellere Erfolge sehen (wollen), sollten Sie als Führungskraft agieren.
Wenden wir uns nach der Betrachtung des Einkäufers und den Ausführungen zu Vergabeverhandlungen nun der nächsthöheren Ebene im Organigramm einer Gesellschaft zu. Das Thema Führung (englisch Leadership) ist nicht nur für Unternehmensleitung und oberes Management relevant, sondern betrifft auch den einzelnen Einkäufer z. B. in seiner Funktion als Verhandlungsführer, Teamleiter oder Vorgesetzter im mittleren Management. In diesem Kapitel wird der Einkaufsleiter als die zentrale Führungsfigur in der Beschaffungsabteilung eines Unternehmens ins rechte Licht gerückt. Es ist zu berücksichtigen, dass Verhandeln und Führen zwar viel miteinander zu tun haben und im Hinblick auf die erfolgreiche Durchführung teilweise ähnliche Voraussetzungen erfordern, wie wir noch sehen werden – allerdings sind an einen guten Einkaufsleiter andere Anforderungen zu stellen als an einen guten Verhandler für praktische Beschaffungsgeschäfte. Die neuere Verhandlungsforschung zeigt, dass Verhandlungskompetenz nicht automatisch mit der zunehmenden Führungserfahrung wächst; selbst alte Hasen im Führungsgeschäft können über ausgesprochen übersichtliche Fähigkeiten im Verhandeln verfügen (Tewes 2015). Das Talent, direkt mit Lieferanten zu verhandeln und bestmögliche Konditionen zu erzielen, ist heute zumindest in größeren Unternehmen keinesfalls mehr Voraussetzung für einen wirksamen Einkaufsleiter. Im Idealfall steht © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_6
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
ihm dafür ein fähiges Einkäuferteam zur Seite, dessen Erfolg er verantwortet. Seine eigenen Stärken sollten eher im strategischen und im Führungsbereich mit den dafür erforderlichen Kompetenzen liegen. Doch auch für die Erledigung der damit verbundenen Aufgaben kommt der Einkaufsleiter um das Verhandeln nicht herum – innerhalb der Organisation mit Mitarbeitern, Betriebsrat, Kollegen und der Leitung, und ebenso mit externen Stellen wie Verbänden, Behörden und anderen Unternehmen. Außerdem repräsentiert er im Rahmen von Beschaffungsverhandlungen eine wichtige höhere Ebene und Eskalationsstufe (Abschn. 6.2 und 7.4).
6.1 Stellung, Aufgaben und Kompetenzprofil Einkaufsleiter von Großunternehmen stehen längst nicht so stark im Fokus des öffentlichen Interesses wie Entwicklungsverantwortliche, Finanzvorstände oder gar CEOs. Dennoch verdanken sie das Erreichen der oberen Führungsposition bestimmten Eigenschaften und Qualitäten, die ihre Karriere befördert haben. Wie bei allen Top-Managern ist ihr Erfolg nicht immer auf konstruktives und empathisches Verhalten zurückzuführen, sondern kann im Einzelfall durchaus auch in negativ angesehenen Eigenschaften begründet sein.
Die Dunkle Triade
Dieser Dreiklang charakterlicher Abgründe umfasst Menschen, deren Handeln von Narzissmus, Machiavellismus und subklinischer Psychopathie geprägt ist und von Paulhus and Williams 2002 erstmals beschrieben wurde (vgl. Goleman 2006; Wikipedia 2020c). Folgende Aussagen kennzeichnen die drei Typen in komprimierter Form: • Narzisst: „Die anderen sind dazu da, um mich zu bewundern.“ • Machiavellist: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ • Psychopath: „Ich agiere rücksichtslos ohne Angst vor Konsequenzen.“ Für jede der Einzeldimensionen existieren umfangreiche Forschungsergebnisse. So ist bekannt, dass narzisstische Persönlichkeiten offenbar leichter in Führungspositionen gelangen (s. z. B. Greene 2018, S. 42–71). Gerade Machiavellisten und Psychopathen sind in ihrem engeren Umfeld meist extrem unbeliebt. Zur hier beschriebenen Thematik passen die Resultate einer neuen Studie der University of Oregon, nach denen vor allem die
6.1 Stellung, Aufgaben und Kompetenzprofil
171
ökonomisch geprägten Studienfächer BWL und Management besonders attraktiv für Dunkle-Triade-Charaktere zu sein scheinen. Nach Meinung der Befragten eignen sich Personen mit diesen Eigenschaften auch als Rechtsanwälte und Musiker. (Kay und Saucier 2020)
Erfolgreiche Einkaufsleiter Zunächst soll die Rolle eines als erfolgreich anzusehenden Einkaufsleiter näher betrachtet werden: was ihn auszeichnet, was er können und lernen muss. Eine narzisstische, machiavellistische und/oder psychopathische Persönlichkeit scheint hierfür nicht unbedingt geeignet (wie die Resultate der in Abschn. 1.5 erwähnten Automobilindustrie suggerieren). Die Hauptaufgaben eines Einkaufsleiters liegen wie erwähnt weniger im Verhandeln mit den Lieferanten, sondern vielmehr in der strategischen Ausrichtung und Weichenstellung innerhalb der Beschaffungsabteilung. Sehen wir uns zunächst die Stellung des Einkaufsleiter oder „Leiter Beschaffung“ im Unternehmen an und gehen von einer psychisch stabilen Persönlichkeit mit ausreichend ausgeprägter Sozialkompetenz aus. Der Einkauf ist als nicht-operative Einheit vielfach der Verwaltung zugeordnet. Bei kleineren Organisationen (z. B. im Anlagen- und Maschinenbau) wird diese wichtige Tätigkeit – leider – in manchen Fällen so nebenher erledigt, ohne die Hebelwirkung von Beschaffungserfolgen zu erkennen und zu nutzen, in Einzelfällen sogar in Personalunion mit dem Vertrieb. In größeren Konzernen hat der globale Einkaufsleiter eine starke Stellung und zählt zum inneren Leitungszirkel. Er blickt als Senior oder Corporate Vice President in einer modernen Hierarchiestruktur mit regionalen oder für einzelne Geschäftsfelder zuständigen Einkaufsleitern (Director), Gruppenleitern (Senior Manager) und Sachgebietsleitern (Manager) auf mehrere ihm unterstellte Führungsebenen. Vielen Lieferanten würde es sicherlich beim Verständnis der Zuständigkeiten helfen, wenn sie Zugriff auf ein Organigramm der Kundengesellschaft erhalten könnten. u
In den meisten Organisationen ist der Einkaufsleiter als obere Führungskraft (OFK) eingestuft.
In der angelsächsischen Titelvergabe wird die Funktion auch als Chief Procurement Officer oder Chief Purchasing Officer1 bezeichnet, abgekürzt CPO.
1teilweise
ebenso Chief Purchase Officer
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
Doch bei der Übersetzung der Stellenbezeichnung ins Deutsche ist zu beachten: Bei weitem nicht jeder Einkaufsleiter ist ein CPO – diese Bezeichnung ist bevorzugt in Konzernen mit stark globaler Ausrichtung zu finden. In Gesellschaften, in denen Rohstoffbeschaffung und/oder Einkauf eine strategische Rolle spielen, ist ein CPO oft selbst Vorstandsmitglied („Vorstand Einkauf“); dies trifft auf 70 Prozent aller großen deutschen Unternehmen zu. Dabei kann es sich durchaus um einen Schleudersitz handeln: Gemäß einer CAPS Research-Studie beträgt die durchschnittliche Verweildauer von CPOs in den Fortune 500 Firms 4,2 Jahre (CAPS 2014). Der Einkaufsleiter (bzw. CPO) nimmt eine klassische Führungsrolle wahr, die hinsichtlich ihrer Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg nicht zu unterschätzen ist. In einem Unternehmen sollte es daher nur einen Einkaufsleiter mit Richtlinienkompetenz oder direktem disziplinarischem Durchgriff geben, bei dem die Fäden aus allen Beschaffungsgruppen und Standorten zusammenlaufen. Diese Forderung ist unabhängig davon, ob die Organisation mit einem Zentraleinkauf, lokaler Beschaffungshoheit oder einer Zwischenlösung arbeitet. Im Gehaltsreport der Kloepfel Group für die DACH-Region (Cetinkaya et al. 2018) ist zu lesen, dass Einkaufsleiter im Durchschnitt mit 80.600 Euro und CPOs mit 109.700 Euro jährlich vergütet werden, wobei die Werte stark von Einkaufsvolumen, Branche, Region, Unternehmensgröße und Bildungsabschluss abhängen. In anderen Quellen findet man niedrigere Zahlen (Duerr 2018: 52.000 Euro durchschnittliches Jahresgehalt mit starker Variation). In Großkonzernen werden teilweise signifikant höhere Gehälter gezahlt. Die Übernahme von Verantwortung lohnt sich: Der Durchschnittsjahresverdienst eines normalen Einkäufers beträgt lediglich 58.400 Euro (Cetinkaya et al. 2018) – an anderer Stelle wird eine Spanne von 40.000 bis 80.000 Euro mit signifikanten branchentypischen Schwankungen genannt (Klinkusch 2020). Zu den Aufgaben eines Einkaufsleiters und CPO finden sich einige Quellen, wobei sich englischsprachige Beiträge in der Regel auf CPOs beziehen (z. B. KPMG 2017; Duerr 2018; Umbenhauer und Younger 2018; Wikipedia 2020b). Der Einkaufsleiter ist gemäß seiner Berufsbezeichnung grundsätzlich für die Beschaffung innerhalb einer Gesellschaft zuständig. Nach einer sehr abstrahierten Unterteilung fallen dieser Funktion zwei wesentliche Aufgaben zu: 1. (Mit-)Erstellung und Umsetzung der Einkaufsstrategie eines Unternehmens 2. Führung der Mitarbeiter in der Einkaufsabteilung Während unter 1. Fachaufgaben zu verstehen sind (Abschn. 6.2), werden die Leitungs- und Führungsaufgaben nach 2. (Abschn. 6.3, 6.4 und 6.5) von vielen Managern unterschätzt. Beide Schwerpunkte sind von hoher Wichtigkeit und
6.1 Stellung, Aufgaben und Kompetenzprofil
173
gleichermaßen bedeutsam – und rangieren deutlich vor weiteren Tätigkeiten vor allem administrativer und repräsentativer Natur. Strategische und Führungskompetenz In strategischer Hinsicht steuert der Einkaufsleiter die Beschaffungsaktivitäten einer Organisation und ist damit für die Leitung und Kontrolle einer wesentlichen für das Geschäftsergebnis relevanten Einheit verantwortlich. Er soll in Zeiten zunehmender Digitalisierung und Globalisierung mit seinem Personal die Einkaufskosten und die Lieferzeiten reduzieren und gleichzeitig die Qualität der eingekauften Waren verbessern. Dabei fallen in seinen Zuständigkeitsbereich ebenfalls alle Aspekte der operativen Umsetzung. Als Führungskraft muss er sein Personal auswählen, strukturieren, anleiten und beschäftigen und für ein konstruktives Arbeitsklima mit hoher Leistungsbereitschaft sorgen; er ist Bindeglied zwischen Top-Management und Belegschaft. Letztlich – eine zutreffende Feststellung von Unternehmer Richard Branson – sind seine Mitarbeiter sein höchstes Kapitel, und in einer bestehenden und eingespielten Organisation wird der Einkaufsleiter bei nicht optimalen Leistungen seiner Abteilung andere Kräfte nur sehr schwer bekommen. Branson sagte übrigens auch: „Nicht der Kunde kommt zuerst, sondern der Mitarbeiter. Kümmern Sie sich um Ihre Mitarbeiter, diese kümmern sich um Ihre Kunden.“ (Zitate (o. J.)) Welche Kompetenzen benötigt der Einkaufsleiter bei näherem Hinsehen? Und wie kann er seine Aufgaben angehen, um im Sinne seines Arbeitgebers die höchstmögliche Effizienz zu entfalten? Beginnen wir eine Betrachtung durch die Brille deutscher Unternehmen mit den fachlichen Anforderungen, die an einen modernen Einkaufsleiter zu stellen sind. u Geeignete Interessenten für die Führungsposition des Einkaufsleiters sollten sich von den Anforderungen nicht abschrecken lassen, denn im Gegensatz zur vielfach geäußerten Anschauung (z. B. in Duerr 2018) ist das Studienfach – die meisten Einkaufsleiter und nahezu alle CPOs sind Akademiker – von sekundärer Bedeutung. Der Lehrstoff einiger Fakultäten wie der Geisteswissenschaften ist bei der Bewältigung der Anforderungen weniger hilfreich, doch mit einem Studienabschluss in Wirtschaftswissenschaften, einem MINT-Fach, Jura oder Psychologie liegt ein Aspirant vermutlich nicht verkehrt. Eine Bemerkung am Rande: Während in Deutschland einige Universitäten und Fachhochschulen inzwischen einen eigenen Studienzweig für Vertriebsingenieure anbieten, fehlt ein Pendant
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
für den Einkauf, und „Einkäufer(in)“ ist nicht einmal ein Ausbildungsberuf (s. Abschn. 2.1).
Kompetenzen eines Einkaufsleiters
Ungeachtet des fachlichen Abschlusses ist erfolgskritisch, dass es sich beim Einkaufsleiter um eine durchsetzungsstarke Führungspersönlichkeit mit einem gesunden Mix aus Rationalität und Empathie handelt. Der ständige Dialog mit Mitarbeitern, Unternehmensleitung und Lieferanten erfordert sowohl ausgeprägtes diplomatisches Geschick und ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz und Kooperationsvermögen als auch Geduld, Resilienz und Nervenstärke. Ein gesundes Verhältnis zu Zahlen wird erwartet, ebenso Verhandlungsgeschick [sic!], interkulturelle Kompetenz, eine rasche Auffassungsgabe und Erfahrung in Führungsaufgaben, sinnvollerweise in verschiedenen Abteilungen (darunter vorteilhaft Beschaffung, Logistik und/oder Vertrieb). Eine Grundvoraussetzung für derartige Führungsfunktionen ist die ausgeprägte Fähigkeit und Bereitschaft zu unternehmerischem Denken und Handeln.
Die Redensart, dass jeder einfache Soldat den Marschallstab im Tornister trage, wird Napoleon zugeschrieben; gerade in Kriegszeiten sind ungewöhnlich rasche und steile Karrieren möglich. Hingegen befinden sich Unternehmen normalerweise nicht im Krieg, und daher ist es eher die Ausnahme als die Regel, dass ein Einkäufer (selbst als Gruppenleiter) im Zuge einer Nachfolgeregelung auf die nächsthöhere Ebene des Einkaufsleiters versetzt wird. Wie in der Übersicht oben angedeutet kommen die Kandidaten für diese Führungsposition oft aus anderen Funktionsbereichen (oder sogar von außerhalb) und werden im Rahmen ihrer Karriereentwicklung mit dieser für sie neuen Aufgabe betraut. Lernen durch Scheitern Der Einkaufsleiter eines produzierenden Unternehmens ist ein zentraler Garant für dessen wirtschaftlichen Erfolg, denn das Beschaffungsvolumen macht einen gravierenden Teil der Gesamtausgaben aus – das kam bereits zur Sprache. Dies ist jedoch keine One Man Show eines Individualisten, sondern der Erfolg basiert immer auf Delegation und Teamarbeit. Seine Wirksamkeit hängt wesentlich von der Leistung seiner Abteilung und somit von Fähigkeit und Motivation des Personals ab. Dazu ist ein modernes Führungsverhalten notwendig, das auf Kommunikation, Selbstbestimmung und Weiterentwicklung der Belegschaft basiert.
6.1 Stellung, Aufgaben und Kompetenzprofil
175
Zur Personalführung und den notwendigen Voraussetzungen erscheint regelmäßig eine Vielzahl von Druckwerken und Internet-Beiträgen; eine Übersicht würde den Rahmen sprengen. Bemerkenswert ist, auf welche Weise der bei Bewerbern und Angestellten sehr beliebte Google-Konzern sein Personal auswählt. Wie die New York Times vor einiger Zeit berichtet hat, sind dort gute Noten als Einstellungskriterium nicht ausreichend (Friedman 2014). Daher werden bei den Bewerbern fünf Kernkompetenzen überprüft: generelle Expertise, allgemeine Auffassungsgabe, Emergent Leadership (das heißt bei Bedarf eine Führungsrolle anzunehmen und diese anschließend wieder abzutreten) sowie Verantwortungsgefühl für die übernommen Aufgaben. u Das fünfte Einstellungskriterium bei Google lautet Demut und Bescheidenheit. Vor allem dieses Eigenschaftenpaar ermöglicht das wichtige Lernen durch Scheitern. Einige frühere und aktuelle Führungskräfte in der Wirtschaft weisen dabei zweifellos Defizite auf. Statt auf ein Mindestmaß an Harmonie zu achten, verfallen sie bei Problemen in operative Hektik oder werden cholerisch und aggressiv (insbesondere als Vertreter der Dunklen Triade). Es menschelt überall, egal wie hoch man blickt. Auch Abteilungsleiter oder Vorstände betragen sich manchmal wie kleine Kinder: launisch, eifersüchtig und rechthaberisch – charakterlich bedingte bzw. im Elternhaus erlernte Verhaltensmuster lassen sich eben nie ganz eliminieren (vgl. Greene 2018, S. 102–130). Dabei ignorieren sie, dass Beschäftigte normalerweise sehr arbeitswillig sind und am kreativsten, wenn sie sich in einer entspannten Atmosphäre entfalten können und nicht ständig mit einem oft irrationalen Druck zu kämpfen haben. Anstatt ihr Personal zu führen, eine Pufferfunktion gegenüber den Top-Ebenen des Unternehmens wahrzunehmen sowie für ihre Mitarbeiter berechenbar und verlässlich zu agieren, verbreiten diese Manager Unsicherheit, Verwirrung und Angst. Der daraus resultierende betriebswirtschaftliche Schaden kann enorm sein. Doch derart düstere Szenarien sollen denjenigen nicht abschrecken, der die Chance bekommt, sich als Einkaufsleiter zu bewähren und im Unternehmen zu profilieren. Im Internet sind zahlreiche Tipps und Anleitungen verfügbar, wie man sich in den ersten 100 Tagen als CPO verhalten und seine Prioritäten setzen sollte (z. B. KPMG 2017; Tennyson 2017). Beispielsweise lauten bei KPMG 2017 (S. 2) die drei Schlüsselaspekte Understanding, Managing and Developing the
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
way forward. Der neue Einkaufsleiter muss rasch ein profundes Verständnis für Geschäftskultur, Anforderungen und seine Stakeholder erlangen. Managen (im Sinne von Führen; s. u.) beziehen die Verfasser auf die Bereiche Kommunikation, Geschäftserwartungen und die permanent neuen Herausforderungen (Change Management). Der Blick nach vorn soll durch überzeugende Visionen und eine solide Planung geebnet werden. Wie in jedem neuen Job und angesichts der damit verbundenen Herausforderungen sind neben gut gemeinten Ratschlägen Dritter auch die eigene Intuition und das Bauchgefühl – die innere Stimme – vertrauensvolle Ratgeber. Hierzu ein allgemeingültiger Tipp: u Verschaffen Sie sich unmittelbar nach Antritt einer neuen Stelle oder Position (nicht nur als Einkaufsleiter) einen Überblick über Situation, Rahmenbedingungen und Herausforderungen und arbeiten Sie von innen nach außen – das Wesentlichste und Dringendste hat Priorität und wird zuerst angegangen.
6.2 Strategische und operative Ausrichtung des Einkaufs Nach einer aktuellen internationalen Umfrage von Deloitte messen 78 Prozent der befragten Einkaufsleiter Kostenreduktionen eine hohe Bedeutung zu. 58 Prozent sehen die Schwerpunkte des kommenden Jahres in Marktentwicklung und neuen Produkten und 54 Prozent beim Risikomanagement (Umbenhauer und Younger 2018, S. 2). 61 Prozent konnten 2018 höhere Savings ausweisen als 2017. Strategische Ausrichtung Der Kostenaspekt scheint nach wie vor das Top-Thema für die Beschaffungsabteilung zu sein, da er einen wesentlichen Anteil am Gewinn des Unternehmens bestimmt. Jeder Einkaufsleiter und viele seiner Mitarbeiter bekommen immer wieder den Satz zu hören: u
Im Einkauf liegt der Gewinn.
Und der Einkaufsleiter ist der Verantwortliche für alles, was eine Gesellschaft einkauft, egal ob Investitionsgüter, Verbrauchsmaterialien oder Dienstleistungen. Je nach Größe des Unternehmens sowie Art und Strukturierung des Geschäfts wird er sich mehr auf operative oder strategische Aufgaben
6.2 Strategische und operative Ausrichtung des Einkaufs
177
Abb. 6.1 Warenbeschaffung: Der Einkaufsleiter ist verantwortlich
konzentrieren (s. Abschn. 1.2 und 2.1; Abb. 6.1). Für die operativen Tätigkeiten, die klassische Materialwirtschaft, sei auf Kap. 1 verwiesen; die folgenden Betrachtungen gehen von einem Einkaufsleiter bzw. CPO aus, der mit Gruppenleitern und deren eigenen Mitarbeitern im Organigramm mindestens zwei Hierarchieebenen unter sich hat und der Führungsaufgaben und strategische Themen bearbeitet. Ein modernes Industrieunternehmen besitzt eine Gesamtstrategie, die sich von seiner Mission und Vision ableitet. Letztere sind als Elemente des Unternehmensleitbildes zu verstehen, die vermitteln, welches übergeordnete Ziel in der Zukunft erreicht werden soll. Das Mission Statement ist die Grundlage und beschreibt den Unternehmenszweck, bringt also auf den Punkt, warum es das Unternehmen gibt bzw. welchen positiven Beitrag es für Kunden und Gesellschaft leistet. (IONOS 2019) Aus der Mission ergeben sich über die interhierarchische Zusammenarbeit die Ziele für die Unternehmensleitung, die mittels der Gesamtstrategie umgesetzt werden sollen (Abb. 6.2). Nach unten pflanzt sich eine Kaskade aus Strategien
Abb. 6.2 Zusammenhang zwischen Zielen (Z), Strategien (S) und Maßnahmen (M)
178
6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
und resultierenden Maßnahmen für die eigene Ebene und Ziele für die nächste Ebene fort, etwa die Einkaufsabteilung. Daraus resultieren wiederum Strategie und Maßnahmen der Einkaufsleitung sowie Ziele für Unterorganisationen, die in einer Strategie für Teilgebiete des Einkaufs münden usw. Bedenke: Eine bestimmte Ebene kann demnach nie ihre Ziele an die ihr unterstellte Ebene „durchreichen“. Durch die Entwicklung der Gesamtstrategie werden während eines Planungsprozesses Handlungsrahmen und Verständnis geschaffen, mit welchen Maßnahmen die angestrebten Unternehmensziele zu erreichen sind. Diese Ziele basieren auf Daten und Kenntnissen zum Unternehmen selbst sowie Informationen über die Märkte beziehungsweise deren Entwicklungen. (Stollenwerk 2016; vgl. Richard 2016, S. 6–16) Mit Blick auf den Einkauf wird dem Anspruch einer langfristigen strategischen Ausrichtung maßgeblich durch die Entwicklung und Umsetzung von adäquaten Einkaufsstrategien Rechnung getragen. Die damit verbundenen Aufgaben der Einkaufstrategieentwicklung bzw. der strategischen Einkaufsplanung sind im Rahmen des Einkaufsmanagements organisiert. (Schuh et al. 2014) Die Einkaufs- oder Beschaffungsstrategie, zur Abgrenzung von der Verhandlungsstrategie (Abschn. 3.2) auch Supply-Strategie genannt (Orpheus 2019), umfasst somit die grundlegenden Entscheidungen und Maßnahmen in Bezug auf die Versorgung des Unternehmens mit Gütern und Leistungen – als Voraussetzungen für den mittelfristigen Erfolg über Wettbewerbsvorteile in den Absatzmärkten. Diese Strategie stellt eine Art Roadmap dar, die gemeinsam von Einkauf, Entwicklung, Logistik, Qualität, Marketing und gegebenenfalls weiteren Abteilungen erarbeitet werden sollte. In den meisten Gesellschaften wird die Strategieentwicklung vom Einkauf koordiniert, und verantwortlich ist natürlich – der Einkaufsleiter. Fachliche Aufgaben Im Einzelnen sehen die fachlichen Hauptaufgaben eines Einkaufsleiters, aus denen er die Ziele seiner Mitarbeiter ableitet und Teilverantwortung delegiert, wie folgt aus: • Erarbeitung der Einkaufsstrategie (gegebenenfalls in Kooperation mit dem Top-Management) • systematische Analyse der Einkaufsmärkte und Beobachtung von Marktbewegungen
6.2 Strategische und operative Ausrichtung des Einkaufs
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• Identifizierung neuer wirtschaftlicher Trends, Beschaffungsmärkte und Lieferanten • Kontaktpflege vor allem mit Schlüssellieferanten sowie strategisch wichtigen Kunden • finale Entscheidung bei Lieferantenauswahl und relevanten Beschaffungsvorgängen • fortlaufende Optimierung des gesamten Beschaffungsprozesses, um Qualitäten zu verbessern, Lieferzeiten zu verkürzen und Kosten zu sparen • Sicherstellung, dass alle benötigten Waren und Dienstleistungen zeitgerecht geliefert und bezahlt werden • Optimierung der Lagerbestände • Implementierung und konsequente Anwendung eines Systems zum Vertragsmanagements • Implementierung und ständige Kontrolle von Systemen zum Lieferantenmanagement und zur Risikosteuerung • Implementierung und ständige Kontrolle von Systemen zum Verhandlungscontrolling • Implementierung und Überwachung eines funktionierenden C omplianceSystems zur Einhaltung aller verpflichtenden und freiwilligen Normen und Vorgaben • Regelung der Abläufe und Rahmenbedingungen durch ein Einkaufshandbuch • Budgeterstellung und -kontrolle • Koordination und Freigabe von Reiseaktivitäten innerhalb der Abteilung • Organisation und Kontrolle eines adäquaten Berichtswesens • Vorgabe und Kontrolle von Indikatoren zur Zielerreichung, z. B. über Score Cards • Förderung von Best Practice und Benchmarking • Ausrichtung von Workshops, Lieferantentagen und ähnlichen Formaten zum Austausch • externe Repräsentation des Unternehmens z. B. bei Verbänden, Behörden und anderen Organisationen • u. v. m. Die Kunst bei zahlreichen dieser Aufgaben liegt darin, praktisch handhabbare Systeme zu installieren, welche die Abläufe weder durch überbordende Regulierung und Bürokratie behindern noch durch fragmentarische Gestaltung bzw. Durchführung gefährden. Dieser Spagat gelingt den wenigsten Organisationen optimal.
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
Der Einkaufsleiter als höhere Ebene
Von einem sollte ein moderner Einkaufsleiter oder CPO, der über kompetente Fachleute in seiner Abteilung verfügt, möglichst absehen: persönlich an Verhandlungen auch mit hoher Bedeutung bzw. um nennenswerte Beschaffungssummen teilzunehmen. Man liest zwar oft, dies sei eine der Schlüsselaufgaben eines erfolgreichen Einkaufsleiters – doch das trifft nach meiner Überzeugung nicht zu, denn die Verhandlungsposition der Mitarbeiter kann dadurch eher geschwächt werden (vgl. Inspector Columbo in Abschn. 2.3). Selbst bei strategisch bedeutenden Kunden und langfristigen Verträgen ist geboten, dass er sich zurückhält und seinen Input und seine Vorgaben lediglich in den Vorbereitungsgesprächen beisteuert. Ein Eingreifen ist dann geboten, wenn die erste Verhandlungsrunde nicht zur gewünschten Vereinbarung im abgesteckten Zielkorridor geführt hat – das Risiko ist also bis dahin für Unternehmen und Einkaufsleitung überschaubar. Dann wird meist die nächste Ebene als Eskalationsinstanz einbezogen, und der Einkaufsleiter kann seine Stärken ausspielen. Dies sollte jedoch bevorzugt kraft seiner funktionalen Autorität geschehen und weniger ein Ausdruck geschickten Argumentierens und Verhandelns sein (was wiederum negativ auf den Verhandlungsführer, seinen verantwortlichen Mitarbeiter, zurückfallen könnte).
6.3 Management und Führung Der Erfolg eines Unternehmens wird maßgeblich durch die Leistungen der Mitarbeiter beeinflusst; um diese Leistungen abzurufen, bedarf es eines passenden Chefs mit bestimmten Qualitäten (M+M 2019; s. auch Jotzo 2012). Eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit gehört zu den wichtigsten „Skills“ der Führungskraft. Führung wird heutzutage als eigener Beruf angesehen und nicht mehr als Gegensatz zur eigentlichen Arbeit (Seliger 2008). Die folgenden Ausführungen behandeln gute Führung im Allgemeinen und beschreiben Anforderungen an die Führung einer Einkaufsabteilung im Speziellen. Es ist unbestritten, dass für Menschen- und in diesem Zusammenhang auch Mitarbeiterführung einerseits gewisse Systeme und Werkzeuge benötigt werden, wie Mitarbeitergespräche, Zielfestlegungen, Vergütungs- und Bonussysteme, Kommunikations- und Organisationsschemata – die Liste lässt sich beliebig verlängern. Andererseits erfordert Führung menschliche Qualitäten, die dem
6.3 Management und Führung
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Oberbegriff Führungskompetenz, heute als Teilbereich der Managementkompetenz aufgefasst, zugeordnet sind. Dabei tauchen zwei Termini im unmittelbaren Kontext auf, die allerdings unterschiedliche Bedeutungen besitzen: Management und Führung. In diesem Zusammenhang gilt es zu beachten: Manager und Führungskraft (Wikipedia 2020g, 2020e) werden im AlltagsSprachgebrauch vielfach fälschlicherweise als Synonyme verwendet. Ähnliches gilt für die Unterschiede zwischen einem Vorgesetzten und einer Führungskraft.
Management (wörtlich „Führen mit der Hand“) bedeutet, gelernte und anerkannte Methoden auf bereits dagewesene und wiederkehrende Herausforderungen anzuwenden, etwa über Durchführung und Überwachung von Abläufen und Sicherstellung des Betriebs. Führung beschäftigt sich mit neuartigen und unbekannten Herausforderungen. Zu den Führungsaufgaben gehören unter anderem das Festlegen einer bestimmten Marschrichtung im Unternehmen sowie der Umgang mit Neuem und Unvorhergesehenem. Zur Führung sind auch immer Mut und Bereitschaft für Veränderungen notwendig – nicht nur in Krisenzeiten. Führungskräfte müssen oft Überzeugungsarbeit gegen bestehende innere Widerstände leisten. Sie werden für kreative Leistungen bezahlt, nicht für anspruchslose Tätigkeiten – für Weichenstellungen und die Realisierung von Vorgängen und Veränderungen mit Tragweite, nicht für das Mikromanagement der Angestellten und die Erledigung von Papierkram. Routineaufgaben sind zwar gut und schön und befriedigend, weil man am Ende des Tages das Gefühl hat, etwas getan zu haben – jedoch nicht das, was der Unternehmer von einer effizienten Führungskraft erwartet. Erfolgreiche Führungskräfte wissen:
Selbstmanagement ist Teil der Mitarbeiterführung.
Führungskräfte werden bei ihren Mitarbeitern nur als solche wahr- und ernst genommen, wenn sie sich „im Griff haben“ (sich selbst managen), kompetent und authentisch auftreten und bei anderen ankommen. Sie berücksichtigen eine Reihe von Punkten, die ihnen bei der Belegschaft Akzeptanz und Glaubwürdigkeit einbringen; die meisten Beschäftigten lassen sich davon mitreißen: • Sie achten auf ihren äußeren Eindruck und zeigen eine positive Körpersprache. • Sie strahlen Ruhe und Souveränität aus und vermeiden operative Hektik.
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
Sie sind motiviert (aber nicht übermotiviert) und willensstark – und berechenbar. Sie sind Neuem gegenüber aufgeschlossen und werben dafür. Sie haben ein ausgeglichenes Kompetenzprofil und nutzen ihre Stärken. Sie geben sich beim Verfassen von elektronischen Nachrichten und Dokumenten Mühe. Sie haben klare Zielvorstellungen und bieten eine nachvollziehbare Kommuni kation. Sie sind an nachhaltigem Erfolg interessiert und schaffen dafür die Voraussetzungen. Sie arbeiten an ihrer eigenen Karriere und fördern die Entwicklung ihrer Mitarbeiter. Sie sind gut vernetzt und haben Beziehungen. Sie sind ehrlich, authentisch, empathisch und persönlich engagiert. Sie leben gesund und treiben Sport – auch zur Stressreduktion. Kurz und gut: Diese Führungskräfte sind Vorbild!
Tipps zur Mitarbeiterführung
• Empathie ist eine der wichtigsten Führungseigenschaften. Behandeln Sie Ihre Mitarbeiter korrekt, fair, gerecht und mit Wertschätzung und Respekt, mit Freundlichkeit und Toleranz. Glauben und vertrauen Sie ihnen solange, bis – im Einzelfall – das Gegenteil erwiesen ist, nicht umgekehrt. • Erkennen Sie, wie und womit Sie die Mitarbeiter intrinsisch motivieren können – erweiterte Kompetenzen, organisatorische Wünsche (Arbeitszeitmodell, Homeoffice …), Jobrotation u. v. m. Erfüllen Sie subjektive Wünsche. Anerkennung und Kritik sind wesentliche Führungsinstrumente – loben Sie angemessen, ohne zu übertreiben, das wirkt künstlich.2 • Jeder Mitarbeiter sehnt sich nach einer sinnvollen Aufgabe, über die er Anerkennung und Selbstbestätigung erhält. Richten Sie Ihre Arbeitsprogramme danach aus. • Versuchen Sie, statt durch strikte Direktiven ihr Personal mit einem „sanften Hinstupsen“ (Nudging) zu wünschenswerten Verhaltensweisen zu ermuntern. (Thaler und Sunstein 2011)
2Die
tradierte Devise lautet: „Nicht geschimpft ist genug gelobt.“
6.4 Mitarbeiterführung und Schulung im Einkauf
183
• Sorgen Sie für eine individuelle Beratung und Förderung jedes Einzelnen – fragen Sie die Mitarbeiter nach ihren Zielen und zeigen Sie persönliche Perspektiven, aber auch Grenzen auf; dazu helfen die vielfach im Unternehmen vom Personalwesen angebotenen Formate und Werkzeuge. • Kommunikation ist eine Führungsaufgabe: Mitarbeiter dürfen von ihren Vorgesetzten erwarten, ausreichend informiert und an sie betreffenden Entscheidungen weitgehend beteiligt zu werden. Berichten Sie aus Routinegesprächen mit der Unternehmensleitung, soweit zulässig und angebracht – das schafft Vertrauen. Sagen Sie offen, was entschieden wurde und wo eine Beteiligung nicht vorgesehen ist. • Der Handlungsspielraum der Beschäftigten sollte maximal ausgedehnt und ihre Selbstbestimmung gefördert werden – Verantwortung in Teilen zu delegieren dient der Weiterentwicklung der Mitarbeiter und der Effizienzsteigerung in Gruppe, Abteilung und Unternehmen. Erst herausfordernde Aufgaben ermöglichen Erfolgserlebnisse. • Mikromanagement ist zu vermeiden. Doch Vorsicht: Manche Angestellten benötigen eine engere Führung und sind mit zu großen Freiheiten überfordert. • Bleiben Sie Ihrer eigenen Linie treu und ändern Sie Ihre Meinung nicht zu oft – das verwirrt Ihre Mitarbeiter. Es kommt in der Belegschaft stets gut an, wenn ein Vorgesetzter Zivilcourage zeigt, insbesondere nach oben. Lösen Sie immer ein, was Sie versprochen haben – oder im Umkehrschluss, versprechen Sie am Besten nichts, das Sie nicht halten können. • Behandeln Sie Ihre Mitarbeiter so, wie Sie selbst behandelt werden möchten. Agieren Sie stets als Vorbild. Und bedenken Sie: Sie können mit einem einzigen falschen Satz das zerstören, was Sie in Jahren an Vertrauenskultur aufgebaut haben.
