Muslimische Gottesfreundschaft: Eine Reise in das Innere des Islams 9783110789119, 9783110789034

The best way to behave in the cosmos, which according to the Islamic doctrine is constantly being created by Allah, is t

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German Pages 609 [610] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
An den geneigten Leser
Prolog
1 Gottesfreundschaft – eine Bestimmung des Begriffs
2 Vom Sinn der Ritualpflichten
3 Leben in der Heilsgewißheit
4 Das Heil im Diesseits
Huldreiche Gnadengeschenke
Erster Teil: Der Weg
Kapitel 1 Die Wahrnehmung der Welt
Kapitel 2 Wissen und Erkennen
Kapitel 3 Der Gottesfreund und die Mächtigen
Kapitel 4 Beglaubigungen
Zweiter Teil: Das Bewahren
Kapitel 1 Die Klause
Kapitel 2 Kosmos und Charakter
Kapitel 3 Der Einzelne, die Mitmenschen und das Gesetz
Kapitel 4 Leiden und unbezwingbare Ängste
Epilog
Karte
Erläuterung wichtiger Begriffe
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen und Karten
Zur Transliteration der arabischen Wörter
Danksagungen
Indices
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Muslimische Gottesfreundschaft: Eine Reise in das Innere des Islams
 9783110789119, 9783110789034

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Tilman Nagel Muslimische Gottesfreundschaft

Islamkundliche Untersuchungen

Band 350

Tilman Nagel

Muslimische Gottesfreundschaft

Eine Reise in das Innere des Islams

ISBN 978-3-11-078903-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078911-9 ISSN 0939-1940 Library of Congress Control Number: 2022951400 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: ilbusca / DigitalVision Vectors / Getty Images Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dem Andenken an meine lieben Eltern Als es an der Zeit war lehrten sie mich das Sehen

Inhalt An den geneigten Leser

XI

Prolog 

Gottesfreundschaft – eine Bestimmung des Begriffs



Vom Sinn der Ritualpflichten

8



Leben in der Heilsgewißheit

12



Das Heil im Diesseits

17

Huldreiche Gnadengeschenke

20

Erster Teil: Der Weg Kapitel 1 Die Wahrnehmung der Welt 27 . Das Dorf 27 . Die Stadt 39 . Eine spirituelle Topographie Kapitel Wissen . .

2 und Erkennen Wissen 73 Erkennen 92

58

73

Kapitel 3 Der Gottesfreund und die Mächtigen . Qānṣauh al-Ġaurī 116 . Ṭūmānbeg 147 . Stiftungen 173

116

3

VIII

Inhalt

Kapitel 4 198 Beglaubigungen . Die Stimme 198 . Die Abstammung 230

Zweiter Teil: Das Bewahren Kapitel 1 257 Die Klause . Einnahmen . Ausgaben

257 287

Kapitel 2 Kosmos und Charakter 313 . Kosmos 313 . Charakter 335 Kapitel 3 Der Einzelne, die Mitmenschen und das Gesetz 358 . Alleinsein . Gemeinschaft 379 . Schöpferische Gelehrsamkeit 402 425 . Die kleine und die große Waage

358

Kapitel 4 Leiden und unbezwingbare Ängste 452 . Leiden für Ägypten und den Sultan 452 . Das Leuchten ins Nichtseiende hinaus 477 Epilog 490  Aš-Šaʿrānīs Nachruhm 490  Die Angst vor dem Ich, dem Nichtseienden Erläuterung wichtiger Begriffe Anmerkungen

532

Literaturverzeichnis

572

516

500

Inhalt

Verzeichnis der Abbildungen und Karten Zur Transliteration der arabischen Wörter Danksagungen Indices

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583

581 582

IX

An den geneigten Leser Eine Erkundungsreise ist kein Spaziergang zur Zerstreuung des Geistes und zur Erheiterung des Gemüts. Sie führt vielmehr durch unwegsames, zumindest in Teilen noch unbekanntes Gelände, und sie gibt ein ums andere Mal Anlaß zu befremdetem Erstaunen, das in die Frage mündet, wie das Wahrgenommene mit dem zusammenhängt, was man bereits weiß oder zu wissen glaubt. Der Verfasser des Buches, das der Leser in den Händen hält, hat diese Erfahrung beim Studium der Quellen, aus denen es hervorging, immer wieder gemacht. Soll er sie dem Leser nicht lieber ersparen? Muß er das nicht sogar? Gewiß wäre das möglich gewesen. Er hätte einen Text schaffen können, in dem er den ganzen Stoff, streng nach Sachgebieten geordnet und diese in zahlreiche Untergruppen und Unteruntergruppen gegliedert, hätte auflisten können. Am Anfang hätte ein kurzer Abriß der Lebensdaten aš-Šaʿrānīs, des Haupthelden des Buches, stehen können, am Schluß vielleicht ein knapper Überblick über die Rezeption seiner Schriften in der islamischen Welt. Das Wesentliche wäre bei einem solchen Vorgehen aber nie eigens zur Sprache gekommen. Ab und an berührt, wäre es zwischen der Systematik kein eigener Gegenstand der Erörterung geworden. Die Frage, wie sich die Gottesfreundschaft als anerzogenes Ideal und als durchlebte Erfahrung in der Person aš-Šaʿrānīs manifestiert, ist einer nach Sachgebieten geordneten Beantwortung unzugänglich. Sie verlangt danach, das Handeln aš-Šaʿrānīs, seine theologischen und schariarechtlichen Erwägungen, seine Gedanken über Erwerb, Arbeit und Wohltätigkeit, das Räsonieren über den Umgang mit den Mächtigen, das spirituelle Erleben und den qualvollen Weg dorthin, schließlich die bestürzende Einsicht in die Unhaltbarkeit der populären Jenseitserwartungen, stets in seinen Werdegang einzuordnen und mit den grauenvollen Zeitumständen zu verknüpfen, deren Zeuge er war. Auch wenn das, was er uns in seinen zahlreichen Schriften mitteilt, bis zum Grunde von allgemeinmuslimischen Vorstellungen geprägt ist, so geht es doch nicht in ihnen auf. Seine Botschaft tritt uns vielmehr als ein durch einen individuellen Lebenslauf Bestimmtes entgegen und muß dem Leser auch so vermittelt werden. Die bis ins späte 19. Jahrhundert anhaltende Wirkung der Gedanken dieses Mannes läßt sich anders nicht verstehen. Das aber heißt, daß die Erkundungsreise den Leser besonders am Beginn an Orten vorbeiführen wird, deren Bewandtnis ihm erst später, in einem anderen Zusammenhang, ausführlich erläutert wird. Der Verfasser erlaubt sich die Empfehlung, trotzdem in der Lektüre fortzuschreiten und zum gegebenen Zeitpunkt zu dem zurückzukehren, was offengeblieben ist. Er verweist ferner auf sein Buch „In Allahs Kosmos. Eine Abhandlung über das Menschsein in Islam“, in dem bis ins einzelne die metaphysischen, theologischen und gesellschaftlichen Grundlagen des https://doi.org/10.1515/9783110789119-002

XII

An den geneigten Leser

Menschenverständnisses analysiert werden, das sich in der muslimischen Gottesfreundschaft verwirklicht. Dransfeld, im Juni 2021

Tilman Nagel

Prolog

1 Gottesfreundschaft – eine Bestimmung des Begriffs Ein Asket wandert durch die Welt und begegnet eines Tages einem Gottesfreund. In ihm glaubt er, seinesgleichen zu erkennen. Daher bietet er ihm etwas von seiner Wegzehrung an. Der Gottesfreund aber schlägt das Angebot aus: „Wir essen nur das, was nach der Scharia zulässig ist. Indem wir diese Regel befolgen, bestärken wir das Herz darin, Verzicht zu leisten und unentwegt in demselben Zustand zu verharren, so daß wir in den verborgenen Seinsbereich und in die kommende Welt hinüberschauen können.“ Unwirsch erwidert der Asket: „Ich faste beständig, und dreißigmal im Monat rezitiere ich den Koran vom Anfang bis zum Ende.“ „Ich dagegen“, fällt ihm der Gottesfreund ins Wort, „schätze den Trunk, den du mich jetzt leeren siehst, höher ein als tausend Koranlesungen und dreihundert Körperbeugen1 im rituellen Gebet.“ Von der Milch der Wildantilope nämlich nährt sich der Gottesfreund. Verwundert ruft der Asket aus: „Ihr Gottesfreunde lebt von schariatisch unbedenklicher Speise! Gut, aber ihr kümmert euch nicht darum, eure Glaubensbrüder zu versorgen!“ Der Gottesfreund rechtfertigt sich: „Unsere Art zu leben paßt nicht für jedermann.Wenn alle Muslime nichts als schariatisch unbedenkliche Speisen äßen, ginge das Gemeinwesen unter, die Märkte würden leer und die Länder verödeten. Wir sind nur eine kleine Schar Auserwählter, die von Allah den Befehl erhielten, so zu leben.“2

*** Gottesfreundschaft versus Mystik – Askese und „Islam“ – Das „Verborgene“

Gottesfreundschaft versus Mystik Von der Gottesfreundschaft handelt dieses Buch, von einer der wirkmächtigsten Erscheinungsformen der islamischen Kultur, von dem einzigen nicht vollends verworfenen Weg, das durch die Scharia vorgeschriebene Daseinsmuster hinter sich zu lassen und in eigenständigem Umgang mit dem Einen und der Welt das Diesseits zu durchschreiten. Wie die Gottesfreundschaft das Weltempfinden des Menschen prägt, der sich ihr verschreibt; wie die einfachen Muslime und wie die Mächtigen mit einem Gottesfreund umgehen, das alles werden wir erkunden, nicht zuletzt auch, inwiefern diese Art zu leben und zu denken in der Heilsbotschaft des Korans verwurzelt und vorgebildet ist. Das Zwiegespräch zwischen dem Asketen und dem Gottesfreund geht ins 8. Jahrhundert zurück. Es wurde im 10. Jahrhundert3 zum ersten Mal niedergeschrieben und enthält, aufs äußerste verdichtet, die Erkenntnis, die wir suchen. Beginnen wir, uns einen Pfad zu ihr zu bahnen! Mit dem Wort „Gottesfreund“ gebe ich das arabische al-walī wieder, das im allgemeinsten Sinn jemanden bezeichnet, der einer Person oder einer Idee mit unerschütterlicher Treue ergeben ist, ihr besonders „nahesteht“ – letzteres ist die Bedeutung der Wurzel, aus der al-walī abgeleitet ist. Mehrfach versichert der Koran, https://doi.org/10.1515/9783110789119-003

4

Prolog

abgesehen von Allah hätten die Menschen niemanden, der ihnen wahrhaft „nahesteht“ – ihr „Freund“ ist – und ihnen Unterstützung gewährt (z. B. Sure 2, 107; 13, 37; 42, 44); es sei töricht, nach anderen Freunden zu suchen (Sure 42, 9). Doch gilt nicht nur, daß Allah den Menschen nahesteht, umgekehrt sind auch sie seine Freunde, können es zumindest sein. Die Propheten, allen voran Mohammed, waren Gottesfreunde, und auch nach Mohammeds Tod wird es einigen Menschen gelingen, sich dem Schöpfer so weit zu nähern, daß sie als seine Freunde gelten dürfen. Es ist für den Fortbestand der muslimischen Glaubensgemeinschaft sogar unerläßlich, daß in ihr solche Männer wirken – Garanten des wahren, unverfälschten Glaubens und seiner Riten in einer Welt, der die Neigung innewohnt, sich von Allah zu entfernen und das Gesetz, das er durch den Propheten verkünden ließ, nicht in aller Strenge und Genauigkeit zu beachten.4 In der europäischen Literatur hat man die islamische Gottesfreundschaft in aller Regel unter dem Stichwort „Mystik“ abgehandelt und die betreffenden Personen in Ermangelung eines anderen Begriffs „Heilige“ genannt. Beides ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Denn erstens gibt es in der islamischen Kultur keine Institution, die mit der Aufgabe betraut ist, herausragende Glaubenslehrer oder leuchtende Vorbilder gottgefälligen Lebenswandels zu kanonisieren und für sie einen Gedenktag zu bestimmen. Zweitens aber – und das ist viel wichtiger – wird man Gottesfreund nicht erst nach dem Tod, etwa durch ein Martyrium, wie dies vor allem für frühchristliche Heilige bezeugt ist. Die Gottesfreundschaft eines Muslims wird schon zu seinen Lebzeiten von den Zeitgenossen erkannt. Nach dem Tod mag sich sein segensreiches Wirken fortsetzen; aber wesentlich und für den Ruhm, den ein Gottesfreund erwerben kann, unabdingbar ist es, daß zu seinen Lebzeiten viele Menschen an seine enge Beziehung zum Verborgenen, Transzendenten, „glauben“. Die Gottesfreunde sind in der Gemeinschaft der Muslime anwesend; sie bilden einen wichtigen Teil von ihr und unterhalten vielfältige Beziehungen zu den Herrschenden und Mächtigen, aber auch zu den kleinen Leuten. Das ist das Entscheidende. Und damit entfällt auch der Grund, die Gottesfreundschaft unter den Oberbegriff der „Mystik“, der individuellen Vereinigung mit Gott, einzuordnen. Gewiß weist der muslimische Gottesfreund einige Charakterzüge auf, die in jene Richtung deuten: Er sucht das unmittelbare Erleben Allahs, des Einen Wahren. Aber damit ist sein Ziel längst nicht erreicht, das man am besten als die Beherrschung des Diesseits durch Ausschaltung der ichhaften Regungen beschreiben kann. Dies aber wird keineswegs nur als eine persönliche, innere, weltabgeschiedene Erfahrung verstanden, sondern verwirklicht sich in einem Streben nach Erziehung der Mitmenschen. Die Grundlage des pädagogischen Eifers der Gottesfreunde ist freilich nicht in der autoritativen Textüberlieferung zu finden, auf der die Scharia fußt, sondern in den eigenständigen Erkenntnissen, deren sie während des unmittelbaren Erlebens des Einen innewerden. Um den Gottesfreund schart sich eine Ge-

1 Gottesfreundschaft – eine Bestimmung des Begriffs

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meinschaft, deren Mitglieder Unterweisungen jenseits der Scharia erhoffen; sie möchten den gleichen Pfad durchwandern wie er, um endlich nach dem Abstreifen des Ichs selber zu Herren über das Diesseits zu werden. Solches Streben nach Gottesfreundschaft wird seit dem 11. Jahrhundert zu einem Massenphänomen, auf das ein wesentliches Merkmal der Mystik, nämlich die Individualität religiöser Erfahrung, gar nicht zutrifft. Das „Alleinsein“ mit Allah wird geradezu verworfen!5 Askese und „Islam“ Was also ist die islamische Gottesfreundschaft? Wenden wir den Blick auf das Zwiegespräch zurück! Der Asket peinigt sich mit dem Verzicht auf Essen und Trinken; die Bedürfnisse, die alle Menschen haben, befriedigt er nur gerade in dem Maße, daß er am Leben bleibt. Die Welt mit ihren Genüssen ist ihm ein Greuel; sein ganzes Sinnen und Trachten ist auf Entsagung gerichtet, damit alle Lebenszeit für die schariagetreue Verehrung des Einen frei sei. Er löst die Bindungen an das Diesseits, an Familie und Heimat, und wandert umher – unablässig führt er einen Kampf gegen die Welt, deren Zudringlichkeit ihn in seiner Andacht stört. Auch der Gottesfreund ist in dieser Episode allein, aber er hat nichts mit dem fremden Asketen gemeinsam, und das bescheidene Mahl, das dieser mit sich führt, verschmäht er. Dies freilich nicht, weil er den Fremden in der Enthaltsamkeit übertreffen möchte, sondern weil er dessen Lebenswandel als gänzlich verfehlt ansieht! Er belehrt den Fremden, daß die Gottesfreunde nur verzehren, was nach der Scharia unbedenklich ist. Damit unterstellt er nicht, daß der Asket ihm eine Speise anbietet, die Verbotenes enthielte, rituell unrein oder auf ungesetzlichem Wege erworben worden wäre. Es geht ihm vielmehr darum, daß das ganze Verhalten des Asketen unislamisch ist. Denn „Islam“ bedeutet, Allah als den alleinigen Schöpfer und den einzigen Ernährer aller Kreatur zu erkennen. Das bedenkt jener nicht, wenn er in seinem übersteigerten Verlangen nach Schariatreue die Welt als lästig und zudringlich empfindet, und er hat es erst recht nicht beachtet, als er sich für die Wanderung mit Proviant versah. Die Milch der Wildantilope dagegen, von der der Gottesfreund sich nährt, kommt diesem ohne jede eigene Vorsorge zu, unmittelbar dank Allahs Fügung – Allah und niemand sonst teilt den Lebensunterhalt aus! Sobald der Mensch jedoch selber in dieses Geschehen eingreift, versperrt er sich die Einsicht, daß dies so ist: Er nimmt das Diesseits als etwas wahr, das für ihn neben Allah Bedeutung hat. Dies ist freilich nicht die einzige Verfehlung, deren sich der wandernde Asket schuldig macht. Denn er erzählt dem Gottesfreund voller Stolz von seinen Leistungen, davon, wie eifrig er der Verehrung des Einen obliegt, und indem er dies herausstreicht, bekundet er, daß er alles dies nicht allein tut, um Allah näherzukommen, sondern auch um dafür bei den Mitmenschen Anerkennung zu finden. Noch einmal also verfehlt der Asket das Erfordernis, alles Denken und

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Prolog

Handeln einzig auf Allah auszurichten. Wäre er dazu wirklich in der Lage, dann wären die strenge Askese und der Verzicht auf Geselligkeit gar nicht nötig, und er dürfte voller Dankbarkeit gegen den Einen Wahren alles das genießen, was dieser ihm als Lebensunterhalt schenkt. Die Gottesfreundschaft nämlich ist von aller Kasteiung des Leibes unabhängig, sie hat nichts mit virtuos gehandhabter Enthaltsamkeit zu tun. Das „Verborgene“ Nicht jeder Muslim kann sich freilich zur Gottesfreundschaft durchringen. Das Gemeinwesen ginge zugrunde, wenn jedermann allein auf die Vorsorge durch den Schöpfer rechnete. In der Regel wird der Gottesfreund von den Gaben leben, die ihm alle die zukommen lassen, die an ihn „glauben“. Diese Gaben, unvorhersehbar, wie sie sind, stellen den von Allah gewährten Lebensunterhalt dar, der sich allem Planen entzieht. Warum aber beschenkt man die Gottesfreunde, ja überhäuft sie bisweilen mit Gütern aller Art? Auch diese Frage wird in dem Zwiegespräch beantwortet. Das Herz, der Sitz des Verstandes, wird gestärkt, sagt der Gottesfreund. Der Verstand ist die Gottesgabe, die den Menschen, der in das Diesseits gestellt ist, zu der Einsicht befähigt, daß diese Welt, die man mit den fünf Sinnen erfaßt, nicht die einzige und letzte Wahrheit ist; denn alles, was in diesem Diesseits geschieht, ist allein das Ergebnis des ununterbrochenen schöpferischen Handelns Allahs. Diese Wahrheit, ungetrübt von aller diesseitigen Beimengung, wird dem Gottesfreund einsichtig, sobald er sich von allen diesseitsverhafteten Bestrebungen und Gedanken gelöst hat. Mit einer sich dann aufschließenden geistigen Sehkraft, die nicht von den physikalischen Voraussetzungen des diesseitigen Seins eingeengt ist, nimmt er wahr, was im verborgenen – unter dem Diesseits verborgenen – Seinsbereich am Werke ist: Allahs Fügung. Dem verborgenen Sein fehlen Raum und Zeit, die Merkmale des Diesseitigen. Da ist kein Hier, kein Dort, und was wir im Offenkundigen als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig erleben, enthüllt sich im Verborgenen als ein übergeschichtliches Ganzes. Darum erkennt der schauende Gottesfreund, wie der Eine schon vor der Erschaffung der Welt alles bestimmt hat und wie alles ins Sein tritt, nämlich gemäß göttlicher Bestimmung zeitlich wird – er erkennt mithin die göttliche Weisheit, die all dem diesseitigen Geschehen zugrunde liegt, das der Unkundige für rätselhaft, ja verworren erachten mag. Und wenn ein Gottesfreund – wie es ihm stets nur in kurzen Augenblicken gelingt – alles Ichhafte ganz und gar abstreift und sich vollkommen der in eben diesem Augenblick von ihm erfaßten göttlichen Fügung einbeschreibt, dann ist er der Stellvertreter Allahs in der Schöpfung und erlangt sogar eine Art der Ermächtigung über sie: Er greift in den laufenden Schöpfungsprozeß ein. Wie dieses Eingreifen theologisch zu deuten ist, das ist eine

1 Gottesfreundschaft – eine Bestimmung des Begriffs

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Schwierigkeit, mit der muslimische Denker zu ringen hatten, und man kann nicht sagen, daß sie schlüssig gelöst worden wäre. Um den Rang zu verstehen, den die Gottesfreunde seit dem 12. Jahrhundert in der islamischen Glaubensgemeinschaft einnehmen, ist die Antwort auf die theologische Frage auch nicht erheblich. Wir brauchen uns vorerst nur zu vergegenwärtigen, was man von den Gottesfreunden zu wissen meinte, und der Grund für ihr Ansehen, auch für ihre Macht, wird erkennbar.

2 Vom Sinn der Ritualpflichten Der Weg zum „Islam“ – Die Pflichtriten: Stabilisierung der Hinwendung zu Allah

Der Weg zum „Islam“ Die Gottesfreundschaft ist nichts, das von außen in den Islam eingedrungen wäre, nichts ihm wesensmäßig Fremdes, sondern sie ergibt sich aus der Heilsbotschaft, die im Koran verkündet wird. Von dem vielzitierten, in der muslimischen Frömmigkeit immer wieder erkundeten Lichtvers (Sure 24, 35) her soll dies aufgezeigt werden. Er lautet: „Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht strahlt wie aus einer Nische, in der eine Lampe steht, in ein Glas gefaßt, das funkelt wie ein hell blinkender Stern. Gespeist wird (die Lampe mit dem Öl) von einem gesegneten Olivenbaum, nicht östlich, nicht westlich, einem Öl, das fast schon leuchtet, selbst wenn das Feuer es noch nicht berührt haben sollte. Licht über Licht! Allah leitet zu seinem Licht, wen er will, und Allah prägt den Menschen Gleichnisse. Er weiß alles.“ Zu diesem Vers, insbesondere zu dem Passus: „Allah ist das Licht der Himmel und der Erde“ liest man in einer Darstellung des sunnitischen Islams, die um das Jahr 1000 entstand: „Allah ist es, der die Bewohner der Himmel und der Erde auf den rechten Weg leitet. Seine Rechtleitung im Herzen des Gläubigen gleicht dem klaren Olivenöl, das leuchtet, schon bevor es vom Feuer berührt wird, und wenn es vom Feuer berührt wird, dann nimmt das Leuchten zu, Licht über Licht. So auch verhält es sich mit dem Herzen des Gläubigen: Die Rechtleitung wirkt darin, noch ehe das Wissen in es eindringt. Und sobald das Wissen eingedrungen ist, dann nimmt sie zu – Rechtleitung über Rechtleitung, Licht über Licht! So sagte Abraham, ehe er die Erkenntnis empfing: ‚Dieser ist mein Herr!‘ als er einen Stern erblickte (vgl. Sure 6, 76) und ihm noch niemand davon Kunde gegeben hatte, daß er einen (einzigen, unwandelbaren) Herrn habe. Und als Allah ihm davon Kunde gab, daß er sein Herr sei, nahm Abraham an Rechtleitung zu.“6 Der Lichtvers wird als die Versinnbildlichung des Weges Abrahams zur wahren und vollkommenen Gotteserkenntnis gedeutet. Abraham sollte, so wird in Sure 6 erzählt, Gewißheit über den einen Allah erlangen; für einen Augenblick ließ ihn dieser Eine sein ununterbrochenes schöpferisches Walten schauen (Sure 6, 75), und deswegen begann Abraham nach dem wahren Herrn der Welt zu suchen.7 Zuerst vermeinte er, ihn in einem Gestirn gefunden zu haben; dann, als dieses untergegangen war, hoffte er, der Mond, danach, die Sonne sei die höchste Gottheit. Doch der Mond und auch die Sonne gingen unter, und so konnten sie nicht sein, was er zu entdecken ersehnte: der eine unangefochtene und ohne Unterbrechung herrschende Schöpfer und Lenker der Welt. „Ich wende nun mein Angesicht dem zu, der Himmel und Erde geschaffen hat“, sprach er, sobald ihm seine Irrtümer zu Bewußtsein kamen (Sure 6, 79), und als ihn seine https://doi.org/10.1515/9783110789119-004

2 Vom Sinn der Ritualpflichten

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Sippe wegen der Abkehr von der hergebrachten Vielgötterei zur Rede stellte, verteidigte er sich: „Streitet mit mir nicht über Allah, wo er mich doch rechtgeleitet hat! … Wie sollte ich (die Götzen) fürchten, die ihr (dem Einen) beigesellt, wo ihr euch nicht einmal davor fürchtet, Allah jene beizugesellen und damit etwas zu tun, wozu er euch keine Vollmacht erteilt hat?“ (Sure 6, Vers 80 f.). Mit der Hinwendung zu Allah, dem Einen, bewirkte Abraham, daß das Ahnen, das er seit dem Blick hinüber in den verborgenen Bezirk des göttlichen Waltens im Herzen hegte – das Leuchten des klaren Olivenöls – dank dem Wissen von der Rechtleitung zu hellem Strahlen entflammte: Der Schöpfer, der alle Kreatur zu sich hin geschaffen hat und sie niemals aus der Geborgenheit entläßt, zeigt sich als die alles Diesseitige überwältigende Gegebenheit. Ihn gebührend zu verehren, wird nur nach Maßgabe der schariatischen Normen gelingen; sie stammen von Allah selber und sind die Quintessenz der dank göttlichem Eingriff vom Ahnen zum Wissen gefestigten Gotteserkenntnis. In den fünf rituellen Pflichtgebeten, die jeden Tag zu verrichten sind, in der Läuterungsgabe,8 in der Pilgerfahrt, im Fasten während des Ramadan, in diesen den Lebensvollzug des Muslims beherrschenden Handlungen ist stets die Vergegenwärtigung jener abrahamischen Gotteserfahrung gemeint. Die Pflichtriten: Stabilisierung der Hinwendung zu Allah Hören wir, wie aš-Šaʿrānī, der Gottesfreund, seine Adepten in die Geheimnisse der Riten einweiht! Wer sich zur Verrichtung der rituellen Pflichtgebete aufstellt, schreibt er, der verläßt jedesmal das Diesseits und betritt den Bezirk, in dem Allahs Fügung unmittelbar geschaut wird, jenes Reich, in das Abraham hatte einen Blick tun dürfen, damit er für immer den Einen zu erkennen begehrte. Das Herz, worin sich das Offenkundige und das Verborgene auf eine nur in kühnen Bildern ausdrückbare Weise berühren können,9 erlebt in ebendiesem Augenblick die Anwesenheit vor dem Höchsten. Sobald der Beter dann die Arme hebt und mit dieser Geste bekundet, daß er sich von allem Geschaffenen losreißt, da er einzig des Schöpfers bedarf, weiß er sich im Vorhof des Fürstensitzes des Einen. Mit dem Allāhu akbar hat er das Diesseitige zurückgelassen – „Allah ist zu groß“, als daß sein Knecht etwas anderes außer Ihm wahrnehmen dürfte. Und so ist es mit allen folgenden Gesten und Worten der fünf täglichen Pflichtgebete – sie bekräftigen, was geschah, indem man sich aufstellte, die Hände emporreckte, Allāhu akbar sprach.10 Die Läuterungsgabe, die zweite Ritualpflicht, hat einen ähnlichen Sinn. Wer sie abführt – ein Zehntel oder ein Zwanzigstel von der Ernte, eines von vierzig Schafen –, ernährt die Armen und ruiniert doch sein Vermögen nicht. Er reinigt Leib und Geist von jeglicher Krankheit, bewahrt sich vor erniedrigender Bestrafung. Hängt das Herz des Menschen nicht allzu sehr am Besitz? Dieses Leiden, das einem den Blick auf Allah verstellt, wird durch die Läuterungsgabe geheilt.Wer sie aus Habgier

10

Prolog

verweigert, den wird man am Jüngsten Tag, das Gesicht voran, zu Boden werfen; sein Vieh, der Inbegriff des Besitzes,11 wird über ihn hinwegtrampeln, ihn mit den Hörnern stoßen. Denn was den Menschen im Jenseits widerfahren wird, ist das Entgelt für die Taten des Gehorsams oder des Ungehorsams, und zwar entsprechend den Eigenarten dieser Taten: Hätte der viehische Leib sich im Diesseits zum Geben bereitgefunden und hätte sich die Verkrampfung des Geizes von den Gliedern gelöst, dann würde er im Jenseits nicht von den Hufen seines Viehs gepeinigt, denn die Tiere wären längst in die Hände Allahs und der Bedürftigen gelangt! Das Vieh nämlich, so belehrt aš-Šaʿrānī alle diejenigen, die die Riten verstehen wollen, meint eine Herde, und die Läuterungsgabe, die davon fällig wird, gleicht dem Strick, der die Herde hindert, den Eigentümer niederzurennen.12 Wer reinen Herzens aus seinem Vermögen spendet, der nähert sich ein wenig dem Charakter des Schöpfers an, dessen Freigebigkeit allerdings jegliches dem Menschen faßliche Maß übersteigt.13 Klarer noch deutet das rituelle Fasten auf die ständige Fürsorge Allahs für seine Schöpfung: Er nährt sie, bedarf selber aber keiner Nahrung. Fasten heißt darüber hinaus, sich tagsüber all der Regungen zu enthalten, die Allah für die Zeit des Ramadan verboten hat – nur nachts darf man essen, trinken, sich dem Beischlaf hingeben. Der helle Tag gehört dem von Allah rechtgeleiteten Tun, hat doch der Prophet einst gesagt: „Allah schuf die Kreaturen in der Finsternis, dann ließ er etwas von seinem Licht über sie hinfluten, und wer von einem Strahl dieses Lichtes getroffen wird, der geht den rechten Weg, und wen das Licht verfehlt, der bleibt im Irrtum befangen.“14 Darum kann man niemals sonst Allah so ähnlich werden wie an den Tagen des Ramadan: Im Verzicht auf alles Nehmen sich ganz dem immer gebenden Allah anempfindend, wird der Muslim von allem frei, was ihn an das Diesseits binden könnte, frei, um einzig und allein im Lichte des göttlichen Bestimmens zu stehen – er wird des tiefsten Sinnes seiner Geschöpflichkeit inne. Alle Kreatur außer dem Menschen hält, solange Allah sie existieren läßt, ohnehin ständige Fasten ein; denn wie sollte sie, die niemals wider des Schöpfers Fügung löckt, je Regungen der Eigenmächtigkeit zeigen?15 – Wenn die Muslime in den Städten und Dörfern den Verrichtungen des Alltags nachgehen, dann sind sie nicht nur räumlich fern von jenem einst durch Abraham und Ismael erbauten Haus in Mekka (vgl. Sure 2, 125), von dem Ort, den Allah zum Mittelpunkt aller rituellen Verehrung bestimmte, die ihm die Geschöpfe schulden. Die Pilgerreise nach Mekka ist deswegen die deutlichste Handlung des Heraustretens aus den Bindungen an das Geschaffene, die entschiedenste Hinwendung zu dem Einen. Sobald der Wallfahrer die Grenze des heiligen Bezirkes überquert und das Pilgergewand angelegt hat, nimmt das Innerste seines Herzens den „Duft des Waltens“ Allahs wahr; alles Diesseitige bleibt zurück, es findet keine Aufmerksamkeit mehr, schreibt aš-Šaʿrānī und zitiert Sure 8, Vers 24: „Ihr, die ihr glaubt! Hört auf Allah und seinen Gesandten,

2 Vom Sinn der Ritualpflichten

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wenn er euch zu etwas aufruft, das euch Leben gibt! Wisset, daß Allah den Menschen die Herrschaft über ihr Herz entreißt!“16

3 Leben in der Heilsgewißheit Verbürgung des Heils vor aller Zeit – Überbietung der Pflichtriten – Das von Allah stammende Wissen – Bewahrer des Wissens

Verbürgung des Heils vor aller Zeit Der Muslim vergewissert sich im Vollzug der Pflichtriten seiner Heilsbestimmtheit, die ihm anerschaffen ist (vgl. Sure 30, 30) und die ihm schon vor dem Beginn des Schöpfungsgeschehens zugesagt wurde. Denn noch ehe Allah die diesseitige, materielle Welt formte, entnahm er dem Rückgrat der präexistenten Söhne Adams die immateriellen Wesenskerne aller Nachkommen und stellte ihnen die Frage: „Bin ich nicht euer Herr?“ und sie antworteten: „Ja, wir bezeugen es!“ (Sure 7, 172). Wenn in einem Menschen nach dem Vorbilde Abrahams die Erinnerung an die vor aller Zeit geschehene Heilszusage aufleuchtet, dann wird sich sein ganzes Leben verändern und vom unablässigen Denken an jene Freudenbotschaft überstrahlt. Die Öllampe, die im Lichtvers (Sure 24, 35) beschrieben wurde, leuchtet, so heißt es in dem ihm folgenden Vers, „in Häusern, die zu errichten Allah die Erlaubnis gab, desgleichen, daß darin seines Namens gedacht wird. Es preisen ihn dort vom Morgen bis zum Abend Männer, die weder durch ein Geschäft noch durch einen Verkauf davon abgehalten werden, Allahs zu gedenken, das rituelle Gebet zu verrichten und die Läuterungsgabe abzuführen, Männer, die einen Tag fürchten, an dem die Herzen und die Blicke verkehrt17 werden“ (Sure 24, 36 f.). Die unerschütterliche Erkenntnis der Wahrheit der Heilszusage ist nicht nur beglückend, sie erschreckt auch. Denn mit ihr verbunden ist die Einsicht, daß der allsorgende Schöpfer über seine Kreatur zu Gericht sitzen wird. Er wird sie anklagen, weil sie nicht ununterbrochen ihr Leben in dem Bewußtsein geführt hat, daß sie von ihm geschaffen wird und er ihr Herr ist – weil sie sich mithin von ihm abwendet und ihre Heilsbestimmtheit vergißt, obwohl Allah ihr schon vor ihrer Erschaffung jene Bekräftigung der Geschöpflichkeit abgefordert hat, und zwar ausdrücklich mit dem warnenden Fingerzeig: „…damit ihr am Tag der Auferstehung nicht etwa sagt: ‚Wir ahnten nichts davon!‘“ (Sure 7, 172).18 Überbietung der Pflichtriten Die Gottesfreunde durchschauen dies alles. Sie halten peinlich genau die rituellen Gebete ein, mit denen sie viele Male die abrahamische Hinwendung zu ihrem Herrn wiederholen und sich ins Bewußtsein rufen – Allah ist ihr Schöpfer, dem sie Dank schulden; sie bringen die Läuterungsgabe auf, mit der sie die vielen Versuche sühnen, sich über das Maß des von Allah festgesetzten Lebensunterhalts hinaus Güter anzueignen – Versuche, die sie unternahmen, weil sie noch nicht wußten, daß https://doi.org/10.1515/9783110789119-005

3 Leben in der Heilsgewißheit

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niemand als der Herr seine Kreatur ernährt; sie halten die Fasten ein; sie pilgern nach Mekka.Vor allem aber gedenken sie Allahs ohne Unterlaß, um sich schließlich, da ihnen zur Gewißheit wurde, daß alles von ihm ausgeht, ganz seinem Bestimmen einzufügen. Sie haben erkannt, daß der strenge Vollzug der Pflichtriten den Muslim immer wieder aus der Hingabe an das Geschaffene löst und seinen Sinn auf den Schöpfer richtet. Sie empfinden jedoch, daß diese kurzen Augenblicke der Hingewandtheit zum Schöpfer nicht genügen. Auch jene langen Zeitabschnitte, in denen sich der gewöhnliche Muslim den Geschäften der Welt zuwendet, um den ihm von Allah bestimmten Lebensunterhalt zu erwerben, wollen die Gottesfreunde in unmittelbarer Nähe des Einen verbringen, mit ihrem Sinnen und Trachten ganz ihm hingegeben. Sie wollen sich mit dem Diesseits nicht so weit einlassen, daß die Sorge um Speise und Kleidung ihren unverwandt auf Allah gerichteten Blick abirren läßt. Kein eigenes Wollen, kein eigenes Wünschen soll sich mehr regen! Nichts, das dem Diesseits, dem Geschaffenen zugehört, soll für sie noch von Bedeutung sein! Das Ich möge verlöschen! So sind die Gottesfreunde. Die Erfüllung des göttlichen Gesetzes wird bei ihnen durch das ständige Gedenken überboten. „Verrichte das rituelle Gebet, denn es verbietet, was abscheulich und verwerflich ist!“ mahnt Allah laut Mohammeds Verkündigung in Sure 29, Vers 45; während des Vollzugs der Riten kann sich der Muslim nicht in den Fallstricken des Diesseits verfangen. Doch dann heißt es weiter: „Aber Allahs zu gedenken, hat noch mehr Gewicht!“ Nicht ausdrücklich wird im Koran gesagt, daß die Gottesfreunde durch solches Überbieten etwas Entscheidendes für die Gemeinschaft der Muslime vollbringen: Sie sind davon überzeugt, ihren notgedrungen mit dem Diesseits befaßten Glaubensbrüdern die Geschöpflichkeit, den „Islam“ im eigentlichen Sinne, vorzuleben; dadurch bewirken sie, daß das Wissen, das Abraham im Augenblick des Erkennens zuteil wurde und das Mohammed in der Form des Gotteswortes, des Korans, empfing, erhalten bleibt und wie zu Lebzeiten der Propheten das Dasein der Gläubigen bestimmt – wie zu Lebzeiten des Propheten, als es noch nicht zum Gegenstand einer schulmäßigen Textauslegung geworden war. Nach einem weit verbreiteten sogenannten „heiligen Ḥadīṯ“ versichert Allah den Muslimen: „Wer einem meiner Freunde mit Feindschaft begegnet, dem erkläre ich den Krieg. Mit nichts, das mir lieber wäre, nähert sich mir mein Knecht, als mit dem Vollzug dessen, was ich ihm auferlegte. Und er nähert sich mir noch weiter mit den freiwilligen Taten (der Gottesverehrung), bis ich ihn liebgewonnen habe. Und wenn ich ihn liebe, dann bin ich sein Gehör, mit dem er hört, sein Gesichtssinn, mit dem er sieht, seine Hand, mit der er zupackt, sein Fuß, mit dem er läuft. Und wenn er mich bittet, dann werde ich ihm gewiß geben; und wenn er mich um Zuflucht angeht, werde ich sie ihm gewähren. Und mit nichts, das ich zu tun im Begriff bin, zögere ich länger, als mit dem Herbeiholen der Seele eines

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Gläubigen, der den Tod verabscheut, wo ich doch verabscheue, diesem Gläubigen ein Leid zuzufügen.“19 Das von Allah stammende Wissen In wenigen Worten deutet dieses Ḥadīṯ an, daß dem Gottesfreund, der sich in dem Einen aufgegeben hat, die Möglichkeit eröffnet wird, im Namen dieses Einen zu wirken, ja für Augenblicke an dessen Stelle zu treten. Wenn er Allah bittet, dann wird ihm gegeben. So erfüllt sich im Gottesfreund die Berufung, die der Schöpfer dem Menschen zudachte: „Einst sprach dein Herr zu den Engeln: ‚Ich bin dabei, auf der Erde einen Stellvertreter einzusetzen.‘ Sie fragten: ‚Willst du dort jemanden einsetzen, der Unheil anrichtet und Blut vergießt, während wir dich unentwegt loben und als heilig rühmen?‘ ‚Ihr wißt nicht, was ich weiß!‘ Und er lehrte Adam alle Namen. Danach führte er den Engeln alle (Geschöpfe) vor und befahl: ‚Teilt mir die Namen von diesen allen mit, wenn ihr wirklich aufrichtig seid!‘ Sie versetzten: ‚Gepriesen seiest du! Wir haben doch kein Wissen außer dem, das du uns lehrst!‘… Dann sprach Allah: ‚Adam, teile du ihnen die Namen von all diesen mit!‘“ (Sure 2, 30 – 33).20 Die Menschen sind es, nicht die Engel, die Allah mit den Namen aller Geschöpfe vertraut macht, sie ihnen damit, wie im Koran vielfach dargelegt wird, zum Nießbrauch anheimgibt; die Menschen sind dank dem Wissen, das sie von Allah erhalten haben, zu seinen Vertretern bestellt. Alles Wissen, das der Mensch erringen kann, hat bereits Adam empfangen. Aus eigener Kraft kann der Mensch dieses Wissen nicht mehren; er kann sich nur abmühen, es möglichst vollständig zu bewahren, und dies geschieht gerade nicht, indem er sich auf eigene Spekulationen einläßt, die in die Irre führen werden; denn ein Wissen jenseits desjenigen, das Adam empfing und die Propheten nach ihm aufs neue erhielten, gibt es nicht. Bewahrer des Wissens Die Gottesfreunde, die sich dem Bewahren dieses Wissens verschrieben haben, sind die wenigen Menschen, die, indem sie sich dieser Aufgabe widmen, verhindern, daß die Gemeinschaft der Muslime zurückfällt in einen Zustand der Verwirrung, wie er um sich griffe, wenn die Lust am Spekulieren überhand nähme. Sie ist die schädliche Seite des Verstandes, durch den Allah die Menschen auszeichnete; die nützliche liegt darin, daß er, richtig verwendet, den Menschen die Einsicht in die Notwendigkeit des Gehorsams gegen Allah eröffnet. Diese nützliche Seite zur Geltung zu bringen, das eben ist den Gottesfreunden aufgetragen, und ihre Aufgabe ist höchst verantwortungsvoll; denn auch in den Glaubensgemeinschaften, die von Mohammeds Vorläufern gestiftet worden waren, hatte es Gottesfreunde gegeben, laut Sure 56, Vers 13 f. sogar mehr als unter den Muslimen. Damals hatte man gewußt, daß die Heilsgeschichte noch nicht an ihrem Ende war; es würde noch der

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letzte, der größte aller Propheten kommen. Mit Mohammed ist dieser letzte aller Propheten aufgetreten. Was soll nach seinem Tod aus einer Menschheit werden, die den schädlichen Auswirkungen des Verstandes ausgesetzt ist, nun aber ohne jede Aussicht auf einen weiteren korrigierenden Eingriff durch einen künftigen Gottesgesandten? Die Bürde, die die muslimischen Gottesfreunde tragen, ist ungleich schwerer als die ihrer Vorgänger! Welche bösen Folgen der Gebrauch des Verstandes haben kann, wird den Muslimen wenige Verse nach dem Bericht über die Einsetzung Adams zum Stellvertreter Allahs ins Gedächtnis gerufen: „Wir befahlen den Engeln: ‚Werft euch vor Adam nieder!‘ Da warfen sie sich nieder bis auf Iblīs, der sich hochmütig weigerte. Er war ein Ungläubiger“ (Sure 2, 34). Iblīs, der Satan, nämlich war aus Feuer geschaffen, und er hielt sich darum für edler als Adam, den Allah aus feuchtem Ton gebildet hatte (Sure 15, 26 – 33). Der Satan rechtfertigte seinen Ungehorsam, indem er mit seinem Verstand Gegebenheiten der geschaffenen Welt gegeneinander abwog und dann seinen Schluß zog, der den Absichten Allahs zuwiderlief. Er versündigte sich, wie es in Sure 18, Vers 50 heißt, indem er dem Befehl nicht nachkam. Und diesen Iblīs und seine Nachfahren „wollt ihr euch an meiner Stelle zu Vertrauten wählen?“ fragt Allah die Menschen empört, „wo sie doch eure Feinde sind? Ein schlechter Tausch für die Frevler! Ich hatte sie weder, als ich die Himmel und die Erde, noch als ich sie selber schuf, zu Augenzeugen bestellt. Ich werde mir doch nicht die Verführer (der Menschen) zu Helfern nehmen!“ (Sure 18, 50 f.). Auch der Satan und seine Brut kennen nur das, was Allah den Geschöpfen mitteilt; die tiefsten Geheimnisse seines Handelns sind ihnen wie aller übrigen Kreatur verborgen. Es bleibt den Menschen keine andere Wahl: Wenn sie das Leben meistern wollen, müssen sie den Gesetzen Allahs, dem einzigen zuverlässigen Wissen, folgen – nur dann werden sie der Hölle entrinnen. Und wenn sie mehr als das erreichen wollen, müssen sie sich durch unentwegtes Gottesgedenken dem Einen Wahren nähern; sie müssen alles klügelnde Erforschen der Welt und alles schlaue Auslegen der auf diese Weise gewonnenen Kenntnisse, die ja kein wahres Wissen sind, hintanstellen. Dann mag es ihnen gelingen, zur Schar jener aufzuschließen, die einen bevorzugten Rang bei Allah einnehmen, wie dies in der 56. Sure verheißen ist: Was wird am Tag der Katastrophe, beim Ende des Diesseits, aus denen zur Linken, was aus denen zur Rechten, und wie verhält es sich mit jenen, die allen übrigen in der Frömmigkeit zuvorgekommen sind? Die zur Linken, die werden sich in der Hölle wiederfinden, in sengender Glut – sie führten im Diesseits ein gottvergessenes Leben in Schwelgerei und kümmerten sich keinen Deut um die Botschaft, die ihnen sagte, daß sie alles dem Einen verdanken, der sie vor dem Gericht vom Tode auferwecken und dann zur Rechenschaft ziehen wird. Die zur Rechten, sie genießen im kühlenden Schatten dichter Bäume köstliche Früchte und die Zuneigung wohlgestalteter, heiß liebender Jungfrauen. „Eine ganze Schar (von denen

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zur Rechten) gehört den früheren Geschlechtern an, eine ganze auch den späteren“ (Vers 39 f.). Doch diejenigen, die die zur Rechten noch im Glaubenseifer übertroffen haben, sie sind es, die in die Nähe Allahs gebracht werden; „sie weilen in den Gärten der Wonne. Eine ganze Schar von ihnen gehört den früheren Geschlechtern an, nur wenige den späteren.“ Jene Wenigen aber, über die der Gottesfreund in der eingangs nacherzählten Episode den Asketen ins Bild setzte, „ruhen auf golddurchwirkten Betten einander gegenüber. Ewig junge Knaben machen bei ihnen die Runde, mit Humpen und Kannen und mit einem Becher reinen Quellwassers. (Sie genießen Wein) der weder Kopfweh noch Trunkenheit verursacht. (Und die Knaben bedienen sie) mit Früchten, aus denen sie wählen, mit Fleisch von Vögeln, wonach immer ihnen der Sinn steht. Und großäugige Paradiesjungfrauen sind da, wohlverwahrten Perlen gleich. Alles zum Lohn für das, was sie taten. Und kein Geschwätz, keine sündhaften Worte dringen an ihr Ohr, nur der Friedensgruß!“ (Sure 56, 13 – 26). Alles, was nicht auf Allah hinweist, ist aus ihrer Gegenwart auf immer verbannt. Was sie in der unmittelbaren Nähe des Schöpfers noch vor Augen haben, das ist das Verzeichnis mit den Werken der Frommen ihresgleichen; dieses Verzeichnis „bezeugen dort die, die in (Gottes) Nähe gebracht werden; die Frommen sind in der Wonne, liegen auf Ruhebetten und blicken“ (Sure 83, 21– 23) – auf die Tafel der göttlichen Bestimmung.

4 Das Heil im Diesseits Der „Pfad der Leute“ – Ein Lebenslauf

Der „Pfad der Leute“ Unüberschaubar groß ist das islamische Schrifttum zur Gottesfreundschaft, desgleichen zu ihren theologischen und metaphysischen Implikationen. Die Gottesfreundschaft ist aber nicht nur ein höchst faszinierendes, in sich stimmiges Gedankengebäude, sondern wird von ihren Adepten vor allem als die durch Allah geforderte Verwirklichung der islamischen Heilsbotschaft im diesseitigen Dasein begriffen. Sie ist daher etwas ganz anderes als individuelle Seligkeit oder esoterische Schwärmerei. Nachdem ich Studien über das islamische Recht und über die theologische Auslegung der islamischen Heilsbotschaft veröffentlicht habe,21 ist es eine verlockende Aufgabe, gerade den lebenspraktischen Auswirkungen, die aus ihr folgen, nachzuspüren. Dabei kann es nicht darauf ankommen, einen Überblick über die Ritualpflichten des Muslims und über Formen der supererogativen Leistungen, die, wie erwähnt, die eigentliche Annäherung an Allah nach sich ziehen, zu schreiben und mit Anmerkungen zu versehen. Wir wollen vielmehr wissen, was einige Muslime dazu treibt, sich nicht mit der Erfüllung der Pflichten zufriedenzugeben, sondern den „Pfad der (erwählten) Leute“ einzuschlagen, den Weg zur Gottesfreundschaft. Wie man verfahren solle, um dieses Ziel zu erreichen und sie, einem einmal errungenen Besitz vergleichbar, zu bewahren, haben Gottesfreunde in vielen Leitfäden und Handbüchern aufgezeichnet. Unser Erkenntnisinteresse reicht jedoch über das Wie? des Pfades und die Rechtfertigung der Gottesfreunde vor sich selber hinaus. Was folgt denn, so fragen wir, aus der Gottesfreundschaft einiger weniger für das Leben der großen Masse der Muslime, und wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen der Mehrheit, die bestenfalls den Rang „derjenigen zur Rechten“ erreichen wird, und der Minderheit, die darüber hinausgelangt? Wie nehmen beide, Mehrheit wie Minderheit, den Alltag mit seinen Zwängen wahr, mit seiner unabweisbaren Forderung, eben doch nach der Maßgabe innerweltlicher Rationalität zu verfahren, um überhaupt das Dasein zu fristen? Und was dürfen beide Seiten für das Jenseits hoffen? Zuletzt aber stellt sich die Frage, wie die Sachwalter des Schariaislams mit dem Anspruch der Gottesfreunde umgehen, sich eigenständig auf dem Gebiet zu betätigen, das doch ganz und gar von den autoritativen Texten erfaßt sein soll und unabhängig von diesen nicht einmal betreten werden darf. Und umgekehrt: Wie rechtfertigten die Gottesfreunde vor jenen und vor sich selber ihre Kühnheit?

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Ein Lebenslauf Alle diese Fragen halten sich freilich im Allgemeinen, und darum kann ihre Beantwortung, so ist zu erwarten, nicht in den Bereich des individuellen Erlebens und einer unableitbaren persönlichen Erfahrung vordringen. Denn lassen sich dieses Erleben, diese Erfahrung jemals entschlüsseln oder auch nur erfassen? Können wir einen Zugang finden zu den Gefühlen und den Gedanken des Ich eines Menschen, der den Weg zur Gottesfreundschaft durchschritten, sein Ich vernichtet22 hat? Der Historiker vermag nur das zu berichten, was er den Quellen entnehmen kann. Daß er dieser Einschränkung unterliegt, unterscheidet ihn vom Romancier, der sich in eine fremde Welt, eine ferne Epoche hineinphantasieren und den in ihr handelnden Personen die aus seiner Kenntnis jener anderen Zeit abgeleiteten Beweggründe und Deutungsmuster des Handelns unterstellen mag – es bleiben stets die Unterstellungen, die er als der Herr der Schilderung für plausibel erachtet. Der Historiker muß auf ein derartiges Vorgehen verzichten; er kann und darf sich nicht die Konstruktion einer fremden Individualität anmaßen. Solange ihm keine einschlägigen Quellen zur Hand sind, bleibt ihm das fremde Individuum verschlossen. Es ist ein Glücksfall, daß sich der Kairoer Gottesfreund ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī zwischen 1552 und 1554 gedrängt fühlte, von seinem bisherigen Leben Rechenschaft abzulegen und niederzuschreiben, wie er zur Gottesfreundschaft fand und wie er, als er sie gewonnen hatte, mit ihr umging. Aš-Šaʿrānī richtet diese Bilanz selbstverständlich an den Idealen aus, denen ein Muslim, der Allah nahegekommen ist, zu genügen hat – sie bestimmen den Lebensentwurf, den er vor dem Leser ausbreitet, und nicht uns hat er dabei im Auge, sondern die Gleichgesinnten, die sich wie er auf den beschwerlichen Pfad der Annäherung an den Einen Wahren gemacht haben. Aber wenn man studiert, was aš-Šaʿrānī den Zöglingen mitzuteilen hat, dann erschließen sich allmählich die Hoffnungen, Befürchtungen und Ängste, die ihn bedrängen. Wir lernen einen Menschen kennen, dem Hochmut ebenso wenig fremd ist wie Niedergeschlagenheit, der sich seiner Erfolge freut und doch von dem beklemmenden Gefühl heimgesucht wird, daß er dem Scheitern näher ist als dem Gelingen. Auf den ersten Blick mag es scheinen, die Gottesfreundschaft könnte dem Muslim ein Gefühl unerschütterlicher Geborgenheit gewähren und ihn stark machen gegen die Anfechtungen, die eine verworrene, grausame, die Sicherheit des Daseins nicht kennende Zeit mit sich bringt. Doch ist, wie wir schließlich bemerken werden, das Empfinden der Ausgesetztheit beherrschend. Eine Angst hat ihn in der Gewalt, die ihm die Freude an allem Erreichten vergällt. Schritt für Schritt entschlüsseln wir den Lebensentwurf, den aš-Šaʿrānī für sich als verbindlich anerkennt, und bei jedem Schritt spüren wir auch die Unsicherheit, die er in sich selber zurückzudrängen und einzudämmen sucht. Das Auftrumpfen, das sich sorgsam in eine überschwengliche Dankbarkeit gegen Allah hüllt, ist die Pose des an sich selber Zweifelnden, und dies immerhin eingeräumt zu haben, ist

4 Das Heil im Diesseits

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das Verdienst aš-Šaʿrānīs, das andere seinesgleichen, die über ihre Erfahrungen schrieben, nicht für sich beanspruchen dürfen. Bei ihnen ist das Ideal, der Entwurf, zugleich auch die Wirklichkeit. Daß es sich bei aš-Šaʿrānī anders verhält und daß er dem aufmerksamen Beobachter genügend Zeichen hiervon gibt, das rechtfertigt es, ihn in den Mittelpunkt dieses Buches zu rücken. Die Gebrochenheit seiner Gestalt enthüllt sich um so eindrücklicher, je eingehender man sie vor dem Hintergrund des spätmamlukischen und des frühosmanischen Kairo betrachtet. So ist denn das Kairo jener Jahrzehnte die zweite Hauptperson dieser Lebensbilanz.

Huldreiche Gnadengeschenke Bilanz ziehen – Der Seiltänzer

Bilanz ziehen Ein Mann zieht Bilanz. Sechs Jahrzehnte seines Lebens sind verflossen, Ahnungen des herannahenden Endes stellen sich ein, immer häufiger. Er kauert sich nieder, ergreift mit der Linken ein Heft leerer Blätter, legt es sich auf den Oberschenkel, nimmt sein Schreibrohr und füllt Seite um Seite. Zahllose Stunden des Lebens hat ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī mit solcher Tätigkeit verbracht, hat Bücher kopiert, kommentiert, mit Glossen versehen; hat Bücher verfaßt, einige, die auf schroffe Ablehnung stießen, etliche, die rasche Verbreitung fanden. Jetzt aber geht es um anderes als um Gelehrsamkeit und um Ansehen und Ruhm, die sie eintragen kann. „Dies“, so beginnt er nach der Lobpreisung Allahs und des Propheten, „ist eine Aufzählung der Gnadengaben und Charaktereigenschaften, die mir der Eine Wahre schenkte, seitdem ich die Liebe zum Pfad der ‚Leute‘ – Allah habe an ihnen allen sein Wohlgefallen! – gewählt hatte. Mehreres veranlaßt mich, den Bericht über diese Gnadengeschenke den Blättern in meiner Hand anzuvertrauen. Zuerst mein Wunsch, daß mir meine Brüder darin nacheifern, sich nach diesen Charaktereigenschaften bilden und Allah dafür danken; ich war viele Jahre lang schon nach ihnen geformt, ohne daß meine Brüder dies bemerkt hätten; ich trug ihnen auf, es mir gleichzutun, aber sie hörten nicht. Eines Tages sagten mir mehrere von ihnen: ‚Was ist es mit diesen Eigenschaften, die wir nach deinem Willen annehmen sollen? Wir kennen niemanden unter den Menschen dieser Zeit, der dies getan hat, so daß wir ihm darin nacheifern könnten!‘ Da bat ich Allah um Rat und legte ihnen offen, wie ich mich nach jenen Eigenschaften gebildet hatte. So brachte ich ihren Einspruch zum Verstummen, und ich wies sie an: ‚Schaut auf die Charaktereigenschaften, die ich für euch in diesem Buch aufschreibe! In jeder, die ich, wie ihr seht, angenommen habe, folgt mir! Dann bleibt euch keine Ausflucht, sie zu verschmähen!‘ Gäbe es nicht diesen Anlaß, dann wäre es besser, jene Eigenschaften zu verbergen… So löse ich mit der Niederschrift einen Teil meiner Dankesschuld gegen Allah ein; in seiner Huld hat er mich in diesen Eigenschaften geformt, nachdem ich zuvor von ihnen entblößt gewesen war – gleich wie bei allen, die Allah vor dem Ertrinken rettet, unabweislich gilt, daß er jeden retten muß, den er untergehen sieht.“ So erläutert der Schreiber den ersten Beweggrund, der ihn vorantreibt. Aber es gibt weitere! Der Dank, den er mit diesem Buche abstattet, werde seinen Tod überdauern. Nicht nur die Brüder, alle Zeitgenossen mögen fortan wie er mit Fleiß die Scharia studieren. Jeder, der den Pfad der Leute betritt, bedarf des göttlichen https://doi.org/10.1515/9783110789119-007

Huldreiche Gnadengeschenke

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Gesetzes, das einer Waage gleicht, mit der alles Tun und Lassen genau zu prüfen ist. Es mag sein, daß einer der Brüder eines Tages den Entschluß faßt, die Ruhmestaten des Schreibers der Nachwelt zu überliefern – in diesem Buch wird er eine zuverlässige Quelle finden. Denn das Urteil Fremder mag von Voreingenommenheit und Irrtum getrübt sein. Der Richterspruch, den ein Mensch redlich und ohne Beschönigung über sich selber fällt, kommt dem unbestechlichen Urteil Allahs nahe. Nicht wenige große Männer haben daher in ihren Schriften von den Gnadengaben erzählt, die der Eine Wahre ihnen zuströmen ließ. Die Leser sollten erkennen, was Allah an diesen Männern wirkte; sie sollten die Begnadeten zum Vorbild nehmen.1 Nicht aus Leistungen, die aš-Šaʿrānī sich selber zurechnet, ergibt sich die Bilanz. Sie erscheint vielmehr wie eine lange Kette huldreicher Gnadengeschenke, die es nun aufzuzeichnen und in eine dem Verständnis des Lesers hilfreiche Ordnung zu bringen gilt. Seine vornehme Herkunft und die Erlebnisse in Kindheit und Jugend deuten auf den Rang hin, der ihm am Hofe des Einen Wahren zuteil wurde; das Wissen von Gesetzen und Vorschriften, die Allah seinen Geschöpfen übermittelt, damit diese im Diesseits bestehen und die Anwartschaft auf ein glückliches Jenseits gewinnen, wurde in aš-Šaʿrānī auf erstaunliche, beseligende Weise wirksam. So vermochte er sich willig in alles zu schicken, was der Eine Wahre bestimmte; unablässig pries aš-Šaʿrānī ihn, haderte nie mit ihm, auch nicht im schlimmsten Unheil; nie war aš-Šaʿrānī daran gelegen, sich vor anderen Menschen hervorzutun; nie begehrte er von ihnen den Lohn, der ihm rechtmäßig zugestanden hätte; nie bekrittelte er Auftreten und Taten eines Nachkommen des Propheten, ja, er begegnete auch allen anderen, vor allem den Gelehrten und den Gottesfreunden, mit tiefempfundener Ehrerbietung; stets erfüllte ihn alles mit Abneigung, was Allahs Unwillen erregt, denn immer gelang es ihm, Allah mehr zu achten und zu lieben als sich selber; den Tieren, diesen geschundenen Geschöpfen, erwies er Milde und Barmherzigkeit; unentwegt erfüllten ihn die Worte des Korans, der Rede Allahs, unermüdlich rezitierte er sie und ebenso unermüdlich lauschte er ihnen; und dennoch wich ihm nie das Bewußtsein aus der Seele, daß er geringer sei als jeder Muslim, der ihm begegnete. – Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem langen Inhaltsverzeichnis, mit dem aš-Šaʿrānī seinen Leser – den Bruder, dessen Erziehung ihm so am Herzen liegt – auf das vorbereitet, was er ihm in Hunderten von Kapiteln mitzuteilen hat, einige nur wenige Zeilen kurz, andere mit weit ausgreifenden Darlegungen; alle aber heben mit den Worten an: „Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört…“ Ein jedes Kapitel unserer Untersuchung beginnt mit einem Zitat aus diesen Gnadengeschenken. Es ist die Bilanz eines gelingenden Lebens, die aš-Šaʿrānī bis 1554 niederschreibt,2 eines Lebens, das ihm selber wie die Erfüllung aller Heilszusagen des Islams erscheint. In knappster Form faßt er es in einer Anleitung für Suchende zusammen, die „den Pfad der Leute“ beschreiten wollen: „Kurz und gut, alles, was

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die Seele des Zöglings im Diesseits begehrt, trennt ihn von Allah, dem Mächtigen, Gewaltigen. Darum ist dem Adepten aufgetragen, sich mit schmutziger, zerrissener Kleidung so lange abzufinden, bis der Schmutz des Herzens geschwunden ist. Erst dann wird ihm befohlen, saubere, weiße Gewänder zu tragen. Denn dadurch soll sein Äußeres dem Inneren angeglichen sein, freilich nur, damit es von dem Gnadengeschenk, das er empfing, künde, keineswegs aber in Erfüllung eines Wunsches des Selbst. Man weiß nun einmal, daß jeder Adept, den die Sauberkeit der Kleidung von der Läuterung des Selbst abhält, der feine Wollgewänder und anderes trägt, nie und nimmer auf dem Pfad der Leute glücklich wird, auch wenn sein Meister einer der bedeutendsten Gottesfreunde wäre!“3 Ganz glatt und lückenlos fügt sich sein Leben dem hier angedeuteten Muster ein: Aš-Šaʿrānī gewann in früher Kindheit, allein schon dank seiner Herkunft, das Wissen vom gottgefälligen Verhalten in dieser Welt; er kleidete sich in zerschlissene Lumpen, und als das Herz von allen ichsüchtigen Regungen befreit war und sich widerstandslos der göttlichen Bestimmung offenhielt, erst da, zur angemessenen Zeit, wurde ihm des Lebens Fülle beschieden, und er nahm sie an, damit er die Gnade des Einen Wahren jedermann vor Augen stelle. Mögen die Brüder dies nun erkennen und verstehen! Der Seiltänzer „Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich in schweren Zeiten unbeirrt allein auf ihn vertraute, ohne neben ihm jemanden von den Gefährten oder von denen, die mich lieben und an mich glauben, anzusprechen. Dies gehört zu den größten Gnadengeschenken, die Allah mir gewährte. Denn mein Verhältnis zu den Neidern gleicht demjenigen eines Akrobaten, der in hölzernen Schuhen, wie man sie im Bade trägt, auf hohem Seil balanciert, während sie alle und alle Feinde und Hasser in Ägypten unten stehen und warten, daß ich ausgleite, zur Erde stürze und zerschelle. Denn an keinem Tag geht die Sonne unter und auf,⁴ ohne daß mir etwas widerfährt, das andere mit Schadenfreude erfüllt, mein Auge aber mit Tränen. Bei meinen Neidern ist die Schadenfreude stets groß, aber sie zählt gering angesichts des Gnadengeschenkes… Wer einen solchen Rang erreicht hat, muß wahrlich unverwandt am Hof Allahs verweilen; und sobald er ihn verläßt, um sich nur den kleinsten Genuß, sei dieser auch statthaft, zu gönnen, setzt er sich der Gefahr aus, auf dem Seil auszugleiten… Als ich in einer Notlage zum Wesir ʿAlī Pascha auf die Festung hinaufstieg und dieser mich ehrerbietig empfing, erhoben sich die Neider von allen Seiten wider mich und verleumdeten mich mit Dingen, die mir nie unterlaufen waren. Ich verwunderte mich über diese Menschen aufs höchste, denn unter ihnen waren einige, die sich für die gelehrtesten in ganz Ägypten ausgeben, ja die Gottesfreundschaft für sich beanspruchen – wie können sie mich dann darum beneiden, daß mich ein Soldat, der zu den Sklaven des Sultans

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gehört, ehrerbietig empfängt? Nicht aber darum, daß ich am Hofe Allahs, des Erhabenen und Segensvollen, weile, (Erfüllung findend) mit den Anrufungen des Einen am Morgen und am Abend? Jedenfalls erkannte ich hieran, daß ihr Anspruch, wissend und fromm zu sein, unredlich ist… Doch schenke Allah uns Geduld mit diesen Neidern und verhelfe uns zu unerschütterlichem Vertrauen auf ihn, damit er uns vor ihrer Schadenfreude schütze! Denn selbst die Propheten flohen vor der Schadenfreude ihrer Feinde, wie dies im edlen Koran und in der edlen Überlieferung verbürgt ist. Amen! Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!“⁵ Unvermittelt spüren wir die Untiefen, die sich unter der glatten, zur Belehrung der Brüder sorgfältig von allem Störenden, Anstößigen gereinigten Oberfläche dieser Lebensbilanz verbergen. Denn die Zeit, in der aš-Šaʿrānī sein Leben bestehen mußte, war alles andere als glatt, leicht zu meistern, ohne Brüche und Heimsuchungen. Es sind die Jahrzehnte des seinem Ende entgegentaumelnden Mamlukensultanats und der Eroberung und Inbesitznahme Ägyptens durch die Osmanen, deren Statthalter, mit dem Titel Pascha ausgezeichnet, in Kairo auf der Festung residieren und mit der Aufgabe betraut sind, wenigstens so viel aus dem Land herauszupressen, daß es den Staatshaushalt des Sultans im fernen Konstantinopel nicht mit einem Debet belastet. Ist das Bild, das aš-Šaʿrānī von seinem gelingenden Leben entwirft, nur ein Bild, mit dem er sich über jene Untiefen hinweghilft – Täuschung seiner selbst und derjenigen, die er seine Brüder nennt? Oder ist es gar kein Bild, sondern die von seinem Glauben getragene Bewältigung jener Zeitläufte? Ist diese Lebensbilanz womöglich in einer für aš-Šaʿrānī unbezweifelbaren inneren Wahrheit verankert, die sich dem durch Raum und Epoche weit von ihm getrennten Beobachter erst nach beharrlichem Forschen erschließt?⁶ Auf beharrliches Fragen jedenfalls muß der ferne Beobachter sich einlassen, sofern ihm die vielfältigen Möglichkeiten des Menschen, das Leben zu führen, ein Gegenstand aufrichtiger Wißbegierde sind.

Erster Teil: Der Weg

Kapitel 1 Die Wahrnehmung der Welt 1.1 Das Dorf Und zu dem, womit Allah mich begnadete, und zwar schon bevor ich die Geschlechtsreife erreichte, gehört (die Errettung vor dem Ertrinken). Ich schwamm einmal im Nil während jener Tage, an denen der Wasserspiegel den höchsten Stand erreicht; plötzlich verließen mich die Kräfte, und ich sank auf den Grund hinab, den Tod vor Augen. Da schickte mir der erhabene Allah ein Krokodil. Es verharrte regungslos unter mir…, so daß ich es für einen Stein hielt, ehe ich bemerkte, was es war. Dann schwamm es neben mir, indem es mich stützte, bis ich das andere Ufer des Flusses erreichte, dann tauchte es weg. Dies gehört zu den Gnadengaben Allahs; denn ich war damals noch zu jung, um zu wissen, wie man mit einem Krokodil umgeht. Doch schützte mich Allah in seiner Huld durch das Vernichtende vor der Vernichtung und unterwarf mir die Bestie, so daß meine Füße auf ihr Halt fanden und ich Kraft schöpfen konnte.

*** Das einfache Volk und die muslimische Frömmigkeit – Die Fellachen – Die Dienstlehen – Mangel an Arbeitskräften – Der Boden und der Nil – Aš-Šaʿrānīs Beziehung zum Leben auf dem Land – Materielle und spirituelle Not

Das einfache Volk und die muslimische Frömmigkeit Dies ist eines der wenigen Erlebnisse, die aš-Šaʿrānī aus seiner Kindheit erzählt – wenn es sich denn um ein Erlebnis handelt und nicht bloß um die erzählte Vermittlung der Gewißheit, daß Allah jeden Ertrinkenden rettet.1 In dem Dorf Sāqijat Abū Šaʿra, das am Westufer des Nilarmes liegt, der sich bei Damiette ins Mittelmeer ergießt, wurde aš-Šaʿrānī im Jahre 899 der Hedschra (begann am 21. Oktober 1493) geboren, dort verbrachte er seine Kindheit. So wichtig nahm man die obige Episode, daß man sie in seine mit hagiographischen Zügen ausgestattete Vita einfügte, die 1698 auf Anregung des osmanischen Statthalters in Kairo, Murādī Ḥusain Paschas, verfaßt wurde.2 In der Lebensbilanz finden sich ansonsten kaum Hinweise auf die ersten Jahre. Und doch sind deren Spuren überall greifbar. Sie bekunden sich allein schon in aš-Šaʿrānīs lebhafter Aufmerksamkeit für die Mühen und Plagen, unter denen die Fellachen nicht nur für sich selber, sondern für alle Bewohner Ägyptens die Nahrung erzeugen. Er beteuert, daß er nie von den Menschen, die einem einfachen Broterwerb nachgehen müssen, gering gedacht habe. Die Mahnungen seines Meisters, des Palmblattflechters Sidi ʿAlī, seien bei ihm auf fruchtbaren Boden gefallen. Denn, so unterwies ihn Sidi ʿAlī, Allah hat auch verborgene Knechte, an dehttps://doi.org/10.1515/9783110789119-008

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Erster Teil: Der Weg

nen gerade nicht sichtbar wird, welch hohen Rang sie bei ihm einnehmen; nur wer zu ihrem Kreis Zugang findet, wird über sie etwas in Erfahrung bringen. Allah bekleidet sie in gleicher Weise wie seine erkennbaren Freunde mit den Eigenschaften der ihm Nahestehenden: mit Wissen, Macht, bezwingender Gewalt, ja er schenkt ihnen schon hier, was den Gläubigen gewöhnlich erst im Paradies zuteil wird. Schon in dieser Welt sind sie als Knechte tätig, denen gute Werke aufgetragen sind; doch geschaffen sind sie nicht für das Diesseits, sie bedürfen seiner nicht, eben weil sie bereits hier und jetzt in der Art existieren, die erst im Jenseits üblich sein wird. „Daher ist es“, faßte Sidi ʿAlī zusammen, „als ob sie gar nicht geschaffen worden, gar nicht aus der Nichtexistenz heraus in das Haus der Belastung mit der Scharia übergewechselt wären“. Zu ihnen gehören die meisten Verzückten, so fuhr er fort. Diesen allerdings entgeht, daß in der Welt, so wie sie unseren Sinnen erscheint, sich die göttliche Weisheit bekundet. Deshalb stehen die wahrhaft Wissenden, die jene Zeugniskraft der Welt schauen, im Rang über den Verzückten. Nur von Sidi ʿAlī habe er solche Worte gehört, versichert aš-Šaʿrānī, und er beschwört die Brüder seiner Gemeinschaft, sie wohl zu erwägen und die Mahnung, die in ihnen liegt, zu beherzigen: „Hütet euch, jemals einen Muslim geringzuachten!“3 Befremdlich, wenn nicht unverständlich, muten uns diese Sätze an; noch sind wir längst nicht weit genug in die Welt aš-Šaʿrānīs eingedrungen, um ihren Sinn zu erfassen. Greifen wir darum fürs erste die Mahnung auf, die aš-Šaʿrānī aus ihnen ableitet! Wie mit dem Knoblauch verhält es sich mit den einfachen Leuten: Der Geruch ist unangenehm, aber nicht ihr Wesen; tadeln darf man niemanden wegen seiner schlichten Art, sondern allenfalls für einen Verstoß gegen die Scharia. Der Schiffer und der Koch, der Mann, der aus dem Warmbad den Unrat wegräumt, jener, der den Abwasserkanal reinigt, der Schlachter, der Bäcker, der Müller, sie alle tragen die Bürde des islamischen Reiches; Kette und Einschuß ihres mühseligen Tuns erzeugen ein Gewebe vielfältigen Nutzens. Würde der Heizer nicht in aller Frühe das Feuer unter den Kesseln im Warmbad entzünden, verpaßten viele Menschen das Morgengebet. Darum schätzte Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, das einfache Volk mehr als den Derwisch, der sich einzig der Gottesverehrung hingab.4 Sidi ʿAlī wußte, wovon er sprach, denn er hatte einst seinen Lebensunterhalt damit bestritten, daß er als fliegender Händler Seife, Eselsfeigen, gepreßte Datteln und andere Waren feilbot. Danach betrieb er lange Jahre einen Laden, in dem er Speiseöl verkaufte. Schließlich verlegte er sich darauf, aus Palmblättern Körbe und Matten zu flechten.5 Doch hatte Sidi ʿAlī seine Lebenseinstellung nicht nur der eigenen Erfahrung zu danken; er war in ihr von einem anderen berühmten Gottesfreund bestärkt worden, von Ibrāhīm al-Matbūlī (gest. 1475), der sich mit dem Kochen von Kichererbsen den Unterhalt verdiente.6 Aš-Šaʿrānī trug in einem Werk die Aussprüche und die vorbildlichen Charakterzüge al-Matbūlīs zusammen, und er zitiert ihn in den Huldreichen Gnadengeschenken ab und an, so etwa mit dieser

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Bemerkung: „Ein gläubiger Mann, der ein Gewerbe treibt, ist für mich vollkommener als die Verzückten und als die Meister in ihren Klausen, denn diese nähren sich von der Ausübung ihres Glaubens und gehen keinem weltlichen Geschäft nach, das ihnen den Verzicht auf die Almosen und den Schmutz der Menschen ermöglichen könnte.“7 Noch weiter, bis in das frühe 14. Jahrhundert, müssen wir in der islamischen Geschichte Ägyptens zurückgehen, bis wir auf die Quelle solcher Hochachtung vor dem einfachen, von seiner Hände Arbeit lebenden Volk und auf eine theologische Begründung dieser Hochachtung stoßen. Das Übliche nämlich war etwas ganz anderes, wie denn aš-Šaʿrānī selber hervorhebt, er habe dergleichen nur von Sidi ʿAlī gehört. Allenthalben rühmt die islamische Literatur den Gelehrten, der sich um die Verbreitung des heilswichtigen Gesetzeswissens unermüdlich verdient macht.Wäre er nicht, dann müßten alle ungelehrten Muslime um ihr Heil, um ihr Jenseitsschicksal bangen, die Herrscher würden nicht nach den von Allah festgesetzten Vorschriften regieren, der gemeine Mann vollzöge die Pflichtriten so mangelhaft, daß Allah sie ihm nicht auf dem Jenseitskonto gutschreiben könnte.8 Der malikitische Rechtsgelehrte Ibn al-Ḥāǧǧ verfaßte auf Anraten seines Meisters, des Gottesfreundes Abū Muḥammad ʿAbdallāh b. abī Ǧamra (gest. ca. 1300),9 ein umfangreiches Werk, in dem er darlegte, wie Handwerker und Fellachen ihrer Arbeit nachgehen sollen, damit ihre Handlungen stets als die Erfüllung einer ihnen von Allah auferlegten Pflicht bewertet und als Guthaben in das Jenseitskonto eingetragen werden können.10 Ibn al-Ḥāǧǧ beendete sein Buch im Jahre 1332. Den Rechtsgelehrten erkennt man bei der Lektüre auf jeder Seite, aber er füllt seine Kategorien mit Material, das man bei seinen Fachgenossen in solcher Zusammenstellung vergeblich sucht. Fast alle Gewerbezweige, so schreibt er, muß man als Pflichten betrachten, die zwar nicht allen Muslimen, jedoch einer hinreichend großen Zahl von ihnen aufgegeben sind: Es muß die Gemeinschaft der Muslime in ihrer Gesamtheit dem Dschihad nachgehen, aber eben nicht mit allen ihren Gliedern, sondern mit so vielen, daß er nicht zum Erliegen kommt. Diesen Gedanken überträgt Ibn al-Ḥāǧǧ auf die Erwerbstätigkeit. Allerdings betrachtet er nicht alle Berufe als gleichrangig. An der Spitze stehen vielmehr jene, die unmittelbar dem Vollzug ritueller Vorschriften dienen: Jemand muß sich des Verstorbenen annehmen, den Leichnam waschen, das Grab ausheben; jemand muß die Wöchnerin versorgen.Wer solche Dienste übernimmt, der möge sich im stillen bewußt machen, daß dies in der Absicht geschieht, zum Nutzen der Glaubensbrüder einer Pflicht nachzukommen, deren Erledigung der Gemeinschaft aufgetragen ist; nie aber erwarte er einen Lohn dafür, denn der Lebensunterhalt, den Allah spendet, wird nicht durch bestimmte benennbare Leistungen erarbeitet, sondern zugeteilt, ohne daß man darauf aus sein dürfe! Bleibt der Lohn im Diesseits aus, dann möge man sich in

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ruhiger Gelassenheit daran erinnern, daß er für das Jenseits fest zugesagt ist; „der Unterhalt, den Allah gewährt, sucht dich mehr, als du ihn suchst.“11 Wenn also ein Muslim Aufgaben übernimmt, die der Glaubensgemeinschaft obliegen, dann wird ihm dies auf dem Jenseitskonto gutgeschrieben genau wie der Vollzug der rituellen Gebete, den er als eine Individualpflicht zu leisten hat. Sowohl das rituelle als auch das profane Handeln gelten unter solchen Voraussetzungen als Gottesverehrung – und welche gemeinschaftsdienliche Arbeit könnte nächst den Verrichtungen für die Verstorbenen und die Wöchnerinnen höher eingeschätzt werden als diejenige des Bauern? Sie trägt mehr Lohn ein als alle übrigen Gewerbe, die der Lebensfristung dienen; der Nutzen, den sie stiftet, kommt nicht nur den Bauern selber zugute, sondern allen Glaubensbrüdern, ja sogar dem Vieh, den Vögeln und Insekten, schreibt Ibn al-Ḥāǧǧ. Und doch dürfte man es dem Landmann kaum verdenken, wenn er seine Arbeit fahren ließe, könnte er hören, wer alles sagt: „Wir essen von dem, was er anbaut.“12 Sidi Abū Muḥammad, der Meister Ibn alḤāǧǧs, hatte in seiner magrebinischen Heimat selber Landwirtschaft betrieben. Als er nach Ägypten kam, wollte er auch dort seine Familie so durchbringen.Wie er aber das Elend der Fellachen bemerkte, verlegte er sich auf andere Arbeiten und wandte sich schließlich ganz der Gottesverehrung und der Unterweisung der Menschen im Wissen zu, und „Allah überhob ihn des Erwerbs wegen seines unerschütterlichen Gehorsams und seiner reinen Absicht“.13 – Auf die Landwirtschaft folgen alle Berufe, die dem Menschen zur Kleidung verhelfen, mit der er, wie Allah es geboten hat, die Blöße bedeckt. Die Fellachen So weit Ibn al-Ḥāǧǧ! Seine Bemerkungen lenken den Blick auf die Fellachen und ihr erbärmliches Leben. Der Erwerb, die Wahrung, die Mehrung von Eigentum, der Gewinn eines auskömmlichen Daseins, für sie lag alles dies jenseits des Vorstellbaren. Auch Gottesfreunden wie aš-Šaʿrānī und Ibn al-Ḥāǧǧ waren solche Ideen fremd. Nach ihrer Überzeugung wohnt der Tätigkeit des Fellachen zwar eine Würde inne, ist er doch das Werkzeug, mit dessen Hilfe Allah den vorherbestimmten Lebensunterhalt hervorbringt. Dieser Gedankengang führt aber nirgends zu einem Anreiz, nach den Ursachen und Gründen des Elends zu forschen; eher rechtfertigt er es und trägt dadurch zur Festigung der Verhältnisse bei, die nun zu skizzieren sind. Unsere wichtigste Quelle ist hierfür der Kairoer Gelehrte al-Maqrīzī (gest. 1442), ein Mann von beeindruckendem Scharfsinn und mit ungewöhnlichem Interesse für Wirtschaft, Handel und Finanzen. Die Nachrichten, die er über die Geschichte der ägyptischen Landwirtschaft zusammengetragen hat, belegen den tiefgreifenden Bruch, der mit dem Ende des fatimidischen Kalifats im Jahre 1171 eintrat und dessen Auswirkungen bis weit über das 16. Jahrhundert hinaus spürbar

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blieben. Noch unter den Fatimiden sei das bebaute Land auf dem Wege der Verpachtung fiskalisch genutzt worden. Alle Ländereien seien in Registern erfaßt und je nach den durchschnittlichen Erträgen, die auf ihnen erzielt werden konnten, mit einer bestimmten Abgabe je Jahr belegt gewesen. Gegen Vorauszahlung eines Drittels dieses Betrages wurden die Ländereien an Pächter in öffentlichen Sitzungen vergeben, die in der ʿAmr-Moschee in Fustat stattfanden; die Pächter kamen aus den Städten und Dörfern Ägyptens. Um das Risiko abzufangen, das ein zu geringes Ansteigen des Nils oder eine zu lange Überschwemmung mit sich brachten, wurden die Verträge auf vier Jahre geschlossen. Investitionen in Dämme und Kanäle wurden angerechnet, so daß der Pächter, ob er nun selber auf dem Land arbeitete oder es durch Knechte bebauen ließ, darauf achtete, daß alle Anlagen in Ordnung blieben, damit sein Gewinn nicht geschmälert wurde. Da das Mondjahr des islamischen Kalenders elf Tage weniger zählt als das Sonnenjahr, mußte der Fiskus etwa alle dreißig Jahre ein Mondjahr überspringen, und bei dieser Gelegenheit, so versichert al-Maqrīzī, sei das Grundbuch stets erneuert worden. Allerdings beschreibt alMaqrīzī den Idealfall. Die finanzstarken Pächter, die erhebliche Investitionen aufbringen konnten, waren im Vorteil, denn sie steigerten den Ertrag weit über den veranlagten Wert und setzten alles daran, die Pachtfrist zu verlängern. Die Einnahmen der weniger bemittelten Pächter gingen dagegen wegen mangelhafter oder ausbleibender Investitionen zurück. In der späten Fatimidenzeit spielten die staatlichen Behörden mit dem Gedanken, alle Verträge für nichtig zu erklären und eine neue Veranlagung durchzuführen, um dem Fiskus einen Teil der Einkünfte zu sichern, die die vermögenden Konzessionäre dank der Verbesserung der Produktionsbedingungen ihrer Ländereien erzielten.14 Die Dienstlehen „Wisse, daß es in Ägypten weder unter den Fatimiden noch unter den Statthaltern der Abbasiden… Dienstlehen für das Heer in der Form gegeben hat, wie sie heute die Soldaten der ‚türkischen‘ Dynastie innehaben. Früher wurde das Land gegen festgelegte Beträge Heerführern, Offizieren, bedeutenden Staatsdienern, in den Gegenden Ägyptens beheimateten Beduinen und Kopten und anderen Personen in Pacht gegeben. Das furchtbare Unglück, das man heute Fellachentum nennt, kannte man damals nicht. Heute heißt der Bauer, der in seiner Ortschaft bleibt, ans Land gebundener Fellache. Für den, der ein Dienstlehen empfängt, ist der Fellache einem Sklaven gleich, nur daß dieser nie darauf hoffen darf, einmal verkauft oder gar freigelassen zu werden. Zeit seines Lebens bleibt er ein Sklave, und seine Kinder ebenso.“15 Früher waren die Einkünfte aus der Grundsteuer durch die Staatsverwaltung eingezogen worden; aus diesen Mitteln war neben anderem der Sold für das Militär aufgebracht worden. Unter Saladin wurden die Verhältnisse von Grund

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auf verändert, ohne daß man damals die Folgen hätte absehen können. Saladin brauchte Geld, um den Kampf der in Syrien herrschenden Zengiden gegen die Kreuzfahrer zu unterstützen. Diese hatten 1153 Askalon eingenommen; Nūr ad-Dīn (reg. 1146 – 1174), der Machthaber von Damaskus, griff in die Angelegenheiten des in Verfall geratenen fatimidischen Kalifats ein und entsandte einen Gefolgsmann, den Kurden Šīrkūh, und bald darauf dessen Neffen Saladin nach Kairo, der dort von 1169 an als Wesir des schiitischen „Befehlshabers der Gläubigen“ amtierte. Seine wichtigste Aufgabe war es, das Land für den Krieg nutzbar zu machen. Dreist und ungeniert ging er ans Werk, stürzte schon 1171 den letzten Fatimiden, brachte auf anstößige Weise die Schätze der Palaststadt Kairo an sich und bedachte seine Günstlinge reichlich, war allerdings nicht in der Lage, aus dem geraubten Gut auch nur annähernd den Geldbedarf seines fernen syrischen Herrn zu befriedigen. Aus den Staatseinkünften der Fatimiden hatte Saladin 1169 Streitkräfte unterhalten können, deren Zahl sich nur auf 3500 Mann belief; bei einem Angriff der Kreuzfahrer wäre Ägypten mit ihnen kaum zu verteidigen gewesen. Bis 1171 baute er die Truppen auf 14 000 Mann aus. Für sie benötigte er einen Jahresetat von sechs Millionen Dinar,16 der aus den Pachteinkünften nicht mehr zu finanzieren war. So führte er die Dienstlehen ein, die in anderen Teilen der islamischen Welt schon lange bekannt waren. Das Steueraufkommen eines bestimmten Stückes Land wurde geschätzt; dann wurde das Land einem Offizier zugewiesen, der aus dem geschätzten Ertrag die Kosten für seinen Unterhalt und für die Leistungen, die er dem Sultan erbrachte, bestritt. Das Dienstlehen, dessen Größe sich nach dem Rang des Offiziers richtete, wurde eingezogen, sobald der Inhaber, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Dienst des Sultans schied. Später wurde es üblich, die Dienstlehen mit sogenannten Zuwendungen zu belasten, bestimmten regelmäßig abzuführenden Zahlungen, durch die der Sultan prominente Mitglieder der religiösen Gelehrtenschaft oder Einrichtungen der Gottesverehrung wie Moscheen oder Sufiklausen begünstigte. Diese Zuwendungen waren an die jeweiligen Ländereien gebunden und wurden eingehoben unabhängig vom Wechsel des Inhabers des Dienstlehens. – Allerdings hatte bei weitem nicht alles bebaubare Land den Status von Dienstlehen. Es gab daneben die Krongüter der Sultane, frei vererbbares Privateigentum, Stiftungsland und Ländereien, aus deren Ertrag bestimmte Arbeiten bezahlt wurden, die nicht dem Kriegswesen und der Staatsverwaltung zuzuordnen waren, so kultische Aufgaben wie das Rufen zum Gebet und das Rezitieren des Korans sowie Tätigkeiten, die der Gemeinschaft zunutze kamen, etwa das Bewachen der Felder und das Kontrollieren der Bewässerung.17 Die wirtschaftlich und politisch bedeutsamste Form des Landbesitzes war seit dem Sturz der Fatimiden aber das Dienstlehen, aus dem die Inhaber möglichst viel herauszuholen trachteten, ohne daß es Anreize zu langfristigen Investitionen gegeben hätte. Schon die Zerstückelung der Lehensgüter, die sich aus weit über ganz

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Ägypten verstreuten Parzellen zusammensetzen konnten, verhinderte, daß die Inhaber eine enge Beziehung zu den Ländereien entwickelten, die ihnen ja nur zum vorübergehenden Nießbrauch überlassen waren. Feldzüge und die ständigen Machtkämpfe in der Hauptstadt ließen wenig Aufmerksamkeit für diejenigen übrig, die irgendwo in der Provinz die Mittel für den Lebensunterhalt erwirtschafteten – wie auch, mußte der Lehensträger doch ständig darauf gefaßt sein, diese Mittel zu verlieren, etwa wenn ein neuer Sultan an die Regierung kam und möglichst viel Land an Militärführer vergeben wollte, die seine Kreaturen waren. Um die Macht der großen Emire zu beschneiden, versuchten die Sultane, die Zahl der Kleinlehen der freien Reitersoldaten zu erhöhen.18 Diese hatten nicht selten ihr Landgut dem „Schutz“ eines der großen Lehensträger unterstellen müssen, was natürlich einen Teil der ohnehin bescheidenen Einkünfte kostete und die Mächtigen noch mächtiger werden ließ. Sultan, Emire, kleine Reitersoldaten rangen fortan mit wechselnden Fronten in einem ruinösen Verteilungskampf gegeneinander. Mangel an Arbeitskräften Wen wird es verwundern, daß das Leben der Fellachen immer härter wurde, weil die Militärführer und ihr Anhang mehr und mehr aus ihnen herauszuquetschen suchten? Das „türkische“ Sultanat, das in der Mitte des 13. Jahrhunderts das Regiment der Nachfolger Saladins ablöste, rekrutierte seine Streitkräfte ohnehin nicht in Ägypten, sondern warb Mamluken, Militärsklaven, an, die vorwiegend aus der Goldenen Horde, später aus den Gebieten nördlich des Kaukasus eingeführt wurden. Sie erhielten eine Ausbildung in der Kriegstechnik und absolvierten eine Laufbahn, die sie in die höchsten Offiziersränge und bis zum Sultanat führen konnte. Den Einheimischen war dies alles verschlossen, und eine ebenso fremde, unverständliche Welt blieb den Mamluken diejenige der Fellachen. Deren Last vergrößerte sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, seit dem Wüten der Pest, weiter und weiter. Denn woher sollten nun die Menschen kommen, die die auf den Ländereien lastenden Abgaben erarbeiten mußten? Al-Maqrīzī bemüht sich im Kapitel über die Landwirtschaft um eine Gesamtschau der Entwicklung seit der Eroberung Ägyptens durch die Muslime. Damals, in der Mitte des 7. Jahrhunderts, habe sich das Steueraufkommen auf zwanzig Millionen Dinar belaufen. Al-Qāḍī al-Fāḍil, ein enger Mitarbeiter Saladins, berichte in seinem Tagebuch, das ganze Land von Alexandrien im Norden bis hinab nach ʿAiḏāb, der kleinen Hafenstadt am Roten Meer, in der die Karawanenstraße nach Oberägypten ihren Anfang nimmt, sei im Jahr 585 der Hedschra (begann am 19. Februar 1189) auf 4 653 029 Dinar veranlagt worden; unter den Fatimiden seien im Jahre 540 der Hedschra (begann am 24. Juni 1145) aber nur Steuern im Wert von 1 200 000 Dinar in die Staatskasse geflossen, kurz danach noch weniger.19 Saladin hatte das Steueraufkommen demnach fast auf das Vierfache

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emporgedrückt! Die Dienstlehen boten den Vorteil, daß die Inhaber aus schierem Eigennutz keinerlei Unterschleif dulden würden. Die rücksichtslose Beitreibung der Abgaben bis zur vorgesehenen Höhe – und nicht selten darüber hinaus, denn wer hätte den Lehensträger ernsthaft daran hindern können, seinen Fellachen noch mehr abzuzwingen? – mußte sich freilich, wie al-Maqrīzī erkannte, verhängnisvoll auswirken. Unerläßliche Investitionen zur Erhaltung der Substanz wurden nur noch in ungenügendem Maß getätigt oder unterblieben ganz. Die Landwirtschaft der Dienstlehen verzehrte demnach allmählich ihre eigenen Grundlagen. Der nach der Pest eintretende Mangel an Arbeitskräften verschärfte den Widerspruch zwischen den in der Steuerschätzung festgelegten Anrechten der Inhaber der Dienstlehen einerseits und der Ertragsstärke ihrer Ländereien andererseits. Al-Maqrīzī macht folgende Rechnung auf: Die Fläche Ägyptens belaufe sich auf 280 000 000 Feddan, von denen 24 000 000 landwirtschaftlich genutzt werden könnten; damit auf diesem Boden eine Ernte erzielt werde, die der Steuerveranlagung entspreche, benötige man 480 000 Fellachen, die sich das ganze Jahr um die Felder kümmerten; diese Zahl an Arbeitern sei zu veranschlagen, um binnen sechzig Tagen alles bebaubare Land zu pflügen. – Ein Feddan entspricht ungefähr 4200 Quadratmetern; setzt man diesen Wert in al-Maqrīzīs Rechnung ein, ergibt sich, daß ein Fellache mit seinem einfachen Gerät jeden Tag ungefähr 3500 Quadratmeter umzubrechen hat. – Die Zahl von 480 000 Fellachen wurde in der Zeit al-Maqrīzīs jedoch bei weitem nicht mehr erreicht; in Oberägypten, dem Land von Gize an südwärts, seien ganze 70 000 tätig, in Unterägypten sogar nur 50 000, schätzte er.20 Daß bis zum frühen 16. Jahrhundert eine Wende zum Besseren eingetreten sein könnte, dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Die Zwangsmaßnahmen, mit denen vor allem der Sultan Qaitbai (reg. 1468 – 1496) den Zusammenbruch des mamlukischen Staates verhindern wollte und dabei doch nur alles verschlimmerte, erlebte al-Maqrīzī nicht mehr. Der Boden und der Nil Bei der Veranlagung der Ländereien unterschied man mehrere Abstufungen der Güte des Bodens. Die oberste Klasse gliederte sich in fünf Kategorien, die je nach der Fruchtfolge definiert waren. Die erste, al-bāq genannt, bezeichnet Äcker, die im Vorjahr Luzerne oder Gurken getragen haben; sie sind nun für den Anbau von Weizen geeignet. Auf dem zweiten Rang folgt Land, das ein Jahr brach lag, auch nicht bewässert wurde; es ist ausgeruht, und jegliche Frucht gedeiht. Al-barājib heißt die dritte Kategorie; es handelt sich um Felder, auf denen zuvor Weizen oder Gerste wuchs; der Boden ist durch das Getreide ausgelaugt, man sollte ihn mit Luzerne, Ackerbohnen oder Gurken bestellen, denn dadurch erholt er sich, so daß er im nächsten Jahr die Beschaffenheit des bāq-Bodens erreicht. Felder, auf denen im Vorjahr Flachs geerntet wurde – diese taugen allerdings nicht für den Anbau von

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Weizen – und Böden, die überflutet, aber nicht genutzt worden sind, gehören ebenfalls zur ersten Klasse. – Der Sinn der vierjährigen Pachtzeit, die unter den Fatimiden galt und die, wenn möglich, noch verlängert wurde, leuchtet nunmehr ein, desgleichen, wie verhängnisvoll sich die Dienstlehen auswirken mußten, die ohne Rücksicht auf die natürlichen Gegebenheiten und die lange bewährten Erfahrungen Jahr für Jahr aus einem bestimmten Stück Land ein gleich hohes Einkommen ziehen sollten. – Zu minderen Güteklassen gehörte Boden, der stark verunkrautet war, etwa mit Halfagras, das nach dem Pflügen aufs neue emporschoß und mit den Kulturpflanzen vermischt stand; desgleichen Boden, der ganz von Wildpflanzen bedeckt war und als Weideland genutzt werden mußte; schließlich Grundstücke, die von der Nilüberflutung nicht erreicht wurden oder solche, von denen das Wasser nach der Überschwemmung nicht ablief. Zuletzt nennt al-Maqrīzī stark salzhaltige Böden; Getreide kann man auf ihnen nicht anbauen, wohl aber Spargel, Auberginen und Zuckerrohr.21 Um uns eine Vorstellung von der Arbeit der Fellachen und von den Schwierigkeiten zu bilden, die bei einer Steuerveranlagung zu meistern waren, müssen wir bedenken, daß der Rhythmus der Landwirtschaft von den Jahreszeiten, in mindestens ebenso starkem Maße aber vom Nil bestimmt wurde. Trat die Überflutung in der richtigen Höhe und zur richtigen Zeit ein, dann konnten auf ein und demselben Feld mehrere Ernten erzielt werden. Freilich ging es nicht an, daß man den Boden dem Wasser anheimgab und wartete, bis er wieder trockenfiel. Ein Netz von Dämmen, Kanälen und Schleusen überzog das Ackerland seit vorgeschichtlicher Zeit; je nach den Bedürfnissen der Kulturpflanzen versuchte man, Zeitpunkt und Dauer der Bewässerung zu regulieren. Die zu diesem Zweck errichteten Bauwerke unterstanden teils dem Sultan, teils den Städten und Dörfern. Al-Maqrīzī kommt in seiner Beschreibung Ägyptens an einer Stelle darauf zurück, daß unter den Fatimiden die Pächter die Verantwortung für die Instandhaltung der Anlagen trugen und alle Aufwendungen von der Steuerschuld bzw. Pacht abziehen konnten. Danach aber seien die sultanischen Wasserbauten von überregionaler Bedeutung, die die Fluten so lange wie notwendig auf dem Land stauen sollten, durch Beamte verwaltet worden. Schließlich hätten die großen Emire diese Aufgabe an sich gerissen. Unter an-Nāṣir Faraǧ (reg. 1399 – 1412) habe man dem Land erhebliche Summen abgepreßt, um Dämme und Schleusen zu erneuern, die Gelder seien aber veruntreut worden; man habe endlich die notwendigen Arbeiten in Frondiensten ausführen lassen, was weiterem Verfall Vorschub geleistet habe. Die Wasserbauten von lokaler Bedeutung mußten von den Fellachen und den Lehensträgern gewartet werden. Wenn mitten im Jahr ein Dienstlehen den Besitzer wechselte, waren die Kosten für etwaige in dem betreffenden Rechnungsjahr schon getätigte Arbeiten dem ehemaligen Inhaber zu erstatten.

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Wie sehr der ohnehin sehr arbeitsaufwendige Anbau vieler Feldfrüchte vom gut gepflegten Bewässerungssystem abhing, zeigt uns al-Maqrīzīs Beschreibung der Kultur des Zuckerrohrs. Am besten gedieh es auf Böden erster Güte, die reichlich überflutet wurden. Sorgfältig mußte, bevor man die Stecklinge in die Erde brachte, das Land vom Unkraut gesäubert und tiefgründig gelockert werden. Einmal in der Woche hatte man danach das Feld zu bewässern. Der Boden mußte gehackt, emporwucherndes Unkraut regelmäßig gejätet werden, damit die Schößlinge sich gut entwickeln konnten. Nach al-Maqrīzī muß ein Zuckerrohrfeld achtundzwanzigmal mit Hilfe des Schöpfrades bewässert werden. Während der Nilflut kann der Damm, der es umgibt, geöffnet werden, bis das Wasser eine Spanne hoch den Boden bedeckt. So hoch darf es aber nur zwei bis drei Stunden stehen; danach muß es abfließen können. Nach der ersten Ernte brennt man das Rohr bis auf die Wurzeln nieder, hackt, jätet und bewässert wieder und erzielt die zweite Ernte, die von weit besserer Qualität als die erste ist.22 Bis ins 14. Jahrhundert war der ägyptische Zucker ein begehrter Ausfuhrartikel gewesen; danach aber entwikkelte man auf Zypern und Sizilien ergiebigere Methoden des Anbaus und der Eindickung des Saftes. Nicht erst Sultan Qaitbais verhängnisvolles Staatsmonopol, dem zahlreiche bis dahin noch tätige private Siedereien zum Opfer fielen,23 sondern die viel früher einsetzende Vernachlässigung der ländlichen Infrastruktur und der von al-Maqrīzī beklagte Mangel an Menschen führten zum unaufhaltsamen Niedergang der ägyptischen Zuckererzeugung. Aš-Šaʿrānīs Beziehung zum Leben auf dem Land Die Härte des Lebens, das ein Fellache führen mußte, war aš-Šaʿrānī vertraut. Sein Vater erwarb den Unterhalt der Familie in Sāqijat Abū Šaʿra, wo er Ackerbau trieb.24 Ob das Land, das er bestellte, zu einem Dienstlehen gehörte, läßt sich nicht ermitteln; es ist eher unwahrscheinlich. Es könnte sich um Stiftungsland gehandelt haben, das im Prinzip dem Zugriff der Obrigkeit entzogen war und dessen Erträge nach Abzug der Arbeits- und Verwaltungskosten dem durch den Stifter festgelegten Zweck zugeführt wurden. Jedenfalls war aš-Šaʿrānī selber nie gezwungen, sich mit Landarbeit durchzubringen. In seiner Lebensbilanz dankt er Allah dafür, daß er es ihm leicht gemacht habe, sich und seiner Familie die Nahrung zu verschaffen, die ihm gemäß ewigem Ratschluß zugeteilt worden sei; er habe Land gepachtet und von Lohnarbeitern bestellen lassen. Der Zwang, sich das tägliche Brot zu verdienen, hindere die Menschen, sich ganz der Gottesverehrung hinzugeben. Gleichwohl, mahnt aš-Šaʿrānī, müsse man, sobald man den „Pfad der Leute“ betrete, weiter seinem Beruf nachgehen, allerdings darauf verzichten, die Mitmenschen zu übervorteilen. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, habe nur dann das Aufgeben des Gewerbes

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gestattet, wenn es jemandem gar nicht gelingen wollte, es mit dem unablässigen Gedenken Allahs zu vereinbaren.25 Gleichviel ob aš-Šaʿrānī fremdes oder ihm selber zugewiesenes Stiftungsland verwaltete, stets habe er solche Äcker als das Gut von Waisenkindern betrachtet, das ihm zu treuen Händen übergeben worden sei, versichert er. Überstieg der Ertrag den veranlagten Wert, dann habe er den Überschuß zwischen sich und der Stiftung geteilt, bisweilen sogar auf alle Mehreinnahmen verzichtet. Der Verwalter hüte sich davor, den Fellachen mehr abzuverlangen, als der Stiftung gebührt, mahnt aš-Šaʿrānī, und er hüte sich, die Elenden zu schinden, nur weil er sich vor dem Inhaber fürchtet, der vielleicht im fernen Kairo wohnt! Nur allzu oft geschehe dergleichen, doch ihm sei es dank der Gunst Allahs möglich gewesen, alle Machenschaften zu unterlassen. Wenn aš-Šaʿrānī sich an seine Kindheit erinnert, dann ist er sich sicher, daß das Verhältnis zwischen den Fellachen und den Stiftungsinhabern seither immer schlechter geworden ist. Damals, so schreibt er, war es üblich, daß die Inhaber den Fellachen, die sich mit Gastgeschenken bei ihnen einstellten, ein reiches Mahl bereiten ließen und sie mit wertvollen Gegengeschenken auf die Heimreise schickten. Heute haben die Fellachen nichts als grobe Schimpfworte zu gewärtigen; bestenfalls setzt man ihnen abgestandene Speisen vor, und wehe, wenn einmal ein Fellache auf dem Weg in die Stadt einen Freund trifft und zu dem Inhaber mitzubringen wagt – „dann bricht über ihn der Jüngste Tag herein!“ Da schenkte ein Fellache einmal einem Stiftungsinhaber, der ein gelehrter Mann war, eine Anzahl Gänse. Und was tat der Gelehrte? Er prüfte sie alle, fand eine, die ihm zu mager war, schickte das Bäuerlein zurück, um sich eine fettere besorgen zu lassen. „So handelt ein Träger des Korans!“ empört sich aš-Šaʿrānī, „wie verhalten sich da erst die Übeltäter?“ Mit Übeltätern meint er, wie wir noch genauer erfahren werden, die Angehörigen der Machtelite; wer sich mit dem Koran beschäftigt, von dem sollte man Barmherzigkeit erwarten. Man muß mit den Fellachen Nachsicht üben, sie schuften jahraus jahrein, und ihnen bleibt am Ende kaum das Nötigste zum Leben. Am besten sollte man auf deren Gastgeschenke ganz verzichten!26 Materielle und spirituelle Not Seit Ägypten zum Osmanischen Reich gehörte, verschlechterte sich die Lage der Fellachen weiter. Insbesondere wurden die dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts als ein Zeitraum rascher Veränderungen und zunehmender Verelendung empfunden.27 Die osmanischen Machthaber setzten nun rigoros ihre fiskalischen Interessen durch. Die Eroberung Ägyptens sollte endlich Gewinn bringen, nicht nur Lasten. AšŠaʿrānī erlebte diesen Wandel und versuchte, wie wir sehen werden, sich so gut wie irgend möglich in die neuen Verhältnisse hineinzufinden. Der Erfolg erstickte jedoch nicht sein Mitgefühl für die Fellachen. Ihnen bleibe für ihre Familie oft kaum

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mehr als ein Irdabb28 Weizen; auch Abgaben, die auf inzwischen aufgelassenem Land lasteten, presse man ihnen ab, klagt er in einer Schrift, die er in jenem Jahrzehnt verfaßte. Jeder Verwalter, der seinen Pflichten ordnungsgemäß nachkomme, sei eigentlich ein Frevler. Nur wenn er mehr sei als ein bloßer Kenner der Vorschriften, nämlich wenn ihm der verborgene Bereich göttlichen Bestimmens zugänglich sei, werde seine Anwesenheit auf dem Lande Segen bringen und der den Fellachen verbleibende Anteil an der Ernte wachsen.29 Doch ist solch ein Glücksfall nur selten. Meist bestimmen völlig verrohte Sitten, ja Raub und Mord den Alltag der Dörfler. Daher sei es gerade jetzt bitter nötig, die Fellachen den „Pfad der Leute“ zu lehren, sie zu den Maximen des Propheten zu führen und ihnen den Sinn für die Weisheit Allahs zu öffnen. „Die Menschen heutzutage gleichen Fischen, die in einem Teich schwammen, der dann austrocknete. Tagsüber machen sich nun die Raubvögel und Hunde über sie her, nachts die Füchse und Wölfe, und es gibt keine Hoffnung, daß das Wasser zurückkehrt, damit die Fische wieder hineintauchen.“ Wenige Tage vor seinem Tod im Jahre 1538 hat Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, dieses Schreckensbild aš-Šaʿrānī anvertraut.30 Doch ist das Dorf nicht nur der Ort elender, kaum je belohnter Plackerei; es ist vor allem, wie angedeutet, ein Ort der Unwissenheit in den Dingen des Glaubens. Wenn Fellachen kommen, um ihn über die Religion auszufragen, dann scheut sich aš-Šaʿrānī nicht, entgegen seiner Gewohnheit einen hervorgehobenen Platz in der Mitte seiner Anhänger einzunehmen, damit jene fremden Gäste sogleich erkennen können, an wen sie sich zu wenden haben. Das Vorbild des Propheten, das er vergegenwärtigt, erlaubt ihm in diesem Fall eine Selbsterhöhung.31 Vor allem Derwische der auf Aḥmad al-Badawī (gest. 1276) und ar-Rifāʿī (gest. 1178) zurückgehenden Bruderschaften waren auf dem Lande sehr beliebt. Sie wußten das religiöse Verlangen der einfachen Bevölkerung zu befriedigen, aber sie standen auch in dem Rufe, es mit dem islamischen Gesetz nicht so genau zu nehmen. Sidi Muḥammad alĠamrī, der Gründer jener Klause, in der aš-Šaʿrānī vom Jüngling zum Mann heranwachsen sollte, hatte eine Abhandlung über solche Derwische verfaßt und deren Umtriebe scharf kritisiert. Aber aš-Šaʿrānī zeigte sich in den Huldreichen Gnadengeschenken milder gestimmt; es komme immer auf den einzelnen Fall an. Da habe einmal jemand die Qalender-Derwische in einer ihrer Klausen aufgesucht, ihre unschariatischen Praktiken beobachtet und schroff zurückgewiesen – und als er dann den Kopf hob, da sah er vor sich in der Luft einen Menschen mit überkreuz untergeschlagenen Beinen schweben, der ihn anfuhr: „Was tadelst du die QalenderDerwische, ich bin doch einer von ihnen!“ Man könne nicht ohne genaue Prüfung wissen, ob jener, der eines der bekanntesten Huldwunder der Gottesfreunde vollführte, ein Satan gewesen sei, bemerkt aš-Šaʿrānī hierzu. Jedes vorschnelle Urteil verbietet sich.32 Nicht zweifelhaft ist dagegen, daß die Bevölkerung auf dem Lande in jenen Männern die Tröster der geschundenen Seelen sah, die Verkünder der

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Worte, die die gefürchtete Grabesstrafe mildern oder gar abwenden konnten, die Heiler, die dank den Verbindungen mit dem Verborgenen in mancherlei Nöten für Abhilfe sorgten. Wenn der Gottesfreund Ibrāhīm al-Matbūlī auf Reisen ging, dann bevorzugte er es, des Nachts unterwegs zu sein, damit er unerkannt blieb, und andere seinesgleichen hielten es genauso. Einmal hatte einer der Gefährten ašŠaʿrānīs gegen diesen Brauch verstoßen, und kaum hatte er die Gegend westlich des Nildeltas erreicht, als ihm schon eine Menge von fünfhundert Menschen hinterherzog.33

1.2 Die Stadt Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört dank der Segenskraft des Gesandten Allahs, daß ich das Land verließ und nach Kairo ging. So brachte er mich aus dem Dorf der Grobheit und des Unwissens in die Stadt der Artigkeit und des Wissens. Dergleichen deutete auch unser Herr Josef – Allahs Gebet und Friedensgruß über ihn! – an, als er sagte: „Mein Herr hat mich gut behandelt, denn er hat mich aus dem Gefängnis befreit und euch aus der Wüste herbeigeholt…“ (Sure 12, 100).34 Josef sagt, daß die Ankunft seiner Brüder aus der Wüste zu den Wohltaten gehört, die der Eine Wahre an ihm wirkte, aber auch an ihnen, indem sie nun seine Gefolgsleute wurden. Josef rühmt den Einen Wahren deswegen. In einem Prophetenwort mit vollständiger Überliefererkette heißt es: „Wer in der Wüste lebt, verroht; wer dem Jagdwild folgt, wird unachtsam; wer zu den Pforten des Sultans geht, wird verführt.“35 Zu Anfang des Jahres 911 (begann am 7. Juni 1505) kam ich nach Kairo; ich war damals elf Jahre alt. Ich hielt mich in der Moschee des Sidi Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī auf, und der erhabene Allah verschaffte mir das Mitgefühl des Imams der Moschee und seiner Kinder, so daß sie mich wie einen der Ihrigen aufnahmen – ich aß, was sie aßen, bedeckte mich mit ihrer Kleidung. Nicht ich, Allah allein vermag sie dafür zu entlohnen!…36

*** Kairo – Fustat – Die Palaststadt der Fatimiden – Stadt und Zitadelle – Ein Reisebericht aus dem 13. Jahrhundert – Die Nilinsel ar-Rōḍa – Die Mamlukenzeit – Die Stadt des Wissens – Ein Beispiel: die Medresse des Sarġatmiš – Der Wandel des Wissens – Al-Ġamrīs Klause – Muḥammad al-Ġamrī: Vita eines Gottesfreundes – Die vier „Häuser der Gottesfreunde“

Kairo Kairo, das ist eine Aneinanderreihung von Bauwerken und Ansiedlungen, die von der ganzen Geschichte des islamischen Ägypten Zeugnis ablegen. Es ist zu keiner Zeit ein fertiges und in sich geschlossenes Ganzes gewesen, sondern stets unfertig – Aufbau und Verfall überlagern, durchdringen einander in einer den Fremden verwirrenden Vielfalt. Fünf Herrschersitze mit all den dazugehörenden Unterkünften für Militär und Verwaltung bildeten nacheinander die Kristallisationspunkte des

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städtischen Lebens, jeder auf die Bedürfnisse der Machthaber der Epoche zugeschnitten. Sie, nicht aber die Einwohnerschaft, bestimmten das Schicksal der Stadt. Sofern die Bevölkerung nicht mit dem Hofe verbunden war – auf welche Weise auch immer –, war sie nichts als der Treibsand, der sich hin und herverlagerte je nach den Kräften, die auf ihn einwirkten. Fustat Fustat nennt man den ältesten Teil, die Quartiere, die der Eroberer ʿAmr b. al-ʿĀṣ in den vierziger Jahren des 7. Jahrhunderts für sich und die ihn begleitenden arabischen Stämme abstecken und einrichten ließ, in unmittelbarer Nähe eines kleinen Kastells, Bāb Iljūn geheißen. In frühislamischer Zeit schon wurde der Name zu Bābiljūn zusammengezogen und auf die neue Siedlung übertragen, die Europäer verballhornten ihn in der Kreuzzugszeit zu Babylon. Im Westen wird Fustat durch den Nil begrenzt, im Osten erhebt sich das Muqaṭṭam-Gebirge. Wenn man von einer Anhöhe aus auf Fustat schaut, wird man bemerken, daß es in einer Senke liegt, denn auch im Süden und im Norden steigt das Gelände leicht an, und das Nilufer ist mit Palmen bestanden. Der Autor, dem al-Maqrīzī diese Beschreibung entlehnt, fühlt sich bei der Betrachtung Fustats an die mahnenden Worte des Hippokrates erinnert: „Tiefgelegene Orte sind heißer als hochgelegene, und ihre Luft ist schlechter, weil der Dunst in ihnen zurückgehalten wird.“ Die Gassen der Stadt sind eng, die Gebäude hoch. Rufus von Ephesos, der berühmte Arzt, der während der Regierungszeit des römischen Kaisers Trajan (gest. 117) wirkte, habe eindringlich gewarnt: „Wenn du eine Stadt betrittst und enge Gassen zwischen Wohnhäusern vorfindest, dann fliehe, denn sie ist verpestet!“ So läßt sich denn unser Autor über den haarsträubenden Mangel an Reinlichkeit, über das verseuchte Wasser, die krankmachende Luft aus: Die Fustater haben die schreckliche Angewohnheit, tote Hunde und Katzen einfach in den Gassen verwesen zu lassen; auch werfen sie Abfälle und Tierkadaver in den Nil, der zudem die Kloaken der Stadt aufzunehmen hat. Bisweilen kommt die Strömung im Fluß fast zum Stillstand, und dann müssen die Fustater das von ihnen selber verschmutzte Wasser trinken. In der Stadt gibt es Plätze, an denen Unrat verbrannt wird; der Qualm vermengt sich mit der stickigen Luft, die noch dazu mit Staub gesättigt ist. Zumal im Sommer ist sie so trübe, daß es einem den Atem nimmt. Binnen eines Tages sind saubere Gewänder ganz verschmutzt, desgleichen Gesicht und Bart. Wenn auch die Menschen in Fustat sich an all dies gewöhnt haben und ihr Körper abgehärtet ist, so sind sie doch weit anfälliger für Krankheiten als alle übrigen Ägypter, ausgenommen vielleicht die Bewohner des Faijum. Nicht nur für den Körper hat die verseuchte Umgebung schädliche Folgen, denn „der hervorstechende Charakterzug der Fustater ist die Feigheit, gepaart mit dem Mangel an Edelmut. Kaum jemand unter ihnen wird ei-

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nem Fremden zu Hilfe kommen oder ihn gar bewirten. Im Verleumden und Anschwärzen aber sind sie ganz groß. Ihre Feigheit ist so ausgeprägt, daß fünf niedere Chargen einhundert Männer von ihnen oder mehr kommandieren können und jene fünf sich von einem geübten Kriegsmann aus einer anderen Stadt führen lassen.“ Die Gründe für Krankheit und Schwäche sind so offensichtlich, daß man vermuten darf, die Herrscher der fernen Vergangenheit hätten es deswegen vorgezogen, in Memphis und Alexandrien zu residieren, meint der berühmte ägyptische Arzt Ibn Riḍwān (gest. 1068),37 der sich mit den Seuchen in Kairo und den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung befaßte. Ihm wird al-Maqrīzī diese Zeilen verdanken. Die Palaststadt der Fatimiden Im 9. Jahrhundert verlor Fustat die Residenz des Statthalters, der bis dahin für die Omaijaden und dann für die Abbasiden das Land verwaltet hatte. Aḥmad b. Ṭūlūn kündigte dem Kalifen zwar nicht den Gehorsam auf, aber er herrschte in Ägypten von 868 bis 884 im Grunde unabhängig und ohne daß man ihn vom Irak aus hätte absetzen können. Aḥmads Sohn Ḫumārawaihi (gest. 896) dehnte seine Macht bis an den Taurus aus und zwang den Kalifen, ihm und seinen Nachkommen die Herrschaft über Ägypten und die Levante für einen Zeitraum von dreißig Jahren vertraglich zuzusichern. Auf dem höhergelegenen Gelände nördlich von Fustat errichtete Aḥmad für sein Heer Quartiere, die eine Fläche von einer Quadratmeile bedeckten. Das bekannteste Bauwerk dieses Komplexes ist die Große Moschee mit ihrem gedrehten Minarett, das demjenigen von Samarra, der damaligen Hauptstadt der Abbasiden, nachempfunden ist. Im Frühjahr 970 wurde, wiederum nördlich des bestehenden Regierungssitzes, der Grundriß der Palaststadt der Fatimiden abgesteckt.Wenige Monate zuvor war Ǧauhar, der Heerführer des in Mahdia im heutigen Tunesien residierenden fatimidischen Kalifen al-Muʿizz (reg. 953 – 975), mit seinen vor allem unter den Berbern rekrutierten Truppen in Ägypten eingedrungen. Er überquerte den Nil und bereitete damit der ohnehin nur formalen Oberhoheit der Abbasiden über das Land ein Ende. Die neue Palaststadt, die ungefähr bei dem heutigen Bāb Zuwaila beginnt und bis zur al-Ḥākim-Moschee, dem „Tor der Eroberungen“ und dem „Tor des Triumphes“ nach Norden hinaufreicht, erhielt den Namen „die Bezwingende des Muʿizz“ – al-Qāhira al-Muʿizzīja –, der in der kurzen Fassung al-Qāhira schließlich auf die ganze Städtelandschaft übertragen wurde, die von Fustat aus am Ufer des Nils und des großen Kanals entlangwuchs, der einst den Fluß mit dem Roten Meer verbunden hatte. Da die Fatimiden sich ihrer Herrschaft über Ägypten zunächst nicht sicher waren und vor allem den Angriff ihrer schiitischen Nebenbuhler, der Qarmaten, fürchteten, wurde al-Qāhira zügig mit mächtigen Befestigungsanlagen ummauert. War schon Fustat das Lager eines Eroberers gewesen, der seine Macht auf eine fremde Bevölkerung stützte, so galt dies in

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vielleicht noch stärkerem Maß für die Fatimiden – die Namen der berberischen Stämme wie etwa Zuwaila bezeichnen die Viertel von al-Qāhira. Außerhalb der Mauern dehnte sich Gartenland, unterbrochen von einzelnen Gehöften oder kleinen geschlossenen Weilern. Die Fläche zwischen der südlichen Umgrenzung, etwa ab dem Bāb Zuwaila, die sich unterhalb der späteren Festung nach Süden bis zu den beiden älteren Städten hinzog, war ein riesiges Friedhofsgelände. Nach Westen bildete der schon erwähnte Kanal keine feste Grenze, denn etliche Brücken überquerten ihn, und allmählich wurde auch jenes Gelände in die städtische Bebauung einbezogen. Man erzählte sich, daß diese Wasserstraße angelegt worden sei, als Hagar mit ihrem Sohn Ismael sich in Mekka niederließ; ein ptolemäischer Herrscher habe den Kanal erneuert, und der zweite Kalif ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb (reg. 634– 644) habe das gleiche befohlen, denn man habe auf diese Weise von Medina aus eine sichere Verbindung mit dem gerade eroberten Land aufrechterhalten können. Als aber unter dem Abbasiden al-Manṣūr (reg. 754– 775) ein Aufstand ausbrach, habe man einen Teil des Kanals zuschütten lassen, weil man befürchtete, die Rebellen könnten sich Ägyptens bemächtigen, und so diente das Bauwerk seitdem nicht mehr dem Verkehr, sondern nur noch der Aufnahme der Nilfluten zur Bewässerung von Flächen, die in einiger Entfernung vom Fluß bestellt wurden.38 Stadt und Zitadelle Schon unter den Fatimiden büßte al-Qāhira den Charakter einer Palaststadt ein. Während des Kalifats al-Mustanṣirs (reg. 1036 – 1094) erschütterten um 1070 schwere Unruhen das Reich, der Regierungssitz der Fatimiden wurde verwüstet. Türkische Söldnertruppen, die al-Mustanṣir erst kurz zuvor angeworben hatte, um sich eine Hausmacht zu verschaffen, sahen ihre Hoffnungen auf reiche Entlohnung enttäuscht, und hieraus entwickelte sich eine Krise, die beinahe zu einem völligen Umsturz geführt hätte. Einer der mächtigsten Offiziere der Fatimiden geriet in den Verdacht, Hochverrat zu planen und die Freitagspredigt im Namen des Abbasiden halten zu lassen, was das Ende fatimidischer Herrschaft bedeutet hätte.39 Da ergriff 1074 Badr al-Ǧamālī, ein erfolgreicher armenischer Kriegsmann in Diensten der Kairoer Kalifen, die Macht und stellte die Ordnung wieder her. Er nahm in der zerstörten Palaststadt Quartier und gestattete den Soldaten, aber auch allen anderen, die über die notwendigen Mittel verfügten, sich in al-Qāhira anzusiedeln und Häuser zu errichten. Sie durften sich zu diesem Zweck aus aufgelassenen Anwesen in Fustat geeignete Baumittel aneignen. Bis der Aijubide Saladin im Jahre 1171 das fatimidische Kalifat stürzte, war aus dem Palastbezirk al-Qāhira eine Stadt geworden, deren Bevölkerung zwar vorwiegend aus Bediensteten des Herrscherhauses bestand, die aber eben längst nicht mehr so von der Umwelt abgeschottet war wie zuvor. Saladin trieb diese Umgestaltung weiter voran. Er erniedrigte die Stadt, in-

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dem er sie dem gemeinen Volk als Wohnort zur Verfügung stellte, schreibt alMaqrīzī. Die fatimidischen Schlösser wurden verkleinert, teils zerstört, teils als Quartiere genutzt. Al-Qāhira wurde, wie jede gewöhnliche Stadt, in Viertel, in Haupt- und Nebenstraßen und in Gassen aufgegliedert, kurz, aus dem riesigen exklusiven Herrschersitz wurde nun der Kern der Metropole Kairo. Unweit südsüdöstlich von ihr gab Saladin die Errichtung einer gewaltigen Zitadelle in Auftrag, in der er von Zeit zu Zeit selber wohnte. Sein Neffe al-Malik al-Kāmil (reg. 1218 – 1238) schließlich zog sich ganz in die Zitadelle zurück. Die Bevölkerung Kairos nahm in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts rasch zu; viele Flüchtlinge, die den Mongolen entkommen waren, ließen sich hier nieder. Beide Ufer des Kanals wurden nun besiedelt, im Norden, außerhalb der alten fatimidischen Stadtmauern, entstand das Viertel al-Ḥusainīja; die Gegend um die Ibn Ṭūlūn-Moschee füllte sich mit neuem Leben. Ein Reisebericht aus dem 13. Jahrhundert Ibn Saʿīd (gest. 1274 oder 1286), ein Besucher aus dem Magreb, fand am Leben der Kairoer wenig Gefallen. Man sage, Kairo liege am Nil, aber in Wahrheit sei das erquickende Wasser weit weg, und in der Stadt sei es knapp. Einen weiten Weg in Richtung Westen müsse man zurücklegen, zwischen den vielen schon außerhalb der Mauern gelegenen Häusern hindurch, um endlich die Gärten von al-Maqs und bald danach den Fluß zu erreichen. – Der große Kanal fiel im Frühjahr trocken und wurde erst, wenn der Nil auf einen bestimmten Stand gestiegen war, wieder geflutet. – Vor allem aber vermißte Ibn Saʿīd breit angelegte Straßen. Wenn man vom Paradeplatz im Innern der Stadt absehe, herrsche überall eine fürchterliche Enge. Reiter und Fußgänger quetschten sich durch die schmalen Ladenzeilen: „Einmal beobachtete ich den Wesir in einem prächtigen Festzug; die Emire des Herrschers ritten voran. Da kam ihnen ein Wagen, von einer Kuh gezogen, entgegen, der mit Steinen beladen war; er versperrte den ganzen Weg zwischen den Läden. Der Wesir mußte Halt machen; das gab ein entsetzliches Gedränge! In der Nähe waren Garküchen, und der Qualm stieg dem Wesir ins Gesicht und auf das Gewand. Fast wären die Fußgänger umgekommen, und ich mit ihnen!“40 Zusammengewachsen waren Fustat und al-Qāhira aber auch in der Zeit Ibn Saʿīds noch nicht. Um Fustat zu besichtigen, begab er sich eines Tages an das Bāb Zuwaila, wo ihm zahlreiche Eseltreiber ihre Dienste anboten, da er die zwei Meilen bis Fustat nicht zu Fuß zurücklegen wollte. Nach anfänglichem Bedenken – im Westen war es leicht anrüchig, sich eines solch schäbigen Reittieres zu bedienen, aber in Ägypten taten dies sogar die Rechtsgelehrten ganz ungeniert, wie Ibn Saʿīd erstaunt bemerkte – setzte er sich auf einen Esel. „Da gab der Treiber dem Tier ein Zeichen, und es stürmte nur so los und wirbelte so viel schwarzen Staub auf, daß meine Augen erblindeten und meine

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Kleidung völlig beschmutzt wurde. Mir widerfuhr solches Ungemach, und weil ich vom Reiten auf einem Esel nichts verstand, dieser auf eine mir gänzlich unbekannte Art rannte und der Treiber keinerlei Mitleid zeigte, befand ich mich in der Finsternis jener Staubwolke… Schnell gab ich dem Treiber seinen Lohn, indem ich ihm sagte: ‚Wenn du mir Gutes tun willst, dann laß mich zu Fuß gehen!‘… Je näher ich Fustat kam, in desto weitere Ferne rückte alle Freude. Da sah ich schwarze, löchrige Stadtmauern, den ganzen Horizont mit Staub getränkt. Ich trat durch das Tor, das eng wie ein Spalt war, und gelangte zu einem Schutthügel, auf dem erbärmliche Bauwerke standen, von krummen Gassen durchzogen, gebaut aus dunklen Ziegeln, Rohr und Palmholz, Stockwerk über Stockwerk; an den Türen lagen Haufen von schwarzem Dreck und Abfall, so daß dem Sauberen der Atem stockte… Endlich gelangte ich zu den engen Marktgassen und ertrug ein fürchterliches Gedränge von zahllosen Menschen, die Waren und Trinkwasser, das von Kamelen herbeigeschafft wird, zu erstehen suchten. Man kann es nicht beschreiben, man muß es selber erlebt und erlitten haben.“ Ibn Saʿīd kämpft sich zur Moschee des ʿAmr b. al-ʿĀṣ durch – in Sevilla und in Marrakesch ist um die großen Moscheen viel mehr freier Raum, merkt er an – und ist über die Schmucklosigkeit des für die frühe islamische Geschichte so symbolträchtigen Gebäudes41 tief enttäuscht. Die Enttäuschung wandelt sich in Entsetzen, als er das Innere betritt. Um ihre alltäglichen Gänge abzukürzen, durchqueren die Bewohner von Fustat die Moschee. Verkäufer bieten Kekse und Nüsse feil, die Leute essen, lassen sich von Wasserträgern zu trinken geben, Kinder spielen. Die Decke, alle Winkel sind mit Spinnweben übersät, die Wände mit frommen Sprüchen bekritzelt. „Und trotz alledem liegen über der Moschee ein Glanz, eine Atmosphäre freundlicher Aufnahme und gelöster Heiterkeit, die man in der Moschee von Sevilla mit all ihrem Schmuck und dem lieblichen Garten, der ihren Hof ziert, vergeblich sucht. Ich stellte Betrachtungen über meine innere Freude, mein Empfinden der Vertrautheit an, die mich überkamen, obwohl der Anblick dies keineswegs nahelegte. Und mir wurde klar, daß dies den verborgenen Kräften zu danken war, die hier niedergelegt worden waren, als die Pophetengefährten – Allahs Wohlgefallen sei über ihnen! – während des Baues der Moschee sich auf diesem Stück Erde aufhielten. Mit Genugtuung schaute ich auf die Lehrzirkel, in denen man hier allenthalben Unterweisungen im Koran, im islamischen Recht, in der arabischen Grammatik erteilte. Ich erkundigte mich, woher die Einkünfte der Unterrichtenden stammten, und erfuhr, daß sie aus den Mitteln der Läuterungsgabe und dergleichen bestritten werden und daß es schwierig sei, diese Einkünfte einzutreiben; nur der Ruhm des Lehrers und große Anstrengung führten zum Erfolg.“

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Die Nilinsel ar-Rōḍa Ibn Saʿīd verließ die ʿAmr-Moschee und gelangte zum Fustater Nilufer, dem Umschlagsplatz für die Güter, die zu Wasser transportiert wurden. Auch hier fiel ihm der Schmutz auf, und es herrschte drangvolle Enge. Der Nil ist an dieser Stelle in zwei Arme geteilt, die die Insel ar-Rōḍa umfließen, und es ist der schmalere, an dem Fustat liegt. Ihn überquerte eine Brücke, desgleichen den breiteren, so daß Menschen und Waren von hier aus bequem die Gegenden westlich des Nils erreichen konnten. Doch war dies nicht der einzige Grund für den regen Verkehr, den Ibn Saʿīd staunend wahrnahm. Kaum daß sich die aijubidischen Herrscher in der Zitadelle fest eingerichtet hatten, da erzwangen militärische Ereignisse von neuem einen Ortswechsel. Seit 1245 warb der Papst Innozenz IV. für einen Kreuzzug; der französische König Ludwig IX. hatte schon kurz zuvor das Kreuz genommen. In Kairo wußte man, daß sich dieser Krieg vor allem gegen Ägypten richten werde, das Land, das die stärkste Stütze der um die Vertreibung der Kreuzritter aus Palästina kämpfenden Muslime bildete. Es galt, die Eindringlinge, die einen der Nilarme herauffahren würden, abzufangen und, sollten sie das Land besetzen, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, auf dem Wasserweg Nachschub herbeizuschaffen. Daher verlegte man den Sitz des Herrschers auf die Insel ar-Rōḍa, die mit Märkten, Moscheen, Palästen bebaut wurde.42 Gerade in jener Zeit, gegen Ende der vierziger Jahre des 13. Jahrhunderts, hielt sich Ibn Saʿīd dort auf, und so nimmt es nicht wunder, daß er die Landeplätze von Fustat in größter Geschäftigkeit vorfand. Vermutlich weilte er noch in Ägypten, als Ludwig IX. im Frühjahr 1250 bei dem Versuch, auf dem Marsch nach Kairo die Festung al-Manṣūra zu umgehen, in aijubidische Gefangenschaft geriet und erst nach Zahlung eines hohen Lösegeldes freigelassen wurde. Die Nilinsel ar-Rōḍa war die fünfte Herrscherresidenz, die Kairo bis in die Zeit aš-Šaʿrānīs sah; wieder wurde die Umorientierung des städtischen Lebens auf einen neuen Mittelpunkt hin bewirkt. Ibn Saʿīd vergleicht Fustat und al-Qāhira miteinander: In Fustat werden mehr Lebensmittel angeboten, die Preise sind niedriger, weil der Nil so nahe ist; der Herrscher hat unmittelbar an der Brücke, die nach arRōḍa führt, eine Qaisarīja bauen lassen und den Markt für das Militär von al-Qāhira dorthin verlegt; Pelze und Tuche werden nun in der neuen Halle feilgeboten. AlQāhira dagegen weist viel mehr prächtige Gebäude als Fustat auf; es verdient viel mehr Ehrerbietung, denn es kann sich bedeutender Medressen rühmen, geräumiger Karawansereien, vornehmer Paläste, in denen die großen Emire wohnen. Es ist mit dem Herrscher verbunden, der bis vor kurzem auf der Festung residierte, und so kann man in al-Qāhira alle Luxusgüter entdecken, mit denen man sich das Leben verschönt.43

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Die Mamlukenzeit Erst im frühen 14. Jahrhundert, unter dem Mamlukensultan an-Nāṣir b. Qalāʾūn, wuchsen Fustat und al-Qāhira zu einer Einheit zusammen, zu einer Stadtlandschaft, die Schlösser und auch ausgedehnte Gärten, Märkte, Karawansereien, Medressen, Moscheen und die Klausen zahlreicher Gottesfreunde in sich barg. Das Machtzentrum lag wieder auf der Festung. Die sich westlich von ihr am Nil und dem großen Kanal entlang erstreckende Metropole des Mamlukenreiches hatte selber keinen eigentlichen Mittelpunkt. Viertel mit ganz unterschiedlicher Vergangenheit, die zu bestimmten Epochen erstrangig gewesen waren und deren Bauwerke, bisweilen dem Verfall, ja der Ausplünderung zum Zwecke der Errichtung neuer Monumente an anderem Ort anheimgegeben, kündeten von vergangenem Glanz. Keine Epoche ist gänzlich ausgelöscht, vollends durch Späteres ersetzt, die ganze islamische Geschichte Ägyptens ist im großen Kairo aufbewahrt. Gewiß haben alle Herrscher, wie al-Maqrīzī klagt, stets versucht, die steinernen Zeugnisse ihrer Vorgänger zu vernichten, um deren Andenken auszulöschen.44 Aber keinem von ihnen ist dies vollständig gelungen, auch nicht dem Mamlukensultan an-Nāṣir b. Qalāʾūn, der die Geschicke des Reiches und der Metropole fast ein halbes Jahrhundert bestimmte, ehe er 1340 starb. Ein knappes Jahrzehnt später unterbrach die Pest jäh das Wachstum der Stadt. Noch al-Maqrīzī schreibt seine Topographie Kairos unter dem beklemmenden Eindruck verlassener Viertel. Und eine Wende zum Besseren hat er nicht in Sicht: „Dann kam das Jahr 806 (begann am 21. Juli 1403), die Nilflut blieb unter der üblichen Marke. Syrien war in Trümmer gesunken, nachdem der Tyrann Tamerlan eingedrungen, das Land versengt und die Bewohner getötet hatte. In Ägypten stiegen die Preise, es entstand eine schlimme, langanhaltende Teuerung. Die in Ägypten umlaufende Währung verfiel. Krieg und Aufruhr herrschten unter den Großen des Staates. Oberägypten wurde verwüstet, die Bewohner flüchteten. Ebenso wurde Unterägypten sowohl in seinen östlichen, als auch in seinen westlichen Bezirken zerstört. Die Herrscher von Ägypten wurden zum Gespött, erbärmlich waren die Lebensumstände der Untertanen, Armut und Elend gewannen die Oberhand über die Menschen. Vielfältig waren die Übergriffe der Mächtigen gegen das Volk: Enteignungen trafen die breite Masse, die Vermögenden wurden verfolgt, mit Gewalt wurde ihnen entrissen, was sie besaßen. Man zwang die Kaufleute, Waren, mit denen der Sultan und seine Gefährten handelten, zu überhöhten Preisen zu erwerben. Anderes kommt hinzu, das ein einzelner nicht aufzeichnen und dessen Wiedergabe das Papier nicht fassen kann. An den genannten Orten sah man die Zerstörung allenthalben, desgleichen anderswo – sie wandelten sich in Schutthaufen und schreckenerregende öde Ruinen, in denen die Eulen und die Aasgeier hausen, dem Einsturz nahe, sich dem Niederbrechen hinneigend… So ist Allahs Brauch mit seinen Knechten immer schon gewesen, und du wirst keine Änderung dieses Brauches finden!“ (vgl. Sure 40, 85 und Sure 48, 23).45

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Die Stadt des Wissens Kaum etwas hätte das Gemüt eines Besuchers im frühen 16. Jahrhundert aufhellen können, in jener Zeit, als aš-Šaʿrānī nach Kairo kommt. Zwar zeugen von den gewaltigen Anstrengungen, die der Sultan Qaitbai Ägypten auferlegte, Bauwerke wie das Fort an der Hafeneinfahrt von Alexandrien und in Kairo eine Medresse und eine Grabmoschee. Der Krieg um Kilikien, den der Sultan von 1485 bis 1491 führte, brachte jedoch keinen nennenswerten Nutzen. Das Mamlukenreich geriet in einen Zustand völliger Erschöpfung. Die Inbesitznahme des Landes durch den osmanischen Sultan Selim I. (reg. 1512– 1520), das furchtbare Ende vieler tscherkessischer Mamluken, eine weitere Etappe der Verwüstung der Kairoer Stadtlandschaft, dies sind die Ereignisse und Vorgänge, die aš-Šaʿrānīs Mannesjahre prägen sollten. Aber sind die Paläste und Märkte überhaupt das Kairo, um dessentwillen er das Dorf verläßt? Er befreit sich aus dem Gefängnis der Unwissenheit; davon ist er überzeugt, und Wissen will er in Kairo suchen. Indem wir uns dies ins Gedächtnis rufen, lassen wir den Blick nicht mehr über die Stätten des alltäglichen Lebens schweifen. Als ein Ort des Wissens weist Kairo eine ganz andere, eigenständige Topographie auf. Die große Moschee des ʿAmr b. al-ʿĀṣ in Fustat, deren Verwahrlosung Ibn Saʿīd einen Schrecken einjagte, ist ein solcher Ort des Wissens, ebenso die Moschee des Ibn Ṭūlūn. Unter den Fatimiden wurde die al-Azhar-Hochschule errichtet. Sie vermittelte ursprünglich allerdings ein von den ismailitischen, schiitischen Lehren geformtes Wissen. Die Topographie der Kairoer Gelehrsamkeit, in der sich aš-Šaʿrānī zurechtzufinden hat, ist demgegenüber das Werk einer späteren Zeit. Denn die Auflösung des fatimidischen Kalifats im Jahre 1171 und der Eifer Saladins, seine Herrschaft in Ägypten als ein Vorgehen zu rühmen und zu legitimieren, das zugunsten des abbasidischen Kalifats in Bagdad ins Werk gesetzt werde, führen dazu, daß rasch ein sunnitisches Unterrichtswesen aufgebaut wird, das nach dem Vorbild der Seldschuken von den Herrschern mit Finanzen ausgestattet und daher dominiert wird. Den Herrschern ist daran gelegen, daß die Rechtsgelehrten, mit denen sie zusammenzuarbeiten haben, über ausreichende Kenntnisse verfügen und auf ihre Gunst bei der Zuteilung von Ämtern hoffen. So holte Kairo unter den Aijubiden nach, was im Osten, im Irak und in Iran, schon seit einem Jahrhundert in Blüte stand – ein vom Sultan gefördertes, sunnitisch geprägtes Gelehrtentum wurde ins Leben gerufen und entfaltete sich mit einer erstaunlichen Kraft. Zwischen 1171 und 1176 gründete Saladin fünf Lehranstalten. Die erste, die Qamḥīja-Medresse, entstand in Fustat und wurde der Unterweisung im malikitischen Recht gewidmet. Saladin ließ eine Markthalle, in der Garn gehandelt wurde, einreißen und auf dem Grundstück den Bau errichten. Den Unterhalt der Medresse und der vier Professoren, die an ihr wirkten, sicherte er, indem er den Ertrag des Marktes der Papierhändler und Kopisten sowie eines Landgutes im Faijum stiftete. Auf dem Landgut wurde vor allem Weizen, arabisch al-qamḥ, an-

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gebaut, der unter die Lehrenden verteilt wurde, und daher rührte der Name des berühmten Instituts. Zu al-Maqrīzīs Zeit war es bereits in Verfall geraten, „und wären da nicht die Einkünfte, die die Rechtsgelehrten aus ihr ziehen, dann wäre sie längst verschwunden“. Dem fügt al-Maqrīzī die Bemerkung an, daß 1422 das Ende der al-Qamḥīja-Medresse besiegelt wurde; der Sultan Barsbai (reg. 1422– 1437), der, gerade an die Macht gekommen, Pfründen für seinen Anhang brauchte, verwendete das Landgut von da an als ein Dienstlehen.46 – Drei Medressen gründete Saladin allein für die schafiitische Rechtsschule, die in Ägypten den größten Anhang zählte. Das Schafiitentum verkörperte den durch das fatimidische Kalifat für zwei Jahrhunderte geschmälerten Strom der sunnitischen Gelehrsamkeit des Landes, denn aš-Šāfiʿī (gest. 820), der herausragende Förderer der Verankerung der Scharia in der Prophetenüberlieferung, hatte die letzten Jahre seines Lebens in Fustat verbracht. Der aijubidische Fürst al-Malik al-Kāmil, der Gegenspieler Kaiser Friedrichs II., ließ über aš-Šāfiʿīs Grabstätte einen Kuppelbau errichten:47 Die Aijubiden legitimierten sich als die Wiederhersteller des ägyptischen Sunnitentums, das in der Geschichte des sunnitischen Islams einen der ersten Ränge, wenn nicht den ersten Rang überhaupt einnimmt. – Eine Medresse billigte Saladin auch den Hanafiten zu, die, dank ihrer Verbreitung im Osten der islamischen Welt und wegen ihrer Verbindung mit den Seldschuken und vielen jüngeren türkischen Dynastien eine damals noch nicht geahnte glanzvolle Zukunft vor sich hatten und die in Ägypten nach dem Übergang zum tscherkessischen Sultanat unter Barqūq (reg. 1382– 1399) den Schafiiten die Vorherrschaft streitig machen sollten. Insgesamt sieben weitere Medressen, gestiftet von aijubidischen Fürsten und hohen Bediensteten, sind zu verzeichnen, bevor der eben genannte al-Malik alKāmil 1225 mitten im ehemals fatimidischen al-Qāhira eine neuartige Lehranstalt gründete.48 Die al-Kāmilīja-Schule unterschied sich von ihren Vorgängerinnen in Kairo darin, daß sie in erster Linie nicht das Studium der Scharia pflegen sollte, sondern die Aufgabe erhielt, sich ganz auf die Prophetenüberlieferung, das ḥadīṯ, zu konzentrieren. Im Vergleich mit den älteren Medressen war die hier geleistete Lehre in gewissem Sinne zweckfrei, denn eine noch so umfassende und tiefgehende Kenntnis der Überlieferung allein berechtigte nicht zur Ausübung des Qāḍī-Amtes. Die erste derartige Schule war von al-Malik al-Kāmils Vater al-Malik al-ʿĀdil (reg. 1200 – 1218) in Damaskus49 aufgebaut worden. Ihr jüngeres Kairoer Gegenstück, an der Stelle eines alten Sklavenmarktes gelegen, wurde von al-Malik al-Kāmil durch reiche Stiftungen versorgt und zählte glanzvolle Persönlichkeiten unter den Professoren. In der veränderten Zweckbestimmung bekundet sich ein im 13. Jahrhundert in Gang gekommener tiefgreifender Wandel im sunnitischen Heilsbedürfnis: Nicht mehr nur als Bürge für sämtliche Einzelheiten der schariatischen Ordnung soll Mohammed verehrt und zum Mittelpunkt gelehrter Disputationen gemacht wer-

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den. Sein überliefertes Wort, von befugten Kennern zu Gehör gebracht, soll ohne weitere Auslegung, ohne Bezug zum göttlichen Gesetz, heilbringend wirksam werden. Die Feier des Geburtstags des Propheten wird in jenen Jahrzehnten üblich; in den Lobgesängen auf ihn, die aus diesem Anlaß gedichtet werden, rühmt man ihn als den vor aller übrigen Kreatur geschaffenen Garanten der Heilsbestimmtheit der Muslime. Sie muß nicht erst durch die Unterwerfung der Gemeinschaft unter die Regeln der Scharia errungen werden, sie ist in dem Äon, der mit der Geburt des Propheten begann, allen, die an ihn glauben, unverbrüchlich zugesagt.50 Was diese ḥadīṯ-Hochschulen lehrten, das war das islamische Wissen an sich – die Kenntnis vom verpflichtenden Vorbild des Propheten nicht nur in den Angelegenheiten des Rechts, sondern im Lebensvollzug eines jeden Muslims überhaupt: Es gibt nichts auf dieser Welt, für das Allah durch Worte oder Handlungen Mohammeds den Muslimen nicht unmittelbar oder mittelbar eine Regelung geschenkt hätte. Aber mehr noch! Ein im Sinne der Scharia verfehltes Handeln bleibt dank dem Bekenntnis zu Mohammed ohne nachteilige jenseitige Folgen. Die Verengung der Lehrtätigkeit mancher Medressen auf das ḥadīṯ kam einem bis dahin ungekannten Verlangen der breiten Masse nach diesem Stoff entgegen. Nicht der Inhalt der einzelnen Überlieferung stand im Vordergrund der Aufmerksamkeit, was zählte, war die Stillung des Sehnens nach Teilhabe an der heilserfüllten Epoche „am Anfang“. Al-Maqrīzī, aus dem Abstand von zwei Jahrhunderten auf die Gründerzeit der ḥadīṯ-Medressen zurückblickend, sieht sich erneut zu bewegenden Klagen genötigt: Selbst die ruhmreiche al-Kāmilīja-Medresse ist seit den schrecklichen Ereignissen des Jahres 806 der Hedschra nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe, und den Unterricht dort nimmt nun „ein Bürschchen wahr, das mit den Großen nur die Gestalt gemeinsam hat; vom blöden Vieh unterscheidet es sich allein durch die Fähigkeit zu sprechen“.51 Ein Beispiel: die Medresse des Sarġatmiš Es wäre vermessen, hier einen Überblick über alle Medressen zu geben, die im Kairo der Aijubiden, danach der türkischen und der tscherkessischen Mamluken erbaut wurden. Es sind ihrer zu viele, der alte und der neue Typ blühten nebeneinander, und ihre Zahl richtete sich nicht im mindesten nach dem Bedarf an Kennern des Rechts und des ḥadīṯ, sondern viel eher nach dem Begehren der Mächtigen, sich ein prestigeträchtiges Denkmal auf Erden zu setzen, das ihnen zugleich einen Ehrenplatz im Paradies sichern würde. Was dies in der Wirklichkeit bedeuten konnte, mag das Beispiel der Sarġatmišīja-Medresse veranschaulichen, einer Scharia-Medresse. Vom Oktober 1355 an wurden die Mauern des prachtvollen Gebäudes in nur neun Monaten hochgezogen. Sodann, drei Jahre vor der endgültigen Fertigstellung, fand die Einweihung statt, deren Mittelpunkt der Bauherr in

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prunkvollem Aufzug bildete. Wer war dieser Sarġatmiš? Der Sklavenhändler Ḫoǧa aṣ-Ṣauwāf hatte ihn 1330 zum Kauf angeboten, und der damalige Sultan an-Nāṣir b. Qalāʾūn erwarb ihn für 200 000 Silberdirham. Seinerzeit habe dieser Preis dem Wert von 4000 Miṯqāl Gold entsprochen, vermerkt al-Maqrīzī, der sich in seinen Schriften mit der später einsetzenden Inflation befaßt hat – 4000 Miṯqāl, das sind immerhin knapp siebzehn Kilogramm. Dem Händler habe an-Nāṣir b. Qalāʾūn zum Lohn ein Ehrengewand umgehängt und reiche Vergünstigungen eingeräumt. Gleichwohl wurde Sarġatmiš nicht sonderlich durch den Sultan gefördert. Erst unter der kurzen Herrschaft von al-Muẓaffar (reg. 1346 – 1347) begann der Aufstieg. Zusammen mit dessen Statthalter wurde Sarġatmiš nach Aleppo abkommandiert. Als 1351 der Sultan aṣ-Ṣāliḥ Ṣalāḥ ad-Dīn an die Macht kam, erreichte Sarġatmiš den Höhepunkt seines Einflusses. Er erdreistete sich, ohne Befehl des Sultans den Wesir gefangenzunehmen und dessen Vermögen an sich zu bringen. Opponenten verstand er auszubooten, und auch den Wechsel im Sultanat, der 1354 erfolgte, überstand er unbeschadet.52 Ungebildet war Sarġatmiš nicht: Den Koran verstand er zu rezitieren, und besonders die Gesetzeswissenschaft war sein Steckenpferd. Bei schariarechtlichen Streitfragen konnte er sich über alle Maßen ereifern; er war ein unduldsamer Anhänger der hanafitischen Schule, die er mit allen Mitteln in Ägypten zu fördern suchte. Mit der Einweihung seiner Medresse setzte er ein Zeichen für seinen Ehrgeiz, der in Kairo nur wenig verwurzelten Richtung zum Durchbruch zu verhelfen. Großzügige Stiftungen bestimmte er für die Deckung der Kosten, die Unterhalt und Lehrpersonal der Medresse verursachten. Höchste Würdenträger waren bei der Eröffnung zugegen. Nach der feierlichen ersten Vorlesung, die der auf den Posten des Professors des hanafitischen Rechts berufene Qiwām ad-Dīn Amīr Kātib alItqānī (gest. 1356)53 vortrug, wurden die Tücher zu einem üppigen Gastmahl ausgebreitet; im Wasserbecken im Hof hatte man reichlich Zucker aufgelöst, so daß sich die Gäste mit einem süßen Trunk erfrischen konnten. Die Literaten der Stadt rühmten Sarġatmiš als einen freigebigen Mäzen der Poesie und Gelehrsamkeit. In dem uns erhaltenen Lobgedicht, das Qiwām ad-Dīn seinem Gönner widmete, fehlt nicht der wiederholte Hinweis, daß Sarġatmiš der Beschützer der Fremden sei, wie denn Kairo als die Zufluchtsstätte der Fremden gepriesen wird. Sarġatmiš ließ sich nicht lumpen und lohnte die wohlgesetzten Worte mit einem herrlichen Ehrengewand, 10 000 Dirham und einem vorzüglichen Maultier, damit der Kenner der von Allah verfügten Gesetze angemessen beritten sei. – Denn der Prophet selber ritt in den letzten Jahren seines Lebens ein weißes Maultier, das ihm geschenkt worden war.54 Nachdem er kampflos in seine Vaterstadt eingezogen war, führte er seine Anhänger in einen Krieg gegen die Hawāzin und die Banū Ṯaqīf, zwei alte Feinde der Quraiš, die die vermeintliche Schwäche Mekkas zu nutzen hofften. Mit unterlegenen Kräften rückte er ihnen entgegen; bei Ḥunain trafen die Feinde aufein-

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ander, und die Streitmacht des Propheten wandte sich schon zur Flucht, als er, auf jenem weißen Maultier, gegen die Ungläubigen anstürmte und so der Schlacht eine Wende gab. Er schleuderte den Feinden eine Handvoll Kieselsteine ins Gesicht, und ihre Reihen wurden wankend, sie wichen zurück. In den großen kanonischen Sammlungen der Prophetenüberlieferung ist von all dem des öfteren die Rede, auch davon, daß dieses Maultier nebst einigen Waffen und einem Stück Land, das er einem wohltätigen Zwecke stiftete, der ganze Besitz war, den der Prophet bei seinem Tode hinterließ.55 – Die Rechtsgelehrten, davon war man überzeugt, und in der Literatur jener Zeit wird diese Überzeugung mit Nachdruck propagiert, sind die wahren Erben des Propheten!56 Konnte Sarġatmiš es sinnfälliger ausdrücken, daß er diese Überzeugung teilte? Und er herrschte über die Gelehrten; er setzte sie in QāḍīÄmter ein, er entließ sie. Der Sultan sah solche Machtfülle eines Gefolgsmannes mit Groll, und so war Sarġatmiš’ Zeit nur kurz. Schon Anfang September 1358 wurden er und seine Parteigänger gefangengenommen und nach Alexandrien verbracht. Dort starb er knapp drei Monate darauf57 – wenig mehr als ein halbes Jahr nach der Fertigstellung seiner Lehranstalt, deren Bauinschrift ihn als den „Förderer der Gelehrten, den, der die Schwachen stärkt, den Errichter von Moscheen und Medressen“ rühmt.58 Der Wandel des Wissens Zu aš-Šaʿrānīs Lebzeiten wurde in der Sarġatmišīja-Medresse noch unterrichtet;59 daß die Osmanen sie nicht antasteten, wird damit zu erklären sein, daß sie der hanafitischen Rechtsschule gewidmet worden war, der sie als die neuen Herren Ägyptens anhingen. In der großen historischen Topographie Ägyptens von ʿAlī Pascha Mubārak (gest. 1893) liest man freilich, daß sie lediglich als Freitagsmoschee genutzt werde,60 was auf eine starke Einschränkung, wenn nicht auf die Aufhebung des Lehrbetriebes schließen läßt. Die Geschicke Kairos vom 16. bis 19. Jahrhundert sind verworren genug, so daß man eine Zweckentfremdung der zum Unterhalt bestimmten Stiftungen nicht ausschließen kann. Ohnehin ist mit dem Ende des mamlukischen Sultanats die Epoche der Mäzene islamischer Gelehrsamkeit in Ägypten vorüber. Das Land ist zu einer Provinz geworden; die große Politik wird im fernen Konstantinopel gemacht, und daher auch das große Geld, von dem man einiges für gottgefällige Zwecke abzweigen kann. Nur widerwillig fügt sich Kairo in diese bescheidene Rolle, und aš-Šaʿrānī ist ein Zeitzeuge der Versuche, wider den Stachel des Verlustes des Vorranges in der islamischen Welt zu löcken. Doch nicht allein der Absturz in die Provinzialität, aus der sich Ägypten erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts langsam befreien sollte, hat den Glanz der Medressen getrübt. Ihnen erwuchs spätestens seit der Herrschaft der Tscherkessen eine mächtige, ganz anders geartete Konkurrenz. Das Studium an den Medressen hatte angesichts der

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erdrückenden Menge von Absolventen, die nach Arbeit suchten und keine fanden, stark an Anziehungskraft eingebüßt. Das Sultanat ergriff Maßnahmen, die die Zahl der Kommissäre, die ein Qāḍī beschäftigte, einschränkten, um vielerlei Mißständen zu steuern. Die alteingesessenen Familien, die über Generationen hinweg die einträglichsten Posten, die Gelehrte erlangen konnten, unter sich verteilt hatten, klagten über den Verlust ihres Einflusses, seit die Hanafiten mit den bis dahin vorherrschenden Schafiiten sogar im Hofprotokoll gleichgestellt worden waren. Die vollständige Abhängigkeit der Brotgelehrten von den Launen und Wünschen der Mächtigen blieb dem gemeinen Mann nicht verborgen. Seit Barqūqs Sohn an-Nāṣir Faraǧ sei ein bestürzender Verfall ihres Ansehens zu verzeichnen, schreibt Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (gest. 1449), selber einer der herausragenden Gelehrten des spätmamlukischen Kairo.61 Nicht der Mißerfolg, sondern der übergroße Erfolg ist es, der einerseits die Leistungen und Kenntnisse der zahllosen Fachleute der islamischen Wissenschaften entwertet, andererseits einigen wenigen unter ihnen, die die spirituellen Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen verstehen, den Status von charismatischen Übermittlern des Heilswissens verschafft. Wir haben von dieser bemerkenswerten Veränderung schon gesprochen. Wenn Männer wie Ibn Ḥaǧar aus der Prophetenüberlieferung vortragen, dann strömen Menschenmassen zusammen, um mitzuschreiben – hier, in diesen überlieferten Worten, wird die Zeit der ganz von Allahs Willen gelenkten prophetischen Urgemeinde wieder Gegenwart; das, was dem verworrenen Geschehen im Diesseits, in der mit unseren Sinnen erfaßbaren Welt, an lauterer göttlicher Bestimmung im Seinsbereich des Verborgenen zugrunde liegt, tritt in diesen Worten in eine jedem Zuhörenden zugängliche Offenkundigkeit. Es ist im übrigen nicht notwendig, sich die vorgetragenen Worte durch Mitschrift anzueignen, es genügt, daß sie an den Menschen dringen. Sie entfalten ihre Segenskraft an ihm, selbst wenn er noch gar nicht fähig ist, ihren Inhalt zu begreifen. Sogar Säuglinge nimmt man daher zu jenen Veranstaltungen mit, in denen die Worte des Propheten und seiner heiligmäßigen Gefährten rezitiert werden.62 Aber brauchte man für die Vermittlung des heilswichtigen Wissens unbedingt die Schriftgelehrsamkeit? Oder das Studium an einer Medresse? Spätestens seit dem 13. Jahrhundert fiel die Antwort auf diese Frage gegensätzlich aus, und das beschwor heftige Konflikte herauf; auch aš-Šaʿrānī wird im Laufe seines Lebens hierzu Stellung beziehen. Frage und Antwort sind keineswegs rein akademischer Natur, sondern führen mitten hinein in den politischen Zwist der Zeit, berühren Sorgen und Nöte des gemeinen Mannes, beeinflussen Aufstieg und Fall der Mächtigen. Denn jenseits aller gelehrten Geschäftigkeit gab es ein geistiges Klima, in welchem eine unprofessionelle, von den Medressen unabhängige Vermittlung von Heilswissen gedieh. Das Charisma Ibn Ḥaǧars lockte die Menschen zu ihm, nicht die gelehrte Abgesichertheit dessen, was er vortrug. Im Charisma aber konnten ihm auch Un-

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gelehrte gleichkommen, und von ihnen gab es nicht wenige: die Gottesfreunde. Nicht daß diese den Stoff, der in den hohen Schulen unterrichtet wurde, verachtet hätten; aber er war ihnen nicht alles, und sie nutzten ihn, wenn sie ihn beherrschten, nicht unbedingt dazu, nun ihrerseits unter Ausstechung zahlreicher Mitbewerber ein Amt zu erlangen und im öffentlichen Lehrvortrag zu brillieren. Unabhängig vom Betrieb der Medressen vertrauten sie ihr Wissen einem Kreis von Adepten an, der sich um sie scharte, und verknüpften ihren Unterricht mit deren Erziehung zu gesetzestreuen Muslimen, die sich von einer Ethik leiten ließen, deren oberstes Gebot in der nie erlahmenden Erwägung der Absichten und des Willens des Einen bestand. Die Gottesfreunde zogen viele Menschen in ihren Bann, gewannen Anhänger in allen Schichten, Anhänger vielleicht mit einigem Reichtum, die es ihnen ermöglichten, ein Anwesen zu kaufen, es für ihre Lehrversammlungen und Andachtsübungen herzurichten und die Bedürftigen unter ihren Gefolgsleuten zu unterstützen. Mancher Mächtige wandte sich einem Gottesfreund zu, dessen Einfluß auf ein Stadtviertel oder ein noch weiteres Gebiet nicht zu mißachten, dessen Segenswirkung angesichts der drohenden Grabespein und des Endgerichts nicht zu verschmähen war. So konnte aus der bescheidenen Unterkunft eines Gottesfreundes und seines Zirkels ein Komplex mit mehreren Gebäuden hervorgehen, mit einer Freitagsmoschee sogar, ein Ort der islamischen Wissenschaften und zugleich einer islamischen Lebensführung, wie sie der Meister als die Quintessenz seines Wissens ansah. Al-Ġamrīs Klause Der Weg vom Land in die Stadt, den aš-Šaʿrānī als eine Befreiung aus dem Gefängnis der Unwissenheit deutete, führte ihn unmittelbar in solch einen Kreis hinein. Lebten die Fellachen in Unkenntnis ihrer Heilsbestimmtheit, sofern sie nicht ein Meister von der Art des Ibn al-Ḥāǧǧ ihre Arbeit als die Übererfüllung schariatischer Pflichten begreifen lehrte, so eröffnete sich nun die Gelegenheit, das von der Prophetenschaft Mohammeds her über Zeit und Raum der islamischen Geschichte ausstrahlende Wissen in allen Einzelheiten aufzunehmen und dem irdischen Dasein zugrunde zu legen. Im Nordwesten von Kairo fand der elfjährige aš-Šaʿrānī die Unterkunft und die Umgebung, die ihn in ein Dasein hineinwachsen ließen, das ihm als der ständige Vollzug des göttlichen Willens galt, als eine nicht abreißende Kette huldreicher Gnadengeschenke. Es war die Freitagsmoschee, die der schon erwähnte Muḥammad al-Ġamrī errichtet hatte. Noch heute trägt das Anwesen diesen Namen; wer die Straße „Zwischen den beiden Palästen“ zur Moschee al-Ḥākims hin durchwandert, ehe er diese erreicht, aber nach links in die Gasse Margūš – was eine Verballhornung des Wortes Amīr al-Gujūš ist und den fatimidischen Heerführer Badr al-Ǧamālī meint – einbiegt, der wird rechter Hand auf das unscheinbar wir-

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kende Bauwerk treffen. Die Margūš-Gasse führte in der Zeit aš-Šaʿrānīs unmittelbar nach der al-Ġamrī-Moschee auf eine Brücke über den Kanal, von dem die Rede war. An seiner Stelle verläuft heute die verkehrsreiche Port-Said-Straße. ʿAlī Pascha Mubārak beschreibt das Anwesen so: „Es besitzt zwei Iwane und dreißig Säulen sowie ein Minarett und verfügt über alle notwendigen Einrichtungen, nämlich einen Ort für die rituellen Waschungen, Ruhebänke, einen Brunnen und dergleichen. Auch findet man Kammern, in denen Studenten der al-Azhar wohnen. Die meisten von ihnen stammen aus der Region östlich (des bei Damiette ins Meer mündenden Nilarmes).“ Ausdrücklich vermerkt ʿAlī Pascha, daß Muḥammad al-Ġamrī in seiner Moschee eine Predigtkanzel aufstellen und den Freitagsgottesdienst halten durfte.63 Dies ist in der Tat bemerkenswert; denn nach der Scharia soll nur je eine Freitagsmoschee in einer Stadt oder in einem durch Mauern oder auf andere Weise abgeschlossenen Siedlungsgebiet sein. Daß al-Ġamrīs Gründung den Status einer Freitagsmoschee erlangte, läßt auf die nicht geringe Bedeutung dieses Mannes und seiner Gemeinschaft schließen. Muḥammad al-Ġamrī: Vita eines Gottesfreundes Al-Ġamrī wurde 1384 bei Minjat Ġamr, einem Städtchen am Ostufer des genannten Mündungsarms des Nils, geboren. Er wuchs in dem zur Provinz Daqahlīja gehörenden Ort auf, wo sein Vater sich den Lebensunterhalt mit dem Verkauf von wohlriechenden Essenzen verdiente. Der Sohn war freilich wenig geschäftstüchtig; er verschenkte die Waren. Der Vater zürnte ihm nicht, sondern lobte ihn sogar wegen solcher Gutherzigkeit. Aber eine unbegrenzte Fortsetzung dieser Art von Handel duldete er nicht, und so schlug sich Muḥammad al-Ġamrī schließlich als Schneider durch, in seiner Heimat und in dem weiter südlich gelegenen Bilbais. Später gelangte er nach Kairo, wo er aus der Tätigkeit eines Berufszeugen, einer Art Beisitzers, der den ordnungsgemäßen Verlauf eines Gerichtsverfahrens beeidete und auch Aufgaben wahrnahm, die denen eines Notars glichen, ein kümmerliches Einkommen erzielte. Manchmal hungerte er eine ganze Woche lang, meist nährte er sich von Bohnenhülsen und von Melonenschalen. Nicht nach dem Erwerb irdischer Güter trachtete er; er erstrebte vielmehr die Vollendung der Gottesknechtschaft und suchte daher die Nähe der Gottesfreunde.64 Einer von ihnen, der Asket Aḥmad (gest. 1416), nahm ihn schließlich gänzlich für sich ein, ein Mann, der, wie aš-Šaʿrānī schreibt, unter der Rechtsgelehrsamkeit seine tiefe Spiritualität verbarg. Niemals redete der Asket Aḥmad zu Unberufenen über diese Dinge. Doch setzte er alles daran, das einfache Volk im Sinne des islamischen Gesetzes, dessen heilstiftende Wirkung sich allein durch das seinen Bestimmungen verpflichtete Handeln entfalte, zu erziehen und zu bilden. Ungewöhnlich war, daß der Asket Aḥmad auch den Frauen eine sittliche Unterweisung angedeihen ließ; er unterrichtete sie in Mo-

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scheen, lehrte sie die Gesetze der Scharia, die sie angingen, und wie diese Gesetze das Verhältnis mit den Ehemännern und der Nachbarschaft regelten. „Ich besitze aus seiner Feder etwas sechzig Hefte mit Mahnpredigten, die er vor Frauen hielt. Denn er – Allah habe Wohlgefallen an ihm! – pflegte zu sagen: ‚Die Frauen fehlen in den Unterrichtszirkeln der Gelehrten, und es gibt keinen Ehemann, der seine Frauen belehrt!‘“ schreibt aš-Šaʿrānī. Aḥmad erzählte von sich selber, daß ihm schon als Schuljunge geweissagt worden sei, daß er in Kairo unter dem Beinamen „der Asket“ zu Ruhm kommen, zahllose Männer zu gottesfürchtigen Muslimen heranbilden, im Stadtviertel al-Maqs jenseits des großen Kanals eine Moschee bauen und deswegen mancherlei Anfeindungen erdulden werde; Allah aber werde die Feinde im Stich lassen!65 Und so geschah es dann auch. In al-Maqs, wohin man über die unweit des nachmaligen Anwesens al-Ġamrīs gelegene Kanalbrücke gelangte, gab es, wie al-Maqrīzī berichtet, ein erhöhtes Gelände, auf dem sich keine Bauwerke befanden. Die Anhänger Aḥmads trugen diesen Boden ab und errichteten dort eine Freitagsmoschee; zu diesem Zwecke rissen sie etliche Gebetshäuser in der unmittelbaren Umgebung nieder und benutzten die verwendbaren Teile. Während des Bauens kam es zu Zusammenstößen mit Kairoer Gelehrten, unter denen der uns schon bekannte Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī war, sowie der Rektor der al-ǦamālījaMedresse, einer 1330 eingeweihten Lehranstalt des hanafitischen Rechts und des Sufismus, die der mächtige Mamluke Muğultai hatte erbauen und mit weitläufigen Stiftungsländereien in Ägypten und Syrien ausstatten lassen. Doch schon als alMaqrīzī das Material für seine Topographie Kairos zusammentrug, war der Glanz dahin, den Muğultais Medresse verbreitet hatte; eine schlechte Verwaltung und die Verwüstung der Landgüter seien daran schuld, nur noch einige Nichtskönner, die sich den Titel eines Rechtsgelehrten anmaßten, seien dort tätig.66 Die Empörung des damaligen Rektors dieser im Niedergang befindlichen Lehranstalt über die neue Konkurrenz war nur zu verständlich. Der Asket Aḥmad obsiegte in der Auseinandersetzung, indem er den Leiter der einst berühmten Medresse beim Sultan anschwärzte. Im Gegensatz zu jenem Amtsträger hatte Aḥmad einen großen Anhang, der in Bezug auf ihn, den „Asketen“, einen, wie man damals sagte, „guten Glauben“ hegte.67 Dieser Aḥmad also nahm den in der Selbstkasteiung geübten, die Gottesfreundschaft begehrenden Muḥammad al-Ġamrī in die Schar seiner Zöglinge auf. Was dies im einzelnen bedeutet, werden wir später erfahren. Sobald Aḥmad davon überzeugt war, daß Muḥammad al-Ġamrī reif für die selbständige Bewältigung von Aufgaben sei, schickte er ihn nach al-Maḥalla al-Kubrā; dort sollte al-Ġamrī für die Sache des Asketen werben und diesem weitere Anhänger zuführen. Der ortsansässige Meister wollte das nicht dulden und zwang ihn, sich in einem anderen Dorf niederzulassen. Bald kehrte Muḥammad al-Ġamrī nach Kairo zurück. Aḥmad fand sich mit dem Mißerfolg allerdings nicht ab, bat Meister Madjan, einen alten Be-

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kannten al-Ġamrīs aus der Provinz Minūfīja,68 mit diesem nach al-Maḥalla al-Kubrā zu reisen. Meister Madjan gelang es, die Wogen zu glätten; freilich schweigen sich die Quellen über al-Ġamrīs Tätigkeit und deren Früchte aus. Wann genau Muḥammad al-Ġamrī den Entschluß faßte, seine eigene Moschee zu bauen, wissen wir ebenfalls nicht. Hatte dem „Asketen“ Aḥmad ein zottiger, staubbedeckter Gottesfreund die künftigen Taten vorausgesagt, so suchte al-Ġamrī „die Erlaubnis des Propheten“ höchstpersönlich für sein Vorhaben einzuholen: Einen für seine Gottesfreundschaft bekannten Ziegenhirten, der sich im Norden Kairos in der Nähe des Triumphtores aufzuhalten pflegte, bat al-Ġamrī um Auskunft, ob es genehm sei, daß man in der Gasse des Amīr al-Gujūš den Bau beginne. Der Hirte bedang sich einen Tag Wartezeit aus und brachte dann die erwünschte Einwilligung.69 Als al-Ġamrī Ende 1445 starb, war gerade erst der südliche Teil des Gebäudes fertiggestellt; in ihm befindet sich die Gebetsnische, und daher heißt es, daß al-Ġamrī selber dort einen Freitagsgottesdienst geleitet habe. Zur letzten Ruhe gebettet wurde er in al-Maḥalla al-Kubrā, nicht in seiner Kairoer Moschee, wie sich das Volk erzählt. Sein Sohn Abū lʿAbbās setzte das Werk fort; unter ihm wurde der Bau im Jahre 1494 vollendet, nachdem einer seiner Anhänger das Geld für ein Minarett gespendet hatte. Die vier „Häuser der Gottesfreunde“ Unter Abū l-ʿAbbās verbreitete sich rasch der Ruhm der Gemeinschaft. Ihm flossen reichliche Mittel zu, so daß er nach dem Zeugnis aš-Šaʿrānīs zahlreiche Moscheen in Kairo und Umgebung errichten ließ. Sultan Qaitbai bemühte sich um ein Treffen mit dem Gottesfreund; dieser aber verweigerte es ihm. Einer der Söhne Qaitbais suchte ihn einmal heimlich auf, und als dieser Sohn unter dem Herrschernamen an-Nāṣir 1496 den Thron bestiegen hatte, betonte Abū l-ʿAbbās, er, der Gottesfreund, habe jene Begegnung nicht absichtlich herbeigeführt.70 Denn der Gottesfreund ist niemals darauf erpicht, mit den Mächtigen zusammenzutreffen. Eher umgekehrt ist es: Sie müssen sich seiner Gewogenheit versichern; er nämlich ist vollkommen im Erkennen, und das bedeutet, daß er wenigstens ab und an in den von Allah bestimmten Lauf der Welt eingreifen kann. Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī wurde zu seinen Lebzeiten als der Vorsteher eines der vier einflußreichen Kairoer „Häuser der Gottesfreunde“ geachtet. Jedenfalls geht dies aus dem Wortlaut eines Briefes hervor, den aš-Šaʿrānī dem osmanischen Heeresrichter Muḥammad Šāh geschrieben haben will, als dieser einen Enkel des Abū l-ʿAbbās, einen gewissen Abū Bakr al-Ġamrī, ins Gefängnis gesperrt hatte – wir wissen nicht, warum. In ihrer Not habe sich die Familie al-Ġamrīs an aš-Šaʿrānī gewandt, da dieser mit den Inhabern jenes hohen Amtes, die den Titel „Scheich des Islams“ führten, auf freundschaftlichem Fuß verkehre. Aš-Šaʿrānī habe den Heeresrichter folgendes wissen lassen: „…Unser Herr Muḥammad Efendi – Allah möge sich ihm, uns und den Muslimen zuneigen! Amen!

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– weiß sehr wohl, daß vier zu den bedeutendsten Häusern der mächtigen Gottesfreunde und der Pole in Ägypten zählen. Das erste ist das Haus der Herren Banū lWafāʾ; zu deren Worten gehört: ‚Die Söhne der Derwische gleichen dem Ölbaum, der ganz und gar gut ist, der Stamm wie die Äste, und der stets gutes Öl hervorbringt; sie sind die Lichtspuren des Barmherzigen auf Erden. Wer sie geringschätzt, schätzt auch den Barmherzigen gering, und Allah bereitet ihm einen raschen Untergang. Doch wer ihnen beisteht, den beglückt Allah mit dem Paradies. Wer sie beschirmt, den beschirmt Allah, dem richtet er, was ihm zerbrach.‘ Das zweite Haus ist das des Sidi Muḥammad Šams ad-Dīn al-Ḥanafī; zu dessen Worten gehört: ‚Wenn die Söhne der Derwische zu Asche wurden, dann tritt nicht mit dem Fuß auf sie! Du würdest verbrennen, und es würde mit dir allzu rasch ein böses Ende nehmen!‘ Das dritte ist dasjenige des Sidi Madjan al-Ašmūnī; zu dessen Worten gehört: ‚Trenne nicht deine Verwandtschaftsbande mit den Söhnen der Derwische, denn damit würden auch die Bindungen an deine Meister der Gottesfreundschaft und der Erkenntnis zertrennt!‘ Das vierte ist dasjenige des Sidi Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī, des Großvaters dieses Mannes, den du gefangengesetzt hast; zu den Worten des Abū l-ʿAbbās gehört: ‚Das Fleisch der Söhne der Derwische ist vergiftet; wer ihnen Feindschaft erweist, der vernichtet sich in kürzester Zeit durch ein schnell wirkendes Gift!‘ Du hast dich einem schlimmen Verderben ausgesetzt, einer Krankheit, gegen die es sonst keine Medizin gibt.Wenn du meine Meinung hören willst: Verschaffe dir Linderung durch die einzig wirksame Medizin, indem du ihn freiläßt, seine Zuneigung zu gewinnen trachtest und so die Rettung vor dem Untergang erbeutest! Wir bitten Allah um Schutz und Sicherheit.“ Solche Worte verfehlten ihren Zweck nicht.71 Sidi Muḥammad al-Wafāʾ war einer der großen „Erkennenden“ Ägyptens gewesen. Obschon des Schreibens unkundig, soll er bereits als siebenjähriger Knabe verrätselte Poesie und Prosa gedichtet haben, die, so aš-Šaʿrānī, „bis zu dieser unserer Zeit“ niemand zu entschlüsseln vermochte. Seinen Namen al-Wafāʾ, das ist „die Nilflut“, soll er erhalten haben, weil er eines Tages, als der Fluß nicht zur üblichen Jahreszeit zu steigen begann und eine Dürre zu befürchten stand, an das Ufer trat und rief: „Komm hoch, mit Allahs Erlaubnis!“ und noch am selben Tag soll der Pegel um siebzehn Ellen nach oben geschnellt sein.72 – Was aš-Šaʿrānī in seinem Brief den Banū l-Wafāʾ in den Mund legt, ist eine Anspielung auf den Lichtvers des Korans (Sure 24, 35): Allahs Licht gleicht dem Leuchten einer Lampe, die von hellstem Olivenöl gespeist wird, das selber schon glänzt, noch ohne daß die Flamme es berührt hätte; dieses Licht steht für das Wissen, das im Herzen des Derwischs aufscheint. Es schließt die Kenntnis der Offenbarung und des von Allah gegebenen Gesetzes in sich, läßt diese Kenntnis aber weit hinter sich; denn es bewegt den Erkennenden dazu, das ganze Leben ihr entsprechend zu führen, und das heißt, in der Hingewandtheit zu Allah zu stehen, in der die Heilsbestimmtheit des Muslims die Erfüllung findet.73 Derselben Generation wie Muḥammad al-Ġamrī und Sidi

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Muḥammad al-Wafāʾ, den man auch das Siegel der Gottesfreunde nannte, gehört Šams ad-Dīn al-Ḥanafī (gest. 1443) an. Er war ein Schulgefährte Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānīs gewesen, hatte aber gleich al-Ġamrī einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Vielerlei erzählte man über die Wunder, die Allah durch seine Hand gewirkt hatte. Berühmt wurde er durch einen Streit mit dem Sultan an-Nāṣir Faraǧ; dieser erkrankte nach der Auseinandersetzung mit dem Gottesfreund schwer, und kein Arzt wußte ihn zu heilen. Der Zorn Šams ad-Dīn al-Ḥanafīs sei der Grund für das Leiden, erzählte man, und die Abgesandten an-Nāṣirs mußten den Gottesfreund lange bitten, ehe er sich bereitfand, den Herrscher von den Qualen zu erlösen. Er ließ ihm einen mit Olivenöl getränkten Brotlaib überbringen, nach dessen Verzehr der Sultan tatsächlich genas. „Sei nie wieder unhöflich, sonst reißen wir dir die Ohren ab!“ ließ al-Ḥanafī ihn warnen.74 Wie Muḥammad al-Ġamrī war Sidi Madjan al-Ašmūnī aus der Schülerschaft des „Asketen“ Aḥmad hervorgegangen. Beide hatten zunächst, als sie nach Kairo gekommen waren, durch Šams ad-Dīn al-Ḥanafī in die Welt der Gottesfreunde eingeführt werden wollen, waren dann aber von einem Gottestrunkenen auf den „Asketen“ verwiesen worden. Sidi Madjan al-Ašmūnī, so wußte man zu erzählen, half einst dem Sultan Ǧaqmaq (reg. 1438 – 1453) aus schwerer finanzieller Verlegenheit. Die Boten des Herrschers waren zu ihm gekommen, um sein Sinnen auf dessen Unterstützung zu richten; er entsprach diesem Begehren und ließ eine Säulenbasis auf die Zitadelle schleppen. Dort entdeckte man darin eine Erzader, die man gegen das für die Besoldung der Truppen so dringend benötigte Edelmetall verkaufen konnte.75 Von solcher Art waren die Männer des Wissens, denen der elfjährige aš-Šaʿrānī in der Stadt zu begegnen hoffte; dort würde er in ständigem Umgang mit ihnen leben. 1502, drei Jahre zuvor, so glaubt er sich zu erinnern, hatte er in seinem Dorf den berühmten Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī noch mit eigenen Augen gesehen. Diese Behauptung kann kaum stimmen; aš-Šaʿrānī schreibt sie wahrscheinlich nieder, um dem Leser eine spirituelle Verbindung zu dem großen Mann vorzutäuschen. Abū lʿAbbās al-Ġamrī starb nämlich schon im Herbst 1499.76 Warum sich aš-Šaʿrānī zu einer solchen Vorspiegelung falscher Tatsachen gedrängt fühlen konnte, werden wir noch erfahren. Als er 1505 in Kairo eintraf, nahm sich seiner ein gewisser Amīn adDīn an, der Imam der Moschee al-Ġamrīs, auch dieser ein Mann von nicht geringer Bedeutung, selbst in den großen politischen Affären der Zeit.

1.3 Eine spirituelle Topographie Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich vor dem Laden meines Lehrers, des Meisters ʿAlī, des Palmblattflechters, eine tiefe Scheu empfand, wann immer ich nach dessen Tod daran vorbeiging. Sobald ich das Geschäft erblickte, packte mich eine Ehrfurcht, wie man

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sie beim Betreten der erhabenen Moscheen empfindet. Ich habe gehört, daß Abū Bakr aš-Šiblī (gest. 945) ein Zittern überkam, wenn er am Laden al-Ǧunaids (gest. 910) vorüberging, in dem dieser Flaschen verkaufte; als er eines Tages – er war noch ein junger Mann – den Laden betrat, zerschmolz er fast vor tiefer Scheu. In der heutigen Zeit findet man nur noch selten Adepten, die sich so gegenüber ihrem Meister verhalten. – Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, besaß einen großen Krug, aus dem er jedem Bekümmerten zu trinken gab, indem er ihm sagte: „Trink in der Absicht, daß Allah den Kummer von dir nimmt!“ und augenblicklich schwand der Kummer. Da fragte ich ʿAlī eines Tages: „Worin liegt die besondere Kraft des Kruges?“ Er antwortete: „Jeden Tag kommen vierzig Männer Allahs zu ihm und trinken daraus.“ – Die spirituelle Kraft eines Gottesfreundes, der einen bestimmten Ort betreten hat oder über ein Stück Erde gewandert ist, bleibt dort nämlich sechs Monate lang haften, wie dies die „Herren der Herzen“ bezeugen. Wie verhält es sich dann erst mit dem Ort, den ein Gottesfreund Tag und Nacht zur Wohnung hatte? Dies ist genau das Gegenteil von den Häusern der Frevler und Übeltäter; du empfindest, daß sie dir Beklommenheit einflößen, ja daß weder Vertrautheit noch gar spirituelle Kraft in ihnen wohnt. – Ich hörte Sidi ʿAlī, den Palmblattflechter, sagen: „Ein Derwisch, der nicht den Unterschied zwischen der Seligkeit und der Verdammnis eines Ortes spürt, gleicht dem blöden Vieh.“ – Auch hörte ich ihn sagen: „Zu den Orten in Kairo, an denen die meisten Menschen eine spirituelle Kraft wahrnehmen, gehören die Grabkuppel des Imams aš-Šāfiʿī, das Grab des Ḏū n-Nūn al-Miṣrī, die Gräber der Herren der Wafāʾ-Gemeinschaft, die Moschee des Maḥmūd, die Klause des Sidi Madjan, die Moschee des al-Malik aẓẒāhir, die Moschee des Kommandanten von Kerak außerhalb des Ḥusainīja-Viertels.Von diesen Orten quillt Licht in Überfülle, weil zahlreiche Gottesmänner und Engel sie ständig aufsuchen. Wer zu diesen Stätten kommt, der befleißige sich deswegen äußerster Höflichkeit und Demut. Darüber hinaus gibt es Orte, deren Lichthaftigkeit nur die Besten zu erkennen vermögen; dies gilt für ein Grundstück der Straße gegenüber dem Basar der Buchhändler, und zwar wenn man in Richtung Bāb az-Zuhūma geht; desgleichen für das Grundstück, das innerhalb des Bāb Zuwaila der Moschee al-Fākihānīs gegenüberliegt; desgleichen für das Grundstück gegenüber dem Waschplatz der Moschee des Maidan – auf dem heute die Häuser des Meisters Sulaimān al-Ḫuḍairī stehen – und für das Grundstück gegenüber der Grünen Moschee.“ Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!77

*** Die Erfahrbarkeit des Heils – Der Imam aš-Šāfiʿī – Der Sufi Ḏū n-Nūn al-Miṣrī – Weitere krafthaltige Orte – Die Wandelbarkeit der spirituellen Topographie – Der Einfluß der großen Politik – Die Umstrittenheit des ungelehrten Wissens

Die Erfahrbarkeit des Heils Ibn Saʿīd fühlte sich, als er die ʿAmr-Moschee in Fustat besuchte, abgestoßen von dem heruntergekommenen Zustand des Gebäudes; zugleich aber nahm er wahr, wie in dessen Innerem die Empfindung der Vertrautheit, die Ahnung der spirituellen Nähe der heiligmäßigen Gefährten Mohammeds aufkeimten und schließlich stärker wurden als das Entsetzen über die respektlose Einbeziehung des Bauwerkes in das Alltagsleben: Der Rang der islamischen Metropole Kairo liegt nicht in der Zusammenballung politischer und militärischer Macht begründet, nicht in den Lehran-

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stalten, die das Wissen von Glaube und Gesetz pflegen und verbreiten, sondern darin, daß sie Stätten besitzt, an denen dieses Wissen in einer den Gläubigen überwältigenden Dichte dergestalt gegenwärtig ist, daß der geschichtliche Abstand zu der verklärten Epoche des Propheten schrumpft, vielleicht sogar verschwindet. Den Prophetengenossen war die Heilserfüllung erfahrbar – und sie ist es auch noch den Spätgeborenen: Sie müssen sich an jene Stätten begeben. In aš-Šaʿrānīs Zeit, in der sich, wie wir hörten, die Gelehrsamkeit nicht im überlieferten, seit vielen Jahrhunderten in Form schriftlicher Bezeugung weitergereichten Wissen erschöpft, sondern durch die unmittelbar dem Verborgenen entnommenen Einsichten ergänzt wird, erscheint neben der Topographie der Wissensvermittlung, deren wesentliche Größen die Medressen und die Moscheen mit Lehrbetrieb sind, eine andere, nur in Teilen mit der ersteren deckungsgleiche, die man die spirituelle nennen kann. Wir wollen nach den Anweisungen, die Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, seinem Adepten erteilte, diese spirituelle Topographie ein wenig erkunden.78 Der Imam aš-Šāfiʿī Zuerst führt er uns zu einem Kuppelbau, in dessen Innerem sich der Schrein mit den sterblichen Überresten aš-Šāfiʿīs befindet. Diese Pilgerstätte liegt auf dem Friedhof der Banū Zuhra, des quraišitischen Klans der Großmutter des Propheten.79 Ein Zuhrite war auch aš-Šāfiʿī gewesen, der große Kenner der Scharia und des ḥadīṯ. 80 Viele namhafte Gelehrte bettete man in seiner unmittelbaren Nähe zur Ruhe, aber die Segenskraft aš-Šāfiʿīs überstrahlt sie alle. Und dies ist, was der fromme Pilger weiß, wenn er sich dieser Stätte nähert: Aš-Šāfiʿī wurde im Jahre 150 der Hedschra (begann am 6. Februar 767) geboren, eben in dem Jahr, in welchem Abū Ḥanīfa starb. Mit dem Hinweis auf dieses zeitliche Zusammentreffen ist zugleich ausgesagt, daß dank dem Lebenswerk aš-Šāfiʿīs die hanafitische Rechtswissenschaft, die sich nicht auf der Prophetenüberlieferung aufbaute, ihre Gültigkeit verlor. Denn aš-Šāfiʿī stammte zwar aus Gaza, aber er verbrachte seine Jugend in Mekka, studierte dann bei Mālik b. Anas (gest. 795) in Medina, am Grab des Propheten, das ḥadīṯ in allen Einzelheiten und war demzufolge in der Lage, die Wissenschaft von der Scharia, dem Gesetz, das das Leben des Muslims in der das Heil verbürgenden Hingewandtheit zu Allah hält, in allen ihren Einzelheiten auf das vorbildliche, vom Schöpfer inspirierte Handeln und Reden des Propheten zurückzuführen. Als ašŠāfiʿī in den Irak kam, erwies ihm Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 855), der berühmte Vorkämpfer des Sunnitentums, alle Ehre und nannte ihn die Sonne der Rechtleitung und den Gelehrten, der das ḥadīṯ des Gottesgesandten zum Triumph führte. „Noch ehe ich volljährig war“, so soll aš-Šāfiʿī erzählt haben, „erschien mir im Traum der Gottesgesandte und spie mir in den Mund, und es erschien mir ʿAlī b. abī Ṭālib, der aus dem weiten Ärmel eine Waage hervorzog und mir überreichte. Ich wollte diesen

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Traum gedeutet haben, und man sagte mir: ‚Du wirst unter den Menschen wie eine Waage sein, denn durch deine Worte werden sie das Wahre vom Falschen trennen.‘“ Von 804 bis zu seinem Tod im Jahre 820 lebte und wirkte aš-Šāfiʿī, abgesehen von zwei kürzeren Unterbrechungen, in Ägypten. Als er in Fustat nach schwerer Krankheit gestorben war, vollzog sein Schüler al-Muzanī an ihm die Totenwaschung. Im Traum fragte al-Muzanī den Propheten, wie es um die Sache des Islams stehe, die ohne die Dienste aš-Šāfiʿīs doch kaum Bestand haben werde; Mohammed entgegnete, er habe Allah gebeten, von aš-Šāfiʿī am Jüngsten Tag keinerlei Rechenschaft zu verlangen: Aš-Šāfiʿīs Arbeit ist die unentbehrliche Erschließung der prophetischen Botschaft,81 und wer sich an die Ergebnisse dieser Arbeit hält, der wird im Gericht bestehen. – Ar-Rabīʿ b. Sulaimān, einem anderen Meisterschüler aš-Šāfiʿīs, versicherte der Verstorbene im Traum, ihm habe Allah an einem Fuß des Thrones, von dem herab er die Welt regiert, eine Kanzel aufstellen lassen und ihn geheißen, den Engeln zu predigen. – Einen Thronhimmel, wie er den Sultan bei festlichen Umzügen beschirmt, ahmt die Grabkuppel nach, die man für aš-Šāfiʿī baut; ein wahres Meer an Wissen entspringt unter ihr: „Schau hin, dann siehst du, wie erhaben jene Stätte ist, wie das Licht über ihr strahlend emporsteigt, wie tausend Grüße des Barmherzigen zu ihr gesandt werden…“ Am Beginn eines jeden Jahrhunderts schickt Allah einen Erneuerer der Religion, und aš-Šāfiʿī war nach dem Bekunden Aḥmad b. Ḥanbals der Erneuerer des dritten Jahrhunderts nach der Hedschra (begann am 30. Juli 816). Freigebigkeit trotz Armut, peinlich genaue Erfüllung der Riten gerade auch in der Einsamkeit, wahre Worte selbst denen gegenüber, von denen er etwas erhoffte oder die er fürchten mußte, das waren seine Maximen. Unentwegt, stets auch die Nacht hindurch, rezitierte er den Koran, jeden Monat dreißigmal, abgesehen von den Versen, die er während der rituellen Gebete hersagte. Das Bittgebet, das man an seinem Grab vorträgt, wird erhört; dies sei die einhellige Meinung der Kenner der Geschichte. Aš-Šāfiʿī zur Seite ruht Ibn ʿAbd al-Ḥakam (gest. 829), sein zuverlässiger Begleiter in den Jahren des Wirkens in Ägypten, sowie dessen Sohn Muḥammad (gest. 882), ein namhafter Kenner der Scharia und der Prophetenüberlieferung. Zu Füßen aš-Šāfiʿīs liegt hinter einem Gitterfenster der Sarg Naǧm ad-Dīn al-Ḫubūšānīs (gest. 1191),82 eines Streiters für den wahren Glauben und wider alle Abweichungen von jener Theologie, die al-Ašʿarī (gest. 935) als die wahre sunnitische dargelegt hatte. Immer wenn Saladin zu einem Feldzug aufbrach, bat er al-Ḫubūšānī, Allah um den Sieg anzuflehen, und Allah erhörte ihn. In aš-Šāfiʿīs Grabbau bestattete man außerdem Saladins Nachfolger al-Malik al-ʿAzīz (reg. 1193 – 1198) und dessen Mutter.83 Man kannte in der Umgebung zahlreiche weitere Stätten, an denen Gelehrte und Überlieferer ruhen, deren Segenswirkung Bittgebeten zum Erfolg verhilft.84

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Der Sufi Ḏū n-Nūn al-Miṣrī Sidi ʿAlī geleitet uns jetzt an einen anderen Ort. Ḏū n-Nūn al-Miṣrī (gest. 859) war zu seinen Lebzeiten mit außerordentlicher Heilkraft begnadet. Einst sah er, wie zwei Männer, von denen einer ein Bediensteter des Herrschers war, aufeinander einprügelten, wobei einem ein Zahn ausgeschlagen wurde; Ḏū n-Nūn ließ sich den Zahn geben, befeuchtete ihn mit seinem Speichel, setzte ihn dem Verletzten wieder ein, und auf der Stelle war er wieder festgewachsen – „mit Allahs Erlaubnis“. Als Ḏū nNūn in Gize starb, legte man den Leichnam in einen Wagen, um ihn ans andere Nilufer zu bringen; man fürchtete, die Brücke werde dem Andrang der Massen, die sich dem Leichenzug anschließen wollten, nicht standhalten. Wie schon bei der Beerdigung von al-Muzanī, dem Schüler aš-Šāfiʿīs, gaben auch Ḏū n-Nūn, als er auf der östlichen Seite des Flusses zu Grabe getragen wurde, grüne Vögel das Geleit; ein Dichter schilderte die Szenerie in Versen und hielt diese Vögel für Boten Allahs.85 Über den Tod hinaus, ja dann erst in aller Fülle, entfaltete sich der Segen, der von Ḏū n-Nūn ausströmt. An seinem Grab findet jedes Bittgebet eine gute Antwort, und es ist eine oft bestätigte Tatsache, daß ein wenig Erde, von jenem Orte genommen, bei der Erfüllung vieler Bedürfnisse hilfreich ist. Kranken bringe man Erde im Gewicht eines Dirhams86 oder etwas mehr, flehe Allah an und gelobe, daß man, sollte die Heilung eintreten, die gleiche Menge an Kampfer, Moschus oder einem anderen wohlriechenden Stoff zurückgeben werde; manche banden die Erde dem Kranken auf die schmerzende Stelle. – Sechs Nachlässigkeiten haben nach den Worten Ḏū nNūns die Verderbnis der Zeit verursacht: Die Absicht, für ein gutes Jenseits zu arbeiten, ist schwach geworden; der Leib der Menschen wurde zur Geisel ihrer Lüste; ihre Hoffnung ist angesichts der Kürze ihrer Lebenszeit viel zu groß; sie wollen lieber den Menschen als Allah gefallen; sie folgen ihren eigenen törichten Eingebungen und kümmern sich nicht um das Vorbild des Propheten; sie benützen die wenigen Fehltritte der heiligmäßigen Altvorderen als Vorwand, um die zahlreichen eigenen Sünden zu rechtfertigen. – In Ḏū n-Nūns Grabbau wurde auch Abū ʿAlī arRūḏbārī (gest. 905)87 bestattet, ein Mann, der das Wissen von der Scharia und vom verborgenen Grund des Daseienden trefflich zu vereinen verstand. Eine Reihe weiterer Gottesfreunde harren dort der Auferstehung, unter ihnen ein gewisser Mūsā al-Andalusī, der sich zur Zeit des fatimidischen Heerführers Badr al-Ǧamālī erdreistet hatte, ein Lobgedicht auf ʿĀʾiša, die den Schiiten verhaßte Lieblingsfrau des Propheten, in Umlauf zu setzen. Badr al-Ǧamālī hatte ihn deswegen nach Gize verbannt, ließ sich dann aber von Mūsās ergreifendem Koranvortrag erweichen und gestattete ihm die Rückkehr.88

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Weitere krafthaltige Orte Auf seiner Wanderung durch die spirituelle Topographie Kairos kommt Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, jetzt mit uns in das 15. Jahrhundert, zum Mausoleum des Sidi Muḥammad al-Wafāʾ. Die Erinnerung an seine zahlreichen Huldwunder war noch frisch, von seiner Gottestrunkenheit erzählte man sich Erstaunliches; „schließlich wurde er berühmt, er fand Anhänger, Helfer, die den Namen ihrer Gemeinschaft von ihm herleiten“. Etliche von ihnen, wie auch einige enge Verwandte Sidi Muḥammads, fanden ganz in seiner Nähe ihre letzte Ruhe.89 – Die Moschee des Maḥmūd, der nächste Ort unseres Rundganges, macht uns abermals auf die lange Zeiten überdauernden Wurzeln einer Kultstätte aufmerksam, die im 13. Jahrhundert kräftig zu sprießen begannen: Der Stifter war ein Offizier im Heer des abbasidischen Statthalters as-Sarī b. al-Ḥakam (gest. 820).90 Eines Tages trat diesem ein Mann in den Weg und machte ihm zornige Vorhaltungen wegen seiner Mißherrschaft. AsSarī wandte sich zur Seite, sein Blick fiel auf jenen Maḥmūd, ihm erteilte er den Befehl, den lästigen Mahner auf der Stelle zu enthaupten. So geschah es. Doch als Maḥmūd am Abend seine Tat bedachte, ergriff ihn bittere Reue. Wie hatte er jenen Unbekannten, der doch nichts verbrochen, sondern einzig und allein den Statthalter gewarnt hatte, so unbedacht töten können! Er schwor, unverzüglich den Kriegsdienst zu quittieren. Am nächsten Tag bat er as-Sarī um Entlassung, er tat Buße, verlegte sich ganz auf die Gottesverehrung und ließ sich die erwähnte Moschee bauen, in der er fortan weilte. Ab dem 13. Jahrhundert amtierte dort ein Freitagsprediger; ein bedeutender Gelehrter, Šihāb ad-Dīn al-Ḥusain b. Muḥammad (gest. 1257),91 Professor an der Nāṣirīja-Medresse in Fustat und Botschafter des Bagdader Kalifen, nahm als erster diese Aufgabe wahr.92 Was die Aufmerksamkeit des Palmblattflechters und seinesgleichen auf diesen Ort lenkte, war die Geschichte der Umkehr jenes Maḥmūd: Jäh war die im Verborgenen herrschende Ordnung im Offenkundigen manifest geworden. – Bei der Klause des Sidi Madjan kehren wir in die unmittelbare Umgebung und in die Epoche aš-Šaʿrānīs zurück. „Genährt“ wurde Sidi Madjan, der aus Ašmūn am westlichen, bei Rosette in das Mittelmeer mündenden Nilarm stammte, von Aḥmad, dem „Asketen“, und „seine Entwöhnung ließ sich Meister (Šams ad-Dīn) Muḥammad al-Ḥanafī“ angelegen sein. Denn ihm hatte sich Sidi Madjan nach dem Tode Aḥmads angeschlossen, und von ihm erbat er sich nach längerer Zeit die Erlaubnis, Syrien aufzusuchen, um mit den dortigen Gottesfreunden Bekanntschaft zu schließen. So lautet eine Überlieferung. Nach einer anderen ebenso glaubhaften erlangte er seine Entwöhnung – um das Wort aufzugreifen, das aš-Šaʿrānī verwendet – schon bei Aḥmad. Klause und Moschee Sidi Madjans befanden sich unweit nördlich des Anwesens, das al-Ġamrī gegründet hatte, und zwar am Šaʿrīja-Tor,93 das seinen Namen von einem Berberstamm hat, der mit dem fatimidischen Feldherrn Ǧauhar nach Ägypten gekommen war. Auch Sidi Madjan nahm für sich eine magrebinische Herkunft in Anspruch, desgleichen aš-