6.4 Mitarbeiterführung und Schulung im Einkauf Ein für seine Aufgaben geeigneter Einkaufsleiter versteht es, mit seiner Abteilung den optimalen Beschaffungserfolg vor dem Hintergrund einer optimierten Arbeitszufriedenheit zu realisieren. Dagegen glänzt ein inkompetenter Manager bestenfalls durch Nichteinmischung und Abwesenheit und wird von der Beleg-
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
schaft ignoriert, schlimmstenfalls stört er jedoch die Abläufe, schüchtert Mitarbeiter ein und gefährdet Ergebnisse. Das Wechselspiel aus ungeeigneten Führungskräften und fähigen Mitarbeitern ist aus Film und Fernsehen bekannt und verlässlich Anlass zur Belustigung – denken Sie beispielsweise an in Venedig und Münster spielende Kriminalfilme oder die allgegenwärtigen Dilbert-Comics. Führungsaufgaben des Einkaufsleiters Kompetente Vorgesetzte wirken stets souverän und ausgeruht und bleiben bei erweiterter Personalverantwortung (etwa als Einkaufsleiter oder CPO) ihren Maximen und Prinzipien treu. Sie akzeptieren grundlegende Dos and Don’ts der Personalführung und wenden sie an, doch eine gute Mitarbeiterführung basiert auch auf Gefühl und Intuition gepaart mit Erfahrung und dem Lernen aus Fehlern (siehe die Google-Einstellungskriterien in Abschn. 6.1). Dazu gehört, dass die Chefs ab und zu ihr Standing bei der Belegschaft hinterfragen, ihr Ansehen, denn viele Mitarbeiter sind nach Umfragen unzufrieden mit Job und Boss – was die Vorgesetzten regelmäßig anders beurteilen. Nicht umsonst hat fast jeder Vierte bereits innerlich gekündigt. Als Hauptursache gelten Defizite in der Personalführung. (Krumrey und Tuma 2014; vgl. Reppesgaard 2007) Geld allein ist ein schlechter, weil extrinsischer Motivator, und der Effekt einer Gehaltserhöhung verpufft bekanntlich relativ schnell; das betrifft ebenfalls erwartbare Leistungsprämien (s. Abschn. 2.4). Zur Motivation der Belegschaft bedarf es anderer, besser geeigneter Vorgehensweisen. Wenn Vorgesetzte sinnstiftende Arbeit in gut organisierter Weise vergeben, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit loyale Mitarbeiter haben, die motiviert an der Erreichung der eigenen Ziele und somit indirekt für die Ziele des Chefs und die Mission des Unternehmens arbeiten. Denn: u
Loyalität ist eine der wichtigsten Eigenschaften eines Mitarbeiters.
Diese Loyalität zeigt sich sowohl im Verhalten dem Vorgesetzten als auch Dritten gegenüber. Schlechtleistung und Compliance-Verstößen wird dadurch nicht nur in einer Einkaufsabteilung effektiv der Boden entzogen. Loyalität lässt sich zum einen durch die Auswahl geeigneter Mitarbeiter bedingen (wobei dieses erst später wirksame Kriterium bei Versetzungen und vor allem Neueinstellungen schwierig zu beurteilen ist) und zum anderen bei vielen Angestellten durch kompetentes, modernes Führungsverhalten fördern. Und noch ein Aspekt trägt dazu bei: gezielte Maßnahmen zur Fort- und Weiterbildung (s. u.). Parallel dazu wird von einem Einkaufsleiter bzw. CPO als echter Führungskraft erwartet, dass er es schafft, sein Team zu motivieren, ohne das Heft der
6.4 Mitarbeiterführung und Schulung im Einkauf
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Entscheidung aus der Hand zu geben. Damit fallen ihm neben den fachlichen Herausforderungen (s. Abschn. 6.2) eine Reihe von Führungsaufgaben mit hoher Bedeutung für den Erfolg der gesamten Organisation zu (s. auch Rosenstiel et al. 1999): • administrative Leitung und Betreuung der Einkaufsabteilung • Wahrnehmung der disziplinarischen Vorgesetztenfunktion • Delegation von Teilverantwortung, Projekten und Tätigkeiten an Mitarbeiter • Richtlinienkompetenz auch für nicht disziplinarisch unterstellte Einheiten (z. B. Beschaffungsgruppen in Tochterunternehmen) • Auswahl und Führung von Mitarbeitern sowie Aufgabenzuordnung • permanente Kommunikation mit Mitarbeitern • Überprüfung von Ergebnissen und Leistungen der Mitarbeiter • (Einführung und) Nutzung von formalen Systemen zu Mitarbeitergesprächen, -beurteilung, -schulung, -information u. Ä. in Abstimmung mit Personalabteilung und Betriebsrat • Schulung, Weiterentwicklung und Coaching von Mitarbeitern; Talentmanagement • Verpflichtung zur eigenen Weiterentwicklung in Fach- und Führungsthemen • Vertretung der Unternehmensinteressen gegenüber den Mitarbeitern • gleichzeitige Vertretung der Mitarbeiterinteressen • Erhalt der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter durch kreative Maßnahmen (Beachtung der Work-Life-Balance, gemeinsame Aktivitäten, Workshops, externe Breakouts usw.) • Durchsetzung und Unterstützung von Veränderungen (Change Management) • Brückenbildung zwischen Top-Management und Mitarbeitern • Dialog mit anderen Stellen innerhalb und außerhalb der Organisation • u. v. m. Schulung und Weiterbildung von Mitarbeitern Kommen wir zu einem anderen Aspekt und beginnen mit der bereits erwähnten Feststellung, dass Einkaufspersonal in vielen Fällen schlechter geschult und für die Herausforderungen vorbereitet ist als seine Verhandlungspartner, die Vertriebsmitarbeiter (Wenski 2019, S. 105–106; Abschn. 4.3). Flächendeckend scheinen viele Einkaufsleiter und das Top-Management der überholten Vorstellung zu unterliegen, dass im Prinzip jeder einkaufen kann (Abschn. 1.2) und
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
es dazu keines großartigen Trainingsprogramms bedarf. Doch als Konsequenz daraus lässt sich folgendes Manko leider nicht von der Hand weisen: u
Vielen Mitarbeitern im Einkauf fehlt das Know-how, um Effizienzprobleme zu lösen.
Knapp 60 Prozent der befragten Akteure schätzen ihre Verhandlungskompetenz als hoch oder sehr hoch ein – was im Umkehrschluss bedeutet, dass erschreckende 40 Prozent der Beschäftigten, für die das Führen von Verhandlungen zu ihrem Tagesgeschäft gehört, ihr Verhandlungskönnen als mittelmäßig oder gering ausgeprägt beurteilen. Diese Kompetenz steigt in der Eigenwahrnehmung entlang der Hierarchieebenen an, auf denen die Befragten tätig sind. (Jakob et al. 2016) Rund 50 Prozent der über 2000 befragten Einkäufer sind noch nicht in den Genuss einer beruflichen Fortbildung gekommen; sogar 43 Prozent der Einkaufsleiter haben bis dato davon abgesehen. Ein Grund dafür: Für 38 Prozent der Einkäufer und 34 Prozent der Einkaufsleiter stehen Einsparungen als Kennzahl mit Abstand an erster Stelle. (Cetinkaya et al. 2018) Zwar sollten Einkäufer stets versuchen, Beschaffungskosten zu reduzieren, weil sich dieses Bestreben deutlich stärker im Ergebnis bemerkbar macht als Umsatzzuwächse (Abschn. 1.2). Das Einkaufsvolumen in großen Konzernen nimmt teilweise deutlich mehr als die Hälfte der Gesamtausgaben ein. Das genannte Schulungsdefizit in Verbindung mit einem Tunnelblick auf die Savings (s. Abschn. 1.2 und 1.4) erscheint andererseits sehr bedenklich, denn die Einkaufsabteilungen in Industrieunternehmen stehen gewöhnlich unter großem Druck, mit innovativen Lösungen integral zum Erfolg beizutragen. Der Einkaufsleiter besitzt eine maßgebliche Katalysatorwirkung dafür, dass dies alles nicht so läuft: Er muss seine Organisationseinheit unter Berücksichtigung der Anforderungen zusammenstellen – die Zeiten sind (wie in Abschn. 1.6 bereits erwähnt) vorbei, in denen es sich ein Unternehmen leisten konnte, anderswo nicht mehr benötigte Beschäftigte in der Beschaffung zu „entsorgen“. Darüber hinaus muss er adäquate Fortbildung ermöglichen und sich dafür gegebenenfalls beim Top-Management starkmachen, selbst wenn Budgetrestriktionen bestehen oder dafür scheinbar keine Zeit übrig ist. Ein Paradox in der Wirtschaft ist, dass in Boom-Phasen Fortbildungen durch fehlende Zeit der zu schulenden Mitarbeiter und in Rezessionen durch fehlende Mittel unterbleiben – obwohl gerade dann ausreichend Kapazitäten zur Verfügung stehen und Verbesserungen angezeigt sind. Jeder Entscheidungsträger muss erkennen, dass das bestehende Schulungsgefälle zwischen Vertriebsmitarbeitern und Einkäufern
6.4 Mitarbeiterführung und Schulung im Einkauf
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in Vertriebs- und Verhandlungsdingen für die Kundenorganisation gravierende Nachteile birgt.
Schulung von Einkaufsmitarbeitern
Die Rolle des Einkaufs reicht inzwischen weit über die ursprünglichen Funktionen Beschaffung und Materialwirtschaft hinaus (s. Abschn. 1.2 und 2.1). Der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e. V. (BME) bezeichnet Einkäufer als „Schnittstellenmanager und Wertschöpfungspartner“ (Richard 2015). Für die gezielte Bewältigung der anfallenden Aufgaben benötigt ein Unternehmen gut ausgebildete Einkäufer und muss für ihre permanente eigene Fort- und Weiterbildung sorgen. Die Optionen reichen von der Schulung klassischen Einkaufs-, Betriebswirtschafts- und Verhandlungswissens über den konsequenten Aufbau eines globalen Sourcing bis hin zur Begleitung technologischen Wandels und Nutzung der Digitalisierung. In diesem Zusammenhang gilt es zu beachten, dass die Durchführung betrieblicher Bildungsmaßnahmen nach §§ 98 ff BetrVG mitbestimmungspflichtig ist. Die Konzeption des Schulungswesens trägt mit dazu bei, erforderliche Kompetenzen der Mitarbeiter für die zu erledigenden Aufgaben durch Lernerfolge sicherzustellen. Während man vor allem im Vertriebsbereich an Seminaren nicht spart, wird in den Beschaffungsabteilungen dafür nur ein Bruchteil investiert. Ein Einkäufer lernt vielfach nach dem Motto Learning by Doing und lässt auf diesem Weg vermutlich einiges an Chancen und Savings ungenutzt. Meine persönliche Erfahrung im Seminarbereich zeigt, dass die Vermittlung der Grundlagen von Beschaffungswesen und Verhandlungsführung in allen Fällen rasche, auch finanziell spürbare Verbesserungen bewirkt. Flankierend dazu ist ein persönliches Coaching von neuen Einkaufsmitarbeitern durch erfahrenes Personal sinnvoll und effektiv.
Kompetenzstufenmodell Aus der Entwicklungspsychologie ist bekannt, dass Individuen einem stetigen Wandel zwischen Inkompetenz und Kompetenz unterliegen. In einem Kompetenzkreislauf, der immer wieder aufs Neue beginnt, werden die einzelnen Stufen in der folgenden Reihenfolge durchlaufen:
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1. unbewusste Inkompetenz 2. bewusste Inkompetenz 3. bewusste Kompetenz 4. unbewusste Kompetenz Mit anderen Worten: Ein Neuling in einem bestimmten Tätigkeitsfeld (sagen wir, ein Einkäufer) ist sich am Anfang vielleicht nicht ganz darüber im Klaren, was er alles nicht kann und nicht weiß, wird sich dessen bei den ersten Gehversuchen im neuen Job jedoch (hoffentlich) schnell durch Reflexion und durch Feedback Dritter bewusst. Durch Schulungsmaßnahmen und/oder Coaching (und auch Praxisübung) lernt er dazu und wird bewusst kompetent: der wünschenswerte Zustand. Mit Übung und erworbener Routine ist sich der Betreffende nach einer Weile nicht mehr klar darüber, welche Kompetenzen er nutzt, und kann keinem Außenstehenden präzise erklären, wie er genau vorgeht – und fällt durch sukzessive Verschlechterung in eine Kompetenzfalle, die den Zyklus von neuem eröffnet. In der Literatur findet sich eine pyramidenförmige Anordnung der Stufen, und als fünfte Stufe wird Selbstgefälligkeit und daraus resultierend Nachlässigkeit (Complacency) hinzugefügt (s. z. B. Businessballs 2019; Wikipedia 2020d).
Abb. 6.3 Zyklusmodell der Kompetenzstufenentwicklung
6.5 Verhandlungen im Mitarbeitergespräch
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Da es sich um einen ständig aufs Neue beschrittenen Zyklus handelt, bevorzuge ich die in Abb. 6.3 vorgeschlagene Darstellung. Leider scheitert die praktische Umsetzung einer konsequenten Fort- und Weiterbildungsstrategie (nicht nur im Einkauf) oft an einem falsch verstandenen Sparverhalten durch Unternehmensleitung, HR und auch Einkaufsleitung. Seminare werden als Belohnung und nette Auszeit angesehen, die Einarbeitung neuer Mitarbeiter läuft ohne echtes Mentoring so nebenher, und von regelmäßiger Jobrotation zur Weiterentwicklung und aus Compliance-Gründen lassen viele Gesellschaften aus Trägheit und Vorsicht die Finger.
6.5 Verhandlungen im Mitarbeitergespräch In der Arbeitsumgebung befinden sich Angestellte in einer permanenten Kommu nikation mit ihrer Umgebung, und viele dieser Gespräche mit Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern und Vertretern anderer Abteilungen sind Verhandlungen: Obwohl sie selten diese Bezeichnung tragen, ist das Ziel dennoch ein Interessenausgleich. Das beginnt bereits im Vorstellungsgespräch und findet seine Fortsetzung in zahllosen Besprechungen und sogar bei informellen Treffen auf dem Büroflur oder in der Teeküche. Die involvierten Personen versuchen, ihre Vorstellungen durchzusetzen, sei es hinsichtlich Leistungsfeststellung, Budgetverteilung oder Strategiedefinition. Einigen der Beteiligten ist überhaupt nicht bewusst, dass dabei verhandelt wird. Eine Auslandsversetzung, Vorruhestandsregelung oder ein Aufhebungsvertrag sind gar mit besonderen verhandlungstechnischen Herausforderungen verbunden. In allen Fällen müssen die Beteiligten die Situation erkennen und herausfinden, was es zum Tauschen gibt und auch, wem die Rolle des Kunden und des Lieferanten zukommt. Solche informellen Verhandlungen haben teilweise keinen festen Anfang und sind dann beendet, wenn ein Interessenausgleich erreicht ist. Sie können sich durchaus über eine längere Zeit hinziehen (manche Dinge müssen „reifen“), und vielfach überlagern sich mehrere dieser Verhandlungen mit den unterschiedlichsten Personen und Gruppen im engeren und weiteren beruflichen Umfeld. Zielvereinbarung und Feedback-Gespräch Es existiert ein Gesprächsformat im betrieblichen Ablauf, das ähnlich wie das Vorstellungsgespräch etwas klarer als Verhandlung zu erkennen ist: das Mitarbeitergespräch (ebenfalls als Perspektiv- oder Jahresgespräch bekannt). In Verbindung damit kann ein Gehaltsgespräch stehen, das vereinzelt auch separat
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
geführt wird. Es scheint überflüssig zu betonen, dass Vorgesetzter und Mitarbeiter darüber hinaus natürlich in ständigem Austausch stehen sollten und dass zwischenzeitlich halbformelle Gespräche, etwa viertel- oder halbjährlich, angebracht sein können. u
In Mitarbeitergesprächen ist der Vorgesetzte der Kunde und der Mitarbeiter der Lieferant.
Der Beschäftigte erbringt im Rahmen des Arbeitsvertrags die vereinbarte Arbeitsleistung und erhält dafür sein Gehalt; beim Mitarbeitergespräch wird vom Vorgesetzten gemeinsam mit dem Mitarbeiter überprüft, ob dieser „geliefert“ hat und wie seine Leistung zu bewerten ist. Dabei handelt es sich jedoch im rechtlichen Sinne nicht um eine Abnahme, da dem Beschäftigungsverhältnis ein Arbeitsvertrag (= Dienstvertrag nach §§ 611 ff BGB) und kein Werkvertrag zugrunde liegt. In der Praxis hat sich das sogenannte Führen mit Zielen bewährt. In größeren Unternehmen ist das Personal normalerweise in ein von der Personalabteilung verwaltetes, durchorganisiertes System eingebunden, in welchem die Mitarbeiter mindestens jährlich vom Vorgesetzten zu einem zu protokollierenden Mitarbeitergespräch eingeladen werden, in welchem unter anderem die bisherige Zielerreichung diskutiert und (neue) Ziele für das Folgejahr festgelegt werden. Dabei sollte wiederum die SMART-Formel (Abschn. 3.3) zur Anwendung kommen, denn man darf davon ausgehen, dass auf die Realisierung anspruchsvollerer Ziele mehr Energie verwendet wird als bei Vorliegen leichterer oder lediglich qualitativ formulierter Vorgaben. Von hoher Bedeutung sind die Vereinbarung klarer, realistischer Ziele und eine konkrete Rückmeldung über die Zielerreichung. Diese Ziele können – das ist zu definieren – entweder das gesamte Einsatzspektrum des Mitarbeiters (einschließlich seiner Kernaufgaben) betreffen oder Zusatzziele zur „eigentlichen Arbeit“ (Abschn. 6.3) darstellen. Daraus etablieren sich fast automatisch transparente und plausible Kriterien für Steigerungen des Einkommens und für Aufstiegsmöglichkeiten. Gleichzeitig fördert ein solches System die Selbstkontrolle der Mitarbeiter, indem diese nachvollziehen können, wo sie stehen und was sie leisten. Die Besprechung (Verhandlung) der Leistung und der damit verbundenen Bemühungen, Erfolge und Misserfolge durch Führungskraft (das heißt disziplinarischer bzw. Fachvorgesetzter) und Mitarbeiter zu analysieren, findet am besten unter vier Augen statt. Es gelten die gängigen Regeln für F eedbackGespräche: immer mit positiven Rückmeldungen beginnen – was ist sehr gut
6.5 Verhandlungen im Mitarbeitergespräch
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Abb. 6.4 Verlauf eines Feedback-Gesprächs. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Timpo/CC BY-SA 3.0, Wikipedia 2020f)
gelaufen, was gut – und erst dann diskutieren, was mittelmäßig und was schlecht war. Beim Senden von kritikbehafteten Botschaften durch die Führungskraft fällt das Stimmungsbarometer schematisch betrachtet zunächst steil nach unten und steigt dann meist dadurch wieder an, dass der Mitarbeiter seine Sicht erklärt und der Chef zuhört. Dieser Loop wird ein- bis zweimal (U- bzw. V- oder auch W-Kurve) durchlaufen. u
Wichtig ist, ein Mitarbeitergespräch positiv zu beenden.
Diese Art von Kurve (s. Abb. 6.4) ist aus der Trauerbewältigung als K üblerRoss-Modell bekannt (Wikipedia 2020f). Sie charakterisiert viele weitere Veränderungsprozesse, die durch „Verhandlungen“ mit den Betroffenen eingeleitet werden, deren Ausgangspunkt ein Regelungsbedarf ist: Mitarbeitergespräch (s. o.), Besprechung zu ungelösten Problemen, Belegschaftsversammlung im Rahmen der Restrukturierung von Unternehmen u. v. m. In der Anfangsphase des Vorgangs wird sehr schnell die Komfortzone verlassen – die Folgeerscheinungen sind Schock → Ärger → Verhandeln. An dieser Stelle ist die stimmungsmäßige Talsohle betreten oder bereits durchschritten. Im angestrebten positiven Fall (Win-Win-Lösung) folgen die Abschnitte Testen → Akzeptieren → Integrieren, und die Motivation erreicht – idealerweise – ein höheres Niveau als zu Beginn des Austauschs. Doch im realen Leben kann es durchaus sein, dass das (hier: Mitarbeiter-)Gespräch kein befriedigendes
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Ergebnis bewirkt und den Partner in eine Depression gefolgt von einer Krise führt (gestrichelte Linie in Abb. 6.4). Diese negative Entwicklung sollte ein Vorgesetzter durch Aufzeigen von Perspektiven unbedingt verhindern, um einer inneren Kündigung und Leistungsverweigerung (s. Abschn. 1.6) entgegenzuwirken. Dialogstile im Mitarbeitergespräch Mitarbeitergespräche sollten immer konstruktiv und vertrauensvoll durchgeführt werden – sie sind keine Abrechnung für Fehlverhalten und keine Prüfung mit dem Ergebnis „bestanden“ oder „nicht bestanden“. Die Harvard-Methode des sachbezogenen Verhandelns bietet auch für diese Verhandlungsarena eine gut geeignete Vorgehensweise: Durch Vergrößerung des Kuchens wird eine Win-Win-Situation angestrebt, und Person und Sache sind unbedingt zu trennen. Der Vorgesetzte läuft ansonsten Gefahr, einige in der Mitarbeiterführung verbreitete Fehler zu begehen: • das Gespräch durch ein stark forderndes Vorgehen direktiv zu gestalten und damit zu belasten • den Mitarbeiter die Akzente setzen zu lassen und so das Heft des Handelns aus der Hand zu geben • eine entspannte Plauderei ohne konkrete Inhalte zuzulassen oder sogar zu fördern, was dem Anspruch an belastbare Vereinbarungen nicht gerecht wird Die Beziehung zur Verhandlungstheorie wird unmittelbar klar, wenn man die genannten Arten der Gesprächsführung grafisch darstellt (Abb. 6.5; s. auch Neumann 1999, S. 228–232). Im Vergleich mit Abb. 3.2 (vgl. auch Abb. 1.3)
Abb. 6.5 Die typischen Dialogstile im Mitarbeitergespräch. (In Anlehnung an Rosenstiel et al. 1999, S. 229; mit freundlicher Genehmigung von © Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft Steuern Recht GmbH, Stuttgart. All Rights Reserved)
6.5 Verhandlungen im Mitarbeitergespräch
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wird unmittelbar die zugrunde liegende Denkweise klar: Die Vergrößerung des Kuchens lässt sich im Mitarbeitergespräch durch qualifizierte Beratung und als Folge davon durch Verantwortungsübertragung, Förderung und Coaching bewirken. Der „übliche Dialog“ im Zentrum entspricht dem nicht optimalen Kompromiss bei Beschaffungsverhandlungen. Die Zuordnung der übrigen drei Felder erfolgt in analoger Weise. Mitarbeiterführung gelingt unter Berücksichtigung der in Abschn. 6.2 und 6.4 genannten Tipps und Hinweise oft vor allem dadurch, dass ein Vorgesetzter dem Mitarbeiter – ebenso wie der Kunde dem Lieferanten in Einkaufsverhandlungen – auf Augenhöhe zu begegnen versucht. Dabei sollten Gewinnmöglichkeiten realisiert und Optionen ausgelotet werden. Kompetenzübertragung und Vertrauensvorschuss sind deutlich hilfreicher als Mikromanagement und gelebte Paranoia, und eventuelle kleinere Probleme sind meist rasch lösbar. Herbert Langwasser
Unser Protagonist war wie berichtet mehrere Jahre als Manager in der Einkaufsgruppe des Singapurers Daniel Chang tätig. Trotz seiner asiatischen Prägung hat Chang Herbert Langwasser „an der langen Leine“ geführt und ihm weitgehende Freiheiten gelassen, was dieser kreativ zum Vorteil der WAFAG genutzt hat. Außerhalb persönlicher Treffen im Rahmen von Besuchen war alle zwei Wochen ein telefonischer Routinetermin im Kalender fixiert. Als Mitarbeiter der ausländischen Tochtergesellschaft war Chang allerdings lediglich der Fachvorgesetzte von Langwasser und hielt sich aus den deutschen arbeitsrechtlichen Angelegenheiten weitgehend heraus; der disziplinarische Vorgesetzte war und ist Abteilungsleiter Thomas Krämer. Zu diesem hatte Herbert Langwasser immer schon ein entspanntes Verhältnis – man schätzt, respektiert – und siezt – sich gegenseitig. Der ältere Krämer hat den jüngeren Mitarbeiter stets mit wertvollen Tipps und Input für seine Arbeit unterstützt und letztlich seine Beförderung zum Senior Manager und Gruppenleiter beim Vorstand durchgesetzt, als nach Changs überraschenden Weggang kurzfristig ein Vakuum entstanden war. Krämer hinterfragt Langwassers Beschaffungsprojekte aus Interesse (nicht unbedingt Kontrolle) nun in etwas mehr Detail und widersteht meist dem Fehler, Mikromanagement zu betreiben – obwohl er sich auch persönlich gerne mit Schlüssellieferanten austauscht und am liebsten selbst mit diesen verhandeln würde. Eine Neuerung gibt es für Herbert Langwasser, der als strategischer Einkäufer (wie einige seiner neu übernommenen eigenen Mitarbeiter) regelmäßig zu den verschiedenen Standorten der WAFAG und vereinzelt zu Lieferanten
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reist. Reisekosten im Einkauf sind bei der WAFAG wie in vielen Unternehmen traditionell ein umstrittenes Thema gewesen, und Thomas Krämer muss die beantragten Budgets jeweils dezidiert bei dem Top-Management begründen. Erstaunlicherweise ist es ihm kürzlich gelungen, mit seinem Chef, dem CFO, für den Beginn des neuen Geschäftsjahres Folgendes zu vereinbaren: Die Genehmigungspflicht für Auslandsreisen durch den Vorstand entfällt, und der Einkauf wird autorisiert, sein bewilligtes Reisekostenbudget autonom zu verwalten. Thomas Krämer nutzt diese Änderung für eine im Unternehmensbereich unübliche Delegation von Verantwortung: Er teilt jedem seiner Gruppenleiter – so auch Herbert Langwasser – je nach Aufgabengebiet und aktuellen Anforderungen ein Jahresbudget zu, das diese mit ihren Mitarbeitern eigenständig aufteilen und verwenden dürfen. Nachfragen seinerseits sind zwar erlaubt, jedoch wird von einer kleinlichen Prüfung der Abrechnungen (über die formalen Anforderungen hinaus) abgesehen. Dies führt zu spannenden internen Abstimmungsprozessen („Verhandlungen“) in den Einkaufsgruppen. Wer fährt/ fliegt, und wie oft? Business oder Economy Class? Günstige Zug- oder teure Flugverbindung? Einfacheres oder gehobeneres Hotel? Einzelfahrten bzw. -flüge oder kombinierte Reisen? Leihwagen, Taxi oder ÖPNV? Oder reicht vielleicht auch ein Telefonat oder eine Videokonferenz? Bisher ist das – vermeintlich riskante – Experiment gut angelaufen, und der Einkaufsleiter hat noch von keinen Abstimmungsproblemen gehört. Nach einem Jahr sollen die Erfahrungen diskutiert und das weitere Vorgehen festgelegt werden. ◄ Auch wenn die Bürotür prinzipiell für alle Abteilungsmitglieder offensteht: Einkaufsleiter und CPOs sollten ein konstruktives Verhältnis vor allem zu ihren direkten Mitarbeitern mit eigener Führungsverantwortung aufbauen und pflegen und weniger als Boss und mehr als Diskussionspartner auftreten, denn diese sind die Leistungsträger im Mittelmanagement eines Unternehmens. Es rächt sich für eine obere Führungskraft regelmäßig, aus Angst vor Konkurrenz schlechte Mitarbeiter einzustellen und Potenzialkandidaten zu wenig zu fördern. (Werle 2015)
Vorsicht Nasenfaktor
Vorgesetzte aller Art – und damit auch Einkaufsleiter – tappen bei der Beurteilung ihrer Mitarbeiter hin und wieder in an sich bekannte Fallen. So werden zeitnahe Leistungen und Versäumnisse stärker bewertet als länger zurückliegende Ereignisse (Nikolaus-Effekt), was eine gleichmäßige
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Bewertung beispielsweise für das abgelaufene Jahr erschwert. (Dies sollte ebenfalls bei der Erstellung von Lieferantenbewertungen berücksichtigt werden.) Zum anderen werden die Lieblinge der Chefs gerne bevorzugt und erhalten im Schnitt mehr Verantwortung und signifikant höhere Gehälter – trotz quantitativer Beurteilungskriterien geht es oft doch nach dem Nasenfaktor.
6.6 Ein Blick auf die Organisation Insbesondere ein größeres Unternehmen oder ein Konzern stellt als in sich geschlossene Organisation (das O in ERFOLG symbolisiert diesen Kreis treffend) einen eigenen Kosmos am Wirtschaftshimmel dar – mit Geschichte und Gegenwart, seinen Menschen und Maschinen, Organen und Organigrammen, Produkten und Prozessen und letztlich aus der Helikopterperspektive betrachtet seiner Unternehmenskultur. Es gibt konservative und progressive, aktionärs- und inhabergeführte, erfolgreiche und weniger erfolgreiche Gesellschaften, die sich im Beliebtheitsranking ihrer Mitarbeiter oder der Attraktivität für qualifizierte Stellenbewerber gravierend unterscheiden. Von der Globalisierung und sich dramatisch verändernden Märkten aufgescheucht und von Anteilseignern und Aufsichtsräten vor sich hergetrieben, bleibt vielen Unternehmen gar nichts anderes übrig, als sich von Zeit zu Zeit neu zu erfinden. Veränderungen können dabei die Aufbau- oder die Ablauforganisation betreffen oder auch wirtschaftliche oder technische Innovationen mit sich bringen. Über das immer wieder Veränderungen durchlaufende Produktportfolio wird in Abschn. 7.5 zu reden sein; hier soll es zunächst um den ersten Teil gehen. Solche Change-Management-Prozesse sind heute gut untersucht (s. z. B. Rosenstiel et al. 1999, S. 617–781; Stolzenberg und Heberle 2013; Wikipedia 2020a, 2020h). Veränderungsprozesse in Unternehmen bilden ein ganz entscheidendes Element bei der Erfolgssicherung, sind aber im Rahmen ihrer Durchführung oft mit großen Unsicherheiten verbunden. Kein Verantwortungsträger der Organisation sollte sie unterschätzen und als Selbstläufer betrachten. Im Stimmungsbild innerhalb der Belegschaft macht sich während solcher Umbrüche meist eine signifikante Unzufriedenheit breit, die sich negativ auf das Betriebsklima auswirkt und sich im Ergebnis von Befindlichkeitsumfragen niederschlägt. Viele Ansätze sind gescheitert, weil die Belegschaft
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
nicht eingebunden und mitgenommen wurde. Eine ausgeprägte Verlustaversion (s. Abschn. 3.6) und gar Verlustängste führen zu Blockadeverhalten bei einem bestimmten Anteil der Belegschaft, der nur äußerst ungern seine Komfortzone verlässt und in der Depression des Kübler-Ross-Modells verharrt (Abb. 6.4). Dem Problem müssen sich Top-Management und auch Einkaufsleitung stellen, indem ein nachvollziehbarer Prozess zur Etablierung der notwendigen Veränderungen definiert, dem betroffenen Personal aufgezeigt und dann konsequent implementiert wird.
Leitfaden zum Veränderungsmanagement
1. Problemverständnis gewinnen und Ziele festlegen 2. Bilanz ziehen und eine klare Entscheidung treffen 3. Umsetzung planen und Hürden gedanklich vorwegnehmen 4. erste Schritte tun und den gewählten Ansatz durchhalten 5. mit Erfolgen und Misserfolgen umgehen lernen 6. verändertes Verhalten stabilisieren und im Alltag integrieren
Eine anpassungsfähige, auf äußere und innere Reize reagierende Organisation nennt man eine lernende Organisation. Ein derart privilegiertes Unternehmen weiß, dass ein Fehllaufen von Veränderungsprozessen neben der inadäquaten Umsetzung vor allem im neuen Konzept begründet sein kann. Vor der Einführung sollten die Treiber für die Transformation, die zugrunde liegende Aufgabe und die für die Umsetzung notwendigen Managementansätze klar definiert sein (Narasimhan und Barsoux 2018). Gut gemeinte Versuche, die Unternehmenskultur zum Positiven zu verändern, entfalten kaum Wirkung, wenn Organisationsstruktur und Arbeitsabläufe unangetastet bleiben (Ibold et al. 2018). In Abschn. 6.2 (vgl. Abb. 6.2) ist erwähnt, dass erfolgreiche Unternehmen über eine Mission und Vision verfügen. Auf dieser Basis müssen sie sich ständig weiterentwickeln, nicht nur über die Ableitung von Strategie, Ziele und Maßnahmen, sondern auch mit Blick auf Struktur und Organisation sowie Werte und Kultur. Für diese Veränderungsfähigkeit als Sicherstellung der Anpassung an sich verändernde Umgebungsbedingungen ist natürlich Veränderungsbereitschaft notwendig. (Hille 2017) Als Vertreter des oberen Managements ist der Einkaufsleiter integral in Change-Management-Prozesse eingebunden. Bei strukturellen Fragen, wie etwa eine Neuorganisation der Beschaffungsabteilung oder die Ausgliederung von Aufgaben oder Fragen der globalen Ausrichtung, muss er sich unbedingt in die Dis-
6.6 Ein Blick auf die Organisation
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kussion z. B. mit dem Vorstand einbringen und seine sowie die Interessen seiner Abteilung und seines Personals vertreten. Denn ein erfolgreiches Arbeiten des Einkaufs ist nur möglich, wenn sich organisatorische Reibungsverluste, Grabenkämpfe und Doppelarbeit vermeiden lassen. Drohende Probleme und Lösungen dafür sollten von ihm klar benannt werden: Schönfärberei, Blauäugigkeit und Ignorieren von potenziellen Problemen führen nicht zum gewünschten Erfolg, sondern zwangsläufig in eine Sackgasse. Doch selbst ohne Eingriffe in hierarchische Struktur und Abläufe kann ein Einkaufsleiter – und jede andere Führungskraft im Unternehmen – positive Akzente durch gezielte Veränderungen setzen. Essenziell zur Definition wirksamer Maßnahmen ist das Verständnis dafür, wo direkten und indirekten Mitarbeitern der Schuh drückt. Zwar ist ein Wirtschaftsunternehmen keineswegs eine demokratisch geführte Organisation, aber dennoch muss auf die Belange und Bedürfnisse der Belegschaft Rücksicht genommen werden, was auch ohne Verfolgung eines „Kuschelkurses“ gelingt. Unter Nutzung der in Abschn. 6.3 angemahnten Vorbildfunktion des Einkaufsleiters lassen sich meist simple Maßnahmen einführen, welche die Arbeitsabläufe vereinfachen, Zeit und Geld sparen und zufriedenere, leistungsfähigere und kreativere Einkäufer erzeugen.