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Šaʿrānī, wie wir noch erfahren werden. Über Sidi Madjan werden mancherlei Wundergeschichten erzählt. Als das Minarett seiner Klause fertiggestellt war, stand es so weit aus dem Lot, daß man befürchtete, es könnte einstürzen; der Gottesfreund trat aus seiner Klause und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, und siehe, es richtete sich auf und blieb so „bis auf den heutigen Tag“. Sein aufsehenerregendstes Huldwunder war dieses: Jūsuf, ein mächtiger Beamter des Sultans, vergriff sich am Vermögen eines Kaufmanns aus dem Hedschas. Dieser kehrte in seine Heimat zurück und bat seinen dortigen spirituellen Erzieher, er möge sich in der Angelegenheit an Allah wenden. Jener tat es und träumte in der folgenden Nacht, der Bösewicht Jūsuf sei in einen eisernen Käfig gesperrt worden, an dem außen die Aufschrift angebracht war: „Madjans Schuldner.“ Wer dieser Madjan denn sei, fragte der Erzieher am nächsten Morgen den Kaufmann. „Ein Meister in Kairo, an den Jūsuf glaubt!“ Dann möge er selber nach Kairo zurückreisen, riet dem Kaufmann der spirituelle Führer, der nun wußte, daß er gegen den Missetäter nichts werde ausrichten können. In dieser Not erbot sich ein Derwisch, nach Kairo zu reisen, die Bindungen zwischen Jūsuf und jenem Madjan zu lösen und sie zur Gänze dem hedschasischen Gottesfreund zu überbringen. Der Derwisch verkaufte seine Habe, verbarg den Erlös, einen Geldbeutel mit Münzen, im Turban und begab sich auf die Reise, deren letztes Stück er zu Schiff auf dem Nil zurücklegte. Unversehens machte er mit dem Kopf eine heftige Bewegung, der Turban mit dem Geld fiel ins Wasser. Als der Derwisch vor Sidi Madjan trat, erzählte er ihm von dem Verlust. Da schlug Sidi Madjan eine Ecke seines Gebetsteppichs zurück und zog unter ihm den Geldbeutel hervor, aus dem noch das Nilwasser tropfte.94 Die beiden anderen Orte, deren spirituelle Kraft laut Sidi ʿAlī, dem Palmblattflechter, jedermann bekannt ist, finden sich unweit des ebengenannten im Ḥusainīja-Viertel, das sich nach Norden jenseits der Stadtmauer erstreckt, im Westen durch den großen Kanal begrenzt. Die Baibars-Moschee ist das mächtigste Bauwerk in dieser Gegend Kairos. Der Sultan Baibars (reg. 1260 – 1277), der 1260 am Goliathsquell in Palästina den Mongolen Einhalt geboten und Ägypten vor dem Schicksal des Irak bewahrt hatte, äußerte im Januar 1267 den Wunsch, man möge außerhalb der Mauern Kairos ein geeignetes Gelände für den Bau einer Großen Moschee ausfindig machen. Man riet ihm, den weitläufigen Ruheplatz der sultanischen Kamelherde zu wählen, was Baibars freilich ablehnte; für den frommen Zweck sei dieses Grundstück nicht zu verwenden. Stattdessen stellte der Sultan seinen Poloplatz zur Verfügung, legte selber die Maße des Bauwerkes fest und überführte die angrenzenden Grundstücke in eine Stiftung zum Unterhalt der neuen Moschee. Deren Tor sollte demjenigen der von ihm drei Jahre zuvor fertiggestellten Medresse gleichen, die Kuppel über der Gebetsnische derjenigen, die das Grabmal aš-Šāfiʿīs krönte. In alle Länder, die ihm untertan waren, schickte er den Befehl, man möge Marmorsäulen nach Kairo schaffen; Kamele, Büffel, Kühe und andere Lasttiere

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wurden zusammengetrieben, Holz und Eisen für das Dach und die Tore von überallher besorgt. Am selben Tag noch, als er die Befehle erteilt hatte, suchte der Sultan die Klause eines Gottesfreundes auf, des Meisters al-Ḫaḍir, an den er glaubte, begab sich dann in seine Medresse, setzte sich unter die Koranleser und Rechtsgelehrten, erklärte feierlich, daß er das Bauwerk Allah übergebe, deswegen auch nicht darin bestattet sein wolle und daß die Bestimmungen der Stiftungen, die für die Medresse gälten, niemals verändert werden dürften. Dann ritt er auf die Festung zurück und ernannte etliche Beauftragte, die den Bau der Moschee leiten sollten. Als er über ein Jahr später Jaffa eroberte, ließ er dort die Türme und die Zitadelle schleifen, belud mit dem Holz und den Marmorplatten ein Schiff und befahl, in seiner neuen Moschee die Gebetsnische und die maqṣūra aus diesem Material zu fertigen. Im September 1268 kehrte Baibars von diesem Feldzug, auf dem er auch Tripolis und Antiochien in Besitz genommen hatte, nach Kairo zurück; voller Ungeduld nahm er zur Kenntnis, daß das Bauwerk nicht fertiggestellt war. Fast ein ganzes Jahr mußte er noch auf das Ende der Arbeiten an seiner Moschee warten, deren Schönheit ihn aufs äußerste entzückte.95 Noch weiter außerhalb, in unmittelbarer Nähe des Kanals, lag die Moschee des Kommandanten von Kerak, eines Mannes mit Namen Ǧamāl ad-Dīn Aqūš, der lange Zeit für den Sultan in Kairo – es war an-Nāṣir b. Qalāʾūn, der mit Unterbrechungen von 1294 bis 1340 regierte – wichtige Statthalterschaften, unter ihnen eben Kerak, innehatte, 1334 aber in Ungnade fiel und bis 1336 in Alexandrien im Gefängnis schmachtete, ehe ihn der Tod erlöste. Unweit der Stadt hatte Aqūš eine Einsiedelei besessen, in der er sich öfters für einige Tage gegen jedermann abschloß, um dann, demütig zu Fuß gehend, zurückzukehren. Die Quellen rühmen seine Freigebigkeit, berichten aber vor allem von seiner Unbeherrschtheit und Grausamkeit. Nach alMaqrīzī war die Moschee des Kommandanten von Kerak in den Wirren am Beginn des 15. Jahrhunderts zerstört worden,96 so daß rätselhaft bleibt, weshalb der Palmblattflechter gerade sie zu den heiligsten Orten Kairos rechnet. Die Wandelbarkeit der spirituellen Topographie Genauso wenig können wir uns die Heiligkeit und Krafthaltigkeit der Orte erklären, die „nur den Besten bekannt“ sind. Ganz unterschiedlich muß die spirituelle Topographie Kairos für den einzelnen Muslim ausgesehen haben, im übrigen ständiger Veränderung unterworfen. Der Palmblattflechter war vermutlich vorzugsweise im Norden Kairos tätig, und darum nennt er – neben den allgemeine Verehrung genießenden Stätten wie dem Mausoleum aš-Šāfiʿīs – im Norden gelegene Orte, von deren segensreichen Eigenschaften jedermann wisse. In einem vom Rechtsgelehrten und Historiker as-Saḫāwī (gest. 1497) geschriebenen Führer durch die spirituelle Topographie Kairos werden andere hervorgehoben: Es gebe zahl-

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reiche Orte, an denen, wie vielfach erprobt sei, die Gebete erhört würden. Es seien dies das Grab der Saijida Nafīsa, einer Urenkelin al-Ḥasan b. ʿAlīs, deren Vater, wie die übrigen Hasaniten, durch den abbasidischen Kalifen al-Manṣūr (reg. 754– 775) verfolgt wurde; die Stelle, an der Josefs Gefängnis gewesen war; der Gebetsplatz des Mose; eine Kammer beim Gebetsplatz auf dem großen Friedhof.97 Die Zahl der Gräber verehrungswürdiger Nachkommen des Propheten oder seiner engeren Verwandten sowie seiner Gefährten konnte überdies steigen, wenn sich jemand der Angelegenheit annahm. Da gab es, wie as-Saḫawī berichtet, einen schwarzen Sklaven, Meister Mubārak genannt oder auch Abū ʿAlī at-Takrūrī, von Beruf Teigkneter und meist an den Backöfen beim Bāb al-Lūq beschäftigt. Als er alt und schwach wurde, suchte er sich einen Platz auf dem Friedhof, wo er den Rest seiner Lebensfrist verbringen wollte. Bei der dortigen Moschee erhob sich ein Schutthügel; Abū ʿAlī beschloß, ihn abzutragen – und Grabstätten zu errichten. Wann immer er eine Marmortafel entdeckte, nahm er sie an sich, um sie auf eines der von ihm aufgeschütteten Gräber zu stellen. Aus einem verwüsteten Mausoleum, in dem mehrere Nachkommen des Propheten beerdigt worden waren, unter ihnen eine Frau, die man die ältere Fāṭima genannt hatte, und eine andere, die jüngere Fāṭima, entwendete er die Tafeln und benutzte sie in der geschilderten Weise. Dann meißelte er auf Marmorplatten Phantasienamen ein, zum Beispiel Šukr, d. h. der Dank; in einem feierlichen Zug wurde der vermeintliche Tote auf den Friedhof geleitet; dies soll unter dem Sultanat des Barsbai (reg. 1422– 1437) geschehen sein. Doch war der Skandal damit noch nicht zu Ende. Der Futtermeister des Marschalls und späteren Sultans Ǧaqmaq (reg. 1438 – 1453) unterstützte Abū ʿAlī bei seinem Treiben. Es wurde über jenem Šukr ein Grabbau errichtet. Klangvolle Namen sollten die Anziehungskraft des neuen Heiligtums verstärken; selbst ʿAmr b. al-ʿĀṣ (gest. 663), den Eroberer Ägyptens, und manche Prophetengefährten brachte man mit dem Ort in Verbindung, obwohl, wie sich as-Saḫāwī ereifert, kein Geschichtswerk und kein Pilgerführer entsprechende Hinweise enthalten. Trotzdem „wurden die Menschen nicht müde, das von Abū ʿAlī Mubārak at-Takrūrī angelegte Mausoleum zu besuchen, bis dieser… im Jahre 1467 nach einem langen Leben starb und auf diesem Friedhof beerdigt wurde“.98 Häufiger wohl als solch eine Schaffung einer Pilgerstätte durch mehr oder minder frommen Betrug war die treuherzige Verwechslung von Namen oder die legendenhafte Verknüpfung eines Ortes mit der Vita eines großen Gottesfreundes, der Ägypten vielleicht nie betreten hatte. Da gab es den „Platz des Abū Turāb“, an dem eine in fatimidischer Zeit erbaute Moschee stand. Das einfache Volk glaubte, darin befinde sich das Grab des Abū Turāb an-Naḫšabī, eines iranischen Gottesfreundes, von dem die seriöse Überlieferung berichtet, er sei im Jahre 859 auf dem Weg nach Mekka von Raubtieren gerissen worden.99 Das Gelände der Abū TurābMoschee war nach der Kenntnis as-Saḫāwīs lange Zeit mit Schutthaufen bedeckt,

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ehe jemand auf den Gedanken verfiel, dort ein Haus zu bauen, und beim Ausschachten auf die fatimidischen Reste stieß. Man legte das Bauwerk frei und benutzte es wieder als einen Ort des Gebets, zu dem man zehn Stufen hinabsteigen mußte. Weil rundherum Sand und Schutt lagen, nannte man den Andachtsort „den mit der Erde“, arabisch Abū Turāb, was die Leute dann als den Namen eines dort bestatteten Mannes deuteten und mit jenem Iraner in Verbindung brachten, der mehr als ein Jahrhundert vor dem Einmarsch der Fatimiden in Ägypten ganz woanders das Opfer wilder Tiere geworden war.100 Der Einfluß der großen Politik Nicht immer ist schiere Unkenntnis der Hintergrund unrechtmäßiger Inanspruchnahme der Segenskraft ruhmreicher Gottesfreunde; auch die große Politik ist manchmal im Spiel. Da gab es das Mausoleum eines gewissen Zain ad-Dīn Jūsuf al-Qurašī, der seinen Stammbaum über Umaija, den Ahnherrn der Omaijaden, bis an den Anfang der Ismael-Araber zurückverfolgen konnte. Er hatte sich in Kairo niedergelassen, wo er im Jahre 1298 verstorben war. Auf der Suche nach Wissen war er viel umhergezogen; in ernstem Studium und unter strengem Verzicht auf alle Widersetzlichkeit gegen Allah, nach der es die ichsüchtige Seele zu verlangen pflegt, hatte er sich eine vollkommene Kenntnis der spirituellen Tiefe des Islams angeeignet. Wie dieser Zain ad-Dīn nach Ägypten kam, entnahm as-Saḫāwī einer ausführlichen Schilderung des Geschichtsschreibers al-Maqrīzī, der das Mausoleum als die ʿAdawī-Klause bezeichnet, benannt nach einem gewissen ʿAdī b. Musāfir (gest. 1161), mit dem jener Zain ad-Dīn in der Tat verwandt war. ʿAdī b. Musāfir hatte in den Hakkari-Bergen gelebt, die seinerzeit von Mossul aus verwaltet wurden. Ein wahrer Gottesfreund war jener ʿAdī gewesen. Ihm waren die Kurden zugeströmt, begierig nach seiner spirituellen Führerschaft und der Unterweisung in der Kunst, den Pfad der Gottergebenheit zu wandern. ʿAdī hatte einen Bruder namens Ṣaḫr gehabt, der ihn überlebte und seine Stellung erbte. Dessen Nachfahre ʿIzz ad-Dīn geriet unter dem Sultan an-Nāṣir b. Qalāʾūn in den Verdacht, bei Kerak, östlich des Toten Meeres, Kurden um sich zu scharen und einen Aufstand vorzubereiten. Der Sultan zögerte nicht, die Derwische der Kairoer ʿAdawī-Klause festzunehmen. Vielleicht steckten sie mit jenem ʿIzz ad-Dīn unter einer Decke. As-Saḫāwī versichert mit vollem Recht, der Gottesfreund ʿAdī b. Musāfir sei keineswegs in Kairo bestattet worden; die dortige Klause sei vielmehr ein Ort, an dem einige Nachkommen Ṣaḫrs ruhten; ʿAdī habe ohnehin, wie man wisse, keine Frau gehabt. Der Rang dieses ʿAdawī-Mausoleums rührte aber vor allem daher, daß es die Grabstätte der Kairoer Nachfahren des ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī (gest. 1166) war,101 eines der Gottesfreunde, die in der islamischen Geschichte eine besonders tiefe Spur hinterließen. Hatte al-

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Ǧīlānīs Ruhm dazu herhalten müssen, hochverräterische Machenschaften zu bemänteln? Die spirituelle Topographie Kairos hat, wie diese Beispiele lehren, keine starren Konturen. Sie wandelt sich mit den Menschen, ihren Bestrebungen und Vorlieben, und sie hat mit der Politik, mit der Ausübung von Macht, der Sicherung und dem Untergraben von Herrschaft zu tun. As-Saḫāwī, ein Parteigänger des Gelehrtenstandes und Schüler des berühmten Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalanī, dem er eine ausführliche Lebensbeschreibung widmete,102 breitet in seinem Buch die Skandale – etwa um jenen Abū ʿAlī oder um die ʿAdawī-Erben und ihre Gefolgsleute – mit einigem Vergnügen aus. Ihm mißfiel jene Art von Verehrung heiligmäßiger Männer, desgleichen die Gedankenwelt, die dahinter stand. Denn sie wurde nicht von den Gelehrten beherrscht und kontrolliert, die doch über Jahrhunderte ein ausgeklügeltes Verfahren der Weitergabe und Auslegung des heilswichtigen Wissens entwickelt hatten. Wie vorhin angedeutet, wurde den Gelehrten das Monopol der Vermittlung dieses Wissens spätestens seit dem 13. Jahrhundert streitig gemacht. Der Brauch des öffentlichen Tradierens war das – einige wenige Gelehrte begünstigende – Indiz für das Schwinden der gesellschaftlichen und politischen Vormacht der Schariakenner. Die Gottesfreundschaft und die Segenskräfte, die von den toten Prophetengefährten und anderen heiligmäßigen Verstorbenen ausstrahlen sollten, bedurften nicht der sorgsam gehüteten, peinlich genau wiedergegebenen und mit Erläuterungen versehenen Aussage. Allahs Rede, die im Koran wortwörtlich, im ḥadīṯ in einer durch Mohammed auf göttliche Inspiration hin geschaffenen Form vorliegt, ist eine der Erscheinungsarten der göttlichen Fügung, die allem diesseitigen Sein zugrunde liegt, wenn dies auch dem ungeschulten Blick vielfach kaum erkennbar ist.Was sich in der Gestalt der Gottesfreunde oder der Segenskraft der heiligen Orte manifestiert, sind andere, „unwissenschaftliche“ Erscheinungsformen eben dieser Fügung. Nicht, daß as-Saḫāwī diese Vorstellungen rundweg abgelehnt hätte. Der seit langem ablaufenden Entwicklung stemmte er sich nicht entgegen – aber es war ihm klar, daß die Gelehrten nur dann ihren Vorrang unter den Menschen würden behaupten können, wenn sie jene anderen, „unwissenschaftlichen“ Erscheinungsformen kanalisieren und beherrschen lernten! Die Umstrittenheit des ungelehrten Wissens Der Streit um diesen wichtigen Gegenstand wurde nicht selten in Erörterungen ausgefochten, deren Thematik uns auf den ersten Blick seltsam, wenn nicht abwegig anmutet. As-Saḫāwī griff in ihn unter anderem mit einer gelehrten Abhandlung über die Frage ein, was die Formel „Allah spreche zu ihm gewandt Gebete und entbiete ihm den Friedensgruß!“ meine, die ein Muslim der Erwähnung des Propheten Mohammed anschließen soll. Was bedeutet es, daß in Sure 33, Vers 56, gesagt

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wird: „Allah und seine Engel sprechen Gebete zum Propheten hingewandt. Ihr Gläubigen, sprecht auch ihr zu ihm hingewandt Gebete und entbietet ihm geziemend den Friedensgruß“? Die Theologen und die Kenner des Ritualrechts spürten, daß etwas Anstößiges in dieser Aussage liegen könne – der eine Schöpfer, dessen Sein dem der Geschöpfe unendlich überlegen ist, sollte sich einem dieser Geschöpfe in einer Weise zuwenden, die von Demut gekennzeichnet ist? Denn der Vollzug der Riten, wie er den Muslimen vorgeschrieben wird, veranschaulicht die Unterwerfung des Knechts unter seinen Herrn! „Beten“ könne in dem Koranvers nicht die übliche ritualrechtliche Bedeutung haben. Dieses Argument war der einfachste Ausweg aus der Schwierigkeit. Aber was war dann der Sinn des Wortes? Etwa eine andere Art von Begrüßung? Nein, unter den Vermutungen der Gelehrten der Vergangenheit überzeugt as-Saḫāwī allein diejenige, die das Gebet Allahs in Richtung auf den Propheten als eine Art von Verherrlichung verstehen will: Der Prophet Mohammed ist seinem Range nach allen Gläubigen weit überlegen. Wenn es in derselben Sure, und zwar im 43. Vers, heißt, Allah spreche zusammen mit den Engeln Gebete „zu euch gewandt“, dann wird, um jegliches Mißverständnis auszuschließen, sogleich auch der Zweck dieser Gebete kundgegeben: „…damit wir euch aus der Finsternis zum Licht herausführen; denn Allah ist barmherzig zu den Gläubigen.“ Dem Propheten aber braucht der Weg aus der Finsternis nicht gewiesen zu werden. Wenn Allah im 56. Vers der 33. Sure die Muslime auffordert, es ihm gleichzutun, dann verpflichtet er sie, ihren Propheten zu rühmen, und dabei ist nicht der zum Gesandten berufene Mensch Mohammed gemeint. Es wird vielmehr der sehnliche Wunsch ausgesprochen, die von ihm überbrachte Botschaft möge bald auf dem ganzen Erdenkreis triumphieren. Noch auf etwas anderes macht as-Saḫāwī aufmerksam: Die Formel, deren Sinn nun klar sei, müsse man nach den schariatischen Vorschriften bei der Ausführung der Riten an festgelegten Stellen hersagen; sie dient mithin dazu, das Jenseitsverdienst des Ritenvollzugs, der folgenreichsten Handlung des Muslims, zu vermehren. „Der Prophet ist das Geschöpf, das von Allah am meisten geliebt wird; wir aber gedenken seiner nur, indem wir wünschen, daß Allah für uns seiner gedenke. Allah ist in Wahrheit derjenige, der des Propheten gedenkt, und wer etwas liebt, gedenkt seiner häufig!“ Von seinem Meister Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī hat as-Saḫāwī überdies folgenden Satz gehört: „Wenn wir die Formel ‚Allah spreche Gebete…‘ nach einer Erwähnung des Propheten sagen, dann spricht Allah Gebete für uns“ – um uns aus der Finsternis zu führen – „und wer etwas liebt, denkt häufig daran.“103 Einzig auf den Propheten hat sich alle Verehrung zu richten! Man mag an den Gräbern frommer Gottesfreunde beten, mag zu ihren Lebzeiten sich von ihnen in die Kunst der Ichabstreifung einführen lassen – immer hat der Muslim jene Worte zu sprechen, die Allah ihn in Sure 33, Vers 56, lehrt, immer ist es Mohammed, über den man zu Allah ruft. Mohammed ist ja nicht nur jener Mann, der im frühen

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7. Jahrhundert zum letzten Propheten berufen wurde, er ist doch auch der „vollkommene Mensch“, der Makrokosmos, den Allah schon vor dem Beginn seines im Augenblick noch andauernden Schöpfungshandelns erschuf und der sogleich den aller nachfolgenden Schöpfung zugedachten Daseinszweck zu erfüllen begann: die Anbetung und Verehrung Allahs (vgl. Sure 51, 56). Mohammed ist deswegen der, den Allah am meisten liebt, und daher auch der, den Allah ständig im Sinn hat. Indem der Muslim Allah veranlaßt, Mohammeds zu gedenken, erringt er Allahs Wohlgefallen, mehrt das Jenseitsverdienst; Mohammed ist der Geliebte Allahs und daher auch der Fürsprecher für alle, die Allah bitten, seinen Geliebten keinen Augenblick aus dem Sinn zu verlieren.104 As-Saḫāwī zeigt dem Leser, wie vielfältig die Anlässe sind, der Empfehlung von Sure 33, Vers 56, nachzukommen: nicht nur bei rituellen Pflichthandlungen, sondern auch am Morgen und am Abend; wenn man sich zum Schlafen legt; bei Beginn einer Reise; beim Besteigen eines Reittieres; wenn man sich vom Schlafen erhebt; wenn man das Haus verläßt, um auf den Markt zu gehen oder zu einer Einladung; wenn man ein Haus betritt, einen Brief öffnet; wenn es einem in den Ohren saust, die Füße eingeschlafen sind, man niesen muß; wenn man Rüben verzehrt, einen Esel schreien hört105 – der Gelegenheiten ist kein Ende. Wann immer jemand die Formel spricht, erfährt es der Prophet. Wie dies geschieht, dazu kennt as-Saḫāwī verschiedene Meinungen; es kann sein, daß Engel dem Propheten dies mitteilen oder daß er es ohne Vermittler wahrnimmt. Daraus folgt, daß der Prophet in Medina, in seinem Grab, lebendig ist; as-Saḫāwī spricht etliche Überlieferungen durch, die dies bestätigen. Nach dem Abscheiden vom Diesseits leben die Propheten in ihren Gräbern weiter und vollziehen ununterbrochen das rituelle Gebet; die Erde verschlingt keinen Leib, der einmal vom Botengeist Allahs angeredet wurde. Schwierigkeiten bereitet as-Saḫāwī allerdings die Himmelsreise Mohammeds; hierbei soll er doch seine großen Vorgänger getroffen und mit ihnen beratschlagt haben; es widerspreche nicht den Kategorien des Verstandes, versichert asSaḫāwī, daß Allah sie zu bestimmten Zeiten an unterschiedliche Orte versetze. Eine weitere Überlieferung malt aus, wie es vonstatten geht, daß der verstorbene Prophet den Gruß, den ihm ein Muslim entbietet, erwidert – Allah gibt dem Abgeschiedenen zu diesem Zweck für einen Augenblick den Lebensgeist zurück, heißt es. Das steht freilich im Widerspruch zu der von as-Saḫāwī bevorzugten Lehre, daß Mohammed ohne Unterbrechung am Leben sei. Schon lange, das lassen as-Saḫāwīs Ausführungen erkennen, haben die Gelehrten hierüber gestritten. Könnte mit „Lebensgeist“ nicht nur die Fähigkeit zum Reden gemeint sein? Dies scheint die einfachste Lösung zu sein, doch er zitiert auch andere, unter denen der Vorschlag des Kairoer Schafiiten as-Subkī des Älteren (gest. 1355) seinen Beifall findet: Wahrscheinlich gibt Allah seinem Geliebten nicht unzählige Male am Tag das Leben zurück; vielmehr lenkt er den Geist Mohammeds, der in die Betrachtung der göttlichen Gegenwart versunken ist, immer wieder auf die diesseitige Welt hin, damit er auf die Grüße

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antworte. Den schwachen Punkt dieser Lösung entdeckt as-Saḫāwī darin, daß Mohammed unzählige Male am Tag mit jener Formel bedacht wird, so daß er, wenn man as-Subkī folge, sich niemals dem Einen zuwenden könnte. Aber die Verhältnisse des Jenseits kann man nie ganz mit dem Verstand ergründen, und das Zwischenreich, wo die dem Diesseits Abgeschiedenen des Endes aller Tage harren, ist schon dem Jenseits ähnlicher als dieser Welt!106 Auf Mohammed will as-Saḫāwī, der Meisterschüler Ibn Ḥaǧars, alles konzentrieren. Er soll der einzige Vermittler zum verborgenen Seinsbereich sein; nur er und die Propheten vor ihm leben auf immer. Zu einer anderen als zu seiner Grabstätte in Medina zu wallfahrten, ist nur insofern sinnvoll, als man bei solcher Gelegenheit öfter als im gewöhnlichen Alltag Allah bittet, seines Geliebten zu gedenken. Im Hedschas liegt der Mittelpunkt der spirituellen Topographie, die asSaḫāwī im Sinn hat, so wie alles heilswichtige Wissen nur über Mohammed und sein Wirken im Hedschas in Erfahrung gebracht werden kann. – Ganz anders dachte aš-Šaʿrānī: Nicht nur Mohammed und die Propheten vor ihm, sondern alle verblichenen Gottesfreunde leben! Einer seiner Lehrmeister, Sidi Muḥammad ašŠanāwī (gest. 1525), war ein enger Vertrauter des in Tanta beerdigten Gottesmannes Sidi Aḥmad al-Badawī (gest. 1276); aš-Šaʿrānī hörte, wie sich aš-Šanāwī an dessen Grab mit ihm unterhielt.107 In seiner Einführung in die muslimische Spiritualität schreibt aš-Šaʿrānī: Zum rechten Verhalten des Adepten gehört es, daß er, wenn er einen beerdigten Meister aufsucht, keinesfalls meine, dieser sei tot und höre ihn nicht. Der Adept verhält sich vielmehr richtig, wenn er glaubt, daß der Meister im Zwischenreich am Leben ist. Dann wird er seinen Segen erlangen.Wenn der Mensch einen Gottesfreund aufsucht und an dessen Grab Allah rühmt, dann muß jener Gottesfreund sich im Grab zu einer sitzenden Stellung aufrichten und mit dem Besucher zusammen Allahs gedenken, „wie wir dies mehrmals erlebten, so etwa mit dem Imam aš-Šāfiʿī, mit Ḏū n-Nūn al-Miṣrī, mit einer ganzen Reihe von Meistern, die auf dem Friedhof bestattet sind. Wenn der Besucher dies nicht erlebt, dann soll er zumindest an deren Zwischenreichdasein glauben.“ Diese Anweisung hatte ašŠaʿrānī von Sidi ʿAlī, dem Palmblattflechter, erhalten. ʿAlī schärfte seinen Zöglingen ein, sie dürften auf keinen Fall in Zweifel ziehen, was man in dieser Hinsicht über die Gottesfreunde erzähle. „Sprecht mit mir: ‚Allahs Fluch über den, der ihnen etwas bestreitet!‘ Und alle riefen sie: ‚Allahs Fluch über ihn!‘ und erhoben ihre Stimme bei diesen Worten dergestalt, daß es wie ein lautes Schreien war“, erinnert sich aš-Šaʿrānī.108 *** Wie aš-Šaʿrānī die Welt wahrnimmt und ihr gegenübertritt, fragten wir. Das Land und die Stadt stehen je für eine der zwei Seinsweisen, in denen der Mensch in Allahs Schöpfungshandeln einbezogen sein kann: Unbewußt, Werkzeug bei der Hervor-

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bringung des Lebensunterhalts – oder im Wissen von diesem Geschehen und seiner „richtigen“, islamischen Auslegung. „(Allah) ist es, der Wasser vom Himmel herabsandte. Ihr mögt davon trinken und habt dadurch Gebüsch, das ihr abweiden lassen könnt. Er läßt für euch dank dem Wasser Getreide, Oliven, Datteln und Weintrauben wachsen und alle Arten von Früchten. Hierin liegt ein Wunder für die Leute, die nachdenken!“ (Sure 16, 10 f.). Die Stadt ist der Ort des gelehrten Erschließens der sich ereignenden Zeichen und ihrer Botschaft vom Vorgehen Allahs mit der Welt und von seinem Gesetz. Aber sie ist auch der Ort, der über dieses gelehrte Erschließen hinausweist, auf die spirituelle Fülle hin, zu deren Erkenntnis man gelangen kann.Wer, für Augenblicke nur, diese Fülle in sich erlebt, dem mag die Unterscheidung zwischen Land und Stadt schwinden, wie auch zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung – er erkennt sich selber als das Zeichen, zusammen mit aller Schöpfung. Der Weg nach Kairo führt den jungen aš-Šaʿrānī hinein in das gelehrte Wissen – und in die Sehnsucht nach dem Erkennen.

Kapitel 2 Wissen und Erkennen 2.1 Wissen Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich mir den Inhalt der Bücher einzuprägen vermochte. Als erstes lernte ich den Abū Šuǧāʿ auswendig und die Āǧurrūmīja, und zwar noch auf dem Lande, und erläuterte meinem Bruder ʿAbd al-Qādir beide Werke, nachdem mein Vater gestorben war. Als ich dann nach Kairo gekommen war, lernte ich das Buch der Methode des an-Nawawī, das Tausend-Verse-Lehrgedicht des Ibn Mālik, die Erklärung des Ibn Hišām auswendig, dann die Vereinigung der Kompendien, das Tausend-Verse-Lehrgedicht des al-ʿIrāqī, die Verkürzung des Schlüssels, die Šāṭibīja, die Regeln des Ibn Hišām und andere Grundrisse mehr. Ich prägte mir diese Bücher so genau ein, daß ich – wie beim Koran – dank meinem guten Gedächtnis ihre dunklen Stellen kannte. Dann trieb mich der Ehrgeiz, mir das Buch Der Garten, die Kurzfassung des Werkes Die Wiese, anzueignen, weil es das umfassendste Handbuch des Rechts des Imams aš-Šāfiʿī ist. Ich kam mit dem Auswendiglernen bis in das Kapitel „Die Verurteilung eines Abwesenden“ gegen Ende des Buches. Da begegnete mir am Ḫarq-Tor, außerhalb des Zuwaila-Tores, ein Gottestrunkener und sprach mich, das Verborgene enthüllend, an: „Bleib beim Kapitel ‚Die Verurteilung eines Abwesenden‘ stehen und fälle nie gegen einen Abwesenden ein Urteil!“ Fortan vermochte ich nicht eine einzige Tafel des Textes mehr zu lernen, obwohl ich das Buch mehr als einhundertmal las und durchstudierte. Dabei trug ich den Text, soweit ich ihn mir hatte einprägen können, als Teil des Kommentars des Meisters Zakarjā immer wieder vor und schaute mir alles an, was ich nur schwer und langsam hatte verstehen können, so daß mir schließlich der Kommentar gleichsam vor Augen stand… Dann traf mich der Meister Aḥmad al-Buhlūl und sagte dank einer Eingebung aus dem Verborgenen: „Verleg dich auf die Beschäftigung mit Allah! Dir genügt das Wissen, das du bis jetzt erworben hast!“ Dazu fragte ich meine Meister um Rat, und sie empfahlen mir: „Betritt den Pfad der Leute nicht, bevor du deinen Meistern alles, was du auswendig gelernt hast, erläuterst. Wenn du alles verstanden hast und bis zum Grunde vorgedrungen bist, dann magst du dich auf den Pfad der Leute begeben.“ Alle meine Meister aber vereinten in sich das Wissen und das Handeln – Preis sei Allah, dem Herrn der Welten!1

*** Handbuchwissen – Die Gegenwärtigkeit des Wissens im Alltag – Vielfältige Studien in der Stadt – Vertiefung der Schariakenntnisse – Die Methode des Studierens – „Verwurzelung im Wissen“ – Die erstrebte Spontaneität des Handelns – Die Vermittelbarkeit der Spontaneität – Meister Zakarjās Gedankenwelt – Die Gegenposition – Aš-Šaʿrānīs Aufnahme unter die Sufis – Das „eigene“ Wissen und die Nachahmung

Handbuchwissen „Die Ehe ist jedem empfohlen, der ihrer bedarf. – Dem freien Mann sind vier freie Frauen zugleich gestattet, dem Sklaven nur zwei. – Der Freie darf eine Sklavin nur https://doi.org/10.1515/9783110789119-009

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unter zwei Voraussetzungen heiraten: daß er nicht die einer Freien gebührende Morgengabe besitzt; daß er fürchtet, anderenfalls Unzucht zu treiben. – Der Blick des Mannes auf die Frau ist von siebenerlei Art: Sein Blick auf eine fremde Frau ohne ein rechtfertigendes Anliegen, dieser Blick ist verboten; zum zweiten sein Blick auf seine Gattin oder Sklavin, dieser Blick ist gestattet, sofern er nicht auf die Schamgegend gerichtet ist; zum dritten sein Blick auf die ihm eng verwandten Frauen und seine mit einem anderen Mann verheiratete Sklavin, dieser Blick ist gestattet, sofern er nicht auf die Körperpartien zwischen Knien und Bauchnabel gerichtet ist; zum vierten sein Blick mit dem Ziel der Eheschließung, dieser Blick darf das Gesicht und beide Hände treffen; zum fünften sein Blick zum Zwecke ärztlicher Behandlung, dieser Blick darf auf die betroffenen Körperteile fallen; zum sechsten sein Blick, um eine Zeugenaussage entgegenzunehmen oder ein Geschäft abzuwickeln, dieser Blick darf allein auf das Gesicht gerichtet sein; zum siebten sein Blick auf eine Sklavin bei deren Erwerb, dieser Blick darf auf alle Körperteile fallen, die er genau prüfen muß. – Ein Ehevertrag ist nur gültig, wenn er im Beisein eines Vormundes der Frau und zweier unbescholtener Zeugen abgeschlossen wird. – Der Vormund und die Zeugen müssen sechs Bedingungen erfüllen: sie müssen islamischen Glaubens, volljährig, bei klarem Verstande, frei, männlich, unbescholten sein…“2 So steht es im Kompendium des Abū Šuǧāʿ (gest. 1194), dem knappsten und seinerzeit am weitesten verbreiteten Lehrbuch des schafiitischen Rechts. In kurzen Sätzen behandelt es die Gegenstände, die einem Kenner der Scharia jederzeit gegenwärtig sein müssen. Dies war der Stoff, den aš-Šaʿrānī, ein Knabe noch, nächst dem Koran in sich aufnahm, anscheinend unter Anleitung durch seinen Vater. Die Worte und Sätze, die die Vorschriften der Scharia bergen, sind aber nur richtig zu verstehen, wenn man die arabische Sprache in all ihren Bedeutungsschattierungen beherrscht. Nur über die arabische Sprache erschließt sich der Sinn der koranischen Offenbarung und des ḥadīṯ, der Überlieferung von dem der Eingebung aus dem Verborgenen entspringenden Reden und Handeln des Propheten. Auf der Auslegung des Korans und des ḥadīṯ aber fußt das schafiitische Recht.3 Und weil dies so ist, wird dem Knaben aufgegeben, die grammatische Lehrschrift des Ibn Āǧurrūm (gest. 1323) zu memorieren: „Rede ist ein Lautgefüge, das gemäß Übereinkunft der Menschen einen Sinn übermittelt; die Teile der Rede sind drei: das Nomen, das Verb, der einzelne Buchstabe, sofern er um eines Sinnes willen steht. Das Nomen unterscheidet sich von den anderen beiden durch den Genitiv, durch die Nunation, durch den Artikel al, durch die Partikeln, die den Genitiv nach sich haben, als da sind: min (von), ilā (zu)… und durch die Partikeln des Schwurs, als da sind: wa, bi, ta. Das Verbum unterscheidet sich von den anderen beiden durch qad, sa, saufa und das tāʾ des Femininums. Buchstabe bzw. Partikel ist alles, auf das die Definition des Nomens oder des Verbums nicht zutrifft…“4 Das ist die ganz und gar abstrakte Art, in der Ibn Āǧurrūm – und mit ihm die meisten anderen Grammatiker – ihren Stoff

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abhandeln. Nach äußeren Merkmalen bestimmt man die Wortarten: Das Nomen ist ein Wort, dem ein Genitiv folgen kann; das durch Anfügen der sogenannten Nunation als indeterminiert, durch den Artikel als determiniert ausgewiesen wird; vor dem Partikeln – wir würden sagen: Präpositionen – stehen, die im Arabischen allesamt den Genitiv regieren. Das Verbum hat seine nur ihm zugeordneten Partikeln wie qad zum Ausdruck der Vollendung in der Vergangenheit oder der Ungewißheit in der Gegenwart, wie sa und saufa zur Bezeichnung des Futurs, zudem ist es durch die Endung –t ausgezeichnet, die im Perfekt den weiblichen Handelnden in der 3. Person singularis markiert. Die Partikeln, die vielfach nur aus einem einzigen Buchstaben bestehen, der aber nicht zufällig oder unabsichtlich, sondern „um eines Sinnes willen“ gesetzt wird, umfassen im wesentlichen das, was wir Präpositionen und Konjunktionen nennen. Die Gegenwärtigkeit des Wissens im Alltag Als Siebenjähriger wußte aš-Šaʿrānī den Koran auswendig herzusagen; oft verbrachte er die ganze Nacht damit. Ob er damals noch unter dem Einfluß seines Vaters stand oder ob dieser bereits verstorben war, ist unklar; denn es wird erzählt, daß der Knabe, der zehn Brüder hatte, im Koran zumindest auch durch einen von ihnen, ʿAbd al-Qādir, unterwiesen worden sei.5 Dieser ʿAbd al-Qādir, wir hörten es, überwachte auch das Studium des Abū Šuǧāʿ und der Āǧurrūmīja und überprüfte den Erfolg der Bemühungen, indem er sich, wie es üblich war, vom Zögling den Text hersagen und erläutern ließ. ʿAbd al-Qādir muß erheblich älter als aš-Šaʿrānī gewesen sein. Denn 1509 nahm er den Heranwachsenden mit auf die Pilgerfahrt und hatte selber schon für eine Ehefrau zu sorgen.6 Aš-Šaʿrānī schildert seinen Bruder als einen äußerst gastfreien Mann, stets um das Wohl der Armen, der Witwen und Waisen besorgt, der Welt und ihrem Reichtum abwehrend gegenüberstehend, tief bekümmert, wenn er bemerkte, daß jemand leichtsinnig mit den schariatischen Pflichten verfuhr. Nicht durch rüde Worte, sondern mit Geschenken suchte er das Vertrauen des Sünders zu gewinnen, um ihn dann zur Umkehr zu bewegen.7 Wenn auch auf dem Lande die Lektüre und der Stoff, den man sich aneignen konnte, dürftig waren, so sollte der Ernst, den man darauf verwandte, doch außerordentlich groß sein. Denn bei aller Kümmerlichkeit entsprang das Rinnsal, das einem zugänglich war, zuletzt doch in jenem reichen Quell heilswichtigen Wissens, der sich neun Jahrhunderte zuvor im Hedschas aufgetan hatte und seither den Durst der Muslime aller Weltgegenden nach sicherer Kunde über den Weg durch das Diesseits zum glückhaften Jenseits stillte. Aš-Šaʿrānī erzählt, wie der Vater ihm die letzten Teile des Korans und die Anfänge der ḥadīṯ-Wissenschaft beibringt und schon zu diesem Zeitpunkt den „Korankenner der Epoche und Überlieferer jener Zeit“ asSujūṭī (gest. 1505) um eine Überlieferungslizenz für den Sohn angeht. As-Sujūṭī habe

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der Bitte entsprochen und dem Vater das gewünschte Schreiben mit auf die Heimreise gegeben. Es enthielt die Erlaubnis, sämtliche Werke des berühmten Gelehrten zu tradieren.8 Die dürren Worte der Kompendien sind gleichsam die abgegriffenen, abgenutzten Schlüssel, die dem Wißbegierigen die Tür zu jenem verborgenen Seinsbereich öffnen, aus dem er seine Heilsbestimmtheit schon hier und jetzt erfahren kann. Welche Wucht den Worten, die so erschlossen werden, innewohnen kann, erlebte aš-Šaʿrānī schon als Kind: Er trug einmal seinem Vater aus der 37. Sure vor – dem Gottesfürchtigen ist das Paradies zugesagt; dereinst wird er, sofern er in seinem irdischen Leben einen leichtfertigen Freund hatte, von oben hinabblicken, „und er sieht seinen einstigen Gefährten im Höllenbrand!“ (Vers 55). Sobald er, erinnert sich aš-Šaʿrānī, mit seinem Vortrag zu diesem Vers gekommen sei, sei ihm der Vater ins Wort gefallen, den nachfolgenden Vers hinausschreiend: „Bei Allah, beinahe hättest du mich ins Verderben gestürzt!“ Ohnmächtig vor Angst sei der Vater zu Boden gesunken und habe sich im Staub gewälzt „wie ein Vogel, dem man die Kehle durchgeschnitten hat“.9 – Nicht auf aš-Šaʿrānī dürfen wir diesen Vorfall beziehen! Der Vater erschrickt bis ins Mark, weil ihm plötzlich bewußt wird, daß selbst ein unabsichtliches Mißachten des göttlichen Gesetzes ewige Verdammnis nach sich ziehen kann: In ein paar frivolen Sätzen hatte jener zur Hölle Verurteilte, von dem in Sure 37 die Rede geht, die Botschaft des Propheten als Poesie abgetan (Verse 35 – 37). Fürchterlich und nie und nimmer wiedergutzumachen können die Folgen eines einzigen unbedachten Wortes sein! Man kann darum nie genug von jenem Wissen in sich aufnehmen, nie genug Pfade aufsuchen, auf denen es – von möglichst wenigen und möglichst zuverlässigen Tradenten weitergegeben – in die Gegenwart hineinfließt, nie eifrig genug den Alltag daran ausrichten. Nur wenn man das Dorf verläßt und in der Metropole heimisch wird, wird man erfolgreich nach allen Facetten des Wissens suchen können und sich aus dem Verlies der Unwissenheit befreien. In Kairo setzt ašŠaʿrānī das fort, worin er sich in Sāqijat Abū Šaʿra schon geübt hat. Sein wichtigster Lehrmeister wird Amīn ad-Dīn, der Imam der al-Ġamrī-Moschee, ein Mann von außergewöhnlicher Ausstrahlung, weitreichenden Verbindungen und großer Gelehrsamkeit. Siebenundfünfzig Mondjahre, etwa von 1468 bis zu seinem Tod im Herbst 1523, hat Amīn ad-Dīn diese Stellung inne, und Abū l-ʿAbbās, der Sohn alĠamrīs und Vollender des von seinem Vater in Angriff genommenen Bauwerks, mag wohl recht gehabt haben mit seiner Äußerung, dieses sei wie ein Leib,10 Amīn ad-Dīn aber die Seele. In aš-Šaʿrānīs Darstellung vereinigt dieser Gelehrte viele Vorzüge in sich: Er ist auf allen Gebieten, die für die Aufnahme, die Erläuterung und Weitergabe des Wissens unentbehrlich sind, bestens versiert; die Kunst der Koranrezitation, die Prophetenüberlieferung und die Schariakunde, die arabische Grammatik, die Lehre von den Methoden der Explikation der in den Texten verborgenen Vorschriften des göttlichen Gesetzes, alles dies beherrscht er. Aber von noch größerem

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Gewicht ist, daß es ihm gelingt, sein Leben an diesem Wissen auszurichten. Nie, so beteuert aš-Šaʿrānī, sei Amīn ad-Dīn in rituell unreinem Zustand vom Gebetsruf überrascht worden. Noch an seinem Todestage kriecht er, da ihm die Beine den Dienst versagen, zum Wasserbecken der Moschee, stürzt aber hinein, rettet sich und vollzieht in triefenden Gewändern das Abendgebet. Nie hätten Arme, Witwen, Waisen vergebens um eine milde Gabe gebeten; nie habe sich Amīn ad-Dīn von anderen einen Vorteil verschafft oder sich von ihnen bedienen lassen – dergleichen wäre eine ungerechtfertigte Bereicherung gewesen, die Allah ahndet! – Er trägt blaue Kleidung und einen ungebleichten Baumwollturban. Die Ehrfurcht erheischende Aura, die ihn umgibt, duldet keinen Ungehorsam.11 Trotz allem zeigt er sich voller Demut gegen Blinde, Witwen, Arme und macht für sie Besorgungen auf dem Markt. Er schafft das Brot, auf eine Schale geschichtet, auf dem Kopf herbei und erlaubt niemandem, es für ihn zu tragen. Alle Mächtigen, die ihn das Brot balancieren sehen, steigen vom Pferd, küssen ihm die Hand, gehen neben ihm her und wagen nicht, wieder aufzusitzen, bis der Meister sich von ihnen trennt. Er sammelt die Läuterungsgabe ein und verteilt sie unter die Bedürftigen. „Sogar zu meiner Sippe schickte er kleine Beutel mit Geld aufs Land. Er selber verbrauchte von alledem nichts. Wenn er freilich jemanden verabscheute, dann wurde dieser von Stund an nicht wieder glücklich. An die siebzehn Personen verabscheute er, und sie mußten sich als mahnende Beispiele betrachten; nur in ihren weltlichen Angelegenheiten hatten sie noch Erfolg, nicht aber in der Vorbereitung auf das Jenseits!“12 Vielfältige Studien in der Stadt Aš-Šaʿrānī zog, als er sein Dorf verließ, nicht aufs Geratewohl in die Stadt. Die Bemerkung, Amīn ad-Dīn habe der Familie Spenden aufs Land geschickt, läßt jedenfalls auf bestehende Verbindungen schließen. Zudem aber war Amīn ad-Dīn das Ziel Wißbegieriger aus ganz Ägypten; Sidi Muḥammad aš-Šanāwī und Sidi Muḥammad al-Munīr, denen man in aš-Šaʿrānīs Werdegang begegnet, waren zumindest vorübergehend Amīn ad-Dīns Zöglinge gewesen. Aber nicht nur das! Amīn ad-Dīn wurde vom Sultan Qānṣauh al-Ġaurī (reg. 1501– 1517) dazu ausersehen, einem höchst wichtigen Staatsgast spirituellen Beistand zu gewähren, nämlich einem Bruder des späteren osmanischen Sultans Selim (reg. 1512– 1520), Korkud mit Namen, der am 7. Juni 1509 feierlich in Kairo empfangen wurde. Korkud war damals noch ein aussichtsreicher Mitbewerber um den Thron in Konstantinopel gewesen, auf dem der erkrankte Bayezid (reg. 1481– 1512) saß, ohne dem Kampf seiner Söhne um die Nachfolge, der das Reich selber in Gefahr brachte, Einhalt gebieten zu können. Der offizielle Grund für den Besuch Korkuds im mit den Osmanen verfeindeten Mamlukenreich war der Wunsch, zu den zwei heiligen Städten des Islams im Hedschas zu pilgern. Qānṣauh al-Ġaurī dachte lange nach, ob er dem Begehren des Prinzen

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nachkommen dürfe, was einen Verstoß gegen das mit Bayezid geschlossene Friedensabkommen bedeutet hätte. Korkud mußte schließlich im darauffolgenden Jahr unverrichteterdinge aus Kairo in seine Provinz Teke in Südwestanatolien zurückkehren.13 Amīn ad-Dīn und die al-Ġamrī-Moschee waren mithin keineswegs ganz von den Mächtigen und ihrem politischen Spiel abgeschnitten; die große Welt hatte Zugang, wenn auch die islamische Gelehrsamkeit das Beherrschende war. Aš-Šaʿrānī, kaum dem Kindesalter entwachsen, muß den denkwürdigen Aufenthalt des Prinzen erlebt haben; die Verbindungen zu den Repräsentanten des osmanischen Sultanats, das in gar nicht so ferner Zukunft über Ägypten regieren sollte, bestimmten später mancherlei Auseinandersetzungen, die er gegen Rivalen auszufechten hatte. Doch daß der junge aš-Šaʿrānī zu einer weithin bekannten Persönlichkeit heranreifen würde, konnte man, als er Amīn ad-Dīn zu seinem Meister gewann, noch nicht wissen. Wie Tausende anderer gab er sich mit Eifer den Studien hin, die er auf dem Dorfe begonnen hatte. Weiter lernte er Kompendien auswendig: Das Buch der Methode des an-Nawawī (gest. 1277), eine knappe, fast ganz auf Beispielfälle verzichtende Darstellung des schafiitischen Rechts, eine Überarbeitung eines umfangreichen Werkes des ägyptischen Gelehrten ar-Rāfiʿī (gest. 1226);14 das Lehrgedicht des Ibn Mālik (gest. 1273), eine Darstellung der arabischen Grammatik in tausend Versen; eine Abhandlung über die Desinentialflexion im Hocharabischen, verfaßt von dem Juristen und Grammatiker Ibn Hišām (gest. 1360), nebst einem weiteren Buch aus dessen Feder; Vereinigung der Kompendien heißen zwei Werke as-Sujūṭīs, das eine führt in die Wissenschaft von der Prophetenüberlieferung ein, das andere ist ebenfalls grammatischen Fragen gewidmet;15 welches von beiden ašŠaʿrānī memorierte, wird nicht gesagt; ein Tausend-Verse-Lehrgedicht des Zain adDīn al-ʿIrāqī (gest. 1404) stellt ebenfalls die ḥadīṯ-Wissenschaft dar, ein anderes faßt die Prophetenbiographie, in Sonderheit die Kriegszüge Mohammeds, zusammen; einem Abū l-Qāsim aš-Šāṭibī (gest. 1194) verdankt man eine in Verse gesetzte Fassung der vielgerühmten Darstellung der Koranlesekunst durch ad-Dānī (gest. 1053); Verkürzung des Schlüssels ist ein von dem Damaszener Gelehrten al-Qazwīnī (gest. 1338) angefertigter Auszug aus einem Überblick über die Rhetorik und Poetik des Arabischen, den der Grammatiker as-Sakkākī (gest. 1229) schuf. Vertiefung der Schariakenntnisse Den Mittelpunkt der Studien aš-Šaʿrānīs bildet jedoch die Schariawissenschaft. Die Wiese der Wissenssucher und die Stütze der Gottesfürchtigen ist ein vielgelesenes Werk des schon genannten an-Nawawī. Er trägt darin die aus den Grundsätzen des Rechts sich ergebenden einzelnen Bestimmungen vor. Das Kompendium des Abū Šuǧāʿ begnügt sich mit dem Aufzählen: „Nicht erbberechtigt sind sieben – der

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Sklave; der Sklave, dem die Freiheit zum Zeitpunkt des Todes des Herrn gewährt wird; der Sklave, der einen Vertrag, den Selbstfreikauf betreffend, erhalten hat; die Sklavin, die dem Herrn ein Kind gebar; der Mörder; der Apostat; Angehörige zweier unterschiedlicher Religionen.“16 An-Nawawī dagegen geht auf den Hintergrund der Bestimmungen ein: Es gebe fünf Hindernisse, die eine Erbschaft ausschlössen; das erste sei die Unterschiedlichkeit des Glaubens. Was heiße dies? Ein Muslim und ein Andersgläubiger können, selbst wenn eine unmittelbare Abstammung vorliegt, einander nicht beerben; die Andersgläubigen untereinander dagegen wohl; ein Jude darf mithin Erbe eines Christen sein; verwickelter wird die Angelegenheit, sobald einer der beiden Andersgläubigen ständig im „Gebiet des Islams“, der andere dagegen im „Gebiet des Krieges“ wohnt; in einem solchen Fall spreche einiges dafür, daß sie einander nicht beerben, weil zwischen beiden keine Loyalitätsbindung obwaltet, die doch allein in der durch die Zugehörigkeit zum islamischen Herrschaftsbereich gestifteten Identität gründen kann; freilich gibt es auch die gegenteilige Auffassung, nämlich daß der Unglaube die entscheidende Gemeinsamkeit sei, weshalb der eine sehr wohl das Erbe des anderen antreten könne. Wenn mithin ein Jude mehrere Söhne hat, die teils ihrem Glauben treu geblieben, teils Christen geworden sind, teils im „Gebiet des Islams“, teils im „Gebiet des Krieges“ wohnen, dann ist die Erbberechtigung nicht von der Gleichheit des Glaubens, sondern von der Zugehörigkeit zum selben „Gebiet“ abhängig.17 Wesentlich ausführlicher, als dieser knappen Inhaltsangabe zu entnehmen ist, werden die übrigen Hindernisse, der Sklavenstatus, der Mord, die Unklarheit des Zeitpunktes des Todes zweier einander beerbender Personen, der Tod des Vermächtnisnehmers vor dem Eintreten des Erbfalles, abgehandelt, wenngleich man meistens vergeblich auf anschauliche Beispiele hofft. Das Werk an-Nawawīs ist keineswegs eine eigenständige Arbeit gewesen; es beruhte auf einer ausführlichen Darlegung der einzelnen schariatischen Normen durch al-Ġazālī (gest. 1111), der selber hiervon eine Kurzfassung geschrieben hatte; der schon erwähnte ar-Rāfīʿī hatte diese kommentiert, und das war die Version, die an-Nawawī bearbeitet hatte; unter dem Titel Die Wiese der Wissenssucher erfreute sich diese bald einer großen Beliebtheit, wie überhaupt an-Nawawī einer der meistgelesenen arabischen Autoren war. Er verstand es meisterhaft, das vom Propheten ausgehende Heilswissen in Handbüchern auf einen Kernbestand zurückzuführen – seine Auswahl der vierzig wichtigsten Überlieferungen ist noch heute in Gebrauch – und zu zeigen, wie der Muslim seinen Alltag danach gestalten müsse.18 – Aš-Šaʿrānī prägte sich Die Wiese allerdings in einer der zahlreichen Kurzfassungen ein, dem Garten des Šaraf ad-Dīn Ibn al-Muqriʾ al-Jamanī (gest. 1434).19 Nicht nur das Propheten-ḥadīṯ, auch die gelehrte Arbeit an den Normen und Vorschriften weist eine die Grenzen der Jahrhunderte übersteigende historische Tiefe auf. Die Gemeinschaft der Muslime, die das in verschiedenen Zusammenfassungen zugängli-

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che Korpus dieser auf der Offenbarung und dem von Allah geleiteten Reden und Handeln Mohammeds fußenden Bestimmungen erlernt, wieder und wieder durchdenkt, zu Abrissen verkürzt, diese durch Randnotizen oder umfängliche Kommentierung erläutert, diese Gemeinschaft der Gelehrten ist das überindividuelle, die Zeiten überdauernde Medium der Gegenwärtigkeit des Willens Allahs und widmet sich der Aufgabe, dem Zusammenleben der Menschen die vom Schöpfer für richtig befundene Gestaltung zu geben. Die Methode des Studierens Das ist die Überzeugung, die den Lehrbetrieb prägt. „Ich trug“, so erinnert sich ašŠaʿrānī in seiner Lebensbilanz, „dem Meister Amīn ad-Dīn, dem Imam und ḥadīṯLehrer in der al-Ġamrī-Moschee, den Kommentar des Buches der Methode vor, den Ǧalāl ad-Dīn al-Maḥallī (gest. 1459)20 geschrieben hatte. Amīn ad-Dīn war unter meinen Meistern derjenige, der die Feinheiten dieses Kommentars am besten kannte, denn er hatte ihn bei den herausragendsten Schülern Ǧalāl ad-Dīn as-Sujūṭīs studiert… Ich las für diesen Unterricht zusätzlich die Speise des al-Aḏraʿī (gest. 1381), das Stück und die Ergänzung des al-Isnawī (gest. 1370), Werke von az-Zarkašī (gest. 1392), das Stück des as-Subkī (gest. 1370), die Stütze des Ibn al-Mulaqqin (gest. 1401), den Kommentar des Ibn Qāḍī Šuhba (gest. 1448), den Kommentar Meister Zarkarjās (gest. 1520) zum Garten und notierte mir die in diesen Büchern auffindbaren Zusätze zum Kommentar des Ǧalāl ad-Dīn al-Maḥallī. Blätter mit diesen Notizen klebte ich in das Buch hinein, so daß bisweilen die Randglossen den eigentlichen Text an Länge übertrafen. Alle diese Notizen las ich dann Amīn ad-Dīn zur Kontrolle vor.Weil ich kein Geld hatte, um mir jene Bücher zu kaufen, mußte ich so verfahren. Auch trug ich ihm den Kommentar zur Vereinigung der Kompendien (des Tāǧ ad-Dīn as-Subkī)… und die Randglossen des Meisters Kamāl ad-Dīn b. abī šŠarīf (gest. 1500) vollständig vor; diese Glossen hatte Amīn ad-Dīn ihrem Verfasser vorgelesen. Ferner studierte ich in der genannten Weise den Kommentar Šams adDīn as-Saḫāwīs (gest. 1497) zum Tausend-Verse-Lehrgedicht al-ʿIrāqīs. Übrigens heißt es, dieser Kommentar sei in Wahrheit ein Werk Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānīs (gest. 1449); as-Saḫāwī sei in dessen oder eines anderen Hinterlassenschaft auf die Kladde des Buches gestoßen, habe den Text durchkorrigiert, ins reine geschrieben und den Leuten präsentiert.“ Auch das grammatische Lehrgedicht des Ibn Mālik arbeitete ašŠaʿrānī unter Zuhilfenahme weiterer Literatur durch, stellte Zusätze zusammen und trug diese seinem Lehrer vor. Nur kurz kommt aš-Šaʿrānī auf sein ḥadīṯ-Studium zu sprechen. Mit Amīn ad-Dīn ging er die sechs kanonischen Sammlungen des sunnitischen Islams durch, dazu einige weniger bekannte. „Amīn ad-Dīn erteilte mir die Lizenzen für alle Überlieferungen, die er besaß. Er verfügt über eine hohe Überliefererkette; er hatte von Ibn Ḥaǧar und anderen übernommen.“ Das unmittelbar

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auf den Propheten zurückgehende Wissen, das der Imam der al-Ġamrī-Moschee seinem Schüler weitergab, war außerordentlich zuverlässig, denn die Reihe der Tradenten, die es verbürgten, enthielt nur wenige Glieder – Gelehrte von bestem Ruf, jeweils durch einen großen Altersunterschied voneinander getrennt, und doch hatte stets der Jüngere die Überlieferungen im persönlichen Umgang vom Älteren empfangen. Das ist der Sinn der Worte aš-Šaʿrānīs. Verwurzelung im Wissen Das Wissen, das von Allah gestiftet und durch den Propheten verkündet wird, kann der Mensch weder vermehren noch verändern; es ist unabhängig von allen Überlegungen, die Experten anstellen mögen, denn es wird nicht in ihren Köpfen erzeugt.21 In vollkommener und vollständiger Art ist es in Allahs unablässigem Schöpfungshandeln gegenwärtig; zu diesem Schöpfungshandeln zählen die Verkündigung des Korans und die Verdeutlichung der islamischen Lebensweise durch das ḥadīṯ, und nur dies beides verdient, Wissen genannt zu werden. – Nicht nur bei Amīn ad-Dīn, auch unter anderen Meistern ging aš-Šaʿrānī seinen Studien nach, die oftmals denselben bereits genannten Werken galten: Es kam nicht nur auf die Vermehrung der eigenen Kenntnisse an, sondern ebenso sehr auf die Steigerung der Teilhabe an jenem von Allah gestifteten, eigentlichen Wissen – wenn man ein und dasselbe Werk noch einmal bei einem zweiten, einem dritten Meister hörte und vortrug, die es sich womöglich auf je unterschiedlichen Überlieferungswegen angeeignet hatten, dann fügte man sich tiefer und tiefer in das Wissen ein, das nun alle Lebensregungen überformte. Man wurde zu jemandem, der, wie man zu sagen pflegte, fest im Wissen verwurzelt war.22 Wollte man aš-Šaʿrānīs Rechenschaftsbericht über seine Studien zur Gänze wiedergeben, müßte man Seiten mit Personennamen füllen, die dem heutigen Leser nichts bedeuten, für den damaligen Gelehrten aber den Nachweis einer erfolgreichen, großes Ansehen rechtfertigenden Ausbildung erbringen. – Zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden konnte eine Art von Teilhaberschaft an Kommentarwerken entstehen, wie aš-Šaʿrānī dies schildert, als er auf den vorhin erwähnten Meister Zakarjā al-Anṣārī zu sprechen kommt. Nächst dem Imam der alĠamrī-Moschee war es dieser Gelehrte, dem aš-Šaʿrānī besonders viel zu verdanken hatte und der einen nachhaltigen Einfluß auf ihn ausübte. Auch bei ihm arbeitete er den Garten durch, studierte die Vereinigung der Kompendien as-Sujūṭīs. Es kam jedoch der Korankommentar al-Baiḍāwīs (gest. 1286) hinzu. Aus der Beschäftigung mit diesem Werk erwuchsen die Randglossen Zakarjās, „meist von mir oder von seinem Sohn, Meister Ǧamāl ad-Dīn, niedergeschrieben. Dies geschah, nachdem Meister Zakarjā erblindet war.“ Aš-Šaʿrānī hatte ihm aus zahlreichen anderen Kommentaren vorlesen müssen. Als Zakarjā auch die ḥadīṯ-Sammlung al-Buḫārīs

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auslegte, eignete sich aš-Šaʿrānī eine profunde Kenntnis der großen dazugehörigen Kommentare an, damit der Lehrer aus dem, was ihm der Schüler übermittelte, jene Bemerkungen auswählen konnte, die die beste Interpretation der Überlieferungen enthielten. Während aš-Šaʿrānī bei Zakarjā den Garten las, stellte sich heraus, daß der Meister in seiner Bearbeitung des Buches irrtümlich behauptet hatte, es enthalte zwölf Zusätze, die sich in an-Nawawīs Wiese nicht fänden. Aš-Šaʿrānī machte seinen Lehrer darauf aufmerksam, daß an-Nawawīs Buch die betreffenden Angaben sehr wohl enthalte, nur in anderen Kapiteln. Bald darauf entdeckte der Schüler, daß schon ein anderer Gelehrter hierauf hingewiesen hatte. Darüber freute sich Zakarjā, „der mein bedeutendster Meister im Wissen und im Handeln“ war. Lange Jahre verbrachte aš-Šaʿrānī mit ihm, eine Zeit, die so sehr mit eifriger Arbeit am Wissen angefüllt war, daß sie ihm aus der Rückschau wie eine Woche vorkam. „Manchmal fragte er mich: ‚Wollen wir nicht zum Nil gehen und ein wenig Atem schöpfen?‘ Darauf antwortete ich: ‚Sidi, mit euch zusammenzusitzen bedeutet mir mehr, als Atem zu schöpfen!‘ Dann segnete er mich.“ Einmal erzählte Zakarjā: „Jaḥjā b. Jaḥjā al-Andalusī (gest. 848) saß zum Studium jahrelang beim Imam Mālik (in Medina). Eines Tages schritt ein Elefant vorüber. Alle Schüler sprangen auf, um ihn sich anzuschauen. Da wandte sich Mālik an ihn mit der Frage, ob nicht auch er den Elefanten sehen möchte – ‚In eurem Land gibt es dergleichen nicht!‘ – doch Jaḥjā erwiderte: ‚Sidi, ich bin nicht aus meinem Land hierher gereist, um einen Elefanten zu betrachten. Ich kam, um dein Tun und Reden zu lernen und mich nach deiner Rechtleitung zu richten!‘ Mālik gefiel diese Antwort sehr, und er nannte Jaḥjā fortan den Verständigen unter den Andalusiern.“ Die erstrebte Spontaneität des Handelns Meister Zakarjā bot dem Heranwachsenden jedoch nicht nur diese Art von Wissen. Er machte ihn auch mit der Abhandlung des Abū l-Qāsim al-Qušairī (gest. 1073) bekannt.23 Hier tat sich dem Studierenden eine ganz andere Welt auf, als die es war, die ihm die Lehrgedichte, die Kompendien, die Randglossen zeigen konnten – anders, weil der Wissensstoff, den ihm der Extrakt jahrhundertelanger Gelehrsamkeit übermittelte, zwar das Gedächtnis füllte und ihn in den Stand setzte, zahlreiche knifflige Fragen zu beantworten, ihm aber nicht sagte, welche Form er seinem Leben geben sollte. Selber zu einem Träger des heilswichtigen Wissens, zu einem der zahllosen Glieder des kollektiven Mediums der Gegenwärtigkeit des Verborgenen zu werden, das mußte doch etwas mit dem praktischen Lebensvollzug zu tun haben! Denn dieses Wissen wurde so hingebungsvoll gepflegt, weil daraus, daß es zur Verfügung stand, die Aufforderung folgte, es ohne Wenn und Aber bei der Bewältigung des Alltags zur Richtschnur zu nehmen. Allah wollte, daß die Menschen das Diesseits genau nach den Regeln durchwandern, die er ihnen gegeben hatte; sie

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sollten sich nicht verirren, sondern das Heil bewahren. Das Wissen, das sich ašŠaʿrānī aneignete, enthielt jene Regeln, und man konnte eine jede peinlich genau befolgen. Das aber war noch nicht der Weisheit letzter Schluß. Wenn für jede einzelne Handlung erst die einschlägige Vorschrift des Gesetzes ins Gedächtnis gerufen und wenn die Handlung in einem zweiten Schritt erst auf sie abgestimmt werden muß, dann kann man schwerlich behaupten, daß man aus dem Gesetz Allahs heraus handele. Solange es ein ums andere Mal einer solchen Anstrengung bedarf – mag diese auch schon zu einer Gewohnheit geworden sein –, so lange ist es immer noch das wider den Stachel des Gesetzes löckende Ich, das sich zur Geltung bringt und demzufolge der Urgrund alles Redens und Tuns bleibt. Nicht das Ich, das womöglich auf eine Gelegenheit zu erneuter Selbstbehauptung lauert, sondern die göttliche Fügung, die im verborgenen Bereich des Vorhandenen ohne jegliche Beschränkung waltet, muß der Urgrund des Handelns werden. Ist dies erst eingetreten, dann ist ein Verfehlen göttlicher Normen nicht mehr zu befürchten. Die göttliche Fügung wird nie in einen Widerspruch zur Scharia geraten; die Verschmelzung von Wissen und Handeln ist gelungen, denn das Handeln ist nun spontan mit dem Gesetz im Einklang. Das genau ist es, wovon al-Qušairī nach Ansicht Meister Zakarjās sprach. Im ersten Teil seiner Abhandlung stellte al-Qušairī die Aphorismen zusammen, die die großen frühen Meister des „Weges“ in Umlauf setzten. Abū Jazīd al-Bisṭāmī (gest. 874) soll sich nach dem Zeugnis seines Neffen, auf die Jahrzehnte seines Ringens um ein gottgefälliges Handeln zurückblickend, wie folgt geäußert haben: „Dreißig Jahre habe ich mich mit mir selber abgemüht. Am härtesten waren für mich das Wissen und die Pflicht, es zu befolgen. Gäbe es nicht die Meinungsverschiedenheiten der Wissenden, wäre ich (im Zustand des Folgsamen) geblieben. Die Meinungsverschiedenheiten der Wissenden sind eine Barmherzigkeit Allahs – dies ist aber nicht so, wenn man das Ich abstreifen möchte, um zur wahren Einheitsbezeugung vorzustoßen!“ Das von vielen Widersprüchlichkeiten durchzogene Regelwerk der Scharia erschwert es dem Muslim, das Dasein in jedem Augenblick ganz dem Willen Allahs unterzuordnen, das Ich zu tilgen und auf diese Weise nicht nur mit Worten, sondern existentiell die Einsheit des Schöpfers zu bezeugen. Die Vorschriften der Scharia, die trotz größter Anstrengungen der Gelehrten nicht zu einem in sich stimmigen Ganzen zusammenzufassen sind, geben für al-Bisṭāmī die Einzelheiten des Weges zur Ichabstreifung vor. Der unter den Rechtsgelehrten aufkommenden Ansicht, die Widersprüchlichkeit einzelner Regelungen zeuge von der Barmherzigkeit des Schöpfers, der den Muslimen verschiedene Möglichkeiten der ihm gefälligen Meisterung des Diesseits eröffne,24 vermag sich al-Bisṭāmī nicht anzuschließen. Er empfindet sie als eine Bedrohung seiner Bestrebungen, die eben wegen dieser Widersprüchlichkeit scheitern könnten.25 Meister Zakarjā geht in seiner Kommentierung auf diese Schwierigkeit gar nicht ein. Er knüpft an die Worte

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: „…das Wissen und die Pflicht, es zu befolgen…“ diese Bemerkung an: „Das bedeutet: (zu befolgen) durch die Handlungen. Denn beides (nämlich Wissen und Handeln) gelingt dem Menschen nur, indem er sich seinen Neigungen widersetzt und sich um seine Gottesfurcht abmüht. Das zieht, wie allgemein bekannt ist, Anstrengungen nach sich. Vor allem ist (bei al-Bisṭāmī) das Wissen gemeint, das das Herz betrifft – das Herz kann heuchlerisch, stolz, hochmütig sein und weitere derartige tadelnswerte Charaktereigenschaften besitzen; es kann aber auch über lobenswerte verfügen wie Skrupelhaftigkeit, Enthaltsamkeit, Aufrichtigkeit und andere.“26 Die aschʿaritische Frömmigkeit des 11. Jahrhunderts versuchte, über die genaueste Erfüllung der schariatischen Vorschriften zum Einswerden mit Allah zu gelangen und die Heilszusage Allahs zu verwirklichen.27 Meister Zakarjā hielt diesen Weg nicht mehr für erfolgversprechend. Das Herz war doch das Organ, dessen sich der im Verborgenen wirkende Geist Allahs bediente, um die Triebseele zu zähmen, sie zur zuversichtlichen Seele (Sure 89, 27) zu veredeln und zur glückseligen Rückkehr in die Gegenwart des Schöpfers bereitzumachen. Avicenna (gest. 1037) hatte zeit seines Lebens um die Ausarbeitung dieser Einsicht gerungen, ʿUmar as-Suhrawardī (gest. 1234) hatte sie in seinen Gnadengeschenken der Erkenntnisse fest in der sunnitischen Theologie und Metaphysik verankert.28 So ist es für Meister Zakarjā selbstverständlich, daß al-Bisṭāmī mit „Wissen“ etwas ganz anderes gemeint hat als die Summe der einzelnen schariatischen Normen, nämlich den im Menschen selber auffindbaren Ursprung aufrichtiger Liebe zu Allah und seinem Gesetz. Wer von dieser Liebe überwältigt ist, kann gar nicht in seinen Handlungen fehlgehen, denn nach dem Überwinden aller ichhaften Regungen ist es allein Allah, der handelt. Die Vermittelbarkeit der Spontaneität Meister Zakarjās Ergänzungen zur Abhandlung laufen demnach auf eine Verkehrung der Blickrichtung, mit der al-Qušairī die Aussprüche der Altvorderen zusammentrug und die Verhaltensregeln und inneren Erfahrungen der um Annäherung an Allah Ringenden beschrieb, in das genaue Gegenteil hinaus: Nicht über die skrupelhafte Gesetzeserfüllung findet man zur Demut und zur grenzenlosen Liebe zu Allah und schließlich zum Entwerden in Ihm; es ist vielmehr das Ihm aufrichtig zugewandte Herz, das, indem es vom Einswerden mit Ihm zeugt, auch ein der Scharia unterworfenes Handeln auslöst. – „Wahrhaft leben soll man nur mit Männern, deren Herz nach Gottesfurcht verlangt und daran Gefallen findet, Allahs zu gedenken – geborgen im Geist der Gewißheit, im Wohlgeruch, den er verströmt, gleichwie der Säugling an der Mutterbrust geborgen ist.“ Diese Verse Ḏū n-Nūn alMiṣrīs zitiert al-Qušairī, um die zweifache Wirkung der Gottesfurcht zu erläutern – nach außen hin zwingt sie den Menschen, die von Allah gesetzten Grenzen zu beachten, im Innern aber erzeugt sie das Empfinden eines Behütetseins, das von

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nirgendwoher angetastet werden kann. Meister Zakarjā merkt an, es gebe eine Textvariante, der zufolge Ḏū n-Nūn nicht sagte: „…daran Gefallen findet, Allahs zu gedenken…“, sondern „…dadurch, daß er Allahs gedenkt…“ – das sich anschließende Verbum müßte man dann mit „Erquickung finden“ wiedergeben: Erquickung durch das Gottesgedenken. Zakarjā erläutert diese von ihm bevorzugte Lesart: „Denn eine gute Lebensführung ist nur möglich, wenn das Herz lebt, und dessen Leben stellt sich nur dann ein, wenn es jeglicher Unachtsamkeit entgeht und ständig auf das aufmerkt, wozu es geschaffen wurde. Wenn das Herz fromm ist, dann ist auch der ganze Leib fromm. Und wenn beide fromm sind und das Herz jemanden findet, der das gleiche wie es selber anstrebt, dann vereinen sich die Bestrebungen, um das Erwünschte zu erlangen. Wenn es solche Leute gibt, dann tragen sie mit ihrer Kraft auch den Schwachen, und ihr Bestreben gewinnt Leben (in jemand anderem), indem dieser sie und ihr Ringen anschaut.“29 Die Heranbildung eines ganz Allah zugewandten Inneren, das ist die Aufgabe, der sich die Schariagelehrten nicht widmen. Allahs zu gedenken, für Ḏū n-Nūn Worte, die in ihm eine tiefe Freude wecken, faßt Meister Zakarjā als ein Mittel auf, mit dem das Herz der Glaubensbrüder zu dem ihm zugedachten Dienst angeleitet werden soll: Es soll sich ganz und gar öffnen für das Wollen Allahs, damit dieses sich ohne Einschränkung und Widerstand durch den Leib vollziehe. Dieses Ziel wird allerdings nur über den Meister erreicht, wie Zakarjā zu erkennen gibt. Denn indem der Adept Allahs gedenkt, wird ihm das Herz bereit gemacht, sich von den Bestrebungen des Meisters mitreißen zu lassen. „Verhüllung“ und „Enthüllung“, dies ist eines der Gegensatzpaare, mit denen alQušairī, der Redeweise der „Leute“ folgend, das Erleben der Nähe Allahs umschreibt. Dem gemeinen Mann bleibt der Eine stets verhüllt. Dies ist die Strafe dafür, daß er dem Einen nicht ganz und gar unterworfen ist. Den „Leuten“ aber, die sich in tiefer Demut vor ihm ihres Selbst entäußern, müsse Allah stets „enthüllt“ in Erscheinung treten. Doch Allah ist barmherzig – und so verhüllt er sich vor ihnen ein ums andere Mal, denn ein Mensch, vor dessen Angesicht das Wesen des Einen auf Dauer sich manifestierte, würde vernichtet. Zakarjā hebt in seinem Kommentar die bedrohliche Ambivalenz der Selbstenthüllung des Einen auf: Die „Verhüllung“, das ist die Seinsart des Menschen, die das Wahrnehmen des Verborgenen verhindert. Wenn das verborgene Licht erstrahlt, dann schwindet diese Hülle, die Seinsart des Menschen. „Dann wird der Spiegel des Herzens vom Rost der menschlichen Natur geglättet.“ Jemand wurde nach der Bedeutung der Begriffe „sich enthüllen“, „sich schmücken“, „das Alleinsein suchen“ gefragt, und er antwortete: „‚Sich enthüllen‘ meint, daß sich einem das Wesen Allahs in der Verschleierung durch seine Namen und Eigenschaften offenbart; ‚sich schmücken‘ heißt, daß man im Gehorsam, der dem Knecht wohl ansteht, zuläßt, daß die Bedeutung jener Namen an einem selber sichtbar wird, und ‚das Alleinsein suchen‘ bedeutet, daß aller eigener Wille hinfällig

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wird, indem man ganz und gar sich auf den Einen verläßt und sich ihm anheimgibt.“30 Meister Zakarjās Gedankenwelt Zwischen zwölf und siebzehn Jahren war aš-Šaʿrānī alt, als er mit Meister Zakarjā verkehrte und in diese Gedankenwelt eingeführt wurde. Wie tief und nachhaltig er von Zakarjā zeit seines Lebens geprägt blieb, können wir jetzt noch nicht abschätzen. Daß aš-Šaʿrānī an ihm jedoch genau jene Lebensform wahrnahm, das gesetzestreue Handeln, das nicht mehr aus der Überlegung, sondern aus dem Einssein mit der göttlichen Fügung kommt, offenbaren uns die Sätze, die er Meister Zakarjā in den Mund legt: „Den Kommentar des Glanzes verfaßte ich nur montags und donnerstags, denn wie es im Prophetenḥadīṯ heißt, werden die Taten an diesen beiden Wochentagen in den Himmel emporgehoben. Überdies schrieb ich ihn auf dem Dach der al-Azhar-Moschee. Meine Zeit war frei von den Trübungen, die durch die Seele verursacht werden, weil ich nur geringe Bindungen an das Diesseits hatte. Auch wurde mein Äußeres, Allah sei gelobt, vor schändlichen Handlungen bewahrt. Kurzweil und Spiel kannte ich kaum, selten suchte ich die Orte auf, an denen man lustwandelt. Nie wohnte ich am Ufer des Nils oder eines Kanals. Allerdings wollten meine Schüler bisweilen das Wasser sehen. Ich begab mich dann mit ihnen zur Āṯār-Moschee am See der Abessinier,31 und sie trugen dort ihre Lektionen vor. Ich selber schwamm jedes Jahr einmal im Nil. Ich tat dies, weil ich fürchtete, daß sonst meine Lust auf das Schwimmen verloren gehen könnte, denn es verhält sich hiermit wie mit dem, was zwischen Mann und Frau ist.“ Das Wissen zu kommentieren, ist keine Tätigkeit wie jede andere. Denn das Wissen stammt aus dem Verborgenen, und deshalb soll man dieser Tätigkeit nachgehen, wenn die diesseitige Hülle des Offenkundigen am ehesten durchlässig ist. Die Derwische der Gemeinschaft des Aḥmad al-Badawī wurden auch die „Dachgenossen“ genannt, weil an jenem Ort, den diesseitigen Verstrickungen etwas ferner, dem Himmel etwas näher, ihr Meister sich am liebsten aufgehalten hatte.32 Zerstreuungen stärken das Ich und sind daher dem Wissen abträglich. Dergleichen gilt aber nicht für die dem Menschen von Allah anerschaffenen Triebe; diese dürfen nicht ausgelöscht, sondern müssen dem Gesetz untergeordnet werden. Weiter soll Meister Zakarjā gesagt haben: „Als ich mich mit dem Wissen abgab und darin, Lob sei Allah, Geschick an den Tag legte, kommentierte ich den Glanz“. In diesem Buch, dem Glanz des Innersten der Herzen, stellte der Schafiit aš-Šaṭṭanaufī (gest. 1314) die Nachrichten über den Lebensweg des Gottesfreundes ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī (gest. 1166) zusammen und benannte die Zeugen jener denkwürdigen Lehrsitzung, in der dieser, von Gottestrunkenheit fortgerissen, ausrief: „Mein Fuß hier steht auf dem Nacken eines jeden Gottesfreundes!“ „Als ich mit dem Kom-

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mentar fertig war“, erzählte Meister Zakarjā weiter, „wurde einer der Gefährten darauf eifersüchtig. Er schrieb auf eines der Exemplare: das Buch eines Blinden und eines Sehenden. Er wollte mich dadurch bloßstellen, nämlich daß ich alleine den Glanz nicht zu kommentieren vermöchte. Mir hatte dabei nämlich ein Freund geholfen, der blind war. Wir hatten das Buch gemeinsam studiert. Von da an rechnete ich nur auf Allah und achtete nicht wieder auf irdische Anerkennung. Ich folgte darin meinem Imam aš-Šāfiʿī, der gesagt hatte: ‚Ich möchte diese Arten von Wissen vortragen, ohne daß etwas mir zugeschrieben wird.‘“ Das Wissen kommt nicht aus dem Menschen selber, es geht nur durch ihn hindurch. Damit dies ohne jegliche Minderung oder Trübung geschehe, muß der Gelehrte unablässig auf Allah gerichtet sein; mehr noch als der Mensch, der sein Handeln in dieser Welt vor den das Gesetz unterlaufenden Einflüsterungen des Ich bewahren will, muß der Gelehrte, der dieses Wissen aufnimmt und weitergibt, sich gegen derartige Heimsuchungen schützen. Über viele Jahre speiste aš-Šaʿrānī zusammen mit Meister Zakarjā, der nie mehr als ein Drittel eines Brotlaibes verzehrte, den er aus dem Konvent des „Glücklichen der Glücklichen“ kommen ließ. Dies war bis zum Ende des fatimidischen Kalifats der Palast eines hohen Würdenträgers gewesen; Saladin hatte das Gebäude den Derwischen, die von weither nach Kairo wanderten, als Bleibe zur Verfügung gestellt. Meister Zakarjā wollte nichts anderes essen, weil er zu wissen glaubte, daß der Gründer dieses Konvents – wahrscheinlich denkt Zakarjā an Saladin – ein frommer Mann gewesen und durch ein Zeichen des Propheten veranlaßt worden sei, das Gebäude für die Derwische herzurichten. Alle Speise, die der Gesetzestreue zu sich nimmt, muß nicht nur rituell zulässig sein; sie darf, ehe sie an ihn gelangt, auf keinen Fall in Geschäfte einbezogen werden, die Allah nicht behagen oder gar gegen die Scharia verstoßen. Das Brot, das mit den Mitteln einer frommen Stiftung hergestellt wird, ist von solchem Verdacht frei. – Noch bis ins höchste Alter hinein, nach aš-Šaʿrānī vollendete sein Meister ein ganzes Jahrhundert, vollzog Zakarjā nicht nur die Pflichtgebete, sondern auch die freiwilligen, die erst eigentlich bewirken, daß man zu Allahs Auge, Ohr, Hand wird und bar jeder eigenen Regung. Der Meister konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, trotzdem ließ er hiervon nicht ab. „Mein Sohn, die Seele neigt stets zur Trägheit! Ich fürchte, die Seele könnte Herr über mich werden und daß ich mein Leben so abschließen müßte!“ belehrte er seinen Schüler. „Ununterbrochen war Meister Zakarjā auf seinen Herrn gerichtet“, schreibt aš-Šaʿrānī, „kaum hätte man ihn einen einzigen Augenblick antreffen können, in dem er nicht seinen Herrn verehrte!“ Selbst wenn der Schüler einen Fehler in dem Text, den er dem Meister vortrug, berichtigte, hörte er diesen „Allah! Allah!“ murmeln. „Wenn ein Rechtsgelehrter die Begriffe nicht kennt, mit denen sich die ‚Leute‘ verständigen, dann ist er wie ein trockenes Brot ohne Beikost.“33

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Die Gegenposition Es gab unter den Gelehrten viele, die es für besser hielten, sich mit dem trockenen Brot zu begnügen; lieber wollten sie auf jede vortrefflich mundende Beikost verzichten, solange nicht gewiß war, daß diese nichts Verderbliches enthielt. Meister Zakarjā hatte zu jenen gehört, die wegen ihrer Überzeugungen von einem gewissen Burhān ad-Dīn al-Biqāʿī (gest. 1480) heftig angegriffen worden waren. Al-Biqāʿī war vor allem die Verherrlichung des ʿUmar b. al-Fāriḍ (gest. 1235) ein Dorn im Auge gewesen. ʿUmar hatte in einem berühmten Gedicht die Lehren von der Verankerung der Gesetzestreue im Erleben des Einen gepriesen. Damit war er zum Schibboleth geworden: Wer ʿUmar b. al-Fāriḍ rühmte, der bekannte sich zu dieser Auslegung der islamischen Heilsbotschaft; wer ihn zurückwies, der fand am trockenen Brot sein Genügen. Al-Biqāʿī war davon überzeugt, daß es gefährlich sei, nach dem Beispiel Zakarjās die spirituelle Erfahrung zu suchen und dadurch, vielleicht ungewollt, die Schariatreue abzuwerten. Manch Unberufener mochte sich dazu verführen lassen, alles hinzunehmen, wie es ist, und sich von jeglicher Pflicht freizusprechen. Allerdings zog sich al-Biqāʿī den Zorn der Mehrheit seiner Zeitgenossen dadurch zu, daß er seine Befürchtungen mit einer Kritik an dem vielen für unantastbar geltenden alĠazālī begründete. Dieser hatte gelehrt, daß das Diesseits, so wie es nun einmal ist, das bestmögliche sei, eben weil es die Erscheinungsform der göttlichen Bestimmung ist. Mit dem Schöpfer sei es insofern untrennbar verbunden, als es mit ihm das Sein gemeinsam habe – das Sein des Schöpfers sei absolut, dasjenige des Diesseits konditioniert, mithin ontologisch minderrangig, aber immerhin doch ein Sein, dessen Gegenteil das vollkommene Nichtsein ist. Al-Biqāʿī wies auf den schmalen, für viele womöglich gar nicht genau erkennbaren Grat hin, der diese Lehren von Auffassungen trennte, die mit dem Islam nicht mehr zu vereinbaren waren. Zu groß war die Verlockung, Allah mit dem Sein an sich gleichzusetzen – und damit die Möglichkeit zu verspielen, ihn noch als Schöpfer und Gesetzgeber zu denken.34 Sowohl in Damaskus als auch in Kairo hatten die Bedenken und Einwände al-Biqāʿīs erheblichen Unmut ausgelöst, zumal er sie in einiger Schärfe formuliert hatte.35 Mit dem Tod dieses streitbaren, in der biographischen Literatur nicht sehr vorteilhaft gezeichneten Gelehrten wurde es um solche Fragen zunächst still, erledigt waren sie jedoch nicht. Aš-Šaʿrānī wird sein Leben lang damit ringen, wie man den Weg der „Leute“ und die Schariatreue zu einem stimmigen Ganzen vereinen könne, zu einer Harmonie, die die Heilsbotschaft des Islams nicht nur für eine schmale Elite von Gottesfreunden, sondern für jedermann in ihrer vollendeten Form zur Lebenswirklichkeit macht.

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Aš-Šaʿrānīs Aufnahme unter die Sufis Meister Zakarjā bot dem jungen aš-Šaʿrānī, was dieser sonst nirgends finden konnte. „Glücklich das Auge, das ihn sah, wenn auch nur einmal!“36 Es blieb nicht bei der bloßen Bekanntschaft mit dem Gedankengut der „Leute“. Zakarjā nahm seinen Zögling in aller Form in deren Gemeinschaft auf: „Er bekleidete mich mit dem Flickengewand der Sufis, löste mir das Stoffende des Turbans und flößte mir die Worte des Gottesgedenkens ein.“37 Dies geschah im Mai 1508. Das Flickengewand, schreibt aš-Šaʿrānī in einem Traktat für die Adepten, war zur Zeit des Propheten noch nicht in Gebrauch. Doch sei Ibn ʿArabī in Mekka Zeuge geworden, wie al-Ḫaḍir, der Begleiter des Propheten Mose (vgl. Sure 18, 60 – 82), zahlreiche Gottesfreunde eingekleidet habe. Gegenüber dem Schwarzen Stein sei auch Ibn ʿArabī von al-Ḫaḍir auf diese Weise in die Reihen der „Leute“ aufgenommen worden, und später noch einmal durch Jesus. So ist dieser Brauch gerechtfertigt: Der Meister entledigt sich, sofern er unter dem Eindruck des Erlebens des Einen steht, seines Gewandes und legt es dem Adepten um, den er auf diese Weise zur Vollkommenheit geleiten möchte – auf den Adepten geht das Erleben über, und es entfalten sich in ihm die Charaktereigenschaften des Einen, die im Meister schon zum Durchbruch gelangt sind.38 Zum Zeichen der Vollendung der Gelehrsamkeit darf der Schüler ein Stück des Turbantuches über den Nacken herabhängen lassen. Durch die Einkleidung wird der Adept in eine Kette von Zeugen der Gegenwärtigkeit der göttlichen Fügung eingereiht. Diese hier reicht vom Meister Zakarjā über Muḥammad al-Ġamrī und Aḥmad az-Zāhid, über ʿUmar as-Suhrawardī, den Verfasser der Gnadengeschenke der Erkenntnisse, über viele weitere Glieder hinauf zu ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb und ʿAlī b. abī Ṭālib, die der Legende nach durch den Propheten auf diese Weise angenommen wurden. Der Prophet aber erhielt während seiner Himmelsreise aus der Hand des Engels Gabriel ein Gewand, das Allah selber gestiftet hatte; aus roten, grünen und schwarzen Stoffstücken war es zusammengenäht, Flicken, die symbolisch jene Gottesfreunde darstellen, die später leben werden.39 So die Erzählung, die dann doch – anders als Ibn ʿArabī es gelehrt hatte – den Brauch auf den Propheten zurückführt und damit die herrschende Meinung wiedergibt. – Und der Adept empfängt die Worte, die er fortan tausendfach sprechen soll, um Allahs zu gedenken. Zweierlei Frucht soll die Einflößung dieser Worte tragen: Mittels ihrer wird der Adept zum Glied in der Kette der Gottesfreunde, die bei Mohammed ihren Ausgang nimmt; vor allem aber soll die Kenntnis der Worte des Gottesgedenkens den Zögling befähigen, so durch das Diesseits zu wandern, wie dies von einem Glied jener Kette erwartet wird. „Der Meister wendet sich zu Allah und übereignet dem Adepten, indem er ihm aufträgt: ‚Sprich, es gibt keinen Gott außer Allah!‘ alles Wissen von der lauteren Scharia, das ihm selber zugeteilt wurde. Nach der Einflößung braucht der Zögling bis zu seinem Tode keines der Bücher der Scharia mehr zu studieren.“ Aš-Šaʿrānī fügt Aussprüche von Gottesmännern des 9.