Neue Wege in Besprechungen
Anlass zum Ärger gibt in vielen Unternehmen die Besprechungskultur. Führungskräfte verbringen heute über die Hälfte ihrer Arbeitszeit in Meetings – zwei Drittel von ihnen sind deswegen frustriert, da diese Besprechungen ineffizient sind und sie von ihrer eigenen Arbeit abhalten (Perlow et al. 2017). Dabei sind es gerade sie, die einen Kulturwandel durchsetzen können. Als Einkaufsleiter sind Sie in der Lage, neue Wege zu gehen. Lassen Sie in Besprechungen nur Teilnehmer zu, die etwas beitragen können; diese sollten entsprechend vorbereitet sein. Legen Sie zuvor fest, wer überhaupt zu Meetings einladen und Agenda und Ziele definieren darf. Vereinbaren Sie mit den Teilnehmern konkrete Maßnahmen und verfolgen Sie diese nach. Und seien Sie kreativ bei der Wahl der Gesprächsformate und -struktur: Meetings im Stehen, spontaner Austausch, kurze Standardund ausführliche Hintergrundgespräche, kompakte Beiträge, gemeinsame Events usw. (Bonsen und Herzog 2018) Allerdings halte ich es mit Blick auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance (Abschn. 2.4) für wenig hilfreich, Besprechungen wie in manchen Organisationen üblich im Leitungsbereich nur nach 17 Uhr abzuhalten.
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6 Der Einkaufsleiter als Erfolgsgarant
Ihre Vorgesetzten, Kollegen und/oder Mitarbeiter werden es Ihnen sicherlich danken, wenn weniger Zeit verschwendet wird und Sie mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt zur Verbesserung der Unternehmenskultur.
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Professioneller Umgang mit Lieferanten
u Jeder Kunde arbeitet gerne mit kompetenten, verlässlichen Lieferanten zusammen. Dazu sucht er die richtigen Geschäftspartner aus und betreut sie auf organisatorischer, fachlicher und auch auf persönlicher Ebene. Da die Anbieter verhandlungstechnisch in der Regel besser geschult und vorbereitet sind, muss sich auch der Einkäufer strategisch und taktisch wappnen.
In Abschn. 5.3 ist erwähnt, dass insbesondere in asiatischen Kulturen der Lieferant auf einer niedrigeren hierarchischen Stufe steht als der Kunde. Von den Tieferstehenden wird gar eine defensive Körpersprache mit viel Lächeln erwartet: Fernöstliche Verkäufer sind gewohnt, ihre Körperhaltung schlagartig in beinahe devoter Weise anzupassen, sobald sie einem Interessenten gegenübertreten (Wenski 2020, S. 175). Dies ist eine Auswirkung der konfuzianischen Bedeutungshierarchie und entspricht somit den kulturellen Gepflogenheiten im Land; es stellt nur im Ausnahmefall eine Reaktion auf Überheblichkeit und schlechtes Benehmen auf Kundenseite dar. Wie in Abschn. 1.2 betont, werden selbst in westlichen Unternehmen arrogante und unangemessen fordernde Einkäufer der alten Schule mit Blick auf die globalen Herausforderungen immer mehr zu einem Anachronismus. Und ein dem Verhandlungsgegenüber oktroyiertes Ergebnis ist in aller Regel nicht dauerhaft tragfähig und nachhaltig (s. das Motto dieses Buchs eingangs Abschn. 1.1).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_7
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7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
7.1 Der Lieferant als Geschäftspartner Die ERFOLGsformel (Abschn. 1.6) würdigt den Lieferanten mit einem eigenen Buchstaben, und die NO TRICKS-Regel (Abschn. 3.3) ebnet den Weg zum Thema Partnerschaft mit Blick auf die Verteilung der Verhandlungsmacht. Grund genug, der wichtigen Beziehung zum Lieferanten ein eigenes Kapitel zu widmen. Damit biegen wir auf die Zielgerade, an deren Ende das Geschäftsmodell (das „G“) und die Verhandlung von Herbert Langwasser mit Arno van der Planken bereits zu erkennen sind. Man sieht sich immer zweimal Die betriebliche Praxis schreibt manchmal Geschichten, die man kaum erfinden kann. Zur Einführung in die Kooperation mit Lieferanten eignet sich diese: Beispiel
Die Einkaufsabteilung einer Gesellschaft der Großindustrie beschafft ein Mikroskop bei einem kleinen lokalen Spezialanbieter, der in der Vergangenheit des Öfteren derartige Aufträge erledigt hat. Die Lieferung besteht aus dem durch den Lieferanten angefertigten Aufbau samt Einbindung der von einem weltweit führenden Optikunternehmen zugekauften Linseneinheit zu einem verhandelten Preis, der beide Seiten zufriedenstellt. Während der Herstellphase ändert das Optikunternehmen die Abmessungen der Linseneinheit, sodass für den Lieferanten Mehrkosten von rund zehn Prozent für eine nachträgliche konstruktive Änderung der Trägereinheit anfallen. (Restbestände bzw. Alternativen sind nicht vorhanden.) Der Einkäufer fragt beim Bedarfsträger nach, ob er die Mehrkosten gemäß Anfrage des Lieferanten zumindest anteilig tragen würde, und holt sich eine klare Absage ab mit dem Kommentar „Vertrag ist Vertrag“. Der Einkäufer teilt dies dem Lieferanten mit, der die bittere Pille schlucken muss und mit dem Geschäft Verlust macht. Ein paar Monate später tritt eine Störung an einem anderen Gerät dieses Lieferanten auf, und der Kunde benötigt umgehend ein Ersatzteil und Wartungspersonal, um Produktionsausfälle zu verhindern. Der Bedarfsträger fragt bei dem kleinen Lieferanten an und erhält innerhalb einer Woche keine Rückmeldung. Er beschwert sich bei seinem Einkäufer über diese Geschäftspraxis, der ihm nur lapidar entgegnet: „Was haben Sie denn erwartet?“ ◄
7.1 Der Lieferant als Geschäftspartner
205
Abschn. 5.9 geht auf Situationen ein, in denen der Kunde einem Alleinanbieter gegenübersteht, und macht Vorschläge für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe: Ihn als Ratgeber und vor allem als Entwicklungspartner zu gewinnen ist für beide Seiten mit Vorteilen verbunden (s. Abb. 5.2). Der Lieferant kann mittelfristig eine Kosten- und Ressourcenplanung erstellen, und der Kunde reduziert durch Zusammenarbeit mit einem Systemlieferanten die Komplexität seines Geschäfts. Doch selbst in Multi-Source-Beschaffungssituationen (Abschn. 7.3) haben beide Seiten Vorteile von einer kooperativen Partnerschaft – die Qualität der Zusammenarbeit richtet sich dabei jeweils nach der Tiefe der Vernetzung und der Anzahl der Schnittstellen. Es gibt eine Reihe von weiteren, wenig kostenintensiven Maßnahmen, um Lieferanten zu motivieren, den Kundenanforderungen nachhaltig gerecht zu werden. So führen einfache Arbeitsbesuche nicht nur des technischen Personals, sondern auch des Einkäufers beim Anbieter zu einer Verbesserung der Arbeitsbeziehung und zur Gewinnung wertvoller Informationen (vgl. „strategische Besuche“ in Abschn. 5.10).
Supplier Relationship Management (SRM)
Der Fachbegriff für die persönliche Steuerung und Betreuung von Lieferanten lautet Supplier Relationship Management (SRM, „Lieferantenbeziehungsmanagement“), was das Gegenstück zum Customer Relationship Management in der Kundenbetreuung (CRM) darstellt (s. z. B. Appelfeller und Buchholz 2011; Easton et al. 2014; Kleemann 2014; Okhrin 2017). SRM und das in Abschn. 7.2 beschriebene Lieferantenmanagement haben viele Überschneidungen, und die Abgrenzung in der Literatur ist unscharf.
Angesichts der Vielzahl der erwähnten und weiteren Tools zum Lieferantenmanagement ist es wichtig und notwendig, das Interface Kunde – Lieferant adäquat und lösungsorientiert zu bedienen, damit sich der Einkauf als Wertschöpfer (Abschn. 1.2) betätigen kann. Derartige Systeme sollten personenunabhängig funktionieren – was meistens der Fall ist. Dennoch menschelt es bekanntlich überall, und manche persönlichen Kontakte zwischen den Parteien klappen besser und andere schlechter.
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7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Persönliche Beziehungen zum Lieferanten Die Beziehung zwischen Einkauf und Vertrieb primär auf die Verhandlung zu begrenzen ist viel zu kurz gedacht und eines der gefährlichsten Verhaltensmuster, das bei vielen Geschäftspartnern nach wie vor zu beobachten ist (Nenninger 2009). Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Vorbereitung, und die kann in einer erweiterten Betrachtung Monate oder gar Jahre dauern (Abschn. 4.3). In dieser Phase ist es für den Einkäufer ratsam zu versuchen, eine professionelle und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Arbeitsbeziehung zu den Vertretern (Vertriebsingenieure bzw. Account Manager) seiner (insbesondere Haupt- und Schlüssel-) Lieferanten aufzubauen. Dies sollte unter Beachtung der Compliance-Richtlinien geschehen, nach denen der Einkäufer keine ungerechtfertigte Beeinflussung durch den Verkäufer beispielsweise über unangemessene Einladungen oder Geschenke zulassen darf (s. Abschn. 2.6). Im deutschsprachigen Raum ist das gegenseitige Duzen unüblich, jedoch nicht prinzipiell tabu, solange eine gewisse Distanz gewahrt bleibt. Im persönlichen Verhältnis zwischen Einkäufern und Verkäufern existieren branchenabhängige Unterschiede, wobei schlechtes Benehmen und unangemessene Liefe rantenknebelung nirgendwo gerne gesehen werden. u
Das Harvard-Konzept des sachbezogenen Verhandelns (Abschn. 3.4) sollte bei der Definition des persönlichen Verhältnisses Pate stehen: zwar manchmal hart in der Sache, aber stets freundlich zu den Menschen.
Jeder Einkaufsmitarbeiter muss sich stets vor Augen halten, dass die Lieferantenvertreter – auch bei Schlechtleistung des von ihnen vertretenen Unternehmens – ihrer Tätigkeit nachgehen, um Geld zu verdienen und dabei vielleicht etwas Freude und Selbstbestätigung zu erfahren. Sie stellvertretend für ihren Arbeitbzw. Auftraggeber anzugreifen und auf ihre Rolle zu reduzieren entspricht nicht den üblichen Gepflogenheiten des professionellen Miteinanders (Abschn. 5.3). Behandeln Sie Verkäufer so, wie Sie selbst behandelt werden möchten (ein ähnlicher Tipp war in Abschn. 6.3 bereits für die Mitarbeiterführung zu lesen): Nehmen Sie den Geschäftspartner zuallererst als Mensch wahr und erst dann als Funktionsträger. Inzwischen gilt es als erwiesen, dass sich Altruismus in Verhandlungen durchaus lohnen kann (Behrmann 2018). Wie eingangs dieses Abschnitts erwähnt: Man sieht sich immer zweimal. Bei einer sachlich und emotional gut ausbalancierten
7.1 Der Lieferant als Geschäftspartner
207
Kunden-Lieferanten-Beziehung verfügen beide Seiten über ein virtuelles Punktekonto und können nach Lage der Dinge kleine Gefallen gewähren oder in Anspruch nehmen und so Punkte auf- oder abbuchen. Jeder tut seine Arbeit und sollte nach der Devise Leben und leben lassen agieren. Alle Beteiligten haben es dadurch einfacher, und das kollektive Ergebnis wird maximiert. Beispiel
Es gibt selten völlig unwidersprochene Sachverhalte, und meist findet sich jemand, der den Finger hebt und „aber“ sagt. Das trifft auch auf die Qualität der Arbeitsbeziehung zwischen Einkäufer bzw. Bedarfsträger auf Kunden- und Vertriebsingenieur oder Account Manager auf Lieferantenseite zu. Über die wünschenswerte sachorientierte und menschlich geprägte Arbeitsbeziehung ist oben berichtet – der Verkäufer als „Freund“ der Mitarbeiter des Abnehmers (denken Sie an den netten Lieferanten in Abschn. 1.3). Doch bei einigen Anbietern bedeutet die Beziehungspflege nicht unbedingt eine Sympathiebezeugung, sondern es steckt Kalkül dahinter. In den Reihen des Kunden wird über Monate oder gar Jahre ein Champion (in anderen Anbieterunternehmen Coach genannt) aufgebaut, der dem geplanten Geschäft wohlgesonnen ist und das Anliegen des Lieferanten unterstützt. Diese Person ist in ihrer Organisation ein Meinungsbildner, kann aus verschiedenen Fachbereichen (unter anderem dem Einkauf) kommen und weiß gewöhnlich nicht, dass sie als Champion fungiert. (Wenski 2020, S. 31–34) Es handelt sich um einen typischen Fall von asymmetrischer Informationsverteilung (Abschn. 4.2). Während meiner Zeit als strategischer Einkäufer war ich sicherlich in vielen Fällen der Champion bestimmter Lieferanten, denn ich setzte mich für den Lieferanten und die jeweilige Beschaffung ein – ohne damals zu wissen, dass es sich um ein etabliertes Vertriebskonzept handelt. Allerdings ahnte ich, was meine Rolle und die Erwartung in mich war, und verlor die Interessen meines Arbeitgebers nie aus den Augen. Im Umfeld von lukrativen Geschäften waren alle Vertriebsingenieure sehr freundlich und betont an der Pflege der persönlichen Beziehung interessiert. Nach Beendigung der aktiven Tätigkeit als Verhandler – und teilweise schon vorher nach einem Wechsel der Zuständigkeiten – musste ich dann feststellen, dass bei einigen Beteiligten das persönliche Interesse und die Geschäftsfreundschaft rein zielorientiert waren und anschließend ein abruptes Ende fanden. In anderen Fällen bestehen bis heute gute persönliche Kontakte. ◄
208
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
7.2 Lieferantenmanagement Die Verfügbarkeit eines qualifizierten, flexiblen und innovativen Anbieterstamms sowie ein gut strukturiertes Lieferantenmanagement sind zwingend notwendig, um die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaftsunternehmen zu sichern. Wenn Zulieferer kurzfristig ausfallen, muss umgehend gehandelt werden, und es zeigt sich schnell, wie flexibel das Risikomanagement und wie belastbar das Netzwerk an Anbietern ist. In vielen Beschaffungssituationen – doch z. B. nicht bei gezielt aufgebauten Systemlieferanten (Abschn. 7.3) – erweist sich Single Sourcing als Nachteil. Wie der BME feststellt, ist bei der unternehmensinternen Umsetzung des Lieferantenmanagements eine intensive Zusammenarbeit zwischen der Beschaffung und den Fachabteilungen gefragt. Mitarbeiter aus Einkauf, Supply Chain Management, Logistik, Forschung, Qualitätsmanagement und Produktion sollten im Idealfall Teams bilden, die sich mit systematischem Lieferantenmanagement beschäftigen. (Richard 2017, S. 3). Umfang des Lieferantenmanagements In der Literatur finden sich unterschiedliche, jedoch verwandte Definitionen für den zentralen Begriff in der Gestaltung des Verhältnisses von Abnehmern mit Anbietern.
u Lieferantenmanagement Unter Lieferantenmanagement versteht man im weiteren Sinne die systematische Steuerung der Beziehung zu den Lieferanten durch einen Kunden, das heißt das Führen und Entwickeln der Lieferanten sowohl nach dem Auswahlprozess als auch nach Vertragsschluss. Das Konzept kann alle Aktivitäten zum Umgang mit Lieferanten beinhalten mit dem Ziel, die Unternehmens- und Warengruppenstrategien teilweise oder vollständig umzusetzen, wie Auswahl, Freigabe, Bewertung und Entwicklung der Anbieter. Verantwortlich sind der Einkaufsleiter und die an ihn berichtenden strategischen Einkäufer bzw. Warengruppenverantwortlichen. (Richard 2017, S. 5; Richard 2019). Die Vorgehensweisen im Rahmen des Lieferantenmanagements sollten immer längerfristig angelegt sein. Die Basis bildet die aus Unternehmens- und Einkaufsstrategie abgeleitete Lieferantenstrategie, eventuell ergänzt durch eine Kommunikationsstrategie (Richard 2017, S. 10–11). Das Gros der Lieferanten, die an einen bestimmten Kunden liefern, befindet sich über viele Jahre in einer Geschäftsbeziehung mit diesem. Man kennt sich, und der Kunde investiert
7.2 Lieferantenmanagement
209
durch eine Fülle von Maßnahmen in die Kenntnis, Betreuung und Kontrolle des Lieferanten. Dazu zählen z. B. • Beschaffungsmarktanalyse • (Internet-)Recherchen • Risiko- und Qualitätsmanagement • Beziehungsmanagement • Lieferantenklassifizierung • Lieferantenbewertung • Lieferantentage • Lieferantenaudits • Lieferantenschulung und -qualifizierung • digitale Einbindung • informelle persönliche Kontakte. Der Umfang der Maßnahmen hängt natürlich stark von der Tiefe der Geschäftsbeziehung ab. Während zu den Vertretern eines Commodity-Anbieters, der mit anderen Unternehmen im Wettbewerb steht, ein möglicherweise lockererer Kontakt besteht, erfolgt das Management eines Single-Source-Lieferanten für prozesskritische Anlagen oder Hilfsstoffe in wesentlich intensiverem Umfang. u Der Kunde befindet sich in einem ständigen Kreislauf aus Lieferantenanalyse, -auswahl, -entwicklung und -ausphasung (vgl. Richard 2017, S. 10). Der naheliegende erste Schritt bei der Konzeption eines Systems zum Lieferantenmanagement ist die Schaffung einer Übersicht über Anbieter und Produkte. So kann im Rahmen einer Einstufung zwischen A-, B- und C-Lieferanten unterschieden werden oder zwischen Standard-Lieferanten, strategischen Partnern, Engpass- oder Hebel-Lieferanten. Parallel dazu findet eine ABC- bzw. XYZ-Analyse zu Klassifizierung der zu bestellenden Materialien statt. (Stollenwerk 2016, S. 97–107) In einer tiefergehenden Kunden-LieferantenBeziehung spielt die Lieferantenintegration in den eigenen Produktionsprozess als Teil der Lieferantenentwicklung eine zentrale Rolle. Im Zuge dessen werden z. B. mit Potenzialpartnern gemeinsame Entwicklungsprojekte durchgeführt, um Produktverbesserungen und Innovationen zu erarbeiten, und/oder man baut eine enge datentechnische Vernetzung auf.
210
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
In diesem Zusammenhang finden regelmäßige technische Gespräche und periodische Audits vor Ort statt (s. u.), und es wird Wert auf die Durchführung entsprechender Qualitätszertifizierungen durch unabhängige Stellen (vor allem nach DIN ISO-Norm) gelegt. Solche Maßnahmen unterstützen die Planbarkeit des Partners, was ein Vorteil für beide Seiten in einer Geschäftsbeziehung und damit auch in Beschaffungsvorgängen bedeutet. Darüber hinaus kommt der erwähnten Risikoanalyse der Lieferantenbasis eine hohe Bedeutung zu. Insbesondere Schlüssellieferanten bzw. strategisch wichtige Anbieter sowie solche, welche die einzige Bezugsquelle für einzelne Waren oder Dienstleistungen repräsentieren (Single-Source- oder Sole-SourceLieferanten; s. Abschn. 7.3), stellen ein potenzielles Versorgungsrisiko für den Kunden dar, und dieser Risikosituation sollte und muss Rechnung getragen werden (was im Gesellschaftsrecht teilweise vorgeschrieben ist). So sind in derartigen Fällen Alternativen zu entwickeln oder andere Maßnahmen zu treffen, die in diesem Falle greifen und einen möglichen Lieferantenausfall verhindern oder kompensieren. Ein systematisches, dynamisches LieferantenportfolioManagement unter Berücksichtigung geeigneter Risikomanagement-Ansätze ist ein Muss (Willmann und Metz 2017, S. 18–21). Lieferantenbewertung Die Rückmeldung an Lieferanten bzw. Dienstleister im Hinblick auf ihre Leistungen in einem abgelaufenen Zeitraum ist im B2B-Bereich ein zentrales Element des Lieferantenmanagements. Bei einem derartigen Rating wird eine systematische Bewertung anhand definierter Merkmale vorgenommen, die für die Beurteilung des Lieferanten von Bedeutung sind. (s. z. B. Janker 2008; Wannenwetsch 2019; Einkaufsmanager 2019b; Wikipedia 2020h) Dazu zählen • statische Faktoren wie Lieferungs- und Zahlungsbedingungen, Marktanteile, Marktmacht, Marktverhalten, Preispolitik, Verhandlungsmacht, Produkt- und Dienstleistungsqualität und • variable Faktoren wie Kundenanforderung, Kundenorientierung, Lieferbereitschaft, Lieferfähigkeit, Lieferservice, Lieferzeit, Lieferzuverlässigkeit oder Servicelevel. Weitere Details wie die Behandlung von Anfragen können ebenfalls in das Rating einfließen. u
Die Hauptkriterien im Rahmen einer Lieferantenbewertung sind vielfach Preis, Liefertreue und Qualität.
7.2 Lieferantenmanagement
211
Die ausgewählten Merkmale beziehen sich auf die Ziele des Abnehmers, sogenannte Schlüsselindikatoren (Key Performance Indicators, KPI). Die Bewertung sollte regelmäßig erfolgen und in standardisierter Berichtsform zusammengefasst und an die Lieferanten kommuniziert werden. Die Lieferantenbewertungen dienen dem Einkauf und Management des Kunden, da sie eine gewisse Transparenz über die von den Lieferanten erbrachte Leistung erzeugen und die Ableitung von Maßnahmen ermöglichen – Profiteur ist über dergestalt kommuniziertes Feedback und die geforderten Verbesserungsmaßnahmen auch der Lieferant. (vgl. Wikipedia 2020h). In der Praxis bewähren sich nur solche Systeme, die auf Dauer handhabbar sind, Ergebnisse und Verbesserungen erbringen und nicht nach einigen Beurteilungszyklen Feigenblattcharakter erlangen (vgl. Abschn. 4.6). Dazu sind Unterstützung, Priorisierung und Erfolgskontrolle durch Einkaufs- und Unternehmensleitung des Kunden Voraussetzung. Letztlich geht es hier immerhin um Risikomanagement im Beschaffungswesen, und als Konsequenz kommen Verbesserungsaufforderungen und Mängelrügen bis hin zur temporären oder kompletten Sperre einzelner Anbieter in Betracht. Professionelle Computerprogramme zur Lieferantenbewertung werden kommerziell angeboten, jedoch erscheinen individuelle, auf das entsprechende Kundenunternehmen, seine Branche und seinen Lieferantenstamm zugeschnittene Lösungen meist sinnvoller. Dazu ist festzulegen, welche Anbieter bewertet werden (mindestens die A- bzw. Schlüssellieferanten), in welchem Rhythmus (jährlich oder häufiger) und nach welchen Kriterien. Im Normalfall reichen maximal zehn bis zwölf Kriterien mit Gewichtungsfaktoren für alle Lieferanten oder solche in einer Beschaffungsklasse. Die individuellen Bewertungen werden in einem Team erstellt, das mindestens aus verantwortlichem Einkäufer und Bedarfsträger, ergänzt durch weitere Schnittstellen mit dem bewerteten Lieferanten, besteht. Es ist wichtig, darauf zu achten, dass der gesamte Beurteilungszeitraum gleichermaßen bewertet wird, um den Nikolaus-Effekt (Abschn. 6.5) zu vermeiden. Mit Vertretern der bewerteten Unternehmen sollte unbedingt zeitnah ein Feedback-Gespräch geführt werden, in welchem die Ergebnisse diskutiert und Maßnahmen vorgegeben oder vereinbart werden. u
Wundern Sie sich als Einkäufer nicht: Kaum ein Anbieter wird danach trachten, beim Kriterium Preis-Leistungs-Verhältnis die optimale Punktzahl zu erreichen, da in der Regel eine opportunistische Preisoptimierung angestrebt wird.
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7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Der Lieferantenbewertung kommt inzwischen auch im B2C-Sektor eine hohe Bedeutung zu, bedingt vor allem durch die Möglichkeiten des Internets. Dabei findet eine Beurteilung von Dienstleistern (etwa Hotels), Händlern oder Versandhandel durch Verbraucher im Rahmen der Online-Bewertung statt. Diese Meinungsäußerungen besitzen allerdings eine geringere Objektivität und höhere Fehlerhäufigkeit als B2B-Lieferantenbewertungen. (Wikipedia 2020h) Es ist bekannt, dass das Ausmaß an Fake-Ratings und die bewusst herbeigeführte Verzerrung von Rankings immer mehr zunimmt. Lieferantentage und Lieferantenaudits Zwei weitere Formate sollen kurz angerissen werden, die ebenfalls zum Lieferantenmanagement zählen. Das eine ist die Ausrichtung von Lieferantentagen für ausgewählte Anbieter, die meist an einem Standort des Kunden in professionellem oder auch gediegenem Rahmen stattfinden. Dies ist ein interessantes Forum für Vorträge, Gespräche und Vertrauensbildung. Und letztlich freut sich jeder Zulieferer, wenn er während einer solchen Veranstaltung einen Lieferantenpreis oder eine sonstige Ehrung oder Anerkennung erhält, und ist anschließend noch bemühter, herausragende Leistungen zu erbringen. Der überschaubare organisatorische und finanzielle Aufwand auf Auftraggeberseite für solche Maßnahmen (Anreise und Unterkunft zahlen die Besucher selbst) ist sehr gut investiert – was Dr. Müller in Abschn. 5.3 verborgen blieb. Jeder wichtige Lieferant sollte periodisch formal auditiert werden. Die Durchführung von Lieferantenaudits dient generell dazu, bestehende Geschäftsbeziehungen zu optimieren und ebenso, potenzielle Anbieter hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zu überprüfen. Aus diesem Anlass führt ein gewerblicher Kunde bei einem Zulieferer oder einem Dienstleister ein umfassendes Untersuchungsverfahren durch, bei dem er das Organisations- und Qualitätssystem sowie eine Vielzahl an Teilaspekten prüft; hierzu bedarf es der Teilnahme eines geschulten Auditors. Dem Auditteam gehören regelmäßig außerdem der zuständige Einkäufer und ein technisch-technologischer Mitarbeiter des Kunden an, der die Abläufe und Rahmenbedingungen in seinem Fachgebiet beurteilen kann, bevorzugt der Bedarfsträger. Die konkreten Schwerpunkte hängen von den Anforderungen eines Unternehmens und der Branche ab. u
Beim Lieferantenaudit werden bestimmte Teile oder das gesamte Managementsystem einer Anbieterorganisation unter Aufzeigung von Verbesserungspotenzialen systematisch geprüft und bewertet.
7.2 Lieferantenmanagement
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In diesem Rahmen ist die Prüfung nach einer Vielzahl von Qualitäts- und sonstiger teils branchenspezifischer Normen möglich (vgl. Wikipedia 2020i). Mit der Reihe EN ISO 9000 ff sind Normen geschaffen worden, welche die Grundsätze für Maßnahmen zum Qualitätsmanagement dokumentieren. Eine zentrale Funktion kommt der EN ISO 9001:2015–09 zu: Diese legt die Mindestanforderungen an ein Qualitätsmanagementsystem fest, denen eine Organisation zu genügen hat, um Produkte und Dienstleistungen zur Erfüllung der Kundenerwartungen sowie allfälliger behördlicher Anforderungen bereitstellen zu können. Zugleich soll das Managementsystem einem stetigen Verbesserungsprozess unterliegen. Abweichungen (Deviations) werden gewichtet, dokumentiert und in einen Maßnahmenplan mit Erledigungsdaten überführt; bei gravierenden Abweichungen ist eine konsequente Nachverfolgung und Überprüfung der korrigierenden Maßnahmen angeraten. Herbert Langwasser
Herbert Langwasser geht bei der unmittelbaren Verhandlungsvorbereitung mit DWE noch einmal alle verfügbaren Unterlagen und Informationen akribisch durch. Die QFD-Analyse in der ersten Version hat keine eindeutige Präferenz für einen der beiden Anbieter ergeben (Abschn. 4.3), und er selbst ist vom Bauchgefühl her momentan ebenfalls hin- und hergerissen. Vielleicht liefern die aktuellen Auditergebnisse eine Entscheidungshilfe. Das letzte Audit der DWE-Hauptproduktionsstätte bei Rotterdam fand vor zweieinhalb Jahren statt; zu jener Zeit war Langwasser in der Messgerätebeschaffung tätig und noch nicht zuständig. Als Ergebnis sind im Bericht des Auditteams 82 Prozent Erfüllungsgrad verzeichnet, ein Resultat im oberen Drittel der Kontrollgruppe. Zu gravierenden Abweichungen findet er keine Hinweise. Die vorgeschlagenen Verbesserungen für kleinere Defizite sind nach der Dokumentation größtenteils implementiert worden. Am Audit der neuen JT-Fab in Singapur im vergangenen Jahr war auch Herbert Langwasser beteiligt – zusammen mit Klaus Auerbach für die Technik und der lokalen Auditorin Kathy Leong von der WAFAG Pte. Während der zwei Tage gewannen die beiden Deutschen unter der kompetenten Anleitung der Singapurerin einen detaillierten Einblick in die Organisation und Funktionsweise sowie das Qualitätsmanagement der neuen Fertigungsstätte. Nach dem anstrengenden ersten Tag lud der Lieferant über den mit angereisten Key Account Manager Gottfried Krause zum Dinner in die Innenstadt ein (s. Abb. 7.1). Dabei handelt es sich um ein während Audits – im Gegensatz zu Verhandlungstreffen – übliches und vom Compliance-Standpunkt her nicht zu
214
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Abb. 7.1 Dinner am Singapore River nach dem ersten Audittag
beanstandendes Vorgehen. Allerdings entschuldigte sich Kathy mit dem Hinweis, die Teilnahme würde von ihren Vorgesetzten nicht gerne gesehen. Die Deutschen waren (unabhängig vom gelungenen exotischen Abendessen im Beisein einiger lokaler Vertreter von Joint Technologies) vom Erscheinungsbild der JT-Fab und den installierten Systemen sehr angetan, und das am zweiten Tag letztendlich ermittelte Ergebnis lag bei knapp 89 Prozent der möglichen Zähler. Insbesondere die Qualitätskontrolle und das installierte Kanban-System erhielten Höchstnoten. Rückfragen gab es hinsichtlich der Kommunikation mit anderen involvierten JT-Standorten vor allem beim Dokumentenmanagement. Eine stringente Kontrolle von Verteilern und Versionen ist dringend geboten, zumal einzelne Komponenten und Baugruppen von anderen Standorten bzw. im Rahmen der Fertigungsintegration auch von Unterlieferanten bereitgestellt werden. Der Punkt „interne Geheimhaltung“ wurde ebenfalls thematisiert, denn in Singapur besteht die latente Gefahr, dass durch die typischerweise hohe Personalfluktuation (Attrition) ein unkontrollierter Know-how-Abfluss stattfinden kann – zu Konkurrenzunternehmen vor Ort oder sogar in die Volksrepublik China.1 Dem hielt JT entgegen, dass weitgehend nach dem Need to
1…
ein Thema, das die WAFAG kurz später durch den Wechsel von Daniel Chang zur Konkurrenz selbst getroffen hat (Abschn. 1.1).
7.3 Sourcing
215
Know-Prinzip gearbeitet wird (Abschn. 4.2). Insgesamt fanden die WAFAGMitarbeiter die neue Produktionsstätte sehr gelungen und sahen keinen Nachteil darin, dass die in Zukunft bestellten Anlagen vorwiegend in Singapur und nicht mehr in Oregon oder an anderen JT-Standorten aufgebaut werden. ◄
7.3 Sourcing Eine gesunde, gut strukturierte und passend dimensionierte Lieferantenbasis bildet ein wichtiges Fundament für das erfolgreiche Arbeiten jedes Produktionsunternehmens. u
Zur Auffindung geeigneter Anbieter sind auf Interessentenseite alle verfügbaren Informationskanäle und -wege zu nutzen: Messen, Kongresse, Konferenzen, Veröffentlichungen, Werbeschriften, Empfehlungen, Erfah rungsberichte, Anbieterverzeichnisse, Verbände und Organisationen, nicht zu vergessen das Internet, persönliche Netzwerke u. v. m.
Zahlreiche Erstkontakte verlaufen später im Sand, doch im Einzelfall ergibt sich oft eine konstruktive und teilweise lange anhaltende Zusammenarbeit. Im Bereich der Commodities und Standardmaterialien (Abb. 1.3) ist im Wesentlichen die Beschaffungsabteilung gefordert, Vorschläge für Bezugsquellen zu machen und Qualitäts- und Preisvergleiche anzustellen. Diese Aufgabe fällt im Bereich einiger strategischer Leistungen (z. B. komplexes Equipment und zugehörige Dienstleistungen) durchaus auch Mitarbeitern in Technik und Technologie zu. Begriff des Sourcings Wie in Abschn. 4.1 erwähnt, bildet das Sourcing in der Beschaffung das Pendant zur Akquise auf Vertriebsseite: die Suche nach neuen Geschäftspartnern und sowie Nutzung der daraus resultierenden Möglichkeiten. Sofern es um erklärungsbedürftige Leistungen geht – und dies ist vor allem im Technischen Einkauf sehr oft der Fall –, finden die Sourcing-Anstrengungen meist in direkter Zusammenarbeit des Einkaufs mit den technisch-technologischen Mitarbeitern des Kundenunternehmens statt. Jeder Einkäufer weiß: u Die Schaffung von Wettbewerb auf Anbieterseite ist eine der effektivsten Methoden, die eigene Verhandlungsmacht zu stärken.
216
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Die Lieferantensuche bildet einen zentralen Pfeiler im Rahmen des Einkaufsmanagements. Ziel ist, qualitativ geeignete Produkte zu günstigen Preisen zu bekommen und immer darauf bauen zu können, rechtzeitig und in ausreichendem Umfang beliefert zu werden. Im Hinblick auf die Versorgungssicherheit des Kundenunternehmens und für eine positive Kostenbilanz besteht die Notwendigkeit, die richtigen Lieferanten zu finden, die besten herauszufiltern und erfolgreich mit ihnen zu kooperieren (s. Einkaufsmanager 2019c).
u Sourcing Der vom englischen Wort Source (hier: Bezugsquelle) abgeleitete Begriff bezeichnet die Gestaltung der Leistungserstellung in Wertschöpfungsketten. Dazu zählt das Management (das heißt Planung, Steuerung und Kontrolle) der Leistungserstellung aus internen und/oder externen Quellen für ein oder mehrere Unternehmen. (Alt 2018). Durch ihre Sourcing-Maßnahmen verschieben Kunden die Organisationsgrenze beim Leistungsbezug. Eine Verringerung des eigenen Leistungsumfangs bedeutet das Outsourcing, da dies die Eigenfertigungstiefe eines Unternehmens reduziert. In Zusammenhang mit der Beschaffung von Gütern wie Roh- und Hilfstoffen, Maschinen und Anlagen soll sich das Sourcing-Thema hier ausschließlich auf den Bereich Outsourcing beziehen. Die Sourcing-Strategie (auch Sourcing-Konzept genannt) ist ein wichtiger Bestandteil der Einkaufsstrategie und beantwortet die Fragen, wie viele Lieferanten für einzelne Beschaffungen beauftragt werden sollen, wo sie angesiedelt sind und in welchem Zustand ein Objekt (als Einzelteil, als Modul oder gar als schlüsselfertiges Produktionsgebäude) oder eine Dienstleistung (Einzel- bzw. Teilbeauftragung, Komplettservice) erworben wird. In Zusammenhang mit dem Sourcing sind verschiedene Begriffe zu unterscheiden, die nachfolgend erläutert werden (Richard und Berg 2016, S. 10–13; vgl. Weele und Eßig 2017, S. 299–305). Anzahl an Lieferanten für eine Leistung Man unterscheidet prinzipiell Single Sourcing (nur ein Lieferant ist verfügbar bzw. bewusst für die Kundenprozesse ausgewählt und qualifiziert), Dual Sourcing und Multi Sourcing. Eine Verschärfung der Single-Source-Situation stellt das Sole Source-Szenario dar: Es existiert lediglich eine einzige Quelle für eine Leistung (Angebotsmonopol), und selbst durch hohen Qualifizierungsaufwand lässt sich kein Wettbewerb schaffen. Dies versuchen weltweit die Kartellbehörden zu verhindern, indem Zusammenschlüsse zur Schaffung einer
7.3 Sourcing
217
marktbeherrschenden Stellung untersagt oder nur unter Auflagen genehmigt werden. Die Auswahl an Lieferanten erfolgt zumindest in größeren Organisationen unter Zuhilfenahme von Lieferantenportfolios, mit denen die Anbieter eingestuft, organisiert und betreut werden (Willmann und Metz 2017, S. 6–9). Vorausschauende Steuerung und Weiterentwicklung z. B auf Basis einer Warengruppenstrategie führt zu einer soliden Versorgungssituation unter Minimierung von Engpassrisiken. u
Die optimale Sourcing-Strategie für eine Leistung muss individuell festgelegt und umgesetzt werden; dabei existiert kein generelles „Richtig“ oder „Falsch“.