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und 10. Jahrhunderts hinzu, die diese Zusage bekräftigen – vorausgesetzt, daß der Meister selber die Scharia vollständig kannte und ganz und gar nach ihr lebte. Jede Regung, die von ihm ausgeht, muß mit der Waage der Scharia zu überprüfen sein. In der Gegenwart, und das erfüllt aš-Šaʿrānī mit Zorn, gebe es falsche Meister,40 die diese Bedingung nicht im entferntesten mehr erfüllten.41 Das „eigene“ Wissen und die Nachahmung Die Gefahr des Mißbrauchs unmittelbar dem Verborgenen entströmender Einsichten, oder genauer, die Versuchung, solch ein unmittelbares Empfangen von Wissen vorzutäuschen, steht aš-Šaʿrānī lebhaft vor Augen; in seinen Schriften setzt er sich mit diesem Thema oft auseinander. Die Einfügung in die Kette der Bürgen, an deren unterem Ende der Meister Zakarjā stand, öffnete aš-Šaʿrānī den Blick für den wahren Quell des Wissens, dessen virtuose Handhabung er bei seinen Lehrern hatte beobachten und einüben können. Damit wurde ihm deutlich, daß die Lehrgedichte, die Kommentare und Randglossen in Wahrheit nur einen winzigen Teil des Wissens boten, eben jenen, der in die beschriebene Tätigkeit der Lehrer und Schüler einbezogen worden war. So schuf Meister Zakarjā die Voraussetzung dafür, daß ašŠaʿrānī später die ganz ungelehrten Äußerungen eines Mannes wie Sidi ʿAlīs, des Palmblattflechters, in sich aufzunehmen und wirken zu lassen vermochte. Zehn Jahre will aš-Šaʿrānī diesen ʿAlī begleitet haben,42 was aber kaum als eine zuverlässige Zeitangabe gewertet werden darf. Sidi ʿAlī starb 1538,43 man ist daher berechtigt, in ihm den spirituellen Führer aš-Šaʿrānīs in den frühen und mittleren Mannesjahren zu sehen.44 Daß die „Leute des Pfades“ die Scharia in allen Einzelheiten kennen und auch verstehen müßten, wie man sie fachkundig auslegt, schärfte Sidi ʿAlī seinem Gefolgsmann ein. Wer nur eine Bestimmung mißachte, dürfe sich nicht zu den „Männern“ zählen. Auf aš-Šaʿrānīs Bemerkung, daß dann kaum jemand zu ihnen gerechnet werden könne, versetzte Sidi ʿAlī, so verhalte es sich in der Tat. Ein wahrer Meister des Weges sei nur derjenige, der, selbst wenn er der einzige seiner Art unter allen Geschöpfen sei, diese doch zu vollständigem Gesetzesgehorsam anleiten könne. Weiter meinte er, daß für einen Gelehrten nur jemand gelten dürfe, dessen Wissen gleich jenem des al-Ḫaḍir unmittelbar und unableitbar sei. Al-Ḫaḍir, der im Koran namenlose Führer des Propheten Mose, hatte wundersame Dinge getan, deren Sinn rätselhaft blieb: Er schlug ein Schiff leck, so daß der Besitzer versinken würde; er brachte einen Jüngling ohne erkennbaren Grund um; in einer Stadt, in der beide keinerlei gastliche Aufnahme gefunden hatten, setzte er eine vom Einsturz bedrohte Mauer instand. Von Mal zu Mal wuchs Moses Befremden, und endlich begehrte er Aufklärung, obwohl er wußte, daß er sich in dem Augenblick, da sie ihm zuteil geworden sein werde, von al-Ḫaḍir werde trennen müssen: Das Schiff gehörte armen Leuten, die damit ihren Lebensunterhalt

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verdienten; wäre es nicht beschädigt gewesen, hätte der Herrscher es beschlagnahmt – der Jüngling war ungläubig, und es war zu befürchten, daß er seine gläubigen Eltern drangsaliert hätte – die Mauer gehörte zwei Waisenkindern; darunter war ein Schatz verborgen, der nach dem Einsturz der Mauer in falsche Hände geraten wäre (Sure 18, 71– 82). Mose, Prophet und Überbringer des göttlichen Gesetzes, vermag solche Zusammenhänge nicht zu durchschauen. Das Wissen, das ihm zu Gebote steht, kann durch Unterweisung weitergegeben, mit Kommentaren und Randglossen erforscht und ausgelegt werden. Doch wer sich dieser Tätigkeit verschreibt, ist im strengen Sinn kein Wissender, denn was er aufgenommen hat, ist nichts tatsächlich ihm Eigenes, Unableitbares.45 Aš-Šaʿrānī trug alles, was er in Kairo von Sidi ʿAlī, dem Palmblattflechter, hörte, in einer Schrift zusammen, der er den Titel Saphire und Juwelen gab – Edelsteine und Perlen sind die verdichteten Spuren des Einwirkens der Planetensphären auf die Welt unter der Mondsphäre.46 So steht es im berühmten arabischen Steinbuch des at-Tīfāšī (gest. 1253), und gleich wie Edelsteine und Perlen sind Sidi ʿAlīs Sentenzen Verdichtungen der göttlichen Fügung und nicht aus gelerntem Wissen deduzierbar. Freilich hatte aš-Šaʿrānī die Erfahrung gemacht, daß er derartige Preziosen den Lesern nicht ohne Schliff zeigen durfte; ihnen hätte sich der Sinn nicht enthüllt. Er mußte die Worte, wie er in der Einleitung sagt, in die Ausdrücke übertragen, wie sie unter Gelehrten üblich seien. Zu diesem Zwecke nutzte er die „Lichtstrahlen“, die in den Worten ehrwürdiger Gottesfreunde aufblitzten, in den Worten des Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī (gest. 1258),47 des Abū s-Suʿūd b. abī l-ʿAšāʾir (gest. 1246)48 und anderer.49 Aš-Šaʿrānī paßte Sidi ʿAlīs Einsichten in die seit drei Jahrhunderten verfeinerte Redeweise der spirituellen Deutung des Islams ein. In Wahrheit ist alle wissenschaftliche Tätigkeit nichts als Nachahmung; das ist Sidi ʿAlīs Überzeugung, die er aš-Šaʿrānī in einem Gespräch anvertraute. Roter Schwefel,50 das ist in der Alchimie der Stein der Weisen, überschrieb aš-Šaʿrānī die Belehrungen, die er dabei empfing: Ich fragte unseren Meister: „Entkam einer der Vollkommenen dem Schleier der Nachahmung?“ Er antwortete: „Die Nachahmung ist der Ursprung, auf den jegliches Wissen zurückgeht, das durch Überlegung gewonnene, das sich notwendig einstellende, das sich einer Enthüllung verdankende. In jedem Falle sind die Menschen in der Lage desjenigen, der dem folgt, was sich ihm zeigt.“ Ich fragte weiter: „Welche Menschen nehmen in der Nachahmung den höchsten Rang ein?“ Er erwiderte: „Diejenigen, die ihren Herrn nachahmen; sie erlangen das wahre Wissen. Denn er ist in sich selber wissend (vgl. Sure 2, 32 und öfter). Infolge dessen ist alles, was er über sich selber aussagt und was er als Gesetz verfügt, die Wahrheit an sich.“ „Und welche Menschen nehmen den nächsten Rang ein?“ „Diejenigen, die in den notwendigen Angelegenheiten ihren Verstand nachahmen.“ „Und wer kommt nach diesen?“ „Diejenigen, die ihren Verstand in allem nachahmen, was diesem das Nachdenken eingibt. Im Existierenden gibt es nie-

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manden, der die Dinge mit seinem Wesen weiß, abgesehen von Allah. Alle Geschöpfe hingegen wissen ein Ding nur dank einer zu ihrem Wesen hinzutretenden Gegebenheit. Wessen Wissen aber so verfaßt ist, der ist nicht in Wirklichkeit wissend, weil er jene seinem Wesen hinzutretende Gegebenheit nachahmt, die ihm etwas übermittelt. Alle auf Grund von Überlegung Wissenden unterliegen insofern einer Täuschung, als sie glauben, sie seien wissend dank dem, was ihnen die Überlegung, die Wahrnehmung und der Verstand eingeben. Gleichwohl verharren sie im Zustand der Nachahmung dessen und verlassen ihn nicht. Denn keine ihrer Kräfte ist gegen Fehler gefeit. Wenn sie sich jedoch Allah durch freiwillige Handlungen der Verehrung näherten, bis der Eine Wahre zu ihrem Gehör, ihrem Gesichtssinn, zu allen ihren Kräften geworden wäre, dann erkennten sie alle Dinge durch Allah; sie erkennten Allah durch Allah, ihn nachahmend…“ Ich hörte ihn sagen: „Das Wissen ist ein Licht, das Licht ein Schleier, der Schleier Blindheit; die Blindheit und Verwirrung bedeuten ein Zurückbleiben, das Zurückbleiben den Untergang – wir bitten Allah um seine Huld!“ Wer wirklich wissend ist, dessen Wesen muß wissend sein, fordert Sidi ʿAlī. Nur auf Allah trifft dies zu, wie dies der Koran unzählige Male verkündet. In allen Geschöpfen erscheint das Wissen nur als etwas, das zu deren bloßem Dasein hinzutritt. Sie werden wissend, indem sie das Hinzutretende nachahmen, es aufnehmen, sich wie ein Halsband umhängen – dies ist das Bild, das dem arabischen Begriff der Nachahmung zugrunde liegt. Das Wissen, das aus der Wahrnehmung und den Axiomen und aus der rationalen Durchdringung des Wahrgenommenen unter Beachtung der Axiome hergeleitet wird, ist allein schon, weil es auf solche Weise gewonnen wurde, nicht dem göttlichen, dem fehlerlosen Wissen zu vergleichen. Wer dieses fehlerlose Wissen erwerben will, der muß sich in ununterbrochenen Gehorsamsleistungen Allah so weit annähern, bis er, wie es in einer immer wieder zitierten „heiligen Überlieferung“51 heißt, gerade keine eigenen Handlungen des Wissenserwerbs mehr vollzieht, sondern, sein Ich auslöschend, zum Medium der göttlichen Kunde wird.Wissen ist zwar einem Licht zu vergleichen, aber wenn es nicht aus der einen, wahren Quelle fließt, dann betrügt man sich am Ende selber, indem man hofft, dank seiner Allah näher zu kommen; im Gegenteil, es führt ins Verderben.52

2.2 Erkennen Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß er, als ich mich in das Wissen von der Scharia vertieft hatte, mir eingab, auch ohne Meister mit meinem Selbst zu ringen. Es war mir nämlich unmöglich, nach dem zu handeln, was ich wußte. Die heiligmäßigen Altvorderen, deren Herzen ganz rein waren, bedurften für den Weg, der sie zum Handeln entsprechend dem Wissen führte, keines Meisters, denn es gab nichts, was sie an solchem Handeln gehindert

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hätte. Die heutigen Menschen dagegen kennen zahllose Hindernisse; manch einer begreift die Richtigkeit der mohammedschen Charakterzüge, nämlich Enthaltsamkeit, Skrupelhaftigkeit, Furcht und dergleichen, doch es gelingt ihm nicht, sich ihnen gemäß zu formen. Einige Schariagelehrte verpflichten ihre Schüler, sich einen Meister zu suchen, der sie den Weg zur Überwindung dieser Hindernisse lehrt. Sie ordnen dies sogar in die Kategorie der Dinge ein, die zur Erfüllung einer Pflicht unentbehrlich und infolgedessen selber Pflicht sind, und sagen: „Wer in seiner Stadt keinen Meister für sich findet, muß sich zur Suche auf die Reise begeben. Wer aber nicht reisen kann, der muß ohne Meister mit dem Selbst ringen. Allah spricht: ‚Und wenn (auf die Erde) kein Regenguß niederströmt, dann soll wenigstens Tau sie benetzen!‘ (Sure 2, 265)“. Alle Meister des Weges verfolgen, indem sie die Menschen das Wandern lehren, allein die Absicht, die Zöglinge zum aufrichtigen Handeln anzuleiten, wie dies die heiligmäßigen Altvorderen oder zumindest einige von ihnen pflegten. Wenn sich nach solcher Unterweisung jemand mit dem Wissen beschäftigt oder betet, fastet, pilgert oder sich der Skrupelhaftigkeit und Enthaltsamkeit befleißigt, dann ist er vor dem Leichtsinn geschützt, der die Aufrichtigkeit antastet und das Handeln scheitern läßt… Ohne einen Meister zu haben, rang ich mit meiner Seele auf diese Weise: Ich studierte die Bücher der „Leute“, etwa die Abhandlung al-Qušairīs, die Gnadengeschenke der Erkenntnisse, die Nahrung der Herzen des Abū Ṭālib al-Makkī (gest. 996),53 die Belebung des al-Ġazālī und dergleichen und handelte gemäß den Funken des Verstehens, die ich aus dieser Lektüre zu schlagen vermochte. Nach einiger Zeit allerdings schien mir etwas anderes einleuchtender, und so ließ ich das Vorherige sein und handelte nach dieser zweiten Einsicht, und so immerfort. Ich glich jemandem, der eine Gasse betritt, ohne zu wissen, ob sie zu einem Ziel führt oder nicht, und wenn ja, dann folgt er ihr bis zum Ausgang, und wenn nicht, dann muß er umkehren. Träfe er jemanden, der ihm die Gasse beschreiben könnte, ehe er sie betritt, würde ihm Klarheit verschafft und eine unnötige Anstrengung erspart. Ganz so verhält es sich mit jemandem, der keinen Meister hat. Der Nutzen eines Meisters liegt allein darin, daß er dem Adepten den Weg verkürzt. Wer ihn ohne Meister betritt, verirrt sich und vertut sein Leben, ohne an das Ziel zu gelangen. Der Meister ist dem Führer zu vergleichen, der die Pilger in finsterer Nacht nach Mekka geleitet. – Zu den Vorkehrungen, mit denen ich mich ohne die Anweisung eines Meisters kasteite, gehört folgendes: Ich knüpfte ein Seil an die Decke meiner Zelle, so daß ich gerade noch meinen Hals frei bewegen konnte, wenn ich mich hinhockte, das jedoch nicht auf den Boden reichte, hätte ich mich hinlegen wollen.Vom Nachtgebet bis zur Zeit des Morgengebets legte ich mir jahrelang das Seil um den Hals. Gelobt sei Allah dafür, daß ich keinerlei diesseitige Bindung hatte, die mich an solcher Kasteiung und am Erreichen meiner Absicht hätte hindern können, ausgenommen die mir zahlreich unterlaufenen Fehler bei meinen Handlungen – wenn solche Fehler auch niemals den Menschen verlassen, werden sie doch mit jedem Standplatz, den er durchwandert, subtiler. Jeder Standplatz hat die auf ihn passenden Fehler. Begreife das! – Es war meine Art, mich mit wenig irdischem Gut zufriedenzugeben, und diese Zufriedenheit schützte mich, Allah sei gepriesen, davor, mich vor irgendeinem der Söhne der Welt zu erniedrigen. Seit ich erwachsen geworden war, widerfuhr es mir auch nicht, ein Gewerbe auszuführen oder eines zu übernehmen, durch das ich ein weltliches Einkommen erzielt hätte. Bis auf den heutigen Tag ernährt mich der Eine Wahre auf eine Weise, die ich mir nicht ausdenken könnte. Man bot mir tausend Dinare oder mehr an, aber ich wies sie zurück und nahm nichts davon. Amtspersonen und Kaufleute brachten mir Gold und Silber, und ich streute es in den Hof der al-Ġamrī-Moschee, wo es die aufhoben, die dort zu rituellem Aufenthalt weilten. Ich verzichtete auf köstliche Speisen, kleidete mich etwa zwei Jahre lang in grobes Leinen und in zusammengenähte Lumpen, die ich von Abfallhaufen aufklaubte. Zwei Monate lang aß ich Staub, wenn ich keine (andere) reine Speise vorfand.54

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Schließlich unterstützte mich der segensreiche und erhabene Allah mit der rituell erlaubten Nahrung, die meinem damaligen Standplatz angemessen war. Ich verschmähte Speisen aus der Hand eines Sekretärs, einer Amtsperson, eines Kaufmannes, der mit Übeltätern Geschäfte machte, eines Rechtsgelehrten, der seinen Posten nicht gut verwaltete und bloß die Einkünfte aufzehrte, und jegliches anderen, der leichtfertig seinen Unterhalt erwarb. Am Ende wurde mir alles zu eng, ich mied alle Menschen, und sie mieden mich. Lange Zeit hauste ich in verlassenen Moscheen und verfallenen Türmen, unter anderem ein Jahr in dem Aussichtsturm auf der Stadtmauer, der zu den Ruinen des Aḥmadī-Schlosses gehört.55 Reinere Tage als jene Zeit habe ich nie erlebt! Ich hungerte mitunter drei Tage und mehr und aß dann etwa ein Uqia56 Brot, nichts weiter. Hierdurch schwächte sich meine leibliche Natur, und meine geistige gewann in einem Maße die Oberhand, daß ich nach meinem Willen durch die Luft zu dem Gipfel des Mastes hinaufzuschweben vermochte, der im Hof der al-Ġamrī-Moschee aufgepflanzt ist, und mich des Nachts, während alle schliefen, darauf niederließ. Wenn ich dann über die Leiter in die Moschee hinabklettern wollte, gelang mir dies nur unter Mühen, weil die geistige Natur so stark überwog und nach oben in ihre Welt strebte. Denn allein die Fülle seiner Begierden hält den Menschen auf dem Boden fest. So erklärt sich übrigens auch, weswegen der Mensch beim Gottesgedenken und bei der Koranrezitation den Kopf hin und herbewegt: Der Geist sehnt sich gleichsam in die Nähe des Hofes seines Herrn, sobald er dessen Wort oder dessen Namen hört; er ist nahe daran, in seine himmlische Welt einzugehen. Dies meint der folgende Doppelvers: „Und als das fremde Reich vor meinem Aug’ erschien, ersehnte ich die Heimat gleich dem Reitkamel.“ Als die Menschenscheu ganz von mir Besitz ergriffen hatte, wandten sich die Herzen all meiner Gefährten von mir ab. Sie schnitten mich, als kennten sie mich gar nicht, denn meine Zeit war mir zu knapp, um mit ihnen zusammenzusitzen und in leerem Gerede freundlich mit ihnen zu tun. Oft ging ich hinaus an jene Uferstelle der großen Teiche, an denen man Rettiche, Salat, Möhren und anderes Gemüse wäscht. Ich las einiges davon auf, das liegengeblieben war, um für den Tag meinen Hunger zu stillen, trank dazu etwas von jenem Wasser und dankte Allah dafür. Auf keinen Fall nahm ich Essen von einem der Derwische an, die in einer Klause ohne Erwerbsarbeit und Beschäftigung dem Gottesdienst nachgehen, denn ich fürchtete, es könnte jemand sein, der, selbst ohne es zu wissen, von seiner Glaubenspraxis lebt. Desgleichen wies ich die Speisen eines jeden Qāḍīs zurück, auch wenn er ein frommer Mann war, denn vielleicht könnte er sich, wenn ihn ein Verlangen überkam, in die Entgegennahme von Geschenken der Parteien verstricken. Ebenso verzichtete ich auf die Speisen aller Menschen, die mit Waage, Hohlmaß und Elle umgehen.57 Schließlich ließ ich mir von niemandem mehr etwas zu essen geben, sondern nahm nur noch bei den ersten Anzeichen der unabweisbaren Notwendigkeit Nahrung zu mir, nämlich sobald meine Eingeweide gar nichts mehr hatten, womit sie sich beschäftigen konnten, und sich selber zu verschlingen begannen. Wenn ich mit dem Gottesgedenken nach dem Nachtgebet begann, dann beendete ich es nicht vor Anbruch des Frühlichtes, vollzog das Morgengebet und setzte das Gottesgedenken bis zum Vormittag fort, betete wieder, setzte wieder das Gottesgedenken fort, bis die Zeit des Mittagsgebets kam, verrichtete es, setzte abermals das Gottesgedenken fort bis zum Nachmittagsgebet, dann weiter bis zum Gebet bei Sonnenuntergang, dann bis zum Nachtgebet. So trieb ich es ungefähr ein Jahr lang. Nicht selten trug ich beim Vollzug des Ritus in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Nachtgebet ein Viertel des Korans vor, dann wachte ich, den Rest vortragend, so daß ich vor Anbruch der Morgendämmerung ihn ganz aufgesagt hatte. Bisweilen rezitierte ich auch den ganzen Text während einer einzigen Rakʿa.58 Ich schlief nur, wenn mich der Schlaf überwältigte, dergestalt daß er mir ein ums andere Mal den Kopf nach vorn riß und ich einnickte; oft überwältigte er mich auch ganz. Dann schlug ich mir die Oberschenkel mit

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der Peitsche oder stieg, wenn es Winter war, bekleidet in kaltes Wasser, damit mich der Schlaf nicht wieder überkomme. Solches Verhalten ist nach dem Grundsatz gerechtfertigt, daß, sobald zwei Übel in Widerstreit treten, man das geringere von beiden begehen soll. Zweifellos ist es in Allahs Augen besser, wenn der Lebende in der Finsternis vor Allah steht und wegen des Schlagens körperliche Schmerzen verspürt, als mit gesundem Leib zu schlafen und das Erscheinen des Herrn zu verpassen. Hierauf weist das Prophetenwort hin: „Zwei Dinge gibt es, um deretwillen viele Menschen sich übervorteilen lassen: die Gesundheit und die Muße!“59 Jedem Standplatz sind die geeigneten Männer zugeteilt, und wer eine kostbare Sache erstrebt, gefährdet eine andere. So stellt sich heraus, daß derjenige, der Allah liebt, in dem einen Tal ist, und derjenige, der ihn haßt, in einem ganz anderen. Wer studiert, was die „Leute“ in ihren Anstrengungen durchlebt haben, dem fällt nicht schwer, derartiges selber durchzustehen. So schlug sich aš-Šiblī (gest. 945), wenn sich der Schlaf seiner bemächtigte, mit einem Bambusrohr, und manchmal verbrauchte er davon ein ganzes Bündel in einer einzigen Nacht; auch strich er sich Salz in die Augen, damit er nicht einschlafe, oder er stieg auf eine Mauer und stand dort, den Schlaf zu vertreiben. Auch hörte ich, daß Sidi ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī in den Tagen des Ringens wider sich selber ein ganzes Jahr lang weder aß, noch trank, noch schlief. Er erzählte: „Einmal rief ich mein Selbst zum Wachen in der Nacht, und es weigerte sich. Da verwehrte ich ihm ein Jahr lang,Wasser zu trinken.“ Al-Jāfiʿī (gest. 1367) meinte, das gewichtigste Lob, mit dem man die Anstrengungen dieser heiligmäßigen Männer bedenken könne, bestehe in der Anerkennung, daß sie stets das geringste von zwei Übeln wählten gleich jemandem, der an einem Bissen zu ersticken droht, aber kein Wasser findet und daher den Bissen mit einem Schluck Wein hinunterspült. – Ungefähr ein Jahr lang besaß ich auch nur einen Turban aus Stoffresten, die ich mir aus dem Müll gesucht hatte, und Lederfetzen, bis ich endlich rituell erlaubte Kleidung fand. Ich ging in meiner peinlich genauen Skrupelhaftigkeit so weit – und zwar durch Allah geschützt, nicht aus eigener Macht und Kraft –, daß ich auch keine jungen Tauben mehr verzehrte, weil diese doch ohne Billigung des Bauern die Saat aufpicken, und daß ich nicht den Schatten von Gebäuden durchquerte, die ein Mächtiger oder dessen Helfer errichtet hatten. Als der Sultan (Qānṣauh) al-Ġaurī in Kairo die hölzerne Überdachung zwischen seiner Medresse und seinem blauen Kuppelbau anbringen ließ, ging ich nicht darunter hindurch, sondern betrat das Viertel vom Markt der Kopisten aus und verließ es durch den Markt der feinen Leinenstoffe. Allah sei gepriesen dafür, daß ich bis heute den Standplatz der Skrupelhaftigkeit einnehme; denn das Erkennen löscht nicht das Licht der Skrupelhaftigkeit. Wenn übrigens ein Skrupelhafter sein Verhalten bei sich selber genau prüft, wird er finden, daß alles, worauf er aus solcher Vorsicht verzichtet, ihm von Allah auch gar nicht zugeteilt worden war, und daß es keineswegs so ist, daß Allah es ihm zunächst zuteilte, ihn dann aber davon zurückhielt.60 Eine solche Vermutung ist falsch, versteh das! Denn die Annahme, der Mensch könnte sich selber von etwas abkehren, obwohl Allah es ihm zugeteilt hat, ist ein Irrtum. Selbst wenn der Eine Wahre dem mit der Befolgung der Scharia belasteten Menschen befohlen hat, nach besten Kräften die Schicksalsschläge, die ihm drohen, abzuwenden, so liegt hierin doch nicht die gesetzliche Pflicht, dies auch tatsächlich zu leisten. Vielmehr ist der Sinn dieser schariatischen Bestimmung darin zu suchen, daß Allah den Menschen für die Bemühungen um die Abwehr belohnen will, unbeschadet der Tatsache, ob im Einzelfall der Schicksalsschlag eintritt oder nicht. Wenn der Eine Wahre sich seines Knechtes annimmt, dann schützt er ihn vor Sünde und Niedrigkeit, indem er ihm nichts zuteilt und ihm das Erlaubte aus dem Kot des Verbotenen und

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aus dem Blut der Zweifelsfälle herauspreßt, so, wie er ihm die Milch aus dem Euter preßt. Allah hat zu allem Macht! Preis sei Allah, dem Herrn der Welten!61

*** Allahs Weisheit – Erkenntnis und Scharia – Die Gottesfreunde, Bewahrer des Heils der Muslime – Das Ringen um Einsicht – Originalität – Sehkraft und Einsichtskraft – Die schädlichen Folgen des Schlafes – Das Gottesgedenken – Eine Anleitung zum richtigen Gottesgedenken – Veranstaltungen des Gottesgedenkens – Das Entsetzen im Höchstmaß des Erkennens

Allahs Weisheit Über viele Stufen, „Standplätze“, hinweg muß sich der Mensch bereit machen, des unvermittelten Wissens teilhaftig zu werden, das alles diesseitige Sein, alles Offenkundige durchzieht. Das Selbst ist dem Diesseits verhaftet, liebt es, freut sich der Sinneseindrücke, die ihm vom Diesseitigen Kunde geben, von Farben und Wohllaut, von Düften und betörendem Geschmack, von dem angenehmen Gefühl, Seide zu berühren. Doch ist dies alles nur Oberfläche – darunter, im Seinsbereich des Verborgenen, den unsere fünf Sinne nicht erreichen, liegt das eigentliche Sein, das, indem es das Sein ist, mit dem göttlichen Sein auf immer verwoben bleibt. Der Gegensatz des Seins ist das völlige Nichtsein, und Allah hat sein absolutes Sein hinaus in dieses Nichtsein entfaltet, ohne sein absolutes Sein in der unbegreiflichen Fülle zu mindern. Das entfaltete Sein, das durch den Menschen nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, ist der Träger aller den Sinnen zugänglichen Erscheinungen, der ganzen bunten, vielfach auch bedrohlichen, ja bösen Gegebenheiten dieser Welt. Denn indem das von Allah in das Nichtsein hinausgetretene Sein in einer Weise, auf die der gewöhnliche Mensch sich keinen Reim zu machen vermag, die Erscheinungen des Diesseits trägt – das anderenfalls das völlige Nichtsein wäre –, muß es sich um ein konditioniertes Sein handeln, eben für die ihm von Allah zugedachte Funktion tauglich gemacht.62 – So bildlos wie in der Auslegung durch den genialen Theologen Ibn ʿArabī (gest. 1240), die hier in aller Kürze umrissen wurde, stellten sich die „Leute“ den Kosmos und seine untrennbare Bindung an den einen Schöpfer und unermüdlichen Lenker allerdings nicht vor. Das in das Nichtsein hinausgetretene, das konditionierte Sein bildet den Bereich des Verborgenen, die Welt der uneingeschränkten göttlichen Souveränität; hier geschieht alles nach des Schöpfers Bestimmen. Dies gilt für das Offenkundige, die Welt seiner Herrschaft, zwar genauso; aber im Diesseits zeigen sich unseren Sinnen unentwegt Vorgänge und Erscheinungen, die dem Gesetz Allahs, der Scharia, widersprechen, also als Sünde oder Aufruhr gegen ihn zu werten sind.Verstöße gegen das Gesetz sind in der Tat Sünde. Aber wenn man in das Verborgene hinüberzuspähen vermag, wird einem die Weisheit einer jeden sündhaften Erscheinung einleuchten. Die Sünde wird unter

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Abb. 1: Exerzitien der Ichabstreifung

diesem belehrenden Blick als ein Phänomen begreiflich, das in einen viel größeren Zusammenhang gehört, als ihn die Auslegung des wahrgenommenen Offenkundigen durch den Verstand je erschließen könnte. Dieser Zusammenhang ist die göttliche Weisheit. Aš-Šaʿrānī hält sich viel darauf zugute, daß es ihm gelungen sei, jeden Verstoß gegen die Scharia in dieser Weise zu verstehen und lediglich mit einem Blick auf die Bestimmungen des Gesetzes gegen ihn einzuschreiten. Die Höflichkeit gegen Allah, der doch auch jede einzelne Sünde ihrem Täter vorherbestimmt, gebietet ein solches Verhalten, das aš-Šaʿrānī eine „mohammedsche Charaktereigenschaft“ nennt. Denn auf ebendiese Weise sei der Prophet mit seinem Diener Anas b.

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Abb. 2: Gemeinschaftliches Gottesgedenken

Mālik umgegangen, und daher möge man den Sünder mahnen: „Mein Bruder, hüte dich, dergleichen wieder zu tun! Wende dich reumütig zu Allah, kehre zu ihm zurück! Laß dich nicht von seiner Langmut mit dir täuschen!“ Das schroffe Tadeln: „Warum hast du das getan!“ bringt nun, da die Verfehlung geschah, keinerlei Nutzen mehr.63 So wird durch das Mittel der Sünde die weise Absicht Allahs gefördert, nämlich den Menschen, sein Geschöpf, in die ihm zugedachte unverbrüchliche Bindung an ihn einzufügen. Denn Allah selber ist es, der sich dem Menschen stets zuwendet. Dasselbe Wort, das die reumütige Umkehr des fehlbaren Menschen zu seinem Schöpfer ausdrückt, bezeichnet auch Allahs entsprechendes Verhalten.64 AšŠaʿrānī gesteht deshalb ein, daß er mit Allahs Ratschluß auch dann einverstanden sei, wenn dieser ihm einen Verstoß gegen die Scharia auferlege. In die Tatsache, daß sie aus Allahs Ratschluß komme, müsse man sich fügen, billigen aber dürfe man die Verletzung der Scharia nicht. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, lehrte aš-Šaʿrānī, daß die von Allah bestimmten und gewirkten Handlungen des Menschen stets unüberbietbar vollkommen sind. Laufen sie auf einen Gesetzesbruch hinaus, dann eben, um den Stolz des Menschen auf seine Gesetzestreue zu dämpfen. In einen derartigen Dünkel würden sich die vollendeten Gottesfreunde freilich gar nicht erst hineinreißen lassen, und so sei zu erklären, daß Allah an ihnen nie Übertretungen des Gesetzes zur Erscheinung bringe.65

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Doch wollen wir aš-Šaʿrānī hier noch nicht näher über die schwierigen Probleme der Ethik befragen, die sich aus der Deutung des Diesseits als der von den fünf Sinnen wahrgenommenen Oberfläche des ins Nichtseiende hinaus entfalteten Seins ergeben. Es wird jedenfalls schon deutlich, daß nicht nur die nach den Regeln der Wissenschaft betriebene Jurisprudenz zur „Nachahmung“ abgewertet wird, sondern daß auch die Scharia selber an Gewicht einbüßt: Als Anweisung zur Sicherung des Heils wird sie zweitrangig. Sich unmittelbar in die göttliche Fügung einzubeschreiben, das ist das Ziel der Gottesfreunde, und sie nehmen die damit verbundene Mühsal nicht nur zu eigenem Nutzen auf sich. Denn so wie sich der Gottesfreund gegen seinen Schöpfer verhält, erzeigt sich auch das konditionierte Sein gegen den Gottesfreund. Aš-Šaʿrānī erläutert den Zusammenhang zwischen seinem Handeln und dem aus dem Verborgenen determinierten Diesseits, indem er auf die Fehler und Vergehen seines Gesindes und seiner Gefolgsleute, auf die Widerspenstigkeit seiner Ehefrauen zu sprechen kommt. Es gehöre sich nicht, sich über all dies zu grämen. Vielmehr habe er es geduldig zu ertragen, denn nicht jene, sondern ihn selber habe jeglicher Tadel zu treffen. Jene von ihm abhängigen Menschen seien wie sein Schatten; wenn er selber krumm sei, wie dürfe er da verlangen, daß er einen geraden Schatten werfe?66 Für den Gottesfreund selber, der zur Mehrung und Stärkung seiner Geistnatur die leibliche unterdrückt, ja in manchen Augenblicken sie nahezu zum Absterben bringt, gilt demnach die schwere Verpflichtung, die Scharia und den Umgang mit der ihr dem Ursprung und dem Wesen nach vorausliegenden Spiritualität zu einem harmonischen Ganzen zu verweben: Das absolute Sein ist die Voraussetzung dafür, daß sich das konditionierte Sein, auf das die Scharia abgestimmt ist, entwickeln kann. Das spirituelle Erkennen greift hinter diese Entwicklung zurück. Erkenntnis und Scharia Trotzdem wäre es verwerflich, die Erkenntnis, die einem unmittelbar aus dem Verborgenen zuströmt, gegen das Gesetz auszuspielen, was leider allzu oft geschehe. Scharia und Spiritualität verweisen aufeinander. Erst in der spirituellen Deutung offenbart sich die Fülle des Sinnes der Bestimmungen, die Allah erlassen hat. Das, was der Gottesfreund erkennt, der sich in die Einsamkeit zurückzieht und den Umgang mit den Mitmenschen abbricht, kann man als Führung durch die Weisheit bezeichnen; nur in übertragener Bedeutung kann es auch Gesetz genannt werden. Den Propheten war es ohne weiteres zugänglich. In den Perioden der von der Schaffung der Welt bis zum Gericht verlaufenden Geschichte, in denen keine Gesandten Allahs wirkten, mußten Ersatzmänner die Bürde auf sich nehmen und ihr Ich zähmen, bis in ihnen Einsichten aufleuchteten, „durch welche die Ordnung der Welt in Erscheinung trat, sofern sie danach handelten“. Diese Einsichten sind al-

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lerdings nicht mit den Wort für Wort offenbarten Bestimmungen der Scharia gleichzusetzen, die den Menschen ausdrücklich sagen, was richtig und was falsch ist; sie entschlüsseln nämlich nur die göttliche Lenkung des Weltenlaufs, wie wir ihn an und um uns Tag für Tag beobachten. Aš-Šaʿrānī faßt deshalb die Früchte solcher Beobachtungen unter dem Begriff qānūn zusammen, mit dem herrscherliche Erlasse bezeichnet werden, die der Festigung der Macht und dem reibungslosen Gang der Verwaltung dienen, aber keinerlei Auswirkungen auf das Jenseitsschicksal der Menschen haben, die sie beachten müssen. Und dies ist der wesentliche Unterschied zur Scharia: Was sie dem Menschen vorschreibt, hat immer sowohl mit dem Diesseits als auch besonders mit dem Jüngsten Gericht und dessen schwerwiegenden Folgen zu tun. In den Epochen der Weltgeschichte, in denen wie in der islamischen die von einem Propheten verkündete Scharia noch nicht in Vergessenheit geraten ist, darf diese niemals zugunsten der Erkenntnisse, die dem Verborgenen entstammen, vernachlässigt werden. Der Weg, auf dem das Wissen von der Scharia vermittelt wird, ist die Überlieferung und deren methodengerechte Bearbeitung. Die Gottesfreunde aber lösen sich aus dem Diesseits und seinen Erfordernissen und Verlockungen, ja selbst aus dem Wissen, das man durch Wahrnehmung des Diesseits gewinnt, und machen so ihr Herz frei, um ohne die Vermittlung durch einen Menschen die Belehrungen des Einen Wahren in sich aufzunehmen. Allah schenkt ihnen die Erkenntnis der Weisheit, die sich hinter dem Zwang verbirgt, die Mittel für den Erwerb des Lebensunterhalts zu erarbeiten. Er eröffnet ihnen die Möglichkeit, sein Walten zu beobachten, durch das er das Diesseits ordnet. So werden die Gottesmänner gewahr, wie sie mit den ihnen anvertrauten Menschen umzugehen haben und was zu jeder Zeit dem Land oder dem Erdteil frommt, in dem sie beheimatet sind. Hat ein Gottesfreund einmal eine solche lichthafte Erkenntnis erlebt, in der ihm die Wahrheit des Schöpfers aufstrahlte, dann sehnt er sich immerfort nach Mehrung und Wiederholung. Er fällt unter den gewöhnlichen Menschen auf, weil er Dinge tut und Gemütszustände zeigt, die befremdlich wirken. „Er vertritt zu jener Zeit die Gottesgesandten darin, daß er die Ordnung der diesseitigen Welt in sich zusammenfaßt“, sich gleichzeitig aber dessen bewußt ist, daß, sollte ein Prophet berufen werden, diesem unverzüglich und ohne Wenn und Aber Folge zu leisten wäre. Gottesfreunde, die in vorislamischen Religionsgemeinschaften lebten, kündigten darum künftige Propheten an, meint aš-Šaʿrānī. Allah erlaubte jenen Gottesfreunden, die im Zwischenreich ja schon existierenden Gesandten zu schauen. Doch da in jenen Gemeinschaften nur wenige Gottesfreunde auftraten, mithin eine dauerhafte Verbindung zum Verborgenen fehlte, erschienen jene Voraussagen vielen als fragwürdig; man begann darüber zu streiten, entzweite sich und tastete schließlich auch die vom Stifter überbrachte Gesetzesbotschaft an. Aš-Šaʿrānī hat, indem er diese Gedanken niederschreibt, das koranische Konzept der Heilsgeschichte der

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Menschheit vor Augen: Alle vorislamischen Religionsgemeinschaften zerstritten sich, vertaten das Wissen, das ihnen ein Gesandter des Schöpfers überbracht hatte, verfielen dem Unheil (vgl. Sure 45, 17; Sure 2, 213; Sure 10, 19). Die Sunniten, davon ist aš-Šaʿrānī überzeugt, sind die einzige Gemeinschaft, bei der dergleichen nicht zu befürchten ist. Sie haben wegen ihrer Überlieferungsgelehrsamkeit immer die Scharia zur Verfügung. Alle Glaubensgemeinschaften entstellten die Offenbarung ihrer Propheten durch Auslegungen, die eben nicht mit Hilfe der Scharia erarbeitet wurden, sondern in Vermutungen ihren Ausgang nahmen. Man verstand sehr wohl, daß solche Äußerungen unhaltbar waren, und in der Enttäuschung verfiel man auf den Gedanken, man habe das Selbst nicht ausreichend gezähmt. Man unterwarf sich daher strengster Askese und Kasteiung, wodurch freilich alle wahnhaften Vorstellungen auf verhängnisvolle Weise verstärkt wurden und der Glaube sich mehr und mehr von der Wahrheit entfernte. Aber nicht nur die vorislamischen Glaubensgemeinschaften hat aš-Šaʿrānī im Blick. Sie sind allerdings ein mahnendes Beispiel dafür, was auch unter den Muslimen geschehen könnte und tatsächlich geschieht, wenn die harte Schulung in der Scharia fehlt: Es zeigen sich denen, die in Unkenntnis des Gesetzes den Kampf gegen ihr Ich aufnehmen, „gespensterhafte Bilder in ihrer Phantasie, die ihnen Dinge mitteilen, deren Auslegung ihrem gegenwärtigen Zustand“ entspricht, also keineswegs als Kunde aus dem Verborgenen gelten kann. „Manchmal erscheinen ihnen Licht oder Finsternis oder häßliche oder schöne Bilder, etwa Hunde oder Schlangen. Dies ist Gaukelwerk, das sich in den Naturen des Menschen verbirgt. Denn sein Leib ist ein Abdruck alles dessen, was es in der oberen und der unteren Weltsphäre gibt. Auf diese Weise liefern sich diejenigen, die vom Diesseits abgesondert in der Einsamkeit das Selbst zähmen wollen, Irrtümern aus. Manche verfallen der Gottlosigkeit, andere dem Fälschen von Geld und behaupten, das wahre Vorgehen mit dem Diesseitigen erkannt zu haben, das Allah nur den von ihm zu Visionen Berufenen enthüllt. Hätten diese alle einen Meister, der im Wissen von der Scharia bestens bewandert ist, dann könnte dieser ihnen sagen, daß Allah in seinem herabgesandten Buch ihnen nichts vorenthalten (vgl. Sure 6, 38) hat.“ Die Gottesfreunde, Bewahrer des Heils der Muslime Hier schneidet aš-Šaʿrānī das in seiner Zeit so brisante Thema der Unterscheidung der falschen von der echten Gottesfreundschaft an. Er wird sich nach der Eroberung Ägyptens durch die Osmanen sehr ausführlich mit dieser Frage beschäftigen müssen, die zwar rein theologisch klingt, aber in Wirklichkeit viel mit der Neuverteilung der Macht zu tun hat. Noch befinden wir uns in den letzten Jahren der Mamlukenzeit, und wir dürfen aš-Šaʿrānīs Gedanken allein unter dem Gesichtspunkt der

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ihn umtreibenden Sorge zur Kenntnis nehmen, ob man das Ich niederringen und sich die aufsehenerregendsten Kasteiungen auferlegen dürfe, um den Weg zum Verborgenen abzukürzen. Gerade dies ist verwerflich, lehrt aš-Šaʿrānī! Wer so handelt, der spaltet die Gemeinschaft der Muslime, denn ihm fehlt das Regulativ des Schariawissens, und so vermag er Halluzinationen nicht von wahrer Erkenntnis des Zwischenreiches zu trennen. Er wird Sätze für Botschaften aus dem Verborgenen ausgeben, die nichts als die Gaukelbilder seines gepeinigten Selbst sind. Wenn hingegen der Gottesfreund auf der unerschütterlichen Grundlage seines Schariawissens Leib und Seele züchtigt, dann wird er nie einem derartigen Irrtum anheimfallen; und nun zeigt sich der tiefe Sinn der Qualen, die aš-Šaʿrānī sich selber zufügt:67 Die innige Verflechtung des göttlichen Gesetzes mit dem in jedem Augenblick vom Schöpfer bestimmten Weltenlauf enthüllt sich; das Gesetz zeigt erst, wenn es zusammen mit der Weisheit des Schöpfers betrachtet wird, seine unüberbietbare Wahrheit. So sind es die Gottesfreunde, denen die Muslime es zu danken haben, daß sie nicht dem gleichen Schicksal entgegensehen, das die älteren Religionsgemeinschaften in den Untergang riß. Mohammed war unwiderruflich der letzte Mensch, der von Allah mit dem Überbringen der Gesetzesbotschaft betraut wurde. Allah aber schenkte den Muslimen in der Gestalt der vielen Gottesfreunde Männer, die immer wieder die Wahrheit der Scharia zu erkennen, zu schauen vermögen. Daß die Zweifel an ihr schließlich die Glaubensgemeinschaft auf heillose Abwege führen könnten, war nun nicht mehr zu befürchten – solange man streng auf die Untrennbarkeit von Schariawissen und spirituellem Schauen achtete. Aš-Šaʿrānī verweist darauf, daß die normsetzenden Handlungen der Gottesgesandten niemals unter dem Eindruck der Kasteiung von Leib und Seele, sondern in einem ganz gewöhnlichen Zustand vollzogen wurden. Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī, der große Kairoer Gottesfreund des 15. Jahrhunderts, lehrte derartige Kasteiungen nicht. Einmal mußte er erleben, wie sich einer seiner Zöglinge zu einem fremden Meister stahl, um sich von diesem in die Praxis der Ichabstreifung einführen zu lassen. Sidi Ibrāhīm ließ den Abtrünnigen zurückbringen und belehrte ihn: „Welch eine Verwirrung! Glaubst du etwa, du könntest dank deinen einsamen Askeseübungen den Menschen auch nur ein Ḥadīṯ aus der Sammlung des al-Buḫārī oder des Muslim bringen? Nicht einmal, wenn du tausend Jahre in der Einsamkeit bleibst!“ Dieser fehlgeleitete Adept gleiche einem Mann, der im hellsten Tageslicht ein Lämpchen entzünde, um sich hierdurch Orientierung zu verschaffen. Ebenso scharf kritisierte Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, solches Verhalten. Der breiten Masse der Muslime ist nichts weiter aufgetragen, als den Vorschriften der Scharia zu folgen; nur diejenigen, die einen Anhang um sich scharen, haben die Reinigung von Leib und Seele unter völligem Alleinsein, so wie aš-Šaʿrānī es schilderte, auf sich zu nehmen. Die strikte Ablehnung der Ichabstreifung, die den Aussagen Sidi ʿAlīs zu entnehmen ist, mildert aš-Šaʿrānī angesichts der eigenen Erfahrungen freilich ab: Nur denjenigen

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soll das Bezwingen der Menschennatur verboten sein, die sich nichts anderes erhoffen als das Schauen der Ordnung dieser Welt; wer sich hingegen zu einem ungetrübten Gehorsam gegen Allah und sein Gesetz erziehen möchte, der solle getrost einen solchen schweren Weg betreten.68 Das Ringen um Einsicht Oft kommt aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz, aber auch in anderem Zusammenhang, auf diese Problematik zurück. Immer wieder berührt er das Zusammenspiel von Scharia und Einsichtnahme in das Zwischenreich. Sein Lebensentwurf, den er aus der Rückschau zeichnet, setzt das Gelingen der Aufgabe, Scharia und Spiritualität zu vereinen, voraus, und es wird sich zeigen, daß vielfältige Tätigkeiten, die er übernahm, durch ihn unter diesem Blickwinkel gedeutet werden. Sein Streit mit einigen Gelehrten der al-Azhar, sein heikles Verhältnis zur osmanischen Obrigkeit, seine Bemühungen um eine tiefgreifende Änderung der Schariajurisprudenz, vor allem aber sein Wirken innerhalb des Kreises seiner Familie und Adepten sind, so legt er seinem Leser nahe, als Zeugnisse für jenes Gelingen zu werten. Hören wir ihm noch ein wenig zu! „Nachdem ich mich in strenge Zucht genommen hatte, erkannte ich klar, daß allem Wissen, das ich mir angeeignet hatte, die aufrichtige Hingabe mangelte; es war mit Regungen des Selbst durchmischt. Kennzeichen eines aufrichtigen Wissens ist nämlich, daß es, während man sich damit beschäftigt, das Herz ganz zu Allah drängt. Ich bemerkte aber nicht, daß mir dergleichen widerfuhr; mein Herz war wie in jegliches Tal zerstreut.“ Aš-Šaʿrānī spielt hier auf Sure 26, Vers 225, an; die Dichter, aus denen Dschinnen sprechen, schwärmen in dieses und jenes Tal aus, sie sind sich des einen, richtigen Weges, den der Prophet weist, nicht bewußt. Sie führen die Menschen in die Irre, gleich jenen frivolen Gottesfreunden, die unter Verzicht auf den mühevollen Gesetzesgehorsam das Verborgene zu schauen begehren. Aš-Šaʿrānī fährt fort: „Mir fehlte das Wissen davon, daß alle Arten von Wissen, die der hohe, erhabene Allah schafft und in unsere Herzen hinabsendet, nur den Zweck haben, uns hierdurch zu ihm zu drängen. Wer Wissen zusammenträgt, ohne darauf zu schauen, daß es auf Allah hinweist – denn er ist das höchste Ziel alles Wissens –, dem werden schließlich alle Stellen verhüllt, die einen Hinweis auf den Einen Wahren bergen. Ich strengte mich also an, die Hülle vor den Hinweisen alles Wissens auf den Einen Wahren fortzureißen. Begann ich sogar, beim Studium der Arithmetik, der Geometrie, der Logik mit dem Herzen ganz bei Allah zu sein, um wie viel mehr dann bei den Arten des wahren, schariatischen Wissens! Wessen Blick und innere Sehkraft Allah entdecken, der erkennt, daß alle Wissenschaft, über die die Geschöpfe verfügen, den Menschen Allah näherbringt und ein Weg ist, der an seinen Hof führt. Den meisten Menschen hat Allah jedoch nicht die innere Sehkraft entschleiert; sie nehmen in die Wissenschaften nicht von

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dorther Einblick, von wo sie auf den Einen Wahren verwiesen werden. Sie verfehlten also die Vollkommenheit, weshalb die Erkennenden – Allah habe an ihnen Wohlgefallen! – sie tadelten und sagten: ‚Das Wissen dieser Leute ist ein Schleier, durch welchen ihnen der Herr verhüllt ist.Wenn sie die Wissenschaften von dorther wahrnähmen, von wo diese auf den Einen Wahren verweisen, wäre ihnen durch ihr Wissen nicht der Herr verhüllt, und sie erlangten die Stufen der Erkennenden.‘“ AlĠazālī erlebte mit all seiner Gelehrsamkeit die gleiche Enttäuschung, worauf ihm ein Erkennender riet, doch die Scharia und überhaupt alles, was existiert, als einen Hinweis auf den Schöpfer zu begreifen;69 da ging ihm auf, daß alles Wissen ein vom Schöpfer ausstrahlendes Licht sei. Im Erretter aus dem Irrtum beschrieb er den beschwerlichen Weg zu dieser Einsicht. Auch auf ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī kann sich aš-Šaʿrānī berufen. Das Lehren des „äußeren Wissens“ verschafft al-Ǧīlānī keine Befriedigung, er entzweit sich mit seinen Schülern. Erst als sein Erkennen gereift ist, beginnt er von neuem, die Grammatik, das Schariarecht und dessen theoretische Grundlagen zu unterrichten. Ibn Ġānim al-Maqdisī (gest. 1279), der in volkstümlich gewordenen Schriften den spirituellen Gehalt des ḥadīṯ aufspürt, verstand es sogar, seine Adepten von der Unterweisung in der Grammatik aus bis zum Hof des Einen vordringen zu lassen. „Strebe, o Bruder, zu erreichen, was wir gesagt haben!“70 mahnt aš-Šaʿrānī. Originalität Noch unter einem anderen Gesichtspunkt bedenkt aš-Šaʿrānī das Ineinander von Wissen und Erkennen. Sidi ʿAlī hatte eine in der islamischen Kultur nur sehr selten belegte Auffassung von der Originalität des Wissens;71 wir haben sie bereits kennengelernt. Aš-Šaʿrānī spricht sie in den Huldreichen Gnadengeschenken an, wiederum als eine eigene Erfahrung, bemüht dann aber den Palmblattflechter, um diese Erfahrung zu rechtfertigen. „Als ich mich bei meinen Meistern mit dem Wissen abgab, bewahrte mich Allah davor, mir selber ein Wissen zuzusprechen und mich damit vor dem gemeinen Mann zu brüsten. Ich kann mich nicht erinnern, je mich selber über einen einfachen Muslim erhaben gedünkt zu haben. Denn ich wußte genau, daß alles Überlieferte, das ich in den Händen hielt, seinem Wesen nach nicht mein Wissen war; es gehörte vielmehr denen, die es hergeleitet und expliziert hatten. Mir blieb nichts als das Nachsprechen, etwa wenn ich sagte: ‚Der und der hält das und das für wahrscheinlicher‘, ‚der und der lehrte das und das‘ oder‚der und der gutachtete so‘. Dies ist in Wahrheit nicht mein Wissen. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, dessen sich Allah erbarmen möge, pflegte zu sagen: ‚Das Wissen eines Mannes ist in Wahrheit nur das, worin ihm niemand zuvorgekommen ist. Wessen Wissen der Überlieferung entnommen ist, kann sich das nicht als Wissen zurechnen; er ist nichts als der Gefährte des Gefährten des Wissenden. Dies des-

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wegen, weil das Akzidens Wissen dem Laut inhäriert und der Laut die Niederschrift begleitet.‘ Auch hörte ich ihn sagen: ‚Alles Wissen, dessen Inhaber in Zweifel gerät, ist gar kein Wissen.Wirkliches Wissen ist jenes, das dem Menschen auf dem Weg der Eingebung und des Schmeckens zuströmt. Demgemäß spricht der segensreiche und erhabene Allah (zum Propheten): ‚Sag: Dies ist mein Weg, ich rufe zu Allah dank meiner Sehkraft, ich und die, die mir (nach meinem Tod) folgen werden!‘“ Sehkraft und Einsichtskraft Herleitung und Explikation entfalten die Facetten der Scharia, des das Diesseits dem Willen Allahs unterwerfenden Wissens. Nimmt man die Texte der Offenbarung und des ḥadīṯ in ihrem nackten Wortlaut zur Kenntnis, dann entgeht einem ein Teil ihres schariatischen Gehalts, der aber dank der Jahrhunderte währenden Arbeit der Rechtsgelehrten Stück für Stück ans Licht gezogen wird. Die zahllosen Einzelergebnisse, die der Gelehrtenfleiß zeitigt, gehen in die Menge des Überlieferten ein. Wer sich diesen Stoff aneignet und ihn dann weiterreicht, ohne ihn zu mehren, darf nicht von sich sagen, er verfüge über eigenes Wissen. Das Gotteswort, mit dem Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, diese Überlegungen abschließt, stammt aus Sure 12, Vers 108: Mohammed wundert sich, daß alle die, die seine Botschaft ablehnen, an den „Zeichen im Himmel und auf der Erde achtlos vorübergehen“ (Vers 105), die Wahrheit der prophetischen Worte demnach nicht einsehen. Dagegen sind der Gesandte Allahs und die, die ihm folgen – im Koran ist hiermit kein zeitlicher Abstand zu Mohammed gemeint –, im Besitz einer Einsichtskraft, die ihnen das Deuten der Zeichen erlaubt. Dieses Wort „Einsichtskraft“ darf nun nicht mehr in einem unspezifischen Sinne verstanden werden, wie er im Augenblick der Offenbarung dieser Sure gemeint war. Als Sidi ʿAlī das Wort verwendete, hatte es schon eine lange Geschichte hinter sich, deren Angelpunkt al-Ġazālīs Nische der Lichter ist. Einsichtskraft ist, so führte dieser dort aus, nicht mit dem Gesichtssinn zu verwechseln, der die Welt, das Offenkundige, wahrnimmt. Die Einsichtskraft erschließt vielmehr den verborgenen Seinsbereich, die Zwischenwelt. Dank solchem Vermögen zu einer über das Sinnliche hinausgehenden Einsicht, durch Schmecken, wie schon al-Ġazālī sagt, wird uns die Weisheit der göttlichen Lenkung des Diesseits begreiflich.72 Die mittels „Schmecken“ aufgenommene Erkenntnis ist laut Sidi ʿAlī die einzige Art originalen Wissens, zu der der Mensch Zugang hat. Es hat überdies die Eigenschaft, eben weil es im Zwischenreich geschaut wurde, so unerschütterlich gewiß zu sein, daß ein Zweifel gar nicht mehr aufkommen kann. Desweiteren muß man sich klarmachen, daß, ontologisch gesehen, Wissen ein Akzidens ist, das nicht dem Menschen, der es aufzeichnet oder durch Worte weitergibt, inhäriert, sondern der Schrift oder den Lauten als den es tragenden Substanzen. Auf einem anderen Weg führt uns aš-Šaʿrānī noch einmal zu der Einsicht: Wissen ist eine jenseits des

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Individuums gelegene Gegebenheit, die das Diesseits durchflutet. Sie repräsentiert das nie erlahmende, alles diesseitige Sein bestimmende Schöpfertum Allahs. Das durch die Überlieferung weitergegebene Gesetzeswissen nebst der Erkenntnis der göttlichen Weisheit, zu der man dank jener übersinnlichen Einsichtskraft zu gelangen vermag, und das ganze Diesseits in seinem Werden und Vergehen, in seinem unaufhörlichen Wandel sind die zwei Erscheinungsformen dieser einen Gegebenheit.73 Da dies so ist, kann der Palmblattflechter sagen, daß nach dem Tod eines Gelehrten nur solches Wissen im Zwischenreich verfügbar bleiben wird, das gänzlich ohne eine Beimengung ist, die von der Ichhaftigkeit der Natur des Menschen herrührt. Aš-Šaʿrānī schreibt: „Auch hörte ich ihn sagen: ‚Mit dem Menschen wird nur das Wissen in das Zwischenreich überwechseln, das von jeglicher schwachen, eigenen Einsicht frei ist, die ja vom Koran und von der Sunna nicht bezeugt wird. Alles Wissen, in das eine eigene Einsicht und Augendienst einflossen, taugt nicht dafür, daß der, der es besitzt, ein Gelehrter genannt und in der Schar der Gelehrten auferweckt werde!‘ Ferner hörte ich ihn sagen: ‚Aufrichtige Hingabe an das Wissen bedeutet, daß es einem selbst dann nicht lästig wird, sich mit dem Wissen zu beschäftigen, wenn einen der Lebensodem verläßt.Wenn jemand, der im Sterben liegt, nach einem Problem gefragt wird und darauf antwortet: Laß mich in Frieden! dann beweist er seinen Mangel an aufrichtiger Hingabe. Einem Aufrichtigen gilt es gleichviel, ob man ihn bittet: Sprich – ich flehe Allah um Verzeihung an! oder – Preis sei Allah! oder ob man ihn auffordert: Lehre mich die Riten der Waschung!‘ Dies ist ein Charakterzug, dessen sich die Sucher des Wissens kaum noch befleißigen. Die meisten von ihnen vermeinen, alle Menschen außer ihnen selber seien dem Verderben anheimgegeben. Wenn sie die Menschen zum Befolgen des guten Brauches anhalten, befehlen sie ihnen ein Seelenwissen. So kann es sein, daß der Seele des Befehlenden die Seelen der Angesprochenen entgegentreten und er auf Ablehnung stößt, so daß sein Wort nichts fruchtet.“74 Seelenwissen aber ist nicht wirklich zuverlässig, nicht wirklich frei von ichhafter Trübung. Denn erst wenn die Seele, das Selbst, ganz und gar durch den Geist veredelt ist und ihr ursprüngliches Wesen abgelegt hat, ist sie in unerschütterlicher Zuversicht (Sure 89, 27 f.) Allah gefügig. Die schädlichen Folgen des Schlafes Die Zurückdrängung des Schlafes ist ein besonders wirksames Mittel, eine solche Gefügigkeit zu erzwingen. Aš-Šaʿrānī machte, das hörten wir, von diesem Mittel ausgiebigen Gebrauch. Nur 45 Grad am Tag und in der Nacht ließ er sich zur Ruhe, das sind jeweils drei Stunden. Alles, was darüber hinausgehe, sei vom Übel, befand er. Sein spiritueller Bruder Afḍal ad-Dīn hatte in einer Lehrschrift ausgeführt, daß ein lang ausgedehnter Schlaf das Herz schon im Wahrnehmen der irdischen

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Pflichten träge mache, und noch viel mehr in den Dingen, die zum Gewinn des Jenseits unerläßlich sind. Der Wunsch, sich dem Schlaf hinzugeben, kann so übermächtig werden, daß der Körper sich mehr davon nimmt, als es seiner Natur entspricht. Dann gerät nicht nur der ganze Lebenswandel aus dem Gleichgewicht, auch das Mischungsverhältnis der Körpersäfte verändert sich in bedenklicher Weise. Am verhängnisvollsten aber ist die Schwächung des Geistes, weil dieser viel zu oft und lange in der Welt der Phantasie ruht, statt den Leib zu lenken und durch die Fährnisse des Diesseits zu steuern. Das ist besonders mißlich, wenn der Leib ohnehin schon finster und dicht ist wegen der von ihm gewirkten Taten, die jenseits der Normen Mohammeds und der allgemeinen Natur liegen; Natur und prophetische Sunna stehen nämlich in völliger Übereinstimmung. Wenn die geistige Komponente des Menschen allzu sehr auf die Phantasie ausgerichtet ist, muß man befürchten, daß die Kraft, die virtuellen Bilder des verborgenen Geschehens zu erfassen und festzuhalten, mehr und mehr schwindet. Diese Bilder sollen sich auf dem Spiegel des Verstandes, im Herzen mithin, zeigen und eigentlich die Phantasie formen. Der übermäßig dem Schlaf frönende Mensch verliert jedoch die Fähigkeit, der Phänomene des verborgenen Seinsbereiches in ihrer Reinheit innezuwerden, und mischt Fremdes darunter. Aus ähnlicher Besorgnis warnte Sidi ʿAlī vor dem Schlaf zur Unzeit, etwa zwischen der Beendigung des Morgengebets und dem Aufgang der Sonne, zwischen dem Nachmittagsgebet und dem Versinken des Sonnenballs hinter dem Horizont: Man spielt mit dem Verderben, denn das Verhältnis der Körpersäfte kann sich so weit zum Schädlichen verschieben, daß man mehr dem dumpfen Vieh als dem Menschen ähnelt. Ganz bewußt sprach der Palmblattflechter hier von Kühen und Wasserbüffeln, Tieren, deren Fleisch der Mensch verzehrt, nicht aber von Pferden und Eseln, die man, weil sie über ein gewisses Maß von Verstand verfügen und Befehlen zu folgen vermögen, für edler erachtet. – Noch bedrohlicher waren die Gefahren, die Afḍal ad-Dīn in völlig zügellosem Schlafen witterte. Es schwäche den Magen, die Sehschärfe, erzeuge einen üblen Mundgeruch, mindere vor allem die Zeugungskraft; die Kinder würden von chronischen Krankheiten geplagt sein! Allenfalls ein wenig Schlummer um die Mittagszeit mag hingehen, wenn er dazu diene, die Vigilien der vergangenen Nacht auszugleichen und diejenigen der kommenden vorzubereiten. Bruder des Todes aber nenne man den Schlaf, weil er das gottgefällige Handeln unterbricht.75 Das Gottesgedenken Die vortrefflichste aller Handlungen ist das Gottesgedenken (Sure 29, 45). Denn sie vor allen anderen führt zur völligen Überwindung des Ich, dazu, daß die geistige Dimension des Daseins entschieden vorherrscht und man vorübergehend mit dem Zugang zum „Hof Allahs“ beglückt wird. Sobald aš-Šaʿrānī von der Sehnsucht nach

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dem „Weg der Leute“ ergriffen wurde, gab er sich den Übungen des Gottesgedenkens hin, die er uns in seiner Lebensbilanz recht genau beschreibt. Zuerst macht er den Leser mit dem rein Formalen vertraut: das vom Empfinden der Majestät des Einen bestimmte Aussprechen des Wortes „Allah!“ Vierundzwanzigtausendmal in den dreihundertsechzig Zeitgraden des Tages sagt er es her, was der Zahl der Atemzüge entspreche, mithin eintausend je Stunde. Bisweilen verbrachte er einen Tag und eine Nacht mit diesem abgemessenen Atmen und Sprechen, bisweilen, je nach der zuvor gefaßten Absicht, auf mehrere Sitzungen verteilt. Dabei hoffte er, Allah werde ihm gnädig dieses Gedenken auch auf die Zwischenzeiten übertragen, damit er wie jemand belohnt werde, der tatsächlich Tag und Nacht ohne Unterbrechung Allahs gedachte. „In dieser Übung fuhr ich fort, bis ich in den meisten Zeiten meines Alltags fest in der Zugegenheit vor Allah verwurzelt war. So wurden mir alle Zeiten des Alltags wie ein Reservoir, aus dem der Mensch für die ganze Frist seines Lebens die Kraft für die Beobachtung Allahs und die Zugegenheit bei ihm schöpft. Allahs mit der Zunge zu gedenken, ist doch nur das Mittel, das die Zugegenheit des Herzens herbeiführt. Denn solches Gedenken glättet das Herz von aller Finsternis, allem Schmutz und aller Leichtfertigkeit, die es am Betreten des Hofes des erhabenen Allahs hindern. Ist aber das Herz erst geglättet, dann vermag es sich Tag und Nacht gegenwärtig zu halten, daß es vor Allah ist und er es anschaut. Dies ist das wahre, unaufhörliche Gottesgedenken, zu welchem die Derwische auf ihrer Wanderung dank dem Hersagen (der Worte) und dank der Einsamkeit und Kasteiung gelangen.“ Danach haben sie das Gottesgedenken mit der Zunge nicht mehr nötig; sie praktizieren es nur noch „freiwillig, um ihre Gliedmaßen damit zu zieren oder damit die Adepten ihnen nacheifern“. Wem es gelingt, sich ununterbrochen bewußt zu machen, daß man vor Allahs Auge wandelt, der vermag nur noch zu schweigen, bestenfalls zu flüstern; schon im Koran ist dies zu lesen (Sure 20, 108). Die Zugegenheit des forschenden Blickes Allahs und das hierdurch erzwungene demütige Verhalten können so sehr von einem Menschen Besitz ergreifen, daß sie ihm unbewußt werden wie das Ein- und Ausatmen; das, was Zwang war, schlägt in spontane Natürlichkeit um. Einem Meister, der aš-Šaʿrānī um Auskunft über diesen Zustand bat, bestätigte er die Erfahrung, daß die Zugegenheit des Einen wie ein Leuchten empfunden werde, das vom Wort „Allah!“ ausstrahle und den ganzen Horizont erfasse dergestalt, daß außer diesem Leuchten nichts mehr vorhanden sei: Alle Einfälle, die dem Menschen gewöhnlich durch den Kopf gehen, alle Trübung ist geschwunden. Das unter dem Eindruck der Majestät des Einen gesprochene „Allah!“ gleicht dem Wetzstein, der den Staub jeglichen anderen Seins, das störend ins Bild treten könnte, wegschleift. Dem Anfänger freilich wird es noch nicht glücken, Atmen und Aussprechen des Wortes „Allah!“ genau aufeinander abzustimmen, insbesondere, wenn er sich dabei mit der Aufnahme von Wissen oder gar mit seinem Gewerbe beschäftigt. Dem Fortge-

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schrittenen aber ist es nach dem Zeugnis aš-Šaʿrānīs möglich, vierundzwanzigtausendmal „Allah!“ in fünfzig Grad, also in dreieindrittel Stunden, hervorzustoßen; jedoch ist dabei unbedingt darauf zu achten, daß sich in dieses aufs äußerste verdichtete Gottesgedenken kein fremdes Wort einschleicht. Empfehlenswert ist es, die Litanei vor dem Sonnenaufgang oder zwischen dem Nachmittagsgebet und dem Sonnenuntergang herzusagen. So trug es Allah dem Propheten auf (Sure 11, 114). Aš-Šaʿrānī versichert den Zöglingen, daß es keine Art gebe, seine Zeit nutzbringender zu verwenden, als solches Gottesgedenken. Gewiß darf man alles tun, was nach der Scharia erlaubt ist; aber dabei ist man wie ein Toter, der sein Anrecht auf das Glück im Jenseits nicht zu mehren vermag. Der Derwisch allein kann den ganzen Tageslauf solcher Mehrung widmen, der gemeine Mann hat nicht die Gelegenheit hierzu, und darum soll er wenigstens „an den beiden Enden des lichten Tages“ (Sure 11, 114), wie der Koran anrät, beten und dabei in inniger Weise Allahs gedenken. Denn auch das Herz des einfachen Muslims soll sich vor dem Abstumpfen, der nutzlosen Ruhe und vor jeglicher Schwäche schützen, die die unvermeidliche Folge von Genuß, eitler Geschwätzigkeit und leerer Betriebsamkeit sind. Der geringste unter den nach dem Jenseitsglück strebenden Muslimen, jemand, den man wenigstens einen „kleinen Mann“ zu nennen berechtigt sei, hält zumindest einige Zeiten des Gottesgedenkens ein. Für jeden, der sich für einen Gelehrten ausgibt, der nach seinem Schariawissen lebt, wäre es geradezu eine Schande, in der Nacht zu ruhen, während „Eule und Mücke Allahs gedenken und vor ihm stehen“. Eine Anleitung zum richtigen Gottesgedenken Die Feinheiten des von der Majestät des Einen geprägten Gedenkens entnimmt ašŠaʿrānī einem Traktat des Ibn ʿArabī. Ein übler Fehler ist die schludrige Aussprache von „Allah!“; hierbei kommt es oft vor, daß das abschließende „h“, das doch gar keinen Vokal nach sich hat, mit einem „a“ gesprochen wird, wobei man den Stimmansatz des folgenden „Allah!“ verschluckt. So entsteht eine Kette von „halla, halla“ – leeres Geschwätz, denn dies ist nun einmal nicht der Name des Schöpfers, sondern bestenfalls im Arabischen eine Partikel, mit der man eine energische Frage einleitet. Die wichtigste Folge eines sorgsamen Gottesgedenkens ist nicht in der schon beschriebenen Erfahrung eines den Horizont ausfüllenden Leuchtens zu finden, sondern in dem Erleben, daß das ganze Selbst sich zu einem Organ der Wahrnehmung wandelt – es erkennt in einem Schauen, was die Leute mit dem Begriff „Schmecken“ auszudrücken versuchen. Solange jemandem, der sich im Gottesgedenken übt, derartiges nicht widerfahren ist, haben seine Anstrengungen noch keine Früchte gezeitigt. Ohne raschen Erfolg zu erwarten, muß er seine Bemühungen verstärken. Schließlich wird er aus sich heraustreten und sich selber als

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einen Sprechenden wahrnehmen. Dann erst wird er von den andrängenden Empfindungen gleichsam überflutet, ganz gleich, ob er redet oder schweigt – weder im Zustand des Wachens noch im Schlafen wird er den in ihm selber Sprechenden jetzt bändigen können, weder mit dem Herzen, noch mit der Zunge wird er ihn übertönen. Allerdings, und darauf kommt aš-Šaʿrānī noch einmal zurück, ist die genaue Aussprache eine unabdingbare Voraussetzung; „Allah“ wird genannt, nicht irgendeine andere Entität. Sprache, die Lautverbindung, ist mit der jeweils von ihr bezeichneten Entität identisch! Das Eintauchen in den verborgenen Seinsbereich, das Schmecken jenseits der Wahrnehmungsfähigkeiten der fünf Sinne, eröffnet den Zugang zu dem Seienden an sich – wie doch auch die Worte der Offenbarung eine Erscheinungsform des im Verborgenen sich dem geistigen Schauen unmittelbar darbietenden Waltens der göttlichen Fügung sind.76 Der wohlabgemessene Rhythmus, die sorgfältige Aussprache bewirken das Übersteigen des Diesseitigen, das allerdings nicht in das Vergessen des Offenkundigen mündet. Vielmehr wird das Offenkundige durchscheinend, und das Verborgene dahinter zeigt sich. Damit sich solch eine beglückende – oder auch entsetzliche – Erfahrung einstellt, hat man während des Gottesgedenkens eine bestimmte Körperhaltung zu beachten. Man soll sich niederkauern wie jemand, der zum Aufspringen bereit ist; auf keinen Fall darf man sich mit gekreuzten Beinen hinhocken. Das Gesäß soll ein ganzes Stück weit über den Boden erhoben werden, der Kopf nach vorne geneigt, als wollte man emporschnellen. Man dürfe das Gewicht auf den Oberschenkel verlagern dergestalt, daß der Fuß unter der linken Gesäßhälfte ruht, wobei das rechte Bein, die Wade an den Oberschenkel gezogen, aufrecht steht. Manche empfehlen, man solle sich auf das Gesäß niederlassen „wie ein Löwe“. Alle diese Haltungen versprechen, so aš-Šaʿrānī, eine feste Sammlung auf das Gottesgedenken. Doch gilt dies alles nur, solange der Adept noch sich selber spürt. Ist dieser Mangel erst einmal überwunden, dann mag man sich bewegen, wie man will – das Offenkundige hat man überstiegen! Und zugleich ist man zur wahren Erkenntnis vorgestoßen. Aš-Šaʿrānī erläutert dies unter Berufung auf Ibn ʿArabī an der islamischen Dogmatik: Alle Glaubenslehrer des Islams, die Aschʿariten, die Maturiditen, die Hanbaliten, haben größte Mühe walten lassen, um ihre Ansichten von Allah und Welt auf den Begriff zu bringen. In hartem geistigen Ringen haben sie je ihren Weg zur Erfassung des Einen und seines Wesens gebahnt, und wer diesen einen Weg beschreitet, dem bleiben die übrigen versperrt. Wer hingegen über das Gottesgedenken zur Erkenntnis vorstößt, der schaut den Islam in seiner Bedeutungsfülle, in der ihn die Gesamtheit all jener Pfade kaum je zu erschließen vermöchte. Aber noch erhellender ist dies: „Das Anzeichen des größten Erfolges, das jemandem, der des Einen unter dem Empfinden der Majestät gedenkt, widerfahren kann, leuchtet dann auf, wenn er sieht, daß sein eigenes Aufwachsen dasjenige des Gottesgedenkens ist, in welcher Zunge es auch

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vorgetragen werde. Er bemerkt, daß seine in Erscheinung tretende Gestalt die Essenz der Laute seines Gottesgedenkens ist, das sich in seiner Imagination formt, und zwar aus den gesprochenen Worten, sofern er des Schreibens unkundig ist. Kann er schreiben, dann stellt er sich meistens die von ihm gesprochenen Buchstaben als auf der Wohlverwahrten Tafel eingraviert vor.“ Bisweilen treffen bei dem Schriftkundigen auch Laut und Buchstabe zusammen und vereinigen sich auf jener Tafel. Das Ergebnis ist aber stets durch die Form des Gottesgedenkens, nicht durch die Form des Gedenkenden bestimmt. Wer Allahs wirklich durch diesen selbst, nicht durch das eigene Selbst gedenkt, der wird auf der Zunge etwas verspüren, als wäre sie in Brand geraten. Dies ist das sichere Zeichen für das Gelingen. Die meisten Menschen seien aber nicht mehr in der Lage, derartiges zu erreichen, bedauerte Ibn ʿArabī in seinem Buch Die Ergebnisse der Gedanken, das aš-Šaʿrānī hier zusammenfaßt.77 Befremdlich sind die Dinge, die aš-Šaʿrānī vorträgt. Verweilen wir einen Augenblick, um ihn zu verstehen. Auf der Wohlverwahrten Tafel, von der der Koran in Sure 85, Vers 22, spricht, hat Allah alles niedergeschrieben, was in und mit der Schöpfung geschehen wird, solange sie besteht. Durch das Gottesgedenken wird, so hörten wir, die Welt der Sinnesphänomene durchscheinend. Das Ergehen der göttlichen Fügung, mit der das auf der Tafel Niedergelegte in dem jeweils dafür bestimmten Augenblick Wirklichkeit wird, also in die Welt der sinnfälligen Essenzen eintritt, kann zusammen mit den ihr zugeordneten diesseitigen Erscheinungen wahrgenommen werden: Der Gedenkende, der sich erfolgreich aller Ichhaftigkeit entkleidet hat, erkennt daher das eigene Aufwachsen nach Maßgabe des auf der Wohlverwahrten Tafel eingravierten göttlichen Ratschlusses. Beherrscht er das Schreiben, dann stellt sich ihm die Fügung eher in der Form der Buchstaben dar, hat er diese Kunst nicht erlernt, dann eben in den Lauten, die er beim Gottesgedenken ausspricht. Die Unterschiedlichkeit der Erfahrung liegt aber, und darauf beharrt Ibn ʿArabī, nicht etwa in der Person des Gedenkenden begründet – die Fähigkeit des Schreibens und Lesens müßte sonst auf die göttliche Fügung einen Einfluß ausüben –, sondern allein in dem Verfahren. Das regelrecht durchgeführte Gottesgedenken unter dem Eindruck der Majestät des Einen endet immer in der Vision der von der Tafel ausgehenden Fügung, im Erkennen des eigenen In-Erscheinung-Tretens, und es stellt sich das gleiche Ergebnis ein, gleichgültig ob es dem Schriftkundigen sich als Schrift, dem Analphabeten als Lautfolge offenbart. Wer Allahs gedenkt – und nur seiner – und sich dabei von jeglicher Selbstbehauptung freizuhalten weiß, der wird erleben, was zugesagt ist. Veranstaltungen des Gottesgedenkens Schon im Jahre 1512 oder 1513 ist aš-Šaʿrānī von Meister Nūr ad-Dīn aš-Šūnī (gest. 1538) mit der Leitung von Veranstaltungen des Gedenkens beauftragt worden.

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Ihn muß aš-Šaʿrānī kennengelernt haben, als er in der al-Ġamrī-Moschee Unterschlupf fand, denn er behauptet, er habe diesem Meister fünfunddreißig Mondjahre, also etwa ab 1505 bis zu dessen Tod, gedient; keinem anderen Meister sei er länger verbunden gewesen. Aš-Šūnī stammte aus der Nähe von Tanta. Dort war er als Jüngling zum Heiligtum des Aḥmad al-Badawī in Beziehung gelangt, wo er einen Zirkel gründete, der sich dem Gebet für den Propheten verschrieb. Jede Nacht zum Freitag, ab dem Sonnenuntergang, sagten sie die Worte: „Allah spreche zu ihm gewandt Gebete und entbiete ihm den Friedensgruß!“ (Sure 33, 56)78 in Gemeinschaft her, bis am Freitagmittag der Gottesdienst begann. Eines Tages begleitete aš-Šūnī einige Freunde, die nach Kairo reisten, an das Ufer des Flusses, um sich von ihnen zu verabschieden. Der Zufall wollte es, daß das Schiff ablegte, ehe er an Land gehen konnte, und so fuhr er, auf Allah vertrauend und ihm die Zukunft anheimstellend, mit in die Metropole, wo er zunächst am Mausoleum des Sultans Barqūq eine Bleibe fand. Im Jahre 1492 gründete er an der al-Azhar wieder, was er in Tanta hatte hinter sich lassen müssen: einen Zirkel zum Gebet für den Propheten. Ṭūmānbeg, 1517 der letzte Mamlukensultan vor der Inbesitznahme Ägyptens durch die Osmanen, vertraute aš-Šūnī in dem Grabbau, den er für sich errichten ließ, die Wartung der irdenen Wasserkrüge an; viele Jahre versorgte aš-Šūnī die Dürstenden mit einem frischen, gekühlten Trunk. Als er neunzig Jahre alt geworden war, kam es dem bis dahin standhaften Junggesellen in den Sinn zu heiraten. Bis zu seinem Tode lebte er danach in der Sujūfīja-Medresse, der von Saladin gestifteten ältesten hanafitischen Lehranstalt Kairos.79 Dieser aš-Šūnī also begeisterte den gerade neunzehnjährigen aš-Šaʿrānī für die Aufgabe, einen Kreis von Männern ins Leben zu rufen, die nach dem Vorbild des zuerst in Tanta aufgebauten Zirkels in der Nacht zum Freitag Allahs gedachten und die Worte des Gebets für den Propheten hersagten. Wie aš-Šaʿrānī selber anmerkt, mußte die Formel des Nachts und nach Anbruch des Tages je zehntausendmal wiederholt werden. Fünf Jahre habe er in der al-Azhar-Moschee an solchen Sitzungen teilgenommen, ehe ihm aš-Šūnī eines Tages geraten habe, in der al-ĠamrīMoschee die gleiche Art des Gedenkens zu beginnen. Die herbe Kritik, die man an aš-Šūnīs neuem Ritual geübt hatte, war um diese Zeit wahrscheinlich schon verstummt. Es war nämlich üblich, während des Rituals den Raum mit zahlreichen Lampen zu erhellen; die Teilnehmer brachten überdies viele Kerzen mit und entzündeten sie. Die Gelehrten der al-Azhar waren hierüber zu Anfang sehr erbost, weil man nach ihrer Ansicht auf diese Weise die Bräuche der Zoroastrier nachahme. Al-Qasṭallānī (gest. 1517), Verfasser eines berühmten Kommentares zur ḥadīṯSammlung al-Buḫārīs, war einer der Prominenten, die im Streit für aš-Šūnī Partei ergriffen. Als er das genannte Werk beendet hatte, brachte er es in eine der Sitzungen mit und legte es in der Mitte des Kreises nieder; bis zum Morgen ließ er es dort. Er hoffte, sein Buch werde im Verborgenen gut aufgenommen, denn mit Hilfe

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des Rituals des Gedenkens wurde ja nicht nur dem Einzelnen das Walten der Fügung wahrnehmbar, die Zugegenheit der von der Wohlverwahrten Tafel ausströmenden Fügung verdichtete sich an dem betreffenden Ort in ungewöhnlicher Weise. Schließlich erging ein Fetwa, demzufolge das Entzünden der vielen Lichter so lange nicht anstößig sei, wie dadurch größere Helligkeit erzielt werde; erst wenn dieser Effekt nicht mehr eintrete, müsse man vom Aufstellen weiterer Lampen und Kerzen absehen. Aš-Šaʿrānī hielt sich, als er aš-Šūnīs Auftrag übernommen hatte, nicht sklavisch an das Vorbild des Meisters. Tausendmal ließ er den ersten Vers von Sure 108 aufsagen: „Haben wir dir nicht die Fülle gegeben?“ Dann ging man zum Anfang von Sure 112 über: „Sprich: Er ist Allah, ein einziger!“ Etliche der Gedenkenden schauten daraufhin in aš-Šaʿrānīs Zirkel den Gottesgesandten. Erfreut berichtete aš-Šaʿrānī dem Meister darüber, der beschloß, es fortan ebenso zu machen. „Verzeih uns, vergib uns, erbarm dich unser!“ – diese Bitten aus dem letzten Vers von Sure 2 fügte aš-Šaʿrānī ebenfalls in den Ritus ein, und sie verschafften allen eine tiefe innere Heiterkeit, wie er versichert. Schließlich dehnte man dieses Gedenken auf alle Nächte des letzten Drittels des Ramadan aus. Diese neue Art des feierlichen Gebets für den Propheten breitete sich bald über ganz Ägypten aus und wurde ab der Mitte des 16. Jahrhunderts auch in Damaskus üblich. In Jerusalem und Mekka wurde sie nun ebenfalls gepflegt. Man bezeichnete sie mit „Weg der Lebendigkeit“.80 Denn während dieses Ritus sitzt man mit dem Gesandten, ja mit Allah selber zusammen. Das beteuert aš-Šaʿrānī, und wenig später erzählt er von einer Vision, durch die ihm erst die wahre Bedeutung seines Kreises aufgegangen sei. „Eines Nachts, als ich halb schlief, halb wachte, traten drei Engel bei mir ein, der eine sieben Ellen groß, die beiden anderen von unserer Statur; ihre Hautfarbe war wie Safran. Sie grüßten mich, und der große sprach zu seinen Gefährten: ‚Nun habt ihr heute nacht die Länder des Ostens und des Westens durchstreift. Habt ihr eine Klause gefunden, in der man mehr Allahs gedenkt und den Koran rezitiert als in dieser?‘ Beide verneinten, und einer fragte den großen: ‚Wo verläuft denn die Grenze, bis zu der sich die Hilfe dieser Sitzung des Gebets für den Propheten ausdehnt?‘ ‚Bis zum Tor der al-Ḥākim-Moschee, das sich zum TriumphTor hin öffnet, und bis zum Šaʿrīja-Tor, das nach links hin außerhalb des Viertels der al-Ḥākim-Moschee liegt.‘ Dann erwachte ich. Ich erflehe von Allah die Huld, daß er den guten Wirkungen dieses Ortes nach meinem Tode Dauer verleihen möge, damit seine Barmherzigkeit entsprechend seinem göttlichen Vorauswissen erhalten bleibe. Man sagt, die guten Wirkungen des Wohnortes eines Derwischs bestehen entsprechend der Kraft seiner Energie fort, bei manchen ein Jahr oder weniger oder mehr. Außerhalb Kairos verfügt, wie ich sah, Sidi Aḥmad al-Badawī über die stärkste Energie, und nächst ihm Sidi Muḥammad aš-Šanāwī; an den Wohnorten dieser beiden geben sich die Menschen mit besonderem Eifer dem Erwerb von Wissen und dem Studium des Korans hin. In Kairo verfügt nächst den Herren der al-Azhar-

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Moschee Sidi Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī (gest. 1499) über die meiste Energie. Schon siebenundfünfzig Jahre ist er tot, und seine Stätte nimmt immer noch an guter Wirkung zu – im Gegensatz zu anderen Derwischen Kairos wie al-Matbūlī, ʿUṯmān dem Brennholzsammler, Sidi Aḥmad dem ‚Asketen‘, Sidi Madjan und weiteren. Wisse dies! Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!“81 Das Entsetzen im Höchstmaß des Erkennens Siebenundfünfzig Mondjahre nach al-Ġamrīs Tod trägt aš-Šaʿrānī diese Sätze in seine Lebensbilanz ein. Sidi Aḥmad der „Asket“, Sidi Madjan, al-Matbūlī, ʿUṯmān der Brennholzsammler, ein vom Sultan Qaitbai unterstützter Gottesfreund,82 sie alle hatten eine beträchtliche Segenskraft, aber diese schwindet rascher als diejenige, die Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī einst in seine Moschee bannte. Verborgen ist in dieser Behauptung ein nicht geringes Selbstlob aš-Šaʿrānīs: Ihm ist es gelungen, das Erbe zu wahren. Ja, mehr noch, die Energie seines Gottesgedenkens strahlt weit über das Kairoer Viertel, in dem er ansässig geworden ist, hinaus – bis nach Gaza.83 Die Weite des Kosmos, geschaffen einzig und allein, das Lob des Einen zu singen, mag sich bisweilen dem in der Nacht Allahs und des Propheten Gedenkenden auftun. In solchen Augenblicken des gänzlichen Ichverlustes ist auch die Segenskraft grenzenlos. „Zu den Gnadenerweisen, die der erhabene Allah mir schenkte, gehört, daß er vor mir den Schleier fortzog, so daß ich die Lobpreisungen alles Leblosen und der Tiere, als da sind das Vieh und andere Gattungen, hörte. Dies dauerte vom Gebet nach Sonnenuntergang bis zum Anbruch der Morgendämmerung und geschah so: Hinter dem frommen, gottesfürchtigen, dem Prunk entsagenden Meister Sidi Amīn ad-Dīn, dem Vorbeter in der Moschee al-Ġamrīs, war ich zum Gebet nach Sonnenuntergang in die Zugegenheit (des Einen) getreten. Da wurde mein Schleier fortgezogen, und plötzlich vernahm ich den Lobpreis der Säulen, der Wände, der Matten, des Pflasters, und ich entsetzte mich. Dann hörte ich die Worte von Leuten am Rande von Kairo; das weitete sich auf die Dörfer aus, dann über alle Gebiete der Erde bis an den Ozean. Darauf vernahm ich die Lobpreisungen der Fische, auch derjenigen, die im Ozean schwimmen: ‚Preis sei dem König, dem Schöpfer, dem Herrn des Leblosen, der Tiere, der Pflanzen, aller Nahrung! Preis sei ihm, der die Speise keines seiner Geschöpfe vergißt und auch dem seine Güte nicht vorenthält, der gegen ihn aufsässig ist!‘ Dies geschah im Jahre 923 der Hedschra (begann am 24. Januar 1517). Dann, beim Anbruch der Morgendämmerung, erbarmte sich Allah meiner und verhüllte vor meinem Gehör jene Lobpreisungen, denn allzu großes Entsetzen hatte mich ergriffen. Aber er machte, daß mir mittels Erleuchtung das Wissen davon erhalten blieb, wodurch mein Glaube an Stärke zunahm.“84 ***

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Mit vierundzwanzig Jahren wird aš-Šaʿrānī die Schöpfung durchsichtig; durchsichtig freilich in einem ganz anderen Sinn, als ihn der europäische Gelehrte – auch schon des 16. Jahrhunderts – für selbstverständlich nimmt. Denn nicht die Welt an sich ist aš-Šaʿrānī als Gegenstand des Erkennens gegeben. Es sind keine ausrechenbaren Kräfte, die die Welt im Innersten zusammenhalten, keine Stoffe und ihre Wechselwirkungen, die das Seiende konstituieren. Hiernach zu forschen, das wäre in muslimischer Sicht eine verwerfliche Selbstbehauptung des Verstandes, dessen ureigene Aufgabe genau das Gegenteil ist, die vollständige Selbstentmächtigung.85 Wer sich dergleichen abzuringen vermag, dem winkt das Schauen mit den Augen Allahs, das Hören mit seinen Ohren; ihm wird zur Gewißheit, daß die Welt nichts anderes ist als das unbegreifbare schaffende Vorgehen Allahs, durch das dieser sich vor sich selber und für sich selber als den Einen Allmächtigen erweist. Das Bewußtsein, in dieser Hinsicht zum Stellvertreter Allahs86 geworden zu sein, verführt, wie wir sehen werden, zu Aussagen von atemberaubendem Dünkel, hinter denen, auch das wird sich im Fortgang des Studiums der Lebensbilanz herausstellen, eine nicht zu erstickende Furcht lauert. Aš-Šaʿrānīs Weg zum Erkennen war hart. Er begann ihn auf dem Dorf mit den ersten Bemühungen um den Erwerb des Wissens; in Kairo setzte er ihn, von erfahrenen Gelehrten betreut, fort und begann zu erspüren, was hinter dem Wissen verborgen sei. Auf eigene Faust soll der Muslim dies nicht zu ergründen suchen, warnt er und erzählt doch, daß er gerade dies wagte. Er durfte es wagen, versichert er seinen Adepten, die er sich in der Lebensbilanz als seine Leser wünscht. Er durfte ohne Anleitung sich dem Erkennen hingeben, weil das Wissen in ihm unverrückbar verankert worden war. Und so tat er seine ersten Schritte auf einem Seil, dessen zweiten Befestigungspunkt er noch nicht erahnen konnte. Dies nicht nur, weil er damals noch ein Niemand war und dem Scheitern gewiß näher als dem Erfolg, sondern vor allem, weil diese ersten Schritte in eine Zeit des Zusammenbruchs der überkommenen Ordnung fielen. Begünstigte ihn dieser Zusammenbruch? Empfand aš-Šaʿrānī deshalb die Mißgunst seiner Zuschauer so schwer erträglich?

Kapitel 3 Der Gottesfreund und die Mächtigen 3.1 Qānṣauh al-Ġaurī Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich die Herkunft der Mächtigen der Zeit noch schaue, wenn sie schon die Herrschaft innehaben und allen erdenklichen Prunk entfalten – weder hindert mich der jetzige Zustand eines Herrschers an der Wahrnehmung des früheren noch umgekehrt! So erscheint mir ein Emir als Erde, obwohl ich ihn als Emir sehe, oder ein anderes Mal als ein Samentropfen oder eine kleine oder größere Leibesfrucht (vgl. Sure 22, 5 und 40, 67) oder als ein Sklave, der sich in jemandes Besitz befindet und nichts auszurichten vermag (vgl. Sure 16, 75), wenngleich er jetzt als Emir vor mir steht. Dies ist eine bedeutsame und kostbare Art des Wahrnehmens, die kaum jemandem unter meinen Zeitgenossen glückt. Der Emir weiß also, daß ich nicht nur seine Herkunft, nicht nur seinen Emirsrang schaue, sondern beides zugleich mit zwei verschiedenen Augen. Immerfort, in alter Zeit wie auch heute, steigen in der Welt die Niederen empor, abgesehen nur von denen, die schon von Natur aus edel sind. So betrachte ich Nimrod, den Sohn des Kanʿān,1 wie ihn seine Mutter auf dem freien Feld zur Welt brachte, dann starb und ihn zurückließ, wie ihn dann eine Leopardin säugte, weswegen er den Namen Nimrod2 erhielt, wie er aufwuchs und den Tyrannenwahn an den Tag legte. Desgleichen schaue ich, wie es sich mit dem Pharao verhielt, der doch der Tagelöhner eines Pächters in Memphis gewesen war, für den er Melonen und Gemüse verkaufte, und wie er dann trotz seiner Häßlichkeit und Kleinwüchsigkeit die Göttlichkeit für sich beanspruchte (vgl. Sure 28); nur eineinhalb Ellen soll er groß gewesen sein, so daß ihm der rübenblattgrüne Bart bis zum Bauchnabel reichte. Oder Nebukadnezar, der ein Waisenkind in Babylon gewesen war: Sein Vater hatte sich als Brennholzsammler durchgeschlagen; und doch war Nebukadnezar ein Gewaltherrscher geworden. Und so sehe ich alle Gewaltherrscher bis in unsere Zeit während ihrer Regierung und des Emirsamtes als die Erde, aus der sie gemacht sind. Um solcher Visionen willen verzichten manche auf die Welt und sagen: „Pfui über sie! Derart gemeine Menschen sind uns bei ihr zuvorgekommen!“ Allerdings ist die Welt ganz und gar vergänglich. Deshalb befreien die Enthaltsamen ihr Selbst von der Bindung an das Vergängliche und erwählen für sich das Bleibende. Im bedeutungsschweren Koran liest man: „Jenes ist die jenseitige Behausung; sie bestimmen wir denjenigen, die auf Erden weder Macht anstreben noch Unheil verüben!“ (Sure 28, 83). Denn dem Schöpfer allein kommt es zu, die Macht innezuhaben. „Voll Segen ist der, in dessen Hand die Herrschaft liegt; zu allem hat er Macht!“ (Sure 67, 1) – Meister Aḥmad mit dem Gesichtsschleier, der außerhalb des „Tores der Eroberungen“ begraben ist, einer der großen Gottesfreunde, erzählte: „Als ich über das Wort: ‚Voll Segen ist (Allah)‘ nachdachte, erblickte ich einige Beduinenmädchen; eines von ihnen stieg auf eine Sanddüne und rief: ‚Voll Segen bin ich für euch! Voll Segen bin ich für euch!‘ Da erkannte ich, daß dieses Geschehen das Innehaben der Macht war.“ In diesen Gnadengeschenken habe ich schon ausführlich darüber gesprochen, daß ich stets die Machthaber aus Höflichkeit gegen Allah achtete; denn er hat sie über uns gesetzt. Nun weiß man, daß die göttliche Bestimmungsmacht nicht auf eine einzige Weise des Vorgehens festgelegt ist und daß Allah seine Gewohnheit durchbrechen kann, wann immer ihm dies beliebt, denn sein Wollen und sein zielgerichtetes Wissen sind vollkommen frei. Wenn selbst bei der https://doi.org/10.1515/9783110789119-010

Kapitel 3: Der Gottesfreund und die Mächtigen

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unbelebten Materie die Gewohnheit durchbrochen wird, so daß Wasser zu Stein und Stein zu Wasser werden kann, obwohl die unbelebte Materie nicht das Substrat des ununterbrochenen göttlichen Eingreifens ist, wie dann erst beim Menschen, der doch das Substrat ist, das am meisten dem göttlichen Eingreifen unterliegt! Denn nirgends ist das Verfügen Allahs von so großer Tragweite wie beim Menschen: Von einem Augenblick zum anderen kann der Reiche arm werden, der Mächtige gedemütigt, der Starke schwach, der Befehlshaber ein Befehlsempfänger – und umgekehrt. Ein Kaufmann, der aus Indien kam, erzählte mir, daß er von einem Fluß hörte, der alles, was man hineinwarf, zu leichtem Stein werden ließ. „Ich ging“, so berichtete der Kaufmann, „an jenen Fluß und hielt ein alexandrinisches Tuch ins Wasser, und es wurde zu einem leichten Stein. Auch hatten wir einen Strumpf bei uns, den wir hineintauchten, und er wurde so weit, wie er benetzt worden war, zu Stein. Genauso geschah es mit Stäben, die wir hineinhielten; sie wurden zu Stein, aber der Teil, der nicht mit dem Wasser in Berührung kam, blieb Holz. Ich sah im Wasser auch versteinerte Fische. Jener Fluß mündet nämlich im Meer, so daß Fische in ihn vordringen und dann zu Stein werden. Jedes Tier, das sein Maul zum Trinken in das Wasser tauchte, hatte auf der Stelle ein steinernes Maul. Und jeder, der in den Fluß watete, hatte sogleich Beine aus Stein.“ Das gleiche berichtet der Verfasser des Buches Das Einzige auf Autorität eines vertrauenswürdigen Kaufmannes, der dies alles mit eigenen Augen gesehen hatte. Ferner heißt es, daß Chodscha ʿIzz ad-Dīn aus Quilon erzählte: „Ich sah in Indien einen See; jede Frau, die in diesen See steigt, wird schwanger, ohne daß ihr Gatte sie berührt.“ Erwäge, mein Bruder, diese Geheimnisse und Durchbrechungen des Gewöhnlichen! Wer genau prüft, was wir gesagt haben, den werden alle Sicherheit und Gewißheit über den Rang, den er bei Allah innehat, verlassen! Wenn schon solche Umwandlungen für leblose Dinge und Flüssigkeiten bezeugt sind, was meinst du dann erst vom Menschen, dessen Herz sich in jedem Augenblick nach der Bestimmung durch den Barmherzigen wandelt?3 Wie könnte er sicher sein, wo er doch sieht, wie jemand sich vom Gläubigen zum Ungläubigen wandelt, vom Ungläubigen zum Gläubigen? Wie überwältigend ist diese Tatsache für den, der sie schaut! Und wie sehr setzen sich die Menschen über sie hinweg! Wessen Herz von zwei Fingern des Barmherzigen gehalten und zwischen den Fingern nach Belieben hin und hergedreht wird, der kann sich wahrlich nicht auf Glück oder Verdammnis, auf Armut oder Reichtum, auf Jenseits oder Diesseits, auf Stärke oder Schwäche, Zunahme oder Schwinden, Gehorsam oder Ungehorsam, Unglauben oder Glauben verlassen! Auf diese Ungewißheit verweist das bekannte Prophetenwort: „Jemand von euch handelt wie ein künftiger Paradiesbewohner (bis er nur noch eine Elle vom Paradies entfernt ist – dann kommt ihm das im Buch Aufgezeichnete zuvor, und er handelt wie ein Hölleninsasse und gelangt darum in die Hölle! Und ein anderer handelt wie ein künftiger Hölleninsasse, bis er nur noch eine Elle von ihr entfernt ist – dann kommt ihm das im Buch Aufgezeichnete zuvor, und er handelt wie ein Paradiesbewohner und gelangt in das Paradies).“4 Wisse, mein Bruder, wer im Vorauswissen Allahs ein Gottesfreund ist, dessen Gottesfreundschaft wird sich nicht ändern; und sollte ihm eine Widersetzlichkeit gegen Allah unterlaufen, dann vollzieht er eilends die reuige Umkehr, und die Widersetzlichkeit wird die Gottesfreundschaft weder beeinträchtigen noch gar zerstören – es sei denn, die Verfehlung untergrübe den Glauben. Die Wesenseigenschaften, die Allah gegeben hat, werden durch Mängel, die der Mensch erwirbt, nicht berührt. In der Prophetenüberlieferung wird gesagt: „Die Menschen sind wie Metalle – den Metallen Gold und Silber vergleichbar!“5 Gold und Silber sind in den übrigen Metallen verborgen, und das (verborgene) ursprüngliche Metall bleibt unangetastet und verliert seine Eigenschaft nicht. Ebenso verhält es sich mit dem wahren Gläubigen und

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dem wahren Gottesfreund: Die Verfehlungen, die seine Gliedmaßen begehen, vermögen ihn nicht aus seiner wahren Gläubigkeit oder Gottesfreundschaft zu drängen! Mein Bruder Afḍal ad-Dīn sagte: „Was die Alchimisten lehren, nämlich daß Gold und Silber meistens aus Kupfer, Blei, Zinn und anderem entstehen und daß alles, was dem edlen Metall auf Grund von Leiden und Krankheit widerfährt, behandelt werden sollte, damit es zu seiner eigentlichen Art zurückkehre, halten wir nicht für die Wirklichkeit; nie bemerkten wir etwas dergleichen.“6 Die tatsächlichen, echten Metalle, von denen im Prophetenwort die Rede ist, bilden den Vergleich, der am ehesten auf den Gläubigen zutrifft. Denn jeder, der seinem ursprünglichen Wesen nach in den Augen Allahs gläubig ist, der wird immer zu seinem ursprünglichen Wesen zurückfinden wie das edle Metall; und wenn er in den Augen Allahs etwas anderes ist, dann dementsprechend. Der Wesenskern der Dinge ist uns hier und jetzt verhüllt, denn Allah macht, was er will. Er wandelt die Erde zu Gold und das Gold zu Erde, das Feste in Flüssiges, das Flüssige in Festes, das Tier zu einer Pflanze, die Pflanze in ein Tier. Aus allem, was wir darlegten, weiß man, daß jeder, der die Kreatur in ihren verschiedenen Schichten betrachtet, sie insgesamt als Erde ansehen kann, die redet, an den Galgen gehängt, getötet, in ein Amt eingesetzt, aus ihm entfernt wird; dann gelangt diese Erde in den Boden, sei es ein Sultan, ein Emir, ein Richter, ein Statthalter gewesen. Die Herrlichkeit ist allein dem Einen vorbehalten, dem Herrn der Welten. Wer dies einsieht, weiß, daß der Mensch gegen nichts, was die göttliche Bestimmungsmacht entscheidet, Einspruch erheben kann, es sei denn auf dem von der Scharia vorgeschriebenen Weg, und daß der Verstand mit all dem nichts zu schaffen hat. Wisse das, dann wirst du den rechten Pfad gehen. Allah übernimmt es, dich zu leiten, denn er trägt die Verantwortung für die Frommen! Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!7

*** Die Instabilität des Diesseits – Die Stabilität der Gottesfreundschaft – „Glaube“ an die Gottesfreunde – Eine mamlukische Karriere – Der Widerstreit zwischen Syrien und Ägypten – Finanznöte – Die Außenpolitik: Iran – Iran, ein Bundesgenosse gegen die Osmanen? – Die Osmanen: Machtkampf in Anatolien – Selims Sieg über Šāh Ismāʿīl – Vorspiel der osmanischen Eroberung des Mamlukenreichs – Das Rote Meer und der Indienhandel – Selims Drohungen – Die Vorbereitungen auf den Krieg – Schlechte Omina – Die Gegenwart des Wissens – Die Schlacht von Marǧ Dābiq – Qānṣauh al-Ġaurīs Tod

Die Instabilität des Diesseits Es ist nichts Geringes, ein Gottesfreund zu sein! Denn dank seiner Nähe zu Allah, seinem Einblick in das Geschehen am Hofe des Einen Wahren, durchschaut er die Dinge dieser Welt in einer Weise, die all denen verschlossen bleibt, die allein die Wechselwirkungen der mit den fünf Sinnen wahrgenommenen Gegebenheiten zu erwägen vermögen. Der Gottesfreund erfaßt unmittelbar die göttliche Fügung, die gemäß dem von Allah vor aller Zeit auf der Wohlverwahrten Tafel niedergelegten Plan im Offenkundigen wirksam wird. Und so ist für ihn die Eingrenzung aller Erkenntnismöglichkeit auf das je in der Gegenwart sich Zeigende aufgehoben. In der aschʿaritischen Theologie bestimmt Allah in unangreifbarer Souveränität in jedem Augenblick die Konfiguration der die menschliche Vorstellungskraft über-

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steigenden, aber endlichen Anzahl von Substanzpartikeln, aus denen das geschaffene Diesseits besteht, und er legt nach seinem unausrechenbaren Ratschluß auch fest, welches Akzidens in dem betreffenden Augenblick einer jeden Substanzpartikel inhärieren soll. Es ist dem Menschen daher nicht gegeben, von dem, was er zu einem bestimmten Zeitpunkt im Diesseits vorgefunden hat, auf das zu schließen, was zu einem künftigen eintreten wird. Jegliche innerweltliche Kausalität ist nichts als Täuschung, denn nur weil Allahs Gewohnheit es so will, schmilzt Blei, wenn es bis zu einer gewissen Temperatur erhitzt wird. In aschʿaritischer Sicht wäre es irrig, dem Metall Blei einen durch einen Vergleich mit anderen Metallen definierbaren Schmelzpunkt zuzuschreiben, der unter wiederum klar definierten Bedingungen gestern galt und morgen gelten wird. Der Lauf der Welt ist aus der Welt selber nicht erklärbar, und aus dieser Überzeugung folgen Afḍal ad-Dīns Einwände gegen die Alchimie: Es ist ein Zeichen von ichsüchtiger, gottabgewandter Selbstüberschätzung des Menschen, wenn er zu wissen glaubt, daß Gold und Silber wegen irgendwelcher Leiden zu den minderwertigen Metallen Kupfer, Blei und Zinn entarten und wie man diese Leiden kurieren muß, damit aufs neue das edle Gold oder Silber zutage trete. Dem gewöhnlichen Menschen, der sich nicht mittels Gottesgedenkens und strengster Schariatreue auf Dauer zu dem Einen gewendet hat, fehlt jede Möglichkeit, zu begreifen und zu deuten, was im Diesseits geschieht. Der Gottesfreund dagegen empfängt diese Möglichkeit als einen Beweis der Huld des Einen. Er schaut, wie die Weisheit am Werke ist, schaut im mächtigen Nimrod den verwaisten Säugling, dessen sich die Leopardin annahm, im Pharao den häßlichen, zwergenhaften Gemüsehändler, erkennt, daß das krafthaltige Wort, Teil der göttlichen Fügung, sich unmittelbar im Offenkundigen manifestiert. Was wir Natur zu nennen pflegen, unterliegt der göttlichen Bestimmung, und so ist diese Natur nichts, das an sich selber und aus sich selber erforscht werden könnte oder gar müßte.Was wir an ihr beobachten können, ist einzig die Tatsache, daß Allah nach Belieben seine Gewohnheit durchbricht – man mag einen Stab noch so oft und lange in den Nil halten, das Holz bleibt Holz, und so weit, wie es mit dem Wasser in Berührung kommt, wird es naß; in Indien aber gibt es ein Gewässer, in dem Allah dieses Gewöhnliche nicht eintreten läßt: der Stab versteinert. – Die Weisheit Allahs erfaßt der Gottesfreund aber nicht nur in der Natur, sondern in viel beunruhigenderem Maße im Lebensschicksal der Menschen. Auch hier gilt, daß der gemeine Mann nicht im entferntesten zu durchschauen vermag, ob er in das Paradies eingehen oder in die Hölle stürzen wird. Selbst in dieser gewichtigsten aller Fragen bleibt jedes innerweltliche Indiz ohne Aufschluß, eine schmerzliche Wahrheit, auf die das von aš-Šaʿrānī nur knapp angedeutete Prophetenwort hinweist. Diese Anspielung genügt, um die Adepten an diese ihr Dasein überschattende Ungewißheit zu erinnern. Mögen sie im Augenblick noch die Gebote der Scharia beachten, im nächsten kann alles ganz

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anders sein. Schon die unbelebte Materie unterliegt, wie aš-Šaʿrānī mit den Berichten aus Indien zeigt, dem Wandel der göttlichen Gewohnheit. Der Mensch aber ist das Geschöpf, das dem Ratschluß des Einen Wahren wie kein anderes anheimgegeben ist. Wieder spielt aš-Šaʿrānī auf ein jedem Muslim bekanntes Prophetenwort an: „,Die Herzen aller Söhne Adams liegen wie ein einziges Herz zwischen zwei Fingern des Barmherzigen; er dreht es, wohin ihm beliebt.‘ Und dann fügte der Gottesgesandte hinzu: ‚Oh Allah, der du die Herzen drehst! Drehe unsere Herzen zum Gehorsam gegen dich!‘“8 Die Stabilität der Gottesfreundschaft Die Gottesfreunde genießen vor allen anderen Muslimen den unschätzbaren Vorteil, daß sie von jener Ungewißheit hier und jetzt nicht mehr gequält werden. Wenn ihnen ein Verstoß gegen die Scharia, eine Widersetzlichkeit gegen Allah unterläuft, dann stellt sich sogleich Reue ein. Die das Heil verbürgende gegenseitige Zuwendung von Allah und Gottesfreund wird, kaum daß sie beeinträchtigt wurde, erneut wirksam. Die Wesenseigenschaft dieser Begnadeten ist die das Ich bezähmende Unterworfenheit unter die Fügung des Schöpfers, und eine Wesenseigenschaft ist unwandelbar wie das Gold. Ibn ʿArabī, dessen Gedanken über die Alchimie den Hintergrund dieser Aussagen bilden, nahm an, daß, wenn immer sich Dämpfe in den niederen Sphären zu Metallen verdichteten, diese danach strebten, sich zu Gold zu läutern. Wegen der Unvollkommenheit, die in diesen Sphären obwaltet, blieben sie jedoch minderen Ranges, etwa Eisen, Blei oder Kupfer – gleichwie die gewöhnlichen Muslime der Unvollkommenheit verhaftet sind. Treffen die Unvollkommenen auf einen Gottesfreund, dessen unwandelbarer Goldcharakter durch Allah ein für allemal festgelegt ist, dann mag es diesem gelingen, sie bis zur Vollkommenheit zu läutern. Da freilich solche Lauterkeit, anders als bei den Gottesfreunden, nicht ihrem Wesen entspricht, fallen sie unter dem Andringen der unzulänglichen Verhältnisse ihrer niederen Sphäre immer wieder in ihre mit Mängeln behaftete Wesensart zurück.9 Darauf spielte Afḍal ad-Dīn an, als er der Alchimie die Kenntnis des Goldmachens absprach. Wer zum Gottesfreund erwählt ist, der erringt, wie aš-Šaʿrānī es uns geschildert hat, diesen Rang durch strengen Gesetzesgehorsam und durch unablässiges Gedenken, und mit diesem Rang ist die Fähigkeit des Erkennens verbunden. Erwählt sind ebenso die Edlen, die Nachfahren des Propheten. Auch sie brauchen nicht zu befürchten, daß Allah sie zur Hölle verdammen könnte. Der Einblick in das Verborgene wird ihnen jedoch nicht gewährt; sie müßten ihn wie jeder Gottesfreund zu erwerben suchen. Trotzdem sind sie angesichts der Jenseitsfurcht, in der die übrigen Muslime leben, um die Sicherheit zu beneiden, die aš-Šaʿrānī ihnen zugesteht. Häufig kommt er auf die Achtung zu sprechen, die den Edlen gebühre, und man

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ahnt, wie tief es ihn beruhigt haben muß, als er erfuhr, daß er selber sich zu jenen Glücklichen rechnen durfte. Doch darüber später mehr! Die Emire, die Großen und die Mächtigen, sie alle wissen, mit welchen Gaben die Gottesfreunde ausgestattet sind; sie wissen, daß derjenige, der bis an den Hof des Einen vorgedrungen ist, die nicht selten schmachvolle Herkunft des Herrschers oder Militärführers zu erkennen vermag – und wessen Herkunft wäre nicht niedrig gewesen? Das eben war doch die Eigenart des Mamlukenregimes, daß man allein aus dem Stand des in den Steppen jenseits des Kaukasus oder anderswo aufgekauften Kriegssklaven in die höchsten Offiziersränge und schließlich auch bis zum Sultanat aufsteigen konnte. Die Mächtigen waren keineswegs die wenigen Glücklichen, die in eine dank umfangreichen Eigentums an Ländereien, dank über Generationen ererbten Ansehens ausgezeichnete Schicht der Gesellschaft hineingeboren wurden und deswegen mit einer gesicherten Hausmacht im Rücken nach Ämtern und Ehren, nach der Herrschaft streben durften. Eine solche Aristokratie gab es nicht, und um 1400 schwindet auch der Einfluß der großen Kairoer Familien, die, den Militärherren dienstbar, die angesehensten und einträglichsten zivilen Ämter über einen langen Zeitraum einander zugeschanzt hatten. Aš-Šaʿrānī beschreibt die Wirklichkeit des frühen 16. Jahrhunderts zutreffend, wenn er feststellt, daß in aller Welt immerfort die Niederen emporsteigen – mit Ausnahme nur der Nachkommen des Propheten, die aber weder in den zivilen Ämtern, die durch die Sultane vergeben wurden, noch gar im Militär irgendeinen Vorrang innehaben. Allein in der spirituellen Gesellschaftsordnung, die neben dem Gefüge von Ämtern und Diensträngen existiert wie die spirituelle Topographie Kairos neben dem profanen Stadtbild, wie Gold und Silber neben den vielen unedlen, wandelbaren Stoffen, haben die Nachfahren Mohammeds Gewicht, wenn sie auch hinter den Gottesfreunden im allgemeinen zurückstehen müssen. – Aš-Šaʿrānī wird uns im übrigen später anvertrauen, daß ihm die Kosmologie, aus der er seine Überlegenheit über die Mächtigen herleitet, in Wahrheit gar nicht jenes hohe Maß an Heilsgewißheit gewähren kann, auf das er sich beruft. Denn die Existenz des Kosmos endet mit dem Weltgericht, und was danach kommt, weiß nur Allah. Doch für den Alltag, im Umgang der Gottesfreunde mit den Mächtigen, bleiben derartige Zweifel wohlweislich außer Betracht. „Glaube“ an die Gottesfreunde Gegen Ende seiner Lebensbilanz dankt aš-Šaʿrānī Allah dafür, daß er ihm schon in jungen Jahren die Möglichkeit verschafft habe, bei den Mächtigen Fürsprache einzulegen, und daß diese Fürsprache auch erhört worden sei. Qānṣauh al-Ġaurī und Ṭūmānbeg, die letzten beiden Mamlukensultane, Ḫairbeg und die Paschas der Osmanen hätten auf sein Wort geachtet.10 Dies ist nicht bloße Großsprecherei. Es gibt andere Nachrichten, die bestätigen, daß aš-Šaʿrānī schon früh Zugang zu den

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Großen hatte; wir erinnern uns, daß Selims Bruder und Rivale Korkud während seines Aufenthalts in Kairo bei Amīn ad-Dīn, dem Imam der al-Ġamrī-Moschee, geistlichen Beistand fand. Der Sultan Qānṣauh al-Ġaurī suchte ein enges Verhältnis zu den berühmten Gottesfreunden Ägyptens, er war von den Lehren durchdrungen, die sie verbreiteten, und schmiedete arabische Verse, in denen er seine Sehnsucht nach dem Hof des Einen besang, sein Verlangen nach einem erquickenden Trunk jenes Erkennens, der ihm köstlicher sein werde als Herrschaft und Thron. Reich beschenkte er den jungen Gottesfreund aš-Šaʿrānī, dem er in unverbrüchlicher Bindung zugetan war, „an den er glaubte“, wie man zu sagen pflegte. Einen Gebetsteppich, den ihm Qānṣauh al-Ġaurī verehrte, bewahrte aš-Šaʿrānī zeit seines Lebens auf, freilich ohne ihn je zu benutzen. Die schon geschilderte Furcht vor den Wirkungen der widerschariatischen Handlungen des Schenkenden schloß dies aus. Doch hatte er den Teppich auch nicht zurückweisen dürfen, war der Sultan doch von Allah eingesetzt worden. Eine andere kostbare Gabe, ein leichtes indisches Tuch von sieben mal dreißig Ellen Größe, das so fein war, daß es in der Schale einer Kokosnuß Platz fand, gab aš-Šaʿrānī einem seiner Verwandten in Sāqijat Abū Šaʿra weiter.11 Die Fürsprache beim Sultan konnte zum eigentlichen Daseinszweck eines Gottesfreundes werden; davor warnt aš-Šaʿrānī allerdings. Unter dem Sultanat al-Ġaurīs habe es jemanden gegeben, der als Meister aufgetreten sei, seine Adepten nur flüchtig in die Annäherung an Allah eingeübt, trotzdem aber einigen Einfluß auf die Vergabe von Ämtern erlangt habe.Wir erfahren keine Einzelheiten; aus den Worten aš-Šaʿrānīs geht hervor, daß er diesen Einfluß den beim Gottesgedenken hergesagten Formeln zuschreibt. Manche Toren, so fährt er fort, hätten aus diesem Erfolg auf die Wahrheit des Anspruches, ein Gottesfreund zu sein, geschlossen. Etliche Jahre sei jenem Leichtfuß das Glück treu geblieben, zehn Obmänner habe er schließlich beschäftigt, die er mit Bittgesuchen zu den Emiren schickte. Irgendwann aber sei der Schwindel aufgeflogen – er war gar kein richtiger Gottesfreund! Erst jetzt habe jener das einzig Richtige getan: Er habe sich in der Gottesfreundschaft von berühmten Meistern wie Sidi ʿAlī, dem Palmblattflechter, unterweisen lassen und sei endlich doch „im Guten gestorben – Allah erbarme sich seiner!“12 Eine mamlukische Karriere In der Reihe der tscherkessischen Sultane, deren erster, Barqūq, 1382 die Macht an sich gerissen hatte, war Qānṣauh al-Ġaurī13 der zwanzigste. Al-Ašraf Qaitbai (reg. 1468 – 1496), die letzte bedeutendere Herrschergestalt der Mamluken, hatte ihn erworben und dann freigelassen. 1481 erteilte ihm Qaitbai den ersten großen Auftrag: Er ernannte ihn zum Intendanten von Oberägypten. Drei Jahre später erreichte Qānṣauh den untersten Emirsrang: Als Zehner-Emir wurde er an die syrisch-kilikische Grenze abkommandiert, wo er an den Kriegszügen gegen die Osmanen

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teilnahm und als Gouverneur von Tarsus amtierte. Es ist unbekannt, ob er sich in irgendeiner Weise während des osmanisch-mamlukischen Krieges auszeichnete, in dem beide Mächte zwischen 1485 und 1489 um den Besitz Kilikiens rangen, die Mamluken zudem um den Zugang zu den Wäldern Anatoliens, ohne die sie als Seemacht hätten abdanken müssen, und dies gerade in einem Augenblick, in dem Venedig als ein Gegengewicht gegen die osmanische Überlegenheit im östlichen Mittelmeer an Bedeutung zu verlieren schien. Der 1491 ausgehandelte Friede sah unter anderem vor, daß in der Ebene von Adana drei Festungen den Mamluken zu überlassen seien; eine von ihnen soll Tarsus gewesen sein.14 Doch war Qānṣauh um diese Zeit wohl längst in Aleppo, wo er am Sitz des dortigen Statthalters das Amt des Oberkämmerers bekleidete. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts, während der kurzen Sultanate von an-Nāṣir Muḥammad (reg. 1496 – 1498) und aẓ-Ẓāhir Qānṣauh (reg. 1498 – 1500), treffen wir ihn in Kairo; dort diente er sich zum Befehlshaber der Sultanswache hoch. Unter al-ʿĀdil, der 1501 einige Monate herrschte, wurde er sogar zum Großsekretär ernannt; damit unterstand ihm der ganze Verwaltungsapparat. Lange konnte er sich dieses Postens nicht freuen. Al-ʿĀdil war, bevor er das Sultanat usurpierte, nach Syrien abkommandiert worden, um dort eine Rebellion niederzuschlagen, und Qānṣauh al-Ġaurī hatte ihn begleiten müssen, vermutlich wegen seiner intimen Kenntnisse der syrischen Angelegenheiten. Als al-Ġaurī mit dem nunmehrigen Sultan al-ʿĀdil nach Kairo zurückkehrte, waren die dortigen Emire mit dieser Wende der Dinge nicht einverstanden. Al-ʿĀdil erkannten sie nicht als Herrscher an, darin waren sie sich einig. Aber wen sie auf den Thron setzen sollten, wußten sie auch nicht. In der Nacht vor dem Fest des Fastenbrechens des Jahres 906 (20. April 1501) tauchte al-ʿĀdil unter, weil er um sein Leben fürchtete. Etliche hohe Militärs, unter ihnen Qānṣauh al-Ġaurī, trafen sich unterdessen im Haus eines Emirs, der es für klug gehalten hatte, solange al-ʿĀdil herrschte, die Öffentlichkeit zu meiden. Zu dieser Versammlung stieß ein gewisser Tānībeg. Ihn schlugen die Anwesenden als Sultan vor. Die Standarte des Herrschers wurde vor ihm hergetragen, als er danach zum Palast zog, um den Thron zu besteigen. Allerdings sollte am Tag des Fastenbrechens ein Konvent der Emire der Erhebung Tānībegs zustimmen. Dazu kam es nach undurchsichtigen Vorgängen dann aber nicht. Ibn Ijās (gest. nach 1522), der Chronist des Unterganges des tscherkessischen Sultanats, schreibt vielsagend: „Tānībeg zeigte in seinen Handlungen ein verhängnisvolles Vorgehen und erwies sich als unbesonnen, seitdem er als Kandidat für das Sultanat genannt worden war. Dann nahm es mit ihm eine schlimme Wendung, und die Herrschaft entging ihm.“15 Nicht auf das eigene Streben kommt es in dieser Welt an. Entscheidend ist, was einem bestimmt ist, denn sonst rissen die Falken sogar noch das Futter der Spatzen an sich! Nach dieser in Verse gesetzten Bemerkung schildert Ibn Ijās, wie an jenem 1. Šauwāl 906 Qānṣauh al-Ġaurī auf den Thron des Mamlukenreiches gezerrt wurde.