So mag es für hochkomplexe Industrielösungen durchaus sinnvoll sein, Systemlieferanten aufzubauen und nur bei diesen die jeweiligen Anlagen, Komponenten, Hilfsstoffe usw. zu bestellen. Auch ist zu beobachten, dass sich in relativ begrenzten Märkten – etwa der Halbleiterindustrie – einzelne Anbieter mit einem Technologievorsprung bei bestimmten Produkten durchsetzen, da die Einstiegshürde für Wettbewerber zu hoch ist. Andererseits dient die Schaffung von Wettbewerb dem Risikomanagement und verringert die Abhängigkeit von individuellen Anbietern. Dem steht wiederum ein erhöhter Koordinations- und Logistikaufwand gegenüber, beispielsweise bei der Ersatzteilhaltung für Anlagen; außerdem entfällt die Option, Kostenvorteile über Bündelungseffekte zu erzielen. Local Sourcing Für die Auswahl des Ortes der Leistungsbeschaffung bestehen in Abhängigkeit von der Entfernung zum Verwender zwei verschiedene Möglichkeiten. Eine Leistung kann in der Nähe des Einsatzortes (Local Sourcing) oder von deutlich weiter entfernt liegenden Quellen (Global Sourcing) beschafft werden. Durch die lokale Beschaffung von Gütern lassen sich Versorgungsrisiko und Transportkosten verringern, da die Lieferanten in direkter Nähe beheimatet sind. Der Nachteil liegt im limitierten Angebot verglichen mit dem, was der Weltmarkt zu bieten hat. (Richard und Berg 2016, S. 12) Teilweise wird der Begriff Domestic Sourcing gleichbedeutend verwendet, was „Bezug im Inland“ bedeutet. Dies bezieht sich einerseits auf den Heimatmarkt des Unternehmens. Andererseits kann es sich um Beschaffung im jeweiligen nationalen/regionalen Absatzmarkt eines multinationalen Unternehmens handeln. (Wikipedia 2020a)
218
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Es gibt noch andere Gründe für lokale Beschaffungen, darunter zwingende und weniger zwingende; nachfolgend einige Beispiele aus der Wirtschaftspraxis. • IT-Schutz: Bei der geplanten Ausstattung des 5G-Kommunikationsnetzes in westlichen Ländern steht die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Technologiekonzern Huawei auf dem politischen Prüfstand. • Zölle: Vor allem die USA als weltgrößte Wirtschaftsnation errichten in den letzten Jahren zunehmend Handelshemmnisse selbst für Bündnispartner („America first“). • Sonstige Staatsdirektiven: Bei der Auftragsvergabe für aktuelle internationale Großprojekte der Volksrepublik China, z. B. die „neue Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative, BRI), profitieren bei der Vergabe von 90 Prozent der Aufträge lediglich chinesische Unternehmen. (Ritzer 2019) • Ökologische bzw. Menschenrechtslage in einzelnen Anbieterländern: Zwei Beispiele unter vielen sind der Coltan-Abbau oder die VW-Produktion in Xinjiang. (Wikipedia 2020c; Nefzger 2019, Adelhardt et al. 2020) • Kulturelle Gründe: Asiaten, besonders Japaner, kaufen am allerliebsten bei lokalen Anbietern ein („buy local“) (Wenski 2020, S. 174). Global Sourcing Die Transparenz der Märkte hat sich in den letzten beiden Dekaden wesentlich erhöht. Auch mittelständische Gesellschaften können heute weltweit einkaufen und werden von ihren Kunden vielfach mit dieser Notwendigkeit konfrontiert. Globalisierung heißt das Stichwort, das durch Erweiterung der Absatzmärkte über die Regionen hinaus völlig neue Gelegenheiten für den Einkauf und die Lieferantensuche geschaffen hat. Die meisten Unternehmen sollten auf die Chancen der Globalisierung bei ihrer Lieferantensuche auf keinen Fall verzichten. Die Möglichkeiten des Internets und anderer moderner Kommunikationsformen haben wesentlich zu einem Wandel der Beschaffungsmärkte beigetragen. Hinzu kommen billigere und effektivere Vorgehensweisen bei Logistik und Transportwesen. (Einkaufsmanager 2019c) Negative Folgen der Globalisierung für die einzelnen Anbieter sind eine steigende Zahl von Wettbewerbern, die Verschärfung der Wettbewerbsintensität, zunehmender Kostendruck und unübersichtliche Märkte. u
Beim globalen Sourcing erfolgt keine Beschränkung auf den lokalen Markt, sondern der Bezug von Beschaffungsobjekten findet über eine weltweit orientierte Beschaffungsstrategie statt.
7.3 Sourcing
219
Zu den Hauptzielen beim Sourcing gehören Kostensenkung, Sicherstellung der Versorgung und ebenso die Erlangung von Wettbewerbsvorteilen, die Erschließung neuer Märkte und Absatzgebiete sowie die Gewinnung von Knowhow. Darüber hinaus kann die mangelnde Verfügbarkeit von Produkten und/ oder Technologien auf dem lokalen Markt ein Grund sein. (Richard und Berg S. 12–13) Die globale Beschaffung bietet viele Chancen, ist jedoch mit einer Reihe von Herausforderungen verbunden, denkt man an die Anbietermärkte China und Indien. Diese reichen von erhöhten Transportkosten und Währungsrisiken über fehlenden Know-how-Schutz und die häufig unklare Rechtslage bis hin zu politischen Risiken und gegenseitigen Abhängigkeiten. (Wikipedia 2020f; vgl. Senft 2014; Einkaufsmanager 2019a). Inzwischen gelingt es vor allem durch digitale Vernetzung immer besser, belastbare Geschäftskontakte zu Unternehmen in vielen Ländern und Anbietermärkten aufzubauen. Für einen ersten Überblick über Beschaffungstätigkeiten in zahlreichen Ländern sei auf die entsprechenden Internet-Seiten des Magazins Einkauf + Technik verwiesen (z. B. Meyring 2017 für China). Daher wäre es für produzierende Unternehmen, ihre Top-Manager, Techniker und Entwickler und besonders Einkaufsleiter und Einkäufer kurzsichtig und gar töricht, die Augen vor der Globalisierung zu verschließen und sich für Waren und Dienstleistungen nur auf dem Heimatmarkt umzusehen. Die internationale Vernetzung der Technologiewelt, der Waren- und Finanzwirtschaft ist unumkehrbar und wird von Jahr zu Jahr stärker. Die von Adam Smith schon 1776 beschriebene Arbeitsteilung (Wikipedia 2020d) ist knappe 250 Jahre später zur fest verankerten Grundlage geworden, und Abschottung und fehlende Bereitschaft zur Kooperation wird Verlierer schaffen.
Einkäufertipps zum Global Sourcing
• Die Entscheidung zwischen lokalem und globalem Sourcing erfordert eine genaue Abwägung der Rahmenbedingungen, wobei Global Sourcing immer wichtiger wird. • Qualitätseinhaltung, Liefertreue, Risikominimierung und monetäre Aspekte sind gleichermaßen zu berücksichtigen. • Während der Equipmentmarkt bereits seit langem international ausgerichtet ist, erfolgt heute auch die Beschaffung von direkten Materialien mehr und mehr global. • Um globales Sourcing vom Heimatland aus begleiten zu können, sind verhandlungssicheres Englisch sowie interkulturelle, juristische und Kenntnisse in Außenhandel u. v. m. erforderlich.
220
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
• You get what you inspect, not what you expect (Abschn. 5.10). Verschaffen Sie sich unbedingt ein persönliches Bild vom Lieferanten und seinen Möglichkeiten vor Ort; lassen Sie gegebenenfalls ein formales Audit durchführen. • Unter Umständen ist es angebracht, mit einem vertrauenswürdigen lokalen Partner, z. B. einem Distributor, zusammenzuarbeiten, der Rahmenbedingungen, Gepflogenheiten, Formalitäten und Sprache im Erzeugerland kennt.
7.4 Rhetorische Konter Das menschliche Gehirn ist so konstruiert, dass es auf bekannte und gespeicherte Situationen und die daraus resultierenden Vorgehensweisen zurückgreift, um relativ schnell reagieren zu können. Daher führt man Dinge, die vielfach eingeübt wurden, ohne großartiges Nachdenken intuitiv aus – etwa beim Steuern eines Autos durch den Straßenverkehr. Nicht ohne Grund ist die Frequenz von Verkehrsunfällen bei Fahranfängern deutlich höher als bei erfahrenen Kfz-Lenkern. Ein anderes Beispiel betrifft das Schachspiel: Gute Spieler, insbesondere Großmeister, können aus einem Fundus von in ihrem Gehirn gespeicherten Partien zahllose Stellungen auf dem Brett abrufen und wissen unmittelbar, welcher nächste Zug sinnvoll ist. Bis zu 80 Prozent des möglichen Verhandlungserfolgs werden in der Vorbereitung erarbeitet (s. Abschn. 4.3). Die Ergebnisse und internen Vereinbarungen im Rahmen einer derartigen Planung führen dazu, dass sich ein Einkäufer seinem Lieferanten mit festen Prämissen und Forderungen gegenübersetzen kann. Die in der Präsenzverhandlung beeinflussbaren 15 bis 20 Prozent des Ergebnisses sind entscheidend von der Geistesgegenwart und Rhetorik der Verhandler geprägt, auch indem Aussagen und Fragen geschickt sprachlich pariert werden – das gehört ebenso zu einem besonnenen Umgang mit Lieferanten. Warum vorbereitete Entgegnungen wichtig sein können In Verhandlungen sind wie im Schachspiel teils vorhersehbare – vom Anbieter herbeigeführte – Standardsituationen zu erwarten. Dazu gehört, dass Lieferantenvertreter versuchen, die Kundenseite durch rhetorische Kniffe und sogar manipulative Wortwahl aus der Reserve zu locken, um mit Konzessionen besänftigt zu werden. Darauf kann sich der Einkäufer vorbereiten, indem er sich
7.4 Rhetorische Konter
221
vorformulierte Antworten bereitlegt, um die argumentative Phase planbarer zu machen. Allerdings erfordert dieses Vorgehen eine gewisse Disziplin, die Vertriebsmitarbeiter meist eher aufbringen als Einkäufer. Wenn ein Verkäufer gefragt wird, wie er die Entwicklung des Marktes sieht, hat er sofort eine mit der Vertriebsstrategie seines Unternehmens abgestimmte Standardantwort auf den Lippen, die seine Verhandlungsposition untermauert, z. B.: „Wir haben für dieses Produkt interessante Anfragen von anderen Kunden vorliegen, was in naher Zukunft die Lieferzeit verlängern könnte.“ Ein derartiges Narrativ zu entwerfen und einzuüben ist eine Grundübung für Verkäufer, und ich lege in Vertriebsschulungen auf diesen Aspekt großen Wert. Wird in umgekehrter Richtung dem Einkäufer vom Anbieter bedeutet, dass die Preise aus bestimmten Gründen angehoben werden müssen, verschlägt es ihm zunächst oft die Sprache. u
Viele vorhersehbare Aussagen, Fragen und Phrasen der Lieferantenseite kann der gut präparierte Einkäufer mit Standardantworten kontern.
Der Verhandlungsführer sollte trainieren, Aussagen der anderen Partei schnell zu analysieren und adäquat zu reagieren, indem er aus einem vorbereiteten Portfolio automatisch die treffenden Antworten bzw. Entgegnungen auswählt. Diese sollten nicht auswendig gelernt und hölzern wiedergegeben, sondern – der Situation angepasst – frei formuliert werden. Solche Sammlungen lassen sich für eine Einkaufsabteilung leicht erstellen, schulen und von den Mitarbeitern nutzen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung ist, bei diesen Kontern stets höflich und verbindlich zu wirken (Abschn. 5.4) und den Anbieter weiterhin als Partner zu behandeln (Abschn. 5.3). Vermeiden Sie unbedingt, schnippisch, besserwisserisch oder arrogant zu wirken. Trotz vieler gut gemeinter Versuche in entsprechenden Seminaren existiert keine Blaupause für die Auswahl und Festlegung derartiger rhetorischer Tools; versuchen Sie daher, bei der Umsetzung der hier erörterten Ideen Ihre persönlichen Kommunikationspotenziale zu entdecken und einzusetzen (vgl. Zapke 2015). Entgegnungen auf unsaubere Verhandlungstricks Probiert die andere Seite, mit unsauberen und ethisch fragwürdigen Mitteln zu arbeiten, muss dem souverän und vor allem entschieden begegnet werden. Verhandlungstricks (s. Abschn. 3.1) sollen täuschen oder verwirren – unter Partnern eigentlich ein No-Go, wird ihre Anwendung trotzdem immer wieder versucht. Ein Beispiel ist die Erzeugung von Zeitdruck. Doch alles, wozu man sich sofort
222
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
entscheiden muss, birgt den Makel der Überrumplung in sich. Ein ungehobelter Versuch wie der folgende lässt mit einem sorgfältig vorbereiteten Konter effektiv aushebeln. Beispiel: Überrumplung
• •
Lieferant: „Sie müssen sich allerdings schnell für dieses Angebot entscheiden!“ Einkäufer: Alternative (a): „Die Entscheidung liegt nicht allein bei mir.“ Alternative (b): „Ich bitte Sie – wir machen keine Geschäfte auf diese Weise. Wir werden Ihren Vorschlag prüfen und wieder auf Sie zukommen.“
◄
Noch ein Beispiel für einen Trick, bei der die Motivation des Gegenübers ist, die eigene Partei von ihren Zielen abzubringen und zu Konzessionen zu bewegen: das Ablenkungsmanöver Red Herring. Typischerweise werden dabei alte Geschichten aufgebracht, die mit der aktuellen Verhandlung nichts zu tun haben. Da kann die Rede sein von Qualitäts- oder Zahlungsproblemen in der Vergangenheit, nicht eingehaltenen Zusagen oder Versprechungen, unberechtigter Weitergabe von Informationen u. v. m. Für einen Verhandler, der von der betreffenden Sache gar nichts weiß und auch nicht wissen kann, kommt dies gewöhnlich als (unangenehme) Überraschung. Aus Sicht des Einkäufers lautet der Standard-Konter hierzu wie folgt: Beispiel: Red Herring
• •
Lieferant: „In der Vergangenheit ist aber dieses und jenes passiert.“ Einkäufer: „Wir nehmen das zur Kenntnis. Doch sollten wir uns jetzt auf den vorliegenden Vorschlag konzentrieren und diese alte Geschichte später aufgreifen.“ ◄
Ebenfalls sehr beliebt und oft zu hören ist der Einwand, dass höhere Ebenen entscheiden müssen, ob die vorgelegten Vertragsbedingungen angenommen werden können (s. Abschn. 6.2). Gleichzeitig wird ihre Seite auf die gemachten Zugeständnisse festgelegt. Später wird der Verkäufer dann zurückkommen und
7.4 Rhetorische Konter
223
sagen, dass seine höhere Ebene doch nicht zugestimmt hat, und mit einem für ihn vorteilhafteren Gegenvorschlag kommen. Die effektivste Kontertaktik ist, die Symmetrie wiederherzustellen und auf Ihre nächsthöhere Ebene zu verweisen. So können Sie bei Bedarf selbst mit einem Gegenvorschlag aufwarten. Als prägnanter rhetorischer Konter formuliert: Beispiel: Höhere Ebenen
• • • •
Lieferant: „Diesen Vorschlag muss ich von meinem Vorgesetzten genehmigen lassen.“ Einkäufer: Alternative (a): „Auch ich brauche das Okay meines Chefs, wenn wir dieser Lösung zustimmen sollen.“ Alternative (b): „Wir müssen aus Gründen der Revisionsfestigkeit ebenso vorgehen.“ Alternative (c): „Unser Team hat ebenfalls noch nicht komplett zuge stimmt.“ Lieferant: „Diesen Vertrag muss ich erst schnell von unserer Rechtsabteilung prüfen lassen.“ Einkäufer: „Sie werden verstehen, dass auch wir den Vertrag dann unserem Justiziar vorlegen müssen.“ ◄
Wenn die Gegenseite argumentativ nicht weiterweiß, wird manchmal die Gefühlskeule ausgepackt. In Verhandlungen immer wieder auftretende Emotionen sind beispielsweise Ärger, Stolz und Schuld. Vor allem dem Personalisieren, das heißt Argumente an die eigene (oder die andere) Person zu knüpfen, sollte offen widersprochen werden: Beispiel: Emotionen
• •
Lieferant: „Wollen Sie mir das antun?“ Einkäufer: „Das hat mit Ihnen nichts zu tun und ist schon gar nicht gegen Sie gerichtet. Objektiv lässt sich das wie folgt begründen: …“ ◄
224
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Das heißt, Sie lassen sich von den Gefühlsäußerungen auf der Meta-Ebene nicht vereinnahmen und bringen das Gespräch möglichst umgehend wieder auf die Sachebene zurück. Gelingt dies – vor allem wenn Ärger in der Luft liegt – nicht unmittelbar, ist eine Auszeit oder gar Vertagung der Verhandlung ratsam, damit sich die Wogen wieder glätten (s. Abschn. 3.1 und 5.4). Markttypische rhetorische Konter Konter zu unternehmens-, branchen- und marktspezifischen Fragestellungen betreffen oft Themen, auf die man sich gut vorbereiten kann. Dazu ist eine fundierte Kenntnis der besagten Märkte und Rahmenbedingungen durch aktuelle Informationen aus Presse, Internet, Agenturen und/oder Gesprächen notwendig. Auch dafür sollte sich ein Einkäufer Zeit nehmen. In vielen Fällen bauen diesbezügliche Konter darauf auf, Dinge zu hinterfragen, die der Lieferant postuliert. Das kann sich dann wie nachfolgend dargestellt anhören. Beispiel: Kosten und Preise
• • •
Lieferant: „Unsere Kostenstruktur erlaubt nur einen Preis von x Euro.“ Einkäufer: „Würden Sie mir Ihre Kostenstruktur bitte erläutern?“ Lieferant: „Wir müssen die Preise leider wegen gestiegener Rohstoffpreise (Stahlpreise, Energiepreise …) um x Euro erhöhen.“ (s. Abb. 7.2) • Einkäufer: Alternative (a) „Welchen Anteil an Ihren Gesamtkosten machen die Rohstoffkosten (Stahlkosten, Energiekosten …) aus?“ Alternative (b) „In letzter Zeit sind die Rohstoffpreise (Stahlpreise, Ener giepreise …) ja wieder gesunken.“ ◄ Das Prinzip lässt sich beliebig erweitern; Abhängigkeiten von Lohn-, Transport- und sonstigen Kosten kommen dabei immer wieder zur Sprache. Haken Sie in Fällen, in denen mit Zahlen und vor allem Einzelkosten argumentiert wird, unbedingt nach, woher dieser genau stammen. Für derartige Entgegnungen muss sich ein routinierter Einkäufer nicht einmal anstrengen. Allerdings sollten seine Entgegnungen faktisch korrekt sein. Echte Monopolisten (die in der Praxis recht selten sind) und QuasiMonopolisten (in Vertriebssegmenten mit einer hohen Markt-Eintrittsschwelle) können den Einkäufer manchmal zur Verzweiflung bringen (s. Abschn. 5.9). Ganz
7.4 Rhetorische Konter
225
Abb. 7.2 Gestiegene Rohstoff- und Energiepreise: Zeche Zollverein (Essen)
machtlos ist er dennoch nicht, da sich die Machtverhältnisse einer Verhandlungssituation bei einem langen Zeithorizont angleichen. Doch das erfordert viel Geduld, und erst die Verfügbarkeit zusätzliche Anbieter stärkt die Verhandlungsmacht des Kunden nachhaltig. Beispiel: Single Source
• •
Lieferant: „Wir sind die Einzigen, die Ihnen dieses Produkt liefern können.“ Einkäufer: „Das mag momentan so sein. Aber wir sind an einer längerfristigen Geschäftsbeziehung und Partnerschaft interessiert.“ ◄
Allgemein einsetzbare Entgegnungen Dies bietet einen eleganten Übergang zu den Evergreens in der rhetorischen Kontertechnik. Beginnen wir mit dem viel zu oft verwendeten Reizwort eigentlich (das den Sinn einer Aussage in der Regel ins Gegenteil verkehrt und bei dem jeder Verhandler hellhörig werden sollte)2 sowie mit dem Gebrauch des Konjunktivs und anderer allzu vager Sprache: 2Manchmal
hat das Wort eigentlich aber dennoch seinen berechtigten Platz, etwa für die „eigentliche“ Verhandlung (Abschn. 4.1).
226
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Beispiel: Unpräzise Sprache
• •
Lieferant: „Eigentlich kann ich Ihnen nicht weiter entgegenkommen.“ Einkäufer: „Dann lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir es doch noch schaffen.“ • Lieferant: „Ich müsste dafür nochmals mit meinem Chef reden.“ • Einkäufer: „Dann tun Sie das bitte, und möglichst zeitnah.“ ◄ Die Preisgestaltung im Rahmen des Verhandlungspakets ist ständig aufs Neue eine bunte Spielwiese für sprachliche Duelle, wie diese Dialoge verdeutlichen: Beispiel: Preispoker
• •
Lieferant: „Ich kann Ihnen als Gesamtpreis 120.000 Euro anbieten.“ Einkäufer: „Aus Budgetgründen müssen wir auf einen Preis kommen, der fünfstellig ist.“ • Lieferant: „Ich kann Ihnen leider kein niedrigeres Angebot machen.“ • Einkäufer: „Dieser Preis ist in unserem Hause nicht vermittelbar.“ ◄ Das Ideal One Face to the Supplier (Abschn. 5.6) versucht zu verhindern, dass sich in der Organisation des Kunden gut vernetzte Lieferantenvertreter Vorteile „durch die Hintertür“ verschaffen, insbesondere durch Ausnutzung positiver Arbeitskontakte zu Technikern und Entwicklern. Vor diesem Hintergrund passiert es immer wieder, dass der Verhandlungspartner mehr von den Zielen eines Vergabegesprächs weiß, als dem Einkäufer lieb ist. Letzterer sollte sich auf diesen Fall vorbereiten, etwa so: Beispiel: Die lieben Kollegen
• Lieferant: „Das habe ich so mit Ihrem Kollegen abgesprochen.“
7.5 Zukunftsträchtiges Geschäftsmodell
227
• Einkäufer: „Das werden Sie mit mir als zuständigem Einkäufer leider nochmals diskutieren müssen.“ • Lieferant: „Der Mitarbeiter aus der Technik hat aber angedeutet, dass das freigegebene Budget bei x Euro liegt.“ • Einkäufer: „Mein Kollege hat möglicherweise nicht alle Informationen zur Verfügung – mit diesem Budget sind noch andere Kosten im Projekt abzudecken.“ ◄ Wünschenswert ist eine verbindliche interne Absprache aller am geplanten Geschäft Beteiligten zur Lieferantenkommunikation, um zwecks Schadensbegrenzung derartige Scharmützel gar nicht erst zu ermöglichen. Stellen Sie sicher, dass Ihre technischen Kollegen bei diesem Punkt mitziehen. Beispiel: Noch ein Klassiker
• •
Lieferant: „Wie soll ich dieses Ergebnis in meinem Unternehmen erklären?“ Einkäufer: „Ich kann Ihnen folgende Argumente an die Hand geben, wie Sie das als Erfolg für sich und Ihre Organisation verkaufen …“ ◄
Der letztgenannte Fall (weitere Beispiele finden Sie am Ende von Abschn. 9.1) beschreibt genau die Situation, die sich jeder Verhandler wünscht und auf die er bestens präpariert sein sollte: Der Verkäufer fragt nach Argumenten, wie er die beabsichtigten Zugeständnisse in seiner Organisation erklären kann. Wenn der Einkäufer dazu nicht wie aus der Pistole geschossen etwas Plausibles und Zwingendes sagen kann, ist ihm nicht zu helfen.
7.5 Zukunftsträchtiges Geschäftsmodell Bevor es mit Kap. 8 zum Finale der Beschaffung von Annealing-Anlagen durch die WAFAG kommt, bleibt ein Letztes zu erörtern: der Einfluss des Geschäftsmodells auf den ERFOLG des Einkaufs. Wie gut ist das eigene Business aufgestellt, organisiert und am Markt positioniert?
228
7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Analyse des Geschäftsmodells Zumindest indirekt betrifft diese Betrachtung auch die Materialwirtschaft, deren Mitarbeiter in Anbieter- oder Abnehmermärkten agieren, vor dem Hintergrund solider oder schwacher Geschäftszahlen klein-klein oder in großem Stil beschaffen und auf jeden Fall mit ihrer Tätigkeit einen unmittelbaren Einfluss auf das Geschäftsergebnis ausüben. Unabhängig von den Rahmenbedingungen bleibt der Effizienzdruck im Einkauf stets erhalten.
u Geschäftsmodell Ein Geschäftsmodell (Business Model) beschreibt die Funktionsweise eines Unternehmens und wie es Gewinne erwirtschaftet. Die Beschreibung von Geschäftsmodellen soll helfen, die Schlüsselfaktoren des Unternehmenserfolgs oder Misserfolgs zu verstehen, zu analysieren und zu kommunizieren. (Wikipedia 2020e) Aufgabe des Geschäftsmodells ist, die Organisation eines Unternehmens und seine Wertschöpfungskette abzubilden, um das eigene Geschäft zu optimieren sowie Markttrends zu nutzen und neue, zukunftsträchtige Geschäftsideen zu entwickeln und zu realisieren. Dazu wird der Blick aus der Helikopterperspektive auf die globalisierte Wirtschaft gerichtet, die Chancen und Risiken, Erleichterungen und Zwänge mit sich bringt. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die Welt nach den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts großen Veränderungen stellen bzw. diese initiieren muss: Klimaänderung, Energieversorgung, Mobilitätskonzepte, Ernährung, Konfliktmanagement, Gesundheitsversorgung usw. Dies betrifft natürlich ebenfalls zukünftige Trends und Strategien im Beschaffungsmanagement. Dabei spielen nachhaltige Ansätze eine wichtige Rolle, womit sich der im Vorwort betretene Kreis schließt. PESTEL-Analyse Zur genauen Betrachtung des Umfelds eines Unternehmens (Makro-Umweltanalyse) wurde die PESTEL-Analyse entwickelt. Anhand von sechs verschiedenen Kriterien lassen sich die Auswirkungen exogener Entwicklungen auf Strategien einer Gesellschaft identifizieren, wenn es um die Erschließung bzw. Bearbeitung von Märkten geht. Andere Variationen sind beispielsweise PESTLE (britisch), ETPS (als älteste Referenz für diesen systematischen Ansatz in Aguilar 1967), STEEP, PEST oder PESTLIED (mit I = Intercultural und D = Demographic) und STEEPLE (E = Ethical), die jeweils weitere Einflüsse mit einbeziehen oder ausschließen (für eine Übersicht s. z. B. More 2015; Rastogi und Trivedi 2016; Theobald 2016). Bei der Auswahl ist zu beachten, dass nur diejenigen Faktoren einbezogen werden, die auch einen tatsächlichen Einfluss auf das Unternehmen
7.5 Zukunftsträchtiges Geschäftsmodell
229
und seine Strategie besitzen. Ansonsten könnten falsche Annahmen getroffen werden, die sich negativ auf die eigene Strategieentwicklung auswirken.
Einflussfaktoren für unternehmerische Entscheidungen: Die PESTELAnalyse
P olitical (politische Einflussfaktoren) E conomical (wirtschaftliche) S ocial (sozio-kulturelle) T echnological (technologische) E nvironmental (ökologisch-geografische) L egal (rechtliche)
Die PESTEL-Faktoren sind selbsterklärend; Details finden sich z. B. in den angeführten Quellen. Einige der Komponenten wurden in den voranstehenden Kapiteln bereits näher betrachtet, allen voran die rechtlichen Hintergründe der Einkäufertätigkeit (das Legal-L in der ERFOLGsformel; Abschn. 1.6 und 4.5), das Thema Environmental (unter den Schlüsselbegriffen Nachhaltigkeit und Sourcing; Abschn. 1.5 und 7.3) sowie vor allem der wirtschaftliche Aspekt in der Beschaffung, der sich als roter Faden durch dieses Buch zieht und Win-Win-Verhandlungslösungen das Wort redet. In Zusammenhang mit dem roten Faden, den ich für das Leitmotto gerne verwende, sei an dieser Stelle noch ein Wort zur Herkunft gesagt. Erstmals hat Johann Wolfgang von Goethe dieses Bild in seinem 1809 erschienenen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ bekannt gemacht. Den praktischen Grund findet man bei der englische Marine, die sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte mit einem fest eingewirkten roten Faden markiert hatte, der sich nicht herauswinden ließ, ohne das Tau zu zerstören. So wurde Diebstahl und Hehlerei effektiv ein Riegel vorgeschoben. Den symbolischen roten Faden sollte ein Einkäufer auch in einer Beschaffungsverhandlung nicht aus den Augen verlieren. Branchenstrukturanalyse nach Porter Die acht typischen Quellen von Verhandlungsmacht sind in Abschn. 3.3 beschrieben. In Ergänzung dazu darf im Kontext von Einkauf und Geschäftsmodell ein kurzer Blick auf die von Michael E. Porter entwickelte Branchenstrukturanalyse (Fünf-Kräfte-Modell) nicht fehlen (Porter 1980; grafische Darstellung in Abb. 7.3). Es handelt sich um ein Hilfsmittel in der unternehmerischen Planung und Ausrichtung, das Berater gerne verwenden, wenn die
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7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Abb. 7.3 Branchenstrukturanalyse nach Porter (Fünf-Kräfte-Modell) (Eigene Darstellung in Anlehnung an Hans-Jürgen Geiß, Kaiserslautern, Juni 2005/CC Attribution 3.0 Unported, Wikipedia 2020b)
strategische Positionierung eines Unternehmens qualitativ untersucht werden soll. Dahinter steckt die Idee, dass sich die Attraktivität des Marktes primär aus der Marktstruktur ergibt. Die Marktstruktur wiederum prägt das Verhalten der Gesellschaft, vor allem ihre Wettbewerbsstrategie, die ihrerseits den Markterfolg beeinflusst. Das Modell basiert auf der Annahme, dass die Attraktivität einer Branche durch die Ausprägung der fünf wesentlichen Wettbewerbskräfte bestimmt wird: • • • • •
brancheninterner Wettbewerb Bedrohung durch neue Anbieter Verhandlungsmacht der Anbieter Verhandlungsmacht der Abnehmer Bedrohung durch Ersatzprodukte
Je stärker die Bedrohung durch diese fünf Wettbewerbskräfte ist, desto unattraktiver erscheint die betrachtete Branche und desto schwieriger wird es, einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Die fünf Kräfte werden immer auf die gesamte Branche bezogen. Ein typischer Fehler ist die Anwendung der Analysekriterien auf ein Einzelunternehmen.
7.5 Zukunftsträchtiges Geschäftsmodell
231
Im Rahmen der hier behandelten Thematik soll ein Blick auf die Verhandlungsmacht der Vertragsparteien geworfen werden. Abnehmer (Kunden) stehen mit einer Branche insofern in Konkurrenz, da sie Preise drücken oder bessere Qualitäten durchsetzen können, wenn sie eine hohe Marktmacht besitzen. Dies senkt die Profitabilität innerhalb der Branche. Eine mächtige Käufergruppe wird durch die folgenden Umstände exemplarisch beschrieben: • Die Kundengruppe ist stark konzentriert oder kauft große Volumina. • Die bezogenen Produkte/Dienstleistungen sind standardisiert oder undifferenziert (typischerweise Commodities). • Die Kundenbranche muss nur geringe Umstellungswechsel in Kauf nehmen. • Die bezogenen Produkte/Dienstleistungen sind unerheblich für die Qualität der Produkte/Dienstleistungen der Kundenbranche. • Die Kundenbranche verfügt über vollständige Information. Umgekehrt wird die Lieferantenseite durch solche Rahmenbedingungen gestärkt: • Die Branche wird von wenigen Anbietern dominiert und ist stärker konzentriert als die kaufende Branche. • Für die von der abnehmenden Branche bezogenen Produkte oder Dienstleistungen besteht eine geringe Substitutionsgefahr. • Die abnehmende Branche ist kein wichtiger Kunde für die liefernde Branche. • Die gelieferten Produkte/Dienstleistungen stellen einen wesentlichen Beitrag für die Kundenbranche dar. • Die Produkte/Dienstleistungen der liefernden Branche sind differenziert oder haben Wechselkosten aufgebaut.
Produktzyklen
Es liegt auf der Hand, dass sich die Einkaufsabteilung schwertut, erfolgreiche Arbeit mit stabilen Beschaffungssituationen und attraktiven Vertragskonditionen zu leisten, wenn das Unternehmen in einer schwächelnden Branche oder mit überholten Produkten tätig ist und Trends verschlafen hat. Von Veränderungsmanagement war bereits in Abschn. 6.6 mit Blick auf die Organisation die Rede, und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Allerdings ist die strategische Grundausrichtung der Einkaufsaktivitäten immer an das Produktlebenszyklus-Modell des Angebots eines Unternehmens gebunden.
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7 Professioneller Umgang mit Lieferanten
Kondratjew-Zyklen
Wirtschaftsentwicklung erfolgt meist zyklisch. Bei notwendigen technischen Neuerungen unterscheidet man langfristige Technologiezyklen (Kondratjew-Zyklen) und kurzfristige Produktlebenszyklen, die unternehmensspezifisch sein können. Ausgangspunkt für die langen Wellen sind Paradigmenwechsel und die damit verbundenen Innovationen: Es wird massenhaft in neue Techniken investiert und damit ein Aufschwung hervorgerufen. Nachdem sich die Innovationen allgemein durchgesetzt haben, verringern sich die damit verbundenen Investitionen drastisch, und ein Abschwung ist die Folge. In der Zeit des Abschwungs wird aber schon an einem neuen Paradigma gearbeitet. (Wikipedia 2020g)
Nach Stollenwerk (2016, S. 108–110) unterscheidet sich der Fokus der Beschaffung in den vier klassischen Produktphasen wie folgt: • • • •
Einführungsphase: Stabilisierung des Produktanlaufprozesses Wachstumsphase: Sicherstellung der Versorgung; Lieferantenmanagement Reifeprozess: Kostenoptimierung Degenerationsphase: Suche nach Produktalternativen oder Substitutionsgütern.