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Auf der für diesen Tag anberaumten Versammlung zerstritten sich die Emire heillos, und einige von ihnen folgten einer plötzlichen Eingebung, wiesen auf al-Ġaurī und sagten: „Keinen anderen als diesen machen wir zum Sultan!“ Ibn Ijās erzählt weiter: „So zogen sie ihn herbei und schleppten ihn auf den Thron; er aber wehrte sich dagegen und weinte. Miṣrbeg redete heftig auf ihn ein und riß ihm den Kragen des Obergewandes entzwei. Dabei setzte sich al-Ġaurī weiter aus Leibeskräften zur Wehr. Endlich erschienen der Kalif al-Mustamsik billāh Jaʿqūb, der malikitische und der hanbalitische Oberrichter. Der schafiitische und der hanafitische verspäteten sich, damit bei ihrer Ankunft die Emire bereits entschieden hätten, wen sie zum Sultan erheben wollten.“ Während man auf diese beiden wartete, schrieb der hanbalitische Oberrichter ein Protokoll, in dem al-ʿĀdil für abgesetzt erklärt wurde, weil er ein „Blutvergießer“ sei. Als der Hanafit und der Schafiit eingetroffen waren, begann die Huldigungszeremonie; allen voran schwor der Kalif Qānṣauh al-Ġaurī den Treueid. Man bekleidete den sich immer noch sträubenden und weinenden Mann mit dem Sultansgewand, setzte ihm den schwarzen Turban auf. „Der edelste König“ lautete der Herrschername, den man für ihn wählte. Auf einem Pferd mit vergoldetem Sattel führte man ihn gegen Abend in prächtigem Zug in den Audienzsaal der Festung, wo die großen Emire, die ihn in das Sultansamt gezwungen hatten, nun, wie es üblich war, vor ihm den Boden küßten und dann aus seiner Hand Ehrengewänder entgegennahmen – und der, der zu seiner Inthronisierung am energischsten beigetragen hatte, folgte al-Ġaurī auf dem Posten des Großsekretärs. Auf der Festung schlug man die Trommeln, Ausrufer machten in Kairo die Neuigkeit bekannt. Die Bevölkerung sei, so Ibn Ijās, erleichtert gewesen, als sie diese Nachricht vernommen habe – die Anarchie hatte ein Ende. Daß Qānṣauhs Herrschaft fünfzehn Jahre, also erstaunlich lange, währen würde, konnte man nicht ahnen. Denn er war, wie Ibn Ijās schätzte, bei Beginn des Sultanats schon um die sechzig Jahre alt, „doch zeigte sich in seinem Bart noch kein graues Haar, und dies zählte man zu den Zeichen seines Herrscherglücks“.16 Der Widerstreit zwischen Syrien und Ägypten Vor allem konnte man nicht voraussehen, daß zu Beginn des 16. Jahrhunderts Vorgänge ablaufen würden, die schwerwiegende Folgen zeitigten und die politische Landschaft der islamischen Welt tiefgreifend veränderten. Am wenigsten aufsehenerregend war das Zerwürfnis im Innern des Mamlukenreiches, das sich während der kurzlebigen Sultanate des ausgehenden 15. Jahrhunderts schon ankündigte und durch die erzwungene Thronbesteigung Qānṣauhs nicht behoben werden konnte. Es ist dies der Widerstreit zwischen dem Herrscher in Kairo und der nach Selbständigkeit strebenden syrischen Provinz. Das ephemere Sultanat al-ʿĀdils war bereits ein Ergebnis dieses Zwistes gewesen, und vermutlich war man auf Qānṣauh

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al-Ġaurī als den neuen Sultan verfallen, weil man sich erhoffte, er könne sowohl für die Kairoer als auch für die Aleppiner Emire als Herrscher annehmbar sein. Wenn man gehofft hatte, dieser Sultan werde die Intrigenspiele der mächtigen Militärführer nicht stören, so sah man sich allerdings bereits drei Monate nach der Krönungsfarce eines Besseren belehrt. Miṣrbeg, einer der Hauptakteure des Spektakels, wurde unter der Anschuldigung, der Kopf einer Verschwörung zu sein, verhaftet; er floh kurz darauf aus dem Gefängnis, versuchte einen Aufstand, wurde aber bald gefaßt und im März 1502 hingerichtet. Ende 1504 traf es auch den nächsten Großsekretär; ihm warf man vor, er stehe mit Sībai, dem Statthalter von Aleppo, in einer hochverräterischen Verbindung und beabsichtige, sich in Syrien zum Sultan ausrufen zu lassen. Sībai wurde durch diese Festnahme veranlaßt, zumindest nach außen hin die Loyalität gegen Qānṣauh al-Ġaurī zu wahren. Der Sultan seinerseits ernannte den Aleppiner im Frühjahr 1506 zum Statthalter in Damaskus. Bis zum Tod Qānṣauhs blieb Syrien wenigstens formal dem Kairoer Herrscher untertan. Daß in Wirklichkeit von Treue keine Rede sein konnte, erwies sich spätestens in dem Augenblick, als der Osmane Selim (reg. 1512– 1520) mit dem Einmarsch in Syrien Ernst machte. Finanznöte Den nur in groben Umrissen angedeuteten Konflikt zwischen dem ägyptischen und dem syrischen Teil des Reiches muß man vor dem Hintergrund der erschreckenden Finanznot des Sultanats betrachten. Von deren Vorgeschichte haben wir bei unserem Blick auf die ländlichen Lebensverhältnisse einiges erfahren. Nach jeder Inthronisierung war es üblich, daß der neue Herrscher den Mamluken eine Huldigungszahlung zukommen ließ.Vor allem von den Militärsklaven, die dem Vorgänger persönlich gehört und daher eine bevorzugte Stellung genossen hatten, gingen Gefahren aus. Der Nachfolger würde alle verfügbaren Mittel daransetzen, eine eigene, ihm ergebene Truppe zusammenzukaufen, um sich auf dem Thron zu behaupten. Es war aber kein Geld vorhanden, und Qānṣauh al-Ġaurī meinte, das Problem zu lösen, indem er die Mamluken al-ʿĀdils nach Oberägypten abordnete. Der Unmut über die ausbleibende Huldigungszahlung brach sich schon im dritten Monat seines Sultanats Bahn. Viele Mamlukenkameradschaften, darunter auch diejenige al-ʿĀdils, rotteten sich zusammen und konfrontierten Qānṣauh al-Ġaurī mit ihren Forderungen. Dieser konnte nur auf die leere Staatskasse verweisen. Die Mamluken machten jedoch geltend, daß an-Nāṣir Muḥammad, der 1496 für zwei Jahre seinem Vater Qaitbai auf dem Thron gefolgt war, Militärlehen, die dieser sich angeeignet hatte, zur Befriedigung aller Wünsche verteilt hatte. Dies war freilich eine unwiederholbare Maßnahme gewesen, und das Ergebnis der Bemühungen des machtbewußten Qaitbai um eine Stärkung seiner Stellung gegenüber dem Militär

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war damit rasch vertan. Mitte Juli 1501 beriet sich der Sultan mit einigen Emiren, wie nun zu verfahren sei, und als die Versammlung auseinander gegangen war, verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, die Stiftungsgüter der Moscheen und Medressen sollten dem Militär zur Verfügung gestellt werden. Nur so viel Geld sollte den legalen Nutznießern der Stiftungen verbleiben, daß sie den Kultus gerade noch aufrechterhalten konnten. Der Kalif und die Oberrichter begaben sich wenige Tage später auf die Festung, um dem Sultan für das Jahr 907 nach der Hedschra, das am 17. Juli 1501 begonnen hatte, ihre Glückwünsche auszusprechen. Dabei ließ sich das Thema der Zweckentfremdung der Stiftungen nicht umgehen, die der Schafiit, der Malikit und der Hanbalit scharf verurteilten, während der Hanafit dem Herrscher entgegenkommen wollte. Obwohl nun schon ein Jahrhundert auf Druck des Sultanats den anderen Rechtsschulen gleichrangig, war das Hanafitentum immer noch wenig in der Bevölkerung verwurzelt. Die Emire traten erneut zusammen und fanden eine Lösung, die die Lasten breiter verteilte. Die Stiftungen sollten den Ertrag eines Jahres an den Fiskus abführen; ergänzt werden sollten diese Einkünfte durch den Mietwert von zehn Monaten, der auf alle Häuser, Läden, Bäder, Gärten, Schiffe usw. in Kairo zu erheben war. Selbst auf die Stiftungen, die dem Unterhalt von Krankenhäusern dienten, wurde diese Sonderabgabe geschlagen. Gleichlautende Erlasse schickte man nach Alexandrien und Damiette, ebenso nach Syrien. Mit der Einziehung der Gelder begann man in Kairo sofort. Einzelne Emire erhielten bestimmte Stadtbezirke zur entsprechenden Bearbeitung zugewiesen; andere hatten sich der Gärten, der Schiffe, der Schöpfräder anzunehmen; wieder andere führten bei den Kaufleuten Enteignungen durch, desgleichen bei Juden und Christen, denen man nach dem Zeugnis des Ibn Ijās dreißigtausend Dinare abpreßte.17 Selbst die Pensionen der Witwen hochgestellter Würdenträger und die Einkünfte von zivilen Amtsinhabern blieben nicht verschont. „Und so ließ der Sultan auf die Menschen die Feuersglut der Beschlagnahmungen los, und jeden traf der Schmerz vielfältiger Not.“18 Den Mamluken freilich ging alles nicht schnell genug. Am 20. Juli legten einige die Waffen an und rebellierten, weil sie nun seit drei Monaten keinerlei Zahlung mehr erhalten hatten. Wenigstens bis zur Rückkehr der Pilgerkarawane, die in einigen Wochen zu erwarten war, sollten sie sich gedulden, beschwor sie Qānṣauh alĠaurī, und damit man seinen guten Willen erkenne, drängte er auf die Beschleunigung der Abgabenerhebung. Mit brachialer Gewalt ging man gegen die Bevölkerung vor. Die Inhaber der Läden und Grundstücke setzten den Mietern zu, die verlangte Sonderzahlung unverzüglich zu leisten, was aber vielfach gar nicht möglich war. Die Läden wurden geschlossen, der Handel kam zum Erliegen. Am 24. Juli stellten sogar einige Moscheen den Kultus ein. Schließlich mußte das Militär gegen Unruhestifter und Plünderer einschreiten; vierzehn Personen wurden festgenommen und zweigeteilt. Der Sultan gab ein wenig nach – nicht der zehnmo-

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natige, sondern nur der siebenmonatige Mietertrag sei einzuziehen; dieser Abgabensatz sei durch das Vorbild Qaitbais gerechtfertigt, der ebenso verfahren sei.19 Die mit dem Erpressen der Gelder befaßten Emire kümmerten sich darum aber kaum und ließen sich auch nicht durch die Quittungen beeindrucken, die manche Kairoer noch aus der Zeit Qaitbais vorweisen konnten. In diese spannungsreiche Lage platzte die Nachricht, jener Emir Miṣrbeg, der in Alexandrien ins Gefängnis gesperrt worden war, sei entkommen und halte sich inzwischen in Kairo versteckt. Überfallartige Durchsuchungen ganzer Stadtviertel ordnete der Sultan daraufhin an, was die Unruhe unter der Bevölkerung weiter schürte. Aber die Mamluken konnten Kairo in Schach halten. Sie empfingen den Sold, den sie verlangt hatten. In Damaskus dagegen hatten die Einwohner, als sie den siebenmonatigen Mietertrag zahlen sollten, rebelliert und den mamlukischen Statthalter für einige Zeit aus der Stadt vertrieben.20 Die Außenpolitik: Iran Zur Illustrierung der inneren Verhältnisse des Mamlukenreiches mag vorerst dieser Blick auf die Turbulenzen am Beginn des Sultanats von Qānṣauh al-Ġaurī genügen. Auf die außenpolitische Lage, die sich schon 1501 entscheidend veränderte, konnten die Mamluken kaum noch angemessen reagieren, und angesichts der inneren Schwäche ist dies nicht weiter verwunderlich. Der Damaszener Chronist Ibn Ṭūlūn (gest. 1546) überliefert, daß um den Jahreswechsel von 1501 auf 1502 in seiner Heimatstadt die Nachricht eintraf, daß ein Mann namens Ismāʿīl b. Ḥaidar aṣ-Ṣūfī sich „der Länder Tamerlans“ und anderer Gebiete bemächtigt habe und nunmehr gegen das Reich der Mamluken marschiere.21 Die Worte, die Ibn Ṭūlūn wählt, genügen, um das Entsetzen der Bevölkerung erahnen zu lassen. Tamerlan! – einhundert Jahre zuvor hatte er Syrien in Schutt und Asche gelegt, die Städte ausgeplündert, die Bevölkerung grausam gequält, viele Menschen waren unter entsetzlichen Leiden zu Tode gekommen. Die Mamluken hatten nicht ernsthaft versucht, ihm vor Damaskus Paroli zu bieten. Im Gegenteil, sie waren Hals über Kopf nach Kairo zurückgehastet, ihre ganze Ausrüstung den Feinden überlassend, weil ihnen das Mitmischen in den Machtkämpfen wichtiger war als die Mühsal der Verteidigung des Landes. Und einhundert Jahre vor Tamerlan war es der Ilchan Ġazan (reg. 1295 – 1304) gewesen, der Damaskus eingenommen und ausgeraubt hatte.22 Nun wieder ein Angriff eines Emporkömmlings, der im Osten die Macht an sich gerissen hatte! – In Kairo löste die Kunde, ein „Rebell“, Šāh Ismāʿīl aṣ-Ṣūfī, rücke gegen mamlukisches Territorium vor, einige überstürzte, von Hilflosigkeit zeugende Maßnahmen aus: Man stellte ein kleines Expeditionskorps auf; das hierfür benötigte Geld preßte man einigen hohen Zivilbeamten ab.23

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Es blieb zum Glück alles ruhig, und die Furcht schien unbegründet gewesen zu sein. Das änderte sich im Sommer 1507 schlagartig. Über Aleppo erfuhr man in Kairo, daß Ismāʿīls Truppen auf mamlukisches Gebiet vorgedrungen seien und bereits vor Malatya stünden. Ein osmanischer Gesandter wurde in Kairo Zeuge, wie man im Rat des Sultans ein Expeditionskorps von insgesamt eintausendfünfhundert Mamluken beschloß.24 Es dauerte lange, ehe sich diese zur Abreise bereit machten; es mußte erst Geld aufgetrieben werden. In Damaskus war man etwas schneller. Man zog alle, die über Einkünfte verfügten, zu Sonderabgaben heran, und im Herbst rückten tatsächlich Truppen nach Norden ab.25 Ob diese je den Feind zu Gesicht bekamen, scheint fraglich. Denn ʿAlāʾ ad-Daula, der Fürst des türkmenischen Stammes der Dulqadir, der als Verbündeter der Mamluken in jenen anatolischen Gebieten die Macht ausübte, meldete zur gleichen Zeit nach Kairo, er habe den Eindringlingen eine Niederlage beigebracht und diese hätten sich daraufhin zurückgezogen. ʿAlāʾ ad-Daula schickte, wie es Gepflogenheit war, eine Auswahl abgeschlagener Feindesköpfe nach Kairo, deren Anblick Qānṣauh al-Ġaurī hoch erfreute. Das Expeditionskorps brauchte nicht aufzubrechen; man hoffte, den abkommandierten Mamluken das bereits ausgezahlte Geld wieder abnehmen zu können. Nach einigem Hin und Her verständigte man sich darauf, daß jedem sieben Golddinare bleiben sollten, den Rest, sieben Achtel, müsse er zurückgeben. Etwa um dieselbe Zeit begab sich die osmanische Gesandtschaft, die sich dank diesen Vorfällen ein treffliches Bild von den mamlukischen Zuständen hatte machen können, auf den Heimweg.26 Abgesehen von den Köpfen hatte ʿAlāʾ ad-Daula einen gefangenen Befehlshaber aus dem Heer Ismāʿīls nach Kairo übersandt; das Leben dieses Mannes wurde anscheinend geschont. Zwei Monate später konnten die Kairoer einen leibhaftigen Botschafter Šāh Ismāʿīls bestaunen. Er hatte dem Sultan ein Schreiben zu überbringen, in welchem sich Ismāʿīl für den Angriff auf mamlukisches Gebiet, der gegen sein Wissen und ganz ohne seine Zustimmung erfolgt sei, entschuldigte. Die Mitglieder dieser Gesandtschaft trugen, wie auch jener gefangene Offizier, spitze rote Mützen – daher der Name „Rotköpfe“ für die Safawiden und ihre schiitischen Parteigänger –, entfalteten aber im Gegensatz zu den Osmanen keinerlei Glanz, sondern verbreiteten einen düsteren Eindruck.27 Vermutlich kann man diese Geschehnisse als die Vorboten einer verhängnisvollen Wende in der Außenpolitik des Mamlukenreiches deuten. Schon seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts betrachtete man von Kairo aus den Aufstieg des Osmanischen Sultanats und dessen atemberaubende militärische Erfolge auf dem Balkan mit argwöhnischen Augen. Unter Qaitbai wurde klar, wie groß die Gefahr war, die für die Mamluken von diesem expansiven und daher auch mit reichlicher Kriegsbeute ausgestatteten Sultanat ausging. Als Šāh Ismāʿīl, der Gründer der Safawiden-Dynastie, die Iran bis ins 18. Jahrhundert beherrschen sollte, in Aserbeidschan auftauchte, schrittweise sein Herrschaftsgebiet erweiterte und sich im

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Osten Anatoliens das türkmenische Fürstentum der Akkoyunlu, eines energischen Gegners der Osmanen, aneignete, konnte man in Kairo auf den Gedanken verfallen, die Geschichte wiederhole sich: Ġazan, Tamerlan, nun also Ismāʿīl, der Schah der „Rotköpfe“! Diesmal wollte man schlauer sein, sich gleich mit dem neuen Herrn gutstellen und ihn nicht, wie einst Tamerlan, als einen Feind betrachten. Der neue Herr würde dann wieder das erledigen, was Tamerlan 1402 bei Ankara geleistet hatte – dieser hatte den Sultan Bayezid I. (reg. 1382– 1402) geschlagen und dadurch den osmanischen Druck auf das mamlukische Vorfeld in Südanatolien für lange Zeit beseitigt. Ende 1508 vertrieb Šāh Ismāʿīl den letzten Herrscher der Akkoyunlu aus Bagdad; dieser schickte einen Botschafter nach Kairo, der von Qānṣauh al-Ġaurī Hilfe gegen die Safawiden erbitten sollte. Obwohl man den Abgesandten eines inzwischen landlosen Herrschers freundlich empfing, ist in den Quellen nichts über die Gewährung der erbetenen Unterstützung zu lesen. Angesichts der Geldnot, die schon die Wahrnehmung der eigenen Interessen nahezu unmöglich machte, wäre an tatkräftige Hilfe ohnehin kaum zu denken gewesen. Ibn Ijās fühlte sich bei der Niederschrift dieser Geschehnisse an die Zeit Tamerlans erinnert; auch damals hatte der durch den großen Eroberer besiegte Herrscher von Bagdad, Aḥmad b. Uwais (reg. 1382– 1410), bei den Mamluken Zuflucht gefunden und von Ägypten aus seine Rückkehr auf den Thron betrieben.28 Dergleichen durfte man diesmal nicht dulden, wenn man mit der Karte der Safawiden später einmal einen Stich gegen die Osmanen machen wollte.29 Iran, ein Bundesgenosse gegen die Osmanen? Bei Ibn Ṭūlūn findet sich unter dem Datum des 20. Rabīʿ aṯ-Ṯānī 916 (27. Juli 1510) die Notiz, daß, aus Kairo kommend, ein Gesandter Qānṣauh al-Ġaurīs an Šāh Ismāʿīl auf der Durchreise in Damaskus eingetroffen sei. Zur gleichen Zeit habe sich aus Aleppo eine Anzahl „Franken“ eingestellt, die den mamlukischen Botschafter auf seiner Reise begleiten sollten, und man munkelte, diese Europäer hätten „in ihren Wanderstäben Briefe… an den genannten Ismāʿīl versteckt“.30 In Europa setzte man schon seit langem auf die im Osten an das Osmanische Reich angrenzenden Fürstentümer, die dessen Eroberungslust genauso zu fürchten hatten. Man hatte einst Uzun Ḥasan (reg. 1453 – 1478) von den Akkoyunlu umworben, warum nicht den jetzigen starken Mann Westirans?31 Qānṣauh indessen hatte sich, indem er mit den neuen Feinden der Osmanen zusammenzuarbeiten schien, auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen. Denn niemand konnte abschätzen, ob die Safawiden ihm im Ernstfall wirklich nützen würden, ja man konnte wohl nicht einmal auf die Ehrlichkeit der Safawiden gegenüber den Mamluken bauen. So hatte der mamlukische Kommandant von Birecik, auf halbem Weg zwischen Antep und Urfa gelegen, im Herbst 1510 nach Kairo gemeldet, er habe eine Anzahl von Untertanen Šāh Ismāʿīls

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festgesetzt, die Briefe an europäische Herrscher bei sich gehabt hätten, in denen der Safawide diesen einen gemeinsamen Angriff auf Ägypten vorschlug; er, Šāh Ismāʿīl, werde zu Lande vorrücken, während die Europäer zu Wasser einen Überfall vortragen sollten.32 In Kairo löste dieses Doppelspiel erheblichen Schrecken aus. Der Sultan bestellte für Ende Februar 1511 die europäischen Konsuln aus Alexandrien, Damaskus und Tripolis zu sich ein, tadelte sie scharf und drohte ihnen, er werde sie durch den Strang hinrichten lassen, weil sie die Adressaten jener Briefe Šāh Ismāʿīls seien. Dieser habe zudem ein Zusammengehen der Safawiden mit den Europäern gegen die Osmanen angeregt. Die Besorgnis Qānṣauhs gerade über diesen Vorschlag ist verständlich. Was mochte die Folge sein, wenn dergleichen den Osmanen zu Ohren käme? Die Nervosität Qānṣauhs nahm weiter zu, als er kurze Zeit später erfuhr, Šāh Ismāʿīl habe den Chan der Usbeken besiegt, einen mächtigen Feind, der die Safawiden im Osten bedroht hatte. Würde Šāh Ismāʿīl nun den Rücken freihaben, um wahrzumachen, was er in jenen Briefen angedeutet hatte?33 Šāh Ismāʿīl zögerte nicht, den Mamluken seinen Triumph über die Usbeken in recht drastischer Weise vor Augen zu führen. Im August 1511 meldete sich in Kairo erneut ein Gesandter des Safawiden, der in feierlichem Zug den Weg zur Festung hinaufschreiten durfte, um von Qānṣauh al-Ġaurī empfangen zu werden. Der Gesandte küßte den Boden im Audienzsaal, dann die Füße des Sultans und ließ die Botschaft vortragen, die er mit sich führte – zwei arabische Verse des Textes wurden bald bekannt. Man überreichte dem Sultan die Geschenke: einen prächtigen Koran, den al-Ġaurī entgegennahm und ehrerbietig küßte, und einen kostbaren Gebetsteppich. Schließlich, so Ibn Ijās in seinen Aufzeichnungen, brachte man einen feingearbeiteten Kasten herbei, öffnete ihn vor Qānṣauh al-Ġaurī, und zum Vorschein kam das einbalsamierte Haupt des usbekischen Chans – eine unerhörte Brüskierung des Mamlukenherrschers, der doch Sunnite war wie der getötete Usbeke und mit diesem auch die Zugehörigkeit zur hanafitischen Rechtsschule teilte. Der Sultan gab den Befehl, das Haupt zu bestatten. Dann wandte er sich dem letzten Geschenk zu, einem Bogen, der so groß war, daß Šāh Ismāʿīl hoffte, kein Mamluke werde imstande sein, ihn zu spannen. Nachdem der Botschafter dem Mamlukensultan auf diese Weise den Grad der Geringschätzung veranschaulicht hatte, die Šāh Ismāʿīl ihm entgegenbrachte, stieg er von der Festung hinab. Qānṣauh al-Ġaurī ließ einen seiner Kettenhemdenmacher holen, der den Bogen nahm und entzweibrach.34 Jener Brief, den man dem Sultan vorgelesen hatte, war auf persisch verfaßt. Doch erzählte man sich bald, es hätten darin diese beiden arabischen Verse gestanden: „Das Schwert und der Dolch sind uns das Basilienkraut! Pfui über Narzisse und Myrte! – Edler Wein ist uns das Blut der Feinde, als Becher nehmen wir ihren Schädel.“ – Qānṣauh al-Ġaurī hatte 1503 einen großen Platz für Reiterspiele und kavalleristische Übungen anlegen und mit Bäumen, Blumen und wohlriechenden Kräutern bepflanzen lassen; das ist der Hintergrund der Verse.35 – Wüste Schmä-

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hungen und finstere Drohungen waren im diplomatischen Umgang verfeindeter Herrscher das Übliche. Aber wer kann in diesem Falle entscheiden, ob Ibn Ijās Wahrheit oder Propaganda wiedergibt? Jedenfalls ging das Gerücht, Šāh Ismāʿīl habe aus der Hirnschale des Chans der Usbeken Wein getrunken;36 und diese Behauptung klingt doch allzu sehr nach Verleumdung, weil sie den Safawiden als einen schlechten Muslim hinstellt, der es mit dem schariatischen Weinverbot nicht so genau nimmt. In Damaskus kannte man die beiden Spottverse auch, und dort glaubte man zu wissen, wie al-Ġaurī – im gleichen Reim und selben Versmaß – darauf zu antworten befahl: „Das Wissen und die kluge Bedachtsamkeit sind uns das Basilienkraut, und Freigebigkeit und Güte zu den Menschen. – Unsere Sonne ist Gerechtigkeit gegen jedermann, gepaart mit Stärke und Kampfesmut. – Gottesgedenken ist unser Wein, Gottesfurcht der Becher. Pfui über die Hirnschale!“37 Auch im Osmanischen Reich, dessen anatolisches Kerngebiet durch den Aufstieg der Safawiden viel stärker gefährdet war als das Mamlukensultanat, tobte ein Propagandakrieg. Dort stand, wie man in Kairo wußte, jedoch das Schiitentum der Safawiden im Mittelpunkt: „Wir sind Leute, über deren Sache es Morgen wird: Über der Liebe zu ʿAlī b. abī Ṭālib! – Menschen schmähen uns für die Liebe zu ihm, der Fluch Allahs komme über jeden, der uns schmäht!“ Diese Herausforderung soll der osmanische Sultan so zurückgewiesen haben: „Nicht wegen der Liebe zu ʿAlī schmäht man euch, sondern weil ihr Abū Bakr haßt. – Lügen erzählt ihr über ihn und ʿĀʾiša, seine Tochter; der Fluch Allahs komme über jeden Lügner!“ – Ibn Ijās trägt in seiner Chronik die Verse führender Kairoer Gelehrter zusammen, die den Spott Šāh Ismāʿīls über die Liebe Qānṣauh al-Ġaurīs zu Blumen und Kräutern und über seinen Mangel an kriegerischen Fähigkeiten zurückweisen und in das Gegenteil verkehren, vor allem aber betonen, wie sehr man in Kairo der Scharia verbunden sei, die das Trinken von Blut untersage. Der Sultan lud die iranischen Gesandten ein, auf eben jenem Platz einem Polospiel beizuwohnen. Im übrigen ließ er die Fremden streng bewachen; jede Berührung mit der Bevölkerung wurde ihnen verwehrt. Sie durften lediglich das Mausoleum aš-Šāfiʿīs und dasjenige al-Laiṯ b. Saʿds besuchen.38 Im Dezember 1511 hörte man in Damaskus, daß es nicht möglich sein werde, die mamlukische Pilgerkarawane nach Mekka zu geleiten. Sie hätte längst aufbrechen müssen, fielen die Riten der Wallfahrt doch in die letzten Tage des Februars 1512. Šāh Ismāʿīl, so hieß es, werde den Mamluken in dem prestigeträchtigen alljährlichen Akt der Schmückung der Kaaba mit einem prächtigen Tuch zuvorkommen.39 Im März stellte Qānṣauh al-Ġaurī der staunenden Kairoer Bevölkerung ein Prunkzelt und einen Pavillon zur Schau; beides hatte ihm ʿAlāʾ ad-Daula, der Fürst der Dulqadir-Türkmenen, übersandt, der mit diesen Gaben den Sultan von seiner Treue zu den Mamluken überzeugen wollte. Mit dem Pavillon hatte es die folgende Bewandtnis: Er hatte einst Uzun Ḥasan gehört, war dann Šāh Ismāʿīl in die Hände

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gefallen, der ihn ʿAlāʾ ad-Daula als Geschenk hatte überreichen lassen, um sich den Türkmenen gewogen zu machen.40 Daß dieser Versuch fehlgeschlagen war, sollten die Mamluken und ganz Kairo wissen. Ein Krieg gegen Iran schien unmittelbar bevorzustehen, und in der Tat, sobald der Winter in Anatolien vorüber war, griffen die Safawiden an. Schon im April erhielt Qānṣauh al-Ġaurī aus Aleppo die höchst unwillkommene Nachricht, daß man bei Birecik ein Heer der Safawiden eingekreist habe. Nun mußte der Sultan entscheiden, ob er lieber die Unternehmungen, die er gerade begonnen hatte, nämlich die Umtriebe der Beduinen in Ägypten zu unterbinden, fortsetzen oder alle Kräfte, die ihm zur Verfügung standen, nach Norden beordern sollte.41 Die Gerüchte verdichteten sich, daß Šāh Ismāʿīl in das Mamlukenreich einmarschieren, zuvor aber einen Gesandten mit einer herausfordernden Botschaft schicken werde. Der Kommandant von Sis,42 einem mamlukischen Vorposten in Kilikien, ließ dem Sultan im Sommer 1512 etliche Köpfe mit roten Mützen übergeben; die Männer hätten zum Heer Šāh Ismāʿīls gehört und die Bevölkerung zum Aufruhr angestiftet.43 Ob es sich bei den Opfern um Soldaten des Safawiden handelte, ist allerdings kaum zu überprüfen. Denn die Herrschaft der Safawiden war aus einem Sufi-Orden hervorgegangen, der, ursprünglich sunnitisch, zur Zwölferschia übergetreten war und in manchen Regionen Anatoliens, wie schon erwähnt, zahlreiche Anhänger hatte. Was man nach dem Zeugnis Ibn Ijās’ in Kairo als einen von Šāh Ismāʿīl gelenkten Angriff auf das Mamlukenreich deutete, können sehr gut auch einzelne Aktionen von „Rotköpfen“ gewesen sein, die sich durch die militärischen Erfolge ihres obersten Meisters zum Losschlagen ermuntert fühlen mochten.44 Die Beziehungen zwischen Qānṣauh al-Ġaurī und Šāh Ismāʿīl blieben weiter von Zweideutigkeiten überschattet. Erst im Juli 1512 kehrte der mamlukische Botschafter, der zwei Jahre zuvor zu den Safawiden gereist war, nach Kairo zurück. Und was er erlebt hatte, zeugte nicht gerade von Freundschaft. Schlecht waren die Ägypter unterwegs behandelt worden; ihre Reittiere verendeten, und auch etliche der Untergebenen des Botschafters sahen Kairo nicht wieder. Ibn Ijās läßt sich über die Gründe dieses Mißerfolgs nicht weiter aus. Er fügt aber hinzu, der safawidische Herrscher habe den Abgesandten Qānṣauh al-Ġaurīs nur ein einziges Mal empfangen und die Antwort auf den Brief des Sultans nicht ihm, sondern einem eigenen Botschafter anvertraut.45 Vielleicht handelt es sich um jenen, der wenige Tage später in Kairo eintraf und eine ungewöhnliche Menge an Geschenken für den Sultan mit sich führte: sieben Geparden mit seidenen Schabracken, eine Pferdeherde, silberne und goldene Gefäße und Gerätschaften, Helme und Ringpanzer, Bögen, Stoffe und Gewänder unterschiedlicher Art, Gebetsteppiche und anderes mehr. Wer nun erwartet hatte, daß die Worte, die man Qānṣauh al-Ġaurī auszurichten hatte, dem werbenden Geist dieser Geschenke entsprochen hätten, der sah sich getäuscht. Ibn Ijās mokiert sich über unhöfliche, schlichte Formulierungen, ja über derbe Re-

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densarten; nur mühsam habe der Sultan seinen Zorn hinuntergeschluckt.46 Die Möglichkeit, die Aussagen Ibn Ijās’ anhand eines anderen, von ihm unabhängigen Berichts zu überprüfen, besteht leider nicht. Der eigenartige Widerspruch zwischen den Geschenken und dem Inhalt der Botschaft mag dem Bemühen des ägyptischen Chronisten geschuldet sein, den Sultan gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, er habe sich in dem bevorstehenden Ringen zwischen Šāh Ismāʿīl und dem osmanischen Sultan Selim auf die Seite des Safawiden geschlagen. Selim benutzte jedenfalls diese Behauptung, um, wie noch zu schildern ist, seinen Einmarsch in das Reich der Mamluken zu rechtfertigen. Laut Ibn Ijās führte Qānṣauh al-Ġaurī dem Iraner ein prunkvolles Polospiel vor; danach verabschiedete er ihn mit ebenso unhöflichen, wenn nicht gar noch gröberen Sätzen, die nicht zuletzt als Vergeltung für das Unrecht gedacht gewesen seien, das man dem mamlukischen Botschafter angetan habe. „Und dies war der Beginn frostiger Beziehungen zwischen dem Sultan und Šāh Ismāʿīl.“47 Die Osmanen: Machtkampf in Anatolien Diese Bemerkung veranlaßt uns, den Blick nach Anatolien zu wenden. Der Sommer 1512 bildete einen bemerkenswerten Höhepunkt diplomatischer Aktivitäten in Kairo. Vierzehn Gesandte hätten sich ein Stelldichein gegeben, schreibt Ibn Ijās, unter ihnen Botschafter verschiedener Türkmenenfürsten, aber auch solche bedeutender Staaten; abgesehen von den Safawiden waren das Königreich Georgien, die Hafsiden in Tunis, sowie Frankreich, Venedig und das Osmanische Reich vertreten.48 In der Regierungszeit Qānṣauh al-Ġaurīs hatte es mehrmals den Anschein, als würde Ägypten in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches verstrickt. Im Jahre 1509 weilte, wie wir schon wissen, Korkud, einer der Söhne Bayezids II. (reg. 1481– 1512), eine Zeitlang als Gast in Kairo. Dem alternden Herrscher in Konstantinopel wurde damals nachgesagt, er sei nicht mehr in der Lage, den sich überall in Anatolien regenden „Rotköpfen“ tatkräftig Einhalt zu gebieten. Seine Söhne, die wichtige Statthalterschaften innehatten, bereiteten sich auf den Kampf um die Nachfolge vor. Selim, in Trapezunt postiert, hatte sich 1507 in Kämpfen gegen die Safawiden hervorgetan. Das war eben jene Zeit gewesen, als man in Kairo mit Sorge nach Südanatolien geblickt und Erleichterung verspürt hatte, als der Türkmene ʿAlāʾ ad-Daula seinen Sieg hatte melden können. Selim schien trotz seiner Ruhmestaten mit einem Handicap in das Rennen um das osmanische Sultanat zu gehen, denn Trapezunt war allzu weit von der Metropole entfernt. Sein Bruder Aḥmad, der sich die Unterstützung der osmanischen Rechtsgelehrten sicherte, war in Amasya stationiert; Korkud gebot damals über Teke, das Land um Antalya, und wünschte nichts sehnlicher, als nach Saruhan, nicht weit landeinwärts von Izmir, versetzt zu werden. Von dort aus hätte er sich im Falle

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des Falles vor seinen Brüdern der Hauptstadt bemächtigen können. Daß er der geeignetste Thronfolger sei, ließ er überall verbreiten, wie man erzählt. Bayezid II. lehnte aber sein Ansinnen ab, und Korkud verschlechterte seine Aussichten auf den Thron entscheidend. Denn er agierte allzu überhastet und vernachlässigte seine Pflichten als Statthalter, so daß in Teke die „Rotköpfe“ die Oberhand gewannen – Korkud erwies dem Reich einen schlimmen Dienst! Selim machte, wie sich bald herausstellte, die weitaus klügeren Schachzüge. Zur selben Zeit hatte er für seinen Sohn Süleyman, den man später in Europa den „Prächtigen“ nennen sollte, die Statthalterschaft von Kaffa auf der Krim erwirkt. Als Selim in Trapezunt von der Verschlechterung der Gesundheit Bayezids erfuhr, reiste er nach Kaffa und marschierte von dort aus nach Edirne, das er im Juni 1511 besetzte. Zwar konnte er sich dort zunächst nicht halten. Doch nachdem auch Aḥmad in Anatolien mit den „Rotköpfen“ nicht hatte fertig werden können, drängten die Janitscharen den alten Sultan, zugunsten seines Sohnes Selim abzudanken. Bayezid gab diesen Forderungen schließlich nach. Heimlich kehrte Korkud um diese Zeit nach Konstantinopel zurück, um die Janitscharen auf seine Seite zu ziehen, doch blieb ihm der Erfolg versagt. Am 19. April 1512 betrat Selim die Hauptstadt, fünf Tage später machte sein Vater den Thron für ihn frei. Selim wollte sich von seinen Brüdern und Neffen nicht mehr in die Herrschaft hineinreden lassen, und noch weniger wollte er dulden, daß sie sie ihm streitig machten. Einen nach dem anderen ließ er aufspüren und hinrichten, so 1513 auch Korkud. Nur Aḥmad und einige seiner Söhne entkamen, und zwar zu den Safawiden. Zwei dieser Söhne fanden nacheinander den Weg nach Kairo, wo sie Mitte Januar 1513 sehr zum Schrecken Qānṣauh al-Ġaurīs auftauchten. Es hieß sogar, Aḥmad selber habe bei den Mamluken Zuflucht suchen wollen, doch sei er aus irgendeinem Grunde von diesem Plan abgekommen und habe sich zu Šāh Ismāʿīl gerettet. Qānṣauh behandelte die ungebetenen Gäste zwar zuvorkommend. Doch beeilte er sich jetzt, eine Gesandtschaft nach Konstantinopel abzufertigen, die Selim beglückwünschen und freundschaftliche Beziehungen zu ihm anknüpfen sollte.49 Vielleicht bereute man es nun, daß man sich hiermit ein halbes Jahr Zeit gelassen hatte, denn schon im August 1512 war man von einem osmanischen Botschafter über den Herrscherwechsel in Kenntnis gesetzt worden.50 Die Söhne Aḥmads starben kurz nacheinander im Frühjahr 1513, laut Ibn Ijās erlagen sie der Pest, und Qānṣauh selber wohnte dem Leichenbegängnis eines der beiden bei und sprach das Totengebet.51 Die Aufmerksamkeit, die man beiden gezollt hatte, war allerdings bei weitem nicht so überschwenglich gewesen wie dreieinhalb Jahre zuvor im Falle Korkuds, den man mit Geschenken und Ehrungen überhäuft hatte.52 Immerhin hatte man in Korkud seinerzeit den künftigen osmanischen Sultan sehen können. Aḥmads Söhne aber waren nicht mehr als Verlierer auf der Flucht.

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Selims Sieg über Šāh Ismāʿīl Ende Mai 1514 wußte man in Kairo aus dem Munde eines osmanischen Gesandten, daß Selim zum Krieg gegen Šāh Ismāʿīl entschlossen war. Der osmanische Herrscher ließ Qānṣauh al-Ġaurī auffordern, mit ihm zusammenzustehen.53 Erstaunlich schnell, bereits Anfang September desselben Jahres, verbreitete sich das Gerücht eines großen Sieges der Osmanen bis nach Kairo. In der Tat bezwang Selim die Safawiden bei Çaldıran, nordwestlich von Choj gelegen, am 6. Raǧab 920 (27. August 1514) und zog dann weiter bis nach Täbriz. Al-Ġaurī zauderte allerdings, schon gleich, wie es bei bedeutsamen Neuigkeiten der Brauch war, auf der Festung von Kairo die Kesselpauken schlagen zu lassen. Doch unbeachtet sollte diese Kunde auch nicht verhallen, und so ordnete er an, daß man im Mausoleum des aš-Šāfiʿī, bei alLaiṯ b. Saʿd, in der Moschee des ʿAmr b. al-ʿĀṣ und an anderen Gebetsstätten Kairos Koranlesungen veranstalte und den Derwischen Gastmähler herrichte, „und man zählte dies zu seinen guten Taten“, fügt Ibn Ijās hinzu.54 Ein Emir, den al-Ġaurī nach Anatolien geschickt hatte, um in Erfahrung zu bringen, wie sich die Dinge zwischen Selim und Šāh Ismāʿīl entwickelten, traf wenig später in Kairo ein, desgleichen ein Eilbote, der bestätigte, daß sich der Osmane inzwischen im Besitz der Metropole Aserbaidschans befinde. Die Kairoer malten sich aus, der Safawide sei Gefangener des Osmanen und werde von diesem in Anatolien umhergeführt. Das stellte sich bald als ein Irrtum heraus, dessen Ursprung wahrscheinlich die Erinnerung an die Schmach ist, die einst Tamerlan dem besiegten Sultan Bayezid I. zugefügt hatte. Auch wurde bekannt, daß Selim sich in einem Brief an Qānṣauh al-Ġaurī recht zügellos seiner militärischen Stärke gerühmt habe, doch der Mamluke habe dem keinerlei Bedeutung beigemessen.55 Vorspiel der osmanischen Eroberung des Mamlukenreichs Nicht lange ließ das Unheil auf sich warten. Nachdem Selim Herr über den Osten Anatoliens geworden war, lag ihm viel daran, dort alles nach seinen Wünschen zu regeln. Das kleine türkmenische Fürstentum der Dulqadir um Malatya ragte wie ein lästiger Dorn in die neuen Besitzungen des Osmanen hinein. Ein Vorwand, im osmanischen Sinne für Abhilfe zu sorgen, war nicht schwer zu finden: Ein Neffe ʿAlāʾ ad-Daulas machte gegen seinen Onkel Ansprüche auf die Herrschaft geltend, die Selim dankbar aufgriff. Im Frühjahr 1515 ließ Selim dem mamlukischen Sultan ein Schreiben aushändigen, in welchem dieser aufgefordert wurde, das Land unverzüglich dem rebellierenden Neffen zu übertragen, worauf sich Qānṣauh al-Ġaurī verständlicherweise nicht einlassen konnte. Unruhe erfaßte den Herrscher der Mamluken. Was man tun solle, fragte er seine Emire, aber sie wußten keinen Rat. Noch am selben Tag wurde in Kairo das Gerücht ausgestreut, Selim habe längst gehandelt; ʿAlāʾ ad-Daula sei von dem Neffen überfallen worden, der sich nach ei-

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nem blutigen Gefecht in eine Festung habe retten können. Auch erzählte man sich, der Brief Selims an Qānṣauh al-Ġaurī habe vor anmaßenden Redensarten nur so gestrotzt. Qānṣauh habe daran den blutrünstigen Rüpel erkannt, der Selim sei. – Dies alles ereignete sich nur wenige Monate, nachdem Qānṣauh al-Ġaurīs Bemühungen um die Festigung seiner Herrschaft über Syrien, insbesondere über die strategisch wichtige Stadt Aleppo, einen peinlichen Rückschlag erlitten hatten. Der Kairoer Sultan hatte sich mit Sībai, dessen offizielles Amt die Statthalterschaft in Syrien war, verschwägern wollen und darum einen hochrangigen Emir mit der Brautgabe dorthin geschickt. Die älteste Tochter Sībais, der diese Werbung galt, war aber kurz zuvor von der Pest dahingerafft worden, so daß man nun um die Hand der jüngeren bitten mußte, die allerdings erst sechs Jahre alt war. Sībai, der in Aleppo weilte, hielt den Brautwerber mit vielen Ausflüchten hin, der schließlich unverrichteterdinge nach Kairo zurückkehrte. In der Karawane waren zahlreiche Angehörige wohlhabender und mächtiger Aleppiner mitgereist, denn in der Stadt hatten die Kairoer Sultansmamluken, die den Brautwerber begleitet hatten, sich wie eine siegreiche Soldateska aufgeführt, hatten geplündert und die Bewohner drangsaliert, so daß es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen gekommen war. In Kairo, so hofften jene Aleppiner, würden ihre Angehörigen in Sicherheit sein. Oder ahnten sie schon, daß Selim sich nun gegen die Mamluken wenden werde? Jedenfalls brachte diese Karawane auch ins einzelne gehende Nachrichten über Selims Triumph bei Çaldıran mit.56 Qānṣauh al-Ġaurī entschied, nachdem er Näheres über ʿAlāʿ ad-Daula erfahren hatte, einige Emire nach Aleppo abzuordnen, die die Absichten Selims auskundschaften und sich der Angelegenheiten des Türkmenenfürsten nach Möglichkeit annehmen sollten. Selim führte im Sommer 1515, wie man in Kairo hörte, sein Heer jedoch nicht nach Süden, sondern marschierte noch einmal gegen Osten. Er hatte Täbriz, das er im Herbst des vorigen Jahres erobert hatte, bei Anbruch des Winters verlassen müssen. Er wäre nicht in der Lage gewesen, den Winter über dort sein Heer zu versorgen. In der späteren Siegespropaganda der Osmanen schob man die Schuld hierfür Qānṣauh al-Ġaurī zu, der – im heimlichen Bunde mit Šāh Ismāʿīl stehend – den Karawanenverkehr nach Ostanatolien behindert habe.57 Was daran wahr ist, weiß man nicht. Hingegen ist bekannt, daß ʿAlāʾ ad-Daula sich mit den ihm verbliebenen Kämpfern im Sommer 1515 auf ein sinnloses Abenteuer einließ. In Überschätzung seiner Klugheit brüstete er sich damit, er verstehe es, zu eigenem Nutzen die Osmanen und die Mamluken gegeneinander auszuspielen; nicht nur ein Huhn, sondern deren zwei habe er, die ihm goldene Eier legten.58 Als sich jetzt eine Gelegenheit bot, überfiel er eine Abteilung des nach Osten ziehenden osmanischen Heeres und schlug sie in die Flucht. Selim beantwortete diese Herausforderung, indem er ʿAlāʾ ad-Daula mit einer überlegenen Streitmacht stellte und tötete. Abermals soll man dem Sultan in Kairo eine Schachtel mit Köpfen überbracht ha-

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ben, diesmal mit denjenigen ʿAlāʾ ad-Daulas und eines seiner Söhne. Alle weiteren feingeschliffenen diplomatischen Noten waren somit überflüssig geworden. Ob Qānṣauh al-Ġaurī wohl wußte, daß die Aleppiner Mamluken auf eigene Faust Kontakte mit Selim pflegten? Bereits im Juni 1515 hatte bei diesem ein Emissär aus Aleppo vorgesprochen, und am 11. November empfing der Osmane erneut einen Botschafter von dort, der freilich nicht zum Handkuß zugelassen wurde.59 Die Einigung der einst von den Il-Chanen beherrschten Länder unter der zwölferschiitischen Herrschaft der Safawiden und das Ende der Ruhepause, die den Mamluken nach Tamerlans Sieg über Bayezid I. geschenkt worden war, sind die sich um die Wende zum 16. Jahrhundert abzeichnenden schwerwiegenden Umwälzungen der weltpolitischen Lage, mit denen Qānṣauh al-Ġaurī fertig zu werden hatte. Und im Grunde fehlten ihm alle Mittel, gestaltend in diese Vorgänge einzugreifen. Seine Macht und seine Finanzen reichten nicht einmal, um im entscheidenden Augenblick sich das Sagen in Syrien zu sichern. Ungünstiger hätte sich die Lage für ihn kaum entwickeln können. Denn jenseits von Aleppo, dessen Loyalität zumindest fraglich war, stand nun ein Feind, der aus vielen Schlachten als Sieger hervorgegangen war und ein kaum zu erschütterndes Selbstbewußtsein an den Tag legte. Wenn die Beziehungen Qānṣauh al-Ġaurīs zu Šāh Ismāʿīl wohl tatsächlich nie die Stufe gemeinsamen Handelns erreichten, so war Selim doch mehrmals von Parteigängern der Mamluken gereizt worden. Der Triumph Selims über die Safawiden entfachte im übrigen eine antischiitische Hysterie, die uns noch mehrfach begegnen wird und die aus der Rückschau auch Belanglosigkeiten zu einem Beweis der falschen Gesinnung aufblähte. Ob die Zurschaustellung der rechten sunnitischen Gläubigkeit schon am Vorabend des Einmarsches Selims in Syrien eine Rolle spielte, ist nicht klar. Wieder wird es Siegespropaganda sein, wenn man liest, Selim, der aufrichtige Sunnite, habe auf die Drohbriefe Šāh Ismāʿīls ganz und gar ehrenhaft geantwortet, nämlich indem er zu den Waffen gegriffen habe, Qānṣauh al-Ġaurī dagegen sei von Furcht erfaßt worden und habe sich zu einem geheimen Einverständnis mit dem Herrn der „Rotköpfe“ bereit gefunden.60 Das Rote Meer und der Indienhandel Ein weiterer Umstand hatte in die mamlukische Politik gegenüber den Osmanen einzufließen. Die Portugiesen waren in das Rote Meer eingedrungen und bedrohten den Schiffsverkehr von Suez nach Dschidda, der für das Mamlukensultanat und seine Verbindungen nach Mekka und Medina und für den Transithandel nach Indien lebenswichtig war. Denn die Sicherheit des Landweges, auf den zumindest die alljährlichen Pilgerkarawanen angewiesen waren, mußte immer wieder gegen räuberische Beduinen erstritten werden. Jetzt aber verschwanden die begehrten indischen Luxusgüter von den Märkten, die europäischen Händler zogen aus

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Damiette und Alexandrien ab, die Einnahmen aus Zöllen verfielen.61 Der osmanische Richter Sidi ʿAlī b. Dāʾūd ad-Dijārbakrī, der uns einen auf türkisch geschriebenen Bericht über seine Erlebnisse in Ägypten bis zum Jahre 1537 hinterließ, weiß davon, daß Qānṣauh al-Ġaurī zunächst bei Bayezid II. und dann bei Selim um Unterstützung gegen den neuen Feind nachsuchte. Selim habe seine Abneigung gegen den Kairoer Sultan niedergerungen und diesem zugesagt, er werde „der Freund seines Freundes und der Feind seines Feindes“ sein. Das Wüten der „Rotköpfe“ in Anatolien habe Selim aber gezwungen, alle Aufmerksamkeit auf die Safawiden zu richten. Schließlich erwerbe man viel religiöses Verdienst, wenn man diese Hasser des wahren, des sunnitischen Islams töte.62 Ibn Ijās nimmt von den Portugiesen, den „Franken“, wie er sagt, am Rande Notiz. So vermerkt er unter den Ereignissen des Frühjahrs 1507, der Kommandant der aus Mekka zurückgekehrten Pilgerkarawane habe dem Sultan unter anderem dies zu melden gehabt: „Die Übergriffe der Franken im Indischen Meer haben an Zahl zugenommen. Ḥusain, der Befehlshaber der in den Hedschas abgeordneten Truppen, beginnt mit dem Bau von Befestigungstürmen an der Küste von Dschidda und zieht eine Mauer um die Stadt; auch hat man die Schiffe für die Fahrt nach Aden ausgerüstet.“ Darüber, fügt Ibn Ijās an, freute sich der Sultan, denn die Franken hätten in der letzten Zeit immer mehr Unheil angerichtet. Ein ums andere Mal seien ihre Schiffe in das Rote Meer eingelaufen, zuletzt seien es mehr als zwanzig gewesen. Sie hätten den Kauffahrteiseglern der Indienhändler an Meerengen und Untiefen aufgelauert und die Schiffe gekapert.63 Aus anderen Quellen erfährt man, daß Muẓaffar Šāh (reg. 1511– 1526), der Herrscher von Gudscherat, nach einiger Zeit den Mamlukensultan um Unterstützung gegen die Portugiesen bat, unter anderem um die Lieferung von Kanonen, die man in Indien bis dahin noch nicht kannte. Der erwähnte Kommandant Ḥusain stellte 1511 die sechs Jahre zuvor begonnenen Befestigungsanlagen Dschiddas fertig, wobei er zur Finanzierung die dortigen Kaufleute heranzog, und zwar mit äußerst rüden Methoden. Aber der Hafen und die Lager waren nun wenigstens geschützt, übrigens auch gegen die räuberischen Beduinen der Umgebung.64 Er segelte dann nach Gudscherat ab, traf mit Muẓaffar Šāh zusammen, richtete aber wenig aus. Es war die Zeit, während der die Portugiesen in Goa Fuß faßten. Ḥusain begriff, daß er mit seinen geringen Kräften dagegen nichts unternehmen konnte, und kehrte zurück. Er hatte erkannt, daß es nicht möglich sein würde, die Portugiesen zu bekämpfen, ohne daß man im Jemen über einen zuverlässigen Rückzugsraum verfügte. Also wandte er sich an ʿĀmir b. ʿAbd alWahhāb (reg. 1489 – 1516), den Herrscher aus der Dynastie der Banū Ṭāhir, ließ ihm einige Geschenke überreichen, wies auf einen Brief des Sultans Qānṣauh al-Ġaurī hin, der bereits die Banū Ṭāhir um Unterstützung im Kampf gegen die Eindringlinge gebeten hatte, und forderte, daß solche Hilfe nunmehr unverzüglich geleistet werden müsse. ʿĀmir b. ʿAbd al-Wahhāb ließ sich durch seinen Wesir jedoch davon

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überzeugen, daß, gäbe man einmal nach, aus dem einen Entgegenkommen eine Verpflichtung zu regelmäßigen Abgaben werde, und wies das Ansinnen Ḥusains zurück. Dieser gedachte sich mit Gewalt zu beschaffen, was man ihm freiwillig nicht gab, und begann einen Krieg gegen ʿĀmir. Dessen Kämpfer wußten noch nicht, was eine Kanone war, und als Ḥusain einen Schuß auf sie abfeuern ließ, rannten sie auseinander, freilich nicht ohne die steinerne Kugel mitzunehmen und ihren staunenden Landsleuten zu zeigen. Nach blutigem Ringen, bei dem Ḥusain von etlichen jemenitischen Verrätern unterstützt wurde, nahm er im Sommer 1516 die Stadt Zabīd ein. ʿĀmir mußte sich nach Taʿizz in die Berge zurückziehen. Zabīd wurde zur Plünderung freigegeben, außerdem hatten die Bewohner hohe Tribute aufzubringen. Ein Offizier mit Besatzungstruppen blieb in der Stadt zurück, als sich Ḥusain wenig später nach Aden einschiffte, um diesen wichtigen Flottenstützpunkt in seinen Besitz zu bringen. Als er vor Aden eintraf, waren die Handelsschiffe gerade dabei, nach Indien abzusegeln, es gelang ihm jedoch, eines, das ʿĀmir b. ʿAbd alWahhāb gehörte, zu kapern, mit eigenen Leuten zu bemannen und zu Muẓaffar Šāh mit der großsprecherischen Botschaft zu schicken, der Jemen sei gerade mamlukisch geworden und er, Ḥusain, werde in Kürze in Indien erscheinen, um den verfluchten Portugiesen den Garaus zu machen. Dazu kam es allerdings nicht, denn die Jemeniten wehrten sich tapfer, und die Geschütze waren nicht so wirksam, daß sie die rasche Übergabe des Kastells von Aden hätten erzwingen können. Als schließlich jemenitische Truppen aus Taʿizz anrückten, gab Ḥusain sein Vorhaben verloren und schiffte sich mit seinen Mamluken unverrichteterdinge nach Dschidda ein, wo er bis zum Zusammenbruch des Kairoer Sultanats ein Schreckensregiment geführt haben soll.65 Auf das Schicksal Qānṣauh al-Ġaurīs hatten diese Vorgänge keinen unmittelbaren Einfluß. Aber die Osmanen, die im Begriff waren, das Erbe des Mamlukenreiches anzutreten, sollten rascher, als ihnen lieb sein konnte, mit der Aufgabe der Wahrung der bis dahin unangefochtenen muslimischen Vorherrschaft über den Indischen Ozean belastet sein. Die Notwendigkeit, die ohnehin unerwartet hohen Kosten der Aufrechterhaltung osmanischer Herrschaft in dem über Jahrhunderte geschröpften Ägypten auszugleichen, sollten angesichts der unabweisbaren neuen Pflichten jenseits dieses Landes immer dringlicher werden, und so erklären sich harte Maßnahmen, mit denen die Osmanen ihre Eroberung fiskalisch nutzbar machen wollten. In vielfältiger Weise war aš-Šaʿrānī davon betroffen. Doch davon bald mehr! Zunächst müssen wir uns wieder in die Nähe Qānṣauh al-Ġaurīs begeben, um in Erfahrung zu bringen, wie man dort mit der bestürzenden Tatsache umging, daß ein dank zahlreichen Triumphen hochfahrend gewordener Osmane66 sich anschickte, in Syrien einzufallen und den Mamluken einen Existenzkampf aufzuzwingen, ohne daß diese noch auf irgendeine Unterstützung durch Verbündete von nennenswertem militärischen Gewicht rechnen durften.

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Selims Drohungen Im Herbst 1515 begann sich das Debakel abzuzeichnen; man konnte untätig zusehen, wie es hereinbrach, oder man konnte sich dagegen anstemmen. Das ganze Land der Dulqadir-Türkmenen sei nun in der Hand Selims, meldete der Statthalter von Aleppo, und es sei unumgänglich, die mehrfach angekündigte Entsendung zusätzlicher Truppen in die Tat umzusetzen. Man hatte dies in Kairo anscheinend nicht mehr für nötig befunden, da man davon gehört hatte, Selim habe sein Heer in den Osten geführt. Jetzt also diese dringende Aufforderung! Qānṣauh al-Ġaurī war, so schreibt Ibn Ijās, über diese Nachrichten äußerst unglücklich, aber er scheint das Ausmaß der Gefahr immer noch falsch eingeschätzt zu haben. Denn wie anders wäre der Umstand zu beurteilen, daß er wenige Tage später eine – übrigens mit dem modernsten Kriegsgerät, nämlich Geschützen verschiedener Art ausgerüstete – Truppe nach Suez in Marsch setzte, wo sie zwanzig bereitliegende Schiffe bestieg, um im darauffolgenden Jahr jene Kriegszüge im Jemen zu unternehmen, deren Erfolglosigkeit wir geschildert haben? Als Qānṣauh al-Ġaurī zur selben Zeit einem osmanischen Gesandten die Rückreise erlaubte und seinerseits einen Botschafter zu Selim entsenden wollte, war keiner seiner Emire bereit, diese gefahrvolle Aufgabe zu übernehmen. Sie erklärten, Selim sei ein blutrünstiger, unzivilisierter Mann; wer ihm ein Schreiben Qānṣauh al-Ġaurīs überbringe, müsse um das Leben fürchten.67 Bald erfuhr man in Kairo Näheres über Selim. Dieser hatte einen mamlukischen Emir abgefangen, der in einer persönlichen Angelegenheit Qānṣauh al-Ġaurīs zu den Krimtataren unterwegs gewesen war – aber konnte es in dieser Situation überhaupt persönliche Angelegenheiten geben? Selim drohte dem Emir mehrfach mit dem Tode, äußerte sich verächtlich über das ägyptische Heer und ließ durchblicken, daß er mit einer mächtigen Flotte Alexandrien und Damiette einnehmen und zugleich mit seinem Heer Aleppo angreifen werde. Ibn Ijās ist überzeugt, daß ein mamlukischer Überläufer, ein Emir, der sich mit Qānṣauh al-Ġaurī entzweit hatte, Selim diese Absichten eingeredet habe. Dank diesem Verräter sei Selim genau über die mamlukische Armee unterrichtet gewesen. Außerdem habe der osmanische Sultan von den wirtschaftlichen Nöten Qānṣauhs gewußt, der die unerläßlichen Neuerungen in der Armee und die ihm ergebenen Sultansmamluken mit ungesetzlichen Abgaben, die der Marktvogt allmonatlich einzog, und durch Münzverschlechterung habe finanzieren müssen. Schließlich habe man Selim eingeblasen, daß alle Richter Ägyptens nur nach dem Empfang von Bestechungsgeldern tätig würden68 – die Eroberung des Mamlukenreichs wäre also ein religiös höchst verdienstvoller Akt der Wiederherstellung islamischer Legalität! Qānṣauh al-Ġaurī verkündete seinen Entschluß, selber gegen die Osmanen zu kämpfen, am 23. Šaʿbān 921 (2. Oktober 1515), drei Tage später gab er bekannt, daß das Expeditionskorps nach Aleppo nunmehr aufzustellen sei. Er selber wolle mit dieser Streitmacht ins Feld ziehen, um sein Reich zu verteidigen. Bei den Mamluken löste dies Panik aus,

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denn sie meinten, viel zu schlecht ausgerüstet zu sein.Vor allem fehlten Reittiere, so daß man nicht nur in Kairo, sondern auch in der weiteren Umgebung Maultiere und Pferde requirierte. Selbst angesehene Gelehrte habe man unter Prügeln aus dem Sattel gestoßen, empört sich Ibn Ijās.69 Der Sultan inspizierte die Befestigungen an der Mittelmeerküste und trieb dann in Kairo die Vorbereitungen voran. Die Beschlagnahme der Reittiere gab nur einen leichten Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten, die in den kommenden Monaten zu meistern waren. Die Vorbereitungen auf den Krieg Die Finanzen des Sultanats waren unter Qānṣauh al-Ġaurī so angespannt, daß der Herrscher letzten Endes nur entscheiden konnte, welches Loch er aufreißen wollte und welches mit den so gewonnenen Mitteln stopfen. Wie erinnerlich, hatte er am Beginn seiner Herrschaft keine Dienstlehen finden können, um sie eigenen Mamluken zuzuteilen. Außerdem benötigte er Gelder, um die Ausrüstung zu modernisieren. Auch die Armee der Mamluken konnte nicht mehr ohne Feuerwaffen auskommen. So verzeichnet Ibn Ijās unter dem 6. Rabīʿ aṯ-Ṯānī 918 (21. Juni 1512) ein Probeschießen mit siebenundfünfzig Kanonen unterschiedlichen Kalibers, die Qānṣauh al-Ġaurī in Kairo hatte gießen lassen. Nur zwei hätten versagt, und einige hätten eine unerwartete Reichweite gezeigt, worüber der Sultan hocherfreut gewesen sei.70 Um überhaupt frei verfügbare Mittel in die Hand zu bekommen, ordnete er an, der Marktvogt müsse jeden Monat bei den Händlern Abgaben eintreiben. Solange keine ungewöhnlich hohe Nachfrage nach Gebrauchsgütern und Nahrungsmitteln bestand, mochte dies noch erträglich sein. Nun aber sollte der Bedarf für viele Monate im voraus zusätzlich gedeckt werden; die Mamlukenkorps erhielten hierfür Geld aus dem Staatsschatz. Es blieb nichts anderes übrig, als daß der Marktvogt die Preise für die wichtigsten Waren willkürlich festsetzte.71 Als dann am 23. Rabīʿ al-auwal 922 (26. April 1516) der Befehl bekanntgegeben wurde, daß man am Beginn des kommenden Monats abmarschieren werde, brachen Handel und Gewerbe in Kairo trotz dieser Vorkehrungen zusammen. Noch immer war der Mangel an Tieren das schlimmste Übel. Die Mamluken überfielen die Mühlen und raubten die Pferde und Maultiere, die dort das Räderwerk in Gang hielten. Mehl und Brot verschwanden vom Markt. Die Stoffhändler verriegelten ihre Gassen, die Schneider versteckten sich, desgleichen die Kaufleute, die andere wichtige Güter vertrieben. „Und mit Kairo verhielt es sich wie am Jüngsten Tag, ein jeder rief: ‚Meine Seele! Meine Seele!‘“72 Qānṣauh al-Ġaurī mußte darauf dringen, daß alle Kräfte aufgeboten wurden, über die sein Reich verfügte. So faßte er den Plan, auch die Beduinen, unter denen das Land so oft zu leiden hatte, zu mobilisieren. Zwanzigtausend Berittene sollten sie stellen. Ibn Ijās ist über diese Absicht entsetzt. Viel zu hoch seien die Unter-

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haltskosten, die die Beduinenscheiche und die zuständigen mamlukischen Intendanten den Landbezirken abverlangten. Auf ein kleines Dorf entfielen Summen von einhundert oder zweihundert Golddinaren, die für zwei bzw. vier Beduinenreiter zusätzlich zu allen übrigen Abgaben und Verpflichtungen aufgebracht werden sollten. Die Arbeit der Fellachen lohnte sich beim besten Willen nicht mehr, und sie flüchteten. Qānṣauh al-Ġaurī sah ein, daß er diese Anordnung zurücknehmen mußte. So wurde es nichts mit seinem Vorhaben, die wilden Reiter als Vorhut einzusetzen.73 – Unerfreulich war auch der Streit um den Sold der „Söhne der Leute“. Dies waren die Nachkommen der Mamluken, die ja selber nicht in die Dienstränge ihrer Väter einrücken und folglich auch nicht in den Genuß der Dienstlehen und der Soldzahlungen und sonstigen Zuwendungen gelangen konnten, mit denen der Sultan die Militärkaste alimentierte.74 Die „Söhne der Leute“ sollten ebenfalls ins Feld ziehen, aber ihnen wurde lediglich eine Aufwandsentschädigung zugesagt, wie sie die Mamluken zusätzlich zu ihrem Sold erhielten. Qānṣauh alĠaurī begründete diese Schlechterstellung mit einem Präzedenzfall; in den Geschichtschroniken habe er gelesen, Sultan Barqūq sei so verfahren. Der wahre Grund wurde schnell sichtbar, als sie, unterstützt von einigen Emiren, auf Gleichbehandlung drangen: Es war einfach zu wenig Geld da, Qānṣauh al-Ġaurī mußte seine Anordnung zurücknehmen. Wer dem Feldzug fernbleiben wolle, möge dies tun, müsse aber die Aufwandsentschädigung zurückzahlen bis auf ein Viertel, für das der Sultan selber aufkommen wolle. Noch peinlicher war der Zwist mit dem Kalifen, den der Sultan zum Mitkommen aufgefordert hatte. Al-Mutawakkil erhielt ein Zelt, das war alles. Er mußte sich gegen Zinsen Geld leihen, während es bisher, wie Ibn Ijās entrüstet einflicht, üblich gewesen sei, daß der Sultan alle Kosten trug. Nachdem ein Emir vermittelnd eingegriffen hatte, fand sich Qānṣauh al-Ġaurī dann doch zu einer Zahlung bereit. Freilich habe er dem Kalifen alles in allem keine zweitausend Dinare zugebilligt, was Ibn Ijās für skandalös wenig hält.75 Die vier Oberrichter der Rechtsschulen, die den Sultan ebenfalls zu begleiten hatten, gingen ganz leer aus. Sie mußten im übrigen noch etliche Bevollmächtigte mitnehmen und für deren Unterhalt aufkommen. Großen Ärger gab es schließlich mit den beiden wichtigsten Gemeinschaften der ägyptischen Gottesfreunde. Als das Oberhaupt der Derwische des Aḥmad alBadawī sich auf Befehl des Sultans bei diesem einfand und die Aufforderung erhielt, sich auf die Abreise vorzubereiten, brachte dieser Gottesfreund zahlreiche Ausflüchte vor, die Qānṣauh al-Ġaurī aber nicht gelten ließ. Auch das Oberhaupt der Rifāʿī-Gemeinschaft konnte sich dem Wunsch des Sultans nicht entziehen.76 Qānṣauhs Absicht war es gewesen, alle Gottesfreunde um sich zu scharen, denn auf diese Weise würde man Selim die Kraft nehmen, in Ägypten einzudringen. Aber sie zögerten und ließen sich selbst von Drohungen wenig beeindrucken.77 Einer Bemerkung aš-Šaʿrānīs ist zu entnehmen, daß das Verhältnis zwischen dem Sultan und

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den Gottesfreunden so zerrüttet war, daß diese untereinander verabredeten, ihn nicht nach Syrien zu begleiten. Als einer von ihnen bei der Abreise Qānṣauh alĠaurīs die Absicht äußerte, er wolle dagegenwirken, daß Selim sich des Landes bemächtige, traf er auf den geschlossenen Widerstand der übrigen und wurde von einer Krankheit befallen, an der er bald darauf starb.78 Ganz erfolglos waren die Bemühungen Qānṣauhs um den Schutz, der dem Verborgenen entstammt, allerdings nicht, denn Ibn Ijās nennt neben den beiden Ordensoberhäuptern die Nachfahren des Propheten aus der von ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī gegründeten Gemeinschaft und den Meister im „Mausoleum der Herrin Nafīsa“ und einige weitere „Meister des wahren Seins“, die der Sultan für seine Sache habe gewinnen und zur Mitreise bewegen können.79 Schlechte Omina Der Aufbruch aus Kairo zog sich über viele Tage hin. Die Sultanskarawane machte sich am 10. Rabīʿ aṯ-Ṯānī 922 (13. Mai 1516) vor Sonnenaufgang auf den Weg. Die Beschreibung Ibn Ijās’ läßt ahnen, zu welcher Prachtentfaltung das Mamlukenregime bei all dem Elend, das es dem einfachen Mann brachte, immer noch fähig war: Fünfzehn mit vergoldeten Sätteln und Schabracken versehene Rennkamele, fünfzehn weitere mit Sätteln, die mit buntem Samt ausgestattet waren, alle in Bereitschaft gehalten für den Sultan; dreihundert edle Pferde unterschiedlicher Rasse, davon einhundert mit goldverziertem Harnisch; zahlreiche mit seidenen Tüchern verhängte Kleiderkisten sowie zwei von Maultieren getragene Sänften sah man; schließlich fünf Pferde in besonders prunkvollem Aufzug. Zugeordnet waren dieser Karawane etliche Palasteunuchen sowie hohe zivile Amtsträger. Dieser Zug, der auch die Standarten des Sultans und des Kalifen, Trommeln und Blasinstrumente mit sich führte, fand nicht den ungeteilten Beifall der gaffenden Menge. Als Sultan Barsbai (reg. 1422– 1437) zu seinem Feldzug in das südöstliche Anatolien aufgebrochen sei, habe er vierhundert Pferde aufbieten können, und selbst als der Emir Jašbak einst in einen Krieg gegen einen Türkmenenfürsten abmarschiert sei, habe er eine ordentlichere Karawane gehabt. Aber nicht nur das gab es zu bekritteln. Ibn Ijās zeigt sich ein ums andere Mal darüber befremdet, wie sehr Qānṣauh al-Ġaurī gegen alles Herkommen verstoßen habe. Die Mobilmachung sei viel zu rasch vonstatten gegangen; was würde man wohl in der Umgebung Selims oder Šāh Ismāʿīls sagen, wenn man erführe, daß die Musterung nur vier Tage gedauert hatte? Man würde auf eine geringe Anzahl von Soldaten schließen und Ägypten als eine leichte Beute betrachten! Überdies befahl der Sultan die Aufstellung des Expeditionskorps, obwohl die Vorhut der Osmanen noch nicht einmal von Aleppo aus gesichtet worden war. Früher war es zudem üblich gewesen, daß man vierzig Tage vor dem Befehl, das Hauptheer zum Aufbruch bereitzumachen, die eigene Vorhut ausgerüstet

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hatte; das war aber diesmal nicht geschehen. Überhaupt habe Qānṣauh al-Ġaurī die übliche Reihenfolge durcheinandergebracht, denn die Sultanskarawane sei noch stets die letzte gewesen und habe sich erst nach dem Abrücken der übrigen Einheiten auf den Weg zu machen. Und immer seien seine Vorgänger nach Syrien aufgebrochen, wenn die Sonne im Sternzeichen des Widders stand; Qānṣauh aber befahl den Abmarsch zur Schlacht, als sie schon den Krebs erreicht hatte, und die Hitze setzte dem Heer zu. Schließlich habe er vor der Abreise das Heer in einem Umzug quer durch Kairo geführt, was die anderen Sultane erst nach der Rückkehr getan hätten. „Der Sultan al-Ġaurī folgte eben in allen Dingen nur seiner eigenen Einsicht“, faßt Ibn Ijās den Tadel zusammen,80 und den Leser der Chronik beschleicht die Vorahnung des kommenden Unheils. Was war es da wert, daß der Sultan zuletzt noch die Gräber aš-Šāfiʿīs und al-Laiṯ b. Saʿds aufsuchte und einen namhaften Geldbetrag stiftete?81 Die Gegenwart des Wissens So gut es ging, verschaffte sich Qānṣauh al-Ġaurī den Schutz von heiligmäßigen Männern, die das Wirken der göttlichen Fügung zu entschlüsseln, vielleicht sogar zu beeinflussen wußten. Ibn Ṭūlūn, der Damaszener Zeitzeuge, beobachtete Ende Juni 1516 den Einmarsch des Expeditionskorps’ in seine Heimatstadt. Er machte in dem langen Zug den Kalifen aus und die vier Kairoer Oberrichter mit ihren vierzehn Bevollmächtigten, ihre Damaszener Kollegen, die ebenfalls von einigen ihrer Stellvertreter begleitet wurden, und insgesamt sieben ägyptische Sufi-Meister, unter ihnen auch den Obmann des Grabmals der Saijida Nafīsa. In den Tagen danach tauschten die Kairoer und die Damaszener Gelehrten untereinander Überlieferungen aus den großen Sammlungen aus, verbanden sich also auf Pfaden, die sie ohne diese Begegnung nicht hätten betreten können, mit dem Wort des Propheten und fügten sich auf diese Weise ein wenig fester in die Heilsbotschaft ein, die seit neun Jahrhunderten das Gemeinwesen der Muslime formte. Wie Ibn Ṭūlūn berichtet, beteiligte sich auch der Kalif al-Mutawakkil an diesem gegenseitigen Überliefern. Zuerst suchte Ibn Ṭūlūn den Kalifen auf, dann der Reihe nach die vier ägyptischen Oberrichter: „Ich wollte mit diesem Vortragen der Ḥadīṯe die schönsten Überlieferungen, über die sie verfügten, ganz exakt niederschreiben.“ Am Abend zuvor hatte ein Damaszener Kollege Ibn Ṭūlūns die Gelegenheit genutzt und in der Omaijadenmoschee seinen Gewinn aus den Überliefererketten gezogen, an deren Ende die vier ägyptischen Richter standen.82 Die Schlacht von Marǧ Dābiq Ibn Ijās weiß von mehreren Versuchen Selims, den ägyptischen Sultan über die wahren Absichten der Osmanen zu täuschen. Qānṣauh al-Ġaurī hatte sich nicht

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allzu lange in Damaskus aufgehalten. Er marschierte den üblichen Weg über Hama, wo er einen angeblichen Sohn Korkuds zurückließ, den er für den Fall eines Sieges über die Osmanen mit sich führte.83 Ohne Säumen ging es nach Aleppo weiter, das man am 15. Ǧumādā l-Āḫira (16. Juli 1516) erreichte.Wie Ibn Ijās aus Berichten, die in Kairo einliefen, in Erfahrung bringen konnte, trafen bald darauf zwei osmanische Gesandte bei Qānṣauh al-Ġaurī ein, die sich ganz und gar friedfertig zeigten, sich auch den Tadel des Mamluken wegen der Übergriffe Selims auf die DulqadirTürkmenen geduldig anhörten und dann eine größere Lieferung von Zucker und Süßwaren erbaten, augenscheinlich für das Heer Selims, das im Begriff stehe, in Šāh Ismāʿīls Reich einzufallen, hätten doch osmanische Rechtsgelehrte in einem Gutachten die Notwendigkeit eines solchen Krieges festgestellt; deswegen möge Qānṣauh al-Ġaurī sich nicht um eine Aussöhnung zwischen Šāh Ismāʿīl und ihm, Selim, bemühen. Qānṣauh, der glaubte, was er gerne glauben wollte, brachte schleunigst einhundert Qinṭār84 Zuckerwerk auf den Weg, bekleidete die beiden Botschafter mit Ehrengewändern und schickte sie zurück und fertigte seinerseits einen Gesandten an Selim ab. Doch anstatt über den Frieden zwischen den Mamluken und den Osmanen zu reden, legte Selim diesen in Eisen, bedrohte ihn mehrfach mit dem Tode und schenkte ihm erst das Leben, als einer der osmanischen Wesire Fürbitte eingelegt hatte. Inzwischen wußte man in Aleppo, daß die osmanische Vorhut bereits Antep überrannt hatte. Qānṣauh al-Ġaurī ließ die ersten Truppenkontingente in Marsch setzen, zunächst in das Gebiet der Dulqadir-Türkmenen, für das er einen Statthalter ernannte. Der Kern des Heeres, geführt von den Kommandanten der wichtigsten Städte in Palästina und Syrien, von Gaza über Homs bis Aleppo, machte sich am 17. Raǧab (16. August 1516) auf den Weg in die Schlacht; der Sultan werde ihnen in Kürze folgen. Dies alles entnahm Ibn Ijās einem Brief, den der Kalif an dessen Vater Jaʿqūb nach Kairo geschrieben hatte.85 Am Sonnabend, dem 16. Šaʿbān (14. September 1516), verbreitete sich in Kairo die Nachricht von der Katastrophe. Ein Eilbote traf ein, der an verläßlicher Kunde nur die Schilderung des abscheulichen Unrechts mitbrachte, das Selim dem mamlukischen Botschafter angetan hatte, der, in schmutzige Lumpen gehüllt, auf einer Schindmähre reitend, in Aleppo aufgetaucht sei. Selim habe ihm den Bart scheren lassen, ihm befohlen, den Kot des Pferdes, auf dem der Osmane ritt, in einen Korb zu sammeln und auf dem Kopf zu tragen, habe ihn mehrfach unter den Galgen führen lassen. Nachdem Qānṣauh al-Ġaurī dies alles habe zur Kenntnis nehmen müssen, habe er den Aufbruch zur Schlacht befohlen. Soweit der Eilbote. Aus anderen Erzählungen, die die Runde machten, erschließt Ibn Ijās den Gang der Ereignisse wie folgt: Qānṣauh al-Ġaurī zog zusammen mit dem Kalifen am 20. Raǧab (19. August 1516) seinen Truppen hinterher und erreichte einen Tag später das Gebiet von Marǧ Dābiq, wo der Entscheidungskampf stattfinden sollte. Der Sultan besuchte dort ein Grabmal, das man mit dem „Propheten David“ in Verbindung brachte. Dies geschah

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noch am 20. Raǧab, als das osmanische Heer bereits nahe herangerückt war. Es galt nun, rasch die Truppen in Stellung zu bringen. Qānṣauh al-Ġaurī umgab sich mit Nachkommen des Propheten, die auf ihren Häuptern insgesamt vierundzwanzig Koranexemplare trugen, ein jedes in gelbe Seide gehüllt, darunter eines, das von ʿUṯmān b. ʿAffān (reg. 644– 656) geschrieben worden sein sollte. In der unmittelbaren Nähe des Sultans wurden die Derwische postiert, das Oberhaupt der Gemeinschaft Aḥmad al-Badawīs unter roten Bannern, die Nachkommen Mohammeds, die dem Orden ʿAbd al-Qādirs angehörten, unter grünen; über dem Rifaʿī-Meister wehten Standarten, die denen des Kalifen glichen, der oberste Diener der Saijida Nafīsa führte schwarze Banner. Aus Hama hatte man den Sohn Korkuds – und daher Neffen Selims – herbeigeholt; ein seidenes rotes Feldzeichen markierte seinen Ort. Die Mamluken begannen die Schlacht mit eindrucksvollen Erfolgen, eroberten sieben Standarten des Feindes und etliche Geschütze. Aber alles wurde durch eine Anweisung Qānṣauh al-Ġaurīs verdorben, der, um seine Macht im Mamlukenreich besorgt, den eigenen Kriegssklaven bedeutete, sie sollten sich schonen und anderen Truppenteilen den Vortritt lassen. Danach überstürzten sich die Ereignisse: Einige große Emire, unter ihnen Sībai, fielen; der Statthalter von Aleppo, Ḫairbeg, wandte sich zur Flucht; man munkelte, daß er in verräterischen Beziehungen zu den Osmanen stand. – Daß dieser Argwohn berechtigt war, stellte sich später heraus. – Die Disziplin brach nun vollends zusammen: „Allah ließ das Heer Ägyptens im Stich, damit sein Ratschluß und seine Bestimmung in Kraft treten konnten.“ Qānṣauh al-Ġaurī stand plötzlich mit nur wenigen Getreuen unter seinem Feldzeichen, vergeblich die Flüchtenden zum Ausharren und zu mannhaftem Kämpfen ermahnend. Umsonst wandte er sich an die Derwische und die Gelehrten – sie flehten Allah nicht um den Sieg an, sondern setzten sich ab. „Und so fand er niemanden mehr, der ihm half oder ihn unterstützte. In seinem Herzen loderte die Glut in Flammen auf, die man nicht zu löschen vermochte. Es war ein glühend heißer Tag, und zwischen den Heeren erhob sich dichter Staub, so daß einer nicht den andern sah; ein Tag, an dem Allah seinen Zorn über das Heer Ägyptens ausgoß und die Hände wie gefesselt waren, so daß sie nicht kämpfen konnten. Ich setzte das Ereignis in diese Verse: Als die beiden Heere aufeinandertrafen, rief unser Sultan in Marǧ Dābiq: ‚Wen gibt es, der uns helfen könnte?‘ – Und ihm antwortete das Geschehen: ‚Du selber setztest dich dem Unheil aus, nun rücke vor zu deinem Ziel!‘ – Schrecken ergriff das Herz der Sultansmamluken. ‚In welchem Land werden wir uns verbergen?‘ begannen sie zu fragen. – Die Gier nach Beute verführte sie, sich zu erniedrigen, bis daß Allahs Ratschluß sie traf und vernichtete!“

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Qānṣauh al-Ġaurīs Tod In diesem Tumult bemerkte ein Emir, daß die Standarte des Sultans in Gefahr geriet; er löste sie von der Stange, rollte sie zusammen und versteckte sie. „Herr, das Heer der Osmanen stößt zu uns vor. Rette dich und fliehe nach Aleppo!“ rief er Qānṣauh al-Ġaurī zu. Als dieser bemerkte, daß es sich tatsächlich so verhalte, traf ihn der Schlag; eine Seite seines Körpers war gelähmt, der Unterkiefer hing ihm herab. Er erbat sich ein wenig Wasser, trank, wollte dann sein Pferd wenden, um zu fliehen. Er ließ es zwei Schritte tun, dann stürzte er aus dem Sattel hinab auf den Boden. Dort lag er ein paar Minuten, dann starb er an der Heftigkeit seines Kummers. „Andere sagen, ihm sei deswegen die Gallenblase geplatzt, und Blut sei ihm aus der Kehle geronnen. Wieder andere erzählen, als er die Unabwendbarkeit der Niederlage erkannt habe, habe er einen Diamanten, den er bei sich trug, verschluckt, und sobald dieser in den Magen gelangte, sei der Sultan vom Pferd gefallen und tot gewesen, und man weiß nicht, was aus seinem Leichnam geworden ist. Es war, als hätte die Erde sich gespalten und ihn aufgenommen. Und die Hufe der osmanischen Reiterei traten auf die Korane, die Qānṣauh al-Ġaurī mit sich geführt hatte, das ʿuṯmānsche Exemplar ging verloren, desgleichen die Banner der Derwische und Emire, und die Herrschaft des Sultans al-Ġaurī fand ein Ende, und es war in einem einzigen Augenblick, als hätte es sie nie gegeben – Preis sei dem, dessen Herrschaft nie vergeht und sich nie verändert…!“86 Soweit Ibn Ijās’ Notizen.

3.2 Ṭūmānbeg Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich die Mächtigen der Zeit, seien es Richter, Statthalter, Marktvögte, Intendanten, Beduinenfürsten, stets in meinem äußeren Verhalten wie auch in meinen innersten Regungen verehrte. Denn Allah, der Segensreiche und Erhabene, ist es, der sie aus der Mitte der Menschen des Diesseits über uns gestellt hat. Ein geziemender Umgang mit ihnen wird uns daher abverlangt, sei es gemäß der Scharia, sei es nach gutem Brauch, und zwar entsprechend dem Maß der Geradheit oder Krummheit.87 Dies ist ein Charakterzug, dessen sich nur wenige Menschen in ihren innersten Regungen gegenüber den Mächtigen befleißigen, vor allem, wenn keine Ursachen ihn erfordern. So geschieht es, daß jemand vor einem Mächtigen ehrerbietig aufsteht, obwohl er ihn für einen Missetäter ansieht. Und wenn jener (Heuchler) bemerkt, daß man sein Verhalten mißbilligt, rechtfertigt er sich, indem er sagt: „Notfälle erlauben, was sonst verboten ist.“ Das ist nicht meine Art, sie zu ehren. Ich ehre sie allein in der Weise, daß ich ihnen gebe, was sie von uns verlangen können. – Oft hörte ich, wie Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, sprach: „Wir müssen den Mächtigen alle Ehre erweisen, weil wir Allah Höflichkeit schulden, denn er ist es, der sie über uns gesetzt und zu Richtern über uns berufen hat.“ – Meister Muḥjī d-Dīn b. ʿArabī schreibt im Kapitel über die Ermahnungen am Ende seines Buches Die mekkanischen Eröffnungen: „Der Derwisch muß alles, was ihm von einem Mächtigen widerfährt, ehren; denn keiner von ihnen ist darauf aus, den Derwisch aufzusuchen, ohne zuvor seinen Stolz und Hochmut abgelegt und sich selber für

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geringer erkannt zu haben, als es jener Derwisch ist.Wenn der Mächtige nämlich auf die eigene Größe schaute und den Derwisch als einen seiner Untertanen ansähe, begäbe er sich nicht in dessen Klause, sondern ließe ihn zu sich holen.Wer demnach seinen Hochmut ablegt, ehe er zu uns emporsteigt, der begegnet uns nicht anders als jemand, der gering und bedürftig ist, nämlich als Derwisch,88 und so ziemt es sich für die Derwische, ihn zu ehren.“ – Wenn jemand, der weder unsere Absichten noch unsere Art, uns auszudrücken, kennt, hiergegen Einwände erhebt und sagt: „Jener Mächtige ist ein Übeltäter, den man nicht ehren darf“, erwidern wir, daß doch auch wir mit den Widersetzlichkeiten gegen Allah sowohl an uns selber als auch an anderen übel handeln, und sei es nur, indem wir gegen jemanden einen Augenblick lang einen bösen Argwohn hegen. So steht denn ein Übeltäter vor einem anderen auf und erweist ihm die Ehre. Bedächte man es recht, hätte der Meister keinen Vorrang vor dem Mächtigen, insbesondere dann, wenn jener Emir ihm mit einem Geschenk eine Wohltat erwiesen oder ihm geholfen hätte, ihm zuerkannte Abgaben, Gehälter oder Stiftungen wieder in Gang zu bringen, sofern die Herrscher sie unterbrochen haben sollten, und dergleichen mehr. So kannte ich jemanden, der einen wollenen Turban mit herabhängendem Zipfel89 trug; er schickte seinen Obmann zu einem Emir, um von diesem etwas zu erbitten. Jener Emir spendete ihm Honig, Linsen und Reis, so daß er genug hatte für die Feier des Geburtstages. Als jener Emir nun bei ihm erschien, spielte er seinen ganzen Hochmut aus und stand nicht vor ihm auf. Ich verwunderte mich hierüber, denn solchen Hochmut dürfen sich nur die erlauben, die nichts von Übeltätern entgegennehmen und sie in allen Dingen entbehren können, wie es etwa für die aufrichtigen Meister der Vergangenheit galt. Einem Halunken steht solches Verhalten aber nicht zu. – Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, hatte die Eigenart, die Mächtigen nach den Bestimmungen der Scharia zu ehren; er sagte: „Der Prophet verbot uns die Demut vor den Reichen, sofern wir es auf ihre irdischen Güter abgesehen haben oder wissen, daß die Verehrung, die wir ihnen zollen, sie noch übermütiger macht und in ihrer Unachtsamkeit gegen Allah bestärkt. Wenn wir allerdings vor ihren Gütern züchtig den Blick senken und alles tun, um ihre Herzen zu gewinnen, damit sie uns lieben und unsere Fürsprache für jemanden annehmen, dem sie ein Unrecht zufügten, dann brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, denn die Taten werden nach den Absichten beurteilt.“ – Wenn Sidī ʿAlī Besuch von einem Großen erhielt, begleitete er ihn bis vor die Tür seines Hauses und sagte: „Wir freuen uns sehr, euch heute gesehen zu haben!“ Und wenn ihm dieser ein Geschenk schickte, sandte er es zurück und ließ ihm ausrichten: „Laß es jemandem zukommen, der es nötig hat! Ich brauche es nicht.“ Wenn ein Amtsinhaber sehr einflußreich geworden war, sagte ihm Sidī ʿAlī: „So verhalten wir uns gegen die, die im Diesseits über uns herrschen. Wie wir es mit den Mächtigen im Jenseits machen wollen, wird Allah uns lehren, wenn wir dorthin gelangen, so Allah will“… Ibn Mūsā, der Marktvogt unter dem Sultanat des Qānṣauh al-Ġaurī, ritt einmal am Laden des Meisters vorbei; da kam dieser heraus und küßte ihm das Knie und rief Allah um Segen für ihn an. Einige Rechtsgelehrte mißbilligten dieses Verhalten des Meisters, der ihnen jedoch erwiderte: „Nur aus Höflichkeit gegen Allah, der ihn in sein Amt eingesetzt und ihm Befehlsgewalt über die Menschen gegeben hat, habe ich ihm das Knie geküßt. Wenn beispielsweise Waren vom Markt verschwinden, schickt der Vogt seinen Ausrufer, der diejenigen, die die Lebensmittel horten, so daß die, die sie benötigen, sie nicht erwerben können, auffordert: ‚Heraus mit den Waren, die ihr versteckt habt!‘ Und sie holen die Waren hervor, so daß sich der Markt füllt. Bist du, Rechtsgelehrter, in der Lage, dergleichen zu bewirken?“ Da schwieg der Kritiker. Ferner erzählte mir Sidi ʿAlī, ein Derwisch habe Sidi ʿAbdallāh b. abī Ǧamra90 aš-Šāḏilī im Traum auf einem Podest sitzen sehen, angetan mit einem grünen Ehrengewand, während die Propheten und Gottesfreunde mit niedergeschlagenen Blicken vor ihm standen. Sidi ʿAlī hielt dies für

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befremdlich und fragte, wie denn wohl die Propheten ehrerbietig vor einem gewöhnlichen Menschen stehen könnten, und dann habe er alles dies einem anderen Gottesfreund erzählt. Dieser habe ihn gemahnt: „Halte das nicht für befremdlich, denn die Höflichkeit der Propheten gilt nicht dem, der das Ehrengewand trägt, sondern Allah, der es jenem um die Schultern gelegt hat.“ Und so schwand Sidi ʿAlīs Entrüstung. Außerdem sagte jener Gottesfreund zu Sidi ʿAlī: „Hast du dir noch nie die Großen des Reiches angeschaut, wie sie vor einem Sklaven des Sultans herreiten, wenn diesem Sklaven ein Ehrengewand verliehen wurde? Dies geschieht allein aus Höflichkeit gegen den Sultan, nicht gegen den Sklaven.“ – Es sei nicht verhehlt, daß nicht jeder Derwisch mit den Großen verkehren kann und dabei integer bleibt; nur die, deren Erkenntnis vollkommen ist, dürfen dies tun. Ich wollte eines Tages zu einem Emir gehen, über den mir zu Ohren gekommen war, daß er mich aufsuchen werde, damit ich für ihn eine Last auf mich nähme. Mein frommer Bruder, der Emir Šuǧāʿ, der Verwalter des Landes westlich des Nils, hielt mich davon ab und sagte: „Diese da wollen nicht aus Höflichkeit gegen Allah, der ihnen ihr Amt verliehen hat, daß du sie aufsuchst! Daran finden sie nicht den geringsten Geschmack! Du sollst nur kommen, um etwas von ihren diesseitigen Gütern zu begehren, wie dies andere als du tun, die Scharlatane sind. Wenn du zu ihnen gehst, erniedrigst du dich vor ihnen und lädst ihnen zugleich eine Sünde auf, die sie an dir begehen.“ Von jenem Tage an suchte ich keinen der Machthaber unserer Zeit mehr auf; ich schicke ihnen nur noch Briefe, weil ich um ihre Unschuld besorgt bin. – Wer also möchte, daß die Mächtigen ihn ehren, hochschätzen und an ihn glauben, der darf von ihnen keine Speise, keine Almosen, kein Geschenk annehmen, es sei denn, sie wären aufrichtig in der Liebe zu ihm, so daß sie es ihm als Huld anrechnen, wenn er von ihren Speisen ißt oder aus ihrer Hand ein Geschenk akzeptiert. Solche Liebenden stehen über den Glaubenden, deren Speisen man nicht verzehren darf, weil dies bedeutete, daß man ihre Unbescholtenheit verzehrte. Der Unterschied zwischen dem Liebenden und dem Glaubenden liegt darin, daß der Liebende dir zu essen gibt wie ein Vater, gleichviel ob du fromm bist oder nicht. Der Glaubende aber speist dich nur, weil er an die Frommheit in dir glaubt.Wenn du seine Speise verzehrst, dann ist es, als verzehrtest du zugleich deine Unschuld. Es ist unbedingt nötig, daß du überzeugt bist, daß die Speise, die du zu dir nimmst, erlaubt ist; unbedingt mußt du im Verhalten zu Allah den Weg der Geradheit gehen. Dann kann ich dir zusagen, daß du Verehrung erringen wirst und man fest an dich glauben wird. Freilich kann auch jemand bei den Großen Ruhm erwerben, und sie mögen an ihn glauben, wenn er dem, was wir hier darlegen, zuwiderhandelt. Doch geschieht dies dann nur durch Täuschung, List und Betrug; Allah wird ihn am Jüngsten Tag hierfür zur Rechenschaft ziehen. – Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, lehrte: „Wer erstrebt, daß Allah ihm Ehrerbietung in den Herzen der Menschen verschafft, der muß zuerst sein Inneres von allem Gemeinen reinigen, damit Allah in seinem Herzen einen Ehrenplatz erhalte, dergestalt daß er sich weder bewegt noch ruht, ohne sich bewußt zu sein, daß Allah ihn sieht. Wer dem Menschen das Gegenteil von all dem Betrug und der Heuchelei, die in seinem Innern sind, vorspiegelt, mit dem werden die Menschen dementsprechend umgehen: Sie werden ihm Verehrung vortäuschen und erheucheln, doch sobald er sich entfernt hat, sprechen sie über ihn so, wie sie sicher sind, daß er tatsächlich ist – sie schneiden ihm den Pelz hinter dem Rücken ab!“ – Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī sagte: „Wie kann ein Derwisch die Geschenke von Übeltätern annehmen, ihre Gaben und Spenden, und gleichzeitig wünschen, daß sie ihn in ihrem Herzen ehren? Das ist etwas, was unmöglich ist: die Verkehrung eines Sachverhalts! Denn der Derwisch wird zu einem Kostgänger des Übeltäters, und wie kann ein Kostgänger fordern, daß der, der ihn ernährt, sich vor ihm demütigt und ihm Hände und Füße küßt?“ Sidi Ibrāhīm erzählte: „Ein Emir glaubte fest an Sidi Muḥammad al-Ḥanafī und schickte ihm einmal eine halbe Waiba91 Silbermünzen. Der Bote traf den Meister auf ei-

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nem Podest sitzend an. Der Meister nahm eine Handvoll nach der anderen von dem Silbergeld und streute es unter die Leute, bis alles fort war. Der Bote berichtete dies seinem Herrn. Dieser ritt zum Meister und stellte ihn zur Rede: ‚Ich habe die Münzen dir geschickt, damit du dir mit ihnen ein angenehmes Leben machst!‘ Der Meister entgegnete dem Emir: ‚Leg dein Gewand ab und fülle mir diesen Eimer aus dem Brunnen dort, denn ich will die rituelle Waschung vollziehen!‘ Das tat der Emir, und der Eimer war so schwer, daß er ihn nur mit Mühe hochziehen konnte. Er blickte hinein, und siehe, er war voller roten Goldes. Der Meister befahl: ‚Schütte es in den Brunnen und fülle mir den Eimer noch einmal!‘ Und wieder war der Eimer voll mit Gold. Dreimal geschah dies auf Geheiß des Meisters, dann sprach dieser zum Emir: ‚Sag dem Brunnen, Muḥammad will von dir Wasser zur rituellen Reinigung!‘ Und nun kam der Eimer voll mit Wasser empor. Da küßte der Emir dem Meister die Füße und bat ihn um Vergebung.“ Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī erläuterte dies: „Hätte Sidi Muḥammad die Silbermünzen für sich behalten oder dem Emir für die Großzügigkeit gedankt, wäre er von da an in dessen Herzen nicht mehr verehrungswürdig gewesen.“ In diesem Sinne sagt man: „Wenn jemand, der die Geschenke der Emire annimmt, seinen Rang vor der Annahme und danach wöge, stellte er fest, daß er danach nur noch ein Karat des Gewichtes ausmacht, das er zuvor hatte!“ Wer an diesem Satz zweifelt, der möge jemanden, der ihm Gold brachte, abweisen, obwohl er es nötig braucht; er wird spüren, daß er gewiß in den Augen des Gebers an Ansehen gewonnen hat, im Gegensatz zu dem Fall, daß er es angenommen hätte. – Wie ich erfuhr, äußerten die Banū Baġdād, sie seien der vielen Bettelei der Rechtsgelehrten und Derwische in Ägypten überdrüssig. Sie erzählten: „Einer der Derwische stellte sich alljährlich bei der Geburtstagsfeier von Sidi Aḥmad al-Badawī ein und nahm sie zum Vorwand, uns um Gaben zu bitten und von mir Almosen zu bekommen. Dabei betrat er vielleicht nicht einmal den Grabbau Sidi Aḥmads, sondern schlug sein Zelt ein gutes Stück außerhalb auf und begann einzusammeln, womit er sich, seine Anhängerschaft und sein Vieh ernährte. Erst wenn die Feier vorüber war, kam er an das Grab des Verstorbenen, nämlich Aḥmad al-Badawīs, bettelte uns mit Worten und seinem vorgeblich elenden Zustand an und behauptete, er sei nur deswegen hier vorbeigekommen, weil er uns aus Sehnsucht besuchen wollte. Dies log er, denn wir sind weder Gelehrte, so daß er von unserem Wissen hätte profitieren können, noch fromme Gottesmänner, daß wir auf ihn Segen herabzuflehen vermocht hätten. Auch hatten wir nichts bei uns, was nach der Scharia gänzlich erlaubt gewesen wäre, so daß er von uns hätte erhalten können, was er suchte. Es bleibt keine andere Schlußfolgerung, als daß er ein Missetäter und Scharlatan war.“ – Hüte dich, Bruder, ähnlich zu handeln! Ich hörte den Anhang des Wesirs ʿAlī Pascha92 klagen, man habe das ständige Betteln der Meister satt, zumal man ihnen reichlich Linsen, Honig, Geld schenke: „Wir sind doch Übeltäter! Weswegen nehmen sie etwas von uns an? Hätten diese Leute etwas von der Eigenart des Weges verstanden, dann verzichteten sie auf die Güter, die sich im Besitz anderer Menschen befinden. Sie wären in deren Augen dann verehrungswürdig.“ Ein Derwisch forderte vom Schatzverwalter des Palastes des Paschas einen Besuch in der Klause des Meisters der Gemeinschaft; der Derwisch merkte im übrigen an: „Wenn mein Meister ihn aufsucht, werde ich es auch tun; wenn der Schatzverwalter jedoch zu meinem Meister geht, werde ich es nicht tun, denn der Schatzverwalter ist dann ja einer der Adepten meines Meisters, und ich bin folglich im Range ihm gleich.“ – Hüte dich, mein Bruder, daß du aus deiner Frömmigkeit, aus deinem Sufigewand, aus dem Ende des Turbantuches, das du herabhängen läßt, ein Netz machst, mit dem du das Diesseits einfängst! Du wirst am Ende bei den Verlierern

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stehen! Befleißige dich der Skrupelhaftigkeit! Damit schlägst du dich auf die Seite der Gewinner! Verstehe dies!… Preis sei Allah, dem Herrn der Welten!93

*** Der Gottesfreund und die Freigebigen – Stellvertreter Allahs – Selim in Damaskus – Die Aufwertung Ibn ʿArabīs – Die Vorgänge in Kairo: der letzte Mamlukensultan – Selims Angriff auf Ägypten – Anzeichen des Zerfalls der mamlukischen Herrschaft – Propagandakrieg – Maßnahmen zur Verteidigung – Das Vorrücken Selims – Die Niederlage Ṭūmānbegs – Einzug der Osmanen in Kairo – Das letzte Aufflackern des mamlukischen Kampfesmutes – Stabilisierung der Besetzung – Das Ende Ṭūmānbegs

Der Gottesfreund und die Freigebigen Jeden, den Allah an die Spitze des islamischen Gemeinwesens stellt, müssen die Derwische achten und ehren. Sie durchschauen doch, wie Aufstieg und Fall eines Menschen von Allahs Weisheit ins Werk gesetzt werden. Wenn die Mächtigen auch Missetäter sind, so vermögen sie, gerade weil ihnen Gewalt zu Gebote steht, dem gemeinen Muslim zu nutzen. Wer anders als der Marktvogt mit seinen Drohungen könnte die Händler zwingen, die Waren zu verkaufen, die sie verstecken, sei es, um der unter Qānṣauh al-Ġaurī eingeführten monatlichen Abgabe zu entgehen, sei es, um die Güter nicht zu den Preisen veräußern zu müssen, die von oben festgesetzt wurden? So ist es gerechtfertigt, daß Sidi ʿAlī dem vorbeireitenden Barakāt b. Mūsā az-Zainī die Knie küßt. Freilich entspricht es Allahs Weisheit, daß die Mächtigen nur allzu oft gegen die Scharia verstoßen; erst hierdurch wird der Sinn des gottgegebenen Gesetzes, wird dessen Vorhandensein überhaupt faßbar.94 Erwägt man dies wohl, dann ist alles Geschehen so, wie es geschieht, unentbehrlich, ja sogar unübertreffbar gut. Aber das heißt keinesfalls, daß der Derwisch einfach mit den Mächtigen gemeinsame Sache machen darf. Vielmehr steht er für die andere Seite des Offenbarwerdens des göttlichen Gesetzes, nämlich für dessen rigorose Erfüllung. Gerade das ist der Grund, weswegen der einfache Muslim, aber auch die Mächtigen an ihn glauben: Wenn im Sultan, in seinen Amtsträgern und deren Bütteln das Schariawidrige sichtbar wird, das, was abgewehrt und gebändigt werden muß, dann soll sich in den Derwischen eben jene Kraft manifestieren, der die Bändigung aufgetragen ist. Gäbe es nur das Schariakonforme, dann bliebe die Scharia unerkennbar. Das komplementäre Gegenüber von peinlich genauer Gesetzeserfüllung, in die sich die Derwische, wie aš-Šaʿrānī schilderte, unter Anstrengungen und Qualen einleben, und von Übertretung des Gesetzes – die jedoch nach Allahs Weisheit dem Sieg der von ihm gewollten Ordnung der Dinge dient, weshalb der Derwisch sich niemals hoffärtig gegen die Mächtigen zeigen darf –, dieses Gegenüber wird verwischt, sobald unbedachte Beziehungen zwischen beiden Seiten geknüpft werden.

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Die Banū Baġdād waren unangenehm davon berührt, wie schamlos mancher Derwisch an dem Reichtum teilhaben wollte, der ihnen dank ihrer herausgehobenen Stellung zuströmte. Ḥusām ad-Dīn b. Baġdād war ein Beduinenführer, der sich die Gewogenheit Qānṣauh al-Ġaurīs sicherte, indem er einigen seinesgleichen, die aus der Gefangenschaft auf der Kairoer Festung entwichen waren, die Köpfe abschnitt und dem Sultan übersandte. Das geschah im Sommer 1510. Im Winter 1511 auf 1512 finden wir Ḥusām ad-Dīn mit weiteren Prominenten des Mamlukenreiches in der Pilgerkarawane nach Mekka.95 Er und seine Söhne waren zwischen 1472 und 1587 die Herren über große Teile der Provinz Minūfīja;96 aš-Šaʿrānī war vermutlich gut mit ihnen bekannt. Als hohe Herren eigneten sie sich an, was in ihrer Macht stand. Wie alle Muslime in einer ähnlichen Lage verstießen sie damit gegen eines der ältesten Gebote des Islams, das schon in den Offenbarungen des frühen mekkanischen Auftretens Mohammeds ausgesprochen wird: Nach dem Willen Allahs muß alles, worüber der Mensch im Diesseits verfügt, redlich erworben sein; anderenfalls ist die vom Schöpfer festgelegte Ordnung verletzt, und die Störung muß durch die Läuterungsgabe desjenigen, der sich Güter unrechtmäßig, nämlich ohne entsprechende Gegenleistung angeeignet hat, behoben und ausgeglichen werden. Im islamischen Recht wird dieser Grundsatz in den Bestimmungen über Kauf und Verkauf weiterentwickelt. Ein rechtsgültiges Geschäft muß prinzipiell im sofortigen Austausch von gleichwertigen Gütern oder von angemessener Zahlung gegen die betreffenden Waren seinen Abschluß finden. Gewinne, die der Partner erzielen könnte, indem er ein Risiko eingeht oder gegen Zins dem anderen einen Aufschub der Zahlung oder der Übergabe der Ware gewährt, sind nicht gestattet. In der islamischen Frömmigkeitsliteratur bildet, seit es sie gibt, das Vermeiden jeglicher ungerechtfertigten Bereicherung, und geschähe sie auch unbeabsichtigt, einen Gegenstand unentwegter Sorge und selbstquälerischen Grübelns: „Sulaimān at-Taimī (gest. 711 oder 713) wollte kein Brot aus Mehl essen, das in einer Wassermühle gemahlen war. Alle Muslime hatten nämlich den gleichen Anteil am Wasser, aber die Mühlenbesitzer haben das, was das Wasser einbringt, für sich selber mit Beschlag belegt.“97 Der Mächtige kann sich vom Makel des Besitzes zusammengeraffter Güter befreien, indem er diese großzügig verteilt. In gewisser Hinsicht wird die Ordnung Allahs damit, wenn nicht wiederhergestellt, so doch wenigstens in ihren Grundsätzen beachtet. Allerdings ist eine solche islamische Auslegung der vorislamischen Tugend der maßlosen Freigebigkeit nur dann erfüllt, wenn das Geschenkte nicht wiederum zur unredlichen Bereicherung verwendet wird. Vielmehr sollte es durch die Hände eines Mannes gehen, dem jeglicher Gedanke an Eigennutz fremd ist. – Daß bei den bettelnden Derwischen die falsche Absicht nur allzu oft zutage liege, war nach aš-Šaʿrānīs Darstellung der Grund des Verdrusses der Banū Baġdād: Ihnen fehlte der Glaube an die tugendhafte Frömmigkeit jener Gottesmänner.

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Stellvertreter Allahs Die Mächtigen „glauben“ an einen oder mehrere Derwische; sie sind von deren uneingeschränkter und unerschütterlicher Verwurzelung in der Schariakonformität überzeugt, sie achten sie als das Gegenüber, das ihnen unablässig vor Augen führt, wie die Verhältnisse des Diesseits nach dem Willen des Schöpfers sein sollen. Und indem die Mächtigen an die Derwische glauben, bewahren sie sich die Möglichkeit, doch noch auf deren Seite überwechseln zu können. Dies teilt aš-Šaʿrānī seinen Brüdern mit, indem er Ibrāhīm al-Matbūlīs Geschichte über Sidi Muḥammad al-Ḥanafī und den Emir erzählt. Auf dem Podest hockend, ist Sidi Muḥammad alḤanafī in jenem Augenblick mit der Fähigkeit des Eingreifens in die göttliche Bestimmung ausgestattet; denn indem er alle Ichhaftigkeit abgelegt hat, ist er in Allah entworden, und daher waltet er im Diesseits als Allahs Stellvertreter.98 Was soll ihm da das Silbergeld, das der Emir ihm zugedacht hat? Selbst über Gold verfügt der Meister, der von Allah – nur vorübergehend, aber eben doch ein ums andere Mal – mit Ichlosigkeit begnadet wurde, ganz nach Belieben. Aber es bedeutet ihm nichts – das Wasser, das Mittel zur Herstellung der rituellen Reinheit, der Vorbedingung für das Stehen vor Allah von Angesicht zu Angesicht, das allein ist das entscheidende Bedürfnis eines jeden Muslims! Dies erkennt der Emir dank der Belehrung durch den Gottesfreund, an den er „glaubt“. Er erkennt, daß er das Dasein des Gottesfreundes bisher falsch, nämlich von seinem eigenen her, gedeutet hat. Denn er ist ein Mann des Diesseits, für ihn ist das Geld das einzige Mittel, das Leben zu fristen, und ein angenehmes Leben ist die einzige Steigerung des Alltäglichen, die dem Emir in den Sinn kommen kann. Sidi Muḥammad al-Ḥanafī zeigt dem Emir jedoch, daß man sein Leben ganz anders entwerfen kann, auf eine Weise freilich, die dem Emir vorerst verschlossen bleibt. Denn wie vielfältige Qualen man durchstehen muß, um zu Augenblicken der Ichlosigkeit und der wahren Stellvertreterschaft Allahs, zu Augenblicken der Erfüllung der koranischen Verheißung zu gelangen, hat aš-Šaʿrānī für seine Brüder aufgezeichnet. „Ich werde auf der Erde einen Stellvertreter einsetzen!“ kündigte Allah einst den Engeln an (Sure 2, 30). Was das wirklich heißt, ist dem Emir nun aufgegangen – und auch, wie weit er selber davon entfernt ist, solche Stellvertreterschaft je zu erreichen. Der Grund für seinen „Glauben“ an den Gottesfreund wurde ihm enthüllt, und auch, daß ihm, entschiede er sich, ein Adept des Meisters zu werden, der dornige Weg zur Stellvertreterschaft offenstünde, sofern er sich dazu bereitfände, sein Leben neu zu entwerfen. Gerade in Zeiten eines Umsturzes drängt sich dem Gottesfreund oft die Gelegenheit auf, redlich mit sich und seinesgleichen ins Gericht zu gehen: Hat man sich nicht oft allzu leichtfertig ins Zwielicht gerückt beim Taktieren um die Gunst der neuen Mächtigen, sich allzu schnöde von den Verlierern abgesetzt? Kann man nicht unterstellen, daß die Einsicht in das Walten der Fügung Allahs nur behauptet wird, um einen schamlosen Opportunismus zu verdecken? Wenn sich viele Gottes-

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freunde, wie überliefert wird, Qānṣauh al-Ġaurī verweigerten, dient dann diese Überlieferung nicht als die Visitenkarte, mit der man sich bei den neuen Herren einführt? Man kann nicht erwarten, daß aš-Šaʿrānī und seinesgleichen alles offen erörtern, aš-Šaʿrānī schon gar nicht, denn in die Jahre der Umwälzung fällt sein Aufstieg zum Gottesfreund mit eigener Klause, großem Anhang und vielfältigem Einfluß bei den osmanischen Machthabern, und dies, obschon er aus der Gemeinschaft der al-Ġamrī-Moschee stammte, deren Imam, wie aus der Affäre um den Prinzen Korkud hervorgeht, dem alten Sultanat eine Stütze gewesen war. Beiläufig sprach aš-Šaʿrānī von den wertvollen Geschenken, die Qānṣauh al-Ġaurī ihm überbringen ließ. Das erschreckende Erlebnis aus dem Jahre 1517, das unvermittelte Gewahrwerden des Gotteslobes, das alle Kreatur fortwährend singt – wird es erzählt als Rechtfertigung für die Lösung aus den Bindungen an den Meister, als das Zeichen der eigenen Meisterschaft, die in dem Augenblick erreicht wird, wo in der großen Politik das Neue triumphiert? Was nach der Erlangung der Meisterschaft folgt, hätte also mit dem Alten, dem Besiegten, nichts zu schaffen? Selim in Damaskus Ende Oktober 1516 erreichte Selim mit seinem Heer die Stadt Damaskus. Der Chronist Ibn Ṭūlūn hatte die Gelegenheit, sich bei den Truppen, die ihr Lager aufschlugen, ein wenig umzusehen. Ihm war wieder daran gelegen, mit den Gelehrten, die den Herrscher begleiteten, Verbindung aufzunehmen. Aber da er ihre Sprache nicht verstand, blieb dieser Wunsch unerfüllt. So schlenderte er umher, bestaunte das Treiben der Marketender, die vielen Handwerker, die ihrem Gewerbe nachgingen, die Chirurgen und die Tierärzte. Verwunderung erregten die fahrbaren Geschütze. Dem Zelt des Sultans durfte er sich nicht nähern; es war dicht von Wachsoldaten umstellt. So blieben ihm nur die riesigen Kesselpauken im Gedächtnis, eine jede so groß, daß zwei Männer notwendig waren, um sie hochzuheben. Der Kalif und die Kairoer Richter befanden sich alle in der Obhut des Sultans, allerdings, wie Ibn Ṭūlūn schreibt, in einer schlechten Verfassung. Die Osmanen begannen, die Verwaltung neu zu ordnen, und gaben zu erkennen, daß Selim in diesem Jahr – die Pilgersaison stand kurz bevor – die Kaaba mit dem kostbaren Tuch behängen wolle, das bis dahin der Sultan der Mamluken nach Mekka hatte bringen lassen: Selim gab kund, daß jetzt er der mächtigste Herrscher des Islams sei. An die Kairoer richtete er einen Aufruf, in dem er ihnen Sicherheit für Leib und Leben versprach, sofern man ihm die Stadt übergebe. Alle sollten dort auf ihren Posten ausharren, doch behalte er sich vor, die wichtigsten Ämter mit Männern seines Vertrauens zu besetzen. Aus Kairo sei, so versichert Ibn Ṭūlūn, keine klare Antwort eingegangen. Man erfuhr in Damaskus nur, daß dort ein neuer Sultan inthronisiert worden war. Im übrigen erzählt Ibn Ṭūlūn von den Leiden, wie sie noch

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jedesmal die Bevölkerung eines besiegten und besetzten Landes durchmachen muß. Selbst der Ausübung der islamischen Riten prägten die Eroberer ihren Stempel auf. Zum Fest des Fastenbrechens, das auf den 28. Oktober 1516 fiel, wohnte der Sultan dem Gottesdienst in der Omaijadenmoschee bei, aber die Gebete liefen nicht, wie man es in Damaskus gewohnt war, nach den Regeln der schafiitischen Rechtsschule, sondern nach denen der Hanafiten ab.99 Die Aufwertung Ibn ʿArabīs Kaum weniger wichtig als diese durch die Zugehörigkeit der Osmanen zum Hanafitentum bedingte Veränderung der Rangfolge der vier Rechtsschulen war eine andere Anordnung des Sultans. In Damaskus war 1240 Ibn ʿArabī gestorben, der große Interpret des Islams im Sinne jener Spiritualität, deren grundlegende Züge ašŠaʿrānī in seiner Lebensbilanz und in vielen Traktaten beschreibt. Ibn ʿArabīs Auslegung des Islams war keineswegs unumstritten. Denn wenn es wahr ist, daß jenseits des überlieferten Wissens, das man sich aneignet, indem man es auswendig lernt, ein erkennendes Schauen der Wahrheit möglich ist, dann stellt sich die Frage nach dem Wert des über Jahrhunderte weitergetragenen, um und um gewendeten, immer wieder glossierten und kommentierten Stoffes der Schulgelehrsamkeit. Ist aus jenem Stoff überhaupt mit Gewißheit eine Aussage über das Heil des Menschen und das Jenseitsschicksal zu gewinnen? In diesem Streit, in dem es nicht zuletzt um die geistige Vormacht unter den Muslimen ging, bezog Selim in Damaskus für jedermann sichtbar Stellung. Zuerst hatte der osmanische Heeresrichter das Grab Ibn ʿArabīs besucht, der Wärterin ein Geldgeschenk ausgehändigt und ein wenig Erde mitgenommen; danach war ihm der Sultan gefolgt. Zwar soll er in der Umgebung von Damaskus auch andere Mausoleen beehrt haben, doch nahm er sich der Ruhestätte Ibn ʿArabīs in besonderer Weise an. Denn als er im Herbst 1517 auf dem Rückweg aus Kairo wiederum in Damaskus Station machte, gab er den Befehl, dieses Grabmal zu einer Moschee auszubauen, in der der Freitagsgottesdienst abgehalten werden konnte. Die Arbeiten wurden unverzüglich in Angriff genommen. Selim überzeugte sich persönlich vom Fortgang des Unternehmens und gab nach einer Besichtigung die Anweisung, das Gelände durch den Zukauf angrenzender Grundstücke zu erweitern. Am 1. Februar 1518 wurde die Predigtkanzel aufgestellt.100 Selim ließ am Grab Ibn ʿArabīs zusätzlich zur Moschee einen Derwischkonvent errichten. Als Ende 1520, nachdem der Tod Selims bekanntgeworden war, in Damaskus eine Revolte gegen die osmanische Besatzung ausbrach, kleideten sich die Aufständischen nicht nur wieder nach tscherkessischer Art, sie schlossen auch den Konvent und eigneten sich die offenbar reichlichen Lebensmittelvorräte an, die dort gelagert wurden.101 Der Ausbau des Grabes Ibn ʿArabīs wurde augenscheinlich als ein Zeichen der osmanischen Herrschaft gedeutet. Wenn aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz

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ausführlich von seinen Bemühungen erzählt, die, wie er meint, ungerechtfertigten Anwürfe gegen Ibn ʿArabī zu widerlegen und dessen Werk von all den anstößigen Passagen zu reinigen, die dem großem Manne nur unterschoben worden seien und die nie und nimmer aus dessen Feder stammten, so mag dies alles auch mit den neuen Machthabern zu tun haben, deren Gewogenheit aš-Šaʿrānī gewann. Die Vorgänge in Kairo: der letzte Mamlukensultan Im Winter 1516 auf 1517, als Selims Heer vor Damaskus lagerte, konnte aš-Šaʿrānī in Kairo gewiß noch nicht absehen, was ihm die Zukunft bringen werde. Man hörte nichts als besorgniserregende Nachrichten über den Zusammenbruch der Mamlukenherrschaft in Syrien. Ḫairbeg, der Statthalter von Aleppo, sollte die Sache Qānṣauh al-Ġaurīs verraten und deshalb das Desaster zumindest mitverschuldet haben. Selim habe ihm den Bart stutzen und ihn nach „türkmenischer“ Art einkleiden lassen, schließlich aber die Unterwerfung des Verräters für echt genommen.102 In Ägypten selber drohte Anarchie, als man Genaueres von der Niederlage bei Marǧ Dābiq hörte. Die Beduinen regten sich; sie niederzuhalten, überforderte die wenigen in Kairo zurückgebliebenen Kräfte. Barakāt b. Mūsā, der Marktvogt, der für Qānṣauh al-Ġaurīs Mamluken die monatlichen Abgaben eingetrieben hatte, schien der einzige zu sein, der die Ordnung aufrechterhalten konnte. Die gehaßten Steuern konnte er getrost abschaffen, denn es gab den Sultan nicht mehr, der sie benötigt hatte. Auch ließ er die Gefängnisse öffnen und setzte die Feinde des alten Regimes frei. An den Verbrechern jedoch vollzog er unnachsichtig die von der Scharia vorgeschriebenen Strafen.103 So meisterte er für einen Augenblick die verworrene Lage.Vereinzelt trafen in Kairo Augenzeugen des Debakels ein, unter ihnen der hanafitische Oberrichter, der durch einen Zufall dem Schicksal seiner Kollegen der übrigen Schulen entronnen war. Er berichtete von etlichen Verrätern, deren Besitztümer man, soweit man dieser habhaft werden konnte, beschlagnahmte. Der mamlukische Kommandant der Festung Aleppo, der sich ebenfalls hatte retten und nach Kairo durchschlagen können, wurde ins Gefängnis geworfen. Man beschuldigte ihn, die Festung, ohne daß sie belagert worden wäre, den Osmanen übergeben zu haben, wodurch diesen die wertvollen dort gehorteten Güter in die Hände gefallen seien.104 Wenn es, wie dieses Beispiel zeigt, unter den Stützen der in der Schlacht bei Marǧ Dābiq untergegangenen Herrschaft al-Ġaurīs genügend Anlaß zu Zwistigkeiten gab, so waren die Emire doch von so starkem Selbstbehauptungswillen beseelt, daß sie die Dinge nicht weiter treiben ließen, sondern sich dazu durchrangen, einen der ihren zum Sultan auszurufen. Ihre Wahl fiel auf Ṭūmānbeg, einen langjährigen Vertrauten Qānṣauh al-Ġaurīs.105 Ibn Ijās weiß von ihm zu berichten, daß er zunächst ein Sklave des Sultans Qaitbai gewesen sei, jedoch mit einem Vertrag zum

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Selbstfreikauf. Die darin festgelegte Summe zahlte Qānṣauh dem damaligen Sultan, wodurch Ṭūmānbeg die Stellung eines freien Mannes erlangte, sich aber natürlich eng an seinen Wohltäter gebunden fühlte. Als dieser selber das Sultanat innehatte, machte Ṭūmānbeg rasch Karriere und wurde 1507 in das Amt des Großsekretärs berufen. Durch seine Hände ging die Korrespondenz mit dem Sultan, er richtete die Audienzen aus und bestimmte, wem der Zutritt zum Herrscher gewährt wurde. Bevor Qānṣauh al-Ġaurī zum Feldzug gegen Selim aufbrach, ernannte er seinen Vertrauten zu seinem Stellvertreter in Kairo.106 Es lag darum nahe, ihm jetzt das Sultanat anzutragen, ein Ansinnen, über das Ṭūmānbeg freilich alles andere als erfreut war. Wie einst sein auf dem Feld von Marǧ Dābiq verschollener Vorgänger verweigerte er sich hartnäckig diesem Wunsch. Als alles Drängen und Beharren der Emire nichts fruchtete, entschloß man sich, einen bekannten Gottesfreund um Rat zu fragen. Sie begaben sich zu Meister Abū s-Suʿūd (gest. 1522), dessen Klause in der Nähe der ʿAmr-Moschee in Fustat war. Seinen Lebensunterhalt hatte dieser Mann durch den Handel mit Baumwolle bestritten, war dann aber über das Studium des Korans, der arabischen Grammatik und des Rechts zur unentwegten Gottesverehrung und zum Niederringen des Ich übergegangen. So hatte er es, als einer der letzten Adepten des großen Meisters Madjan, in der Gottesfreundschaft zur Vollkommenheit gebracht.107 Nun sollte er den Mamlukenemiren den Ausweg aus der Bedrängnis zeigen. Die Einwände Ṭūmānbegs waren nämlich kaum zu widerlegen. Er sagte den Emiren ins Gesicht, daß er von ihren Treueschwüren wenig halte, wo doch zu erwarten sei, daß Selim in Kürze Ägypten angreifen werde; zudem sei nicht ein einziger Dirham in der Staatskasse, und wie so oft in der Geschichte der Mamlukenherrschaft werde alles damit enden, daß man ihn, Ṭūmānbeg, absetzen, verhaften und nach Alexandrien ins Gefängnis verbringen werde. Meister Abū sSuʿūd ließ ein Koranexemplar herbeischaffen und nötigte die Anwesenden, auf das heilige Wort Allahs den Eid abzulegen, daß sie, falls sie Ṭūmānbeg zum Sultan erheben sollten, ihn weder betrügen noch verraten, sondern sich seinem Befehl beugen und mit seinen Taten einverstanden sein wollten. Dann nahm ihnen Meister Abū s-Suʿūd einen zweiten Schwur ab:Von Stund an würden sie die Untertanen nicht mehr ungerecht behandeln, und alle Bedrückung, wie sie unter Qānṣauh al-Ġaurī aufgekommen war, sollte ein für allemal ein Ende haben. Vor allem die hohen Abgaben, die der Marktvogt den Händlern abgepreßt hatte, sollten endgültig der Vergangenheit angehören, und nur die moderaten Gebühren, die zuvor üblich gewesen seien, durften noch eingefordert werden. Auch das beschworen die Emire. Meister Abū s-Suʿūd entließ seine Besucher mit der Mahnung, sie sollten immer daran denken, daß Allah nur deshalb den Osmanen den Sieg geschenkt habe, weil die Menschen in Ägypten die Herrschaft der Mamluken verflucht hätten. „Wir wenden uns reumütig zu Allah und widersagen von heute an jeglicher Willkür!“

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sollen sie daraufhin hoch und heilig versprochen haben108 – was bei ähnlichen Gelegenheiten schon allzu oft geschehen war. Am 14. Ramadan 922 (11. Oktober 1516) huldigte man dem letzten Mamlukensultan. Der Kalif al-Mutawakkil war ein Kriegsgefangener Selims, und so amtierte für ihn der greise Jaʿqūb, der Vater al-Mutawakkils, der vor längerer Zeit auf sein Amt verzichtet hatte. Um nur ja nicht einen anderen Zweig der Kalifenfamilie in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken, wies Jaʿqūb zur rechten Zeit ein Schreiben des Sohnes vor, durch das er während dessen Abwesenheit mit der Wahrnehmung der Aufgaben des Kalifats bevollmächtigt wurde.Von den vier Großrichtern war nur der hanafitische, der hatte fliehen können, zugegen, die übrigen waren durch Deputierte vertreten.Während Ṭūmānbeg sich bemühte, seine Herrschaft zu sichern und ihm gewogene Emire in die Schlüsselstellungen zu bringen, hörte man Genaueres vom Vorrücken der Osmanen auf Damaskus. Es gingen jedoch auch Berichte ein, denen Verängstigte entnehmen mochten, es werde alles nicht so schlimm kommen, wie eine wirklichkeitsnahe Betrachtung der Dinge es längst nahelegte. Der Statthalter von Gaza, so hieß es, habe gemeldet: Sobald Selim Damaskus eingenommen habe, sei es mit der Kampfkraft des osmanischen Heeres vorüber gewesen; täglich fielen einer Seuche zahlreiche Soldaten zum Opfer, Nahrungsmittel und Viehfutter seien inzwischen knapp geworden; die Eindringlinge trauten sich nicht mehr, ihr Heerlager zu verlassen, weil sie fürchteten, von Beduinen erschlagen zu werden; mit dem Einzug in jene Stadt sei Selim in eine Falle gegangen, aus der er sich schwerlich befreien werde.109 Solch widersprüchliche Nachrichten vertraute Ibn Ijās seinem Tagebuch an. Dem Geschehen ferner stehende Historiographen suchten nach einleuchtenden Gründen für Selims Einmarsch in Ägypten.War es so, wie der Kairoer Ibn Zunbul arRammāl (gest. 1553) behauptet, der in dem Verräter Ḫairbeg auch den Bösewicht sieht, der Selim zu dem Unheil anstiftete? Oder war es so, wie der aus Qum stammende, den Safawiden eng verbundene Ḥasan-i Rūmlū (gest. um 1580) meint, nämlich daß Selim die Inthronisierung Ṭūmānbegs als einen Akt der Rebellion betrachtete, weil er sich seit dem Sieg bei Marǧ Dābiq als den neuen Herrn des einstigen Mamlukenreiches verstand?110 Selims Angriff auf Ägypten Auf jeden Fall rüstete sich Ṭūmānbeg mit den bescheidenen Mitteln, die ihm noch zur Verfügung standen, für die Verteidigung Ägyptens. Daß dies in der Tat nötig war, wurde Anfang Januar 1517 zur Gewißheit: Es erschien in Kairo jener Ḫairbeg, der einstige Statthalter von Aleppo, der sich während der Schlacht von Marǧ Dābiq als einer der ersten zur Flucht gewandt hatte. Er habe, so behauptete er nun, den Osmanen entkommen können. – Ibn Ṭūlūn erzählt von diesem Ḫairbeg, dieser sei im

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Herbst 1516, unmittelbar bevor Selim in Damaskus einmarschierte, in osmanische Gewänder gekleidet und rasiert, wie es der türkischen Sitte entsprach, dort aufgetaucht und habe den mamlukischen Festungskommandanten zur Aufgabe seines Postens überredet; beide seien dann vom kurz vorher ernannten osmanischen Statthalter empfangen worden. Bei dieser Gelegenheit habe der mamlukische Kommandant ein osmanisches Ehrengewand entgegengenommen.111 – Der zwielichtige Ḫairbeg also unterrichtete Ṭūmānbeg davon, daß Selim ein Heer von fünftausend Berittenen gegen Ägypten geschickt habe; es stehe schon bei Gaza, dessen mamlukischer Statthalter das Weite gesucht habe. Sofort gab Ṭūmānbeg den Befehl an die ihm zur Verfügung stehenden Truppen, sie sollten sich zum Abmarsch bereit machen. Einen Tag später erfuhr der Sultan, daß sein Statthalter in Gaza, jener Mann, dem Ibn Ijās die so überaus ungünstige Schilderung der Lage der Osmanen zuschreibt, tatsächlich hatte fliehen müssen. Dieser traf in Kairo ein und führte einige Mamluken mit sich, die er verdächtigte, mit dem Feind verräterische Beziehungen angeknüpft zu haben. Sie beschworen jedoch ihre Unschuld, worauf Ṭūmānbeg ihnen die Fesseln abnehmen ließ.112 Anzeichen des Zerfalls der mamlukischen Herrschaft In dem Maße, wie sich die militärische Lage zuspitzte, erlahmten in Kairo die Kräfte, deren man bedurft hätte, um in einer letzten Anstrengung die Mittel für eine ausreichend gerüstete Armee aufzubringen. Denn das Versprechen, die Bevölkerung mit den unter Qānṣauh al-Ġaurī erhobenen Abgaben zu verschonen, war nicht einzulösen, wenn man den Osmanen mit einer noch so geringen Aussicht auf Erfolg entgegentreten wollte. Aber man mußte sich an das Wort halten, das man vor Abū sSuʿūd beschworen hatte. So führte man zwei Untergebene des Marktvogtes vor den Sultan, denen man vorwarf, sie hätten eben doch zu hohe Abgaben eintreiben wollen. Ṭūmānbeg ließ beide auspeitschen und den Höherrangigen von beiden öffentlich verhöhnen – so sehr fühlte er sich unter dem Druck des Meisters Abū sSuʿūd. Und dieser mischte sich in der Tat in die fiskalischen Angelegenheiten des Sultanats ein. Er ergriff Partei für einen Gerber, der behauptete, der Marktvogt Barakāt b. Mūsā habe ihm Unrecht getan. Abū s-Suʿūd ließ den Marktvogt wissen, er nehme sich des Gerbers nun an. Ibn Mūsā maß dem zunächst keine Bedeutung bei, bequemte sich aber endlich, die Klause des Meisters aufzusuchen, wohl um die Angelegenheit zu bereinigen. „Du Hund, wie lange willst du den Muslimen noch Gewalt antun?“ fuhr ihn der greise Gottesfreund an. Diese Begrüßung paßte dem Emir ganz und gar nicht; er stand auf und wollte gehen. Da aber, so erzählt Ibn Ijās, griffen die zahlreichen Anhänger des Meisters, die Zeugen der Auseinandersetzung wurden, den Marktvogt, entblößten ihm den Kopf und prügelten mit den Sandalen auf ihn ein, bis er dem Tode nahe war. Der Meister ließ den Großsekretär des Sultans

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holen und wies ihn an, den Marktvogt in Fesseln zu legen; der Herrscher möge entscheiden, was mit ihm geschehen solle. Ṭūmānbeg wollte mit dem Fall aber nichts zu tun haben und schob dem Gottesfreund die Verantwortung zu. Meister Abū s-Suʿūd überlegte nicht lange. Der Marktvogt solle an den Pranger gestellt und danach am Zuwaila-Tor gehängt werden. Schon führte man Barakāt b. Mūsā durch Fustat, damit die wütende Bevölkerung an ihm ihr Mütchen kühle, als man darauf kam, daß er dem Sultan noch Geld schulde. So begnügte sich Meister Abū s-Suʿūd damit, den Marktvogt wieder in Ketten zu legen. Dieses Ereignis beeindruckte Ibn Ijās so tief, daß er es in einigen Versen würdigt. Rasch fand sich ein Zeuge, der schon unter Qānṣauh al-Ġaurī den Marktvogt anzuschwärzen versucht hatte, und beeidete, Ibn Mūsā schulde Ṭūmānbeg 100 000 Dinare. Man vergriff sich am Besitz des Marktvogtes und verschonte nicht einmal dessen Ehefrauen, aus deren Wohnungen alles Inventar entfernt wurde. Unterdessen schwor Ibn Mūsā, jener Zeuge stehe seinerseits bei ihm mit sogar 200 000 Dinaren in der Kreide. Also wurde dieser ebenfalls gefangengesetzt. Nun wurden die ersten Stimmen laut, die meinten, ein Meister der Gottesfreundschaft sollte sich vielleicht doch nicht in die Angelegenheiten des Sultans einmischen; niemand „dankte Abū s-Suʿūd für das, was er mit dem Marktvogt gemacht hatte“. Daraufhin besann sich Abū s-Suʿūd eines Besseren und gab kund, er habe Ibn Mūsā nichts mehr vorzuwerfen, weshalb dieser freigelassen werden möge. So geschah es. Der Gottesfreund „begann also, sich als Herrscher aufzuführen und zu erlassen und zu ernennen; doch tadelten ihn die Leute deswegen“.113 Propagandakrieg Dies alles ereignete sich, während in Kairo die unterschiedlichsten Gerüchte über den osmanischen Sultan, sein Heer, seine Absichten umgingen. Die Ankunft Ḫairbegs gab Ṭūmānbeg dann aber die Gewißheit über das, was ihm bevorstand. Was er gegen den Sieger von Marǧ Dābiq ins Feld führen konnte, war in der Tat nur das letzte Aufgebot. Er ließ in den Gassen ausrufen, daß sich der Pöbel, ja selbst alle diejenigen, die sich wegen einer Blutschuld verborgen hielten, zur Musterung melden sollten. Jenen sollte die Zahlung des Wergeldes erlassen sein, und wer immer sich für den Krieg bereitfinde, der werde ein Reittier und den Sold erhalten. Den Leuten, schreibt Ibn Ijās, habe dieser Aufruf mißfallen, es wäre besser gewesen, die Angelegenheit mit der Blutschuld nicht ausdrücklich zu erwähnen114 – denn immerhin war dies ein klarer Verstoß gegen die Scharia. Anfang Dezember 1516 rückten einige Sultansmamluken aus Kairo in Richtung al-Maṭarīja ab. Sie trafen unterwegs auf eine Reiterschar, die sie, als sie näher herangekommen war, als einen osmanischen Gesandten mit seinem Gefolge identifizierten. Den Mittelpunkt der etwa fünfzehn Personen starken Gruppe bildete ein

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würdiger Mann mit weißem Bart, der in ein samtenes Gewand gekleidet war – der Botschafter Selims. Unter den Reitern, die ihn umgaben, erkannten die Mamluken einen Kameraden, der offensichtlich die Seiten gewechselt hatte. Es stellte sich heraus, daß jene nicht über Gaza gereist waren, denn dort war für die Osmanen noch kein Durchkommen gewesen. Sie hatten Beduinen bestochen, die sie einen anderen Weg geführt hatten, mitten durch die Wüste, und so waren sie nun plötzlich vor Kairo aufgetaucht. Die Sultansmamluken eskortierten die Abgesandten des Feindes durch die Stadt. Dabei beobachteten sie, als sie den Ḫān al-Ḫalīlī passierten, einen merkwürdigen, beunruhigenden Vorfall: Drei fremde Osmanen traten an die Gruppe heran, küßten den Männern die Hände und begrüßten sie. Die Mamluken nahmen auch diese drei in ihren Gewahrsam, denn was konnten sie anderes sein als Spione Selims? Man brachte sie und den Gesandten nebst seinen Leuten in den Palast des Großsekretärs. Der Botschafter weigerte sich, vom Pferd zu steigen, ließ stattdessen sein Schwert über den Köpfen der Ägypter kreisen und führte rüde Drohreden. Man mußte ihn gewaltsam vom Pferd herabziehen und entriß ihm endlich das Schwert. Dann schlug man auf ihn und seine Begleiter ein, zerrte ihnen die Kleidung vom Leib und legte ihnen Fesseln an, kurz, man ließ ihnen genau die entehrende Behandlung angedeihen, unter der ein knappes Jahr zuvor Qānṣauh al-Ġaurīs Botschafter bei den Osmanen zu leiden gehabt hatte. Den Überläufer, den man unter den Fremden ausgemacht hatte, führte man vor Ṭūmānbeg, der von ihm Schauerliches erfuhr. Die Macht des Sultans Selim wachse von Tag zu Tag, und er übe sie mit ungehemmter Brutalität aus. Als er Aleppo eingenommen habe, habe er an einem Tag achthundert Ägyptern den Kopf abschlagen lassen, darunter dem Obmann der Badawī-Sufis und anderen verehrungswürdigen Männern. Das Heer Selims setze sich aus 60 000 Kämpfern zusammen. Von Bagdad bis Damaskus, überall werde Selim in der Freitagspredigt gerühmt, genauso weit gälten die Münzen, die er prägen lasse. Damaskus hätten die Osmanen, kaum daß sie es in Besitz genommen hätten, mit einer neuen Mauer und Toren befestigt; einige Tage habe Selim seinen Soldaten die Stadt zum Plündern freigegeben, und sie hätten dort alle erdenklichen Arten von Gewalt und Schändlichkeit verübt. Überhaupt seien die Osmanen sehr nachlässige Muslime; sie fasteten nicht im Ramaden, sondern söffen Bier und Wein, konsumierten Rauschgift, trieben Unzucht mit bartlosen Knaben, ja, der Sultan verrichte nur selten das rituelle Gebet.115 Kurzum, alles, was der Überläufer zu berichten wußte, deckte sich mit dem, was man in Ägypten schon immer über jene Glaubensbrüder, die keine Araber waren, zu wissen meinte. Ein Fremder, so berichtet Ibn Ijās kurz davor, hatte in die Pasteten, von deren Verkauf er lebte, das Fleisch eines fetten Hundes gemischt. Der Marktvogt hatte ihn erwischt und bestraft. „Immerfort begehen die, die keine Araber sind, abscheuliche Untaten dieser Art!“ merkt Ibn Ijās an.116

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Ṭūmānbeg setzte den Überläufer gefangen. Wohl zu Recht sah er in ihm einen osmanischen Agenten. Jedoch ließ er ihn wieder frei, als der einstige mamlukische Gesandte, dem Selim so übel mitgespielt hatte, darum bat. Nicht so gut kamen die Beduinen weg, die dem osmanischen Botschafter als Führer gedient hatten. Sie wurden gehängt. Man erzählte sich außerdem, daß der osmanische Botschafter nicht nur von der kleinen Schar, die man bei al-Maṭarīja angetroffen hatte, begleitet worden sei. Zahlreiche weitere Spitzel Selims seien auf eigene Faust in Kairo eingesickert und hielten sich verborgen. Ṭūmānbeg ließ im Ḫān al-Ḫalīlī ausrufen, daß jeder, der einen Osmanen beherberge, ohne Gerichtsverfahren an der Pforte seines Ladens aufgeknüpft werde. Die ohnmächtige Wut, mit der die Mamlukenemire dies alles zur Kenntnis nahmen, ist nur zu verständlich – der Kampfesmut ihrer Truppen war durch die schauerlichen Gerüchte und durch die Angst, die sich unter der Bevölkerung verbreitete, schon gebrochen, noch ehe man zum Abmarsch bereit war.117 Allmählich wurden Einzelheiten des Drohbriefes bekannt, den der Botschafter Selims für Ṭūmānbeg mitgebracht hatte: Allah habe Selim eingegeben, die ganze Welt, den Osten und den Westen, unter seiner Herrschaft zu vereinen, wie dies einst Alexander, dem Zwiegehörnten, aufgetragen worden war; der Mamluke Ṭūmānbeg sei ein Mann ohne weitläufigen Stammbaum, mithin ein nichtswürdiger Emporkömmling, während der Osmane zwanzig Ahnherren aufzählen könne, die allesamt Herrscher gewesen seien. – Schon der Il-Chan Ġazan (reg. 1295 – 1304) hatte, als er in Syrien gegen die Mamluken Krieg führte, diesen das Fehlen edler Abstammung vorgehalten.118 – Mit dem Schwert, so rühmte sich Selim, habe er das Reich gewonnen, das seit dem Tode Qānṣauh al-Ġaurīs ohne Herrscher sei. Darum möge Ṭūmānbeg sich beeilen, ihm, Selim, das jährliche Steueraufkommen Ägyptens zu übersenden, wie dies zur Zeit der abbasidischen Kalifen der Brauch gewesen sei. Denn jetzt sei er, der Osmane, der Kalif Allahs auf der Erde! Selims Münzen hätten in Ägypten zu gelten, sein Name allein verdiene es, von den Moscheepredigern gepriesen zu werden. Bestenfalls als Statthalter Selims dürfe sich Ṭūmānbeg betrachten, der auch unwürdig sei, die Ehre des Dieners der beiden heiligen Städte innezuhaben. Wenn Ṭūmānbeg sich nicht unterwerfe, dann werde Selim in Ägypten einrücken und alle Mamluken töten, ja er werde sogar den Schwangeren den Bauch aufschlitzen, um die Leibesfrucht der Mamluken zu vernichten. Als man Ṭūmānbeg dies alles vorgelesen hatte, sei er in Tränen ausgebrochen, und Panik sei über ihn gekommen. Auch der Bevölkerung bemächtigte sie sich. Manche trafen Vorkehrungen, um, sobald Selim die Stadt erreichen würde, zu Schiff nach Oberägypten zu flüchten, andere suchten nach Verstecken außerhalb der Stadt. Der Argwohn gegenüber dem mächtigen Emir Ḫairbeg wollte währenddessen nicht verstummen – Ḫairbeg sei der Verräter, der schon im Herzen Kairos lauere, und sobald die Osmanen heranmarschierten, werde er ihnen die Tore öffnen.119

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Maßnahmen zur Verteidigung Die Vorbereitungen auf die Schlacht gegen Selim liefen unter denkbar ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen, vor allem aber unter sehr gedrückter Stimmung ab. Niemand konnte an einen guten Ausgang des unabwendbaren Krieges glauben. Geld für den Sold wurde auf alle mögliche Art zusammengekratzt, das Privatvermögen selbst der Angehörigen der großen Emire, etwa des Sohnes Qānṣauh al-Ġaurīs, wurde nicht geschont. Ṭūmānbeg bemühte sich nach dem Vorbild seines Vorgängers um die Segenskraft der Derwische. Er wendete dafür tausend Dinare auf, die er an die Gottesfreunde in den Klausen verteilen ließ; außerdem stiftete er einer jeden fünf Irdabb120 Weizen, nach heutigem Maß fast eintausend Liter. Und wie Qānṣauh al-Ġaurī suchte er die berühmten Grabstätten auf, um dort den Koran zu rezitieren.121 Trotz allem standen die Unternehmungen zur Rettung Ägyptens, die schon im Dezember 1516 begannen, unter einem schlechten Stern. Bei Gaza wurde eine Abteilung mamlukischer Soldaten, die den Osmanen das Vordringen zum Nildelta erschweren sollte, vollständig aufgerieben; der ganze Troß fiel den Feinden in die Hände. Einen Tag nach dem Eintreffen dieser Nachricht in Kairo ritt der Sultan von der Festung hinab und musterte auf dem großen Platz, der sich zu ihren Füßen westlich erstreckt, Teile seiner Armee. Plötzlich wurde von Norden her Geschrei laut – Selims Heer stehe schon bei ar-Raidānīja, einem Gartengelände außerhalb des Triumph-Tores im Norden der Stadt! Erschreckt und wütend soll Ṭūmānbeg seine Emire angefahren haben: „Wie oft habe ich euch gesagt, brecht endlich auf! Ihr aber wolltet es nicht! Auf, stellt euch dem Feind entgegen!“ Sie ließen sich zum Abmarsch bewegen, und ganz Kairo geriet in helle Aufregung. Zuerst verbarg man die wichtigsten Wertgegenstände jener Zeit, nämlich die kostbaren Stoffe. Wer konnte, versteckte sich auf den Friedhöfen. Doch dann erwies sich alles als blinder Alarm; einige Beduinen waren vom Höhenzug im Osten Kairos nach ar-Raidānīja herabgekommen, und sie hatten die Panik ausgelöst.122 Die schwerfälligen Maßnahmen der Mobilmachung gingen in den nächsten Tagen weiter; der mühsam aufgebrachte Sold für den Feldzug wurde den Emiren ausgehändigt. Vom 4. bis 7. Januar 1517 feierte man das Opferfest, den Abschluß der mekkanischen Pilgerriten, mit gewohntem Prunk, aber in banger Erwartung des kommenden Unheils; neue Kunde vom Vormarsch der Osmanen war eingetroffen, diesmal den Tatsachen entsprechend, außerdem wußte man nun Einzelheiten über die Grausamkeiten, denen die Bevölkerung von Gaza ausgesetzt gewesen war. Zwei Tage später wurden auf Befehl Ṭūmānbegs die modernsten Waffen, über die die Mamluken verfügten, aus dem Zeughaus gerollt – einhundert hölzerne Lafetten, eine jede von einem Paar Rindern gezogen und bestückt mit einer bronzenen Kanone. Es folgten zweihundert Lastkamele, die an die 15 000 Sturmschilde trugen, mit denen sich die Soldaten gegen den Geschoßhagel der Feinde schützen konnten; außerdem waren sie mit Schießpulver, Blei- und Eisenkugeln, Lanzen und ähnli-

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chem Kriegsgerät beladen. Vor diesem Zug marschierten die Schützen, meist Türkmenen oder Magrebiner, keine Mamluken, zusammen mit ihrer Musikkapelle und ihren Standarten, und allen voran der Großzeugmeister, in dessen Nähe man zahlreiche Zimmerleute und Schmiede sah. Vom Platz unterhalb der Festung bewegte sich der Zug bis vor das Zuwaila-Tor und durchquerte dann, wie üblich, Kairo von Süden nach Norden und verließ die ummauerte Stadt durch das Triumph-Tor. In ar-Raidānīja machte die Marschkolonne Halt. Ergriffen hatte die Bevölkerung diesem Schauspiel beigewohnt; die edlen Absichten des Sultans, der seine Pflichten nicht scheute, machten den Menschen Mut, sie brachen in Hochrufe auf Ṭūmānbeg aus und erflehten den Sieg über den „Aufrührer“ Selim, den Zerstörer der von Allah gesetzten Ordnung. Während jetzt ein bedeutender Teil der mamlukischen Streitmacht in ar-Raidānīja lagerte, vermutlich um dort den von ihrem entbehrungsreichen Marsch ermüdeten Angreifern den Weg nach Kairo zu verlegen und sie zum Rückzug zu zwingen, tauchte der oberste Feldherr der geschlagenen Armee Qānṣauh al-Ġaurīs auf, gekleidet wie ein Beduine. Er habe fliehen können, gab er an, habe allerdings den Beduinen, die er als Führer gewonnen habe, eine erkleckliche Summe Geldes versprechen müssen. Mit dem Heer Selims gehe es zu Ende; es sei von den Unbilden des Winters gebeutelt und habe gegen den osmanischen Herrscher gemeutert. Auch hörte man, daß die Beduinen den feindlichen Verbänden, die sich in der Umgebung von Gaza hatten festsetzen wollen, täglich schwere Verluste zufügten. Aufkeimende Hoffnungen zerschlugen sich jedoch allzu bald. Selim habe sein Heer geteilt. Die eine Hälfte werde den üblichen Weg nach Ägypten wählen, die andere aber solle die Wüste durchqueren, wie es der unlängst so unfreundlich empfangene Botschafter des Osmanen getan hatte. Ṭūmānbeg hielt es für richtig, seine Truppen nun ebenfalls zu teilen. Er selber wollte in ar-Raidānīja bleiben, um dort den Hauptstoß der Feinde abzufangen. Eine Schwadron sollte Selim auf der üblichen Route entgegenziehen, eine andere dem gegnerischen Angriff aus der Wüste zuvorkommen. Die Emire, die sich auf einen Auszug nach Syrien entsprechend dem üblichen Muster gefaßt gemacht hatten, waren über diesen Befehl Ṭūmānbegs verärgert. Sie hatten überdies erst für den Beginn des Jahres 923, am 24. Januar 1517, mit dem Aufbruch gerechnet. Welche Aktivitäten die beiden Abteilungen entfalteten, ist den Berichten Ibn Ijās’ nicht zu entnehmen. Ṭūmānbeg selber schien ihnen nur geringe Bedeutung beizumessen. Vor ar-Raidānīja baute er in den nächsten Tagen eine Verteidigungslinie auf, darin bestärkt durch die Meldung, daß Selims Heer von Gaza nach al-ʿArīš marschiert sei, also dem Weg an der Mittelmeerküste entlang folge, und deswegen, sobald es das Delta erreicht habe, an dessen östlichem Rand gegen Kairo vorrücken werde. Zwischen dem östlichen Höhenzug und al-Maṭarīja, nördlich von ar-Raidānīja, ließ der Sultan einen Graben ausheben und brachte dort seine Geschütze in

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Stellung. Seinem Marktvogt erteilte er den Befehl, die Fleischer, Käser, Bäcker und Ölhändler in die Nähe der Armee nach ar-Raidānīja zu holen. Auch ließ er alle Mamluken, die sich, obwohl sie sich hätten einfinden müssen, immer noch in Kairo aufhielten, ein letztes Mal zur Erfüllung ihrer Pflichten aufrufen. Sollten sie weiter zögern, sich dem Sultan in ar-Raidānīja zur Verfügung zu stellen, werde man sie ohne Prozeß hängen. Ṭūmānbeg war zu Ohren gekommen, daß etliche Mamluken zwar tagsüber in ar-Raidānīja weilten, am Abend aber trotz Verbotes in ihre Häuser nach Kairo zurückkehrten, wo man die Nacht angenehmer verbringen konnte.123 Das Vorrücken Selims Al-ʿArīš galt als der Grenzort zwischen Ägypten und Syrien. Westlich davon, ungefähr am Rande des Deltas, liegt Qaṭja. In der Mamlukenzeit war dieser Ort, den man nur passieren durfte, wenn man im Besitz eines Erlaubnisscheines war, von einiger Bedeutung, denn dort lag ein hochrangiger Emir mit seiner Einheit und hatte die Aufgabe, den durchreisenden Kaufleuten den Zehnten abzunehmen.124 Sobald man in ar-Raidānīja erfahren hatte, daß die Vorhut Selims Qaṭja erreicht habe, rief Ṭūmānbeg auch den Pöbel einiger Stadtviertel zu den Waffen und versprach reichen Lohn im Falle des Sieges. Außerdem begann er um die Kanonen, die in ar-Raidānīja verblieben waren, eine Schutzmauer zu errichten; an diesen Arbeiten beteiligte er sich persönlich. Dann meldete sich der mamlukische Intendant des Gebietes östlich des Deltas bei ihm. In der Gegend von aṣ-Ṣāliḥīja hatte man etliche Osmanen gesichtet und drei von ihnen ergriffen; zwei hatte man enthauptet – die Köpfe wurden dem Sultan zum Beweis, daß es Osmanen waren, vorgelegt. Den dritten Gefangenen, der dem Anhang des Ḫairbeg angehörte, hatte man am Leben gelassen. Dieser berichtete Ṭūmānbeg, daß in der Tat der Verräter Ḫairbeg einer der Anführer des Feindes sei, und wies einige Briefe vor, die dieser an einstige Kameraden gerichtet hatte, um sie zum Abfall vom Herrscher der Mamluken zu ermuntern. Von jetzt an überschlugen sich die Ereignisse. Die Osmanen stünden schon in der Gegend von Bilbais, hieß es, sie behelligten die Bevölkerung des Ortes und die Fellachen jedoch nicht; allen sei die Sicherheit von Leben und Eigentum zugesagt worden. Die Pferde der osmanischen Reiterei seien völlig ausgemergelt, und elend sei auch der Zustand der Fußtruppen nach dem strapaziösen Marsch. Ṭūmānbeg wollte daher den Vorteil nutzen und mit seinen ausgeruhten Verbänden die Stellung verlassen, um den ermatteten Feind zu überraschen. Die Emire rieten jedoch zum Abwarten und setzten sich durch. Wäre man doch der Absicht Ṭūmānbegs gefolgt, schreibt Ibn Ijās, denn noch hatten die Osmanen nicht ihre Hand auf die reichen Vorräte gelegt, die in der Karawanserei nördlich von al-Maṭarīja gespeichert waren! So blieb dem Sultan nichts anderes, als der Kavallerie zu befehlen, die Nacht in Bereitschaft auf dem

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Rücken der Pferde zuzubringen, denn ein Angriff Selims war nun jederzeit zu gewärtigen. In jene Karawanserei hatten viele Einwohner Kairos ihre Habe gebracht, auch sie selber suchten dort Schutz. Als aber jetzt das osmanische Heer näher kam, hasteten viele nach Kairo zurück. Auch aus der Gegend von Bilbais ergoß sich ein Strom Flüchtender in die Stadt. Die mamlukische Armee lag unterdessen weiter untätig in ar-Raidānīja. Einzig einige Beduinen griffen auf eigene Faust die Osmanen an, töteten etliche und brachten die Köpfe vor den Sultan, der anordnete, man solle sie am Triumph-Tor und am Zuwaila-Tor zur Schau stellen.Wenigstens gelang es, die Truppen an der Verteidigungslinie zu dislozieren, die man wenige Tage zuvor errichtet hatte. Am selben Tag entging Ṭūmānbeg nur dank der Geistesgegenwart eines Eunuchen einem Anschlag. Eine Person mit verhülltem Gesicht war bis zum Herrscher vorgedrungen und hatte ihn angegriffen. Es handelte sich, wie man mit Entsetzen bemerkte, um eine Frau, eine Türkmenin, die ein Kettenhemd trug und mit einem Dolch bewaffnet war. – Die Dulqadir-Türkmenen waren Verbündete der Mamluken gewesen, doch hatte sich ein Mitglied der Fürstenfamilie auf die Seite der Osmanen geschlagen und war in deren Heer nach Ägypten gekommen. Ob das Attentat mit all dem zu tun hatte, darüber schweigt sich Ibn Ijās aus. – Die Streitmacht Selims stieß bis zum Pilgerteich vor, einem stehenden Gewässer, das nordöstlich von al-Maṭarīja vor der Verteidigungslinie lag.125 Dies wurde am 21. Januar bekannt. Unverzüglich wurden die Tore Kairos geschlossen, das alltägliche Leben kam zum Erliegen: Die Mühlen stellten ihren Betrieb ein, desgleichen die Bäckereien. Im Lager Ṭūmānbegs in ar-Raidānīja riefen die Trommeln zum Kampf. Die Beduinen eingerechnet, konnte der Sultan an die 20 000 Berittene aufbieten, die er nun zur Schlacht ordnete und hinter der Verteidigungslinie in Stellung brachte. Ṭūmānbeg erwartete, daß die Osmanen sein Lager in ar-Raidānīja mit aller Wucht angreifen würden, um auf diese Weise eine rasche Entscheidung herbeizuführen. Er hatte daher, wie schon erwähnt, einen großen Teil der Geschütze um sein Zelt und die übrigen Quartiere der mamlukischen Führung gruppiert. Hinter den Geschützen waren in einem engeren Gürtel an die tausend Kamele zusammengetrieben worden, die mit Viehfutter beladen waren, sowie die Rinder, die die Lafetten gezogen hatten. Ṭūmānbeg hoffte, indem er sich dergestalt einigelte, nicht nur den Angriff Selims auffangen, sondern auch eine Belagerung von einiger Dauer überstehen zu können. Als er erkannte, daß der Feind am Pilgerteich Halt gemacht hatte, wohl um den Mamluken dort die Schlacht anzubieten, ließ sich Ṭūmānbeg darauf nicht ein. Ibn Ijās lobt oft die kriegerische Entschlossenheit Ṭūmānbegs; Qānṣauh alĠaurī hätte nie und nimmer Vergleichbares zustande gebracht.126 Aber das Zaudern jetzt, da der Feind seine Reihen zum Angriff ordnete, findet der Chronist tadelnswert. Wahrscheinlich übersieht Ibn Ijās, daß eine gänzliche Umstellung der einmal

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eingeschlagenen Taktik, die einen aus dem Anmarsch heraus vorgetragenen Angriff der Feinde voraussetzte, kaum gelingen konnte. Die Niederlage Ṭūmānbegs Selims Offiziere durchschauten rasch, daß Ṭūmānbeg ihnen die Initiative überlassen mußte. Am 22. Januar schickten sie einige Verbände an den östlichen Rand der Verteidigungslinie vor. Die Mamluken, die ihre Kampfkraft um den Sultan herum massiert hatten, mußten befürchten, daß die Feinde dort durchbrechen, ar-Raidānīja von Osten oder gar von Süden angreifen oder unverzüglich auf Kairo vorstoßen könnten. So ließ Ṭūmānbeg überhastet und ganz entgegen seinen Plänen Teile seiner Armee zum Kampf ausrücken und die osmanischen Truppen, die in der Tat von Osten her hinter die mamlukischen Linien gelangt waren, angreifen. Am Rande von ar-Raidānīja entbrannte eine heftige, für beide Seiten verlustreiche Schlacht. Nun glückte es den Osmanen, weitere Angriffswellen in zwei Säulen vorzutragen. Die eine drang durch die entstandene Bresche unverzüglich gegen Kairo vor, die andere, mit starker Feuerkraft ausgestattet, beschoß das Lager Ṭūmānbegs. Die dort konzentrierten Truppen hielten dem kaum eine halbe Stunde stand und flüchteten. Der Sultan fand sich von wenigen Getreuen umgeben. Eine Zeitlang, Ibn Ijās spricht von zwanzig Graden, also mehr als einer Stunde, wehrten sie sich, dann mußten sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erkennen. Ṭūmānbeg hieß die Sultansstandarten einrollen und schaute, wie er in dem Kampfgetümmel unentdeckt entkomme. Unterdessen war die zweite Angriffssäule umgeschwenkt und ebenfalls gegen das Lager Ṭūmānbegs vorgestürmt, das nun ohne nennenswerte Verteidigung war. Die großen Vorräte an Stoffen, Waren, Zelten, Vieh, alles fiel den Feinden in die Hände, ebenso die Geschütze und das Schwarzpulver. Wenig später drang das osmanische Heer in die Stadt Kairo ein. Zu allererst öffnete man die Gefängnisse, in denen ja auch Osmanen einsaßen. Gleichzeitig begann ein erbarmungsloses Plündern. Wieder waren Reit- und Lasttiere sehr begehrt, denn sollte man das geraubte Gut etwa selber tragen? Aus den Mühlen führte man die Maultiere und Pferde weg, entriß den Wasserverkäufern ihre Kamele – was schreckliche Folgen haben würde, denn nur diese Lasttiere versorgten die volkreiche Stadt mit Trinkwasser, das vom Nil herangebracht werden mußte. Außer auf die Stoffe hatten es die Plünderer auf bartlose Jünglinge und schwarze Negersklaven besonders abgesehen, behauptet Ibn Ijās. Einzug der Osmanen in Kairo Am 23. Januar 1517, dem letzten Tag des 922. Jahres des Mondkalenders, hielt der Kalif al-Mutawakkil, der bei Marǧ Dābiq in Gefangenschaft geraten war, Einzug in Kairo, und mit ihm die Wesire Selims und Teile der osmanischen Truppen. In dem

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Zug sah man auch die drei Oberrichter, die sich seit der Niederlage bei Aleppo im Gewahrsam des Feindes befunden hatten, und Ḫairbeg, den ehemaligen mamlukischen Statthalter, sowie weitere Verräter, darunter den einstigen Verwalter der Getreidespeicher des Mamlukensultans. Vom Triumph-Tor in der nördlichen Stadtmauer aus durchquerte man den Kern der Metropole. Ausrufer gaben kund, daß die Bevölkerung nichts mehr zu befürchten habe und wieder ihren Alltagsgeschäften nachgehen möge. Niemand dürfe einen tscherkessischen Mamluken verstecken, und wer wisse, wo sich einer verberge, und dies nicht anzeige, werde erhängt. Außerdem solle man den Sultan Selim, den „siegreichen König“, mit lauten Jubelrufen rühmen. Das gemeine Volk sei dieser Aufforderung in einer Weise nachgekommen, wie die Osmanen es noch nie erlebt hätten, vermerkt Ibn Ijās bitter. Für die Mamluken und ihre Angehörigen gab es freilich keinen Pardon. Überhaupt alle, die in den Verdacht gerieten, mit dem alten Regime in Verbindung zu stehen, mußten es geschehen lassen, daß man in ihre Häuser eindrang und alles raubte, was von Wert war. So ging der letzte Tag des Jahres 922 zu Ende, der unglücklicherweise auf einen Freitag fiel. Die Verfolgung der Mamluken wurde in den nächsten Tagen mit ungeminderter Härte fortgesetzt; überall spürte man sie auf, in den Gärten von alMaṭarīja, auf den Friedhöfen. Man schleppte sie vor Selim, der sie enthaupten ließ. Ein Beduinenscheich entdeckte jenen Emir, der einst als Botschafter Qānṣauh alĠaurīs von den Osmanen so übel behandelt worden war. Jetzt war er von Wunden bedeckt, hatte sich in der Schlacht des Vortags ein Bein gebrochen. Mehr tot als lebendig, zerrte man ihn vor Selim. Dieser, den man eben in der Freitagspredigt als „Sultan, Sohn eines Sultans, Herrscher über die zwei Kontinente und die zwei Meere, Zerschmetterer der zwei Heere, Sultan der zwei Irak, Diener der zwei Heiligtümer“127 hatte preisen müssen, ließ sich nicht nehmen, an dem Emir in sadistischer Manier sein Mütchen zu kühlen: Er befahl, den Sterbenden auf einen Esel zu heben, ihm einen blauen – das ist die Farbe der Dummen – Turban aufzusetzen und daran Narrenschellen zu befestigen; in diesem Aufzug sollte er durch Kairo geführt werden. Doch bevor es dazu kam, war der Emir tot. Das letzte Aufflackern des mamlukischen Kampfesmutes Die Jagd auf die Mamluken nahm in den nächsten Tagen abscheuliche Ausmaße an, und viele Menschen, die mit dem untergegangenen Sultanat gar nichts zu tun gehabt hatten, wurden ebenfalls dahingemetzelt. Im Lager Selims sammelten sich die Köpfe, er gab den Befehl, zwischen Stangen Leinen auszuspannen und die grausige Ernte daran zu befestigen. Niemand kleidete sich noch auf tscherkessische Art, alle bedeckten sich mit dem ägyptischen Turban. Entgegen den Aufforderungen, das Plündern unverzüglich zu unterlassen, wüteten die osmanischen Truppen ungehindert weiter. Selim war nicht völlig Herr seiner Streitmacht, und er scheute sich

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für jedermann sichtbar, die Regierung Ägyptens in die eigenen Hände zu nehmen. Die Schlüssel der Festung, auf der die mamlukischen Sultane residiert hatten, wies er von sich. Stattdessen schlug er sein Lager im Vorort Bulaq auf, wo die Häfen Kairos lagen. Hier, unmittelbar neben der Kaimauer, dünkte ihn der beste Lagerplatz für seinen Aufenthalt im eroberten Land.128 Am 26. Januar war er selber einmal durch die Stadt gezogen, um sich vom Pöbel bejubeln zu lassen, aber ansonsten schien er den Ägyptern zu mißtrauen. Die Herrschaft der Mamluken war zwar bei der Bevölkerung verhaßt gewesen, und Ibn Ijās kennt genug Beispiele dafür, daß Einwohner Kairos den osmanischen Spähern behilflich waren, der Tscherkessen habhaft zu werden. Aber der Argwohn Selims war nur zu berechtigt, wie sich einen Tag später herausstellte. Während Selim sich als den unbezwingbaren Sieger feiern ließ und sein Heer Hab und Gut der Bevölkerung zusammenraffte, war es Ṭūmānbeg gelungen, genügend entschlossene Männer um sich zu scharen, um einen Angriff auf die in Bulaq aufgeschlagenen Zelte der Osmanen zu wagen. In der Nacht zum 28. Januar sah sich Selim plötzlich umzingelt, die Angreifer schleuderten Brände, so daß alles in Flammen aufging und die Überrumpelten sich nur mit Mühe und Not und unter vielen Verlusten ihrer Haut wehrten. Das einfache Volk beteiligte sich nun auf der Seite Ṭūmānbegs an dem blutigen Ringen, das den ganzen folgenden Tag fortdauerte und die Besatzer in schwere Bedrängnis brachte. Die Kämpfe dehnten sich rasch auf alle Quartiere aus, in denen sich osmanische Truppen niedergelassen hatten, und Beduinen überfielen das Lager in ar-Raidānīja, das sich nach dem gerade erst sechs Tage zurückliegenden Debakel der Mamluken nun in osmanischen Händen befand. Ibn Ijās schildert im einzelnen, wie der Krieg in den Vierteln von Kairo tobte, bald auf diese, bald auf jene Vororte übergriff und von beiden Seiten mit unerbittlicher Grausamkeit geführt wurde. Rühmten die Prediger am Freitag, dem 23. Januar, den Osmanen Selim, so mußten sie eine Woche später vielerorts wieder Ṭūmānbeg nennen. Dieser hatte jedoch nicht die Kraft, sich zu behaupten und die Eroberer aus Kairo zu verdrängen. Sobald ihm dies klar wurde, faßte er einen fatalen Entschluß: Er floh nach Oberägypten, wo die Mamluken nach wie vor die Macht ausübten.129 Für Kairo hieß dies, daß es nun ohne die geringste Möglichkeit der Gegenwehr dem Wüten der durch die Ereignisse der letzten Tage aufs äußerste gereizten Osmanen ausgesetzt war. Vor allem gegen die Tscherkessen richtete sich der Zorn der Eroberer, Hunderte wurden ergriffen und getötet, selbst die großen Moscheen und die Mausoleen waren den Okkupanten nicht heilig. Einzig der Kalif al-Mutawakkil wurde von ihnen geachtet. In seinen Palast flüchteten sich die Nachkommen der tscherkessischen Sultane und andere, die einst mächtig gewesen waren; in seinem Harem suchten die Frauen der Emire Schutz. Sein Wappen, an der Tür eines Hauses angebracht, sei von den Osmanen respektiert worden und habe den Bewohnern Sicherheit gegeben. Dieser Lauf der Dinge habe al-Mutawakkil sehr

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geschmeichelt, er habe sich vielfältige Hoffnungen gemacht, aber schließlich habe sich die Waage doch nicht zu seinen Gunsten geneigt, bemerkt der Chronist.130 Stabilisierung der Besetzung Der Überfall auf das Lager in Bulaq war, das wurde von nun an deutlich, das letzte Aufbäumen der Mamluken gegen die Eroberer gewesen. Selim gab bekannt, daß die großen Emire, sofern sie sich noch verborgen hielten, in der von al-Ġaurī erbauten Moschee zusammenkommen sollten; die Osmanen würden ihnen Pardon gewähren. Selim erschien selber bei denen, die auf sein Wort vertrauten. Er schrie sie an, spie ihnen ins Gesicht, stellte sie danach unter Arrest. Besser erging es dem Emir Ǧānbirdi al-Ġazālī, der hohe Ämter in Ägypten bekleidet hatte. Der Niederlage bei ar-Raidānīja war er mit seinem Anhang entkommen, wie es hieß, zunächst nach Gaza. Nun nahm er von außerhalb Kairos mit Selim Verbindung auf, erlangte für sich und die Seinigen Verzeihung und ritt wenige Tage später unbehelligt in die Stadt ein. Der Schutzbrief des Sultans wurde, an einer Stange befestigt, vor Ǧānbirdi al-Ġazālī hergetragen. Für Ibn Ijās steht außer Frage, daß auch dieser Emir ein Verräter war, der sich schon lange vorher die Gewogenheit Selims gesichert habe, und wahrscheinlich hat Ibn Ijās recht. Die Mamluken Ǧānbirdis, etwa vierhundert, freuten sich allerdings nur einen Tag ihrer Freiheit. Dann ließ Selim sie festnehmen – man konnte ihm eben nie trauen, schreibt der Chronist. Auch Ṭūmānbeg, der sich nach Bahnasa durchgeschlagen hatte, gab seine Sache verloren und entsandte den Richter dieses Ortes zu Selim, um bei dem Sieger Schonung zu erflehen. Um diese Zeit, in der ersten Februarhälfte 1517, entschloß sich der osmanische Sultan, doch auf der Festung ein standesgemäßes Quartier zu beziehen. Er befahl der einheimischen Bevölkerung in den Vierteln am Fuße der Festung, unverzüglich die Häuser zu räumen. Die Kairoer wehrten sich, verengten die Gassen, damit sie für Berittene unpassierbar wurden, aber es half alles nichts. Im Triumphzug begab sich Selim in die ehemalige Residenz der Mamlukensultane. Ibn Ijās läßt seinem Abscheu gegen die Besatzungsmacht freien Lauf: Ohne alles Maß war die Gewalt, unter der die Ägypter zu leiden hatten; nach Belieben mordeten und raubten die Osmanen; ehe sie das Land eroberten, verbreitete man die Mär, daß ihre Herrschaft gerecht und milde sei; nichts davon stimmt, nicht einmal untereinander vermögen sie Ordnung zu halten, eine strenge Rangfolge, wie sie bei den Mamluken üblich war, sucht man bei ihnen vergebens; sie sind eben Barbaren, denn kaum haben sie die Festung bezogen, da machen sie aus ihr einen Pferdestall, und überall türmt sich der Mist; den Marmor, mit dem die Mamluken die Gebäude ausschmückten, reißen sie von den Wänden und schleppen ihn zum Hafen hinunter, um ihn nach Istanbul zu verschiffen; und auf dem Platz am Fuße der Festung haben die Osmanen drei große Zelte aufgeschlagen, in dem einen lagern große in den

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Boden eingelassene Krüge mit Bier, in dem zweiten genießen sie Haschisch, im dritten findet man bartlose Jünglinge, die „wie in ihrer Heimat üblich, ihrem Gewerbe nachgehen“.131 Und auch sonst verstehen die Osmanen nichts vom Islam. Da haben sie, kaum daß sie Kairo in ihre Gewalt brachten, den Richtern die Ausübung ihres Amtes verboten und einen eigenen eingesetzt, den sie großspurig den „Richter der Araber“ nennen – was in den Ohren der Kairoer wie „der Richter der Beduinen“ klingt. Wer einen Ehekontrakt oder einen anderen Vertrag abschließen will, muß sich zu diesem Menschen bequemen, und bevor er irgendetwas erreicht, muß man einen größeren Geldbetrag einhändigen, von dem jener nur einen geringen Teil den ägyptischen Schreibern und Notaren weiterreicht und den Überschuß in einer Kiste verschließt, um ihn dem osmanischen Fiskus zuzuführen. Das Schlimmste aber ist, daß dieser „Richter der Araber“ „dümmer als ein Esel“ ist, so daß die Kairoer wichtigste Angelegenheiten des Alltags nicht den Bestimmungen der Scharia entsprechend regeln können und ohne ihre Absicht in einen Zustand der Sündhaftigkeit geraten.132 Die Inbesitznahme Ägyptens durch die Osmanen empfindet Ibn Ijās als eine Besudelung der islamischen Ehre des Landes. Der 11. Rabīʿ al-auwal (3. April 1517), der Vorabend des Festes des Prophetengeburtstags, trat ein, ohne daß die neuen Herren davon irgend Notiz genommen hätten, klagt der Chronist. Früher waren um diese Zeit die Vorbereitungen auf das Fest in vollem Gange gewesen. Bei Anbruch der Nacht hatten sich die Oberrichter und die mächtigen Emire auf der Zitadelle getroffen, um ein Festmahl einzunehmen; die Koranleser waren mit Gaben bedacht worden. Als Selim nun auf der Festung seine Residenz genommen hatte, war ihm auch das Prunkzelt gezeigt worden, das einst Qaitbai für 30 000 Dinare hatte anfertigen lassen, eigens für diese Feier. Es war so groß, daß man an die fünfhundert Schiffer aus den Häfen herbeirief, die beim Zusammenbauen Hand anlegen mußten. Selim war der Wert dieses Zeltes unbekannt, meint Ibn Ijās – oder war er ihm nur zu bekannt? Denn er verkaufte alle Teile für insgesamt vierhundert Dinare, und die Händler, die es erwarben, zerschnitten den Stoff in kleine Bahnen, die sie als Vorhänge unter das Volk brachten. Dieses Zelt, schreibt Ibn Ijās, gehörte „zu den Insignien des Reiches, und nun wurde es um einen geringen Preis veräußert! Die Herrscher nach Selim vermißten es, und so war durch Selim ein großer Schaden angerichtet worden, was man zu den Untaten zählt, die er in Ägypten beging.“133 Das Ende Ṭūmānbegs Anfang März 1517 war Selim nichts anderes übriggeblieben, als die drei Oberrichter, die er in Aleppo gefangen hatte, wieder in ihre Ämter einzusetzen. Auch bei der Bewältigung anderer Aufgaben hatte er auf einheimische Fachleute zurückgreifen müssen, so bei der Lösung der höchst wichtigen Frage, was mit dem Land werden

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solle, das als Dienstlehen im Besitz der Mamluken gewesen war. Alle Maßnahmen, die Ordnung wiederherzustellen und Ägypten in eine Provinz des Osmanischen Reiches zu verwandeln, wurden allerdings in beklemmender Ungewißheit über zwei Kernfragen getroffen, deren eine langfristige Planungen, deren andere eine möglichst rasche Entscheidung verlangte. Eine der wichtigsten Aufgaben der mamlukischen Herrschaft war der Schutz des bebauten Landes vor den Beduinen gewesen. Nach der Niederlage bei ar-Raidānīja war der Ostteil des Deltas von solchem Schutz entblößt, und Selim mußte schon Anfang März eine 1500 Mann starke Abteilung des osmanischen Heeres beauftragen, die Beduinen, die dorthin vorgedrungen waren und nach Beute suchten, zurück in die Wüste zu treiben. Den Befehl über diese Unternehmung vertraute er dem Emir Ǧānbirdi al-Ġazālī an.134 Es war eine Sache, die tscherkessischen Mamluken im Rausch des Sieges niederzumachen, aber es war eine ganz andere, Ägypten zu befrieden und die Tätigkeit der Fellachen so weit gegen Übergriffe zu sichern, daß die Kosten, die die Eroberung des Landes verursacht hatte, wenigstens annähernd beglichen werden konnten, von einem Gewinn gar nicht zu reden. – Rasch zu lösen war dagegen die Frage, was mit Ṭūmānbeg werden sollte, der zwar um einen Pardon eingekommen war, jedoch, wie man hörte, nicht in den Bemühungen nachließ, von Süden her einen Widerstand gegen die Eindringlinge aufzubauen. Ṭūmānbeg spielte den Kalifen und anderen Würdenträgern, die überlebt hatten, Botschaften zu, in denen es hieß, es könne schon sein, daß sie ihn vergessen hätten; er aber vergesse sie nie. Ṭūmānbeg schlug vor, die Osmanen sollten sich mit ihrem Heer bis nach aṣ-Ṣālihīja im Nordosten des Deltas zurückziehen. Das Recht der Münzprägung und die Nennung des osmanischen Herrschers in der Freitagspredigt wolle man Selim zugestehen, die formale Herrschaft über Ägypten also, und natürlich auch einen jährlichen Tribut, dessen Höhe man aushandeln möge. Lehne Selim dieses Angebot ab, dann sollten bei Gize die Waffen entscheiden. Der osmanische Sultan rief den Kalifen, die Oberrichter und einige seiner Wesire zu sich. Er nahm die Drohung ernst, denn Ṭūmānbeg hatte in seiner Botschaft dem Eroberer versichert, er habe dreißig hohe Mamlukenemire mit ihren Truppen und zahlreiche Beduinen um sich geschart und verfüge nun über ein Heer von 20 000 Mann. Selim unterzeichnete ein Antwortschreiben, dessen Inhalt Ibn Ijās anscheinend nicht in Erfahrung brachte; vermutlich ging Selim in gewissem Grade auf die Forderungen ein. Die vier Oberrichter und der Sekretär sowie einige Osmanen waren ausersehen, diese Nachricht zu überbringen. Bei Bahnasa wurde die Gruppe von Beduinen und Mamluken überfallen und ausgeraubt; die Osmanen, die die Reisenden begleitet hatten, wurden ermordet. Aus alledem schloß Selim, daß Ṭūmānbeg nichts weniger suche als den Frieden. Er ließ eine Anzahl der Mamlukenemire, denen er Pardon zugesichert hatte, die Untat büßen, und setzte dann Ende März mit dem Heer über den Nil, um es bei Gize in Stellung zu bringen. Die Schlacht, die am 10. Rabīʿ al-auwal 923 (2. April 1517) ge-

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schlagen wurde, war nach den Worten des Chronisten noch blutiger als das Treffen bei ar-Raidānīja. Sie endete mit der Niederlage Ṭūmānbegs, der der Artillerie der Osmanen nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte.135 Ṭūmānbeg selber entkam dem Gemetzel und fand Unterschlupf bei lokalen Notablen, vergleichbar den Banū Baġdād. Seine Gastgeber schworen ihm auf den Koran, daß sie ihn nicht ausliefern würden. Das taten sie auch nicht; vielmehr fügte es sich, daß eine Beduinenschar den Gast in ihre Gewalt brachte, und was sollte der Gastgeber da anderes tun, als Selim um Hilfe gegen die Rechtsbrecher anrufen? Die Osmanen reagierten prompt. Sie schickten Entsatz, der, kaum daß er angelangt war, den Flüchtigen in Fesseln legte, und so glückte der listige Plan gegen Ṭūmānbeg. Er trug ein Beduinengewand, als er Selim in dessen Zelt bei Imbaba vorgeführt wurde. Bis zum 22. Rabīʿ al-auwal (14. April 1517) hielt man Ṭūmānbeg dort in Gewahrsam. Dann gab Selim den Befehl, auf das andere Ufer überzusetzen. In einem Geleitzug von vierhundert osmanischen Soldaten führte man Ṭūmānbeg, dessen Gefangennahme die Kairoer nicht hatten glauben wollen, von Bulaq aus durch das aš-Šaʿrīja-Tor in die Stadt hinein. In dieselben Beduinenkleider gewandet, die er bei dem inszenierten Überfall getragen hatte, saß er in Fesseln auf einem Pferd, ungewiß darüber, welches Schicksal ihm bevorstehe. Als man am Zuwaila-Tor angelangt war, löste man ihm die Fesseln. Da wußte er, daß er gehängt werden sollte. Er trat an den Rand der Mauer oberhalb der Toröffnung und rief den Anwesenden zu, sie sollten mit ihm dreimal die erste Sure des Korans beten. So geschah es. Und dann sagte er dem Henker: „Tu deine Arbeit!“ Dieser legte ihm den Strick um den Hals, und indem man Ṭūmānbeg hinabstürzte, riß der Strick, und der Unglückliche fiel auf die Schwelle des Tores. Man mußte ihn ein zweites Mal aufknüpfen, damit er zum Zeichen des Triumphes der osmanischen Sache dort drei Tage hänge; eine Entehrung, wie sie noch nie einem ägyptischen Herrscher zugefügt worden sei. Erst dann durfte sein Leichnam in die Medresse des Sultans al-Ġaurī gebracht und beigesetzt werden, und „es war mit ihm dahingegangen, als wäre er nie gewesen“.136

3.3 Stiftungen Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört mein Abscheu dagegen, irgendetwas, das mir für die Derwische gestiftet wurde, für mich selber und für meine Nachkommen zu beanspruchen. So stiftete mir jemand ein Viertel seines Dienstlehens im Bezirk Baršūm aṣ-Ṣuġrā137 und ein anderer die Hälfte des Gewinns einer Sesammühle und einer Getreidemühle und anderes; ich nahm mir aber aus den einlaufenden Nutzungsgebühren und den Ertragsabgaben nichts für mich unter Übergehung meiner Brüder, sondern zehrte davon nur, als wäre ich einer der Derwische. Der Grund dafür ist folgender: Aus Indizien schließe ich, daß der Stifter, wüßte er nicht von meiner Freigebigkeit und von meiner fehlenden Habgier, mir jene Güter nicht zukommen ließe, und zwar weil seine Seele ihm nicht erlauben würde, daß dies in die Hände

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eines Mannes gelangt, der alle irdischen Reichtümer, die ihm zufallen, für sich selber verbraucht. Eine solche Charaktereigenschaft findet man in der heutigen Zeit nur selten. Denn ich erlebte sogar, wie jemand den Anteil, der in der Stiftungsurkunde den Derwischen vorbehalten war, abänderte und auf den eigenen Namen oder den Namen seiner Nachkommen überschrieb. Als dann die Überprüfung der Einkünfte (aus Stiftungen) kam, konnte er nie und nimmer diese Urkunde vorweisen; er versuchte stattdessen, eine vorgebliche Sondererlaubnis und andere Zeugnisse gegen die Ansprüche der eigentlichen Berechtigten ins Feld zu führen. Allah möge sich ihm gnädig zuwenden und ihm solche Liebe zu irdischem Gut verzeihen! Sie allein ist es nämlich, die ihn in derartiges verstrickte. Preis sei Allah, daß er mich vor so etwas bewahrte! Und dies, obwohl die Urkunden in Betreff der Güter, die mir und meinen Nachkommen gestiftet wurden, ausdrücklich erklären, daß der Stifter alle Erträge mir und nach meinem Tode meinen Nachkommen zufließen läßt, so daß zunächst ich und dann meine Nachkommen ohne einen Teilhaber zu deren Genuß berechtigt sind. Ich verhalte mich so selbstlos, weil ich der Ansicht bin, daß alle meine Einkünfte mir und meinen muslimischen Glaubensbrüdern gemeinsam zustehen; jedem, der bedürftiger als ich ist, gewähre ich vor mir und anderen den Vortritt, wie ich es in diesem Buch noch ausführlich darlegen werde. Der Verzicht auf eigene Inanspruchnahme bedeutet demnach, das unbestreitbare Recht meiner Brüder zu erfüllen und dem nachzukommen, was der Stifter von mir erwartete, nämlich daß ich es mir nicht zum Nachteil der Brüder aneignen werde. Ich kenne einen Meister, der behauptet, ich taugte nicht dazu, sein Schüler zu sein. Die Derwische seiner Klause gerieten mit ihm in Streit, weil er eine der Einkunftsquellen der Klause für sich allein nutzte, obwohl er über genügend eigene Einnahmen statthafter Herkunft und aus regelmäßigen Zahlungen verfügte und jenes nicht nötig gehabt hätte. Er und die in seiner Klause in ritueller Gegenwart vor Allah Lebenden erschienen vor dem Richter, der für die Überprüfung der Urkunden zuständig war. Der Meister gab ihnen nichts, und so verließen sie seine Klause. Er hätte sie an den Einnahmen beteiligen müssen, denn ohne seine Derwische wäre er kein Meister, und nur in ihrem Namen hatte er jene statthaften Einkünfte erhalten, denn er hatte diesen Zweck in seinem Gesuch (dem Emir) vorgetragen. Preis sei Allah, daß ich immer wieder Dinge, die nur mir zustehen, unter das mische, was den Derwischen zufließt, ohne daß ich sie das wissen lasse. Ich handle so nach dem Prophetenwort: „Niemand von euch gilt als gläubig, ehe er nicht für seinen Bruder genau das liebt, was er für sich selber liebt!“138 Mein Sohn ʿAbd ar-Raḥmān verlangte von mir, als er heiratete und Geld brauchte, ich sollte die Benutzergebühr der Sesammühle für mich selber behalten. Ich schlug ihm das ab und sagte ihm: „Nimm nach meinem Tod nur ja nichts von den dir gestifteten Mitteln für dich selber außer in Notzeiten, niemals jedoch, wenn es dir gutgeht!“ Er gehorchte mir. Verstehe das!139 Ich meine nicht, daß ich neben dem erhabenen Allah Eigentum an einer Sache habe, die er mir gibt. Vielmehr empfange ich sie und verzichte unverzüglich darauf zugunsten ihres wahren Eigentümers, nämlich Allahs. Allein aus Höflichkeit gegen ihn weise ich sie nicht zurück, sondern nehme sie zunächst. Denn er, der Segensreiche und Erhabene, hat alles, was in die Existenz getreten ist, nur für seine Diener geschaffen, ist er selber doch gänzlich frei davon, der Menschen zu bedürfen. Also nehme ich diese Sache von ihm entgegen und behalte sie so lange, daß ich sie ernsthaft in Besitz hatte; hierdurch ergibt sich für mich die Verpflichtung, ihm für diese Sache zu danken, über die er mich zu seinem Stellvertreter gemacht hat. Hätte diese Gabe nämlich keinen Bezug zu mir, dann könnte niemand mit Recht für ein Gnadengeschenk wie Speise, Trank oder dergleichen danken, sondern lediglich für das Gnadengeschenk, das darin besteht, daß Allah die betreffende Sache ins Dasein gerufen und (die Schöpfung) damit versorgt

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hat. Die letztere Art des Dankens ist diejenige der Engel, denn es wird uns nirgends mitgeteilt, daß sie Dinge wie Speisen, Getränke, Reittiere, Frauen für den Geschlechtsverkehr, Häuser und anderes benötigen, wessen allein wir bedürfen. Hierzu die folgende Erläuterung: Das Wesen der Gabe besteht darin, daß ein Gut aus dem Eigentum des Gebenden in dasjenige des Nehmenden übergeht; auf das Verhältnis zwischen uns und dem Schöpfer trifft diese Definition allerdings nicht zu, denn der Sklave und alles, was ihm in die Hände gelangt, gehören nach übereinstimmender Auffassung dem Herrn, und keinesfalls laufen das Eigentum Allahs und das Eigentum des Menschen an ein und derselben Sache auf das gleiche hinaus. Allah ist der tatsächliche Eigentümer, der Mensch ist es nur im übertragenen Sinne, und zwar im Hinblick auf die Grenzen, die den Geschöpfen, nicht aber Allah gesetzt sind. Ein Sklave kann bestenfalls stellvertretend eine Sache in Besitz nehmen und über sie in billigenswerter Weise verfügen, sei es für sich selber, sei es für andere, ganz so wie ein einfacher Bevollmächtigter. Nach der Ausdrucksweise des Werkes Die Methode des großen Lehrers der schafiitischen Rechtsschule Muḥjī d-Dīn an-Nawawī: Der Sklave wird ganz offensichtlich nicht zum Eigentümer, wenn ihm sein Herr eine Sache in Besitz gibt. Nun kann man fragen: „Wenn der Mensch als Knecht Allahs nichts zu eigen hat, weshalb ist es dann verboten, sein Vermögen zu rauben?“ Darauf ist zu antworten: „Dies ist nicht unter dem Blickwinkel des Eigentums, das der Mensch gegenüber Allah behaupten könnte, verboten, sondern nur insofern, als Allah ihm eine Sache zur stellvertretenden Verwendung übertragen hat, und zwar diesem einen Menschen, wie schon angedeutet wurde. Da nun ein Räuber nimmt, worüber Allah nicht ihn, sondern jemand anderen zum Stellvertreter eingesetzt hat, verletzt er das Recht, und deswegen wird er bestraft. Allah will gewissermaßen sagen: ‚Wer jemandem ohne Beachtung der Scharia etwas nimmt, den bestrafe ich.‘ Diese Strafe ist eben dadurch begründet, daß sich der Räuber etwas unter Verletzung der schariatischen Vorschriften aneignet, nicht weil jene Sache Eigentum eines Menschen gegenüber Allah wäre! Versteh dies!“ So ist die schariatische Ursache geartet, die die „Leute“ gefunden haben. Es gibt Meinungsverschiedenheiten über die Ursache der schariatischen Bewertung des Eigentums, nicht aber über diese Bewertung an sich. Die „Leute“ sind sich darin einig, daß die gewaltsame Aneignung verboten ist; sie meinen ohnehin, daß der Mensch als Knecht Allahs diesem gegenüber nichts zu eigen hat und daß er die Strafe verdient, mit der Allah den Räuber bedroht. Die „Leute“ stimmen demnach mit den Rechtsgelehrten darin überein, daß der Raub verboten ist und bestraft werden muß; die Meinungsverschiedenheit über die Ursache hierfür berührt diese Bewertung nicht. Unsere Ansicht… wird dadurch bekräftigt, daß das Verbot der gewaltsamen Inbesitznahme einer Sache nicht nur unter der Voraussetzung gilt, daß der Geschädigte tatsächlich der Eigentümer ist. Denn die Rechtsgelehrten meinen, daß auch der Raub von Dingen, die grundsätzlich dem Muslim nur zur Verfügung stehen wie etwa Unrat, an dem ein Muslim kein Eigentum erwerben kann, verboten ist.140 Im übrigen, mein Bruder, bleibe dir nicht verborgen, daß der Standplatz des schauenden Erfassens der Tatsache, daß der Mensch gegenüber Allah nichts zu eigen hat, eben der ist, den der Adept in dem Augenblick einnimmt, in dem er den Pfad betritt; es handelt sich also noch nicht um einen kostbaren Standplatz, wie jemand vermuten mag, der nie den Pfad gewandert ist und deshalb sagt: „Dies ist der Standplatz einer ausgewählten Schar!“ Wäre jener mit dem Pfad vertraut, wüßte er, daß der Adept, wie ich bereits erläutert habe, schon ganz am Anfang mit dieser Einsicht beschenkt wird: Er gedenkt unentwegt Allahs, bis dieser ihm in seinem Inneren aufscheint, und dann bezeugt er, daß alles Eigentum Allahs ist und alles Tun und das wahre Existieren ebenso. Der Prüfstein für die Aufrichtigkeit dessen, der behauptet, diesen Standplatz in intuitivem Erkennen errungen zu haben, ist folgendes: Hätte er tausend Dinare und Traglasten mit Gewändern und Gerätschaften und würde ihm dies alles aus seinem Haus