Hoffen wir, dass unser Musterunternehmen, die WAFAG, mit ihrer für Singapur geplanten Investition nicht den Fehler des Zuspätkommens macht und ihren bestehenden Geschäften eine weitere moderne, ertragsreiche Operation mit attraktiven Verkaufsprodukten hinzufügen kann. Nur wenn der Verkauf auf der einen und der Einkauf auf der anderen Seite fair und zum Vorteil aller Beteiligten zusammenarbeiten, lassen sich die Wachstumspläne eines Unternehmens langfristig in die Tat umsetzen (M+M 2018). Auf dem Weg dorthin fehlt noch die Verhandlung der Annealing-Anlagen mit der niederländischen Gesellschaft DWE sowie die Entscheidung, ob mit DWE oder dem US-amerikanischen Wettbewerber JT zusammengearbeitet werden soll. Mit Blick auf die Verteilung der Verhandlungsmacht ist ein spannendes Rennen zu erwarten, dem wir uns in Abschn. 8.2 widmen.
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Tagebuch einer Musterverhandlung
Endlich kommen die Niederländer zu Besuch nach Dresden, um mit ihrem Leistungspaket zu punkten. Da beide Parteien gut vorbereitet ins Rennen gehen, steht einer kreativen Verhandlung mit erfolgreichem, nachhaltigem Abschluss nichts im Wege. Doch reichen die Anstrengungen des Lieferanten? Zum Abschluss wird erklärt, warum dem Verbraucher so oft die Mehrwertsteuer (angeblich) geschenkt wird.
Kommen wir zurück auf das Beschaffungsprojekt des Halbleiterunternehmens WAFAG. Das mit Joint Technologies verhandelte Paket (s. Abschn. 5.5) enthält neben einigen weiteren Zugeständnissen für die Testanlage in Dresden einen Preis von 4,375 Millionen US-$ und für die sechs Produktionsanlagen in Singapur einen Stückpreis von 4,200 Millionen US-$. In wenigen Tagen steht die Vergabeverhandlung mit der Dutch Wafer Equipment N. V. an.
8.1 Vorbereitungsaktivitäten Fassen wir der Übersicht halber noch einmal zusammen, wer in die bevorstehende Verhandlung involviert ist: Herbert Langwasser
• Direkt beteiligt: – Herbert Langwasser, Diplom-Kaufmann (TU Dresden), Senior Manager Strategischer Einkauf. Die weltweite Beschaffung von Heißprozessanlagen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_8
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8 Tagebuch einer Musterverhandlung
für die WAFAG fällt in seinen Zuständigkeitsbereich. Freut sich auf die zweite Verhandlung. – Klaus Auerbach, Techniker, Bedarfsträger und Anlagenverantwortlicher für die zu beschaffenden Annealing-Anlagen. Verfügt über umfangreiche technisch-technologische Erfahrung und hat bereits an vielen Vergabeverhandlungen teilgenommen. – Dr. Jens Zimmermann, Physiker (Universität Hamburg), der junge Senior Manager Prozessentwicklung im Annealing-Bereich mit globaler Verantwortung. Steht den beiden anderen in puncto Professionalität in nichts nach. • Indirekt beteiligt: – Thomas Krämer, Wirtschaftsingenieur (FH Würzburg-Schweinfurt), Abtei lungsleiter Globaler Technischer Einkauf, OFK. Umsichtige Füh rungspersönlichkeit. Hat die Ernennung von Langwasser zum Gruppenleiter maßgeblich vorangetrieben. – Hartmut Eisleben, Technischer Leiter Annealing, Vorgesetzter von Klaus Auerbach, OFK. Ist für die Autorisierung und Weiterleitung des Kreditantrags von Auerbach für die Beschaffung verantwortlich. – Hans-Peter Burghardt, Diplom-Ingenieur, Projektleiter für den Produktions ausbau in Singapur und OFK. Bindeglied zwischen Vorstand und Projektteam und gleichzeitig Ansprechpartner für jedermann. Letzte Vorbereitungen Wie intern während des ersten Vorbereitungsgesprächs verabredet (Abschn. 2.2), sollen die indirekt beteiligten Führungskräfte nicht an der jeweils ersten Verhandlungsrunde teilnehmen, sondern gegebenenfalls als höhere Ebene für eine spätere Eskalation zur Verfügung stehen. Anders als in der minimal besetzten Verhandlung mit JT wird im Falle von DWE neben Langwasser und Auerbach auch, da es sich diesmal nicht um eine Anlage „von der Stange“ handelt, Dr. Jens Zimmermann als Vertreter der Prozessentwicklung wie bei Vorbesprechung und QFD-Analyse (Abschn. 4.3) ebenfalls dabei sein. Für DWE haben sich Arno van der Planken sowie Konstrukteur Pieter Broeckhoven angesagt. Zwei Tage vor der Verhandlung setzen sich die drei WAFAG-Teilnehmer nochmals zusammen, um letzte Vorbereitungen zu treffen und die taktische Abstimmung durchzuführen. Herbert Langwasser hat den bereits teilweise ausgefüllten Verhandlungsplaner (Abschn. 9.2) vor sich liegen. Eine Geheim-
8.1 Vorbereitungsaktivitäten
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haltungsvereinbarung existiert, jedoch kein Rahmenvertrag, sodass ein Verhandlungsprotokoll anzufertigen ist (Abschn. 9.3). Und die immer noch nicht vorhandene Spec-Unterschrift seitens DWE muss unbedingt besorgt werden. DWE hat in der Vergangenheit wiederholt Großequipment an die WAFAG geliefert, und der typische Nachlass lag jeweils um die zehn Prozent vom Angebotspreis, konnte Langwasser den Akten entnehmen. DWE ist (wie JT) wirtschaftlich in stabilem Fahrwasser unterwegs und kein Risikokandidat. „DWE hat die Annealing-Öfen für 4,39 Millionen Euro angeboten“, sagt er, „und bei JT sind wir im Schnitt schon deutlich unter umgerechnet 3,8 Millionen Euro.“ – „Das wird bei JT trotzdem knapp, denn wir haben für die erste Anlage mit Nebenkosten nur ein Budget von vier Millionen“, entgegnet Auerbach. „Unsere Strategie lautet: Erzielung einer technisch und finanziell optimalen Verhandlungslösung. Jens, wie sieht die technisch optimale Lösung für Dich aus?“ fragt Langwasser. „JT baut verlässliche Standardanlagen, auf denen wir sofort mit den Qualifikationen loslegen könnten. Allerdings sehe ich die Zukunft eher beim DWE-Konzept, das zusätzliche Prozessoptionen bietet.“ – „Das heißt wir sollten auf jeden Fall versuchen, mit Arno van der Planken an die Grenze des Machbaren zu gehen, um das DWE-Paket im Rennen zu halten.“ Verhandlungsziele Die drei legen, basierend auf den Budgetvorgaben und dem Ergebnis der JTVerhandlung (Abschn. 5.5), als Korridor für den Anlagenpreis im Gesamtprojekt fest: • bester Preis: 3,5 Mio. € • Zielpreis: 3,75 Mio. € • Walk-out-Preis: 3,9 Mio. € Als Needs gelten Spec-Erfüllung, zeitgerechte Lieferung und adäquate technische und anwendungstechnische Betreuung vor Ort sowohl in Dresden als auch in Singapur, außerdem eine Preisvereinbarung, welche die aktuell noch nicht freigegebenen Singapur-Anlagen mit einschließt. Wants sind unter anderem eine verlängerte Verjährungsfrist für Mängelhaftung, eine umfassende Schulung für Bedien- und Wartungspersonal sowie der Verzicht auf eine Haftungsbegrenzung. An den „üblichen“ Transport- und Zahlungsregelungen (FCA Rotterdam; Zahlung 90/10/30 Tage wie bei JT) soll festgehalten werden. „Da wir einen Mitanbieter haben, werde ich am besten
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8 Tagebuch einer Musterverhandlung
mit einer relativ offensiven Forderung einsteigen und so direkt einen Anker setzen“, sagt Langwasser. Darauf entgegnet Zimmermann: „Ich würde am liebsten für die erste Anlage überhaupt nichts bezahlen und sie anschließend zurückschicken. Erfahrungsgemäß tauscht der Hersteller nach der Testung eine Reihe von Teilen aus, und die Singapur-Anlagen sind dann mit dem Modell in Dresden nur noch bedingt vergleichbar.“ Das gilt natürlich genauso für die Testanlage von JT, dämmert es Langwasser. Er und Auerbach lassen den neuen Ansatz auf sich einwirken – und basteln an einem Plan, wie die Verhandlung gestaltet werden könnte. ◄
8.2 Durchführung der Verhandlung An einem kühlen Mittwochmorgen, der einen Vorgeschmack auf den baldigen Spätherbst gibt, treffen Arno van der Planken und Pieter Broeckhoven um kurz vor 9 Uhr bei der WAFAG in Dresden zur Vergabeverhandlung ein. Herbert Langwasser
Herbert Langwasser nimmt die Gäste an der Pforte in Empfang und begleitet sie in die dritte Etage des Verwaltungsgebäudes, in dem die Einkaufsabteilung ihre Büros hat. Da das obere Management nicht teilnimmt, hat er davon abgesehen, sich um einen der gemütlicheren Räume im Stockwerk darüber zu bemühen. „Unser Besprechungszimmer tut’s für den Anlass auch“, denkt er, denn van der Planken war bereits oft bei ihnen zu Besuch und ist im Umgang eher unkompliziert – und mit vielen der Techniker und Entwickler auf Du. Langwasser hat sich angewöhnt, van der Planken in Deutsch mit dem Nachnamen, bei englischsprachigen Dialogen mit „Arno“ anzureden. Klaus Auerbach und Jens Zimmermann treffen ein. Ein herzliches „Hallo“ wird mit van der Planken ausgetauscht, und sie begrüßen den Konstrukteur Pieter Broeckhoven, den nur Auerbach von Besuchen in den Niederlanden kennt. Broeckhoven spricht nicht sehr gut Deutsch, und so findet das Gespräch nahezu vollständig in Englisch statt (wird aber der Einfachheit halber hier in der Übersetzung wiedergegeben). Smalltalk und technische Aspekte Wie üblich beginnt eine solche Verhandlung mit Smalltalk, den Langwasser bewusst anstößt und etwas in die Länge zieht, und einer Tasse Kaffee aus
8.2 Durchführung der Verhandlung
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der italienischen Maschine des Einkaufs. Dazu stehen Kekse auf dem Tisch, welche die Besucher momentan unberührt lassen, da sie erst kurz vorher vom Frühstückstisch im Hotel aufgestanden sind. Es geht um den vergangenen Sommerurlaub, die Spätwirkungen der Corona-Krise und letztlich auch um den Halbleitermarkt und die Auslastung. Näheres können wir uns schenken – relevant ist, dass Herbert Langwasser dadurch eine ungefähre Idee von der Stimmung und Lage bei DWE bekommt. Nach etwa 20 Minuten leitet er zum technischen Teil über und fragt seine Kollegen, ob noch Punkte offen und weitere Klärungen notwendig seien. Ein paar wenige Details sind zu diskutieren, die jedoch für das angestrebte Ergebnis unwichtig sind. Die beiden Fachvertreter sind sich einig, dass die Testanlage wie spezifiziert nach Dresden ausgeliefert wird. Für die späteren Singapur-Anlagen möglicherweise notwendige Änderungen sollten kein Problem darstellen, weil das neue System nun ebenfalls modular aufgebaut ist. Auf die fehlende Unterschrift von DWE unter die technische Spezifikation angesprochen, muss van der Planken einräumen, dass er die Zusendung verbummelt hat. Beide Besucher unterschreiben das vorliegende Dokument, womit diese Formalität erledigt ist. Kommerzieller Auftakt Herbert Langwasser beginnt, eine Blankoversion des zweisprachigen Verhandlungsprotokolls auszufüllen. Das Formular hat er van der Planken frühzeitig als PDF-Datei zur Durchsicht geschickt, der es, wie er sagt, von der letzten Verhandlung vor ein paar Jahren kennt. Man einigt sich, dass der englischsprachige Teil im Vertragsfall rechtlich bindend sein soll. Die Teilnehmer arbeiten sich durch die einzelnen Klauseln durch, und Langwasser streicht, kreuzt an, ergänzt handschriftlich und füllt Lücken im Text. Er kennt aus Schulungen zwar das FBI-Konzept (Abschn. 2.3), aber eine Vergabeverhandlung ist schließlich keine Krisensituation. Also verzichtet er auf die Teilnahme eines weiteren Einkäufers zum Beobachten und Protokollführen („Wer schreibt, der bleibt“, denkt er) – zumal er weiß, dass er sich in der Verhandlung auf seine beiden Teamkollegen verlassen kann. Und so notiert und bestätigt er im Formular allgemeine Angaben zur Verhandlung, technische Ausführung, Frachtbedingungen und Lieferumfang, Einzelheiten zur Abwicklung des Auftrags und zu Versicherungen, Sicherheit und Normen sowie eine Reihe von formaljuristisch relevanten Punkten, unter anderem die Rangfolge der Dokumente. Ganz im Sinne der WAFAG soll nach deutschem Recht bestellt werden und der Gerichtsort Dresden sein.
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8 Tagebuch einer Musterverhandlung
„Allerdings enthält das Formular keine Haftungsbegrenzung“, rügt van der Planken. „Ihr wisst doch, dass wir ohne Regelung prinzipiell keine Geschäfte mehr machen.“ – „Arno, und Sie wissen, dass dies in unserem Hause nicht gerne gesehen wird. Zumal wir Alternativen haben …“ Van der Planken muss ein bisschen schlucken; dies hier scheint kein Selbstläufer für DWE zu werden. Beide Seiten wollen sich nicht gleich in der Anfangsphase festbeißen, denn das Ritual um die Vereinbarung einer diesbezüglichen Regelung gehört zu fast jeder Anlagenverhandlung zwischen DWE und der WAFAG. Und so einigt man sich nach einigem Hin und Her auf eine Haftungsbegrenzung in doppelter Höhe der Auftragssumme, und die WAFAG wird eine rechtssichere Formulierung vorschlagen und im Falle des Zuschlags in die Bestellung einfügen. Ankerung Konstrukteur Pieter Broeckhoven ist inzwischen Zuhörer, nachdem er den technischen Teil aktiv mitgestaltet hat. Das Gespräch läuft weitgehend zwischen van der Planken und Langwasser ab, dieser unterstützt vom Techniker und Entwickler. Nachdem die Haftungsfrage geklärt ist, trägt der Einkäufer die Eckdaten des DWE-Angebots in das Verhandlungsprotokoll ein. „4,39 Millionen Euro ist eine Stange Geld“, äußert er dabei halblaut. Dann fügt Klaus Auerbach (wie abgesprochen) relativ deutlich hinzu: „Arno, dieser Preis ist ein Witz, und Du weißt ganz genau, dass Ihr den Auftrag damit vermasselt.“ Van der Planken grinst etwas gequält und sagt: „Selbstverständlich wollen wir den Auftrag, und Ihr wisst, dass wir flexibler als die Wettbewerber aus Amerika oder Asien sind. Aber auch wir müssen wirtschaftlich überleben. An welchen Preis hat die WAFAG denn gedacht?“ Auf dieses Stichwort hat Herbert Langwasser gewartet, und er schreibt mit dickem rotem Filzstift auf den Flipchart-Block: 3,31 Mio. €/Anlage. „Mehr können und wollen wir nicht zahlen.“ Das stimmt zwar nicht so ganz, doch handelt es sich bei der Ankerung um ein etabliertes und probates Stilmittel (Abschn. 3.6 und 5.7) und nicht um eine moralisch verwerfliche Unwahrheit. Eine gefühlte halbe Ewigkeit sagt niemand etwas, und der Anker scheint zu greifen. Die drei WAFAG-Mitarbeiter scheinen bester Stimmung zu sein und strahlen offensichtlich aus, dass ihr Unternehmen neben der Wettbewerbssituation noch weitere Trümpfe besitzt. Nachdem sich Arno van der Planken etwas gefasst und intensiv auf seinem Tablet herumgetippt hat, sagt er: „So
8.2 Durchführung der Verhandlung
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geht das nicht. Wir können niemals 25 Prozent Rabatt geben. Dadurch zahlen wir im Endeffekt bei drauf!“ Inzwischen ist es fast 12 Uhr, und sie einigen sich darauf, eine Pause zu machen. Langwasser lädt die Besucher und seine eigenen Kollegen in die Kantine ein, wobei nicht alle Personen den richtigen Appetit zu haben scheinen. Bei einem abschließenden Cappuccino und einem Stück Kuchen in der Cafeteria wird die Stimmung wieder etwas versöhnlicher. Vergrößerung des Kuchens Mit der Ankersetzung ist der erste Teil der WAFAG-Taktik erfolgreich realisiert worden. Nach der Mittagspause gleitet die Verhandlung eine Weile in eine leicht erratische Preisdiskussion ab. Klaus Auerbach erläutert in abstrakten Worten, was eine Budgetierung bedeutet und dass das Projekt eine gewisse Menge Geld für einen „Ausheizofen“ bereitstellt und eben nicht mehr. „Und der eine Anbieter kann da mitgehen und der andere nicht.“ Nach weiterem Austausch von Argumenten bietet van der Planken einen Nachlass von 9 Prozent an: „Damit liegt der Preis bei 3,995 Millionen Euro, also sogar unterhalb der Schwelle von 4 Millionen. Mehr ist nun wirklich nicht drin!“ „Das ist ja schon mal ein Fortschritt“, denkt Langwasser, „und vermutlich nicht das Ende der Fahnenstange.“ Um auf den mit JT für die erste Anlage verhandelten Preis von 3,8 Millionen Euro zu kommen, müssten 13,5 Prozent Nachlass her, deutlich mehr als die Rabatte von DWE in früheren Projekten. Allerdings ist in der Vorbesprechung diskutiert worden, dass der geringfügig höhere Durchsatz und die erweiterte Funktionalität der DWE-Anlage beim Vergleich nicht unberücksichtigt bleiben sollten. Die Verhandler sind zwar in der Nähe des Ziels, aber noch nicht ganz dort angelangt. Und zu weiteren finanziellen Zugeständnissen ist van der Planken nicht zu bewegen, solange die WAFAG nicht ebenfalls etwas auf den Tisch legt, das den Kuchen größer macht. Es wird über die technische und Prozessunterstützung durch DWE in Dresden und Singapur gesprochen und ebenso über die WAFAG-Forderung nach umfassender Schulung auch für Servicemitarbeiter an den Anlagen. „Ich bin nach wie vor an einer Level-2-Schulung für meine Leute vor Ort interessiert“, schlägt Klaus Auerbach vor. Dies wäre das zweite von vier Wartungs- und Störungsniveaus, das in vielen Fällen den Anlageningenieuren des Kunden zugänglich gemacht wird. Arno van der Planken grübelt und sagt: „Das würde natürlich unser Servicegeschäft in Singapur reduzieren.“ – „Du betonst doch immer, wie stabil die neuen Maschinengenerationen von DWE
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laufen. Ich hoffe, dass nicht so viele Anlagenausfälle auftreten werden?!“ Nachdem der Vertriebsingenieur festgestellt hat, dass dies wohl eine Art Eigentor war, besprechen sie die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung. Das Ende vom Lied: Van der Planken bietet für Singapur ein einmaliges Abrufkonto von 500 Vor-Ort-Stunden an, das für Reparaturen, jedoch ebenfalls für die Level-2-Schulung des lokalen WAFAG-Personals nutzbar ist. Als Gegenleistung erhält er die Zusage von Langwasser, dass DWE eine Pressemitteilung über den an sich geheimen Beschaffungsauftrag veröffentlichen darf – dies hatte sich dieser vorher durch Hans-Peter Burghardt freigeben lassen. Es wird eine kurze Unterbrechung vereinbart, um Luft zu holen und sich zu sammeln, und die drei WAFAG-Vertreter verlassen den Raum. Was bis jetzt auf dem Tisch liegt, sieht schon ganz gut aus, aber die Kundenvertreter sind noch nicht ganz zufrieden. Kipp-Punkt Es folgt der nächste Schritt der vorbereiteten Taktik. Jens Zimmermann, der Arno van der Planken wie Auerbach von mehreren Holland-Besuchen gut kennt, sagt: „Was hältst Du von der Idee, Arno, dass Ihr uns die Testanlage für Dresden nur leiht und nicht verkauft?“ Abermals Schweigen. „Wie meinst Du das?“ – „Nun ja, nach den Tests werden sicherlich Komponenten ausgewechselt, und die Testanlage entspricht damit nicht genau dem, was nach Singapur kommen soll. Dieser Umstand erschwert die Nachvollziehbarkeit von Ergebnissen und den späteren Anlagenvergleich. Außerdem wollen wir in Dresden vermutlich gar keine AnnealingProduktion fahren, sodass die Maschine totes Kapital darstellt.“ Er geht etwas mehr ins Prozessdetail. Und Langwasser ergänzt: „Ich darf Ihnen für unsere Seite den Vorschlag machen, dass wir Transport, Installation und Betrieb der Testanlage bezahlen, ebenso vielleicht sogar eine Leihgebühr. Nach einem halben Jahr können wir sie wieder zurückgeben. Gleichzeitig bieten wir für die sechs Anlagen für das Singapur-Projekt einen Stückpreis von glatten 3,6 Millionen Euro.“ Nach 3,31 Millionen Euro die nächste vorbereitete Konzessionsstufe – so tastet er sich in Richtung Zielpreis von 3,75 Millionen Euro vor. Der Vorschlag der Leihe der Testanlage scheint der Kipp-Punkt in der Verhandlung zu sein (Abschn. 4.2). Der Key Account Manager räumt ein, dass die Testanlage durch DWE nach Rücksendung und leichtem Refurbishing problemlos weiterverkauft werden könnte – unklar bleibt, ob er dieses Ansinnen bereits erwartet hatte und sich vorbereiten konnte.
8.2 Durchführung der Verhandlung
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Während der folgenden Stunde arbeiten die Beteiligten die kommerziellen Einzelheiten des Vertrags aus, und einige zuvor erledigte Aspekte kommen erneut auf den Tisch. Letztlich dreht sich alles um den Stückpreis der Anlagen für das Projekt, wobei sich Langwasser, Auerbach und Zimmermann geschickt die Bälle zuspielen. Broeckhoven sagt nun gar nichts mehr; insofern scheint die WAFAG am Tisch strategisch im Vorteil zu sein. Es wird langsam klar, dass Arno van der Planken keine Zugeständnisse mehr im Ärmel hat. Den Sack zumachen Der Gordische Knoten kann erst durch telefonische Rücksprache van der Plankens mit seinem Top-Management in Rotterdam durchschlagen werden, worum ihn Langwasser dringend bittet. Es gelingt ihm, sich 3,80 Millionen Euro und damit die oben angedachten 13,5 Prozent Nachlass freigeben zu lassen. Beide Parteien schlagen ein und einigen sich dadurch auf dieses Paket: • Es wird ein Leihvertrag für die Test- und Qualifizierungsanlage für Dresden (Versicherungswert 4,00 Mio. €) abgeschlossen. • WAFAG trägt alle Kosten der Leihe (ausgenommen technisches und anwendungstechnisches DWE-Personal) und hat nach sechs Monaten ein Rückgaberecht. • Die Leihgebühr für sechs Monate wird mit 10 % des Versicherungswertes angesetzt und bei einem eventuellen späteren Ankauf des Systems angerechnet. • Der Stückpreis bei Bestellung von mindestens drei Anlagen nach derselben Spec beträgt 3,80 Mio. € (13,5 % Nachlass). • Bei Bestellung dieser mindestens drei Anlagen wird ein Abrufkonto für 500 Schulungs- und Servicestunden bereitgestellt, das auch für eine Level-2Schulung nutzbar ist (Wert 100.000 €). • Die Verjährungsfrist für Mängelhaftung für in Singapur installierte Anlagen wird auf 18 Monate erhöht. • Die Gültigkeitsdauer der Vereinbarung beträgt 36 Monate. Zwar liegt der Stückpreis für die Projektanlagen weit über dem Ankerpreis, aber dies ist in derartigen Fällen normal (vgl. Abschn. 3.6). Immerhin ist das WAFAG-Verhandlungsteam in der Nähe seines Zielpreises gelandet und konnte zusätzlich eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Mängelhaftung erreichen. Nach Verabschiedung der Besucher fragt Herbert Langwasser seine Mitstreiter, wie sie das Resultat der Verhandlung ad hoc beurteilen. Die sind
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hin- und hergerissen zwischen der Option, die Leihanlage zurückschicken zu dürfen (doch wer weiß, was die WAFAG in einem Jahr plant …) und der Tatsache, dass auch dieses Zugeständnis das Unternehmen eine gute halbe Million Euro kostet – aber alles in allem positiv gestimmt. ◄
8.3 Nachbereitung und Vergabeentscheidung Die beiden Verhandlungsabschlüsse lassen selbst bei genauerem Hinsehen keinen klaren Favoriten erkennen. JT bietet eine bewährte, DWE die kreativere technische Lösung an. Die DWE-Anlage ist etwas teurer und etwas schneller und der Leihvertrag eine innovative Variante zur Kostensteuerung. Beide Anbie ter wollen vor allem die neue WAFAG-Fab in Singapur mit ihrem Equipment ausstatten und legen sich entsprechend ins Zeug. Und am QFD-Ergebnis (Abschn. 4.3) ändert sich nach dem Vorliegen der beiden verhandelten Gesamtpakete nichts Gravierendes, sodass es nach wie vor ein Kopf-an-Kopf-Rennen ist. Herbert Langwasser
Am nächsten Morgen setzt sich der strategische Einkäufer an seinen Schreibtisch und fasst die Ergebnisse der beiden verhandelten Pakete für Projektleitung und oberes Management zusammen. Die errechneten Savings würden bei JT auf Basis des Listenpreises von knapp sechs Millionen US-Dollar mit rund zwei Millionen US-Dollar üppig sein. Fiele die Wahl auf DWE, lägen die Einsparungen vom Angebot deutlich niedriger. Allerdings sind die Savings in beiden Fällen als Anhaltspunkt, wie gut oder schlecht die Verhandlung gelaufen ist, kaum dienlich und helfen schon gar nicht bei der Entscheidungsfindung. Für das Gesamtszenario berücksichtigt er sechs Anlagen, die im Rahmen des Singapur-Projekts installiert werden sollen, sowie den Aufwand für die Nutzung der Testanlage in Dresden, die anschließend nicht produktiv genutzt (JT) bzw. retourniert wird (DWE). Dies führt zu einem Gesamtaufwand von 25,2 Millionen Euro für JT und von 22,7 Millionen Euro für DWE – wobei für den höheren Paketpreis die Joint-Technologies-Testanlage im Eigentum der WAFAG bleiben würde, doch was ist diese für die eigene Organisation wirklich wert?
8.3 Nachbereitung und Vergabeentscheidung
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Andererseits ermöglichen die DWE-Systeme einen geringfügig besseren Durchsatz. Wie auch immer, irgendwie wird man bei der Auswahl gezwungen sein, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Herbert Langwasser ist mit dem Ergebnis beider Verhandlungen dennoch recht zufrieden und bringt dies in seiner internen Mitteilung zum Ausdruck. Den Zielpreis hatte das Team mit 3,75 Millionen Euro pro Anlage festgelegt. Im Falle von DWE sind sie knapp über 3,78 Millionen Euro bei sechs Anlagen gelandet, der JT-Stückpreis liegt bei glatten 3,60 Millionen Euro auf der Basis von sieben Anlagen. Die darin eingerechneten zusätzlichen Zugeständnisse Betreuung und Verjährungsfrist für Mängelhaftung haben kaum 100.000 Euro pro Anlage ausgemacht. Bei JT besteht außerdem noch das Währungsrisiko, das allerdings nicht sein Problem ist: Es wird mit dem Projektwechselkurs von 1,15 US-$/€ gerechnet. Die Vergabeentscheidung Am Nachmittag setzt sich Langwasser nochmals mit seinen Kollegen Auerbach und Zimmermann zusammen, um eine Entscheidung zu treffen oder zumindest vorzubereiten. Es herrscht die Meinung vor, dass beide Pakete kommerziell gut und technisch brauchbar sind. Will man beim großen, erfahrenen amerikanischen Lieferanten kaufen oder beim kleineren EU-Vertreter, der aber flexibler ist? Ist der WAFAG mit dem Verbleib der JT-Anlage (für 2,5 Millionen Euro, die Differenz der beiden Paketpreise) in Dresden gedient? Oder bietet die Option der Rücksendung einen größeren Vorteil? Für die späteren Funktionsprüfungen (FATs) beim Lieferanten würde Auerbach definitiv lieber nach Singapur fliegen als nach Rotterdam fahren – nur zählt dieses Argument bei der Entscheidung leider nicht, wie ihm die Kollegen grinsend erklären.
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Die drei gehen die QFD-Analyse nochmals durch und stufen beim Punkt 10 („Gesamtpaket für Singapur“) DWE ebenfalls auf 4, sodass dieser Lieferant nun knapp vorne liegt, ohne dass dies eine echte Entscheidungshilfe bietet. Nachdem alle Argumente für und wider einen der beiden Anbieter diskutiert worden sind, bittet Herbert Langwasser darum, dass jeder seinen persönlichen Favoriten geheim auf einen Zettel schreibt. Die drei Papierstücke, die anschließend vorgelegt werden, zeigen insgesamt neun Buchstaben. „Sieh‘ an“, sagt Klaus Auerbach, „dann machen wir es also mit dem fliegenden Holländer.“ Finetuning Herbert Langwasser hat seinen Chef Thomas Krämer ständig auf dem Laufenden gehalten, und dieser sagt anschließend, er findet das DWE-Paket und die Entscheidungsfindung nicht schlecht. Langwasser solle jedoch auf jeden Fall nochmals bei van der Planken anrufen, um vor der endgültigen Zusage eine weitere Kleinigkeit herauszuholen. Langwasser ist dieses Nachkarten eigentlich zuwider, aber was soll er machen, wenn sein Vorgesetzte ihn dazu verdonnert? Immerhin kann er sich damit auf diesen als höhere Ebene berufen. (Er hat in dieser Hinsicht volles Vertrauen in Krämers Kompetenzen, nicht nur wegen dessen sportlichen Einscheinungsbildes mit 1,96 Metern Körpergröße.) Am Montag der folgenden Woche treffen sich die drei aktiven Verhandler mit Projektleiter Burghardt, Technikleiter Eisleben und Krämer und erläutern ihre Beschlussvorlage. Die Entscheidung für Dutch Wafer Equipment N. V. wird bereits am Mittwoch durch den Vorstand bestätigt mit dem Auftrag, die Testanlage zu beschaffen. Donnerstag ruft Langwasser van der Planken an und schildert, dass die WAFAG gerne mit DWE bei den Annealing-Anlagen zusammenarbeiten will und die Entscheidungsträger dafür noch ein kleines Zugeständnis benötigen, um ihr Gesicht zu wahren. Er schlägt vor, den Stückpreis für die Testanlage (falls sie entgegen der momentanen Absicht zu einem späteren Zeitpunkt übernommen wird) und alle Produktionsanlagen auf 3,75 Millionen Euro zu korrigieren. Arno van der Planken, der vermutlich schon mit diesem Manöver gerechnet hat, lacht und sagt: „Ausgeschlossen, Herr Langwasser! Sie wissen doch, was ich von derartigem Nibbling halte.“ Da sich ein kleinliches Feilschen für gute Geschäftsfreunde letztlich nicht ziemt, wird kurz und schmerzlos ein Stückpreis von 3,79 Millionen Euro vereinbart. Immerhin hat dieser Anruf der WAFAG zusätzliche Savings für die sechs Produktionsanlagen in der Größenordnung eines Jahresgehaltes erbracht. Und eines weiß (und notiert)
8.3 Nachbereitung und Vergabeentscheidung
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Langwasser: Egal, wie das aktuelle Projekt ausgeht – die Erwartungshaltung für zukünftige Geschäftsabschlüsse mit DWE hat sich von den etablierten zehn Prozent Nachlass deutlich nach oben verschoben. Nacharbeiten Herbert Langwasser verfasst gemeinsam mit dem zuständigen WAFAGJustiziar eine Absichtserklärung (Memorandum of Understanding, MoU) über die Bestellung der Annealing-Anlagen für Singapur, sobald die Testanlage die Spec erfüllt, das Projekt genehmigt und das Budget bewilligt ist. Dieses Vorgehen hat er mit van der Planken am Telefon abgesprochen und das Verhandlungsprotokoll um diesen Passus erweitert sowie den neuen Stückpreis eingefügt. Da es sich um eine unverbindliche Absichtserklärung handeln soll (s. Wikipedia 2020), ist die Kooperation mit der Rechtsabteilung hier dringend geboten, um ungewollte Verpflichtungen wirksam zu verhindern. Außerdem bereitet er die Leihbestellung an DWE für die Testanlage vor, die nach Dresden geliefert werden soll, und lässt beide Dokumente gemäß Unterschriftenregelung vom Vorstand signieren. Anschließend verschickt er sie mit der Post und als Scan mit E-Mail an Arno van der Planken. (Dessen Freude ist nachvollziehbar.) Die Absage an JT erläutert Langwasser Gottfried Krause erst am Telefon, nachdem er von DWE die schriftliche Auftragsbestätigung für die Leihbestellung sowie das gegengezeichnete MoU erhalten hat. Schließlich fordert das Berichtswesen dann noch, die Savings präzise zu berechnen (Abschn. 1.4) – auch wenn Herbert Langwasser nicht viel von ihrer Aussagekraft hält. Nach den internen Vorgaben kalkuliert er diese für die sechs Singapur-Anlagen, deren Bestellung zwar noch nicht endgültig genehmigt, aber fest geplant ist. Der etwas höhere Durchsatz gegenüber der JT-Anlage fließt nicht in die Berechnung ein, da a) dieser zunächst in der Praxis bestätigt werden muss und vor allem b) es sich um sprungfixe Kosten handelt und der Umstand am Bedarf von sechs Anlagen für das Projekt nichts ändert. • Markterfolg: (Listenpreis JT + Angebotspreis DWE) / 2 − Angebotspreis DWE = (5,19 Mio. € + 4,39 Mio. €) /2 − 4,39 Mio. € = 0,40 Mio. € pro Anlage • Verhandlungserfolg: Angebotspreis DWE − Endpreis DWE = 4,39 Mio. € − 3,79 Mio. € = 0,50 Mio. € pro Anlage
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• Verlängerung Verjährungsfrist für Mängelhaftung: Zeitraum × Faktor × Endpreis DWE = 6/12 Monate × 4,4 % (geschätzt) × 3,79 Mio. € = 83.380 € pro Anlage • Schulungs- und Servicestundenkonto: Wert 100.000 € = 16.666 € pro Anlage • Summe Savings: (0,40 Mio. € + 0,50 Mio. € + 83.400 € + 16.666 €) × 6 Anlagen = 6,00 Mio. € Eine Million Euro Savings pro Anlage: 22,8 Prozent bezogen auf den Angebotspreis, eine stolze Zahl – und dennoch kein Garant für ein erfolgreiches Projekt und die Nachhaltigkeit des Abschlusses. An dieser Stelle endet die Berichterstattung zur Vergabe der AnnealingGroßanlagen mit klaren technischen und kommerziellen Vereinbarungen. Hoffen wir für die WAFAG, dass das geplante Projekt ein Erfolg wird: dass die Testanlage so konfiguriert werden kann, wie es die Experten erwarten; dass die Kundenqualifikationen problemlos laufen; dass die Weltwirtschaft nicht dauerhaft unter Handelshemmnissen und Pandemien leidet; dass die SingapurInvestition genehmigt, erfolgreich realisiert und auch mittelfristig profitabel wird; und dass nicht zu viel Prozess-Know-how in andere Unternehmen und Staaten abfließt. ◄
8.4 Verbraucherkäufe Mein Wunsch, professionell einzukaufen und zu verhandeln, hatte sich einerseits durch die Teilnahme als Prozessverantwortlicher an Vergabeverhandlungen ergeben. Andererseits stand ich unter dem Einfluss des privaten Eigenheimbaus, bei dem alle Gewerke einzeln ausgeschrieben und verhandelt worden waren. Dies wirft eine abschließende Frage auf: Was unterscheidet Verbraucher und Industrieeinkäufer? Das Motto dieses Buchs (Komplexe B2B-Einkaufsverhandlungen sind nur dann erfolgreich, wenn sie zu nachhaltigen Vereinbarungen führen) ist – abgesehen vom Prädikat „B2B“ (anstelle von B2C) – weitgehend ebenso auf den Konsumgütereinkauf anwendbar. Und es lassen sich zahlreiche Parallelen zu hier diskutierten Themenfeldern finden: Sowohl der B2B-Einkäufer als auch der Verbraucher sollten den Unterschied zwischen „billig“ und „preiswert“ kennen – obwohl der eine wie der andere wiederholt den Fehler begeht, sich (getrieben von
8.4 Verbraucherkäufe
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Abb. 8.1 Das einzige Geschäft weit und breit hat alles, was benötigt wird: Colville General Store, Coromandel-Halbinsel, Neuseeland
Verlustangst) auf vermeintliche Schnäppchen zu stürzen und in einer Vollkostenbetrachtung teurere Billigprodukte zu kaufen. Beide arbeiten mit Strategie und Taktiken, Needs und Wants, Budgets und Zielen – oder sollten dies im eigenen Interesse tun. Ein überzeugendes Leistungsangebot bindet den Abnehmer an den Anbieter (s. Abb. 8.1). „Mit den Füßen abstimmen“, das heißt zweifelhafte Lieferanten und Produkte meiden, tun ebenfalls beide Lager; die stärkste Verhandlungsmacht ist immer dann gegeben, solange kein Kauf getätigt wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Macht der Verbraucher war der Boykott von Shell-Tankstellen 1995, nachdem der Ölkonzern die Bohrplattform Brent Spar in der Nordsee versenken wollte, der zeitweise zu herben Umsatzeinbußen führte (Gunkel 2010). Andererseits kann ein Großkunde einen von ihm abhängigen Lieferanten auch im B2B-Geschäft durch Sperrung bzw. Nichtberücksichtigung schnell in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen. Dies führt den Gedankengang nahezu zwangsläufig weiter zu nachhaltigem Einkaufen und Konsum (hier im Sinne des Prinzips, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als künftig wieder bereitgestellt werden kann). Auch in dieser Hinsicht lassen sich im Vorgehen von Unternehmen (die Umwelt- und Energie-Zertifizierungen anstreben) und Konsumenten (mit der Absicht, ihren
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ökologischen Fußabdruck durch Ressourcenschonung zu verkleinern und Bioprodukte zu kaufen) auf den ersten Blick ähnliche Muster erkennen. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass Verbraucher einen besonderen Schutz des Gesetzes genießen (durch das Verbrauchervertragsrecht des BGB, das Wettbewerbsrecht und andere Normen), da sie sich im Geschäftsverhältnis mit Kaufleuten (in Handel, Banken, Gewerbe usw.) in der rechtlich schwächeren Position befinden. (Ähnliches gilt für den Arbeitnehmerschutz.) Der Gesetzgeber hat erkannt, dass Gefahren für den Konsumenten z. B. in der unsachgemäßen Beeinflussung oder unzureichenden Information bei Vertragsschluss, nachteiligen Vertragsbedingungen sowie überhöhten Preisen und mangelhaften Produkten zu sehen sind. Beispiel
Viele Verbraucher unterliegen dennoch beim Abschluss von Geschäften grundlegenden Irrtümern über ihre Rechtsposition. Und so halten sich zahlreiche Fehlannahmen im kollektiven Bewusstsein, etwa Mangelhafte Ware kann ich nur mit Originalverpackung reklamieren oder Der Samstag ist kein Werktag. Im ersten Fall ist richtig: Auch ohne Originalverpackung hat man einen Rechtsanspruch auf Reparatur oder Ersatz mangelhafter Ware. Genau wie bei anderen Ausflüchten (reduzierte Ware; kein Kassenbon …) handelt es sich dabei um eine Ausrede des Verkäufers, der die defekten Produkte nicht zurücknehmen will. Und der Samstag gilt gesetzlich immer noch als Werktag: Die deutsche Arbeitszeitgesetzgebung würde nach wie vor sechs Arbeitstage bei einer Wochenarbeitszeit von 48 Stunden zulassen. Für Straßenschilder und Parkuhren gilt dieselbe Rechtsauffassung (s. Abb. 8.2). Letztgenannter Punkt ist im B2B-Bereich ebenfalls von Interesse. Enthält ein Wartungsvertrag nach deutschem Recht die Formulierung, dass eine Leistung (wie eine Rufbereitschaft für Störfälle) werktags von 8 bis 17 Uhr zu erbringen ist, erstreckt sich die Verpflichtung bis in den späten Samstagnachmittag. Wollen die Vertragspartner dies nicht vereinbaren, ist für den Gültigkeitszeitraum „montags bis freitags an Werktagen“ festzulegen. ◄ Auch für den Verbraucher ist es von Bedeutung, welchen Vertragstyp er abschließt. Dies betrifft häufig die Unterscheidung, ob einem Beschaffungsgeschäft ein Kaufvertrag oder ein Werkvertrag zugrunde liegt. Typische Fälle aus dem Alltagsleben sind die nachgenannten. • Beim Autokauf ist der Vertragstyp noch relativ einfach zu bestimmen: Anhand fehlender oder vorhandener individueller Anpassung (Sonderaus-
8.4 Verbraucherkäufe
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Abb. 8.2 Das linke Schild gilt auch samstags, das rechte nicht
stattung) lässt sich entscheiden, ob es sich um eine vertretbare oder nicht vertretbare Sache und somit um einen Kauf- oder Werkvertrag handelt. • Bei Kauf und Montage einer Fotovoltaikanlage hat die Rechtsprechung inzwischen entschieden, dass ein derartiger Vertrag kein Werkvertrag ist, sondern ein Kaufvertrag mit Montageverpflichtung über eine bewegliche Sache (die kein Bauwerk ist) (BGH 2004). Dadurch geht die Gefahr in dem Moment auf den Erwerber über, in dem die Anlage geliefert und montiert worden ist, und die Verjährungsfrist für Mängelhaftung von zwei Jahren beginnt sofort – alle Abweichungen dazu (z. B. eine Abnahme) müssen unbedingt einzelvertraglich vereinbart werden. Der Anlagenkäufer (bzw. -betreiber) wird als Unternehmer und nicht als Verbraucher eingestuft, und daher kann die gesetzliche „Gewährleistungsfrist“ vertraglich verkürzt werden.1 1Diese
Verjährungsfrist für Mängelhaftung beträgt beim Kauf von Neuteilen zwei Jahre und für gebrauchte Güter ein Jahr. Sie darf in Verträgen mit Verbrauchern nicht gekürzt werden, ist jedoch bei Geschäften zwischen Kaufleuten dispositiv. (s. §§ 438 Abs. 1 Nr. 3, 476 Abs. 2 BGB, wobei die Verkürzung für gebrauchte Güter auf ein Jahr gemäß Urteil RS C‑133/16 vom 13.07.2017 EU-Recht widerspricht)
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• Eine Arztleistung ist gewöhnlich über einen Dienstvertrag geregelt, da der Erfolg vom Arzt (=Auftragnehmer) nicht kontrolliert und nur sehr bedingt beeinflusst werden kann. So ist das Vertragsverhältnis zu einem Zahnarzt, der eine Zahnbehandlung durchführt, ein Dienstvertrag, aber die Laborleistung zur Herstellung einer Zahnkrone unterliegt Werkvertragsrecht. Die Tricks des Einzelhandels Vielen Verbrauchern bleibt verborgen, wie sie als Kunden im Einzelhandel auf mannigfaltige Weise manipuliert werden. Die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie (s. Abschn. 3.6) und die damit verbundenen Möglichkeiten des Handels, kognitive Verzerrungen beim Käufer gezielt zu erzeugen, lassen sich dort deutlich einfacher und umfassender ausnutzen als im gewerblichen Beschaffungswesen. In der Regel werden mehrere Sinne gleichzeitig angesprochen, um zum Kauf zu animieren: der Farbensinn durch rote Preisschilder, das Gehör durch ruhige Hintergrundmusik mit Ruhepulstakt, dazu eine angenehme Beleuchtung, Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Die Waren werden zu Schwellenpreisen (19,90 Euro) angeboten oder enthalten eine als authentisch empfundene aufsteigende Ziffernfolge (124,90 Euro). Daneben arbeitet der Einzelhandel mit zahlreichen weiteren psychologischen Effekten und Tricks, um unter dem Strich ein positives Geschäftsergebnis zu erzielen. u Allein durch die Aufmachung und Platzierung einer Ware im Supermarkt lässt sich beeinflussen, wie viel davon gekauft wird. Der durchschnittliche Konsument könnte viel Geld sparen, wenn er Preise zwischen den einzelnen Anbietern vergleichen und mit einer Liste einkaufen gehen würde, um nicht den Verlockungen zum Opfer zu fallen und viel mehr mit nach Hause zu bringen, als beabsichtigt war. Bestpreisgarantie ist ein Reizwort, bei dem jeder Verbraucher hellhörig werden sollte. Vielfach handelt es sich dabei um vergiftete Versprechen: Mittlerweile ist erwiesen, dass Bestpreisgarantien zu tendenziell höheren Preisen führen, sei es bei Elektronikartikeln, Möbelhändlern, Optikern oder im Baumarkt. Denn die meisten Verkäufer setzen ihre Preise vor einer solchen Zusage erst einmal hoch; so können die Einzelhändler die Ware teurer verkaufen, und die vereinzelten Kunden, die sich informiert haben, erhalten die Ware zum alten Preis. Auf jeden Fall ein gutes Geschäft – für den Handel. Wenn ein Elektro- oder Möbelmarkt mit dem Slogan „Wir schenken Ihnen die Mehrwertsteuer“ wirbt, können Sie als Kunde ebenfalls davon ausgehen, dass Sie für dumm verkauft werden. Zunächst einmal ist der konkrete Begriff für das,
8.4 Verbraucherkäufe
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was das Geschäft vermutlich gemeint hat, Umsatzsteuer und nicht Mehrwertsteuer. Zudem wird diese Steuer nicht „geschenkt“ – sie wird in jedem Fall an das zuständige Finanzamt abgeführt –, sondern dem Kunden wird ein Nachlass von in Deutschland derzeit 19 Prozent (Juli bis Dezember 2020: 16 Prozent) auf einen nach unbekannten Kriterien festgelegten Listenpreis gewährt (zum Thema Ankerung s. Abschn. 3.6). Solche Werbeaktionen unterliegen normalerweise Einschränkungen, die im „Kleingedruckten“ stehen, typischerweise „nur in teilnehmenden Filialen“, „solange der Vorrat reicht“, „nicht in Verbindung mit anderen Nachlässen oder Aktionen“ oder „nicht bei diesen oder jenen Produkten und Marken“. Einsparungen bei Verbrauchern u Auch der Verbraucher kann seinen Geldbeutel schonen und die persönliche Savings-Quote erhöhen, indem er vergleicht und sich nicht vom Handel manipulieren lässt – ganz ohne schlechtes Gewissen und ohne darauf Steuern zahlen oder geldwerten Vorteil berücksichtigen zu müssen. Dazu führt er im Wesentlichen nur das aus, was im vorliegenden Buch für gewerbliche Einkäufer und Verhandler diskutiert ist: Eine Reihe der Tipps und Regeln gelten auch für Privateinkäufe, und letztlich ist es die Ausnutzung der Verhandlungsmacht, die zum Geschäftserfolg führt. Allerdings sind die Schwerpunkte der Aktivitäten verschoben: Dem Verbraucher wird vom Anbieter aus naheliegenden Gründen meist eine Plattform zum Verhandeln verwehrt. In diesem Punkt lässt sich abermals eine Anleihe beim B2B-Einkauf machen: In Abschn. 1.4 ist erwähnt, dass hohe Savings in der Equipmentbeschaffung primär über die Angebotsauswahl und weniger durch das Verhandlungsergebnis bewirkt werden (Maucher 2013, S. 202–207). Daher sollte auch der Konsument seine Energie eher in das Sourcing investieren. Ist schließlich ein Anbieter in der engeren Wahl, geschieht oft Folgendes: Im Gegensatz zum industriellen oder ganz allgemein gewerblichen Einkaufen wird im Einzelhandel den Konsumenten suggeriert, es sei unschicklich, eine bessere vertragliche Position zu erhandeln und beispielsweise nach einem Nachlass zu fragen oder anzudeuten, dass ein besseres Angebot vorliegt. Der Kunde wird geschickt darauf festgelegt, in seiner Komfortzone zu bleiben und das zu zahlen, was der Anbieter verlangt – so sind alle glücklich und zufrieden. Alle? Zumindest wiederum die Hälfte der Vertragsparteien. Dass dies auch im Privatleben nicht so sein muss, sei hier ausdrücklich betont: Wer als (potenzieller) Kunde bei größeren Anschaffungen verhandelt,
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muss sehr genau auf seinen eigenen Vorteil achten. Denn der Verbraucher steht (oder sitzt) gewöhnlich Verkaufsprofis gegenüber, die ihr Metier gelernt haben, vor allem die Feinheiten von reinen Verkaufsgesprächen (Pitch Talk) im Gegensatz zur kompetenten Beratung bei erklärungsbedürftigen Produkten. Und da im Jahr 2001 das Rabattgesetz in Deutschland abgeschafft wurde, das den möglichen Nachlass im Prinzip auf drei Prozent begrenzt hat, kann der Käufer aus dem Vollen schöpfen und seine Chancen nutzen. u Auch bei Privateinkäufen sollte verhandelt werden, wo es Sinn macht. Jeder gesparte Euro bedeutet – in Analogie zu den Savings in der Wirtschaft – ein Euro mehr im Portemonnaie, während von jedem verdienten Euro ein signifikanter Anteil durch Abgaben und Aufwendungen verlorengeht.
Verhandlungstipps für Verbraucher
• Bei Einkäufen ab etwa 100 Euro lohnt es sich, in Fachgeschäften (nicht jedoch bei Lebensmitteln und/oder in Supermärkten) zu fragen, ob ein Nachlass oder eine kostenlose Zugabe drin ist. Einmal höflich fragen und dann warten – Insistieren oder Fordern ist nicht angebracht. Wenn der Angestellte erst den Abteilungsleiter fragen muss – nur Geduld, geben Sie ihm die Chance dafür. Mit der Zeit weiß man, wo welche Optionen möglich sind; drei bis zehn Prozent Rabatt lassen sich (bevorzugt in Kleinstädten und auf dem Land) durchaus realisieren. • Baumärkte und Elektronikläden stehen immer noch im Ruf, günstiger zu sein als kleinere Spezialgeschäfte. Betreiben Sie auch als Verbraucher konsequentes Sourcing und vergleichen Sie die Preise! Eine Bohrmaschine im Baumarkt für 199 Euro ist teurer als dasselbe Modell beim Einzelhändler vor Ort für 220 Euro, der eine hilfreiche Beratung zur Auswahl bietet und außerdem zehn Prozent Nachlass und einen Satz Bohrer obendrauf gibt. Bei sperrigeren Anschaffungen (Fernsehgeräte, Möbel) spielt die Leistung der Anlieferung und Installation sowie Montage ebenfalls eine preisliche Rolle. • Fahrzeug- und vor allem Immobilienkäufe gehören für den Verbraucher zu den größten Einzelgeschäften und müssen gut vorbereitet und rational nach Plan durchgeführt werden. Dazu sind alle vorhandenen Chancen zu nutzen, und man sollte keinesfalls allein verhandeln. Doch auch wer als Privatverkäufer eines Objekts auftritt, ist gut beraten, die
Literatur
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Regeln des Marketings und Verhandelns zu beachten. Marktanalyse, Preisgestaltung und Verhandlungsgeschick spielen dabei eine sehr wichtige Rolle.
Literatur BGH (2004) BGH-Urteil vom 3. März, AZ: VIII ZR 76/03, BauR 2004, 995–997. http:// juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en &nr=28740&pos=0&anz=1. Zugegriffen: 2. März 2020 Gunkel C (2010) Besetzung der Brent Spar: Krieg in der Nordsee. Spiegel Online, InternetVeröffentlichung 20. April. https://www.spiegel.de/geschichte/besetzung-der-brent-spara-948877.html. Zugegriffen: 2. März 2020 Maucher D (2013) Savings measurement for capital equipment purchasing: Procedures, challenges, contingencies, and behavioral aspects. Dissertation, University St. Gallen Nr. 4163. https://www1.unisg.ch/www/edis.nsf/SysLkpByIdentifier/4163/$FILE/dis4163.pdf. Zugegriffen: 2. März 2020 Wikipedia (2020) Absichtserklärung. Wikipedia – die freie Enzyklopädie, San Francisco, CA. https://de.wikipedia.org/wiki/Absichtserklärung. Zugegriffen: 2. März 2020
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Tipps, Vorlagen und Glossar
9.1 Übersicht Verhandlungstipps Kap. 1: Einführende Tipps und Hinweise • Komplexe B2B-Einkaufsverhandlungen sind dann erfolgreich, wenn sie zu nachhaltigen Vereinbarungen führen. (Unter „Nachhaltigkeit“ wird hier eine längere Zeit anhaltende Wirkung verstanden.) • Erfolge und ihre Bestimmung sind nur möglich, wenn vorher Ziele festgelegt wurden. • Erfolgreiche Einkaufsverhandlungen produzieren Ergebnisse, die keine Partei übervorteilen und die Marktposition aller Beteiligten stützen oder sogar stärken. • Die Zyniker vergangener Tage werden im modernen Einkauf nicht mehr gebraucht. • Externe Angelegenheiten sind in jedem Fall wichtiger als interne. • Der Erfolg einer Verhandlung lässt sich anhand der Abweichung des Erreich ten von der Zielfestlegung ablesen. • Das Akronym ERFOLG steht in diesem Buch für Einkäufer, Regeltreue, Führung, Organisation, Lieferant und Geschäftsmodell: die wesentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Beschaffungstätigkeit. Kap. 2: Tipps für professionelle Einkaufsverhandlungen • Gehen Sie mit positiver Grundstimmung in eine Verhandlung und erkennen Sie die Chancen. • Eine gute Vorbereitung gibt dem Verhandlungsführer das notwendige Selbstbewusstsein und reduziert Stress, Anspannung und Nervosität.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Wenski, Nachhaltig verhandeln im Technischen Einkauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30439-3_9
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9 Tipps, Vorlagen und Glossar
• Prüfen Sie Angebote und Konzessionen genau und lassen Sie sich nicht von Nachlässen und Zugaben blenden. • Berücksichtigen Sie den Marktwert des Verhandlungsobjekts und die Ausprägung und Stärke Ihrer Verhandlungsmacht. • Gestalten Sie die Verhandlung für Ihr Gegenüber spannend und lassen Sie Zugeständnisse erarbeiten. • Ein Verhandlungsergebnis ist dann gut und nachhaltig, wenn die Interessen aller Beteiligten befriedigt werden und beide Partner das Ergebnis als fair betrachten. • Verhandlungsteams sollten nicht zu groß sein – in den meisten Fällen reichen zwei bis drei Teilnehmer auf Kundenseite aus. • Taktieren in einer Verhandlung bedeutet teilweise nichts anderes, als mit dem Belohnungs- und Angstsystem des Gegenübers zu spielen. • Regelkonformes Verhalten betrifft für einen Einkäufer neben Korruptionsvermeidung die Beachtung einer Vielzahl weiterer Gesetze, Normen und Vereinbarungen. • Einkäufer als potenzielle Ziele von Bestechung dürfen sich in ihren Entscheidungen niemals durch Geschenke, Gefallen oder Annehmlichkeiten beeinflussen lassen. Abschn. 3.1: Tools und Tipps für jede Verhandlungssituation • Verhandeln bedeutet Tauschen und nicht Fordern. • Ziel einer Verhandlung sollte eine faire Vereinbarung auf Augenhöhe sein. • Das Talent zum Verhandeln muss man zu einem gewissen Grad im Blut haben. • Entwickeln Sie durch Erfahrung und Feedback eine gesunde Mischung aus Intuition und Rationalität sowie aus Spontaneität und Routine. • Benehmen Sie sich dem Verhandlungspartner und Ihren Teamkollegen gegenüber stets vorbildlich. Abschn. 3.1: Tools und Tipps für die Verhandlungsvorbereitung • Gute Vorbereitung ist wichtiger als clevere Verhandlungstaktik. • Besorgen Sie sich alle relevanten Informationen. • Verbessern Sie bereits lange vor der Verhandlung Ihre BATNA, die Best Alternative To a Negotiated Agreement des Harvard-Konzepts. • Je ambitionierter ein Verhandlungsziel festgelegt ist, desto besser gelingt der Abschluss. • Bedeutende Verhandlungen sollten im Team vorbereitet und geführt werden.
9.1 Übersicht Verhandlungstipps
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Abschn. 3.1: Tools und Tipps für die Kommunikation in einer Verhandlung • Reden Sie wenig, hören Sie aktiv zu und stellen Sie bevorzugt offene Fragen. • Entgegnen Sie auf Vorschläge nie typisch Deutsch mit „Nein“, sondern mit „Falls“. • Auskünfte der Gegenseite stärken Ihre Position: Wer fragt, der führt. • Lügen Sie Ihren Verhandlungspartner niemals an; Sie müssen jedoch nicht alle Teile der Wahrheit offenbaren. • Beachten Sie besonders auf internationalem Parkett kulturelle und sprachliche Unterschiede. Abschn. 3.1: Tools und Tipps zu Emotionen und Tricks • Schieben Sie die Schuld an Ihren Problemen niemals der Gegenseite zu. • Die Methode des Feilschens bringt persönliche Beziehungen und Sachinteressen durcheinander. • Erkennen und artikulieren Sie Ihre Emotionen. Gestatten Sie auch dem Verhandlungspartner, Dampf abzulassen. • Wenn Sie zur Zielscheibe unsauberer Tricks werden, sprechen Sie dies sofort an und bitten um Korrektur. Brechen Sie ansonsten die Verhandlung ab. • Sehen Sie selbst davon ab, mit ethisch-moralisch verwerflichen Taktiken zu arbeiten. Abschn. 3.1: Tools und Tipps für den Abschluss einer Verhandlung • Seien Sie darauf vorbereitet, dass Ihr Gegenüber am Ende noch mit Kleinigkeiten ankommt. • Versuchen Sie nicht, aus jeder Verhandlung das Letzte herauszuholen. • Erschweren Sie das „Nein“ sagen und verdeutlichen Sie die Konsequenzen des Scheiterns. • Für Ihr Gegenüber ist der Verlauf wichtig, für Sie das Ergebnis. • Fassen Sie Vereinbarungen schriftlich zusammen und setzen Sie sie zeitnah um. Abschn. 3.2: Tools und Tipps für die Preisfindung • Reden Sie zunächst über alles andere, nur nicht über den Preis. • Entwickeln Sie faire, objektive Kriterien zur Preisfindung. • Bereiten Sie eine Konzessionsstrategie aus Anbieten und Nachgeben vor und verringern Sie Ihr Nachgeben mit jedem Schritt. • Verändern Sie niemals Ihr Angebot, ohne zwischenzeitlich ein Gegenangebot erhalten zu haben. • Verzichten Sie darauf, das erste Angebot zu machen, oder machen Sie eines, das Ihnen ausreichend Bewegungsfreiheit lässt.
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9 Tipps, Vorlagen und Glossar
Abschn. 3.2: Tools und Tipps für den Verhandlungsverlauf • Geben Sie nicht, ohne gleichzeitig zu fordern. • Befassen Sie sich mit den Details. • Vermeiden Sie feste Positionen und betrachten Sie andere Sichtweisen. • Visualisieren Sie Angebote und (Zwischen-)Ergebnisse. • Arbeiten Sie mit Meilensteinen und Fristen. Abschn. 3.2: Tools und Tipps zu Verhandlungsobjekten • Vereinbaren Sie mit Ihrem Team während der Vorbereitung eindeutig, was bei der zu verhandelnden Beschaffung Needs und was Wants sind. • Needs müssen durchgesetzt werden, sonst ist der Abschluss unbrauchbar. • Definieren Sie Wants zum Tauschen und legen Sie mögliche Gegenleistungen dafür fest. • Finden Sie heraus, was der Verhandlungspartner wirklich haben möchte und wo seine Sachzwänge sind. • Präsentieren Sie kleine Zugeständnisse an den Verhandlungspartner groß. Abschn. 3.3: Tools und Tipps zu Verhandlungszielen und Verhandlungsmacht • Nutzen Sie die Bedeutung der Akronyme SMART und NO TRICKS. • Ein spezifisches, ambitioniertes Verhandlungsziel führt zu einer signifikanten Steigerung des Verhandlungsgewinns. • Der größte Fehler nicht nur bei der Verhandlungsplanung ist das Stecken von unrealistischen Zielen. • Seien Sie sich über Ihre Verhandlungsmacht im Klaren und nutzen Sie sie. • Arbeiten Sie bereits lange vor einer Verhandlung daran, Ihre Verhandlungsmacht zu stärken. Abschn. 3.4: Tools und Tipps für das harte Verhandeln • Erfolgreiches Verhandeln erfordert ebenso viel Härte wie Offenheit. • Hartes Verhandeln bedeutet hartnäckiges Verhandeln, nicht schlechtes Beneh men. • Bleiben Sie in Ihren Forderungen zunächst hart, verschließen Sie die Augen jedoch nie vor einer möglichen Win-Win-Lösung. • Trennen Sie auch beim harten Verhalten auf jeden Fall Person und Sache. • Betrachten Sie eine Verhandlung nie als Konfrontation.
9.1 Übersicht Verhandlungstipps
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Abschn. 3.4: Tools und Tipps für das Verhandeln nach dem H arvardKonzept • Versetzen Sie sich in die Lage Ihres Verhandlungspartners und beteiligen Sie ihn. • Erörtern Sie in Verhandlungen die Vorstellungen und Positionen beider Seiten. • Sprechen Sie über sich, nicht über die Gegenseite. • Machen Sie Ihre Interessen deutlich, und erkennen Sie die Interessen der anderen an. • Finden und entwickeln Sie Optionen zum beiderseitigen Vorteil. Abschn. 3.5: Tools und Tipps für die Nutzung der Körpersprache • Gestalten Sie den ersten Eindruck, den Sie auf andere machen, unbedingt positiv. • Treten Sie auf der Basis einer soliden Vorbereitung sicher und locker auf. • Präsentieren Sie sich selbst positiv mit einer geraden Körperhaltung und offenen Gesten. • Die innere Haltung entspricht der äußeren Haltung. Optimieren Sie zunächst Ihre innere Haltung. • Analysieren Sie die Körpersprache Ihres Verhandlungspartners im Hinblick auf Einzelgesten, Cluster von Elementen sowie Kongruenz. Abschn. 3.6: Tools und Tipps zur Verhaltensökonomik • Verhandlungspartner denken nicht immer hochrational, sondern werden von psychologisch bedingten Einflüssen geleitet. • Gehen Sie nur ausgeruht und konzentriert in eine Verhandlung. • Überprüfen Sie Ihr Bauchgefühl mit dem Verstand und mit harten Fakten sowie alle Informationen Ihrer Gesprächspartner auf Plausibilität. • Etablieren Sie vor allem beim Preis den Referenzpunkt so, dass Ihr Verhandlungspartner für sich Gewinne und nicht Verluste wahrnimmt. • Lassen Sie sich nicht von Ankern beeinflussen und nutzen Sie selbst bei Ihrem Gebot das Prinzip der Ankerung. Kap. 4: Tipps und Tipps und Regeln zum Verhandlungsablauf • Im Einkauf wird meist zu wenig Zeit und Energie in Vorbereitung und Followup investiert. • Es existiert keine Regel und kein Tipp, Trick oder Kniff, mit dem ein Einkäufer jede Verhandlung zu seinen Gunsten entscheiden kann.
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9 Tipps, Vorlagen und Glossar
• Nach Erreichen eines (für die eigene Partei vorteilhaften) Kipp-Punkts sollte das Ergebnis möglichst rasch fixiert und schriftlich vereinbart werden. • Im Zuge der Abwicklung technisch orientierter Beschaffungsgeschäfte ist der Abschluss einer beidseitigen Geheimhaltungsvereinbarung ratsam. • Der Aufbau von Wettbewerb auf Anbieterseite stärkt die eigene Verhandlungsmacht erheblich. • In einer Wettbewerbssituation sollte mit dem Anbieter zuletzt verhandelt werden, der als wahrscheinlichste Auswahl für die Auftragsvergabe betrachtet wird. • Formale Lieferanten-Auswahlprozesse (SWOT, QFD) sind bei Vorliegen belastbarer Informationen sinnvoll, aber das Resultat entspricht oft dem Bauchgefühl der Teilnehmer. • Im Falle einer Lieferanteninsolvenz ist schnelles Handeln erforderlich; Zahlungen dürfen nur noch auf das Konto des Insolvenzverwalters erfolgen. • Einkäufer sollten im Rahmen der Abwicklung von Werkverträgen keine Abnahmeprotokolle erstellen und unterzeichnen. • Je präziser Bestellung oder Vertrag abgefasst sind, desto eher werden spätere juristische Auseinandersetzungen vermieden. Eine Datenbank mit Musterklauseln kann den Einkäufer dabei unterstützen. • Auch in Kleinbestellungen müssen zwingend bestimmte Schutzklauseln enthalten sein, welche die Rechtsposition des Kunden schützen. • Verhandlungscontrolling und Verhandlungsmanagement stellen effiziente Werkzeuge dar, mit den im Einkauf vorhandenen Ressourcen das bestmögliche Gesamtergebnis zu erzielen. Kap. 5: Verhandlungsregeln für Industrieeinkäufer 1. Verhandeln Sie im eigenen Territorium. 2. Schenken Sie dem Beginn der Verhandlung höchste Aufmerksamkeit und Sorgfalt. 3. Behandeln Sie Lieferantenvertreter stets mit Respekt. 4. Egal, was in einer Verhandlung passiert – bleiben Sie immer cool und souverän. 5. Im Einkauf hat alles seinen Preis. Oder: What you pay is what you get. 6. Sagen Sie dem Lieferanten niemals, wie dringend Sie sein Produkt benö tigen. 7. Man bekommt nur das, wonach man fragt. 8. Erzeugen Sie zunächst Komplexität und reduzieren Sie sie zum Schluss wieder. 9. Machen Sie Ihre Lieferanten zu Partnern und Ideengebern. 10. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Oder: You get what you inspect – not what you expect.
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Kap. 5: Zusätzliche Einkäufertipps • Oft prägen die ersten zehn Minuten einer Verhandlung deren weiteren Verlauf. • Wer zahlt, schafft an. • Lassen Sie nie Zweifel an Ihrer Kompetenz und Autorität aufkommen. • Nur wenn der Vertriebsingenieur eine Vereinbarung in seinem Hause erklären und verteidigen kann, liegt ein zukunftsorientiertes Geschäft vor. • Wenn die Dinge nicht wie geplant laufen, nehmen Sie eine Auszeit. • Ein Einkäufer muss auch versteckte Kosten identifizieren und in einer Vollkostenbetrachtung berücksichtigen. • Beantworten Sie niemals eine Frage, die nicht gestellt wurde. • Beantworten Sie nie die Frage eines Kollegen an den Verhandlungspartner. • Diskutieren Sie in einer Verhandlung keinesfalls. • Akzeptieren Sie niemals das erste Angebot, denn es gibt (nahezu) keinen Verkäufer ohne Verhandlungsspielraum. • Wenn das erste Preisangebot sitzt, ist das für den Einkäufer oft bereits der halbe Verhandlungserfolg. Kap. 6: Tipps und Hinweise für Einkaufsleiter • Verhandlungskompetenz wächst nicht automatisch mit zunehmender Füh rungserfahrung. • Der Einkaufsleiter sollte mit Demut und Bescheidenheit an seine Aufgaben herangehen und aus Scheitern lernen können. • In einem Unternehmen gibt es sinnvollerweise nur einen Einkaufsleiter mit Richtlinienkompetenz oder direktem disziplinarischem Durchgriff. • Er ist für die Leitung und Kontrolle einer wesentlichen ergebnisrelevanten Einheit verantwortlich. • Die fachlichen Aufgaben sind im Wesentlichen in der Erstellung und Umset zung der Einkaufsstrategie begründet. • Im Rahmen seiner Führungsaufgaben muss der Einkaufsleiter die Mitarbeiter – sein größtes Kapitel – fördern, fordern und weiterbilden und die Brücke zwischen diesen und dem Top-Management bilden. • Empathie ist eine der wichtigsten Führungseigenschaften, Kommunikation eine Führungsaufgabe. • Der Handlungsspielraum der Mitarbeiter sollte so weit wie möglich ausgedehnt und ihre Selbstbestimmung gefördert werden. • Gutes Führungsverhalten schafft loyale, integre und intrinsisch motivierte Mitarbeiter.
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9 Tipps, Vorlagen und Glossar
• In einer lernenden Organisation sollten Einkaufsleiter und Mitarbeiter Veränderungsprozesse unterstützen und versuchen, die Unternehmenskultur weiterzuentwickeln. Kap. 7: Tipps zum Lieferantenmanagement • Betreiben Sie aktives Lieferantenmanagement mit den Einzelschritten Lieferantenanalyse, -auswahl, -entwicklung und -ausphasung. • Insbesondere strategische bzw. Schlüssellieferanten sowie Single- oder S oleSource-Lieferanten müssen regelmäßig einer Risikoanalyse unterzogen werden. • Für Potenzialpartner spielt die Lieferantenintegration als Teil der Lieferantenentwicklung eine zentrale Rolle. • Persönliche Vor-Ort-Besuche auch durch Einkäufer sowie Lieferantentage, Workshops und ähnliche Formate fördern die partnerschaftliche Beziehung. • Zur Schaffung einer stabilen Lieferantenbasis ohne nennenswerte Versorgungs risiken sind permanente lokale und vor allem globale S ourcing-Anstrengungen notwendig. • Falls in bestimmten Fällen lediglich Single Sourcing möglich ist, sollten die beauftragten Lieferanten eng kontrolliert und eingebunden werden. • Periodisch durchgeführte Lieferantenbewertungen und Audits sind bewährte Tools für die Kontrolle und Weiterentwicklung von Anbietern. • Mit vorbereiteten Entgegnungen (rhetorische Konter) können Einkäufer in Verhandlungen elegant die meisten Standardeinwände von Lieferanten parieren. • Der Einkauf eines Unternehmens wird nur dann erfolgreich agieren können, wenn ein zukunftsträchtiges Geschäftsmodell mit gesunden Abnehmer- und Anbietermärkten vorliegt. Abschn. 7.3: Einkäufertipps zum Global Sourcing • Die Entscheidung zwischen lokalem und globalem Sourcing erfordert eine genaue Abwägung der Rahmenbedingungen, wobei Global Sourcing immer wichtiger wird. • Qualitätseinhaltung, Liefertreue, Risikominimierung und monetäre Aspekte sind gleichermaßen zu berücksichtigen. • Während der Equipmentmarkt bereits seit langem international ausgerichtet ist, erfolgt heute auch die Beschaffung von direkten Materialien mehr und mehr global.