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gestohlen, dann dürfte sich ihm angesichts des Verlustes seines Besitzes kein Härchen regen, und er dürfte sich allein darüber besorgt zeigen, daß der Dieb mit dieser Tat einen mangelhaften Glauben an den Tag legt; ja er müßte zu der Meinung gelangen, daß die Knechte Allahs das, was sie brauchen, aus dem Eigentum ihres Herrn nahmen, nicht aus dem seines Knechtes; so müßte bei dem Bestohlenen schließlich die Ansicht überwiegen, daß Allahs Verzeihen auch den Dieb einschließe, weshalb der Bestohlene sich über den Vorfall nicht erregen dürfte. Desgleichen ist der Prüfstein für die Aufrichtigkeit der Behauptung, es gebe keinen Täter außer Allah, darin zu sehen, daß jemand, auf den ein Angreifer mit dem Schwert einschlägt, diesem Angreifer nur aus dem zuletzt genannten Grund zürnt, nämlich daß dessen praktizierter Glaube mangelhaft ist. Wer dies alles intuitiv erfaßt, von dem mag man mit Fug und Recht sagen, er sei überzeugt, daß Eigentum und Taten allein Allah… zukommen und daß die Taten den Geschöpfen lediglich in der Weise beigelegt werden, wie diese Geschöpfe mit der Beachtung des Gesetzes belastet sind.141 Wenn der Bestohlene oder der Angegriffene über den Dieb oder den Angreifer verärgert ist, dann ist klar, daß die Anerkennung Allahs als des einzigen Eigentümers und Täters allein aus dem Wissen, nicht aber aus dem Erkennen herrührt. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, sagte: „Alle weltlichen Güter, über die die Erkennenden verfügen und die sie in Besitz haben, sind ihnen nur in der Art zugeeignet, wie die Tür einem Haus oder der Packsattel einem Esel. Ebenso wenig, wie gilt, daß das Haus die Tür oder der Esel den Packsattel als Eigentum hat, ebenso wenig ist der Mensch vor Allah Eigentümer (von irgendetwas). Die Erkennenden statten Allah daher für seine Gaben nur deswegen Dank ab, weil er ihnen die Macht verleiht, nach schariatischer Weise daraus Nutzen zu ziehen, nicht aber weil er ihnen diese Gaben übereignet hätte.“…Wir haben dies, Allah sei gelobt, völlig durchschaut, und deshalb weiß ich, daß ich angesichts Allahs weder im Diesseits noch im Jenseits Eigentum habe; ich sehe in mir einen Sklaven, der in den Wohltaten seines Herrn versinkt: Ich esse, kleide mich, übe den Beischlaf aus, bezahle allein mit dem Vermögen meines Herrn. Gleichviel, ob er mir etwas gibt oder verweigert, ich habe gegenüber ihm kein Eigentum, außer daß die Gabe auf mich bezogen ist, damit ich ihm dafür danke. Als ich gerade den Pfad der Leute betreten hatte, widerfuhr mir dies: Jemand, den ich nicht kannte, begegnete mir im Basar Ḫān al-Ḫalīlī, packte mich am Kragen und schlug mir immerfort auf den Nacken, indem er schrie: „Der hier hat meine Frau entehrt!“ und mich hinwegzerrte, bis ich nahe am Gäßchen bei der al-Azhar-Moschee war. Da blickte er mir ins Gesicht und sprach: „Ich habe dich verwechselt!“ Ich entgegnete: „Ich bitte Allah für dich um Verzeihung!“ Und nicht ein Härchen an mir zürnte gegen ihn! Im Gegenteil, es freute mich, daß ich auf den Schöpfer jener Bewegungen schauen durfte, mit denen mich der Unbekannte geschlagen, und auf die Worte hören, die er an mich gerichtet hatte. Denn ich wußte hierdurch, daß ich die wahre Erkenntnis Allahs als des einzigen Täters intuitiv erfaßt hatte. – Ebenso erlebte ich, wie man mich zwingen wollte, den Emir Muḥjī d-Dīn b. abī Iṣbaʿ herbeizuschaffen, der sich vor dem Sultan Aḥmad142 verborgen hielt. Die Schergen des Statthalters hatten mich ergriffen und schon ausgestreckt, damit man mich in dessen Gegenwart zweiteile; doch es regte sich an mir kein Härchen, vielmehr begann ich zu lächeln, so daß der Statthalter sich wunderte und sagte: „Laßt ihn laufen!“ Dann bat er den Sultan für mich um Verzeihung. Darauf richtete sich der Zorn des Sultans gegen den Statthalter, man ergriff ihn, er wurde im Turm (der Festung) bestraft und starb nach drei Tagen. Versteh dies und strebe danach, diese Charak-

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tereigenschaft anzunehmen, dann wirst du den rechten Weg gehen! Allah lasse sich deine Rechtleitung angelegen sein! Preis sei ihm, dem Herrn der Welten! 143

*** Ägypten, eine prekäre Eroberung – Die Ausplünderung des Landes – Ein Neuanfang – Streben nach Eigenständigkeit? – Die Zähmung der Beduinen – Aš-Šaʿrānīs Auszug aus der al-Ġamrī-Moschee – Die Künste eines Seiltänzers – Legendenhafte Berichte über aš-Šaʿrānīs Weg zur eigenen Klause – Fakten? – Weitere Geldquellen – Selims Schatten über Ägypten – Aš-Šaʿrānī und Ǧānim al-Ḥamzāwī

Ägypten, eine prekäre Eroberung In Kairo und Umgebung fühlte sich Sultan Selim nirgends sicher. So kam es, daß er während seines knapp achtmonatigen Aufenthalts144 seine Zelte mehrfach verlagerte. Im Mai 1517 siedelte er auf die Nilinsel ar-Rōḍa über, große Teile seines Hofstaates nahmen in Fustat Quartier. Dem Sultan bereitete es in dieser Zeit, nach dem schmachvollen Ende Ṭūmānbegs, ein großes Vergnügen, daß man einen Schattenspieler vor ihn führte, der amüsant ins Bild zu setzen verstand, wie der letzte Mamlukenherrscher am Zuwaila-Tor gehängt wurde, wobei es, wie wir hörten, eine Panne gegeben hatte. Selim legte dem Schattenspieler einen osmanischen Kaftan aus golddurchwirktem Samt um die Schultern, händigte ihm zweihundert Dinare aus und befahl: „Wenn wir nach Istanbul reisen, komm mit uns, damit mein Sohn sich das ansehen kann!“145 Am Tod Ṭūmānbegs konnte Selim sich weiden, aber der Triumph, der ihm zugefallen war, mochte ihm bisweilen schal vorkommen angesichts der Schwierigkeiten, die von nun an auf den Osmanen lasteten. Denn was sollte aus dem eroberten Land werden? Die Seßhaften, die als einzige die Kosten für den Krieg und die Besatzungstruppen erwirtschaften konnten, wurden unablässig durch die räuberischen Beduinen bedroht. Deren Abwehr würde den Haushalt erheblich strapazieren und zudem den Sultan zwingen, ein bedeutendes Truppenkontingent in Ägypten in Bereitschaft zu halten. Ein größeres Heer aber mit womöglich ehrgeizigen Offizieren konnte jederzeit zu einem Herd von Unbotmäßigkeit und Rebellion gegen die Machthaber im fernen Konstantinopel werden. Noch ehe Selim aus Ägypten aufbrach, lud er den Scheich der Beduinen des Gebietes von al-Buḥaira146 zu sich, jenen, der ihm Ṭūmānbeg in die Hände gespielt hatte. Auf die Verdienste um die osmanische Sache bauend, stellte sich der Beduinenfürst mit einigen Verwandten bei Selim ein, doch der Sultan zögerte keinen Augenblick, die Gäste, denen er freies Geleit versprochen hatte, in Fesseln zu legen und auf der Festung einzukerkern. Dies geschah einen Monat, bevor Selim nach Syrien zurückmarschierte, und wiederum knapp zwei Monate später verfiel Kairo eines Tages in helle Aufregung: Der Scheich der Beduinen von al-Buḥaira habe seine

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Ketten durchgefeilt, sich mit einem Strick aus der Festung abgeseilt und sei entkommen. Schon diese Nachricht genügte, um die Kairoer zu veranlassen, alle Tore der Stadt zu schließen.147 Jedenfalls war es Selims Politik, die Osmanen nicht allzu sehr in die ägyptischen Angelegenheiten hineinzuziehen. Er verbot den Angehörigen seines Heeres, die Witwen der gefallenen mamlukischen Offiziere zu heiraten. Den ägyptischen Richtern untersagte er strikt, für Osmanen Eheverträge auszuarbeiten und abzuschließen.148 Am 1. Ǧumādā l-āḫira 923 (22. Mai 1517) ordnete Selim an, seine Armee möge sich auf den Abmarsch vorbereiten, der aber erst am 23. Šaʿbān (10. September 1517) geschah. Dieser Befehl hatte die unbeabsichtigte Folge, daß sich die tscherkessischen Mamluken, die den Häschern entgangen waren und sich verborgen gehalten hatten, nach und nach wieder ans Licht wagten, sich nach osmanischer Sitte kleideten und unter das Volk auf den Märkten mischten – ein Verhalten, in dem man die Vorboten der Auseinandersetzungen um die Loyalität zum neuen Herrn erkennen kann, die in den nächsten Jahren Kairo erschüttern sollten. Selim drang darauf, daß alle Osmanen, die eine Ägypterin geheiratet hatten, diese nun verstoßen mußten.149 Das Land, das er erobert hatte, sollte nicht mehr sein als eine Provinz, deren Bevölkerung nach Möglichkeit über keinerlei Verbindungen zur osmanischen Macht verfügen durfte. Die Ausplünderung des Landes Selbstverständlich trachtete der Eroberer danach, mit reicher Beute heimzukehren. Ibn Ijās berichtet, daß die Ausplünderung der Paläste und aller prunkvoll ausgestatteten Häuser rasch vorangetrieben wurde; schließlich wurden alle Stadtteile in Mitleidenschaft gezogen. Überall riß man den Marmor von den Wänden, selbst in Gebäuden, die zu religiösen Stiftungen gehörten. Es hieß, Selim beabsichtige, in Konstantinopel eine Medresse zu bauen, die derjenigen Qānṣauh al-Ġaurīs an Glanz in nichts nachstehen sollte. Zu einer Lehranstalt gehört eine Bibliothek, und deshalb plünderte man die kostbaren Kairoer Bücherbestände aus. Das Raubgut macht den größten Teil der Istanbuler arabischen Handschriften aus, deren Benutzung die heutigen türkischen Behörden allen ausländischen Wissenschaftlern nach Kräften erschweren. Selim wußte, daß alles Material ohne die Menschen, die damit umzugehen vermögen, wenig wert ist. Er befahl daher, aus allen erdenklichen Sparten handwerklicher und geistiger Tätigkeit die herausragenden Könner in die Medresse Qānṣauh al-Ġaurīs zusammenzurufen. Richter, Notare, Verwalter, Kaufleute, Buchkopisten, Leineweber und Teppichknüpfer, Maurer, Zimmerleute, Schmiede, Fachleute für die Auslegung der Böden und Wände mit Marmormosaiken, ja selbst Türhüter und Boten und die Führer der Judenheit von Kairo hatten sich dort zu versammeln. Osmanische Beamte legten willkürlich fest, wer von den Versammel-

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ten nach Konstantinopel reisen mußte; die Opfer wurden in Listen eingetragen. Damit waren sie schon ihrer Freiheit beraubt, denn sie mußten nun Geiseln stellen, ehe sie die für die Reise notwendigen Vorkehrungen treffen durften.150 Noch bevor Selim mit seinem Heer abzog, wurden die Fachleute in Gruppen auf die Reise an den Bosporus geschickt. Ein ums andere Mal kommt Ibn Ijās in seiner Chronik hierauf zu sprechen. Er schätzt, daß 1800 Menschen dieses Schicksal erlitten. Sie wurden mit Schiffen nach Antalya gebracht und setzten von dort ihre Reise auf dem Landweg fort. Die zurückgebliebenen Angehörigen erfuhren nur Gerüchte über das, was die ihnen Entrissenen durchzustehen hatten. Schiffe seien untergegangen, in Konstantinopel wüte die Pest, herrsche schlimme Teuerung. Auch der Kalif al-Mutawakkil entging nicht dem Wunsch Selims, das eroberte Land dergestalt dem Reich einzuverleiben, daß es fürs erste nicht wiedererstarken und seinen Rang in der islamischen Welt zurückgewinnen konnte. Mit einer größeren Anzahl seiner Verwandten mußte sich al-Mutawakkil auf die Reise in das ferne Konstantinopel begeben.151 Gerade die Gefangennahme von Zivilpersonen empfand Ibn Ijās als schmachvoll und erniedrigend. Noch nie sei den Ägyptern ein solches Unrecht angetan worden, klagt er und weist darauf hin, daß nach der Scharia zumindest den Muslimen, die die erdrückende Mehrzahl unter den Verbannten stellten, derartiges nicht angetan werden dürfe.152 Eine andere Maßnahme Selims brachte die Kairoer Bevölkerung noch ärger in Bedrängnis: Alle Grundeigentümer mußten die Rechtmäßigkeit ihres Besitzes nachweisen. Sämtliche Immobilien Kairos wurden in Listen erfaßt, die Eigner mußten die entsprechenden Urkunden vorweisen, in die der Vermerk „überprüft“ eingetragen wurde, nachdem sie eine Gebühr entrichtet hatten. Danach wurde über die Freigabe des Grundstückes entschieden, was selbstverständlich mit weiteren Zahlungen verbunden war. Die Freigabe wurde verweigert, wenn die Immobilie auf den Namen eines tscherkessischen Mamluken eingetragen und dieser noch nicht wieder aufgetaucht war. In einem solchen Fall wurde das Grundstück konfisziert. Auch die Stiftungen wurden diesem Verfahren unterzogen.153 Kurze Zeit später verloren die Nachkommen der Mamluken, die „Söhne der Leute“, wie man sagte, die Einkünfte aus den ihnen einst gewährten Lehen. Es wurden nur noch Urkunden und Bescheinigungen über den Nießbrauch von Stiftungen und anderweitigen Einkünften anerkannt, wenn sie von der mamlukischen Armee ausgestellt worden waren, also wohl mit tatsächlich geleistetem Militärdienst zusammenhingen.154 Nach dem Abzug Selims änderte sich an der Finanznot der osmanischen Besatzungstruppen nichts. Ḫairbeg, den der Sultan als Statthalter eingesetzt hatte, sah sich gezwungen, auch die genannten Bescheinigungen außer Kraft zu setzen.155 Die Niederlage der Mamluken gegen die Osmanen und überhaupt das ganze Jahr 923, das am 12. Januar 1518 endete, gaben Ibn Ijās Stoff zu düsteren Betrachtungen. Die Kriegsbeute, die Selim fortschleppte, war gewaltig. Weit schlimmer

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mußte sich auswirken, daß die Wirtschaftskraft Ägyptens für lange Zeit ruiniert war. Ungefähr fünfzig Erwerbszweige, so schätzt er, seien zum Erliegen gekommen.156 Es gab aber auch Kriegsgewinnler: „Für einige Menschen war das verflossene Jahr unheilvoll, für andere jedoch segensreich; einige erlebten Glück, andere Unglück. Gesegnet war das Jahr für die Verwalter in Ägypten – sie wurden die wahren Könige und verfuhren mit dem Reich, ganz wie es ihnen beliebte… Sie legten die Hand auf die Einkünfte und Dienstlehen, ließen sich dann weiter ins Verderben locken, indem sie sich an den religiösen Stiftungen vergriffen. Niemand vermochte die Bürokraten noch zu bändigen, sie machten, was sie wollten… So wurde der Einmarsch Selims in Ägypten zu einer Barmherzigkeit für die Verwalter und auch für andere Leute, bei denen die Emire und Soldaten der mamlukischen Armee Gelder und Stoffe deponiert hatten – waren letztere in der Schlacht gefallen, dann saßen jene auf den ihnen anvertrauten Gütern, und denen, die dahingegangen waren, war alles verloren. Ein Sprichwort lautet: ‚Die Schicksalsschläge der einen sind der Nutzen der anderen!‘“157 Ein Neuanfang Ḫairbeg, der Verräter, wurde von Selim, als dieser schon Kairo verlassen hatte, in die Statthalterschaft Ägyptens berufen. Ein leichtes Amt war dies gewiß nicht. Ḫairbeg stand vor der Aufgabe, das gedemütigte Land nicht den Beduinen auszuliefern. Er mußte es mithin so weit wiederbewaffnen, daß es sich gegen sie schützen und die verlangten Tributzahlungen nach Konstantinopel abführen konnte. Nach Lage der Dinge mußte Ḫairbeg hierfür die Reste der mamlukischen Armee zusammenziehen, denn außer der osmanischen Besatzungstruppe gab es niemanden, der für den Krieg ausgebildet war. Die Indienstnahme der Tscherkessen mußte aber so vorsichtig geschehen, daß man dem neuen Regime keine Illoyalität gegen Selim nachsagen konnte. Die Janitscharen und eine „die Isfahaner“ genannte Truppe waren in nennenswerter Anzahl in Ägypten zurückgeblieben. Sie waren aber, wie sich rasch zeigte, Ḫairbeg nicht ergeben. Als Selim noch im Januar 1518 Ḫairbeg den Befehl übermittelte, auch diese Kontingente nach Syrien in Marsch zu setzen, meuterten sie.158 Aber knapp zwei Jahre später waren die gleichen Kontingente kaum mehr in Ägypten zu halten. Sie verlangten von Ḫairbeg eine Erhöhung des Soldes oder die Erlaubnis, in die Heimat abzuziehen.159 Ḫairbeg, der den Titel „König der Emire“ trug, blieb keine andere Wahl, als mit aller Vorsicht die alten Kräfte zusammenzuziehen. Schon zwei Tage, nachdem Selim Kairo verlassen hatte, ließ Ḫairbeg ausrufen, die tscherkessischen Mamluken sollten unbesorgt aus ihren Verstecken kommen, er garantiere ihnen die Unversehrtheit. Viele seien der Aufforderung gefolgt, schreibt Ibn Ijās, doch in welchem Zustand seien sie gewesen! In schäbige bäuerische Kleidung gehüllt, hätten sie eher

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den Fellachen als den Angehörigen der ehedem führenden Schicht geglichen. Kurz darauf wurde das Verbot aufgehoben, den Tscherkessen Waffen zu verkaufen. Dies führte zu einem Zerwürfnis zwischen Ḫairbeg und der Besatzungsmacht. Deren Offiziere forderten, man müsse ihnen die gleichen Einkünfte zugestehen, wie sie die Tscherkessen – einst und jetzt anscheinend wieder – bezogen. In dem heftigen Streit schrie Ḫairbeg die Unzufriedenen an, sie sollten mit den Klagen ihren Herrn behelligen, nicht aber ihn, denn er sei nicht der Sultan, der allein das Recht der Vergabe von Dienstlehen besitze. Wütend zückten jene die Waffen gegen Ḫairbeg, dem es mit knapper Not glückte, sich in einen Nebenraum zu flüchten und einzuschließen. – Die tscherkessischen Mamluken hatten zu diesem Zeitpunkt auf ihre traditionelle Kleidung verzichtet, unter welchen Umständen, das hörten wir. Nur durch den Kinnbart unterschieden sie sich noch von den Osmanen. Ḫairbeg befahl nun, die Tscherkessen müßten wieder wie früher angezogen sein, damit man sie leicht erkennen könne. Er begründete dies mit bedauerlichen Zwischenfällen, bei denen wie Osmanen aussehende Tscherkessen Übergriffe verübt hätten.160 – Die Rivalität zwischen den mamlukischen und den osmanischen Angehörigen des Militärs war so erbittert, weil es letzten Endes für beide Seiten um das nackte Überleben ging. Wie immer die Neuverteilung der Dienstlehen und der Berechtigungsscheine, die einen Anspruch auf Unterhaltsleistungen begründeten, ausfallen mochte, es würde nicht genug zur Verfügung stehen. Nicht nur die Tscherkessen, auch die Osmanen verschafften sich ihren Lebensunterhalt zu einem gewissen Teil durch Raub. So wurde im Januar 1518 die Klage laut, osmanische Soldateska reiße in einigen Stadtvierteln die hölzernen Türen und Dächer und eisernen Fenstergitter von den Häusern und verkaufe das Diebesgut um einen geringen Preis. Ibn Ijās beurteilt die Verfehlungen der Besatzungsmacht äußerst streng und nimmt diesen Vorfall zum Anlaß, um alles, was er über deren Sittenlosigkeit schon mehrfach niedergeschrieben hat, zu wiederholen. Der von Selim eingesetzte osmanische Richter schrieb die Schuld an allem Ḫairbeg zu, der sich nicht anders zu helfen wußte, als dem sittenlosen Treiben durch ein Ausgehverbot für Frauen und durch den Befehl, die Märkte bei Sonnenuntergang zu schließen, vorzubeugen.161 Anfang März überbrachte der Emir Ǧānim al-Ḥamzāwī ein Dekret Selims, das Ḫairbeg zwang, den Tscherkessen und den „Söhnen der Leute“ ab sofort den vollen Sold auszuzahlen; dies geschah schon einen Tag später. Die Empfänger der Gelder mußten sich verpflichten, jederzeit für den Abmarsch bereit zu sein.162 Man kann allerdings nicht behaupten, Ḫairbeg habe von da an nur noch auf die alten Kräfte gesetzt. Wegen seines Verrats konnte er ihnen nicht uneingeschränkt vertrauen, und als sie sich einmal in allzu großer, für Ḫairbeg beängstigend großer Zahl im Audienzhof der Festung drängten, rief der „König der Emire“ die Janitscharen zu Hilfe, die die Tscherkessen mit Stockschlägen hinausprügelten. Von da an, es war der Herbst 1518, konnte Ḫairbeg erst recht nicht mehr mit ihnen rechnen.

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Bei einer Sonderzuweisung von Land, dessen Ertrag ihnen nur für einen kurzen Zeitraum zugute kommen sollte – diese Maßnahme darf nicht mit der Übertragung von Dienstlehen verwechselt werden –, brachen die Spannungen auf; die Tscherkessen waren über die Bescheidenheit der Zuteilung, häufig kaum mehr als ein Feddan, empört, der Richter, der die Urkunden ausstellte, beschimpfte sie als Hunde und „Sklavenschuhe“ und verbat sich jede Kritik von ihnen, da sie sich noch längst nicht von ihren vergangenen Verbrechen reingewaschen hätten.163 Streben nach Eigenständigkeit? Schon im Frühjahr 1518 wurde das Gerücht ausgestreut, Ḫairbeg habe von seinem Oberherren die Erlaubnis erhalten, Münzen mit dem eigenen Namen zu prägen und diesen auch in der Freitagspredigt nennen zu lassen. Man argwöhnte in Kairo, sein Ehrgeiz sei mit der Stellung eines Statthalters bei weitem nicht befriedigt. Ḫairbeg strebte in der Tat danach, seine Herrschaft mit dem religiösen Nimbus zu umgeben, der für das mamlukische Sultanat kennzeichnend gewesen war, und damit das wiederherzustellen, dessen Verlust, wie die Bemerkungen Ibn Ijās’ belegen, von vielen Kairoern als besonders schmerzlich und als entehrend empfunden wurde. Im März 1518 richtete er eine Feier des Prophetengeburtstags aus, zu der er zehn Gruppen von Koranlesern, Mahnpredigern und Rechtsgelehrten auf die Festung lud. Doch noch ehe die Veranstaltung begann, brach ein Streit um die Höhe der Gagen aus, der nicht zur Zufriedenheit der Vortragenden beendet wurde. Den Mahnpredigern ließ Ḫairbeg Gewänder, die mit Biberfell besetzt waren, überreichen, forderte sie danach aber zurück und händigte ihnen ein wenig Geld aus. Schließlich begann das Bankett im Audienzhof, eine kümmerliche Angelegenheit, befindet Ibn Ijās, so gering, daß die Osmanen, denen das feine ägyptische Benehmen abging, alles in einem winzigen Augenblick wegschnappten und die Männer der Religion leer ausgingen. Wehmütig denkt Ibn Ijās an die Zeit Qānṣauh al-Ġaurīs zurück, an den Glanz und die Üppigkeit, die das Fest damals umgaben.164 – Auch Ḫairbegs Besuch bei dem Gottesfreund ʿAbd al-Qādir ad-Dašṭūṭī macht deutlich, daß nach der Katastrophe der Niederlage und der Mißachtung der religiösen Würde Kairos durch Selim nun das Herkömmliche wieder gelten sollte. Ḫairbeg nahm die üblichen Ermahnungen zu verantwortlichem Umgang mit den Untertanen entgegen, brach, wie es die Sitte verlangte, in Tränen der Zerknirschung aus, küßte dem Greis die Hand. Der osmanische Zeitzeuge Sidi ʿAlī b. Dāʾūd spricht von einer den Gottesfreunden sehr gewogenen Politik Ḫairbegs und belegt dies mit mehreren Beispielen.165 In den Augen des Chronisten Ibn Ijās konnte Ḫairbeg jedoch nie und nimmer ersetzen, was ein für allemal dahingesunken war. Ibn Ijās hielt die Osmanen für Säufer und Barbaren, und ähnliche Züge entdeckte er nun auch an Ḫairbeg. Im Trunke sei

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dieser unberechenbar, und dann gebe er Befehle, die außerhalb aller schariatischen Normen lägen.166 Die Zähmung der Beduinen So bleibt das Bild, das der Chronist von den Zuständen in Kairo nach dem Abzug Selims zeichnet, vielschichtig. Lediglich an einem politischen Ziel, das, wenn es erreicht werden sollte, einer dauerhaften militärischen Absicherung bedurfte, gab es nichts zu deuteln: Das Land war vor den Beduinen zu schützen, die die Schwächung der alten militärischen Führungskaste und die Verwirrung, in die das System der Dienstlehen geraten war, zu ihren Gunsten nutzten. Von den Affären mit den Beduinen der Region al-Buḥaira war schon die Rede. Ḫairbeg packte eine ungleich schwierigere Aufgabe an, nämlich die Zähmung der Beduinen des Stammes der Aḥmad b. Baqar, die schon unter Qānṣauh al-Ġaurī den östlichen Teil des Deltas immer wieder überfallen und sich geweigert hatten, sich der Macht des Sultans zu beugen. Ḫairbeg übersandte deren Anführer ʿAbd ad-Dājim ein Schreiben, das diesem Pardon zusicherte. Dem Emir, der die Unterhandlung führte, gelang es tatsächlich, ʿAbd ad-Dājims Vertrauen zu gewinnen. Er überzeugte den Beduinen, daß er mit ihm nach Kairo ziehen und Ḫairbeg seine Aufwartung machen solle. Noch Ende 1517 traf er mit einem Geschenk, nämlich Pferden, Kamelen und Kleinvieh, zu einem kurzen Besuch ein und erhielt auf der Festung ein Ehrengewand. ʿAbd adDājim wird sich der Bedeutung, die er auch in einem osmanisch besetzten Ägypten haben mußte, wohl bewußt gewesen sein. Er hatte schon mehrfach bewiesen, daß er mit seinen Kriegern die Verbindungen zwischen Kairo und Syrien empfindlich stören konnte, über die nun auch der Verkehr mit Konstantinopel lief.167 Es genügte aber nicht, mit ʿAbd ad-Dājim ins reine zu kommen. Er alleine konnte nur für seine Sippe sprechen, und mit einigen anderen seines Stammes war er verfeindet. Im Frühjahr 1518 verließ sein Bruder Baibars Kairo in Begleitung von Abū l-Ḥasan alĠamrī, um zwischen ʿAbd ad-Dājim und dessen Vater sowie weiteren Mitgliedern des Stammes einen Frieden auszuhandeln. Ḫairbeg gab den Abreisenden ein Ehrengewand für ʿAbd ad-Dājim mit auf den Weg. Nach Ibn Ijās hatten Baibars und Abū l-Ḥasan al-Ġamrī mit ihren Bemühungen Erfolg, allerdings nicht auf Dauer. Im Herbst 1518 kann Ibn Ijās wiederum einen Aufenthalt ʿAbd ad-Dājims in Kairo notieren. Diesmal war auch sein Vater Aḥmad b. Baqar gekommen, und beide wurden von Ḫairbeg in Audienz empfangen. Dabei brach zwischen dem Vater und dem Sohn ein peinlicher Streit aus. Aḥmad b. Baqar, wahrscheinlich erbost darüber, daß nicht er, sondern sein Sohn als oberster Anführer des Stammes anerkannt worden war, zerrte ʿAbd ad-Dājim an der Kleidung und rief Ḫairbeg zu, er dürfe diesen Missetäter auf keinen Fall freilassen; für die Verbrechen, die dieser dann begehen werde, müsse sich der „König der Emire“ am Jüngsten Tag vor Allah verantworten. Der

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Festungskommandant, der Zeuge dieses Auftrittes wurde, ergriff für den Vater Partei. So blieb Ḫairbeg nichts anderes übrig, als dem Sohn, auf den er im Frühjahr so große Hoffnungen gesetzt hatte, dem Kommandanten zu überlassen, der ihn in Eisen legte. Den Kriegern, die ʿAbd ad-Dājim begleitet hatten, erging es nicht besser. Zum Anführer des Stammes berief Ḫairbeg nun ʿAbd ad-Dājims Bruder Baibars, womit auch der Vater einverstanden war. Jedermann in Kairo, beteuert Ibn Ijās, sei mit dieser Lösung zufrieden gewesen, denn „wer böse ist, verhält sich eben immer wieder schlecht gegen andere“.168 Aš-Šaʿrānīs Auszug aus der al-Ġamrī-Moschee Mit dem zweiten Besuch ʿAbd ad-Dājims in Kairo und den Bemühungen Abū l-Ḥasan al-Ġamrīs um die Vermittlung eines Friedens für das östliche Delta, das Land, aus dem sein Großvater Muḥammad al-Ġamrī einst in die Metropole gewandert war, sind wir ganz dicht an aš-Šaʿrānī herangekommen. Wie wir uns erinnern, leitete er damals in der Moschee al-Ġamrīs das nächtliche Gebet für den Propheten in einer von Meister aš-Šūnī ersonnenen Liturgie. Zudem war ihm dort 1517 die verstörende Wahrnehmung des Gotteslobes zuteil geworden, das alle Kreatur in einem fort bekundet: Aš-Šaʿrānī hat als Gottesfreund eigene Statur gewonnen. In die Zeit hiernach fällt der Bruch mit Abū l-Ḥasan al-Ġamrī; aš-Šaʿrānī muß den Ort verlassen, an dem er zu einem Wissenden und danach zu einem Erkennenden herangereift ist. Seine erste Eheschließung fällt noch in das Ende des Aufenthalts in alĠamrīs Klause: Der Gottesnarr Aḥmad al-Buhlūl (gest. 1522), der ihm einst den Rat gegeben hatte, alle Bücher zu verkaufen, den Erlös als Almosen zu verschenken und sich auf das wahre Erkennen zu verlegen, soll auf wundersame Weise diese Heirat zustande gebracht haben. Wie es nun zu dem Bruch kam, das wird unterschiedlich erzählt. Sollte sich einmal niemand eingefunden haben, um mit aš-Šaʿrānī das Gebet für den Propheten nach der Art des „Weges der Lebendigkeit“ zu rezitieren, dann sei stets Abū l-ʿAbbās, der Gründer der Klause, seinem Grab entstiegen und habe an dem Ritus teilgenommen, heißt in den Ruhmestiteln Sidi ʿAbd al-Wahhābs, die al-Malīǧī zusammengetragen hat. Klarer kann man die Auffassung nicht zum Ausdruck bringen, daß in aš-Šaʿrānī der wahre Erbe Abū l-ʿAbbās al-Ġamrīs erschienen ist. Daran schließt sich folgender Bericht: „Es widerfuhr aš-Šaʿrānī in der genannten Moschee, daß er in eine heftige Ekstase geriet, und da stieß er mit lautester Stimme den Schrei ‚Allah!‘ aus. Die Moschee erbebte, und auch das Zimmer, in welchem sich Abū lḤasan al-Ġamrī gerade aufhielt. Meister Abū l-Ḥasan stürzte heraus und fragte: ‚Wer hat einen solchen Schrei getan, daß mein Zimmer davon erbebte?‘ Man antwortete: ‚Meister ʿAbd al-Wahhāb!‘ worauf Abū l-Ḥasan al-Ġamrī befand: ‚Dieser Ort hier hat nicht Platz für uns zwei!‘ Er machte sich daran, aš-Šaʿrānīs Habe auszu-

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sondern. Dieser aber kam ihm zuvor; er nahm seine beiden Sandalen, trat aus der Moschee hinaus und ließ alles, was er besaß, zurück – er fügte sich darein mit heiterem Gemüt.“ Aš-Šaʿrānī zog mit seiner Familie nur wenige Gassen weiter, zur Medresse der Umm Ḫūnd.169 An der Pforte ließ aš-Šaʿrānī sich nieder und wartete, obschon zum Eintreten aufgefordert, sechs Tage ab, „bis der Prophet ihm erlaubte, hineinzugehen“. Sieben Jahre hielt er sich danach dort auf, machte sich nützlich, indem er die Lampen versorgte, den Fußboden kehrte und sich im übrigen der Erziehung von Adepten widmete, deren Zahl schließlich fast die zweihundert erreichte. Dies ist der erste Bericht über aš-Šaʿrānīs Trennung von der Gemeinschaft alĠamrīs. Ergänzt wird er durch eine abweichende Darstellung der Vorgeschichte dieses Schrittes: Wegen eines Traumes, den der blinde Meister Aḥmad aṭ-Ṭahāwī hatte, sei aš-Šaʿrānī in die Medresse der Umm Ḫūnd umgezogen und dort auch geblieben, obwohl Abū l-Ḥasan al-Ġamrī ihn mehrfach des Nachts aufgesucht und zur Rückkehr aufgefordert habe. Die Bewohner der Klause al-Ġamrīs nämlich, so erzählt aš-Šaʿrānī selber, hätten ihn unablässig gekränkt; Abū l-Ḥasan habe sie deshalb auf den Koran schwören lassen, daß sie sich vernünftig betragen wollten, aber das habe nicht lange vorgehalten. Sie hätten sich sogar erdreistet, die Brüder, die mit aš-Šaʿrānī das nächtliche Gebet für den Propheten hätten rezitieren wollen, mit Schlägen davonzujagen, deswegen sei der Bruch nicht mehr zu vermeiden gewesen, und der geschah so: „Im Traum kam Sidi Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī (gest.1499) zu mir und sprach: ‚Geh nicht fort! Ich wache mit dir.‘ In der Nacht zum Freitag setzte er sich zu mir und lehnte sich mit dem Rücken an die Säule, auf die man rechter Hand stößt, wenn man die Moschee durch das große Tor betritt. Ungefähr zehn Grad lang saß er bei mir. Ich hatte Kopfschmerzen, die dabei schwanden. Einige von denen, die mich kränkten, versammelten sich, riefen Leute herbei, entzündeten viele Lampen und nahmen mir gegenüber Platz. Mit lauter Stimme spotteten sie über das, was ich trieb. Ich ging hinüber, setzte mich in ihren Kreis und sagte zu ihnen: ‚Im Streben nach dem Guten sind wir alle gleich.‘ Doch sie hinderten mich daran, mit ihnen Allahs zu gedenken. Ich bat sie, etwas leiser zu sein. Sie waren damit nicht einverstanden, worauf Allah sie mit Schlaf schlug; keiner von ihnen konnte auch nur einen Grad wachen, alle schliefen sie von zwanzig Grad nach dem Nachtgebet bis zum Morgengebet. Da lachten die Leute über sie. Sie aber gingen zu ʿAbd ad-Dājim b. Baqar und baten ihn, er möge in der Nacht zum kommenden Freitag in der Moschee eine Maulid-Feier geben. Sie wollten mir mit ihrem Lärm zusetzen. Als die Koranleser und Mahnprediger eintrafen, sprachen wir das Gebet für den Propheten nur leise; ich hob meine Sitzung aber nicht auf, denn wir störten keinen der Zuhörer der Predigt. Da kam mein Feind und baute sich vor mir auf: ‚Willst du wohl still sein, du Knecht des Affenbändigers!‘ Den, dessen Knecht ich bin, nannte er Affenbändiger!170 Da stürzten sich die Leute auf ihn und verprügelten ihn

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und schrien: ‚Du bist ein Ungläubiger geworden!‘ Sie berieten miteinander und sagten: ‚Morgen wird man den da hinrichten.‘ Dann einigten sie sich darauf, ihn vor den Richter zu bringen, der womöglich sein Leben schonen werde. So geschah es auch, aber aus der Maulid-Feier war in jener Nacht nichts geworden. Die Koranleser und Prediger gingen auseinander. Derjenige aber, der dem Unglauben verfallen war, das war eben der, der die Sache mit der Maulid-Feier eingefädelt hatte.“171 Die Künste eines Seiltänzers Der Weg in die Selbständigkeit, zur Schaffung einer eigenen Klause, wurde ašŠaʿrānī vor allem wegen des in anderem Zusammenhang beschriebenen Ritus des Gebets für den Propheten aufgenötigt. Leicht war dieser Schritt der Trennung gewiß nicht gewesen.Welch drückende Last aš-Šaʿrānī sich damit aufbürdete und wie sehr er sich in seinen Anstrengungen von der Mehrzahl der übrigen Gelehrten mißverstanden und angefeindet fühlte, verrät der Traum, in dem er sich als Seiltänzer sieht. Dieser Traum geht auf die Vorführungen eines Aleppiner Akrobaten zurück, der im Frühjahr 1518 seine Künste in Kairo zeigte. Er schoß, auf dem Seil stehend, mit Pfeil und Bogen auf eine Zielscheibe, er bewegte sich über das Seil mit verbundenen Augen und in Fesseln, machte einen Kopfstand darauf, schritt auch, wie aš-Šaʿrānī es in seinem peinigenden Traum sah, mit hohen hölzernen Badeschuhen, unter die er Seifenstücke gebunden hatte, darüber hinweg. Ibn Ijās, der über diese Sensation in seiner Chronik berichtet, meint, daß man in Kairo seit den Tagen des Sultans al-Ašraf Barsbai (reg. 1422– 1437) einen derartig waghalsigen und geschickten Seiltänzer nicht gesehen habe.172 Legendenhafte Berichte über aš-Šaʿrānīs Weg zur eigenen Klause Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als wäre aš-Šaʿrānī mit der Trennung von Abū l-Ḥasan al-Ġamrī – man darf gewiß von einem Hinauswurf sprechen – der sicherlich bescheidene Lebensunterhalt entzogen worden. Über die Einkünfte, aus denen er von nun an sich und die Seinen ernährte, sind wir nur unzureichend unterrichtet. Legenden scheinen das wenige zu überwuchern, das an Fakten überliefert ist. Die Lebensbeschreibung, die al-Malīǧī 1698 auf Anregung des osmanischen Statthalters Murādī Ḥusain Pascha verfaßte, verknüpft den Aufstieg ašŠaʿrānīs zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten des osmanischen Kairo, wie nicht anders zu erwarten, mit dem Eroberer Selim. Da gab es, so erzählt al-Malīǧī, einen Mann namens ʿAbd al-Qādir Muḥjī d-Dīn al-Arzmakī,173 der unter Ṭūmānbeg das Amt eines Vorstehers des Sekretariats auf der Kairoer Festung innegehabt hatte. AlArzmakī zog sich den Zorn des Eroberers zu, der ihn mit dem Tode bedrohte. Es gelang dem einstigen hohen Würdenträger, unterzutauchen und sich eine Zeitlang verborgen zu halten. Dann aber suchte er bei aš-Šaʿrānī, der sich bereits in der

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Medresse der Umm Ḫūnd aufhielt, um Hilfe nach. Aš-Šaʿrānī wollte sie dem Verfolgten nicht versagen, fragte ihn aber: „Wenn Allah dich von deiner Not befreit, wirst du ihm dann eine Moschee bauen?“ Das versprach ʿAbd al-Qādir. „Da gab Allah unserem Herrn, dem Sultan Selim, ein, daß dieser von seinen engsten Vertrauten wissen wollte, ob es in Kairo einen Gottesfreund gebe, den er, der Sultan, noch nicht kennengelernt habe und der noch nicht zu ihm in die Festung hinaufgestiegen sei. ‚Ja‘, sprachen jene, ‚es gibt in Kairo noch einen großen Gottesfreund. Allerdings ist dieser recht jung, er ist aber nach seiner Gewohnheit nicht vor den Sultanen erschienen, die vor dir herrschten!‘ ‚Ich muß ihn unbedingt treffen!‘ beharrte Selim und ritt unverzüglich los, um Meister aš-Šaʿrānī einen Besuch abzustatten. Als er mit aš-Šaʿrānī zusammenkam, fanden dessen Art und Weise und dessen Weg der Gottesfreundschaft das Gefallen des Sultans, und dieser begann fest an ihn zu glauben. ‚Vielleicht‘, so fragte ihn Selim, ‚hast du einen Wunsch, den wir dir vor unserem Rückmarsch nach Konstantinopel erfüllen können?‘ ‚Ich habe nie einen mich selber betreffenden Wunsch an irgendjemanden. Aber bei mir ist ein Mann, dem Ihr zürnt. Er heißt ʿAbd al-Qādir al-Arzmakī. Wenn Ihr ihm verzeihen könnt, dann werde ich ihn vor euch führen.‘ Der Sultan sagte: ‚Das Verzeihen ist möglich!‘ Aš-Šaʿrānī führte jenen herbei, der Sultan verzieh ihm und gab ihm ein Amt in seinen Diensten, das er ausübte, bis mit ihm geschah, was mit ihm geschah.“174 Daß dieser Bericht nicht den Tatsachen entspricht, geht schon allein daraus hervor, daß aš-Šaʿrānī sich erst nach dem Abzug Selims von Abū l-Ḥasan al-Ġamrī trennte und in die Medresse der Umm Ḫūnd übersiedelte. Desweiteren hätte ašŠaʿrānī nicht den geringsten Grund gehabt, in seiner Lebensbilanz eine für ihn höchst ehrenvolle Begegnung mit Selim zu verschweigen. In einer zweiten Fassung, die al-Malīǧī ebenfalls aufzeichnet, ist nur noch von einem der Statthalter Selims die Rede, der ʿAbd al-Qādir al-Arzmakī verfolgt haben soll. Dieser hielt sich versteckt. Endlich lobte der Statthalter eine hohe Belohnung für denjenigen aus, der ihm den Gesuchten bringen werde. Da riet man ʿAbd al-Qādir, er solle jenen Gottesfreund um Hilfe bitten, der in der Medresse der Umm Ḫūnd lebe und zu den wenigen Menschen gehöre, denen das Vermögen, in den Gang der göttlichen Fügung einzugreifen, zuteil geworden sei. Wieder stellt aš-Šaʿrānī dem um sein Leben bangenden ʿAbd alQādir die Frage, ob er Allah im Falle der Errettung eine Moschee bauen werde. Als der Geängstigte zusagt, händigt ihm aš-Šaʿrānī einen Strohhalm aus, den er vom Boden aufgelesen hat. Diesen solle ʿAbd al-Qādir al-Arzmakī mitnehmen zum Statthalter, zu dem er in finsterer Nacht unmittelbar vor dem Morgengrauen gehen müsse. ʿAbd al-Qādir war voller Befürchtungen; selbst mächtige Gönner hatten es nicht gewagt, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Als er aber vor den Statthalter trat und den Strohhalm zu Boden warf, ging jener erfreut auf den Bittsteller zu, hieß ihn willkommen, gab den Befehl, daß man die Fahndung sofort einstelle. Kaum war ʿAbd al-Qādir von der Festung hinabgestiegen, machte er sich schon an die Erfüllung

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seines Gelübdes. Er erwarb ein Trümmergrundstück und übereignete es aš-Šaʿrānī. Schon zuvor, so versichert al-Malīǧī, sei durch die Worte eines Gottesnarren bekannt geworden, daß man hier für einen aš-Šaʿrānī eine Moschee errichten werde. ʿAbd alQādir stattete das Anwesen mit ertragreichen Stiftungen aus. Als die Gebäude zu etwa zwei Dritteln fertig waren, begab er sich auf die Pilgerreise, auf der er verstarb, so daß aš-Šaʿrānī die Vollendung selber überwachen mußte.175 Fakten? Treten wir jetzt aus dem Bereich der Hagiographie hinaus und halten wir nach den nüchternen Tatsachen Ausschau! Zuallererst ist es unumgänglich, den Auszug aus der al-Ġamrī-Klause zeitlich von dem Erwerb einer eigenen zu trennen. Dazwischen liegen vermutlich mehrere Jahre. Doch schon, als aš-Šaʿrānī in der Medresse der Umm Ḫūnd Unterschlupf gefunden hatte, gelang es ihm, mit dem von ihm weiterentwickelten Ritus des Gebets für den Propheten einige wohlhabende und einflußreiche Männer an sich zu binden. Unter diesen waren zwei reiche und großzügige Brüder, deren einer den Beinamen Saʿd ad-Dīn trug und im Dienste des mächtigen Emirs Arzmak an-Nāšif,176 eines Tscherkessen, sein Vermögen gemacht hatte; der andere war der schon genannte ʿAbd al-Qādir, der ebenfalls aus der Gefolgschaft Arzmaks hervorgegangen war. ʿAbd al-Qādir war der wohlhabendere von beiden, er besaß das Recht auf den Ertrag zahlreicher Ländereien, denn er war „unter den beiden Dynastien“ der Chef der Kanzlei des Sultans gewesen. Nun hatte Ibn Ijās in seiner Chronik geklagt, daß es einige Leute gebe, die aus der Niederlage der Mamluken riesige Gewinne gezogen hätten, nämlich die Verwalter, die sich in den Wirren jener Tage ein skandalös großes Vermögen zusammengestohlen hätten. In der Gestalt ʿAbd al-Qādirs haben wir vermutlich einen von ihnen vor uns. Als jedoch Süleyman der Prächtige 1522 in Konstantinopel den Thron bestieg, zogen für Ägypten andere Zeiten herauf, freilich erst nach etlichen Irrungen und Wirrungen, wie wir noch hören werden. Die Verhältnisse des Landes, die von aller Rechtlichkeit weit entfernt waren, wurden in mehreren Schritten neu geordnet, was auch ašŠaʿrānī wiederholt heftigen Kummer bereitete. Zunächst aber war es für ihn eine glückliche Wendung der Dinge. Denn ʿAbd al-Qādir machte sich nun doch Sorgen um seinen Besitz. Wie konnte es gelingen, ihn wenigstens zum Teil zu behalten? Er kaufte ein Grundstück, das am al-Ḥākimī-Kanal und in der Nähe der Medresse der Umm Ḫūnd lag,177 und bebaute es mit der Klause und allen dazu gehörenden Einrichtungen, nicht zuletzt mit einem Mausoleum, in dem er selber zur letzten Ruhe gebettet werden wollte. Wie wir schon wissen, wurde daraus nichts, da er auf der Wallfahrt starb. Zuvor aber hatte er dies alles nebst zahlreichen Äckern und Feldern aš-Šaʿrānī als eine religiöse Stiftung vermacht, die nicht nur diesem Gottesfreund selber, sondern auch dessen Söhnen und seinem ganzen Anhang, der damals schon

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ziemlich groß gewesen sein soll, zugute kam. „Da eilten die Menschen aus allen Richtungen herbei, zogen sich bei dem Meister in die Klause zurück und wohnten dort. In jenen Tagen organisierte sich der Kreis, der sich dem Gottesgedenken widmete. Der Ruhm des Meisters, seiner Medresse und der Stiftung verbreitete sich in alle Welt.“ Derwische, Kranke, Elende, Gebrechliche, Kinder, Frauen, kurz viele Menschen, die der Hilfe bedürftig waren, strömten dort zusammen, und es kamen noch diejenigen hinzu, die nur zu den Gedenkriten oder nur zu den Speisungen am Morgen und am Abend sich dort einfanden.178 Leider nennt ʿAlī Pascha Mubārak, dem wir diese Zeilen verdanken, seine Quelle nicht. Auch den Zeitpunkt dieses Ereignisses können wir nicht genau bestimmen. Es ist um das Jahr 1525 anzusetzen, wenn man die Angabe, aš Šaʿrānī habe sieben Jahre in der Medresse der Umm Ḫūnd gehaust, beim Wort nimmt. Daß er um 1525, wie wir erfahren werden, um die Beglaubigung seiner Gottesfreundschaft ringt, bekräftigt unsere Vermutung. Übrigens folgte jener ʿAbd al-Qādir al-Arzmakī mit einer Stiftung zugunsten eines Gottesfreundes, der einen besonderen Ritus des Prophetengedenkens pflegte, ganz dem Zug der Zeit. Ḫairbeg hatte zu demselben Zweck der al-Azhar-Hochschule Land vermacht.179 Dies mag der materielle Hintergrund der späteren Eifersüchteleien zwischen aš-Šaʿrānī und einigen al-Azhar-Gelehrten sein. Diese Zerwürfnisse, die in die dreißiger Jahre fielen, trafen ihn sehr, zumal seine Feinde Zweifel an seiner sunnitischen Glaubensfestigkeit ausstreuten. Jedenfalls ahnt man, weswegen aš-Šaʿrānī stets peinlich darauf bedacht war, ein gutes Verhältnis zu den Osmanen aufrechtzuerhalten, desgleichen, weswegen er in seiner Lebensbilanz mehrfach auf die von Sultan Süleyman angeordnete Überprüfung des Landbesitzes zu sprechen kommt: Am Anfang stand eine anstößige Manipulation, die er selber vielleicht nicht gefordert, deren Vorteile er jedoch angenommen hatte und ohne die er nicht zu dem großen Gottesfreund hätte werden können, der er war, als er um 1553 auf seinen von göttlichen Gnadengeschenken bestimmten Lebensweg zurückblickte. „Nie habe ich“, beteuert er, „etwas von dem verzehrt, was mir gegeben wurde, weil ich ein Sufi sei oder einer der Frommen. Desgleichen aß ich nie etwas von dem Brot, das den Sufi-Konventen für ihre Insassen zufloß. Es ist guter Brauch, daß es nur denjenigen zusteht, die tatsächlich Sufis in der Art sind, wie die Abhandlung al-Qušairīs und andere Schriften sie beschreiben: Sie üben Enthaltsamkeit, Skrupelhaftigkeit, bewahren all ihre Glieder vor verbotenem Tun, so daß die mit Verstand Begabten unter den Gelehrten ihnen das Sufitum zuerkennen. Wenn jemand jedoch ein böses Herz hat und dieses den Menschen offenbar werden sollte, dann verabscheuen und mißachten sie ihn. Für den Empfänger einer Stiftung ziemt es sich daher nicht, von dem zu zehren, was für die Sufis gestiftet wurde. Dies ist eine Regel, die Meister Ǧalāl ad-Dīn as-Sujūṭī befolgte, als sich gegen ihn einige Sufis aus dem Baibars- und dem Saʿīd as-SuʿadāʾKonvent erhoben. Ein gewisser Tadel trifft ihn freilich, weil er forderte, den Be-

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dürftigen einen Anteil zu verwehren. Richtig wäre es gewesen, diesen den Sufi-Pfad anzubieten, und wer gewollt hätte, hätte ihm Folge leisten können, und wer gewollt hätte, hätte nur genommen und sein Bedürfnis befriedigt. Unser Meister, der Šaiḫ alIslām Zakarjā, aß nur vom Brot des Sufi-Konvents des Sāʿīd as-Suʿadāʾ und begründete dies, indem er sagte: ‚Dieser Konvent wurde auf ein Zeichen des Gottesgesandten hin erbaut, und der Stifter war ein Frommer unter den Königen.‘ Wenn du, mein Bruder, im Sufitum den Standplatz des Meisters Zakarjā eingenommen hast, dann iß! Anderenfalls gebietet die skrupelhafte Vorsicht, es nicht zu tun. Denn ganz ohne Zweifel gehörten Meister Zakarjā und Meister Ǧalāl ad-Dīn und andere ihres Schlages zu den Sufis. Ein Sufi ist jeder Gelehrte, der nach seinem Wissen handelt; wir haben dies schon dargelegt. Meister ʿAbdallāh al-Minūfī… wohnte in dem Ḫāngāh (des Saʿīd as-Suʿadāʾ) und sagte allein aus Demut: ‚Dieser Konvent ist den Sufis gestiftet, ich aber bin keiner.‘ Doch war sich alle Welt über seine Würdigkeit und sein Wissen einig, auch darüber, daß er zu den großen Gottesfreunden Ägyptens zählte. Wisse das! – Als in den Tagen der Überprüfung die Immobilien unserer Klause dem Eigentum des Sultans zugeschlagen worden waren, sagten mir die Beamten im Diwan: ‚Der Pascha, der den Sultan vertritt, hat euch alles dies gewährt, jetzt könnt ihr euch davon wie von einem erlaubten Gut ernähren!‘ Darüber freuten sich die Bewohner der Klause. Ich freute mich jedoch nicht, da ich wußte, daß der Pascha, hätte er nicht gehört, daß ich einer der Frommen sei, mir nicht eine Elle des Landes, das in das Eigentum des Sultans übergegangen war, zurückgegeben hätte; ein Indiz dafür ist, was sie mit denen machten, die nicht für ihre Frömmigkeit berühmt sind. Frag mich nicht, Bruder, wie ich mich jetzt quäle und auf der Hut bin, davon zu zehren, wie meine Familie davon aß – könnte sie nicht ihre ungetrübte Beziehung zu Allah verzehrt haben, was als Sünde viel schwerer wiegt als der Verzehr irdischer Güter? Wir wären dann von geringfügigen Verfehlungen in das hineingeraten, was am ehesten zur Verdammnis führt! Jeder Muslim könnte zumindest ein Anrecht auf den Staatsschatz haben,180 so daß er davon Unterhalt empfangen darf. Ganz anders aber verhält es sich mit dem Aufzehren der Verbindung mit Allah, niemand hat dazu ein Recht! Bitte Allah, den Erhabenen, er möge mich schützen und den Mitgliedern meiner Familie, die davon zehrten, gnädig sein!“181 Ein beunruhigendes Zwielicht liegt über dem Beginn von aš-Šaʿrānīs Aufstieg zum großen Kairoer Gottesfreund. Er gesteht den Makel hier ein, und hat er auch dank der Frömmigkeit, die man ihm nachrühmt, die Klause, die rein juristisch betrachtet, an den Staat hätte fallen müssen, als ein Geschenk aus den Händen des Paschas entgegennehmen dürfen, so bleibt ihm doch der Stachel, daß gerade dies eine unverdiente Vergünstigung sei. Das, was an der Gottesfreundschaft wesentlich ist, ihre Unabhängigkeit gegenüber der als sündhaft und von ungerechtfertigter Bereicherung besudelt wahrgenommenen Macht der Herrscher, kann aš-Šaʿrānī für

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sich nicht behaupten. Gewiß gibt es Muslime, die aus dem Fiskus Unterhalt beziehen dürfen, aber keines der Kriterien, die für diesen Fall gelten, trifft auf ihn und seine Familie noch zu: Sie sind nicht bedürftig, seit sie sich der Stiftung bedienen können, und wahrscheinlich hatte aš-Šaʿrānī auch in seinem Heimatdorf einiges Land; er war kein Beamter des Sultans, kein Glaubenskrieger, kein Fremder, kein Andersgläubiger, den man zum Islam hätte bekehren müssen (Sure 9, 60). Und war er ein wirklich vollkommener Sufi? Sogar Männer, denen man dies ohne Zögern zuerkannt hatte, wurden von Selbstzweifeln geplagt! Aus skrupelhafter Vorsicht hatte aš-Šaʿrānī, so schreibt er hier in seiner Lebensbilanz, selber nie etwas von dem verbraucht, was man für den frommen Zweck, aber außerhalb des gesetzlichen Weges gestiftet hatte – doch seine Familie hatte sehr wohl davon genossen und dabei die Beziehung zu dem Einen aufs Spiel gesetzt! Weitere Geldquellen Wir verlassen nun wieder die Perspektive der Rückschau auf das Lebenswerk und kehren in die unsichere Zeit nach 1518 zurück. Damals sind die Verlockungen, sich reichlich bedienen zu lassen, wahrscheinlich nicht gering gewesen. Denn nicht nur ʿAbd al-Qādir al-Arzmakī fühlte den Drang, Güter, die ihm ohne entsprechende Gegenleistung zugefallen waren, also einen der Läuterung bedürftigen Besitz darstellten,182 einem Gottesfreund zum Nießbrauch zu übergeben. Einer der mächtigsten Emire in jenen Jahren des Übergangs der Herrschaft von den Mamluken zu den Osmanen, Ǧānim al-Ḥamzāwī, bot aš-Šaʿrānī an, ihm Einkünfte aus der Verpachtung einer Sesamölpresse zu überschreiben, die sicher nicht gering waren. Sesamöl gehörte zu den Gütern des täglichen Bedarfs; es wurde zum Braten und beim Vertrieb von Käse verwendet. Ein Erlaß von 1518, den Ibn Ijās erwähnt, schrieb den Fischbratern vor, nur frisches Sesamöl zu benutzen.183 Aš-Šaʿrānī kommt auf das Angebot des Emirs zu sprechen, läßt sich zuvor aber wieder ausführlich über die Bedenklichkeit einer Abhängigkeit vom Wohlwollen eines Mächtigen aus. Er jedenfalls wurde nie von Allah in eine Verlegenheit gebracht, in der er das Gehalt oder eine Sonderzuwendung184 aus dem Staatsschatz hätte annehmen müssen, behauptet er nun und widerspricht dem, was er zuvor geschrieben hat – denn um nichts anderes hatte es sich gehandelt, als ihm der Pascha das Eigentum an der Klause bestätigt hatte.185 Gehalt und Sonderzuweisung bedeuten für den Empfänger eine Demütigung, lesen wir. Überdies sei der Staatsschatz ausschließlich dazu da, das „Heer des Islams“ zu besolden, nämlich einerseits die Soldaten und andererseits die Gelehrten.186 „Ich habe aber weder die Kraft zu einem Feldzug…, noch werde ich unter die nach ihrem Wissen handelnden Gelehrten gerechnet, die die Religion verteidigen – meine Glaubensgewißheit und mein Kampfesmut sind zu schwach…“ Das letztere muß man aš-Šaʿrānī nicht abnehmen, doch bei aller gespielten Bescheidenheit

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werden seine Ansichten hier wieder deutlich – es ist besser, sich mit einem Bissen trockenen Brotes zu begnügen, als auf das Geld des Herrschers angewiesen zu sein, mag dies noch so reichlich fließen. Jedenfalls früher, so schränkt aš-Šaʿrānī ein, seien alle Gelehrten und Frommen von dieser Überzeugung durchdrungen gewesen. An erbaulichen Geschichten aus der fernen und der nahen Vergangenheit fehlt es aš-Šaʿrānī nicht, um den Lesern nahezubringen, worum es ihm geht. Al-Fuḍail b. ʿIjāḍ (gest. 803), einer der großen Gestalten des frühen Sufismus, war völlig verarmt, und seine Familie wußte nicht, wovon sie sich ernähren sollte; eines Tages wollte der Kalif ihm tausend Dinare schenken, aber al-Fuḍail wies die Gabe zurück; stattdessen schnitt er eine alte Matte, auf der er zu sitzen pflegte, in zwei Hälften, reichte die eine seiner Frau und den Kindern und befahl ihnen, das Stück Stoff loszuschlagen und vom Erlös die Nahrung für den Tag zu erwerben. Als al-Fuḍail wegen seiner Frömmigkeit immer mehr Geschenke aufgedrängt wurden, schaffte er sich davon ein Kamel an und bestritt fortan den Lebensunterhalt als Wasserverkäufer. „Mein Bruder, dir bleibe nicht verborgen, daß derjenige, der eine Sonderzuwendung begehrt, in jedem Falle in seinem Gesuch mitteilen muß, daß er zu den Leuten des Wissens, des Guten und der Armut gehört und nichts besitzt, um sich selber, seine Familie und die, die sich regelmäßig bei ihm einstellen, durchzubringen. Dabei vergißt er, daß bis in sein Alter Allah ihm zu essen und zu trinken gibt in einer Weise, mit der er gar nicht rechnet – Allah hat ihn nicht einen Tag vergessen! Schau nur, mein Bruder, wie der Schreiber eines solchen Gesuches sich mit seinem Wissen und seinem guten Handeln rechtfertigt und zugleich ohne Grund vor den übrigen Menschen über seinen Herrgott klagt – allein damit er mehr Genuß am Diesseits finde! Womöglich ist er an jenem Tag, an dem er so über seinen Herrn Klage führt, in glücklicheren Lebensumständen als die Familie des Propheten, womöglich ist er auch längst nicht so wissend, gut, arm, wie er in dem Gesuch behauptet! – Auch ein Kniff, den jemand nach dem Empfang einer Sonderzuweisung ins Werk setzen mag, wird ihn vor Allah nicht retten. Wenn die Ölpresse, die er einem Ölmüller verpachtet, oder der Laden, den er einem Metzger vermietet, beispielsweise für 40 Niṣf187 je Tag, gar nicht so viel abwerfen sollte, daß der Pächter die Arbeiter entlohnen könnte, würden diese niemals ihren Lohn erhalten, selbst wenn man den Pächter ins Gefängnis steckte oder prügelte; das Geld wäre einfach nicht vorhanden, da der Inhaber der Sonderzuweisung es erhalten hätte. Es wäre dann so, als sagte der Inhaber zum Ölmüller oder Metzger: ‚Gib mir, was die Arbeiter stets von dir bekamen, denn ich bin ein Meister oder Gelehrter!‘ Als der Emir Ǧānim alḤamzāwī nach Konstantinopel abreiste, bat er mich, ich möge ihm ein Gesuch an den Sultan schreiben, damit er mir eine Verfügung über die Ölpresse mitbringen könne, die zu meinen Gunsten gestiftet werden sollte. Ich ging darauf nicht ein, er aber drang in mich und sagte: ‚Es soll gar nicht für dich sein, sondern für die Derwische!‘ Man setzte ein Gesuch auf, doch als ich es in die Hand bekam, stand

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darin: ‚Der und der ist ein Armer, und viele stellen sich bei ihm ein, aber es haben nicht einmal er und seine Kinder etwas, womit sie ihr Leben fristen könnten.‘ Man meinte, das müsse man dem Sultan schreiben. Ich aber zerriß das Gesuch eben deswegen.“188 Es ist kaum zu entscheiden, ob wir aš-Šaʿrānī so viel Skrupelhaftigkeit zutrauen dürfen. Allerdings war er sich darüber im klaren, daß die Sonderzuweisungen gar nicht immer erwirtschaftet werden konnten; der Betreiber der Ölpresse mußte seinen Gewinn machen, und auch die Arbeiter hatten Ansprüche, die nicht übergangen werden durften. Ǧānim al-Ḥamzāwī war 1518 der Verwalter der Speicher. Ibn Ijās nennt ihn als einen der obersten Beamten des Statthalters Ḫairbeg. Dieser vertraute Ǧānim so schwierige Aufgaben wie die Aufrechterhaltung der Beziehungen mit Selim an. Schon 1518 war Ǧānim zu dem noch in Syrien weilenden Herrscher gereist, um diesem eine Freudenbotschaft zu übermitteln: Man hatte den Prinzen Qāsim, einen angeblichen Enkel des Sultans Bayezid (reg. 1481– 1512), gefangengenommen, jenen jungen Mann, den Qānṣauh al-Ġaurī nach Aleppo mitgeführt hatte. Vom Schlachtfeld bei Marǧ Dābiq hatte Qāsim unentdeckt fliehen können, er war nach Kairo zurückgekehrt, wo Ṭūmānbeg ihn mit offenen Armen aufgenommen hatte. Nach der Niederlage von ar-Raidānīja schloß der osmanische Prinz sich Ṭūmānbeg in Oberägypten an, und nach dessen Tod lebte er bei Beduinen und wurde schließlich von einem seiner Diener verraten. Ǧānim al-Ḥamzāwī war an der Festnahme Qāsims beteiligt gewesen, den man zunächst auf der Festung in Kairo gefangensetzte, dann aber erwürgte, weil man fürchtete, die osmanischen Truppen würden rebellieren, sobald sie hörten, ein osmanischer Prinz halte sich in ihrer unmittelbaren Nähe auf. In jenen Tagen, vielleicht noch vor der Abreise, wurde Ǧānim al-Ḥamzāwī von Ḫairbeg in das Amt des Großsekretärs berufen.189 Selims Schatten über Ägypten Von Ḫairbeg zeichnet Ibn Ijās kein sehr günstiges Bild. Er erscheint wie ein Getriebener, der die Zügel der Statthalterschaft nicht fest in den Händen hält. Die von ihm bestellten Verwalter, die, wie wir hörten, die Besitzverhältnisse, die sich in der Mamlukenzeit herausgebildet hatten, durcheinanderbrachten und dabei einen reichen Profit einstrichen, vermochten Ḫairbeg nach Belieben zu lenken. Immer wieder wurden einige von ihnen nach Konstantinopel zum Rapport einbestellt, und als Ibn Ijās Anfang 1519 erfuhr, daß das Schiff, mit dem etliche dieser Übeltäter reisten, gesunken sei, kann er seine Schadenfreude nicht verhehlen.190 Ḫairbegs Statthalterschaft geriet aber nicht nur wegen der Neuverteilung des Landbesitzes, die auch die Stiftungen antastete und einen großen Teil der Dienstlehen zu Sultansgütern erklärte, in Mißkredit. Die Osmanen hatten neben der mamlukischen eine eigene Währung in Umlauf gebracht, was der Anlaß für einen raschen Verfall

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des Geldwertes wurde, denn, wie Ibn Ijās darlegt, der Feingehalt an Gold und Silber entsprach nicht mehr den Vorschriften. Die Bevölkerung war sich im unklaren darüber, was das Geld eigentlich wert sei, und so stiegen die Preise rasch, weil niemand sich übervorteilt sehen wollte. Ein weiterer Grund für die unter Ḫairbeg herrschende Mißstimmung waren die unablässigen Übergriffe der in Kairo stationierten Einheiten. Immer wieder führt Ibn Ijās Klage über Vergewaltigungen von Frauen und jungen Burschen. Die Besatzungstruppen ihrerseits beschwerten sich über die unzureichende Versorgung. Ḫairbeg hielt sich meistens auf der Festung verborgen. Sein Großsekretär Ǧānim al-Ḥamzāwī dagegen bekam die Wut der Truppen zu spüren. Als er eines Tages im Frühsommer 1519 von der Festung hinabritt, lauerten ihm Soldaten aus dem Verband der „Isfahaner“ auf und verlangten, man solle ihnen unverzüglich die Rückkehr in die Heimat erlauben oder ihnen genügend Gerste liefern; Brot könnten sie sich auf dem Markt nicht mehr kaufen, und auch die Pferde seien am Verhungern. Mit Mühe gelang es Ǧānim, den Aufgebrachten zu entkommen. Vierzehn Tage darauf paßten sie ihn wieder ab, zogen ihn vom Pferd, prügelten auf ihn ein und machten Anstalten, ihn zu enthaupten; er riß sich los und flüchtete. Ein tscherkessischer Emir trat den Meuterern entgegen und bezahlte seinen Mut mit dem Leben. Ḫairbeg wußte nichts anderes zu tun, als den Vorfall dem Sultan nach Edirne zu melden.191 Selim hatte seit längerem die Einsicht gewonnen, daß es am besten sei, wenn er die in Kairo zurückgelassenen Truppen gegen andere austauschte und sich im übrigen auf die tscherkessischen Mamluken stütze. Darum hatte er Ḫairbeg angewiesen, ihnen den Sold regelmäßig auszuzahlen, sich um die Sicherung der Grenzen – es waren nicht zuletzt die Häfen von Alexandrien und Damiette gemeint – zu kümmern und die Betrügereien im Münzamt zu unterbinden, die dem Herrscher schon zu Ohren gekommen waren.192 Es hatte aber nicht genügt, daß man nach dieser Mahnung durch den Sultan etliche jüdische Bedienstete der Prägeanstalt dingfest gemacht hatte, die für die Durchstechereien verantwortlich sein sollten.193 Die Auseinandersetzungen um die osmanischen Truppenkontingente trieben unterdessen dem Höhepunkt zu, von dem eben schon die Rede war. Im August 1519 endlich erhielten die „Isfahaner“ den Befehl zum Abmarsch aus Kairo; deren Anführer Iskenderbeg hatte sich bei den Ägyptern nicht zuletzt dadurch mißliebig gemacht, daß er die Entscheidungen der einheimischen Großrichter kritisiert und auf diese Weise deren Kenntnis des islamischen Gesetzes in Frage gestellt hatte.194 Von da an griff Selim öfter in die ägyptischen Angelegenheiten ein, forderte beispielsweise im Sommer 1520 Ḫairbegs Gouverneur in Kairo, der für viele Mißstände verantwortlich gemacht wurde, zur Reise nach Konstantinopel auf, was die Bevölkerung laut Ibn Ijās mit großer Freude erfüllte.195 Das Verhältnis Ḫairbegs zu Selim konnte nach Lage der Dinge im Jahre 1520 nicht frei von Mißstimmungen und Verdächtigungen sein, so daß man es für vorteilhaft erachtete, wenn sogar Ḫairbegs

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Großsekretär höchstpersönlich an den Hof des Sultans reiste und mit einigen Geschenken und guten Worten die Irritationen aus dem Wege räumte. Die Abreise Ǧānim al-Ḥamzāwīs nach Konstantinopel erwähnt Ibn Ijās nicht; sie fällt vermutlich in den Frühsommer 1520, denn bald hörte man in Kairo, daß Selim ihn gut empfangen und die Geschenke angenommen habe; außerdem habe Ǧānim die Erlaubnis erhalten, rasch nach Ägypten zurückzukehren.196 Am 25. August traf er in Damaskus ein, wo er, wie Ibn Ṭūlūn berichtet, eine Wohltat in Augenschein nahm, die er auf der Hinreise geleistet hatte: Er hatte die Omaijadenmoschee mit neuen Matten ausgestattet; die alten waren, so heißt es, vollkommen zerschlissen und steckten zudem voller Wanzen.197 Am 26. Ramadan (9. September 1520) betrat Ǧānim bei Qaṭja wieder ägyptischen Boden; er hatte ein Ehrengewand für Ḫairbeg bei sich, der nun sicher sein durfte, fürs erste der „König der Emire“, der oberste aller Würdenträger in Ägypten, zu bleiben. Übrigens war das Gerücht gegangen, Ǧānim al-Ḥamzāwī werde wohl kaum nach Kairo zurückkehren dürfen.198 Aš-Šaʿrānī und Ǧānim al-Ḥamzāwī Damit kennen wir die Umstände, unter denen Ǧānim dem Gottesfreund aš-Šaʿrānī den Pachtzins der erwähnten Ölmühle antrug: Dies muß im Frühjahr 1520 geschehen sein, in einer Zeit, in der die Münzverschlechterung die Kairoer mit Sorge erfüllte und zudem die Untaten einer mangelhaft unterhaltenen Besatzungstruppe überhandnahmen. Ǧānim al-Ḥamzāwī gehörte zu den „Söhnen der Leute“, er soll in Aleppo geboren sein.199 Schon seiner Herkunft nach steht er also für die Belange der einheimischen Bevölkerung, für eine Politik, die ihr die Bürde erleichtert, welche ihr die neuen Herren auferlegt haben. Offensichtlich hatte Ǧānim erkannt, daß die Vergünstigungen für die Ägypter und die Respektierung der Verhältnisse, die sich unter den Mamluken herausgebildet hatten, nur zu erreichen sein würden, wenn man die neuen Herren nicht reizte oder gar herausforderte. Daß es ihm sehr am Herzen lag, die Ägypter zu deren Bestem mit den Umständen, wie sie nun einmal nach der Niederlage gegen die Osmanen eingetreten waren, zu versöhnen, läßt sich daraus schließen, daß er die Verbindung zu den Gottesfreunden suchte, die das Volk als Fürsprecher und Nothelfer verehrte, ja daß er, wie seine großzügige Geste in Damaskus zeigt, die religiösen Einrichtungen, denen die Besatzungsmacht nicht genügend Ehrfurcht gezollt hatte, unterstützte. Damit gewann er die Zuneigung der Menschen, die wichtigste Voraussetzung für ein ausreichendes Maß an Stetigkeit und innerem Frieden, der durch die Zwistigkeiten, die eine Besatzungstruppe auslöst, ohnehin leicht gestört werden konnte. Daß Ǧānim auch aš-Šaʿrānī, der 1520 mit seinem Gebetskreis in der Medresse der Umm Ḫūnd wirkte, mit einer Gabe bedenken wollte, ist demnach nicht außergewöhnlich.

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Kurz nach dem Abzug Selims war Ḫairbeg zu ʿAbd al-Qādir ad-Dašṭūṭī in dessen Klause am aš-Šaʿrīja-Tor geritten, um sich von diesem ermahnen zu lassen. Als Mitte Oktober 1519 die Medresse dieses Gottesfreundes eingeweiht wurde, war es nicht der Statthalter selber, sondern sein Großsekretär Ǧānim al-Ḥamzāwī, der neben osmanischen Offizieren, den Oberrichtern und anderen herausragenden Persönlichkeiten den Feiern beiwohnte.200 – Am 3. Ḏū l-Qaʿda 926 (15. Oktober 1520) verstarb der greise Zakarjā al-Anṣārī, einer der großen Meister der Gottesfreundschaft, dem aš-Šaʿrānī viel verdankte. Der Leichenzug bewegte sich zur al-Azhar-Moschee, wo eine riesige Menschenmenge wartete, um das Totengebet zu sprechen. Da zwangen Boten Ḫairbegs den Zug in eine andere Richtung. Auch der Statthalter wollte Zakarjā die letzte Ehre erweisen, trug sogar die Bahre ein Stück Weges mit. Voranschritten „die Richter, die Gelehrten, die Emire, die Vornehmen und die Geringen“, und in deren Mitte sah man Ǧānim al-Ḥamzāwī201 – er war der volkstümliche Repräsentant der neuen Machtverhältnisse. Ǧānim al-Ḥamzāwī scheint aš-Šaʿrānī mehrfach seine Unterstützung angeboten zu haben. In der Lebensbilanz kommt er an einer zweiten Stelle auf den Großsekretär zu sprechen, und diesmal bezeichnet er sich selber als den Leiter einer Klause. Obwohl er in dieser Stellung für den Unterhalt vieler Leute verantwortlich sei, habe Allah es ihm stets ermöglicht, dies ohne Erniedrigung, ohne das Ausfertigen eines Gesuches an den Sultan zu gewährleisten. Ǧānim wollte für ihn eine Sonderzuweisung im Wert von 15 Niṣf je Tag erwirken, aus welchem Gewerbe, erfahren wir nicht. „Das ist ja der Sold eines Emirs, der ins Feld zieht!“ will aš-Šaʿrānī ihm geantwortet haben. Auf keinen Fall werde er dazu beitragen, daß die für das Heer des Sultans bereitstehenden Mittel zweckentfremdet werden! „Außerdem habe ich einen reicheren Lebensunterhalt zur Verfügung als die Inhaber von Sonderzuweisungen. Jeden Abend habe ich mehr Brot und Speisen, als einer von jenen in einer monatlichen oder jährlichen Maulid-Feier aufbringen kann – auf meinem Unterhalt ruht der Segen Allahs dank der Vermittlung seines Gesandten. Denn als ich im Jahre 918 (begann am 19. März 1512) in der al-Ġamrī-Moschee den rituellen Gruß und das Gebet für ihn einführte, da sagte er mir reichen Unterhalt zu. Wisse das, dann wirst du den rechten Weg gehen! Und strebe danach, seinen Charakter anzunehmen! Allah läßt sich deine rechte Führung angelegen sein, er, der stets den Frommen an die Seite tritt.“202 *** Worte sind Handlungen, materialisieren sich in Gestalten, sind das Geschehen, als das sich Allahs unaufhörliches Lenken den Diesseitigen manifestiert. Wem nur der Blick der Diesseitigen vergönnt ist, der nimmt auch nur die seltsamen, befremdlichen, bestürzenden Erscheinungen der Sinnenwelt wahr; der kann sich keinen Reim darauf machen, wenn ein Beduinenmädchen die Sanddüne hinaufläuft und

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dabei scheinbar spielerisch, wie es die Kinder tun, die Worte ruft: „Voll Segen bin ich für euch!“203 Denn der Allzusammenhang, der durch Allahs unablässiges Schöpfertum gestiftet wird, bleibt ihm unerkennbar. Allein die Gottesfreunde vermögen die Wirrnis des Diesseitigen zu durchschauen; ihnen werden die Dinge und Geschehnisse transparent. Furcht und Ehrfurcht erregt dieses Vermögen beim gemeinen Mann, noch mehr vielleicht bei den Mächtigen. An ihnen vor allem offenbart sich die scheinbare Regellosigkeit, die Ungewißheit des Diesseitigen. Qānṣauh al-Ġaurī und Ṭūmānbeg wurden, ohne daß man es hätte vorausahnen können, zu Herrschern erhoben, und jäh war ihr Fall. Ausgelöscht wurden sie, „als hätte es sie nie gegeben“.204 Daß es immer so kommt, ist klar, und dennoch verlangt es die Mächtigen nach einer Gewißheit über die Umstände ihres Herrschens und ob man es nicht so betreiben könne, daß doch alles ein gutes Ende nimmt. Darum bedürfen sie der Gottesfreunde, die für sie den Allzusammenhang schauen, Triumph und Scheitern als eine Sache der Weisheit Allahs deuten und den Frevel alles Herrschens, das eigennützige Eingreifen in das göttliche Bestimmen des Lebensunterhalts, sühnen – indem sie sich von den Mächtigen beschenken lassen. Dies ist das Gedankengut, dem ašŠaʿrānī zu genügen hatte: Es galt, die Balance auf dem Seil der Gottesfreundschaft zu wahren, damit sein Anspruch Glaubwürdigkeit gewann.

Kapitel 4 Beglaubigungen 4.1 Die Stimme Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich mir stets bewußt bin, daß alle Zeichen von Tugend und alle Wunder, die durch mich ins Werk gesetzt werden, in keiner Weise mein Tun sind, sondern allein dasjenige des erhabenen Allah, wie dies auch für alle meine übrigen Handlungen gilt; nur unter dem Gesichtspunkt der schariatischen Bewertung werden sie auf mich bezogen, da sie an meinen Gliedmaßen in Erscheinung treten.1 So ist es nach meinem Empfinden gleichviel, ob Allah durch mich ein Huldwunder geschehen läßt oder nicht. – Ich hörte Sidi ʿAlī, den Palmblattflechter, sagen: „Wer Allah erkannt hat, wird, indem er sich alles Eigenen beraubt sieht, nur desto mehr ermächtigt; denn er ist dann ganz mit Allah zusammen und mit dem, was Allah liebt, nicht mit dem eigenen Selbst und dem, was es liebt.“ Soweit seine Worte. Wer dieses Bewußtsein erlangt hat, ist davor sicher, auf die abschüssige Bahn zur Hölle zu geraten, die denen, die Wunder tun, droht. Diese Bahn nämlich betritt jeder, der meint, daß eine Handlung nach Maßgabe des Wahrgenommenen durch ihn selber geschieht und nur dem Glauben entsprechend seinem Herrn zugeschrieben werden muß, so daß der Handelnde zu gewissen Augenblicken der Lenkung durch Allah entzogen wäre. Zu gewissen Augenblicken geschehen mir Huldwunder wie dieses: Ich erhebe mich, um die Nacht in Andacht zu verbringen, finde aber nicht genügend Wasser, um mir das Gesicht zu waschen, und dann spreche ich im Herzen: „Oh Allah, du weißt, daß ich in diesem Augenblick mit dieser Waschung nichts anderes beabsichtige, als deine Majestät zu ehren, da ich dir nicht im Zustande ritueller Unreinheit gegenübersitzen darf!“ und es vermehrt sich das Wasser im Gefäß, so daß ich die Waschung vollziehen kann und noch ein Rest bleibt; bisweilen aber wende ich mich zu Allah mit der Bitte um Vermehrung des Wassers, doch nimmt das, was im Gefäß ist, nicht um einen Tropfen zu! Allerdings verringert dies meine Glaubensgewißheit nicht um ein Stäubchen, denn in beiden Fällen geht das Geschehen nicht von mir, sondern allein von Allah aus. Ich bin mithin nicht der Auffassung, daß ich einer Segenskraft, die ich hatte, nun beraubt worden bin, weil das Wasser im Gefäß sich nicht vermehrte. Ich sage mir nur, daß dies nach einer weisen Absicht Allahs so geschah, und dann bemühe ich mich, dieser Absicht zu folgen. Bisweilen versage ich bei einer Handlung, deren Vollzug mir Allah aufgegeben hat, und dann enthält er mir seine Fürsorge vor, weil er mich für mein unzureichendes Tun straft. Der erhabene Wahre ist stets mit seinem Knecht entsprechend dem, was an diesem Knecht vorfällt. Es verhält sich eben so, daß der erhabene Wahre seinen Knecht zum Gehorsam auffordert, dieser der Aufforderung aber nicht nachkommt; und desgleichen ruft der Knecht seinen Herrn an, aber die Antwort bleibt aus. Alles dies wird in Wahrheit von Allah so bestimmt, und ihm gebührt der Dank, sei es, daß er mir das Wasser in dem Gefäß vermehrt, sei es, daß die Menge zu gering bleibt. In gleicher Weise widerfährt mir bisweilen, daß ich im Winter aufstehe und das Wasser so kalt ist, daß ich es nicht benutzen kann. Dann bitte ich: „Oh Allah, mach mir die Kälte des Wassers erträglich!“ und empfinde es als heiß oder lauwarm, manchmal aber auch als so kalt, wie es war, und dies, obwohl ich mich doch in diesem Falle zu Allah mit einer Bitte gewandt hatte! Dies entspricht genau dem, was ich vorher ausgeführt habe: Es ist eine durch die Gerechtigkeit Allahs zu erklärende Strafe für die Unterlassung einer Handlung. Darum sei https://doi.org/10.1515/9783110789119-011

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Allah dafür gelobt, daß er mich zu einem derjenigen erwählt hat, die sich stets dahin wenden, wohin er sich wendet, nicht dorthin, wohin es mir Behagen bereitete. Diese Fähigkeit nahm ihren Anfang, als ich im Jahre 931 der Hedschra (begann am 29. Oktober 1524) von dem heftigen Verlangen erfaßt wurde, es möge mir ein Huldwunder widerfahren. Tagelang trug ich diese Bitte dem erhabenen Allah vor. Da vernahm ich in der dritten Nacht, als ich auf der Insel arRōḍa, wo sich der Nilometer befindet, in der Moschee des Meisters Aḥmad al-Abārīqī schlief, die Worte: „Selbst wenn Allah dir Einblick gewährte in das Reich der Himmel und der Erde, in die Anzahl der Sandkörner und der Blätter an den Bäumen, in die Gesamtheit der Pflanzen und Tiere und die ihnen zugemessenen Lebensfristen, in alles, was den Insassen des Paradieses und denen der Hölle während ihres Daseins auf der Erde, im Zwischenreich, im Paradies und in der Hölle widerfahren wird, selbst wenn ich auf deine Bitte Regen schicken und die Toten auferwecken würde und alles, womit Allah seine gläubigen Diener freigebig bedenkt, durch deine Hände gehen ließe, dann wärest du noch lange nicht ein wirklicher Diener Allahs! Darum sei standhaft im Gehorsam gegen deinen Herrn, dann hast du schon sein größtes Huldwunder empfangen!“ Kaum waren diese Worte gesagt, da blieb in mir, Allah sei gelobt, kein Begehren mehr nach irgendeinem Standplatz oder ekstatischen Zustand, alles Verlangen danach war mir mit einem Mal aus dem Herzen gewichen. Ich verfaßte eine etwa zehn Hefte starke Abhandlung, in der ich diese Worte, die ich vernommen hatte, erläuterte; sie ist eines meiner ersten Werke. Wisse das, mein Bruder, verstehe es und sei bestrebt, deinen Charakter danach zu formen! Du wirst dann den rechten Weg gehen…!2

*** Eine Prüfung – Unruhen nach dem Tod Selims – Der Sultan Aḥmad – Der Putsch gegen den Sultan Aḥmad – Wahre und falsche Gottesfreundschaft – Das Erkennen, Merkmal der Gottesfreundschaft – Eine wichtige Äußerlichkeit: Gastmähler – Schwindende Glaubwürdigkeit der Gottesfreundschaft? – Trennung zwischen Wissen und Spiritualität? – Gottesfreundschaft beweist sich durch das Wirken in der Welt – Das Äußere der Gottesfreundschaft – Die unsichtbaren, eigentlichen Merkmale – Die Eingebungen aus dem Verborgenen – Jenseits der „Standplätze“ – Weitere Zeugnisse für die Relativierung der „Standplätze“ – Beispiele für das Schauen des Verborgenen – Aš-Šaʿrānī und die Hierarchie der Gottesfreunde

Eine Prüfung Mit diesem Bekenntnis aš-Šaʿrānīs springen wir an das Ende jener Jahre der Festigung der osmanischen Herrschaft; aš-Šaʿrānī verbrachte diese Zeit in der Medresse der Umm Ḫūnd, wie wir hörten. In den damaligen Wirren hatte er eine Prüfung durchzustehen, von der er uns schon in anderem Zusammenhang berichtet hat: Er wurde bezichtigt, den Emir Ibn abī Iṣbaʿ verborgen zu halten und dem Zugriff der Obrigkeit zu entziehen, die damals in der Gestalt des Sultans Aḥmad eine ganz andere Politik ansteuerte, als die ägyptischen Emire und die osmanischen Statthalter sie bis dahin für richtig erkannt hatten. Aš-Šaʿrānī war ergriffen worden, man machte Anstalten, ihn in der Leibesmitte in zwei Stücke zu hauen, was eine von den Mamluken seit Jahrhunderten geübte Art der Hinrichtung war. Der unerschütterliche Gleichmut, mit dem er dem Ende entgegensah – das eigene Wollen

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muß hinter der Weisheit des göttlichen Vorgehens ohne Wenn und Aber zurückstehen –, rettete ihm das Leben. Und genauso verhält es sich mit dem Huldwunder, das er sich, wie er zugibt, so sehnlich gewünscht hatte. Der bedingungslose Gehorsam ist das bedeutsamste Huldwunder, das einem überhaupt zuteilwerden kann! Unruhen nach dem Tod Selims Im Jahre 1520 war Selim gestorben; ihm war sein Sohn Süleyman auf dem Thron gefolgt. Die kaum gefestigten Verhältnisse im ehemaligen Mamlukenreich waren wegen dieses Herrscherwechsels vollends aus dem Lot geraten. In Damaskus war Ǧānbirdī al-Ġazālī von Selim zum Statthalter eingesetzt worden, in Kairo regierte Ḫairbeg, und beide schienen eine Politik der Loyalität gegenüber den Osmanen zu verfolgen. Aber damit war es im Augenblick des Überganges der Macht vorbei. AlĠazālī erhob sich gegen die Osmanen und versuchte, Ḫairbeg in diesen Aufstand hineinzuziehen. Ḫairbeg war sich nicht sicher, ob man in diesem Spiel werde gewinnen können. Er ließ die geheimen Botschaften, die al-Ġazālī ihm geschickt hatte, dem Sultan Süleyman übergeben. Ibn Ijās schätzte die Lage so ein: Al-Ġazālī, der – im Gegensatz zu Ḫairbeg – bei der Bevölkerung sehr beliebt gewesen sei, habe sich zum Sultan ausrufen lassen und sei vom Militär und von den Beduinen unterstützt worden. Sein Fehler sei es gewesen, daß er sich nun zuerst nach Norden gewandt habe, um Aleppo in seinen Besitz zu bringen. Er hätte stattdessen nach Ägypten marschieren und der Herrschaft Ḫairbegs ein Ende setzen sollen. Die Ägypter, auch die Beduinen, wären mit Freuden zu al-Ġazālī übergelaufen! So aber kam es, wie es kommen mußte, meint Ibn Ijās. Den 14 000 Soldaten, die Süleyman aufbot, konnte al-Ġazālī nichts Gleichwertiges entgegensetzen. Er erlitt vor Aleppo eine schwere Schlappe, dann bei Hama und bei Hims, schließlich auch in der Nähe von Damaskus. In dieser Schlacht fand er den Tod, obwohl die Leute in Kairo sich erzählten, er sei in das Reich der Safawiden geflüchtet.3 Ḫairbeg hatte sich nicht vom Kurs der Treue zu den Osmanen abbringen lassen. Er schickte Ǧānim al-Ḥamzāwī mit wertvollen Geschenken an den Hof des neuen Sultans und achtete im übrigen darauf, daß auch in Äußerlichkeiten diese Treue demonstriert wurde. Als er im Winter 1521 auf 1522 seine Truppen musterte, nahm er Anstoß an den langen Kinnbärten, die seine tscherkessischen Mamluken trugen; er befahl, daß man ihnen die Bärte stutzte, wie es osmanische Sitte war.4 Zahlreiche weitere Hinweise auf eine betont enge Zusammenarbeit zwischen Ḫairbeg und Sultan Süleyman finden sich in der Chronik des Ibn Ijās, darunter auch Belanglosigkeiten. So erbat sich Süleyman die Setzlinge ägyptischer Dattelpalmen, die er in Istanbul pflanzen lassen wollte; er erhielt fünfhundert einer Sorte mit kleinen Früchten, die sich durch ihren hohen Zukkergehalt auszeichneten.5

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Im Oktober 1522 erkrankte Ḫairbeg schwer und verstarb. Süleyman handelte schnell und ernannte einen Bosnier mit Namen Muṣṭafā Pascha zum Statthalter. Dieser trat schon im November sein Amt an, das er bis zum 16. August 1523 innehatte.6 In dieser Zeit verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Osmanen und den Emiren Ägyptens. Die Verwalter des westlichen Deltas sowie von Gize und Bahnasa taten sich zusammen und erhoben sich gegen die Besatzungsmacht. Sie verloren den Kampf und ihr Leben. Der Friede wurde rasch wiederhergestellt, aber die mittelbaren Folgen waren für das Land verhängnisvoll. War erst das Vertrauen in die Ergebenheit der einheimischen Emire erschüttert, blieb den Osmanen, zumal nach den Erfahrungen in Syrien, kaum etwas anderes, als die Kontrolle zu verschärfen, sich genau zu überlegen, in wessen Hände man die Verantwortung geben durfte, und schließlich darauf zu achten, daß keiner der entsandten Gouverneure allzu lange in Kairo bleibe und womöglich von Unabhängigkeit zu träumen beginne – was die Geographie des Landes und seine in einer ruhmreichen Vergangenheit wurzelnde Eigenständigkeit nur zu leicht nahelegen mochten. Im übrigen wurde in den nächsten Monaten deutlich, daß es für Ägypten außerordentlich ungünstig war, wenn die Statthalterschaft in die Machtspiele am osmanischen Hof verwickelt wurde. Im Juni 1523 zog sich in Konstantinopel der Großwesir Piri Mehmed Pascha von den Amtsgeschäften zurück, die er fünf Jahre lang geführt hatte; er war also noch von Süleymans Vater in das höchste Amt berufen worden, das der Sultan zu vergeben hatte. Einen triftigen Grund für den Rücktritt – oder war es eine Entlassung? – nennen die Quellen nicht. Verfehlungen hatte sich Piri Mehmed Pascha nicht zuschulden kommen lassen, und so sprach man hinter vorgehaltener Hand davon, daß der junge Sultan den lästigen Aufpasser los sein wollte, den erfahrenen Staatsmann, der überdies den ehrgeizigen Würdenträgern der nächsten Generation als das ärgerlichste Hindernis für die Entfaltung ihres Tatendranges erscheinen mußte. Unter denen, die sich Hoffnungen machten, Piri Mehmed Pascha demnächst zu beerben, war auch Aḥmad Pascha, ein Mann albanischer Herkunft, der durch die Knabenlese in osmanische Dienste gelangt war und eine steile Laufbahn durchmessen hatte. Beim Tode Selims hatte er bereits die Stellung des Bey der Beys von Rumelien erreicht; unter Süleyman behielt er diesen Posten, so daß wir ihn 1521 vor Belgrad finden. Ein Jahr später, beim Krieg um Rhodos, führte er einen Teil der Truppen, die die Festung angriffen; er wird allerdings nicht mehr als der Generalgouverneur des europäischen Gebietes des Reiches bezeichnet.7 Das Oberkommando für diesen Kriegszug hatte Süleyman dem schon erwähnten Muṣṭafā Pascha anvertraut, mit dem er verschwägert war. Noch ehe Rhodos erstürmt wurde, erfuhr man dort vom Tod Ḫairbegs. Es zeugt von der Bedeutung, die man Ägypten beimaß, daß man in dieser Lage auf Muṣṭafā Pascha verzichtete und ihn nach Kairo entsandte. Im Oberkommando auf Rhodos folgte

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ihm Aḥmad Pascha, der am 20. Dezember 1522 die Festung auf der Insel in Besitz nehmen konnte. Der Sultan Aḥmad Aḥmads Träume vom Großwesirat erfüllten sich jedoch nicht. Süleyman befriedigte ihn mit der Statthalterschaft in Kairo, in die er am 15. Juli 1523 als Nachfolger Muṣṭafā Paschas berufen wurde. Es ist unklar, ob Aḥmad selber den Wunsch geäußert hatte, dieses Amt zu übernehmen, oder ob sein glücklicherer Rivale, der nunmehrige Großwesir Ibrāhīm Pascha, dafür gesorgt hatte, daß jener Mann, der sein Intimfeind war, aus dem Zentrum der osmanischen Macht entfernt wurde. Jedenfalls versüßte man Aḥmad Pascha den Abgang vom Hof, indem man ihm Ägypten als ein Dienstlehen übertrug. Dies jedenfalls behauptet eine arabische Quelle. Wenn es sich tatsächlich so verhalten haben sollte, dann hätte man Aḥmad Pascha nicht nur die Gelegenheit zu hemmungsloser Bereicherung eröffnet. Ungleich folgenschwerer wäre der Umstand, daß der Inhaber zwar zur Verwaltung und militärischen Sicherung seines Lehens verpflichtet war, aber nicht mit dem Sultan hätte absprechen müssen, wie er dieser Pflicht nachkommen wolle. – Am 20. August 1523 hielt Aḥmad Pascha feierlichen Einzug in Kairo; unter den Männern, die ihm die Ehre des Geleits gaben, war Ǧānim al-Ḥamzāwī. Sollte letzterer gehofft haben, die Politik der unbedingten, jedoch für Ägypten vorteilhaften Ergebenheit gegenüber dem Sultan in Istanbul werde unter Aḥmad Pascha fortgesetzt werden, so sah er sich getäuscht. Aḥmad Pascha arbeitete darauf hin, sich ganz von der Bevormundung durch den Hof zu befreien. Er war bestrebt, die Janitscharen zurückzuschicken. Eine fünfhundert Mann starke Einheit dieser Truppengattung hatte sein Vorgänger Muṣṭafā Pascha nach Ägypten mitgebracht, als er seine Statthalterschaft angetreten hatte. Statt die osmanische Herrschaft zu sichern, setzte Aḥmad Pascha auf den Wunsch der Mamluken, das fremde Joch abzuschütteln. Er begann, ein ihm ergebenes Heer aufzustellen, in das er vorzugsweise Tscherkessen und Einheimische aufnahm. Ferner schuf er ein Armeekorps aus tausend schwarzen Sklaven, die er an modernen Feuerwaffen ausbildete. Offenbar sollten sie allein sich damit auskennen, denn einen Janitscharen, der sich ein russisches Gewehr besorgt hatte, ließ er am Zuwaila-Tor aufhängen. Sidi ʿAlī b. Dāʾūd, der Aḥmads Herrschaft über Ägypten erlebte, weiß zu erzählen, daß dieser, kaum in Kairo angelangt, dem Zauber der Stadt erlegen sei. Jedenfalls träumte sich Aḥmad als den Erneuerer dahingesunkener mamlukischer Herrlichkeit. Er ging daran wiederherzustellen, was die Ägypter seit der Eroberung ihres Landes durch Selim so schmerzlich vermißten: das alte Gerichtswesen mit einem Oberqāḍī einer jeden der vier Rechtsschulen an der Spitze. Dann maßte er sich die Insignien des Sultanats an, prägte Münzen mit seinem Herrschernamen, ließ sich in der Frei-