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• Verhandlungssicheres Englisch sowie interkulturelle, juristische und Kenntnisse in Außenhandel u. v. m. sind zur Begleitung von Global Sourcing erforderlich. • Verschaffen Sie sich unbedingt ein persönliches Bild von ausländischen Anbietern und den dortigen Möglichkeiten; lassen Sie gegebenenfalls ein formales Qualitätsaudit durchführen. • Es kann angebracht sein, in anderen Kulturkreisen mit einem vertrauenswürdigen lokalen Partner, z. B. einem Distributor, zusammenzuarbeiten. Abschn. 7.4: Weitere rhetorische Konter • Emotionen Lieferant: „Was würden Sie an meiner Stelle tun?“ – Einkäufer: a) „Was würden Sie an meiner Stelle machen?“ b) „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mich Folgendes fragen …“ Lieferant: „Ich glaube, Sie verstehen diesen Punkt nicht!“ Einkäufer: „Dann erklären Sie ihn mir bitte.“ • Wettbewerb Lieferant: „Wir sind etwas teurer, aber unser Produkt ist besser als das der Wettbewerber.“ Einkäufer: „Sie sollten diesen Vorteil nicht über den Preis gefährden.“ Lieferant: „Was verlangt denn der Wettbewerber?“ Einkäufer: „Deutlich weniger.“ Lieferant: „Wie hoch ist unser Lieferanteil?“ Einkäufer: „Bei besserer Performance und niedrigeren Kosten für uns könnte er wesentlich höher sein.“ • Preise Lieferant: „Der von Ihnen geforderte Preis würde niedriger liegen als das, was unsere übrigen Kunden bezahlen.“ Einkäufer: „Dafür besitzt unser Unternehmen eine vorbildliche Zahlungsmoral.“ Lieferant: „Aufgrund von Währungskursverschiebungen müssen wir die Preise leider um x Euro erhöhen.“ Einkäufer: „Welcher Anteil Ihrer Kosten ist denn währungsabhängig?“ • Profitabilität Lieferant: „Wir haben von unserem Vorstand den Auftrag erhalten, unser Unternehmen profitabler zu machen.“ Einkäufer: a) „Dasselbe gilt auch für unsere Organisation. Dieses Geschäft wird Ihnen dabei helfen, falls wir uns einigen.“ b) „Profitabler heißt nicht notwendigerweise teurer, sondern effizienter.“
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9 Tipps, Vorlagen und Glossar
Lieferant: „Warum sollten wir den bestehenden Vertrag nachverhandeln und unsere Einnahmen somit reduzieren?“ Einkäufer: a) „Wir haben ein besseres Angebot der Konkurrenz vorliegen.“ b) „Das wäre im Sinne einer langfristigen Kunden-Lieferanten-Beziehung.“ c) „Wir wollten Ihnen die Gelegenheit geben, auf die Realitäten des Marktes zu reagieren.“ • Nibbling Lieferant: „Aber Sie können uns doch zwei statt vier Wochen Zahlungsziel geben?“ Einkäufer: „Selbstverständlich, wenn Sie uns weitere zwei Prozent Nachlass gewähren.“
9.2 Verhandlungsplaner für Einkäufer Der in Abb. 9.1 dargestellte Vorschlag für einen Verhandlungsplaner Anlageneinkauf dient der internen Vorbereitung des Kunden auf eine Beschaffung von Maschinen, Anlagen, Versorgungseinrichtungen u. Ä. (Equipment). Er wird in einem oder mehreren Vorgesprächen vor allem zu wichtigen Equipmentverhandlungen im Vorbereitungsteam zumeist vom Verhandlungsführer aus dem Einkauf ausgefüllt und nach der Verhandlung mit dem Ergebnis ergänzt.
Der ausgefüllte Verhandlungsplaner mit seinen vertraulichen Angaben darf unter keinen Umständen in die Hände oder unter die Augen des anderen Verhandlungspartners gelangen.
9.3 Verhandlungsprotokoll für Anlagenbeschaffungen In diesem Anhang sind Punkte aufgelistet, die im Rahmen der Equipmentbeschaffung vertraglich bzw. unter Zuhilfenahme eines Verhandlungsprotokolls geregelt werden können und sollten. Das Verhandlungsprotokoll ist ein von der Einkaufsabteilung bereitzustellendes Vorgabedokument, das Formulierungsvorschläge enthält, jedoch vom Verhandlungsführer aus dem Einkauf ausgefüllt, geändert und ergänzt wird. Am Ende der Verhandlung erhalten die Vertreter des Lieferanten eine elektronische oder Papierkopie. Indem er dem roten Faden eines
9.3 Verhandlungsprotokoll für Anlagenbeschaffungen
Abb. 9.1 Verhandlungsplaner Anlageneinkauf
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Abb. 9.1 (Fortsetzung)
9 Tipps, Vorlagen und Glossar
9.3 Verhandlungsprotokoll für Anlagenbeschaffungen
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solchen Verhandlungsprotokolls folgt und sich damit über einer Art Sicherheitsnetz bewegt, kann ein (auch in diesen Dingen noch relativ unerfahrener) Einkäufer einigermaßen beruhigt sein, keine für den späteren Vertrag relevanten Aspekte zu übersehen. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass es sich beim Verhandlungsprotokoll um AGB handelt (was eine Inhaltskontrolle ermöglichen würde; s. Abschn. 4.5), sondern um eine Zusammenstellung individuell vereinbarter Klauseln als Vertragshülse, ist es ratsam, das Ausfüllen der dafür vorgesehenen Felder und das Adaptieren bzw. Akzeptieren vorgedruckter Vereinbarungen handschriftlich vorzunehmen. Abschließend wird jede Einzelseite von beiden Parteien paraphiert und das Dokument schließlich von allen Beteiligten unterschrieben. (Etwaige Restriktionen durch Unterschriftenregelungen sind dabei zu beachten.) Für die Ausformulierung von gerichtsbeständigen und für den Kunden nicht nachteiligen Klauseln zu den nachgenannten Schwerpunkten ist professionelle Unterstützung durch Justiziare oder Vertragsanwälte externer Kanzleien zu suchen. Denn Laien machen durch Selbstüberschätzung gerade auf diesem Gebiet aller Erfahrung nach häufig (teils teure) Fehler. Für Klauseln, die immer wieder in elektronischen Bestellungen verwendet werden, empfiehlt es sich, in Kooperation mit der Rechtsabteilung eine Vertragsdatenbank mit geprüften und freigegebenen Formulierungen zu erstellen, die regelmäßig überprüft und der aktuellen Rechtslage angepasst wird. Von hoher Bedeutung ist ebenfalls, dass alle Mitarbeiter des Einkaufs, die verbindliche Willenserklärungen abgeben (das heißt Bestellungen und Verträge ausfertigen oder Mängelverfolgung betreiben), von Unternehmensseite hinreichend auf ihre Aufgaben vorbereitet und dafür periodisch auch in rechtlichen Grundlagen geschult werden. Ein Einkäufer muss erkennen können, wann die eigene Weiterbearbeitung juristisch geprägter Vorgänge nicht mehr ratsam ist und die Hilfe von Fachleuten notwendig wird. Merkpunkte zur Erstellung eines Verhandlungsprotokoll Nachfolgend sind wesentliche Inhalte für Verhandlungsprotokolle bzw. Beschaffungsverträge aufgeführt; die Liste kann jedoch nicht abschließend sein und ist bei Bedarf und für Spezialfälle anzupassen, zu ergänzen oder zu kürzen. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass Klauseln des Verhandlungsprotokolls im Streitfall als AGB gewertet werden und möglicherweise ungültig sind, ist es ratsam, wichtige Vereinbarungen (z. B. Gegenstand, Preis, Liefer- und Zahlungsbedingungen, anzuwendendes Recht etc.) in der Bestellung bzw. im Vertrag nochmals aufzuführen.
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9 Tipps, Vorlagen und Glossar
• Allgemeine Angaben zur Verhandlung: Das Protokoll beginnt sinnvollerweise mit Feldern zum Eintragen der Verhandlungsparteien und -teilnehmer, gegebenenfalls deren Rechtsstellung und Aufgabenbereich, und von Verhandlungsort und -datum, Verhandlungsgegenstand, Bezeichnung der technischen Spezifikation mit Datum, Angebotsnummer und -datum. Dass Vorliegens einer Geheimhaltungsvereinbarung ist durch Eintragen von Nummer und Datum in das vorgesehene Feld zu bestätigen. u
Einkäufer und Bedarfsträger müssen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass in verschiedenen vertragsrelevanten Dokumenten (Bestellung, Spezifikation, Normenkatalog und auch Verhandlungsprotokoll) keine konträren Informationen enthalten sind. Technische und kaufmännische Regelungen sollten sauber getrennt werden.
In diesem Zusammenhang sind Angaben zu den Kontaktpersonen für die Auftragsabwicklung hilfreich: Wer ist der zuständige Techniker und der verantwortliche Einkäufer beim Kunden, welche Ansprechpartner sind beim Auftragnehmer zuständig? • Technische Ausführung, Frachtbedingungen und Lieferumfang: Es sollte eine Vereinbarung folgen, dass die technische Ausführung der Anlage der genannten technischen Spezifikation einschließlich der darin aufgeführten Richtlinien, Normen, Standards usw. entspricht und die Leistungen sach-, fach- und termingerecht nach dem Stand und den anerkannten Regeln der Technik zu erbringen sind. Die Angabe von Bezugsquellen für Ersatzteile und Hilfstoffe ist vielfach wünschenswert und am besten gleich während der Verhandlung vertraglich zu fixieren. Dies trifft ebenso auf die Verpflichtung des Auftragnehmers zu, jederzeit genügend Ersatzteile bereitzuhalten, sowie eine vorzugsweise zehnjährige Nachliefergarantie für diese. (Je nach Branche und Anlagentyp variieren die Ersatzteilgarantien zwischen drei und 30 Jahren.) u
Es ist vertraglich sicherzustellen, dass durch die Lieferung und Benutzung des Verhandlungsgegenstandes keine Schutzrechte (Patente, Marken, Lizenzen) und weitere Rechte Dritter (etwa Eigentumsrechte) verletzt werden und dass der Auftraggeber gegebenenfalls davon freigestellt wird.
9.3 Verhandlungsprotokoll für Anlagenbeschaffungen
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Die Frachtbedingungen lassen sich über Frachtklauseln exakt spezifizieren. Die Angabe erfolgt mit Ort gemäß Incoterms®, ICC.1 Spezielle Vereinbarungen bei bestimmten Frachten und Carriern sind präzise zu spezifizieren, etwa eine Regelung zur Art der Verpackung (z. B. doppelt in Folie eingeschweißt für Reinraum Klasse 10 mit Holzkiste auf Euro-Palette, mit Schock-, Neigungs- und Temperatursensoren) und Details zum Transport (Luft- oder Seetransport, luftgefederter Lkw u. Ä.). Die Entsorgung von Verpackungsmaterial sollte ebenfalls geregelt werden. • Kommerzielles Ergebnis: Neben dem Angebotspreis ist natürlich der vereinbarte Preis des Verhandlungsgegenstands einzutragen, einschließlich enthaltener oder separat bepreister zusätzlicher Bestellposten sowie momentan nicht zur Bestellung vorgesehener Optionen mit entsprechenden Einzelpreisen. Von hoher Bedeutung ist außerdem die Dokumentation verhandelter Staffelpreise und die Gültigkeitsdauer der Preisvereinbarung bzw. der gesamten Protokollinhalte, was für Folgebestellungen relevant ist. Auch sonstige im Verhandlungspaket enthaltene Zugaben, die einen Wert für den Kunden darstellen und später als Savings ausgewiesen werden, sind exakt zu benennen. Nicht vergessen werden sollte eine Vereinbarung zu den Nachlässen auf Ersatzteile und Hilfstoffe sowie über Wartungskosten und weitere mögliche Folgeaufwendungen. (Nachdem das Adrenalinlevel beim Verhandlungspartner wieder abgesunken ist, wird sich dieser mit großzügigen Zusagen deutlich schwerer tun.) So kann es angebracht sein, die Vergütung von Regiearbeiten frühzeitig zu regeln; mindestens die Höhe der Stundensätze und die Art der Abrechnung von Reisekosten sind konkret aufzuführen. • Abwicklung des Auftrags: Die Vereinbarung eines Terminplans und insbesondere des Liefertermins ist wichtig und hilfreich und in letzterem Fall sogar notwendig. Dieser ist bei Incoterm FCA (Free Carriage At) der Übergabetermin an den Frachtführer, beim ebenfalls regelmäßig verwendeten Incoterm DDP (Delivery and Duty Paid) der Ausliefertermin am Bestimmungsort. Für den Liefer- oder auch Abnahmetermin lässt sich eine Pönale für den Fall festlegen, dass vertraglich zugesagte Termine nicht eingehalten werden – in der Regel können maximal fünf Prozent der Auftragssumme mit einer zeitlichen Staffelung zugrunde gelegt werden.
1Die
aktuelle Fassung sind die Incoterms 2020 (8. Revision), gültig seit 1. Januar 2020, veröffentlicht am 10. September 2019. Sie unterscheiden sich von den Incoterms 2010 durch die neue Klausel DPU (Delivered at Place Unloaded) und den Wegfall von DAT (Delivery At Teminal).
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u
9 Tipps, Vorlagen und Glossar
Es sind klare Regelungen zur Verjährungsfrist für Mängelhaftung zu treffen und zu dokumentieren, z. B. zwölf Monate ab Abnahme (beim Werkvertrag). Dabei ist zu beachten, dass diesbezügliche Normen im BGB (hier: 24 Monate) zwischen Kaufleuten gemäß § 1 HGB dispositiv sind.
Gleichermaßen bedeutend ist eine eindeutige Vereinbarung zu den Zahlungsbedingungen. Dies betrifft Anzahlungen und ihre Sicherung (bevorzugt durch Bankbürgschaften oder Akkreditive), Zahlungen bei Lieferung und Abnahme und einen eventuellen Einbehalt während der Verjährungsfrist für Mängelhaftung. Die Frist, bis zu deren Ende eine Zahlung auf dem Konto des Gläubigers (hier: des Lieferanten) eingetroffen sein muss, zählt ebenso zu den Zahlungsbedingungen. Üblich sind in der westlichen Welt 30 Tage; in Asien sind die Kunden teils deutlich längere Zahlungsfristen gewohnt. Wird – was der Regelfall ist – die verhandelte Anlage nach Werkvertragsrecht erworben, erfolgen als wesentliche Schritte im Rahmen der Auftragsabwicklung eine Funktionsprüfung am Herstellort (mit oder ohne technischem Vertreter des Kunden) sowie die Abnahme am Bestimmungsort (bei Nachweis der Leistungskriterien bzw. erfolgreichem Bestehen der vereinbarten Abnahmeprüfungen). Zu beiden Prüfungen sind Protokolle anzufertigen und vom technischen Personal zu unterschreiben, und dieser Sachverhalt und weitere spezielle Regelungen sind im Verhandlungsprotokoll zu dokumentieren. • Versicherungen, Sicherheit und Normen: Der Lieferant ist vertraglich zu verpflichten, eine Betriebs- und Produkthaftpflichtversicherung sowohl für Risiken aus dem Betriebsgeschehen als auch für Umweltrisiken mit einer ausreichenden Deckungssumme abzuschließen. Typisch sind drei bis zehn Millionen Euro pauschal je Versicherungsfall; in bestimmten Fällen ist sogar ein höherer Versicherungswert erforderlich. Diese Deckung muss Erfüllungsgehilfen ebenfalls einschließen und schriftlich nachgewiesen werden. Im Hinblick auf die Arbeits- und Produktsicherheit ist Wert darauf zu legen, dass das Personal des Auftragnehmers mit den Sicherheitsbestimmungen im räumlichen Bereich des Auftraggebers vertraut gemacht worden ist und diese befolgt. Entsprechende Schulungen und Unterweisungen des Lieferantenpersonals und seiner Erfüllungsgehilfen sind unbedingt zu dokumentieren. Darüber hinaus darf der Hinweis nicht fehlen, welche besonderen Regelungen, Normen und Gesetze auf die betreffende Bestellung anzuwenden bzw. gefordert sind, wie die Forderung nach einer CE-Zertifizierung sowie die Beachtung der RoHS-Richtlinien und/oder des Produktsicherheitsgesetzes (ProdSG).
9.3 Verhandlungsprotokoll für Anlagenbeschaffungen
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Für den IT-Bereich sind klare Regelungen zur Datensicherheit (Cyber-Klausel; s. Abschn. 4.5) und Softwareoptimierung obligatorisch, außerdem zu Lizenzen, Quellcodes, Änderungen an der Software und schadhaften Softwarebestandteilen. Es ist auf Kundenseite sicherzustellen, dass die entsprechenden Klauseln entweder im Verhandlungsprotokoll oder in der technischen Spezifikation aufgeführt sind. • Formaljuristisch relevante Punkte: Hier ist zuvorderst die Festlegung von Gerichtsstand und vor allem anzuwendendem Recht zu nennen. Es macht z. B. einen großen Unterschied, ob nach kodifiziertem Recht (Deutschland, Kontinentaleuropa, Japan) oder Richterrecht (angelsächsische Länder) bestellt wird. Wenn ein in Deutschland tätiger Einkäufer die Wahl hat, ist bevorzugt deutsches Recht zu vereinbaren, da dort viele Details zum Vorteil des Kunden geregelt sind. Neben den Normen des BGB sollten auf die individuelle Situation zugeschnittene Formulierungen für Klauseln erarbeitet werden; dafür ist wiederum juristische Fachunterstützung angeraten. Eine gesonderte Vereinbarung zur Geheimhaltung, die alle regelungsbedürftigen Punkte enthält, ist oben bereits abgefragt worden. Allerdings scheint ratsam, auch im Verhandlungsprotokoll selbst eine Vertraulichkeitsklausel aufzuführen, die einen rudimentären Schutz der Gesprächsinhalte und weiterer im Rahmen des Anbieterbesuchs offenbarter – unter anderem visueller – Informationen sichert, etwa den Inhalt der technischen Spezifikation, des Anwendungszwecks, das Verhandlungsergebnisses und/oder Erkenntnisse aus dem Blick auf Fertigungsanlagen, Monitore oder Mitteilungsbretter für die Belegschaft. Der Erfüllungsort für Lieferung und Leistung – gewöhnlich der Ort der Abnahme – ist genau anzugeben. Es hat signifikante Auswirkungen auf die Kosten, ob eine Anlage in Deutschland oder Singapur installiert, hochgefahren, abgenommen und betreut wird. Eine Regelung für den Fall einer späteren Auftragskündigung, die für den Besteller günstiger ist als die entsprechende BGB-Norm (Abschn. 4.5), sollte ebenfalls nicht vergessen werden. Die Rangfolge der Dokumente entscheidet bei nicht kongruenten Inhalten (und dies ist keinesfalls die Ausnahme!), welches Schriftstück rechtlich vorherrscht. Bei Ausfertigung eines zweisprachigen Vertrags oder Verhandlungsprotokolls (z. B. Deutsch – Englisch oder Englisch – Chinesisch) ist festzulegen, welche Sprachversion juristisch maßgeblich ist, denn exakte Übersetzungen sind in aller Regel nicht möglich. Die Rangfolge im Vertrag sollte wie folgt definiert werden:
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9 Tipps, Vorlagen und Glossar
1. Vertrag / Bestellung mit Auftragsbestätigung 2. technische Spezifikation / Pflichtenheft 3. Verhandlungsprotokoll / Rahmenvertrag 4. benannte Unternehmens-/Industrienormen 5. Allgemeine Geschäftsbedingungen Ein letzter vertragsrechtlich relevanter Aspekt betrifft die Einbringung einer salvatorischen Klausel. Diese vorbeugende Absicherung regelt die Rechtsfolgen, wenn sich Einzelvereinbarungen im Gesamtdokument als unwirksam oder undurchführbar erweisen sollten oder sich herausstellt, dass die Gesamtvereinbarung regelungsbedürftige Fragen nicht beantwortet. Eine beispielhafte Formulierung findet sind z. B. bei Wikipedia.
9.4 Weiterführende Literatur Altmannsberger U (2016) Profitabler Einkauf. Gabal, Offenbach Arnolds H, Heege F, Röh C, Tussing W (2016) Materialwirtschaft und Einkauf. 13. Aufl. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-65812628-5. Zugegriffen: 2. März 2020 Büsch M (2013) Praxishandbuch Strategischer Einkauf. Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-8349-4567-9. Zugegriffen: 2. März 2020 Dommann D (1993) Erfolgreicher Persönlicher Verkauf Berndt R: Handbuch Marketing-Kommunikation, S 749–765. Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10. 1007/978-3-322-82539-1_38. Zugegriffen: 2. März 2020 Donaldson MC (2008) Erfolgreich Verhandeln für Dummies. Wiley, Weinheim Fisher R, Ury W, Patton B (2006) Das Harvard-Konzept – Der Klassiker der Verhandlungstechnik. Handelsblatt-Sonderedition, Campus, Frankfurt a. M. Gabath CW (2010) Risiko- und Krisenmanagement im Einkauf. Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-8349-8813-3. Zugegriffen: 2. März 2020 Geiger I (2008) Industrielle Verhandlungen – Empirische Untersuchung von Verhandlungsmacht und -interaktion in Einzeltransaktion und Geschäftsbeziehung. Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/ 978-3-8350-5488-2. Zugegriffen: 2. März 2020 Grossmann M (2017) Einkauf. Kosten senken – Qualität sichern – Einsparpotenziale realisieren. Redline, München Helmold M, Terry B (2016) Lieferantenmanagement 2030. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-13979-7. Zugegriffen: 2. März 2020
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Strache H (1993) Einkaufsverhandlungen souverän führen, Gewinn aushandeln. Wirtschaftsverlag, Wiesbaden, Heidelberg Ury W (2009) Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln. Campus, Frankfurt a. M. Wannenwetsch H (2009) Erfolgreiche Verhandlungsführung in Einkauf und Logistik. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-540-79525-4 Zuge griffen: 02. März 2020 Wannenwetsch H (2014) Integrierte Materialwirtschaft und Logistik. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-45023-5 Zugegriffen: 02. März 2020 Weigel U, Rücker M (2015) Praxisguide Strategischer Einkauf. 2. Aufl. Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-08723-4. Zugegriffen: 2. März 2020.
9.5 Glossar 7–38-55-Regel: Nach Albert Mehrabian hat das, was in einem Dialog gesagt wird, nur sieben Prozent Anteil an der Gesamtwirkung; 38 Prozent werden über die Stimmführung und 55 Prozent über nonverbale Signale, also Mimik und Gestik, vermittelt. Dies ist entscheidend für die Beurteilung und Steuerung von Kommunikation auch in → Verhandlungen. → Körpersprache Abnahmeerklärung: Empfangsbedürftige → Willenserklärung, in welcher der Kunde im Rahmen eines → Werkvertrags bestätigt, dass das Werk (hier: die → Anlage) die im → Vertrag festgelegten Vereinbarungen erfüllt und dass keine gravierenden → Mängel vorliegen. Geringfügige Mängel werden mit einem Erfüllungsdatum im zugehörigen Protokoll aufgeführt. Als Folge wird die für diesen Schritt vereinbarte Zahlung fällig, und die Verjährungsfrist für → Mängelhaftung beginnt. Der Gefahrenübergang auf den Besteller findet statt, und sein Kündigungsrecht entfällt. Abschluss, gelungener: Für einen erfolgreichen und → nachhaltigen Geschäftsabschluss (→ ERFOLG), in dessen Folge die Partner auch weiterhin gerne Geschäfte miteinander machen wollen, sind vor allem zwei Dinge wichtig: Das Problem des Kunden wird damit gelöst, und beide Seiten betrachten die Vereinbarung als fair. Außerdem sollte das Geschäft für alle Beteiligten lohnend sein und einen Mehrwert darstellen.
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Account Manager: Verkäufer bzw. → Vertriebsingenieur, der einen bestimmten Kunden (engl. als Account, wörtlich „Konto“, bezeichnet) betreut. → Key Account Management Akquise: (tw. auch Akquisition) Maßnahme(n) zur Gewinnung von Kunden. Umfasst verschiedene Arten von Marketing und Werbung. Man unterscheidet zwischen Kaltakquise (Erstansprache von potenziellen Neukunden; Cold Call) und Warmakquise. Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB): Für eine Vielzahl von → Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen, die der Verwender der anderen Partei bei → Abschluss eines → Vertrags stellt. Sollen bei wertvolleren Gütern bewirken, dass der Vertragsschluss durch ein vorformuliertes Klauselwerk vereinfacht, beschleunigt und standardisiert wird. Sind Individualvereinbarungen nachgeordnet und unterliegen einer Inhaltskontrolle gemäß §§ 307 ff BGB. Ankerung: Phänomen in → Verhandlungen, das durch den Ankereffekt bewirkt wird. Begriff aus der → kognitiven Psychologie bzw. → Verhaltensökonomik, der die Tatsache bezeichnet, dass Menschen bei bewusst gewählten Zahlenwerten von momentan vorhandenen (auch irrelevanten) Umgebungsinformationen beeinflusst werden mit der Folge einer systematischen Verzerrung in Richtung des Ankers. Anlage: (engl. Capital Equipment) Hier → erklärungsbedürftiges techn. Investitionsgut primär für den industriellen Anwendungsbereich, z. B. Produktionsanlage, Groß- und Messgerät, Werkzeugmaschine, Versorgungseinrichtung, Chemie- und Elektroanlage oder Spezialfahrzeug, das durch eine → Spezifikation oder ein Pflichtenheft präzise beschrieben ist und nach dt. Recht meist über einen → Werkvertrag gekauft wird. Asymmetrische Informationsverteilung: Ungleiche Verteilung der Kenntnisse beider Verhandlungsparteien über Basis und Hintergründe eines geplanten Geschäfts. Folge der → Prinzipal-Agent-Problematik; bedingt, dass der Harvard-Ansatz (→ Verhandlungsstil, Harvard-) nur bedingt anwendbar ist und dass freie Märkte behindert werden. Auftragsbestätigung: Ugs. Mitteilung über die Annahme eines Auftrags; korrekt: Mitteilung des Auftragnehmers (Lieferant) an den Auftraggeber (Kunde), dass er den angebotenen → Vertrag verpflichtend eingeht und dementsprechend
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den Auftrag zu den vereinbarten Lieferungs- und Zahlungsbedingungen durchführen wird. Auktion: Bei einem Verkauf eine besondere Art der Preisermittlung, bei der von potenziellen Käufern oder Verkäufern nach festgelegten Regeln Gebote abgegeben werden. Ausschreibung: Schriftliche Aufforderung an geeignete Lieferanten, Angebote für die darin genannten bzw. spezifizierten Lieferungen oder Leistungen abzugeben. Im öffentlichen Sektor meist verpflichtend, doch auch in der Wirtschaft inzwischen häufig verwendet. Auszeit: In der Regel vom zuständigen → Einkäufer verkündete temporäre Unterbrechung einer → Verhandlung, wenn der Austausch zu emotional wird, eine intern zu diskutierende Situation eingetreten ist, eine Partei (meist der Lieferant, hier: telefonische) Rücksprache mit seiner → höheren Ebene halten muss oder ganz einfach eine Verschnaufpause in langen Sitzungen notwendig ist. Auszeit: Beraterverkauf; Equipment; Materialien, produktionsrelevante; Rangfolge der Dokumente [große Zwischenräume in 4. Zeile!]; System 1; Technischer Einkauf; Top-down-Ansatz; Urteilssprung; Vergabeverhandlung; Verhandlung, integrative; Verhandlungsprotokoll; Want. B2B: Abkürzung für Business-to-Business (tw. auch B-to-B oder BtB). Bezeichnet Geschäftsbeziehungen zwischen zwei oder mehr Unternehmen – im Gegensatz zu Beziehungen zwischen Unternehmen und anderen Gruppen, z. B. Verbrauchern (Business-to-Consumer, B2C), also mit Privatpersonen als Kunden. BATNA: Im Harvard-Konzept (→ Verhandlungsstil, Harvard-) Akronym für die beste Alternative zum aktuell verhandelten Abkommen (Best Alternative To a Negotiated Agreement), der Plan B. Bedarfsträger: Mitarbeiter der techn. Abteilung beim Kunden, in der Regel der zuständige Anlageningenieur oder -techniker, der das Budget beantragt (→ Budgetierung), nach Vergabeentscheidung die Bestellanforderung an den → Einkauf schickt und für die weiteren techn. Angelegenheiten im Rahmen der Anlagenbeschaffung (Einbringung, → Abnahme, Betreuung …) verantwortlich ist.
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Beraterverkauf: Aufgabengebiet des → Vertriebsingenieurs, der → erklärungs bedürftige Produkte verkauft, und abzugrenzen ist vom typischen Verkaufsgespräch (Pitch). Es liegt gleichzeitig eine hohe Kunden- und → Abschlussorientierung vor. Ziel sollte nicht nur sein, dem Kunden maßgeschneiderte Lösungen für seine Probleme anzubieten (→ Verhandlungsstil, Harvard-), sondern auch, deren Einzigartigkeit herauszustellen. Bestellung: In der Wirtschaft bindender Antrag eines Kunden zum → Abschluss eines → Vertrags, z. B. eines → Kaufvertrags oder → Werkvertrags. Erst nach Annahme des Antrags ohne Änderung durch den Lieferanten durch eine → Auftragsbestätigung erfolgt der → Vertragsschluss. Beschaffung: (engl. Procurement oder Purchasing; dt. auch Akquisition – allerdings nicht in der Bedeutung von → Akquise) Im engeren Sinne Materialeinkauf und Beschaffungslogistik für Produktionsbetriebe. Hier der Einfachheit halber als Synonym für → Einkauf gebraucht. Bottom-up-Ansatz: Ein → Einkäufer sollte ein höheres Preisangebot des Lieferanten nie wiederholen und es damit als Basis für seine Verhandlungsführung akzeptieren (→ Top-down-Ansatz), sondern immer vom niedrigeren Angebotspreis starten und diesen als → Referenzpunkt für Konzessionen nehmen. → Ankerung, → Konzessionsstrategie Budgetierung: Planung ausgedrückt in finanziellen Wertgrößen, die nach ihrer Verabschiedung Vorgabecharakter besitzt und meist für eine oder mehrere Perioden erstellt wird. Dient in einem Unternehmen dazu, seine monetären Ziele für das kommende Geschäftsjahr zu konkretisieren und einen Fahrplan aufzustellen, der die Erfüllung der Planwerte sichern soll. Commodities: → Materialien, produktionsrelevante Compliance: Im betriebswirtschaftlichen Zusammenhang engl. Wort für „Regeltreue“ und in der Fachsprache der Begriff für die Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien in Organisationen, aber auch von freiwilligen Kodizes. Einkauf: In der Betriebswirtschaftslehre ursprünglich operative Tätigkeiten zur Versorgung eines Unternehmens mit Gütern und Dienstleistungen zur Durchführung des Produktionsprozesses, die nicht selbst hergestellt werden. Mit zunehmender Bedeutung der Unternehmensfunktion Einkauf werden ver-
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mehrt auch strategische Aufgaben unter diesem Begriff zusammengefasst. → Beschaffung, → Materialwirtschaft, → operativer Einkauf, → strategischer Einkauf, → Technischer Einkauf Einkäufer: Hier Mitarbeiter des → strategischen bzw. → Technischen Einkaufs, der als Dienstleister für die internen Auftraggeber beim Kunden die → Vergabeverhandlung als Verhandlungsführer leitet und den gesamten Beschaffungsprozess von der Angebotsanforderung bis zur Erfüllung der letzten Verpflichtung durch den Lieferanten steuert. Einkaufsakte: Elektronisch (z. B. auf gemeinsamen Laufwerken oder in Bestellsystemen wie SAP ERP) und vor allem bei unterschriebenen Originaldokumenten auch in Papierformat vorliegende archivierte Sammlung relevanter Schriftstücke zu einem Beschaffungsvorgang bzw. → Vertrag. Sollte im Hinblick auf die Bearbeitung der Folgeschritte und nachfolgende Projekte stets vollständig und sauber geführt sein. Einkaufsleiter: Führungskraft, die eine → Einkaufs- bzw. → Beschaffungsabteilung (bei größeren Unternehmen mit mehreren, vor allem internationalen Standorten auch Teile dieser Organisationseinheit) disziplinarisch und/oder fachlich leitet. Engl. oft als Chief Procurement Officer (CPO) bezeichnet, doch in dt. Unternehmen ist der Einkaufsleiter in nur Ausnahmefällen CPO und damit Vorstandmitglied. Für den → nachhaltigen Beschaffungserfolg (→ ERFOLG) kommt ihm eine hohe Bedeutung zu; seine Schwerpunkte liegen dabei im strategischen, Führungs- und unternehmenspolitischen Bereich und weniger auf operativer und verhandlungstechnischer Ebene. In seiner Leitungsfunktion als → höhere Ebene einsetzbar. Einkaufsorganisation: In einer dezentralen Einkaufsorganisation besitzt jede Geschäftseinheit bzw. jeder Standort seinen eigenen → Einkauf, der eigenständig und ohne Abstimmung mit anderen Einheiten agiert. Die → Beschaffung durch einen Zentraleinkauf findet an nur einer Stelle im Unternehmen statt, die für sämtliche Aufgaben die Verantwortung trägt und alle anfallenden Tätigkeiten übernimmt. Der direkte Einkauf beschreibt die Beschaffung von Materialien, die unmittelbar ins Endprodukt einfließen; alle anderen Beschaffungskategorien werden über den indirekten Einkauf gesteuert. → Materialien, produktionsrelevante, → operativer Einkauf, → strategischer Einkauf, → Technischer Einkauf
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Einkaufstrategie: Leitet sich von der übergeordneten Geschäftsstrategie ab und ist nicht mit der Strategie für eine individuelle → Verhandlung (→ Verhandlungsstrategie) zu verwechseln. Ist regelmäßig (mindestens jährlich) unternehmens- oder abteilungsweit im Team zu erstellen und laufenden Anforderungen anzupassen; sie muss alle relevanten Informationen zum Lieferantenportfolio berücksichtigen. Das Gegenstück auf Lieferantenseite nennt man Vertriebsstrategie. Englisch: Inzwischen die Lingua Franca im internationalen Geschäft, deren sichere Beherrschung von einem modernen → Einkäufer erwartet wird. Zahlreiche Anglizismen nicht nur aus der Fachsprache haben im Deutschen Einzug gehalten und lassen sich im regelmäßigen Sprachgebrauch kaum adäquat übertragen. Entscheidungsträger: (auch Entscheider) Derjenige in der Kundenorganisation, der über das Budget verfügt (→ Budgetierung) und letztlich die Entscheidung über die → Beschaffung fällt. Kann aus verschiedenen Funktionen kommen, z. B. Anlageningenieur (→ Bedarfsträger), interner Kunde oder Unternehmensleitung; selten im → Einkauf beheimatet. Equipment: Engl. Bezeichnung für → Anlage, mittlerweile auch dt. als Synonym verwendet. Die korrekte Übersetzung wäre allerdings Capital Equipment. ERFOLG: Allgemein das Erreichen gesetzter Ziele, hier auch → Verhandlungsziele. In diesem Buch gleichzeitig Akronym aus den Anfangsbuchstaben der für erfolgreiche industrielle → Beschaffungstätigkeit notwendigen Voraussetzungen: kompetente → Einkäufer, konsequente Regelbefolgung (→ Compliance), vorausschauende Führungskräfte (→ Einkaufsleiter), eine lernende Organisation, stringentes → Lieferantenmanagement sowie ein tragfähiges Geschäftsmodell. Erklärungsbedürftiges Produkt: Komplexes techn. Verkaufsgut, das meist individuell für den Kunden hergestellt wird (z. B. eine → Anlage) und über → Beraterverkauf durch den → Vertriebsingenieur vermarktet wird. Externe Angelegenheiten: Alle ergebnisorientierten Dialoge und Abmachungen mit Dritten außerhalb der eigenen Organisation, insbesondere rechtlich verbindliche Vereinbarungen wie → Bestellungen, → Verträge usw. Besitzen eine deutlich höhere Bedeutung als interne Angelegenheiten.
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FBI-Konzept: (auch FBI-Methode oder -Prinzip) Aus der Polizeiarbeit von Gary W. Noesner abgeleiteter Ansatz zur Teamverhandlung, der darauf abstellt, dass in emotional belasteten → Verhandlungen Unterstützung für den Verhandlungsführer vorhanden ist (→ Verhandlungsteam). Man unterscheidet Negotiator (Verhandler), Commander (mit am Tisch sitzender, sich jedoch zurückhaltender Beobachter) und Decision Maker (nicht präsenter → Entscheidungsträger und damit → höhere Ebene). → Verhandlungsteam Feedback: Qualifizierte Rückmeldung zum Verhalten, hier zum Vorgehen eines Verhandlers während seiner Tätigkeit durch einen Dritten, entweder durch Kollegen oder Vorgesetzte in einer echten → Verhandlung oder von Beobachtern in einem Rollenspiel. Notwendig zur Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen, um blinde Flecken im Selbstbild bzw. Spin-out-Faktoren zu eliminieren. Flow: Nach dem ungarischen Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi mentaler Zustand, der bei intrinsischer Motivation ein sehr effizientes und konzentriertes Arbeiten ermöglicht. Völlige Vertiefung und restloses Aufgehen in einer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht – dt. in etwa Schaffensrausch oder Funktionslust. Dabei kann es zu einer Art Glückszustand kommen. Framing: (dt. wörtlich Einrahmen, auch Einordnung; verwandter Begriff: Narrativ) Darstellung eines Themas aus einer bestimmten Perspektive mittels sprachlicher Bilder. Der Framing-Effekt (auch Präsentationseffekt) kann dazu führen, dass abweichende Formulierungen einer Botschaft – bei gleichem Inhalt – das Verhalten des Empfängers unterschiedlich und nicht-rational beeinflussen. Wird gerne zur emotionalen Belegung des → Verhandlungsgegenstandes genutzt. → Verhaltensökonomik Funktionsprüfung: Beim Kauf einer → Anlage (→ Werkvertrag) Durchführung des in der → Spezifikation vereinbarten techn. Tests vor Ort beim Hersteller meist durch oder im Beisein von Vertretern des Bestellers (Source Inspection oder Factory Acceptance Test, FAT). Darf vom Besteller nicht als „Vorabnahme“ deklariert werden, um rechtlich nicht als → Abnahmeerklärung mit den damit verbundenen Folgen gewertet zu werden. Garantie: Rechtsverbindliche Zusage eines definierten Handelns oder Unterlassens bereits vor Eintritt eines bestimmten Ereignisses. Im Rahmen von
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→ Kaufverträgen und → Werkverträgen eine zusätzlich zur gesetzlichen → Mängelhaftung gemachte freiwillige und frei gestaltbare Dienstleistung des Lieferanten gegenüber dem Kunden. Die Garantiezusage bezieht sich vielfach auf die Funktionsfähigkeit einzelner Teile oder der gesamten gelieferten bzw. erstellten Einheit über einen festgelegten Zeitraum. Gewährleistung: Ugs. für → Mängelhaftung. Good Guy – Bad Guy-Spiel: (auch Good Cop – Bad Cop) Unsauberer → Verhandlungstrick, der sich auf eine abgesteckte Rollenverteilung bei der Argumentation bezieht, durch die psychologischer Druck auf die Gegenseite erzeugt werden soll. Ein Verhandler spielt den Guten, der andere den Bösen, der ohne Bedenken übertreiben kann, da der Gute ihn jederzeit zu „retten“ vermag. Haftungsbegrenzung: Begrenzung der Leistungspflicht des Schuldners (=Lieferant) gegenüber seinem Gläubiger (=Kunde), der für einen entstandenen Schaden vertraglich oder haftungsrechtlich einstehen muss. Wird insbesondere bei → Werkverträgen von vielen Lieferanten gefordert, jedoch vom → Einkauf in der Regel nicht aktiv angeboten. Harvard-Konzept: → Verhandlungsstil, HarvardHebelmaterialien: → Materialien, produktionsrelevante Hedging: (frei übersetzt „Sicherungsgeschäft“; wörtlich „mit Hecken umschließen“) Finanzgeschäft zur Absicherung einer Transaktion gegen Finanzrisiken wie Preis- oder Wechselkurs-Schwankungen. Gewöhnlich keine → Einkäuferaufgabe – für Vorgaben (z. B. Währungsauswahl, Plankurse etc.) ist die Finanzabteilung des Unternehmens zuständig. Heuristik: Analytisches Vorgehen, mit begrenztem Wissen (unvollständigen Informationen) und wenig Zeit über Daumenregeln, mentale Abkürzungen und mutmaßende Schlussfolgerungen dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen, die meist von der optimalen Lösung abweichen. → Verhaltensökonomik Höhere Ebene: In Verhandlungen → Entscheidungsträger, der nicht mit am Tisch sitzt; vielmehr soll durch Verweis auf seine Entscheidungsgewalt durch die aktiven Verhandler zusätzliche → Verhandlungsmacht erzeugt werden. Geeignete
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Funktionen sind Vorgesetzte, Top-Management, Rechts- und sonstige Fachabteilungen, die Zentrale usw. Diese stellen eine Art „Öffentlichkeit“ dar, welche die Verhandlung aus der Ferne beobachtet und bewertet. Homo oeconomicus: Rationaler Agent; in Wirtschaftswissenschaft und → Spiel theorie das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers. Incoterms: Gruppe von zz. elf freiwilligen standardisierten Regeln zur Auslegung handelsüblicher Vertragsformeln im internationalen Warenhandel (8. Revision 2020). Für Anlagenlieferungen werden häufig FCA und DDP mit niedrigem und hohem Transportkostenanteil für den Lieferanten vereinbart. Insolvenz: (österr. „Konkurs“) Situation eines Schuldners, seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Gläubiger nicht erfüllen zu können. Umstand, dass eine Person oder ein Unternehmen zahlungsunfähig ist oder Zahlungsunfähigkeit droht, mit der möglichen Verpflichtung einhergehend, ein Insolvenzverfahren bei Gericht zu beantragen. Kein Synonym für „Bankrott“: Dies ist ein Straftatbestand gemäß § 283 StGB, der erfüllt ist, wenn jemand zur Insolvenzmasse gehörende Werte verheimlicht, beiseiteschafft, beschädigt oder zerstört. Intuition: Fähigkeit, sich ohne bewussten Gebrauch des Verstandes ein Urteil über Sachverhalte, Sichtweisen, Gesetzmäßigkeiten oder die subjektive Stimmigkeit von Entscheidungen zu bilden und automatische Schlussfolgerungen zu ziehen. Verwandte Bezeichnungen sind Bauchgefühl, innere Stimme, → Heuristik und erster Eindruck. → Kongruenz Justiziar: Hier Mitarbeiter eines Unternehmens, der dieses bei rechtlichen Fragestellungen, z. B. der Gestaltung von → Verträgen, berät und vertritt, u. a. Rechtsgutachten erstellt und im Streitfall die rechtliche Vertretung gegenüber Dritten wahrnimmt. Arbeitgeber verlangen üblicherweise einen juristischen Hochschulabschluss. Der Justiziar sollte auf Nachfrage als Unterstützer und nicht als Blockierer des → Einkäufers tätig werden. Kaufvertrag: → Vertrag nach §§ 433 ff BGB, bei dem der Verkäufer verpflichtet ist, die Kaufsache zu liefern, und der Käufer, diese abzunehmen und zu bezahlen. Mit der Übergabe hat der Verkäufer geleistet; es ist keine → Abnahmeerklärung wie beim → Werkvertrag vorgesehen.
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Key Account Management (KAM): Im Rahmen des strategischen Kundenmanagements unternehmensweiter Ansatz zur Betreuung von Schlüsselkunden (Key Customers oder Key Accounts), die dadurch in allen Belangen den Vorzug genießen. Ziel ist der Erhalt und die Ausweitung von Geschäften in bestimmten beratungsintensiven Segmenten. Kipp-Punkt: Zeitpunkt, an dem meist als Folge einer unerwarteten Aktion klar wird, dass der Ausgang der → Verhandlung so gut wie entschieden ist. Lässt sich durch eine hohe emotionale Beanspruchung oder – bevorzugt – durch zwingende Sachargumente herbeiführen. Kognitive Leichtigkeit: Phänomen aus der → Verhaltensökonomik. Das Gehirn entscheidet ständig neu, ob alles gut läuft oder ob die Aufmerksamkeit – wegen einer Änderung oder gar Bedrohung – neu ausgerichtet werden muss. Bekanntes, Gewohntes, Klares oder durch Priming Ver → ankertes wird am ehesten als wahr und authentisch akzeptiert, denn → System 2 greift nicht korrigierend ein. Kognitive Psychologie: Auch Kognitionspsychologie genannt. Teilgebiet der Psychologie, das sich auf die Untersuchung der menschlichen Informationsverarbeitung konzentriert – z. B. auf die Bereiche Lernen, Gedächtnis, Wahrnehmung und Problemlösen. Die → Verhaltensökonomik erklärt und nutzt u. a. dort identifizierte kognitive Verzerrungen und Irrtümer. Kompromiss: → Verhandlungslösung unter meist hälftiger Aufteilung des → Verhandlungskuchens. Nicht die optimale Lösung, da sie zusätzliche Tauschgewinne vernachlässigt. Liegt grafisch betrachtet (Abb. 3.2) auf der geraden Verbindung zwischen hohem Kunden-/niedrigem Lieferantenziel und umgekehrt. → Verhandlungsziel Kongruenz: Alle Elemente der → Körpersprache passen zusammen und unterstützen das Gesagte. Das Gegenteil lautet Inkongruenz: Menschen haben eine Antenne dafür, wenn etwas nicht zu stimmen scheint. Konzessionsstrategie: (aus Verkäufersicht auch „Rabattstrategie“) Planung, wie weit und in welchen Schritten in der → Verhandlung die eigenen Forderungen zu reduzieren sind und was dafür jeweils von der Gegenseite erwartet wird – ein geschickt gewählter → Markup bietet dem → Vertriebsingenieur Raum zum Manövrieren, ein ausreichend, jedoch nicht zu üppig dimensioniertes Budget (→ Budgetierung) hilft dem → Einkäufer.
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Körpersprache: Vielfach unbewusstes nonverbales Verhalten der eigenen Person und auch des Gegenübers durch Mimik und Gestik, das entscheidend zur Kommunikation beiträgt und aus Einzelelementen besteht. Diese lassen sich tw. leicht beeinflussen bzw. erkennen, um Vorteile daraus zu ziehen. Korruption: Gesetzesvergehen und ernsthafter → Compliance-Verstoß durch Bestechlichkeit, Bestechung, Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung. Destruktiver Akt der Verletzung des Allgemeininteresses zugunsten eines speziellen Vorteils. Vor allem → Einkäufer sind gefährdet, sich von Anbietern durch Schmiergeldangebote beeinflussen zu lassen. Lieferantenmanagement: Praxis in Unternehmen, die Beziehungen zu den Lieferanten systematisch zu steuern. Lässt sich mehr oder weniger umfassend über die resultierenden Aufgaben definieren. Mangel: Zentraler Begriff des vertraglichen Schuldrechts im BGB. Die vertraglich geschuldete Leistung weist einen Mangel auf, wenn ihre tatsächliche Beschaffenheit von der Beschaffenheit abweicht, welche die Sache haben soll. Ist eine Leistung mangelhaft, stehen ihrem Gläubiger verschiedene Rechte der → Mängelhaftung offen. Mängelhaftung: (ugs. Gewährleistung) Im dt. Schuldrecht das Einstehenmüssen für eine → mangelhafte Leistung, insbesondere die Haftung für Sach- und Rechtsmängel. Die Verjährungsfrist für Mängelhaftung beträgt nach BGB beim Kauf von Neuteilen zwei Jahre und ist unter Kaufleuten dispositiv. Davon ist die freiwillige Übernahme einer → Garantie zu unterscheiden. Markup: In einem kommerziellen Angebot des Lieferanten die Differenz zwischen den Herstellkosten plus notwendiger Minimalmarge und dem Angebotspreis als Grundlage der → Verhandlung mit dem Interessenten. Materialien, produktionsrelevante: Für Hebelmaterialien liegt ein geringes Beschaffungsrisiko vor. Strategischen Materialien sind schwer zu beschaffen, und ihr wertmäßiger Anteil am Beschaffungsvolumen ist gewöhnlich hoch. Die → Beschaffung von Standardmaterialien kann durch Standardisierung relativ einfach abgewickelt werden. Engpassmaterialien sollten durch Standardmaterialien ersetzt werden. Unter Commodities versteht man standardisierte und in der einzelnen Art homogene Handelswaren mit einem Marktwert, der sich im regelmäßigen Handel bzw. an Spot- und Derivatmärkten bildet.
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Materialwirtschaft: (auch Warenwirtschaft) Unternehmenseinheit (und abstrakter Begriff) für die Koordination des Warenflusses zwischen Lieferanten, Kunden und → Bedarfsträgern. Ihre Aufgabe ist die Verwaltung sowie die zeitliche, mengenmäßige, qualitative und eventuell räumliche Planung und Steuerung der Materialbewegungen innerhalb eines Unternehmens und zwischen dem Unternehmen und seiner Umwelt. → Einkauf Nachhaltigkeit: Vom Verb „nachhalten“ mit der hier verwendeten Bedeutung „längere Zeit andauern oder bleiben“ abgeleitetes Substantiv. Definiert auch als forstwirtschaftliches Prinzip, nach dem nicht mehr Holz gefällt werden darf, als jeweils nachwächst, sowie im allgemeinen Sinn, dass nicht mehr verbraucht werden sollte, als sich regenerieren und künftig wieder bereitgestellt werden kann. Heutzutage tw. als Modewort benutzt. Need: Forderung, die in einer → Verhandlung unbedingt realisiert werden muss; unverzichtbares → Verhandlungsobjekt. Nibbling: Wörtlich „Anknabbern“ eines → Verhandlungspakets; unsauberer → Verhandlungstrick, der darauf abzielt, zum Ende der → Verhandlung noch eine Kleinigkeit ohne Gegenleistung zu erhalten. Nikolaus-Effekt: Kognitive Verzerrung durch den Effekt, dass die zeitlich letzten Eindrücke besser haften bleiben und z. B. bei der Beurteilung von Leistungen mehr zählen. → kognitive Psychologie, → Verhaltensökonomik NO TRICKS: Anfangsbuchstaben der engl. Quellen für → Verhandlungsmacht, hier Need, Options, Time, Relationship, Investment, Credibility, Knowledge und Skill Power. Die drei erstgenannten Machtfaktoren haben das größte Potenzial. Old School: Tradierte, alte und vielfach veraltete Lehrmeinung. Hier sind vor allem → Einkäufer gemeint, die mit übermäßig hartem Verhandeln (→ Verhandlungsstil, harter), Druck auf den Lieferanten und tw. auch schlechtem Benehmen und der Anwendung von → Verhandlungstricks oft vergebens schnelle Verhandlungserfolge suchen. One Face to the Supplier: (dt. etwa „ein Ansprechpartner für den Lieferanten“) Vorgehen, bei dem der Austausch des Lieferanten mit dem Kunden ausschließlich über den zuständigen Einkäufer erfolgt. Ideal, das in der Praxis nur selten vollständig umsetzbar ist, dem sich auf Kundenseite aber so weit wie möglich
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genähert werden sollte. Dies erfordert einen konsequenten Teamansatz (→ Verhandlungsteam) auch außerhalb von → Verhandlungen. Open-Book-Verfahren: (dt. offene Bücher). Alle relevanten Kosten des Lieferanten (Material-, Herstell-, Energie-, Management-, Reise- und Übernachtungskosten u. v. m.) werden exakt aufgelistet und mit einem vorher festgelegten Faktor beaufschlagt. Diese Art der Preisgestaltung ist in der Regel günstiger für den Kunden als für den Lieferanten. Operativer Einkauf: Teil der → Einkaufsorganisation eines Unternehmens, deren Mitarbeiter administrative und ausführende Einkaufstätigkeiten wahrnehmen. Sie wickeln primär Warenbeschaffungen an einem Standort auf Basis der Vorarbeit des → strategischen Einkaufs ab und sichern damit z. B. die verlässliche Versorgung der Produktionsbetriebe mit Material. → Einkauf Prinzipal-Agent-Problematik: Aus der Prinzipal-Agent-Theorie, einem Modell der Neuen Institutionenökonomik, abgeleitetes Dilemma. Der Beauftragte (Agent) besitzt einen Wissensvorsprung (→ asymmetrische Informationsverteilung), der in unterschiedlicher Weise entweder zugunsten oder Ungunsten des Auftraggebers (Prinzipal) eingesetzt werden kann. Die Interessen von Prinzipal und Agent sind dabei nicht deckungsgleich. Agenturkosten beschreiben die Differenz der Kosten einer idealen Lösung (vollkommene Information) zur realen Lösung. Rangfolge der Dokumente: Regelt in einem → Vertrag (bzw. in → Bestellung oder → Verhandlungsprotokoll) die Priorität der involvierten Schriftstücke. Aus Kundensicht sollte die Rangfolge wie folgt festgelegt werden: 1. Vertrag, 2. → Spezifikation, 3. Verhandlungsprotokoll / Rahmenvertrag, 4. benannte Normen, 5. → AGB. Red Herring: Hier blumiger engl. Ausdruck für eine Irreführung oder ein Manöver, das von einer relevanten Angelegenheit ablenkt; unsauberer → Verhandlungstrick, der eine Partei bewusst von ihren Zielen abzubringen versucht. Typischerweise werden alte Geschichten aufgebracht, die mit der aktuellen → Verhandlung nichts zu tun haben. Referenzpunkt: Reales oder fiktives Ausgangsniveau oder Wert, von dem aus Gewinne oder Verluste berechnet werden. Kann z. B. durch → Ankerung subjektiv beeinflusst werden.
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Resilienz: Psychische Widerstandsfähigkeit; Gegenteil von Verwundbarkeit. Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. Wichtige und nützliche Eigenschaft eines → Vertriebsingenieurs, aber auch des → Einkäufers. Savings: Maßzahl in Geldwert für die Summe aller Zugeständnisse der Lieferantenseite in einer → Verhandlung, also Nachlässe, kostenfreie Zugaben, zusätzliche Leistungen etc. Interne Unternehmenskennzahl, welche die Leistung des → Einkäufers in Verhandlungen ausdrücken soll (was jedoch nur sehr bedingt der Fall ist). Scrambled Eggs: (dt. wörtlich „Rührei“) Unsauberer → Verhandlungstrick, gezielt Verwirrung zu stiften, indem ein Geschäft unnötig komplex gemacht wird, um vom primären → Verhandlungsgegenstand abzulenken. Die andere Seite soll den Überblick verlieren; spricht für eine schwache → Verhandlungsmacht. SMART: Nach George T. Doran die engl. Anfangsbuchstaben der notwendigen Eigenschaften von Zielen, hier von → Verhandlungszielen – Specific, Measurable, Acceptable, Realistic, Tough (oder Time-bound). Sourcing: Gestaltung der Leistungserstellung in Wertschöpfungsketten. In diesem Buch im Sinne von Outsourcing (das heißt Suche und Beauftragung von externen Lieferanten) gebraucht. Spezifikation: (neudt. auch „Spec“) Detaillierte techn. Beschreibung der zu verhandelnden bzw. zu beschaffenden → Anlage unter Berücksichtigung aller relevanten Ausführungs- bzw. Leistungsparameter, Normen, Vorschriften und Rahmenbedingungen, die Vertragsbestandteil mit hoher Priorität wird (→ Rangfolge der Dokumente). Eine kürzere Ausführung mit den wesentlichen Eckdaten nennt man Leistungsverzeichnis, Lasten- oder Pflichtenheft. Spieltheorie: Teilgebiet der Mathematik, das Entscheidungssituationen modelliert, in denen mehrere Beteiligte miteinander interagieren, um Aussagen über das rationale Entscheidungsverhalten in Konfliktsituationen treffen zu können. Spieltheoretisch betrachtet lohnt sich → Korruption im → Einkauf nicht. Strategischer Einkauf: Teil der → Einkaufsorganisation eines Unternehmens, deren Mitarbeiter dafür verantwortlich sind, Alternativanbieter zu finden, zu prüfen und aufzubauen, die als Wettbewerber für bestehende Lieferanten auf-
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treten oder gar verbesserte Leistungen offerieren können. Sie sind federführend im Dialog mit den Lieferanten, verantworten u. a. ihre Bewertung, betreiben Risikomanagement und streben die Schaffung eines ausgewogenen Lieferantenportfolios an. In der Regel sind strategische → Einkäufer für mehrere Standorte zuständig und fördern eine globale Harmonisierung der Vertragsbedingungen. → Einkauf Sunk Costs: „Versunkene“, irreversible Kosten, die abgeschrieben werden müssen, wenn ein Projekt oder eine andere Aktivität zur Geschäftsanbahnung ergebnislos abgebrochen wird. Aus → verhaltensökonomischen Gründen tut sich der Mensch schwer, diese Abschreibung vorzunehmen. System: Synonym für → Anlage, insbesondere bei Messgeräten. System 1: Nach Daniel Kahneman das „schnelle“ Denksystem. Arbeitet im wachen Zustand, ohne willentliche Steuerung, weitgehend mühelos, sehr energieeffizient und automatisch und lässt sich nicht abstellen. Wird charakterisiert durch Begriffe wie → Intuition, → Heuristik, Mut zur Lücke, erster Eindruck und Bauchgefühl. → Verhaltensökonomik System 2: Das „langsame“ Denksystem. Arbeitet nicht immer auf vollen Touren, sondern es muss bei Bedarf – z. B. in → Verhandlungen – bewusst aktiviert werden. Lenkt die Aufmerksamkeit auf anstrengende mentale Aktivitäten, ist energieaufwendig und erfordert eine hohe Konzentration; liefert rational begründet, analytische Ergebnisse. Entspricht in der Philosophie etwa der Vernunft. → Homo oeconomicus, → Verhaltensökonomik Technischer Einkauf: Teil der → Einkaufsorganisation eines Unternehmens, deren Mitarbeiter in enger interner und externer Abstimmung die → Beschaffung techn. Produkte aller Art planen, verhandeln und organisieren, etwa von Maschinen und → Anlagen, Bau- und Ersatzteilen. Grenzt sich vom Dienstleistungs-, Projekt- und IT-Einkauf ab. → Einkauf Top-down-Ansatz: Gegenstück für den Verkäufer zum → Bottom-up-Ansatz des → Einkäufers. Urteilssprung: In der Psychologie voreilige Schlussfolgerung auf beschränkter Datenbasis. Hat ihren Grund darin, dass → System 1 völlig unempfindlich
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für die Qualität und Quantität von Informationen ist, aus denen Eindrücke und → Intuitionen hervorgehen. → Verhaltensökonomik Vergabeverhandlung: → Verhandlung, in welcher die Details für einen (meist größeren) → Beschaffungs → vertrag mit einem Lieferanten ausgehandelt werden, die beim Kunden über die spätere mögliche → Bestellung entscheiden. Hier auch Anlagenverhandlung genannt. Verhaltensökonomik: (engl. Behavioral Economics) Neueres Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaft, das sich mit menschlichem Verhalten in wirtschaftlichen Situationen beschäftigt, vor allem solchem, in denen Menschen im Widerspruch zur Modell-Annahme des → Homo oeconomicus agieren. Die Ursache dafür ist vielfach in kognitiven Verzerrungen begründet. Untrennbar mit den Namen Amos Tversky sowie der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann und Richard Thaler verbunden. Verhandlung: Prozess mithilfe von Kommunikation und Strategie (→ Verhandlungsstrategie), der einen möglichst fairen Interessenausgleich anstrebt, durch den widersprechende Bedürfnisse von zwei oder mehr Parteien ausgeglichen werden sollen. Verhandlung, distributive: → Verhandlung um nur einen einzigen → Verhandlungsgegenstand. Beispiele sind Börsengeschäfte und Strafgerichtsverfahren, das Resultat meist ein → Kompromiss. Verhandlung, integrative: → Verhandlung um mehr als ein → Verhandlungsobjekt, was das Auffinden einer Win-Win-Lösung durch Vergrößerung des → Verhandlungskuchens ermöglich. Der ursprüngliche primäre → Verhandlungsgegenstand wird durch eine Reihe zusätzlicher Verhandlungsobjekte zum Paket erweitert. Dabei ist jedes einzelne Verhandlungsobjekt distributiv. → Verhandlung, distributive Verhandlungsführer: → Einkäufer Verhandlungsgegenstand: Hauptsächliches (primäres) → Verhandlungsobjekt, bei Equipmentverhandlungen die → Anlage selbst bzw. deren Basispreis. Verhandlungskuchen: Verhandlungsmasse in einer integrativen → Verhandlung, die aus dem → Verhandlungsgegenstand und weiteren → Verhandlungsobjekten
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besteht; bildhafte Bezeichnung für das gesamte Verhandlungspaket. Lässt sich durch einen Win-Win-Ansatz möglicherweise vergrößern und wird besonders in Verhandlungen unter Asiaten zum Nachteil des Lieferanten nicht immer gleich aufgeteilt. Verhandlungsmacht: (auch Verhandlungsstärke) Relative Stärke der Verhandlungsposition zwischen den beteiligten Parteien während eines Interessenausgleichs. Sie beschreibt im Allgemeinen die Dominanz in einer → Verhandlung über die andere Seite. Verhandlungsnachbereitung: (engl. Follow-up) Alle Tätigkeiten, die bei einer → Beschaffung vom Einkäufer im Rahmen der Durchführung des → Vertrags zu leisten sind (und das sind nicht wenige): Auswertung und Verhandlungscontrolling; eventuell Nachverhandlung und Auswahl des zum Zuge kommenden Angebots; → Bestellung bzw. Vertrag; Wareneingang; Zahlungsfreigaben (gegebenenfalls Bürgschaftsprüfung); → Mangelverfolgung u. a. Verhandlungsobjekt: (engl. Negotiable) Allgemein ein Punkt, über den verhandelt wird. In einer → integrativen Verhandlung werden darunter alle weiteren zu vereinbarenden Punkte neben dem primären → Verhandlungsgegenstand als Hauptverhandlungspunkt verstanden. Verhandlungspaket: → Verhandlungskuchen Verhandlungsphasen: Unterscheidbare Zeitabschnitte in einer → Verhandlung mit charakteristischen Inhalten, im Wesentlichen Einstiegs-, Dialog-, Lösungsund Abschlussphase. Verhandlungsprotokoll: Vorgabedokument des → Einkaufs, in dem die individuellen Ergebnisse einer → Verhandlung oft handschriftlich notiert werden, was dem → AGB-Charakter und dem damit verbundenen Risiko der Inhaltskontrolle bedingt entgegenwirkt. Es enthält Vorschläge für vertragliche Regelungen, kann aber geändert und ergänzt werden, und wird von beiden Parteien unterschrieben. Ist zunächst eine Vertragshülse, die Teil des späteren formalen → Vertrags wird. Verhandlungsstil, harter: Heutzutage hartnäckiger, dabei jedoch konstruktiver Ansatz, seine → Verhandlungsmacht unter Wahrung der Trennung Sache – Person und ohne schlechtes Benehmen konsequent und opportunistisch aus-
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zunutzen. Liegt grafisch betrachtet in der üblichen Darstellung (Abb. 3.2) im Bereich rechts unten (hohes eigenes → Verhandlungsziel und niedriges Ziel des Gegenübers). Verhandlungsstil, Harvard-: (engl. Principled Negotiation Style) Nach Roger Fisher und William Ury ergebnisorientierter, sachbezogener Verhandlungsansatz (Win-Win). Charakterisiert durch die vier Punkte Trennung Mensch/Problem, Fokus auf Interessen statt auf Positionen, Entwicklung von Optionen sowie Anwendung objektiver Kriterien. Verbietet unsaubere → Verhandlungstricks und ermuntert zur Suche nach einer Alternative, falls aus dem Geschäft nichts wird. Liegt in Abb. 3.2 im Bereich rechts oben (hohes → Verhandlungsziel beider Parteien). Verhandlungsstrategie: Möglichst kurze, prägnante und präzise Beschreibung der groben Richtung vom Motiv bzw. den Interessen zum → Verhandlungsziel, vom Ausgangspunkt zum Ergebnis, die durch die Rahmenbedingungen begrenzt wird. Wird meist während der → Verhandlungsvorbereitung vom Verhandler bzw. dem → Verhandlungsteam festgelegt und bleibt für den Verhandlungspartner unbekannt. Verhandlungstaktik: Häufig gewundener Weg in der → Verhandlung im Rahmen der vereinbarten → Verhandlungsstrategie; oft nicht detailliert planbar und die konkrete Umsetzung der einzelnen Aktionen mit der übergeordneten Strategie als Leitlinie beinhaltend. → Verhandlungstipps und -regeln beschreiben taktische Möglichkeiten. Verhandlungsteam: Gruppe von zu einem → Abschluss bevollmächtigten Vertretern des Auftraggebers, die mit dem Team der anderen Partei eine Übereinkunft verhandelt, hier eine Anlagenbeschaffung. Jedes Teammitglied hat eine definierte Aufgabe; die optimale Teamgröße liegt in der Regel bei zwei bis vier Personen. → Vertriebsingenieur und Fach → einkäufer leiten ihre Teams. → FBI-Konzept, → Good Guy – Bad Guy-Spiel Verhandlungstipp: Auf theoretischen Grundlagen und praktischer Erfahrung beruhender Vorschlag zur Vorgehensweise in einer → Verhandlung, der dem ausführenden Verhandler einen taktischen Vorteil (→ Verhandlungstaktik) verschaffen kann. Weitgehend synonym verwandte Begriffe sind Verhandlungskniff, Verhandlungsregel und taktische Maßnahme.
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Verhandlungstrick: Ein Trick ist die einfache Abkürzung zur Erzielung eines Interessensausgleichs oder das arglistige Täuschungsmanöver beim Versuch, einen kontroversen Sachverhalt aufzulösen. Hier unsauberes (schmutziges) taktisches Manöver zur Erlangung eines Vorteils in einer → Verhandlung, indem das Gegenüber in ethisch-moralisch und manchmal auch juristisch fragwürdiger Weise zu Konzessionen gebracht werden soll. Die geschieht z. B. durch psychologischen Druck oder Manipulation. Verhandlungsvorbereitung: Wichtigster Teil des Dreiklangs Vorbereitung – Durchführung – Follow-up. Ist für bis zu 80 Prozent des möglichen Verhandlungserfolgs verantwortlich (→ ERFOLG), wird aber dennoch gerne in ihrer Bedeutung unterschätzt. Beginnt im engeren Sinne mit der Erstellung eines Angebots und der taktischen Vorbereitung, weiter gefasst jedoch bereits lange vor der → Verhandlung durch Schaffung/Stärkung der Marktposition und → Verhandlungsmacht etwa durch → Sourcing sowie Etablierung von Kontakten beim Kunden. Verhandlungsziel: Quantitative Festlegung dessen im Rahmen der → Verhandlungsvorbereitung, was in einer → Verhandlung angestrebt wird und erreicht werden soll. Zu Eigenschaften von Verhandlungszielen → SMART. Verlustaversion: Tendenz, Verluste subjektiv höher (meist um einen Faktor zwei) zu gewichten als Gewinne. Resultiert in der Status-quo-Verzerrung: Menschen haben eine starke Neigung, den gegenwärtigen Zustand jeglicher Veränderung vorzuziehen. → Verhaltensökonomik Vertrag: In Recht und Wirtschaft die aus übereinstimmenden → Willenserklärungen zustande kommende Einigung von mindestens zwei Vertragspartnern, wobei jede Partei der anderen etwas zu tun oder zu unterlassen verspricht. Ein Vertrag kommt auch zustande, wenn eine Partei ein Angebot macht und die andere Partei dies mit einem bloßen „Ja“ annimmt. Im BGB sind verschiedene Vertragstypen definiert, z. B. der → Kaufvertrag und der beim Vertrieb von → Anlagen meist zugrunde liegende → Werkvertrag. Vertriebsingenieur: (engl. Sales Engineer) Technischer Verkäufer → erklä rungsbedürftiger Produkte vor allem im Investitionsgüterbereich. → Beraterverkauf
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Walk-out-Preis: (im Vertrieb auch Rock-Bottom-Preis, dt. etwa „rote Linie“) Schlechtester Endpreis, dem eine Partei noch zustimmen kann; für den Kunden der höchste akzeptable Preis. Wird in der → Verhandlungsvorbereitung festgelegt. Lässt er sich nicht erreichen, ist die → Verhandlung zwecks interner Festlegung des weiteren Vorgehens zu unterbrechen – oder sogar komplett abzubrechen. Want: (dt. sehr frei übersetzt „goldener Wasserhahn“) Nicht zwingend notwendiger Punkt in einer → Verhandlung; → Verhandlungsobjekt, das gegen eine vorteilhafte Konzession des Verhandlungspartners getauscht werden kann. → Konzessionsstrategie Werkvertrag: → Vertrag nach §§ 631 ff BGB, dessen zu erbringender Leistungsgegenstand die Herstellung eines versprochenen Werkes (körperliches oder geistiges Produkt) ist. Während der Lieferant bei einem Dienstvertrag die Arbeitsleistung zu erbringen hat, ist bei einem Werkvertrag der Erfolg geschuldet. Eine → Anlage wird aufgrund ihrer individuellen Eigenschaften in Deutschland in der Regel nach Werkvertragsrecht verkauft. Willenserklärung: Äußerung eines Rechtsfolgewillens, also die Kundgabe des Willens einer Person, die einen Rechtserfolg beabsichtigt. Ziel ist eine Situation, die juristisch betrachtet eine andere ist als diejenige vor der Tätigung der Willenserklärung. Sie besteht aus dem inneren Willen und der Kundgabe des Willens. Zahlungsziel: Allgemein eine vom Vertragsrecht abweichende Zahlungsbedingung. Kalendarischer Zeitraum, in dem eine vereinbarte oder fällige Zahlung vom Schuldner an den Gläubiger, hier vom Kunden an den Lieferanten, zu leisten ist. In der betrieblichen Praxis ist bei der Organisation von Zahlläufen etc. darauf zu achten, dass die Zahlungen innerhalb des Zahlungsziels auf dem Konto des Lieferanten eingehen müssen. ZOPA: (Zone Of Possible Agreement) Akronym für den Überlappungsbereich der möglichen Positionen beider Parteien für ein quantitativ bewertbares → Verhandlungsobjekt, normalerweise dem Preis. Wird beim Preis begrenzt durch die → Walk-out-Preise beider Parteien.