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tagspredigt preisen und streute überdies das Gerücht aus, Süleyman habe ihm alles dies ausdrücklich erlaubt. Zuletzt wurde er offiziell zum Sultan von Ägypten erhoben. Ein Sohn des Kalifen al-Mutawakkil wohnte dieser Zeremonie bei – eine deutliche Bezugnahme auf das mamlukische Vorbild. Unterstützung für seine Politik suchte er bei den Beduinen. Außerdem gab er den Tscherkessen gegenüber zu erkennen, er sei als ihr Rächer gekommen. Doch nur wenige unter ihnen waren so leichtsinnig, den Interessenausgleich, der sich unter Ḫairbeg zwischen ihnen und den Eroberern herausgebildet hatte, um vager Versprechungen willen aufzukündigen. Ǧānim al-Ḥamzāwī, der sich stets für diesen Ausgleich eingesetzt hatte und dadurch reich und mächtig geworden war, stand der Politik Aḥmads am ehesten im Wege, und so verwundert es nicht, daß dieser ihn zu vernichten trachtete. Aḥmad begab sich nach aṣ-Ṣāliḥīja in die Ostprovinz des Deltas, wo Ǧānim seine Hausmacht hatte und die Landverbindung von Kairo in die Kerngebiete des Osmanischen Reiches kontrollierte. In aṣ-Ṣāliḥīja sollte Ǧānim der Prozeß gemacht werden, in dem es vor allem darum ging, daß Personen, die durch den Angeklagten um ihren Besitz gebracht worden waren oder sich als seine Opfer sahen, von ihm Wiedergutmachung ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Einbußen verlangen durften. Dieses von Sidi ʿAlī b. Dāʾūd als Farce geschilderte Verfahren begann am 3. Rabīʿ al-auwal 930 (10. Januar 1524) und wurde wenige Tage später in Imbaba im Beisein der vier Großqāḍīs fortgesetzt. Sogar der Beduinenführer ʿAbd ad-Dājim wurde aus seiner Festungshaft herbeigeschleppt, damit er Ansprüche gegen Ǧānim geltend machen konnte. Unterdessen hörte man, ein Bote mit einem – vielleicht von Aḥmad fingierten? – Brief Süleymans sei eingetroffen, worin der ferne Herrscher seinem Statthalter empfohlen habe, alle seine Rivalen zu köpfen. Das ließ sich Aḥmad nicht zweimal sagen. Als erster wurde ein Würdenträger namens Kara Mūsā enthauptet, der kurz zuvor ein gutes Wort für Ǧānim eingelegt hatte. Auf Aḥmads Geheiß legte man den abgetrennten Kopf dem in Eisen gefesselten Ǧānim vor die Füße. Dann meuterten die Janitscharen auf der Festung von Kairo und beanspruchten Aḥmads volle Aufmerksamkeit. Ǧānim al-Ḥamzāwī wurde in ein Haus in der Stadt verbracht. Das drohende Ende seines Gönners muß aš-Šaʿrānī in größte Furcht versetzt haben, zumal wenige Tage später sein erklärter Feind, der Beduine ʿAbd adDājim b. Baqar, von Aḥmad zum Machthaber des östlichen Deltas ernannt wurde. Nahe bei aṣ-Ṣāliḥīja lag Baršūm aṣ-Ṣuġrā mit den Ländereien, aus denen aš-Šaʿrānī Einkünfte bezog; wenn Ǧānim al-Ḥamzāwī fiel, wer hätte dann die Hand über ihn gehalten – gegen einen Sultan, der Dienstlehen für seine Klientel brauchte, und gegen dessen räuberische Sachwalter? Zudem achtete Sultan Aḥmad die Gottesfreunde nicht, wie es wünschenswert gewesen wäre. Das hatte aš-Šaʿrānī am eigenen Leibe erfahren, als dessen Schergen an ihm die Strafe der Zweiteilung hatten vollziehen sollen. Jener Kara Mūsā, der Fürsprecher Ǧānims, war ein Adept des in

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der Muʾaijadīja-Medresse unweit des Zuwaila-Tores tätigen Gottesfreundes Meister Ibrāhīm8 gewesen. Ihm, so glaubte man zu wissen, hatte Kara Mūsā 50 000 Goldstücke in Verwahrung gegeben; diesen Schatz mußte Aḥmad haben. Er bestellte die vier Großqāḍīs ein und begann mit ihnen eine Unterhaltung über die vier Rechtgeleiteten Kalifen und über die Rechtsschulen, um dann das Gespräch auf jenen Meister Ibrāhīm zu lenken. „Wir kennen seine Redeweise nicht, und es ist nicht die unsere“, sagten einige ausweichend, andere räumten ein, Meister Ibrāhīm äußere Worte gegen die Scharia. Der Verdacht war ausgesprochen. Sultan Aḥmad ließ Ibrāhīm ausrichten, er habe 100 000 Goldstücke zu zahlen und dann nach Jerusalem in die Verbannung zu gehen. Ibrāhīm aber schwor, sein Verhältnis zu Kara Mūsā sei rein spirituell gewesen, und berief sich auf Sure 49, Vers 6: „Wenn ein Missetäter“ – und das ist auf den Würdenträger Kara Mūsā zu beziehen9 – „zu euch mit einer Nachricht kommt, dann erwägt sie genau! Ihr könntet aus Unwissenheit Leuten einen Schaden zufügen und das dann bereuen.“ Sultan Aḥmad gab sich endlich damit zufrieden, daß ihm Ibrāhīm die in Verwahrung gegebenen 50 000 Goldstücke überstellte.10 – Der proosmanischen Politik Ǧānim al-Ḥamzāwīs wird aš-Šaʿrānī zeit seines Lebens treu bleiben. Zu der, wie man damals meinen konnte, überholten Rechtspflege der vier Schulen wird er ebenfalls Distanz halten, ja, er wird sogar an ihrer Überwindung arbeiten unter Einsatz seiner Autorität, die ihm aus der Gottesfreundschaft zufließt, und er wird deswegen von den Anhängern des Überkommenen angefeindet werden. Der Vorfall um Meister Ibrāhīm berührte ašŠaʿrānī nicht persönlich, aber es werden Leitlinien sichtbar, die sein späteres Wirken bestimmen werden. Der Putsch gegen den Sultan Aḥmad Eines Tages, Ende Februar 1524, erfuhren einige der unter Aḥmad in Ungnade gefallenen Würdenträger, unter ihnen Ǧānim al-Ḥamzāwī, daß sich der Sultan in ein Bad begeben habe. Sie riefen rasch einige Soldaten zusammen, um ihn sich zu greifen, aber seine Leibwache verteidigte ihn tapfer, so daß er entkommen konnte. Er floh zu ʿAbd ad-Dājim. Die Verfolger holten ihn bald ein, mußten aber unverrichteterdinge umkehren, als sie sahen, daß sie die Übermacht seiner beduinischen Helfer nicht bezwingen würden. Sie ritten nach Kairo zurück, wo sie sich in den nächsten Tagen den Gehorsam der Truppen sicherten, nicht zuletzt, indem sie ihnen den Sold auszahlten. Um die Erregung über Aḥmad Pascha zu steigern, rief man nun die Richter auf die Festung und enthüllte ihnen, daß jener und einer seiner wichtigsten Gehilfen, Mehmed Bey Kadizade, leibhaftige Agenten Šāh Ismāʿīls (reg. 1501– 1524) seien, denn man habe eine rote Kappe mit dem Abzeichen der Safawiden entdeckt und sei nun davon überzeugt, daß die Unterwerfung des Sunnitentums unter die Zwölfer-Schia gerade noch vereitelt worden sei. Die Richter

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sollten Sorge tragen, daß diese Schändlichkeiten von allen Predigtkanzeln herab dem Volk bekanntgegeben würden, damit es sich zum heiligen Krieg gegen die Anhänger des Schiitentums bereitfinde. Man werde um sein Leben, um die Unversehrtheit der Familie kämpfen müssen, und jeder, der nicht in die Schlacht ziehe, müsse einen bestimmten Geldbetrag aufbringen, damit man einen Ersatzmann bezahle. Ǧānim al-Ḥamzāwī und seine Parteigänger brachten auf diese Weise immerhin ein Heer von etwa zweitausend Mann zusammen. Unerwartete Verstärkung erhielten sie, als in Alexandrien tausend Janitscharen an Land gingen, die Süleyman als Besatzung bestimmter Befestigungsanlagen nach Ägypten geschickt hatte. Da wurden die Beduinen untereinander uneins; sie waren nicht mehr davon überzeugt, daß sie sich mit der richtigen Seite verbündet hatten. Schon vor sechs Jahren, als man ʿAbd ad-Dājim verhaftete, waren einige seiner Angehörigen gegen ihn gestanden. Diese ergriffen nun die Partei des osmanischen Sultans und seiner Kairoer Helfer und erreichten, daß ʿAbd ad-Dājim von Aḥmad Pascha abfiel. Darauf ließen auch die meisten Tscherkessen den Rebellen im Stich. Mit ganzen sechs Getreuen flüchtete Aḥmad in das Gebiet westlich des Deltas, wo die kleine Schar von einigen Beduinen, die zu den von den Banū Baġdād beherrschten Sippen gehörten, angegriffen wurde. Für kurze Zeit entkamen sie ihren Verfolgern, dann aber wurden sie gestellt. Man enthauptete sie, für einige Tage konnten die Kairoer, die über diese Wendung der Dinge froh gewesen sein sollen, Aḥmads Kopf am Zuwaila-Tor begaffen, dann, Anfang März 1524, brachte man die Trophäe auf den Weg zu Sultan Süleyman. Noch im selben Jahr erließ dieser ein Gesetzeswerk, mit dem er Ägypten einer schärferen Kontrolle unterwarf.11 Wahre und falsche Gottesfreundschaft In die Zeit unmittelbar nach dem Sieg über Aḥmad fällt der Aufbau der Klause, mit der aš-Šaʿrānī die Selbständigkeit erlangte. Er hatte auf der richtigen, der siegreichen Seite gestanden.12 Mehrfach kommt er jedoch in seinen Erinnerungen auf die Frage zurück, wie weit ein Gottesfreund sich in die Abhängigkeit von einem Emir begeben dürfe. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, warnte vor allzu viel Sorglosigkeit und Unbesonnenheit. Er empfahl, sich vor der Vereinnahmung durch den Mächtigen zu schützen, indem man in dessen Gegenwart einen anderen Gottesfreund rühmte und den Glauben an den Nebenbuhler weckte. Er selber, so versichert ašŠaʿrānī, habe immer nach diesem Ratschlag gehandelt und sogar dem Beduinenfürsten Muḥammad b. Baġdād, dem Emir Ibn abī Iṣbaʿ und weiteren hochgestellten Persönlichkeiten nahegelegt, sich mit anderen Gottesfreunden einzulassen. Ganz schädlich sei es, in Gegenwart der Mächtigen die Konkurrenten herabzusetzen und ihnen Verfehlungen nachzusagen. Auf Dauer werde solches Verhalten in den Gönnern den Verdacht nähren, alle Gottesfreunde taugten nicht viel – das für beide

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Seiten fruchtbare und ersprießliche Zusammenwirken könnte gefährdet werden. Wenn aš-Šaʿrānī die anderen Gottesfreude lobte, dann verstand er dies als das Zeichen einer Bescheidenheit, die nicht völlig selbstlos war, sondern den Zweck verfolgte, von der eigenen Person abzusehen, um desto sicherer das eingespielte Verhältnis zwischen den Großen auf der einen Seite und den Gottesfreunden, den Vermittlern der Sühne für Gewalt und Habgier, auf der anderen Seite von allen Erschütterungen freizuhalten. Allen Brüdern legt er dringend ans Herz, es ihm gleichzutun, denn im Augenblick sei er in Kairo der einzige, der nach dieser Richtschnur handele; den Ton gäben bedauerlicherweise alle jene an, die sich zu Unrecht Meister titulieren ließen.13 Deren waren allzu viele, meint aš-Šaʿrānī, und so widmet er dem Übelstand, den er diagnostiziert hat, nach Ablauf des Jahres 933 (endete am 27. September 1527) die Streitschrift Über die, welche die Meisterschaft und die Gottesfreundschaft für sich in Anspruch nehmen.14 Der Zorn hat aš-Šaʿrānī bei der Abfassung das Schreibrohr geführt. Ein jeder, der von irgendeinem Meister die Erlaubnis erhalten hat, ein Kränzchen zum gemeinschaftlichen Gottesgedenkens zusammenzurufen und den Teilnehmern die Formeln mitzuteilen, jeder, der in der Abgeschiedenheit die Stimme eines Dämonen oder Teufels hört, hält sich heute schon für einen Gottesfreund. Der eine bleibt in seiner Stadt, der andere hockt am Straßenrand. Beide verlangen sie „in diesen trüben, schlimmen Zeiten“ den Gemeinen wie den Mächtigen Spenden ab und behaupten, in der Schöpfung den Rang des Propheten einzunehmen. Welch ein schamloser Unglaube! Wenn diese Scharlatane sich wenigstens damit begnügen wollten, die Gaben, die ihnen zufließen, an die Bedürftigen zu verteilen! Aber nein, sie verkünden ungeniert, daß jeder Mensch, der auf dem Weg zu Allah vorankommen will, jemanden, wie sie es sind, sich zum Führer wählen müsse. „Bei meinem Leben! Die Fellachen und die Handwerker sind Allah näher als jeder dieser Betrüger; denn jene plagen sich ihr Leben lang mit Riten ab, die den Menschen nutzen. Die Betrüger aber stiften ihr Leben lang den Menschen nur Schaden; denn indem sie sich absondern, ihr Selbst zähmen und bisweilen Allahs gedenken, erstreben sie nichts anderes als sich über das gemeine Volk hinauszuheben und ihren Weg zu propagieren, von dem sie behaupten, zu seiner Befolgung aufzurufen. So mag einer von jenen hungern, bis die Mischung seiner Körpersäfte aus dem Lot gerät und er Sonnen und Sterne sieht, und man mag glauben, daß dies eines der Kennzeichen des Weges sei…, und doch ist dies alles nichts weiter als ein Umhertappen in der Finsternis!“ Nur indem man sich der Höflichkeit gegen Allah befleißigt und genau die Regeln beachtet, die das rechte Verhalten gegen Allah und seine Schöpfung bestimmen, wird man ein Gottesfreund, nicht, indem man sich mit Hunger schwächt, um Sterne oder Sonnen zu schauen. Der Islam ist solchen Scharlatanen gleichgültig, und man muß sich ganz nüchtern eingestehen, daß der rechte Glaube im Schwinden begriffen ist, seufzt aš-Šaʿrānī. In diesem Jahre 933

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starben, wie die Gottesfreunde dieser Zeit erschauten, 150 000 Menschen, und ganze zehn von ihnen starben als Muslime! Wenn dies so ist, so ist es schon etwas sehr Kostbares, ein Muslim zu sein – von tiefer Gläubigkeit und von der Gottesfreundschaft ganz zu schweigen! Hier klingt aš-Šaʿrānīs Audition an, die er 1524 auf der Nilinsel ar-Rōḍa erlebte. Ob man sich nur dann als Gottesfreund ausgeben dürfe, wenn man ein Huldwunder vorweisen könne und worin überhaupt ein solches bestehe – für aš-Šaʿrānī sind solche Probleme zweitrangig angesichts der Diagnose, die er seinen Zeitgenossen stellt. Nicht nur er, auch viele andere Muslime suchten damals nach Klarheit über den Kern des Glaubens und über die Menschen, an denen dieser Glaube in augenfälliger Weise in Erscheinung trat. Aš-Šaʿrānī, dessen Gedanken zu diesem Gegenstand wir noch eine Weile lauschen, spricht nicht nur, wie man vorschnell vermuten könnte, weil er selber um Anerkennung als Gottesfreund ringt, sondern weil er sich gedrängt fühlt, sich in eine Debatte einzuschalten, in der es um nichts Geringeres als um Heil und Verdammnis ging. Und wie sehr das Heil der erdrükkenden Mehrzahl der Muslime gefährdet war, das belegt aš-Šaʿrānī mit der obigen Schätzung. Er jedenfalls nimmt diese Zahl ernst und stellt dem Leser damit die unaufschiebbare Notwendigkeit vor Augen, die Verhältnisse von Grund auf zu bessern: Aš-Šaʿrānī will die falschen Meister bloßstellen, damit sie erkennen, daß ihnen alle Vorzüge der wahren Gottesfreunde fehlen, und damit die Heilsbedürftigen sich nur an die wahren Meister wenden – an jene authentisch Erkennenden, über die ihn Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, belehrt hatte. Das Erkennen, Merkmal der Gottesfreundschaft Ein wirklicher Meister kennt alle seine Adepten schon seit jenem aller Zeit vorausliegenden Bund, den Allah mit den künftigen Geschöpfen schloß; Allah ließ sie, so steht es in Sure 7, Vers 172, aus dem Rückgrat der präexistenten Nachkommen Adams hervortreten und fragte sie: „Bin ich nicht euer Herr?“ Und sie antworteten: „Gewiß doch!“ Schon bevor sie zu unterschiedlichen von Allah festgelegten Zeitpunkten ins Dasein traten, wußten die wahren Gottesfreunde von ihrer Bestimmtheit zum Heil, wußten sie, daß es darin zu finden sein werde, sich der Fügung ihres Herrn zu unterwerfen. Der Meister, der seinen Zögling erst in dem Augenblick kennenlernt, in dem dieser um Unterweisung nachsucht, hat selber keine Erinnerung an den Urbund,15 weiß demnach auch nicht, wem er überhaupt die Einsicht und das Erkennen vermitteln wird. Woran liest man nun ab, ob jemand befugt ist, als Meister eine Formel des Gottesgedenkens weiterzugeben? Er muß ein Gottesfreund sein, antwortet aš-Šaʿrānī, und ein Gottesfreund beweist sich an dem Erkennen, über das er gebietet, ohne daß er das Erkannte je irgendwelchen Büchern hätte entnehmen können. Dieses Erkennen umschließt vielerlei: Vergangenheit und

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Zukunft der Welt und des Geschehens in ihr, das Wesen der Namen Allahs, das Jenseitsschicksal der Menschen; die Einsicht in alles, was in einem gegebenen Augenblick auf der Tafel der göttlichen Bestimmung eines jeden Menschen gelöscht und was auf ihr bestätigt wird; den göttlichen Hof und die von dort ins Werk gesetzte Umwandlung der Wesenheiten, wohingegen dieser Hof selber unwandelbar ist; die Umwandlung der Handlungen eines Menschen, etwa in Hunde oder Schweine; das Wesen alles Verborgenen, aber auch die Beziehungen zwischen den Menschen in ihren unterschiedlichen Ständen und die Erkenntnis dessen, was ihnen nutzt oder schadet – eine sehr kostbare und subtile Einsicht, fügt aš-Šaʿrānī hinzu. Nicht zuletzt erkennt der Gottesfreund den Einen in der gleichen Weise wie die von allem eigenen Wollen freien Engel. Ein Mensch gewinnt solche Erkenntnis nicht eher, als er seine menschliche Natur abgestreift hat. Dann aber weiß auch er, wie man den Hof Allahs betritt und der Vertraute des Schöpfers wird; weshalb eine reinen Herzens ausgeübte Handlung verworfen werden kann; wie Allah vorgeht; wie jemand einer versteckten Selbsttäuschung erliegt und unverzüglich bestraft wird; wie es sich mit dem Jenseits verhält und wieviel ein Mensch an Wert hat – mancher erreicht den Rang eines ganzen Mannes, manch einer auch nur den vierten Teil davon. Dem Gottesfreund sind ferner alle Tiere vertraut, mögen sie auf dem Land oder im Wasser leben; er kennt ihre Namen und ihre Lebensfrist, und die Tiere kennen ihn. Er durchschaut es, wenn Falsches in der Gestalt einer Wahrheit dargeboten wird. Er weiß, wie der Eine sich verhüllt und sich offenbart, weiß, wie alles Geschehen am Jüngsten Tag ablaufen wird. Eine wichtige Äußerlichkeit: Gastmähler Jeder Gottesfreund muß erschauen, welche Wendungen der Lebensweg seiner Zöglinge nahm und nehmen wird, muß erfühlen, wer für den Pfad taugt und wer nicht und von welcher Art die göttliche Fügung ist, der sie unterliegen; denn nur dann kann er ihnen befehlen, was Allah für sie vorsieht. In dieser bösen Zeit freilich halten sich viele Gottesfreunde verborgen. Zu abstoßend ist, was sie Tag für Tag ansehen müssen. Selbst wenn sie davon überzeugt wären, daß jene Scharlatane ein wenig von der Gottesfreundschaft verstehen, so hassen sie sie doch; und ihr Haß ist um so erbitterter, als stets aufs neue offenbar wird, daß jene nichts als Betrüger sind. Im übrigen könne auch ein echter Gottesfreund sich nicht aus eigener Machtvollkommenheit den Menschen aufdrängen. Es müßten erst die übrigen Gottesfreunde zusammenkommen und ihm huldigen, wie es mit ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī geschah.16 – Al-Ǧīlānī (gest. 1166) hatte einst, so will es die Gründungslegende der Qādirīja-Gemeinschaft, den bei ihm versammelten Meistern des Irak gepredigt und, in Verzükkung geraten, ausgerufen: „Mein Fuß hier steht auf dem Nacken eines jeden Gottesfreundes!“ Und sogleich waren die Anwesenden zu ihm gestürzt und hatten

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vor ihm den Nacken gebeugt, damit er den Fuß darauf setzte.17 – Wenigstens ein Gottesfreund muß dem künftigen Meister huldigen, und dieser muß im wachen Zustand, nicht im Traum, die Aufforderung des Huldigenden hören: „Sei ein Meister!“ In der heutigen Zeit aber wird man Gottesfreund durch ein Gelöbnis oder einfach durch persönlichen Einfluß, so wie man für einen Derwisch erkannt wird, indem man ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt, dem gemeinen Volk gegenüber eine ehrfurchtgebietende Aura verbreitet und zahlreiche unwissende Gefolgsleute um sich schart. „Jeder, der Leute in seiner Klause versammelt und mit beliebigen Gästen tafelt, ist in den Augen des gemeinen Mannes schon ein Meister, denn die Gemeinschaft und die Speise sind es, die für das einfache Volk den Meister ausmachen. Kann jemand beides nicht vorweisen, dann gilt er dem Volk nicht als Meister, selbst wenn er ein großer Gottesfreund sein sollte. Im besten Fall hält man ihn für einen Meister des Erkennens; einen solchen aber würde man nicht beachten. Da nun die Untauglichen diese Auffassungen des Pöbels bemerkt haben, täuschen sie ihn und behaupten die Gottesfreundschaft und sagen zu ihnen: ‚Es steht euch zu, was ihr eßt und trinkt!‘ Denn sie wissen, daß sie sich vor dem gemeinen Mann nicht als Meister aufspielen können ohne diese Gäste. Ohne sie können sie keinen Weizen, keinen Käse, weder Honig noch Linsen oder anderes erjagen – und so verkommt das Meistertum zur Bettelei. Bei meinem Leben, niemand taugt dazu, ein Meister genannt zu werden außer den Fellachen und den Handwerkern, denn sie sind es, die den Meister ernähren, sei es durch das, was sie erwerben, sei es durch das, worauf sie verzichten. Der Meister also wird von Allah in die Liste derjenigen eingetragen, die von dem Fellachen oder Handwerker leben!“18 Es ist genau umgekehrt, wie die falschen Meister vorgeben; nicht sie sind es, die die Bedürftigen speisen. In seiner Lebensbilanz kommt aš-Šaʿrānī ebenfalls auf diesen Übelstand zu sprechen. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, verbat sich energisch, daß man für ihn ein üppiges Gastmahl aus Anlaß seines Geburtstags veranstalte. Er erklärte dem Emir, der ihn so hatte ehren wollen, daß er ganz gut von den Palmblättern lebe, die er verarbeite. Der Emir Jūsuf b. abī Iṣbaʿ glaubte an einen Meister, der auf dem Lande wohnte; ihm pflegte er die Hände und die Füße zu küssen und ihm Gastmähler zu spendieren, zu denen er viele Leute lud; und er war beunruhigt, wenn jemand der Einladung zum Meister nicht folgte. Eines Tages aber ließ er den Meister ergreifen, verordnete ihm eine Bastonade und befahl, man solle dem Mann die Haare scheren. „Ich vermutete, er sei fromm“, begründete Ibn abī Iṣbaʿ seinen Befehl, „aber es stellte sich heraus, daß er gar kein Meister war!“ Jemand aus der Umgebung des osmanischen Statthalters ʿAlī Pascha, zu dessen Regierungszeit aš-Šaʿrānī seine Lebensbilanz zog, äußerte sich ganz abfällig über die ägyptischen Gottesfreunde: „Wir sind der vielen Bettelei dieser Meister überdrüssig, die sich ein Gastmahl besorgen. Sie lassen uns keinen Honig, keinen Reis, keine Linsen, nicht eine Erbse!

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Was ist ihnen denn zugestoßen, daß sie so betteln und sich solche Mähler verschaffen?“19 Schwindende Glaubwürdigkeit der Gottesfreundschaft? Aš-Šaʿrānī fragt sich,20 warum die Erkennenden seiner Zeit so wenig Drang verspüren, als Meister die Menschen auf den rechten Pfad zu weisen. Allzu viele Prüfungen, allzu schweres Leid, denen die Muslime ausgesetzt sind, müssen die Gottesfreunde in ihren Herzen und Seelen ertragen. Wenn der Meister einen Adepten vor einem Unheil bewahren will, gelingt ihm dies womöglich nicht, und das Unheil befällt auch den Meister, und zwar als Strafe für das schlechte Verhalten des Zöglings. Dies kann man bei Hofe beobachten, wenn die Herrscher zürnen.21 – Der Einfluß der Gottesfreunde, so mußten wir schließen, ist im Schwinden begriffen, man achtet sie nicht mehr so unbedingt und fraglos, wie dies unter den Mamluken gang und gäbe war. – Die Erkennenden wissen, daß die Höflichkeit gegen Allah heutzutage gerade darin liegt, auf die Annahme von Adepten zu verzichten. Wahrscheinlich meint aš-Šaʿrānī, daß wegen der genannten Gefahr die Meisterschaft an Glaubwürdigkeit verliert. Weshalb bringt es in dieser Zeit nur noch so geringen Nutzen, wenn man einem Adepten die Erlaubnis erteilt, die Formel des Gottesgedenkens zu verbreiten und dadurch den Einfluß eines Meisters auszudehnen? Diese Frage legte aš-Šaʿrānī einem der Großen unter den Gottesfreunden vor, der tausend Zöglinge aufgenommen hatte, ohne daß einer von ihnen später ein gewandelter Mensch geworden wäre. Der Gefragte blieb die Antwort schuldig, und es stellte sich heraus, daß ihm ein malikitischer Richter die Meisterschaft zuerkannt hatte, der vom Weg der „Leute“ nichts verstand22 – ein bloßes Papier war an die Stelle der Sache getreten. Wer an solch einen Meister gerät, muß der nicht das Scheitern befürchten? Die Meister sind nicht mehr immer echt, und die echten Meister bleiben allzu oft ohne Wirkung – das ist die bestürzende Folge davon, daß Unberufene sich die Gottesfreundschaft anmaßen. Inwieweit solche Klagen begründet waren, läßt sich kaum ermitteln. Viele Angehörige der einstigen Eliten waren nach Konstantinopel verschleppt worden, Ibn Ijās berichtet ab und an von einigen glücklichen, die nach Kairo zurückkehren durften, aber auch von fehlgeschlagenen Fluchtversuchen, doch über das Schicksal derjenigen, die daran beteiligt gewesen waren, schweigt er sich aus. Wenn man voraussetzt, daß wie überall und immer so auch im mamlukischen Kairo selten die Besten in die wichtigen und einträglichen Stellungen berufen worden waren, so bleibt als Ursache für das Mißbehagen aš-Šaʿrānīs in jedem Fall der Umstand, daß durch den Eingriff Selims die eingespielten Verhältnisse empfindlich gestört wurden und für jeden Ehrgeizigen die Zukunft schwieriger auszurechnen war als vorher. Dies konnte man durchaus so wahrnehmen, als maßten sich Unwürdige

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Ämter und öffentliche Wirksamkeit an, eine Wahrnehmung, in der Ibn Ijās mit ašŠaʿrānī übereinstimmt. So schreibt Ibn Ijās unter dem Ṣafar 926 (begann am 22. Januar 1520): „In diesem Monat entband der ‚König der Emire‘ (Ḫairbeg) den Jaḥjā b. at-Tāǧ aš-Šarafī vom Meisteramt der in der Muʾaijad-Moschee wohnenden (Sufis); dessen Stelle bekam einer der Söhne der Fremden, wie es heißt, ein Osmane. Jene Person war bar jeglichen Wissens und jeglicher Bildung und hatte keinerlei Ruf unter den Sachkundigen. Die Umtriebigen unter den Gelehrten und den Kennern des Rechts protestierten gegen dieses Vorgehen und mißbilligten es. Er habe Jaḥjā b. at-Tāǧ abgesetzt, ohne daß dieser sich etwas habe zuschulden kommen lassen und ohne allen anderen Grund, und er habe einen Unwürdigen mit diesem Amt betraut. Dergleichen gehört zu den schändlichen Neuerungen.“23 Der Mamlukensultan alMuʾaijad Šaiḫ (reg. 1412– 1421) hatte die Medresse, die unmittelbar am Zuwaila-Tor liegt, mit reichen Stiftungen ausgestattet. Der Text der Urkunde ist glücklicherweise überliefert, so daß man sich eine Vorstellung machen kann, worum es in dem von Ibn Ijās als ein Zeichen aufkommender unguter Sitten getadelten Streit ging. Die Ländereien, deren Ertrag den Betrieb der Medresse aufrechterhalten sollten, waren über das ganze Niltal verteilt. Manche lagen in Kairo selbst oder in den nahen Provinzen al-Qaljūbīja und al-Minūfīja, andere im Faijum, bei Bahnasa und selbst bei Assiut. Dazu kamen eine Zuckersiederei mit allen Gerätschaften, Gärten in der Gegend von al-Maṭarīja im Weichbild von Kairo, gewerblich genutzte Liegenschaften in Damaskus, Safed, Hama und Aleppo. Dies alles wurde von Muʾaijad Šaiḫ einem Verwalter unterstellt, der in eigener Verantwortung die wirtschaftlichen Verhältnisse der Stiftung regelte. Natürlich darf man nicht erwarten, daß dieses weitgespannte Unternehmen das ganze Jahrhundert, das zwischen dem Gründer und Ḫairbeg liegt, unbeschadet überstanden hätte. Die Angaben zu den Gehältern, die die an der Medresse angestellten Gelehrten und Diener bezogen, waren mit Sicherheit nicht mehr gültig; wegen der schon um 1500 bemerkbaren Entfremdung zwischen dem syrischen und dem ägyptischen Teil des Reiches dürften zudem die Erträge aus Damaskus, Safed, Hama und Aleppo seit längerem nicht mehr nach Kairo geflossen sein, und die Wirrnisse der ersten Jahre nach der osmanischen Eroberung mögen weiteres zum Schlechten gewendet haben. Trotzdem lohnt ein Blick in die Stiftungsurkunde. Sie nennt die Anforderungen, die an die Inhaber der Ämter zu stellen sind, bestimmt deren Aufgaben und die Höhe der Einkünfte. Das erste und damit herausragende Amt, das hier beschrieben wird, ist „der Meister der Sufis. Er muß ein hanafitischer Gelehrter sein, der über ausgezeichnete Kenntnisse des Pfades des Sufismus verfügt, von gutem Aussehen und in der guten Glaubenslehre verwurzelt; die Überlieferungen, die Auslegungen, die unter den Rechtsschulen umstrittenen Fragen müssen ihm geläufig sein; er muß die Fähigkeit haben, schwierige Fälle zu lösen, Beweise zu erarbeiten und das Problematische leicht einsichtig zu machen. Er unterrichtet in der Moschee das Recht nach der hanafi-

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tischen Schule und nimmt dort an den jeden Nachmittag stattfindenden Pflichtveranstaltungen im Sufismus teil, wie sie in Konventen und Moscheen üblich sind. Monatlich sind ihm 550 Niṣf in reinem Silber zu zahlen oder eine Summe, die diesem Wert entspricht. (Der Verwalter) stellt zusammen mit ihm fünfzig hanafitische Studenten ein, die ebenfalls die Lektionen des Sufismus aufsuchen; jeder von ihnen erhält im Monat 40 Silber-Niṣf und jeden Tag vier Raṭl24 Brot.“ Wesentlich geringer wurden die Professoren der anderen Rechtsschulen besoldet; der Schafiit mußte sich mit 150 Niṣf zufriedengeben, dem Malikiten und dem Hanbaliten wurden nur 100 zugebilligt. Während der Schafiit immerhin noch vierzig Studenten um sich scharen konnte, gestattete man dem Malikiten nur fünfundzwanzig, dem Hanbaliten sogar nur zehn. Die Lernenden der drei vom Stifter weniger geschätzten Schulen empfingen Stipendien in derselben Höhe wie ihre hanafitischen Kommilitonen, mußten aber anscheinend auf die tägliche Brotration verzichten. Daneben stellte man einen ḥadīṯ-Lehrer und einen Kenner der sieben Koranlesarten an; ihr Gehalt kam demjenigen des Schafiiten gleich. Dasselbe gilt für den Spezialisten, der die Studenten in der im Hanafitentum außerordentlich geschätzten Glaubenslehre aṭ-Ṭaḥāwīs (gest. 933) unterwies. Sehr unterschiedlich fallen die Gehälter der Bediensteten unterer Ränge aus: Die siebzehn Gebetsrufer „mit schöner Stimme“ erhalten nur je 15 Niṣf, hingegen der Straßenfeger, der die unmittelbar vor der Moschee entlangführende belebte Gasse, die am Zuwaila-Tor aus der ummauerten Stadt hinausführt, von allem Unrat sauberzuhalten hat, immerhin 43; sein Kollege, der für das wesentlich kürzere Stück Weges, der außerhalb der Mauer an der Medresse entlang zur Festung hinaufsteigt, verantwortlich ist, muß sich mit 15 begnügen.25 Trennung zwischen Wissen und Spiritualität? Zweierlei ist an diesen Angaben aufschlußreich. Zum ersten gewinnen wir eine ungefähre Vorstellung von den Einkünften, die das Amt des im hanafitischen Recht ausgewiesenen Leiters der Anstalt in der Zeit ihrer Gründung einbrachte. Die 100 bis 150 Niṣf der Lehrer der drei übrigen Rechtssysteme und der Spezialisten des ḥadīṯ, des Korans und der Dogmatik stehen für die durchschnittlichen Einkünfte eines Absolventen einer Medresse; die übrigen Bediensteten müssen sich mit einem Bruchteil dessen begnügen. Nach Schätzungen benötigte man pro Kopf etwa 10 Niṣf im Monat, um die elementaren Lebensbedürfnisse zu befriedigen.26 Zum zweiten ist bemerkenswert, daß der Inhaber des schon durch die Höhe der Besoldung über alle anderen hinausgehobenen Amtes neben der Pflicht der Lehre im hanafitischen Recht die Verantwortung für die spirituelle Bildung der Studenten trägt. Er muß in sich die beiden Qualifikationen vereinen, deren mühevollen Erwerb aš-Šaʿrānī in den Kapiteln „Wissen“ und „Erkennen“ geschildert hat. Mit dem tscherkessischen

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Sultanat begann, wie schon erwähnt, um 1400 die tatkräftige Förderung der in Ägypten kaum verwurzelten hanafitischen Rechtsschule, und daß Ḫairbeg die Professur nun einem Fremden, womöglich einem Osmanen zuschob, läßt darauf schließen, daß dieser Posten noch immer einer der lohnendsten war, den in Kairo ein Hanafit innehaben konnte. Im übrigen waren die Osmanen entschiedene Anhänger dieser Rechtsschule. Auffällig ist nun, daß in der Zeit Ḫairbegs die spirituelle Ausbildung von der schariarechtlichen getrennt worden ist. Denn wie könnte man sonst verstehen, daß die Großqāḍīs der vier Rechtsschulen sich so entschieden von Meister Ibrāhīm distanzierten, wie vorhin berichtet wurde? Oder hatte Meister Ibrāhīm auf inoffizielle Weise, von Gönnern geschützt, seine Unterweisungen im Sufitum in der Muʾaijadīja-Medresse begonnen? Diese Fragen bleiben ohne Antwort. Aber wir denken an die im späten 13. Jahrhundert faßbar werdende Ablösung der ḥadīṯ-Gelehrsamkeit von den Schariawissenschaften zurück: Im ḥadīṯ-Vortrag wurde die Heilsbestimmtheit der Muslime unmittelbar erfahren. Läge eine allzu sorglos beanspruchte Gottesfreundschaft nicht ganz im Zuge einer Entwicklung, die von der institutionalisierten, professionalisierten, an eine Ausbildung gebundenen Vermittlung muslimischer Heilserwähltheit hin zu einer am Ende voraussetzungslosen, nicht mehr definierbaren führt? Aš-Šaʿrānī stünde also mitten im Übergang, einerseits bemüht, die alten Standards zu bewahren, andererseits nicht unberührt von den Ideen seiner Zeit? Für eine solche doppeldeutige Position gibt es, je weiter wir seinen Werdegang verfolgen, starke Indizien; und es wird sich zeigen, daß er in dieser Hinsicht dem osmanischen Sultanat nahesteht. Aš-Šaʿrānī hatte in der al-Ġamrī-Moschee, wo er seine schariatische Ausbildung durchlief, wahrscheinlich kein Stipendium zur Verfügung gehabt. Er bekam aber gewiß Nahrung und Kleidung aus den Spenden, die dort eingingen. Es wird indessen deutlich, daß die Einrichtung und Leitung eines Gebetszirkels alles andere als eine nebensächliche und womöglich zu belächelnde Betriebsamkeit war, mit der sich ein frömmelnder Ehrgeizling wichtig machte. Aš-Šaʿrānī drängte sich vielmehr in die Führungspositionen der Lehranstalt, in eines der Ämter, das vor allen anderen die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog und im höchsten Ansehen stand. Daß Abū l-Ḥasan al-Ġamrī auf der Trennung beharrte, war unausweichlich, wenn er nicht aus der Hand geben wollte, was ihm als Erbe zugefallen war. In seiner kleinen Abhandlung über die wahre Meisterschaft spricht aš-Šaʿrānī von nichts anderem als der Möglichkeit, nicht durch Erbe oder Ernennung, sondern aus eigenem Streben zum Meister zu werden. Die äußere Beglaubigung durch eine Urkunde ist belanglos, in den unsicheren Verhältnissen nach dem Untergang des mamlukischen Sultanats besagt sie weniger als je. Es kommt allein darauf an, daß die im Menschen selber liegenden Voraussetzungen für den Erwerb der Meisterschaft nachgewiesen werden können. „Wer seine eigenen Verhältnisse für gerade erachtet, der hält diejenigen seiner Brüder für krumm, und wer die eigenen für krumm erachtet, der hält

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diejenigen seiner Brüder für gerade.“ Wem Allah die Einsicht in die Unzulänglichkeit des eigenen Lebenswandels eröffnet, der wird bei allen Menschen in die Lehre gehen und von allen seinen Nutzen haben; wer umgekehrt an allen etwas auszusetzen findet, der wird immer nur schauen, daß andere ihm folgen und auf ihn hören. Unterstützung und Hilfe erhält aber nur der, der bereit ist, die eigenen Fehler zu erkennen und gegenüber den Mitmenschen offen einzuräumen. Der Weg zur Meisterschaft, „unser Weg“, führt stets über die Selbsterniedrigung. Man muß zunächst in einer Gemeinschaft leben, die Brüder immer wieder aufsuchen, ihnen zuhören, ihre Zurechtweisungen annehmen. Selbst wenn man schon als Meister bezeichnet wird, darf man nicht erwarten, daß andere unablässig um einen herumschwärmen. Man geht zu seinen Brüdern und zu anderen Meistern und läßt sich belehren, selbst wenn einem deswegen nachgesagt wird, man sei wohl nur ein Mann von bescheidenem Rang.27 Gottesfreundschaft beweist sich durch das Wirken in der Welt Der ständige Kontakt mit den Brüdern und mit den Menschen überhaupt ist, wie ašŠaʿrānī häufig betont, ohnehin die wichtigste Voraussetzung für das Erringen der Meisterschaft. Sich von der Welt zurückzuziehen, wie er selber es einst praktiziert hat, hält er „in dieser Zeit“ nicht mehr für sinnvoll. Er führt einen theologischen Grund gegen diese im Sufitum sonst sehr geschätzte Stufe des Weges zum Entwerden im Einen an: Wer sich von den Menschen zurückzieht, der verfällt der Lehre von der Körperhaftigkeit und Richtungsgebundenheit Allahs. „Wenn aber seine Glaubenslehre richtig wäre, dann müßte er Allah zusammen mit jedem Geschöpf sehen, und welchen Zweck erfüllte dann die Absonderung? Denn die Derwische in unserer Zeit, die abgeschieden und zurückgezogen leben, schauen nicht mehr den Einen Wahren. Vielmehr sind sie nicht dagegen gefeit, nur noch sich selber zu betrachten und sich für besser zu dünken als alle die, von denen sie sich absondern.“ Nichts als Hochmut verrät dieses Verhalten heutzutage, nichts als den Wunsch, die anderen Menschen mit der eigenen Frömmigkeit zu beeindrucken und sie zu beeinflussen. Die Bindung an einen Meister, der nur selten in seiner Anhängerschar zugegen ist, zieht ihre Kraft allein aus dem Unterhalt, den dieser gewährt; der eigentliche Sinn sufischer Gemeinschaft geht verloren. Wie sollte es anders sein, als daß ein solcher Meister, der sich selber viel gottesfürchtiger als seine Adepten vorkommt und den engen Kontakt mit ihnen meidet, die so unentbehrliche Erziehung vernachlässigt? „Denn wenn er ihnen auftrüge, was ihrem Begehren widerstrebt, würden ihm nur wenige folgen. So aber hat jeder Meister eine Anhängerschar, die mit ihm im Lande umherwandert.“ Wieviel Mißbrauch wird da getrieben! Es kommt vor, daß ein Meister in einem Jahr keine Neigung zeigt, seine Anhänger auf dem Lande zu besuchen – da flehen sie ihn an, er möge doch zu ihnen

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aufbrechen, alle Welt warte auf ihn.Worauf aber warten die Anhänger in Wahrheit? Nur darauf, daß der Meister erscheint und sich die Gelegenheit zur Völlerei bei den Gastmählern bietet, deren Aufwand die Fellachen tragen müssen. Zum Dank für deren Mühen sagt man ihnen: „Auf dir ruht Segen, weil der Meister bei dir gespeist hat!“ Überhaupt scheinen der Stolz, die Überheblichkeit und damit verbunden die Prunksucht die schlimmsten Laster der falschen Meister zu sein. In der Moschee verlangen sie einen abgetrennten Platz und kostbare Teppiche für ihre Gebete, sie tragen feine Gewänder und wissen sich auch sonst vom einfachen Volk abzusetzen.28 Aš-Šaʿrānī spricht davon, daß sich die falschen Meister auf zweierlei Art von der Wirklichkeit abschotten: zum einen durch die Aura der Unnahbarkeit, mit der sie sich umgeben, um den Menschen Ehrfurcht und Demut einzuflößen; zum anderen durch ihre den allzu engen und häufigen Kontakt mit der Welt meidende Lebensweise, die es ihnen unmöglich macht, ihre Adepten tatsächlich zu erziehen. Erteilen sie ihnen die Erlaubnis, die Formel des Gottesgedenkens weiterzureichen, dann muß man sich fragen, was eine solche Erlaubnis überhaupt wert sein soll. „Einer unserer Brüder fragte Meister ʿAbd al-Qādir ad-Dašṭūṭī nach den Meistern, die in jener Zeit in den Klausen lebten – er nannte Nūr ad-Dīn al-Marṣafī und Tāǧ ad-Dīn aḏ-Ḏākir namentlich: seien sie Gottesfreunde? Ad-Dašṭūṭī antwortete: ‚Mein Sohn, alle diese haben den Duft des Pfades der Derwische niemals wahrgenommen, weit sind sie von dessen Ziel entfernt. Sie sind Derwische, die nur geringe Bildung besitzen. Dabei gibt es viele echte Gottesfreunde!‘ Und er zählte eine Gemeinschaft von Köchen auf, eine Gemeinschaft von Ölhändlern, desgleichen unseren großen Meister, den Allah Erkennenden, aš-Šarkasī – Allah erbarme sich seiner! ‚Wenn du zu einem jener mangelhaften, selbsternannten Meister sagst, er sei kein Gottesfreund, dann wird er antworten, mit seinem Pfad habe der Pol gar nichts zu tun und auch nicht die Gottesfreundschaft, und er stehe außerhalb des Kreises des Pols. Nun sieh dir seine Unwissenheit an! Kann denn überhaupt irgendein Muslim den Blikken des Pols entgehen und außerhalb seines Kreises sein?‘“ Aus dieser Antwort adDašṭūṭīs leitet aš-Šaʿrānī das stärkste Argument seiner Kritik an den Meistern seiner Zeit ab: Sie mögen auf mancherlei Weise den Bräuchen der Derwische folgen und es auch verstehen, Gemeinschaften um sich zu scharen und anzuführen – was ihnen allemal fehlt, ist die wahre Gottesfreundschaft,29 deren Vertreter eine im Pol gipfelnde Hierarchie bilden. Das Äußere der Gottesfreundschaft Ehe wir aš-Šaʿrānīs Gedankengang in seiner Abhandlung über die untüchtigen Meister seiner Zeit weiterverfolgen, müssen wir uns einige Nachrichten über alMarṣafī und aḏ-Ḏākir verschaffen, die ad-Dašṭūṭī als Derwische kennzeichnet, die

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dem angeblich unzulänglichen Ideal der Zurückgezogenheit verpflichtet sind. Nūr ad-Dīn al-Marṣafī war ein Gelehrter, der sich mit vielen Schriften über den „Weg“ einen Namen gemacht hatte. Wie Zakarjā al-Anṣārī hatte er eine Kurzfassung der Abhandlung al-Qušairīs geschrieben; aš-Šaʿrānī studierte sie, nachdem er zuvor mit al-Anṣārī dessen Version durchgenommen hatte, und hatte auch sonst engeren Kontakt mit ihm. Insgesamt dreimal will er von al-Marṣafī dessen Worte des Gottesgedenkens empfangen haben. Aš-Šaʿrānī gesteht, daß er schon als bartloser Jüngling bei jenem Meister vorstellig geworden sei und die Formel erbeten habe, und zwar so, daß sie eine heftige Ekstase hervorrief. Al-Marṣafī habe gesprochen: „Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Erbarmers! Mein Sohn!“ Dann habe er einen Augenblick geschwiegen und schließlich hinzugefügt: „Sag: Es gibt keinen Gott außer Allah!“ und noch ehe der Meister geendigt habe, seien aš-Šaʿrānī die Sinne geschwunden; fünfzehn Tage lang habe er nicht gewagt, al-Marṣafī vor Augen zu treten, denn das Begehren nach heftiger Ekstase sei eine Respektlosigkeit gegen den Meister. Auch bei der zweiten Übermittlung fiel aš-Šaʿrānī, wie er in seiner Sammlung von Sufi-Biographien erzählt, sogleich in Trance, und die war, als stäche ihm alMarṣafī drei Nadeln tief in die Haut. An das dritte Mal knüpft aš-Šaʿrānī keine ungewöhnlichen Ereignisse, versichert aber, daß er al-Marṣafī bis zu dessen Tod, der in das Frühjahr 1524 fällt,30 häufig aufsuchte. Eine der Mahnungen al-Marṣafīs merkte sich aš-Šaʿrānī besonders: Ein Derwisch dürfe nie in einer Moschee oder Klause wohnen, deren Stiftungseinkünfte einem Personenkreis vorbehalten seien, zu dem er nicht gehöre; überhaupt sollten die Derwische vorzugsweise mit ihresgleichen Umgang haben. Im übrigen überliefert aš-Šaʿrānī die Ansichten jenes Meisters über das Verhältnis zu den Adepten. Der Dreh- und Angelpunkt dieser Beziehung ist der Akt der Verpflichtung, der den Zögling nicht nur an den Meister bindet, sondern eine kritiklose Unterwerfung fordert. Der Meister gleicht einem Arzt, dessen Anweisungen der Kranke zu folgen hat, ohne sie zu bemäkeln. – Tāǧ adDīn aḏ-Ḏākir, der ein Jahrzehnt früher als al-Marṣafī starb, war aš-Šaʿrānī nicht ganz so gut bekannt. Er führt ihn in seinem biographischen Werk mit der Bemerkung ein, das Licht, das diesem Meister im Herzen leuchtete, sei auch von seinem Gesicht ausgestrahlt, und jedes Haar an ihm habe gleichsam gesprochen: „Dies ist ein Gottesfreund!“ Tāǧ ad-Dīn habe den Boden seiner Klause ganz mit schwarzem Filz auskleiden lassen, nur gedämpft durfte man die Schritte hören, denn „der Hof der Derwische gehört zum Hof des Einen Wahren, es ziemt sich nicht, daß man dort eine laute Stimme oder ein heftiges Geräusch vernehme“ (vgl. Sure 49, 2 f.). Aḏ-Ḏākirs Anhänger zeichneten sich durch „Schönheit und Vollkommenheit“ aus, zahlreich waren seine Adepten, noch zahlreicher die Vornehmen und die Geringen, die an ihn glaubten; seine Fürsprache bei Sultanen und Emiren bewirkte viel. Aḏ-Ḏākir war zudem ein Virtuose im Fasten, das er für die wichtigste Kunst des Derwischs erklärte. Auch gelang es ihm gegen Ende seines Lebens, nur noch alle elf Tage eine

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rituelle Waschung vollziehen zu müssen. Einmal beschlossen etliche Leute aus der Ibn Ṭūlūn-Moschee, sie wollten Meister Tāǧ ad-Dīn auf die Probe stellen. Sie luden ihn nach Gize zu einem Gastmahl ein, für das sie reichlich Früchte, Geflügel und saure Milch mit Reis besorgt hatten. Über viele Tage zog sich das Gelage hin, Tāǧ adDīn ließ es sich schmecken und vollzog nie die rituelle Waschung, die doch unerläßlich ist, sobald man nach Verrichtung der Notdurft wieder pflichtgemäß beten will. „Sidi, diese da wollen dich prüfen!“ flüsterte ihm jemand zu, nachdem dies schon neun Tage so gegangen war. Darüber war der Meister so verstört, daß er schnurstracks zum Nilufer eilte und eine Fähre bestieg. Jene rannten ihm hinterher und folgten ihm in einem anderen Schiff, das aber in den Fluten versank. „Lob sei Allah!“ rief Tāǧ ad-Dīn aus, als er von dem Unglück erfuhr, dann aber besann er sich; eine so schadenfrohe Bemerkung sei ihm noch nie entschlüpft, und sein Diener erzählte später, daß der Meister aus Gram über jene Bemerkung siebenundvierzig Tage lang krank daniedergelegen habe.31 – Soweit aš-Šaʿrānīs Bericht über die beiden Meister, denen ad-Dašṭūṭī, der zur Zeit der Niederschrift der Abhandlung über die Scharlatane unter den Derwisch-Oberen schon verstorben war, die Gottesfreundschaft abgesprochen hatte. Hinter den Worten, die man einem Toten in den Mund legt, kann man sich gut verbergen.Was aš-Šaʿrānī in den Sufi-Biographien der Erwähnung wert hält – die Art, in der al-Marṣafī das Gottesgedenken vermittelt und über die enge Bindung des Adepten an den Meister räsoniert; die Überzeugung, der Hof des Derwisch-Meisters sei Teil des Hofes Allahs, und die fürchterliche Strafe, die die Zweifler trifft – alles dies ist keineswegs sarkastisch gemeint. Es ist aš-Šaʿrānī bitter ernst damit, denn wie könnte er sonst ausdrücklich darauf verweisen, daß er al-Marṣafīs Belehrungen in seine Abhandlung über die Regeln des Sufismus übertrug?32 Die äußeren Anzeichen des Derwischtums, auf die viele Menschen so viel geben, sind ein unaussonderbarer Teil der Sache, um die es ihm geht; sie sind aber noch nicht diese Sache selbst. Das ist die Ansicht, um deren Verdeutlichung er ringt. Die unsichtbaren, eigentlichen Merkmale „Wisse, daß das stärkste Indiz für das Fehlen der Gottesfreundschaft bei (falschen) Meistern darin zu finden ist, daß sie die Gottesfreunde, die die Macht des Eingreifens (in die göttliche Fügung) besitzen, nicht kennen.“ – Sie halten es für unnötig, sich in die Hierarchie der Gottesfreunde einzuordnen, an deren Spitze der Pol steht. Auf diesen Fehler hatte ad-Dašṭūṭī, wie wir eben erfuhren, aufmerksam gemacht, und aš-Šaʿrānī pflichtete ihm in diesem Tadel bei: Der Pol verkörpert überdies die Fähigkeit, die Glaubensbrüder zu läutern!33 – „Gehörten (jene ‚Meister‘ tatsächlich) zu (den Gottesfreunden), müßten sie sie kennen, wie dies bei den Angehörigen eines jeden Gewerbes der Fall ist. Wenn diese auch nicht alle kennen, so wenigstens einige. Diese nun werden nicht zu den Teilhabern der Gottesfreund-

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schaft gezählt. Allein das einfache Volk tut dies, das an jeden glaubt, der sich in seine Klause zurückzieht und jemandem die Worte des Gottesgedenkens eingibt. Jeder, der dies macht, gilt beim Volk als ein Meister. Deshalb fertigt es für ihn einen Schrein und einen Behang und sagt ehrfürchtig: ‚Ein Meister! Ein Meister!‘ und allerhand anderes – wir bitten Allah um Verzeihung und um Wohlergehen im Diesseits und im Jenseits!“34 Nicht die Erzwingung der Treue des Zöglings, wie al-Marṣafī sie lehrt, zeichnet den Gottesfreund aus, sondern die Bereitschaft, klaglos auf die Ergebenheit zu verzichten, sobald sich ein Adept einem anderen Meister zuwendet; nicht die bis ins äußerste gesteigerte Ritenfrömmigkeit nach Art Tāǧ ad-Dīns rechtfertigt den Anspruch auf die Meisterschaft. Im Gegenteil, der Satan war es, der sich gegenüber Allah auf die unbeirrbare Ritenerfüllung berief,35 so unbeirrbar, daß er den Befehl des Schöpfers, sich vor Adam niederzuwerfen, mißachtete (Sure 2, 34 und 15, 33). Der Koran tadelt solchen Hochmut scharf, und aš-Šaʿrānī stößt, indem er auf diese Worte der Offenbarung anspielt, den Leser auf die Einsicht, daß die Gottesfreundschaft sich darin erweise, daß der Mensch sich unter Abstreifung seines Ich, seiner eigenen Wünsche und Meinungen, in das Wollen des Einen fügt. Die herausgehobene Stellung, die der Meister innehat, die Verehrung, die ihm viele Menschen zollen, alles dies macht ihn anfällig für den satanischen Stolz – sofern es ihm an der Gottesfreundschaft mangelt. Die heiligen Lichter: Über die Erkenntnis der Regeln des Sufitums nannte ašŠaʿrānī das Werk, in dem er das erlernbare Verhalten der Adepten darlegt und vielfach auf die Pflichten und Rechte der Meister eingeht. Es ist die Schrift, in die er auch Anregungen al-Marṣafīs aufnahm. Ob dieses Werk schon in den zwanziger Jahren geschrieben wurde, ist kaum mit Sicherheit zu entscheiden. Der Ton, den er hier bisweilen anschlägt, ähnelt dem in der Abhandlung über die Scharlatane: Der letzte wirkliche Meister sei al-Marṣafī gewesen; damals hätten Emire und Sultane die Meister noch geachtet, ja sie aufgesucht, ihnen die Fußsohle geküßt; heute gebe sich auch der Unberufene, dem es allein auf Reichtum ankomme, für einen Meister aus, reise nach Konstantinopel, um sich bei den Mächtigen einzuschmeicheln.36 Solches Fehlverhalten läßt natürlich auch die bewährten Sitten im Umgang der Adepten mit den Meistern in Vergessenheit geraten. Aš-Šaʿrānī sieht sich daher genötigt, diese Sitten aufzuzeichnen und zu erläutern. Sie sind aber nach seiner Überzeugung noch nicht das Eigentliche, nicht das, wodurch der Meister sich legitimiert. Diesen Gedanken stellt aš-Šaʿrānī in einer zweiten Abhandlung dar, die er ebenfalls Die heiligen Lichter nennt, jedoch mit dem Untertitel Über die Bräuche der metaphysischen Gottesknechtschaft versieht. Hier also beschäftigt er sich mit eben den Verhaltensweisen und Gesinnungen der Gottesfreundschaft, die allein einen Meister ausmachen. Es ist die Audition des Jahres 931, die aš-Šaʿrānī an den Anfang seiner Ausführungen stellt. Was sie bedeutet, wird nun unmittelbar einsichtig: Er hat einen entscheidenden Schritt weiter getan über das Erlernbare hinaus, und

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dabei ist ihm einsichtig geworden, daß gerade diese zusätzliche Erfahrung ihm die Unterscheidung zwischen echter und falscher Gottesfreundschaft ermöglicht, zwischen ihren äußerlichen Merkmalen und ihrem wahren Wesen. Die Eingebungen aus dem Verborgenen Am 17. Raǧab 931 (10. Mai 1525) begehrte er heftig die Gottesfreundschaft und verspürte eine ebenso lebhafte Abneigung gegen alles, was er bis dahin getrieben hatte. Nun werde manch einer bezweifeln, daß man in dieser Zeit überhaupt noch mit Eingebungen aus dem Seinsbereich des Verborgenen beschenkt werden könne. Solche Zweifel hält aš-Šaʿrānī jedoch für unbegründet. Die Stimme, die er damals auf der Nilinsel ar-Rōḍa vernahm, könnte einem Engel, einem Gottesfreund, einem frommen Dämon, dem unsterblichen al-Ḫaḍir oder sogar dem Mahdī gehört haben, der am Ende der Tage im Diesseits erscheinen wird. Die erste Sorge aš-Šaʿrānīs in der Schrift über die Bräuche der Gottesfreundschaft ist mithin, das Vorkommen von Auditionen plausibel zu machen. In diesem Bemühen holt er weit aus. Hier werden wir seinen Überlegungen nur so weit folgen, wie es zum Verständnis seines Ringens um die Beglaubigung seines Anspruches unerläßlich ist. Was Allah den Propheten offenbart, nennt man teils Eingebung, teils Gesetz. Von Eingebung spricht man, wenn sich die Eigenschaft Allahs als eines Redenden im Koran oder in einer anderen heiligen Schrift manifestiert; das Gesetz hingegen ist die Erscheinung des göttlichen Handelns, sei es in einem Ḥadīṯ, sei es in einer Nachricht oder einem auf den Propheten zurückgehenden Brauch. Die Herabsendung der Vorschriften des Gesetzes ist mit dem Tod Mohammeds zum Abschluß gekommen, nicht jedoch die Herabsendung des Wissens von diesen Vorschriften, das fortwährend den Herzen der Gottesfreunde zuströmt.37 Aš-Šaʿrānī wehrt sich gegen den Vorwurf, er beanspruche den Rang eines Propheten, indem er von jener Stimme erzähle – nicht einmal den eines mit dem Herzen Erkennenden wolle er sich anmaßen, denn er habe jene Worte im Traum, nicht im Wachen vernommen. Die apologetische Absicht verbindet er allerdings mit einer Beschreibung des richtigen, bescheidenen Verhaltens gegen Allah, einer Demut, die geeignet sei, die heutige Art von Meistern ganz und gar der Untauglichkeit zu überführen.38 Dem Gegenstand, um dessentwillen aš-Šaʿrānī diese Schrift verfaßt hat, wendet er sich erst in dem langen Schlußkapitel zu, in dem er erörtert, weshalb viele „Standplätze“, deren Einnehmen den Sufis als ein höchst erstrebenswertes Ziel erscheint, in der Gottesfreundschaft aufgehoben werden und ihren vermeintlichen Wert einbüßen. Um diese für manche seiner Zeitgenossen vielleicht überraschenden Erkenntnisse stichhaltig zu begründen, muß er zuvor ausführlich erklären, was Ritenfrömmigkeit und das Wissen, das sie untermauert, bedeuten und wie sich ein Derwisch zu verhalten hat. Aš-Šaʿrānī beschäftigt sich mit den nämlichen Gegen-

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ständen wie in den Heiligen Lichtern: Über die Kenntnis der Regeln des Sufitums, nur eben auf seine apologetischen und polemischen Absichten hin zugespitzt, die ihn seit jenem Erlebnis beflügeln, das ihm seine Erwähltheit bestätigte.39 – Diesen Teil der Abhandlung, die erlernbaren Verhaltensmuster, dürfen wir jetzt überspringen, da wir den Inhalt in Umrissen schon kennengelernt haben und später, wenn wir ašŠaʿrānīs Art des Erziehens betrachten werden, des näheren hierauf eingehen müssen. – Wie aber ist es zu verstehen, daß das, was den Weg der Sufis so beschwerlich macht, jene „Standplätze“, die man sich auf diesem Weg so mühsam erkämpfen muß, etwa durch die unentwegte Skrupelhaftigkeit im ganzen Lebensvollzug, nun einfach nur noch etwas Äußerliches, womöglich sogar Entbehrliches sein soll? Die Erklärung ist im Grunde naheliegend: Wenn der Mensch einen Weg beschreitet, dann befindet er sich auf diesem Weg stets irgendwo. Er hat ein Ziel vor Augen, und allein hieraus ergibt sich, daß sich in ihm ein Begehren regt, daß er etwas für sich wünscht, nämlich das Ziel zu erreichen. Aš-Šaʿrānī drückt dies so aus: „Wisse, daß alle Standplätze für die lauteren Gottesknechte bedeutungslos geworden sind. Eben deswegen empfinden sie eine vollkommene Gelassenheit gegenüber dem frommen und dem bösen Charakter der Handlungen und gegenüber allem, was ihre Vollkommenheit beflecken könnte. Denn wer in der reinen Knechtschaft, nämlich in Demut und im Bewußtsein des völligen Scheiterns, im Innern wie nach außen hin, wandelt, keinerlei glückliches Gelingen erwartet und immerfort die eigene Unzulänglichkeit vor Augen hat, der braucht sich mit nichts von alledem zu peinigen, denn er sieht, daß auch das Höchste, dessen er fähig ist, im Verhältnis zu dem, was Allahs Majestät erfordert, mangelhaft bleibt.“40 Jenseits der „Standplätze“ Die am meisten fortgeschrittenen Gottesknechte sind darum diejenigen, die gar keinen „Standplatz“ mehr haben. Die Skrupelhaftigkeit, mit der man auch noch die geringste Ablenkung von der ununterbrochenen Gottesverehrung zu meiden trachtet, lenkt einen schließlich von eben dieser Gottesverehrung ab. Man ist sich nicht mehr der beglückenden Wahrheit bewußt, daß Allah in jedem Augenblick mit einem ist; jede Regung des Gottesknechtes, sei sie ein Akt des Gehorsams oder der Widersetzlichkeit, ist etwas, das Allah von ihm will. Denn selbst wenn der Knecht dem Befehl Allahs zuwiderhandelt, so folgt er doch dessen Willen. Die Einsicht in das Walten der schöpferischen Fügung hängt keineswegs davon ab, daß der Mensch Taten des Gehorsams gegen Allah vollbringt. Diese Einsicht „gewährt Allah als eine Gnade. Die Taten aber erfolgen um der Vergeltung im Jenseits willen. Wisse, daß es undenkbar ist, daß ein Gläubiger eine Gesetzesübertretung begeht, für die Allah eine Strafe androht, ohne daß diesen Gläubigen danach die Reue über seine Missetat befällt. Im ḥadīṯ aber heißt es: ‚Die Reue ist eine bußfertige Wendung (zu Al-

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lah).‘ Man kann sich demnach gar nicht vorstellen, daß den ungehorsamen Gläubigen gar keine Reue ankommt. Folglich verabscheut er seine Gesetzesübertretung und billigt sie nicht, glaubt also daran, daß es sich um eine Sünde handelt. Auf ihn trifft Allahs Wort zu: ‚Sie haben frommes Tun und anderes, böses, durcheinandergemischt‘ (Sure 9, 102). Das fromme Tun besteht in dem Glauben, daß die Gesetzesübertretung eine Sünde war, das Böse darin, daß er sie vollbrachte. Wisse, daß der Knecht zu gering ist, als daß er sich im Inneren oder nach außen hin Allah widersetzen könnte, und zwar eigenständig und ohne einen vorgängigen (diesbezüglichen) Willensakt Allahs.“41 Wer sich der eigenen Unzulänglichkeit bewußt ist, der nimmt nur noch Allah als den einzigen Handelnden wahr. Der Mensch ist nicht der Ausgangspunkt eigener Taten, er ist nur das Substrat, an dem Allahs Wirken in Erscheinung tritt. Ob die Taten gemäß dem Gesetz als Gehorsam oder als Sünde zu gelten haben, hat nichts mit dem Wesen jener Taten an sich zu schaffen, sondern ist lediglich eine Aussage über deren Bewertung durch Allah. „Er bestraft die Ungehorsamen wegen ihrer Verfehlungen, weil diese Ungehorsamen das Medium sind, durch welches die Widersetzlichkeit in das Sein gebracht wird… Mit Blick auf die Handelnden ist von einer Widersetzlichkeit zu sprechen, aber diese entstand im Gehorsam gegen Allah, und man bittet Allah um ihretwillen um Vergebung, weil man das Medium war, das sie mit Notwendigkeit in das Sein brachte. (Die Untat selber) hat keinerlei Wissen davon, ob sie Gehorsam oder Widersetzlichkeit ist, denn sie ist keine Wesenheit, die der Belastung mit dem göttlichen Gesetz unterliegt. In der Welt gibt es nichts anderes als das Entstehen der Gestalten von Handlungen, die gemäß dem Gesetz als Gehorsam oder Widersetzlichkeit aufscheinen, in Wirklichkeit aber gibt es weder Gehorsam noch Widersetzlichkeit. Wenn sie also entstehen, dann finden sie keine andere Speise, als Allah zu preisen und zu rühmen. Man nennt dies den Hof der Taten. Denn vor Allah sind Gehorsam und Widersetzlichkeit gleich, und dies allein umfaßt ihn völlig. Als ich diesen Hof betrat, befreite mich Allah in kurzer Zeit davon, etwas in Angriff zu nehmen, was die Scharia verbietet. Dabei half mir mein Wissen davon, wie der Gesetzgeber zwischen Gehorsam und Ungehorsam trennt, selbst wenn alles Handeln das seinige ist. Den meisten, die die ‚Standplätze‘ hinter sich ließen, wird dieser Zustand, auch wenn sie nicht über das Wissen vom Unterschied zwischen Gehorsam und Widersetzlichkeit verfügen, zu einer unvergleichlich köstlichen Wonne, denn sie gelangen dahin, wo sie weder fürchten noch hoffen.Wisse, daß der Knecht an der Seite Allahs nicht die Fähigkeit aufweist, sein Handeln vollkommen lauter zu machen; denn in diesem Falle wäre die Weisheit aufgehoben, die darin liegt, daß an den Menschen die Worte der Belastungen mit dem Gesetz gerichtet werden, und Allah erteilt doch nur demjenigen Befehle und Verbote, der die Fähigkeit zu handeln hat. Nun steht aber fest, daß Allah die Schöpfung mit Befehlen und Verboten belastet hat und daß der Mensch in der Gestalt eines stellvertretenden Machthabers über an-

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dere (vgl. Sure 2, 30) geschaffen wurde. Dies findet seine Bekräftigung darin, daß in jenem Augenblick gefordert wird, daß das Handeln, das in das Sein tritt, dem Menschen zuzuschreiben ist und daß der Eine Wahre es ihm zuerkennt. Aus diesem Grunde vertreten einige unserer Meister mit Entschiedenheit die These, daß der Mensch (gemäß seiner natürlichen Verfaßtheit) zum Erwerb (der von Allah gewirkten Taten) getrieben werde, denn der Erwerb ist ein sehr starkes Argument, das nicht dadurch widerlegt werden kann, daß man anführt, alle Handlungen hätten ihren Ursprung in Allah.“42 Unversehens gerät aš-Šaʿrānī, nachdem er die Gottesfreundschaft als eine Stufe des Daseins jenseits der „Standplätze“ auf dem Pfade beschrieben hat, in eine Erörterung des seit Jahrhunderten heftig umstrittenen Problems der Grenzen der Handlungsfähigkeit des Menschen. Sobald wir uns fragen werden, wie eigentlich die Welt des Gottesfreundes beschaffen ist und wie Allah und Mensch in ihr aufeinandertreffen, müssen wir diese Gedanken wieder aufgreifen, wie übrigens auch die theologischen Erwägungen über den Sinn der Abgesondertheit des Meisters von den gemeinen Menschen. Halten wir fürs erste fest, daß aš-Šaʿrānī mit der Audition von 931 h erkennt, daß die Regeln des Pfades, denen er sich, wie er selber in seiner Lebensbilanz so eindrücklich, ja erschütternd schildert, ganz und gar unterworfen hat, überhaupt nicht für das Erreichen des Zieles bürgen; im Gegenteil, sie sind geeignet, den Suchenden tief in ichsüchtiges Begehren zu verstricken. Unzufrieden darüber, daß es immer noch weitere Möglichkeiten der Vervollkommnung, des Voranschreitens gibt, verlangt es ihn, rasch von „Standplatz“ zu „Standplatz“ zu eilen, und nur der Blick zurück auf die, die er schon hinter sich gelassen hat, verschafft ihm eine trügerische, im Nu verflogene Genugtuung. So erlebte es auch ašŠaʿrānī, als er von dem bohrenden Wunsch befallen wurde, es möge an ihm ein Huldwunder geschehen. Auf die Huldwunder, so wird ihm plötzlich bewußt, kommt es überhaupt nicht an. Mit der Gottesfreundschaft hängen sie nicht zusammen; diese erfüllt sich, sobald der Mensch innewird, daß er sein Ich in dem Maße gebildet, nämlich entleert hat, daß er, wie ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī unter Berufung auf ein viel zitiertes „heiliges Ḥadīṯ“ sagte, zu bekennen vermag, er selber sei nun das Auge Allahs, das Ohr Allahs, die Zunge Allahs geworden. Er erlangte den Rang des Pols, der Achse, um die sich das Diesseits dreht.43 Er ist an den Hof der Taten vorgelassen und schaut, was im Werke ist, ja, er sitzt auf dem Podest (arab.: al-kursī) zu Allahs Füßen. Da er ganz dem Ich entworden ist und sich völlig dem göttlichen Bestimmen eingefügt hat, ist er der wahre Stellvertreter Allahs und bestimmt in beglückenden Augenblicken an dessen Statt das Schöpfungshandeln. Der Palmblattflechter hatte einst im Traum den Derwisch Sidi ʿAbdallāh b. abī Ǧamra ašŠāḏilī in dieser Position geschaut.44 Die höchste Stufe der Gottesknechtschaft erklimmt der Muslim, der keinen „Standplatz“ mehr kennt. Denn die „Standplätze“ beherrschen diejenigen, die sich

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auf ihnen befinden, und geben ihnen unablässig Ziele vor. Der wahre Gottesknecht aber weiß, wie unendlich viel sich in dem Einen Wahren birgt, und er hat erkannt, daß er als Knecht von sich aus gar nicht das Ziel bestimmen kann, auf das sein irdisches Sein zustreben soll. Er nimmt kein Ziel mehr wahr, weil alles Wahrnehmen nur noch auf den Einen gerichtet ist. „Deswegen unterscheidet sich der mohammedsche Pol von anderen (Muslimen) nur noch darin, daß ihm kein ‚Standplatz‘ mehr zugewiesen ist, so daß man das, was er erreicht hat, noch als einen ‚Standplatz‘ bezeichnen könnte. Die ‚Standplätze‘ verhalten sich zu ihm wie die Namen Allahs zu Allah. Der Pol ist nicht mehr dem Wesen nach an einen bestimmten ‚Standplatz‘ gebunden. Vielmehr ist er in jedem Atemzug Allahs, zu jedem Zeitpunkt, in jedem Zustand in der Gestalt dessen, was dieser Atemzug, dieser Zeitpunkt, dieser Zustand gerade erfordern. Die Konditioniertheit seines Seins hat keine Dauer. Denn die göttlichen Bestimmungen wechseln mit jedem Zeitpunkt, und der Pol mit ihnen. Jeden Tag ist der Erhabene tätig (vgl. Sure 55, 29), und desgleichen der mohammedsche Pol.“45 Weitere Zeugnisse für die Relativierung der „Standplätze“ Treten wir nun einen Augenblick aus dem Bannkreis aš-Šaʿrānīs hinaus! Ist das Erlebnis, durch das ihm der Rang des Gottesfreundes beglaubigt und er auf den zweifelhaften Wert seiner bisherigen Anstrengungen gestoßen wurde, ein einmaliger Vorgang, ganz ohne Beziehung zu den Fragen, über die man sich in jener Zeit die Köpfe heiß redete? Ibn Ḥaǧar al-Haitamī (gest. 1566), ein in Kairo ausgebildeter Schafiit, der es bis zum Mufti in Mekka brachte,46 sammelte die Fragen nicht rein rechtlicher Natur, die ihm vorgelegt wurden, etwa: wie groß der Turban des Propheten gewesen sei, ob man von einem Dschinnen Überlieferungen übernehmen dürfe, ob die Sternenkunde eine erlaubte Beschäftigung sei, ob man beim Eintritt in das Paradies seinen Bart behalte, ob die Frauen das Schreiben lernen sollten und viele andere mehr. Aus dem ḥadīṯ hergeleitete Fetwas nannte er diese Sammlung, die einen farbigen Einblick in die Sorgen des einfachen Muslims jener Zeit gibt, in seine Befürchtungen und Erwartungen und in die Vorstellungen, die er sich von seiner Welt machte. Das spirituelle Milieu, in welchem aš-Šaʿrānī sich bewegte, war alHaitamī keineswegs fremd; im Gegenteil, er beurteilte es außerordentlich günstig.47 Eines Tages wurde ihm genau das Problem vorgelegt, mit dem aš-Šaʿrānī rang und dessen Lösung ihm die Stimme auf der Nilinsel ar-Rōḍa übermittelte: „Sind unter den Gottesfreunden diejenigen vortrefflicher, durch die Huldwunder geschehen, oder jene, an denen sich, soweit man von außen erkennen kann, kein Wunder zeigt?“ Und so entschied al-Haitamī: „Die Gottesfreunde mit den Huldwundern sind grundsätzlich nicht vortrefflicher als die anderen. Vielmehr kann ein Huldwunder auch auf einen Mangel an Glaubensgewißheit oder hohem Bestreben hinweisen. Es

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stellt sich schnell bei dem ein, an dem Allah dies als Ausdruck der Fürsorglichkeit geschehen lassen will, damit jener von den genannten beiden Arten des Mangels befreit werde. Es kann sogar sein, daß ein Huldwunder einem Allah Liebenden oder einem Asketen widerfährt, nicht aber einem Erkennenden, obwohl nach Ansicht der meisten das Erkennen über der Liebe steht und nach Ansicht aller über der Askese. Die Askese ist nämlich einer der ersten ‚Standplätze‘, und die Liebe ist der erste Zustand, der dem Zurücklassen der ‚Standplätze‘ entspringt. Dies bekräftigt das Wort Abū Jazīd al-Bisṭāmīs (gest. 874): ‚Der Erkennende fliegt, der Asket wandert!‘ und jemand anders fügt hinzu: ‚Wie könnte der Wanderer je den Fliegenden einholen?‘ Ḏū n-Nūn, der Ägypter (gest. 859), sagte: ‚Die Asketen sind die Könige des Jenseits, sie sind die Derwische unter den Erkennenden.‘ Hieraus erfährt man, daß das Huldwunder für die Vortrefflichkeit ohne Bedeutung ist. Diese erwächst aus der Kraft der Glaubensgewißheit und der Vollkommenheit der Gotteserkenntnis. Je kräftiger jemandes Gewißheit ist, je vollkommener seine Erkenntnis, desto vortrefflicher ist er. Deshalb meinte der Herr dieser Leute, al-Ǧunaid (gest. 910): ‚Um der Gewißheit willen wandelten Männer auf dem Wasser, während andere, die ihnen an Gewißheit überlegen waren, verdursteten.‘ Auch sagte er: ‚Gewißheit, das ist die Auflösung aller Zweifel beim Schauen des Verborgenen.‘ Sahl at-Tustarī (gest. 896) äußerte sich so: ‚Einem Herzen, das noch auf jemand anderen als Allah baut, ist es verboten, den Duft der Gewißheit wahrzunehmen.‘ Die oben genannte apodiktische Aussage über die Abstufung zwischen dem Liebenden und dem Erkennenden darf dir nicht befremdlich vorkommen. Denn der Erkennende muß immer auch ein Liebender sein. Mit dieser Abstufung wollen wir nur zum Ausdruck bringen, daß es einen Rangunterschied ausmacht, ob man von der Liebe oder von der Erkenntnis überwältigt wird. Über die einen gewinnen die Trunkenheit der Liebe, die Heftigkeit des Liebesverlangens und die Vernarrtheit in den Geliebten Gewalt, über die anderen das Schauen, das Erscheinen der verhüllten Geheimnisse, die Erkenntnisse und die häufig sich wiederholenden Manifestationen (des Einen Wahren), und doch bleibt deren von Liebe bestimmter Zustand meistens ausgewogen. Letztere verfügen daher über reichere Erkenntnisse, werden aber von ersteren in der Vernarrtheit und Liebestrunkenheit übertroffen. Aus diesem Grunde sagen die genau Prüfenden: ‚Liebe heißt, sich in der Wonne aufgeben; Erkenntnis heißt, in der Verstörtheit gegenwärtig bleiben und im Lieben entwerden.‘“48 Aš-Šaʿrānī erfuhr durch die Audition, daß er zu der höchsten Art des Verhältnisses zu Allah, die einem Menschen möglich ist, vorgedrungen sei. Es war nicht nötig, daß er über das Wasser wandelte. Er schaute das Verborgene, er erkannte, und hierin war er überdies den Gottesnarren uneinholbar voraus. Ibn Ḥaǧar alHaitamī nahm in seine Sammlung etliche weitere Fetwas auf, die noch klarer das Wesen des erkennenden Gottesfreundes herausarbeiten. In einem setzt er sich mit der Frage auseinander, ob es wirklich so sei, daß jene in den Seinsbereich des

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Verborgenen hinauszuspähen vermöchten – darauf lief doch aš-Šaʿrānīs Selbstbeglaubigung hinaus, und unter den „Leuten“ kursierten viele Geschichten, die eben hiervon handelten. Wie können die Gottesfreunde derartiges für sich in Anspruch nehmen, wo doch im Koran steht: „Sprich: Von denen, die in den Himmeln und auf der Erde sind, weiß niemand das Verborgene außer Allah“ (Sure 27, 65) und „Er weiß das Verborgene, und niemandem gibt er Einblick in sein Verborgenes“ (Sure 72, 26)? Sind die Gottesfreunde nicht Ungläubige, weil sie sich eine Fähigkeit zurechnen, die Allah sich allein vorbehalten hat? Der Jurist Ibn Ḥaǧar al-Haitamī eröffnet seine Antwort mit einem juristischen Argument: Man darf jemanden nicht schon als einen Ungläubigen qualifizieren, weil seine Worte Unglauben implizieren könnten; man muß vielmehr von ihm genauen Aufschluß darüber einholen, wie er seine Worte meinte. Sollten die Aussagen dem Anscheine nach für den Unglauben des Sprechers zeugen, muß man erwägen, ob sie vielleicht metaphorisch aufgefaßt werden sollten; der Verdächtigte muß diesbezüglich befragt werden. Angesichts der Subtilität des Gegenstandes ist in jedem Falle äußerste Vorsicht geboten. Ist nur irgendeine plausible Deutung im Sinne der Glaubenstreue des Beschuldigten denkbar, so lasse man ihn unbehelligt! Wenn man keine Klarheit gewinnt oder jener sich nicht weiter äußern möchte, muß man ihn zur Umkehr auffordern, und wenn er dem folgt, dann geht er straffrei aus. Sollte allerdings jemand Worte sagen, die nach übereinstimmender Ansicht purer Unglaube sind, dann ist der Betreffende ein Abtrünniger und hat, wenn er nicht bereut, mit dem Tode zu büßen. In jedem Fall kann man bei diesen Fragen nicht umsichtig genug sein; Ibn Ḥaǧar erinnert an ein Wort al-Ġazālīs: „Es ist weniger schädlich, tausend Menschen, die den Tod verdienen, am Leben zu lassen, als einen Schröpfkopf voll Blut eines Muslims ohne schariatischen Grund zu vergießen.“ Beispiele für das Schauen des Verborgenen Auch der Anspruch der Gottesfreunde, sie vermöchten das Verborgene zu schauen, ist also genau zu prüfen. Denn der Verstand hält es durchaus für denkbar, daß Allah einigen der ihm Nahestehenden Einblick in bestimmte verborgene Dinge gewährt. Überdies besagt die zweite Erkenntnisquelle neben dem Verstand, die Überlieferung, daß dergleichen vorgefallen ist, und zwar viele Male im Laufe der Jahrhunderte. Vor manchen habe Allah die Wohlverwahrte Tafel enthüllt, so daß sie sehen konnten, was im Werke war. Im Koran selber wird von al-Ḫaḍir erzählt, der die Zukunft im voraus wußte (Sure 18). Ibn Ḥaǧar führt dann die jedem Sunniten bekannten Beispiele an, in denen berühmte Gefährten des Propheten solche Fähigkeiten unter Beweis stellten: Abū Bakr sagte einer Schwangeren voraus, daß sie einen Sohn gebären werde; ʿUmar nahm, während einer Predigt auf der Kanzel in Medina stehend, wahr, daß ein muslimisches Heer an weit entferntem Ort genau zu

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jener Stunde in große Gefahr geraten war; beide, Abū Bakr und ʿUmar, zählten zu jenen, die von Gott angesprochen wurden und Botschaften empfingen.49 In alQušairīs Abhandlung, in den Gnadengeschenken der Erkenntnisse as-Suhrawardīs50 entdeckt Ibn Ḥaǧar zahlreiche weitere Episoden, in denen Gottesfreunde vom Verborgenen künden: Jemand sagte: „Morgen Mittag werde ich sterben“, und so geschah es auch, und bei der Beisetzung öffnete jener die Augen, worauf der Bestatter verwundert fragte: „Wieder lebendig nach dem Sterben?“ und jener antwortete: „Ich lebe, denn jeder, der Allah liebt, ist am Leben.“ Ein Meister schickte einst etliche seiner Gefolgsleute zu ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī; sie sollten ihm ausrichten: „Schon vierzig Jahre lang harre ich bei den Wachen an der Pforte der göttlichen Macht aus, aber dich habe ich dort nie gesehen!“ Etwa zur selben Zeit, noch ehe jene eingetroffen waren, trug al-Ǧīlānī seinen Gefährten auf: „Geht zu jenem Mann! Unterwegs werdet ihr seinen Gefolgsleuten begegnen, die er zu dem und dem Behuf zu mir schickte. Nehmt sie mit zu jenem Mann und sprecht: ‚Meister ʿAbd al-Qādir grüßt dich und läßt dir sagen, du seiest bei den Wachen, wer aber dort ist, sieht nicht die bei Hofe, und wer bei Hofe ist, sieht nicht die im Kabinett. Ich aber bin im Kabinett, durch die Geheimtür gehe ich ein und aus, du aber kannst mich nicht bemerken. Es gibt nur Zeichen: Wenn zu dir in einem bestimmten Augenblick ein bestimmtes Ehrengewand (aus dem Hof ) herausgereicht wird, dann durch meine Hand – es ist das Ehrengewand der Einwilligung (in die göttliche Bestimmung). Wenn zu dir in einer bestimmten Nacht eine bestimmte Botschaft herausgereicht wird, dann durch meine Hand – es ist die Botschaft der Einsicht (in das Verborgene). Wenn dir auf den untersten Stufen im Beisein von 12 000 Gottesfreunden ein Gewand… um die Schultern gelegt wird, dann ist es durch meine Hand aus dem Hof gelangt.‘“ ʿAbd al-Qādirs Gefährten taten, wie er ihnen befohlen hatte, und jener Meister mußte anerkennen: „Er sagt die Wahrheit! Er ist der Herr dieser Zeit und des Eingreifens in die göttliche Fügung!“ Dieser aus der Überlieferung hergeleiteten Bestätigung des Vermögens des Gottesfreundes, das Verborgene zu entschlüsseln, läßt Ibn Ḥaǧar sogleich einige Bemerkungen über die Auswirkungen im alltäglichen Leben folgen: Zu einem Meister kam ein Wegelagerer mit einem Krug Milch, ein anderer brachte ihm einen Ochsen; der Meister ließ das Tier schlachten, zubereiten und auf einer großen Schale servieren; die Rechtsgelehrten weigerten sich, davon zu essen – die Frage des rechtmäßigen Erwerbs war nicht geklärt! Die Derwische dagegen langten zu, denn sie wußten, daß ihr Meister das Verborgene sah. Kurze Zeit später trafen zwei Männer ein, der eine berichtete, er habe der Klause des Meisters einen Krug mit Milch spenden wollen, doch sei ihm dieser von einem Räuber entrissen worden, und der zweite erzählte, daß er das gleiche mit einem Ochsen vorgehabt habe, doch sei dies ebenfalls von einem Räuber vereitelt worden. Nun hatte der Meister angeordnet, daß man den Kopf des Ochsen aufheben solle, und sein Eigentümer er-

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kannte sofort, daß es sich um das gestohlene Tier handelte, das er als Gabe für den Meister bestimmt hatte. Da tat es den Rechtsgelehrten leid, daß sie dem Meister widersprochen hatten. – Solche das Maß des Üblichen hinter sich lassende, die Möglichkeiten einer auf die Prüfung des Augenscheins beschränkten Rechtsgelehrsamkeit übersteigende Erkenntniskraft befähigte aš-Šaʿrānī, wie er in seiner Lebensbilanz schreibt, im mächtigen Emir den einstigen Sklaven zu sehen, sie sicherte ihm die Achtung der Menschen, die zu ihm in Beziehung traten, vermutlich auch deren Furcht. – Wie ist nun diese Erkenntniskraft zu erklären? Ibn Ḥaǧar meint, der Geist des dergestalt Begabten dringe in das Reich der göttlichen Souveränität ein und nehme wahr, was Allah verfügt, und zwar, so ist zu ergänzen, ohne daß diese Wahrnehmung einen Umweg über die diesseitige Welt und die fünf Sinne zurücklegen muß; daher ist diese Wahrnehmung auch nicht an die im Diesseits obwaltende Zeitlichkeit der Sachverhalte gebunden. Die beiden Koranzitate, auf die der Frager den Verdacht gestützt hatte, was die Gottesfreunde für sich beanspruchten, zeuge von ihrem Unglauben, sind, nachdem die Überlieferung herangezogen und auch ein Beleg aus der Gegenwart des Schreibers beigebracht worden ist, nicht als strikte Ablehnung menschlicher Einsicht in das Verborgene zu werten. Zwar haben die Muʿtaziliten mit diesen Worten des Korans ihre Behauptung begründet, es gebe keine Huldwunder. Doch haben sie, wie Ibn Ḥaǧar meint, nicht genau nachgelesen. Das ganze Wissen des Verborgenen behält Allah selbstverständlich sich allein vor, aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß er uns Teile davon erkennen läßt. Außerdem muß eine wichtige theologische Differenzierung beachtet werden: Das Wissen, das die Gottesfreunde erlangen, entstammt der Belehrung durch den Schöpfer; es ist ein geschaffenes Wissen und somit seinsmäßig gänzlich von dem ewigen Wissen zu unterscheiden, das als ein Aspekt des ewigen Wesens Allahs zu gelten hat. Nur von diesem Wissen redet der Koran.51 Aš-Šaʿrānī und die Hierarchie der Gottesfreunde Seit dem 11. Jahrhundert hält die islamische Theologie Argumente bereit, mit denen sie das Übergreifen der Erkenntnis des Geschöpfes aus dem ihm zugewiesenen Seinsbereich in jenen der göttlichen Souveränität verständlich zu machen suchte.52 Ibn Ḥaǧar al-Haitamī braucht in seinem Fetwa diese Argumente nur anzudeuten. Das reicht für die Abwehr des Argwohns, die Gottesfreundschaft sei, zumindest insofern, als sie sich anheischig macht, Allahs Fügung zu durchschauen und sie im Einklang mit Gottes Willen sogar zu lenken, eine Art des Unglaubens, weil sie den Abstand zwischen dem Einen und seinem Werk verwische. Die Kairoer des frühen 16. Jahrhunderts, und in ihrer großen Mehrheit alle Muslime jener Zeit, waren davon überzeugt, daß Allah diejenigen unter ihren Glaubensbrüdern, die sich ihm in besonderer Weise näherten, mit dem Schauen beschenken konnte. Doch zeigt die

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Anfrage bei Ibn Ḥaǧar al-Haitamī, daß der Verdacht, die Gottesfreundschaft sei in Wahrheit nichts als frevelhafte Anmaßung, nicht ganz zu ersticken war. Für ašŠaʿrānī freilich war 931 h auf der Nilinsel ar-Rōḍa der Augenblick gekommen, an dem er in eben diese Regionen vordrang und sich dessen bewußt wurde, daß gerade dies es sei, was ihn zur Meisterschaft berechtigte. Daß er zwei Jahre später sich in einem kleinen Pamphlet von den, wie er meinte, falschen Meistern absetzte, erklärt sich daraus, daß er sich nun sicher war, die virtuose Könnerschaft in der Wahrnehmung des Verborgenen erlangt zu haben. In seiner Lebensbilanz schreibt er hierüber: „Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich den Wachhabenden in allen Ländern der Erde, des freien Feldes und der Wüsten, der Städte, der Meere, der Dörfer und der Berge beim Einhalten ihrer Wache behilflich war. So bereise ich seitdem mit dem Herzen in einem Zeitraum von etwa drei Graden alle Länder der Erde.“ Viele Gottesfreunde gibt es wie jenen unbekannten Meister auf den unteren Stufen an der Pforte der göttlichen Macht. Über die ganze Erde sind sie verteilt und bewachen mit ihrer spirituellen Kraft ein Territorium.53 Aš-Šaʿrānī fügt eine ausführliche Erläuterung an: „Das Herz ist wie ein kugelförmiger Spiegel, der zwischen Himmel und Erde aufgehängt ist; auf ihm bilden sich alle Erscheinungen der unteren Sphäre und der oberen ab. So wird der Blick des Herzens in die Lage versetzt, sie insgesamt und in allen Einzelheiten wahrzunehmen. Allein die Größe des Gesichtskreises stellt eine Begrenzung des Wahrnehmungsvermögens dar.Wenn du, mein Bruder, daran zweifelst, dann erprobe es mit einem kleinen Spiegel, den du oben an einem hohen Minarett befestigst. Wenn du ihn auf die Stadt Kairo insgesamt richtest, wirst du finden, daß sie sich zur Gänze auf jenem kleinen Spiegel abbildet. Darum, mein Bruder, wirke darauf hin, daß du den Spiegel des Herzens von allem Rost und Staub reinigst, wenn du gemäß dieser Charaktereigenschaft handeln willst. Dann wirst du imstande sein, in einem Augenblick durch alle Regionen der Erde zu streifen. So widerfuhr es mir, daß jemand aus Äthiopien durch mich in Kairo zum Islam bekehrt wurde. Ich fragte ihn nach seiner Heimatstadt, nach der großen Kirche, die am Ende der Gasse steht, in der sich sein Haus befindet, nach dem Lotosbaum auf dem Grundstück des Nachbarn. Er bestätigte mir die Richtigkeit dieser Dinge und sagte dann zu den Anwesenden: ‚Dieser ist ein frommer Mann!‘ denn ich hatte Kenntnis von seinem Heimatort und vom Haus seines Nachbarn, ohne daß ich mit meinem Körper dorthin gereist wäre; allein mit dem Herzen hatte ich dies alles angeschaut. Ähnliches erlebte ich mit einem Diener des Propheten Allahs.54 Dieser Diener war nach Kairo gekommen. Ich fragte ihn: ‚Was ist mit den Zitronenbäumen, die man gegenüber dem Gedenkort unseres Herren Lot gepflanzt hat?‘ Er antwortete: ‚Sie sind noch da, nichts davon wurde gefällt!‘ und dies, obwohl ich alles nur mit dem Herzen gesehen hatte. Unter den Aussprüchen Sidi Aḥmad ar-Rifāʿīs findet sich diese Bemerkung: ‚Wenn das Herz dank der Liebe zu Allah vollkommen von den Spuren dem Diesseits verhafteter Regungen gereinigt

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ist, dann wird es zu einem Kristall, der seinem Eigentümer zeigt, welche Verhältnisse die Menschen in der Vergangenheit durchlebten und welche auf sie zukommen. Ist das Herz des Derwischs aber rostig, dann übermittelt es ihm Lügen, die die Vernunft und den Verstand eines frommen Mannes zum Verschwinden bringen.‘“ Aš-Šaʿrānī schildert nun, wie er jede Nacht alle Gegenden der Welt aufsucht. Dabei teilt er jedem Ort, über den er als ein Gottesfreund gebietet, nach dem Vorbild ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānīs seinen spirituellen Schutz zu: „Ich deute mit dem Finger auf die Straßen aller Städte, auf die Dörfer, das freie Land, die Meere und sage: ‚Allah, Allah, Allah!‘“ So kann das Wort des Gottesgedenkens seine segensreiche Wirkkraft entfalten. Es vermag Unheil, das schon auf dem Wege ist, aufzuhalten. Die theologische Schwierigkeit, zu erklären, wie dies möglich sein sollte, wo doch alles Geschehen von Allah im voraus festgelegt wurde, läßt sich, wie wir erfahren werden, überwinden.55 Doch folgen wir der allnächtlichen Weltreise aš-Šaʿrānīs! „Ich beginne mit Fustat, dann Kairo, dann durchquere ich die zu Kairo gehörenden Dörfer und gelange darauf nach Gaza; danach geht es über Jerusalem, Damaskus und Aleppo in das Land der Perser; über die türkischen Gebiete erreiche ich die Länder der Europäer. Darauf überquere ich den Ozean in die Länder Nordwestafrikas, durchmesse sie Stadt für Stadt und komme nach Alexandrien, biege von dort nach Damiette ab; dann nach Süden bis in das äußerste Oberägypten, die fernsten Länder der schwarzen Sklaven. Hiernach dringe ich westwärts in das Gebiet von ar-Raǧrāǧ vor, wo das Dienstlehen meines Vorfahren der fünften Generation war, dann nach Takrūr56 und Sokoto,57 von dort in das Reich des Negus und an die äußerste Grenze Äthiopiens, eine Reise, die gewöhnlich zehn Jahre dauert. Nun setze ich nach Indien über, berühre Sind58 und komme nach China; dann geht es zurück in den Jemen und nach Mekka. Durch das Muʿallā-Tor verlasse ich diese Stadt und reise auf der hedschasischen Straße über Badr und aṣ-Ṣafāʾ59 zur Stadt des Propheten. Am Tor in der Mauer bitte ich ihn um Einlaß, betrete Medina und stelle mich schließlich vor ihn, um zu ihm gewandt das rituelle Gebet zu vollziehen und ihm den Friedensgruß zu entbieten, desgleichen seinen beiden Weggefährten Abū Bakr und ʿUmar. Ich suche ferner diejenigen auf, die in den Gräbern von al-Baqīʿ liegen und rufe aus: ‚Gepriesen sei dein Herr, der Herr der Macht! Er ist zu groß, als daß man ihn beschreiben könnte! Frieden allen seinen Gesandten, Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!‘ Und kaum bin ich in mein Haus in Kairo zurückgekehrt, da keuche ich schon vor Anstrengung, als hätte ich einen riesigen Berg geschultert. Ich weiß von niemandem, der vor mir einen solchen Streifzug unternommen hätte. Zuallererst gelangte ich auf diesen ‚Standplatz‘60 im Jahre 933 (begann am 8. Oktober 1526): Im Traum sah ich mich in einer fliegenden Sänfte, die mit mir in einem Augenblick über alle Regionen der Erde hinwegschwebte; auch flog sie mit mir über die Gräber aller Meister hinweg, ausgenommen nur die Türben von Sidi Aḥmad al-Badawī und Sidi Ibrāhīm ad-Dasūqī. Bei beiden senkte sich diese Sänfte bis unter die Schwelle

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des Mausoleums und passierte unter den Gräbern. Bis jetzt kenne ich nicht die Weisheit, die darin liegt, daß Allah diese beiden Meister hierdurch hervorhob – möge Allah uns durch sie Nutzen verschaffen! Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!“61

4.2 Die Abstammung Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß mein Stammbaum auf den Propheten zurückgeht, wenn dies auch meistens nur dann etwas nützt, wenn Gottesfurcht damit verbunden ist. Doch als eine Gnadengabe Allahs kann es manchmal anders sein, worauf Allah in allgemeiner Form hinweist, indem er sagt: „Ihr Vater war ein frommer Mann“ (Sure 18, 82). Wäre dies nicht der Fall gewesen, wären sie nicht dieser Wohltat für würdig befunden worden.62 Ansonsten wäre der klare Hinweis auf die Frömmigkeit ohne wirkliche Bedeutung. So bin ich denn – und dafür danke ich Allah, da er mich zu einem Nachkommen der Herrscher des Atlas-Gebirges gemacht hat – ʿAbd al-Wahhāb b. Aḥmad b. ʿAlī b. Aḥmad b. ʿAlī b. Muḥammad b. Zūfā; letzterer war der Sohn des Meisters Mūsā, der im Gebiet von Bahnasa unter dem Vatersnamen Abū ʿImrān bekannt war. Dieser mein Ahnherr in der siebten Generation war der Nachkomme des Sultans Aḥmad, dieser der Sohn des Sultans Saʿīd, dieser der Sohn des Sultans Qāšīn, dieser der Sohn des Sultans Maḥjā, dieser der Sohn des Sultans Zūfā, dieser der Sohn des Sultans Raijān, dieser der Sohn des Sultans Muḥammad b. Mūsā, der ein Nachkomme Muḥammad b. al-Ḥanafījas, des Sohnes des Imams ʿAlī b. abī Ṭālib, war. Doch habe ich gesehen, daß in der alten Aufzeichnung unseres Stammbaums unmittelbar vor Muḥammad b. al-Ḥanafīja zwei Namen ausgewischt worden waren, und ich weiß nicht, was dort gestanden hat. Mein Ahnherr in der achten Generation, jener Sultan Aḥmad, herrschte in der Stadt Tlemcen in der Zeit des Meisters Abū Madjan al-Maġribī, und als mein Vorfahr Mūsā (Abū ʿImrān) mit diesem zusammentraf, fragte er ihn: „Auf wen geht dein Stammbaum zurück?“ worauf Mūsā antwortete: „Mein Vater ist der Sultan Aḥmad!“ „Ich meinte deine Genealogie, die auf den Propheten zurückreicht.“ „Ich führe diese Abstammung auf den Herrn Muḥammad b. al-Ḥanafīja zurück!“ Darauf mahnte ihn Meister Abū Madjan: „Die Herrschaft, die Abstammung vom Propheten und das Derwischtum, das paßt nicht zusammen!“ Mūsā erwiderte: „Sidi, so lege ich außer dem Derwischtum alles ab!“ Daraufhin nahm Meister Abū Madjan ihn zur Erziehung an, und als Mūsā die Vollkommenheit des Weges erreicht hatte, befahl ihm der Meister, nach Oberägypten zu reisen, und sagte ihm voraus: „Dort, in der Gegend von Hūfān, wird dein Grab sein.“ Und es kam, wie er gesagt hatte… Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!63

*** Die Nachkommen des Propheten – Herkunft aus Nordafrika – Wundergeschichten – Die Banū Ziġba – Muḥammad b. al-Ḥanafīja – Der lange schwärende Zwist um das Kalifat – Die ägyptische Auslegung des Begriffs der„Leute des Hauses“ – Die Vorzüge der„edlen“ Herkunft – Die Erweiterung des Kreises der „Leute des Hauses“ – Die Vorrechte der „Leute des Hauses“ – Die Besitzlosigkeit der Prophetenfamilie – Das Ideal der Nüchternheit des Lebenswandels – Vorfahren und Rivalen – Anschluß an eine einflußreiche Strömung – Eifersüchteleien

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Die Nachkommen des Propheten Aš-Šaʿrānī, der Gottesfreund, ist jenseits eines jeden „Standplatzes“, den die Sufis erst zu gewinnen trachten und eben wegen dieses Trachtens nie erreichen werden. Mit dem gar nicht mehr als Verzicht wahrgenommenen Aufgeben aller eigenständigen, und das heißt, der Diesseitigkeit seines Seins verhafteten Bestrebungen beweist er seine Gottesfreundschaft und wird tauglich, denen wenigstens zu helfen, die an der Pforte der göttlichen Macht Wache halten, nämlich den Wachhabenden an allen Orten dieser Welt. Welche Bedeutung könnte dann eine vornehme Abstammung überhaupt haben? ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī rühmte sich – oder wurde von seinen Söhnen und Enkeln, die aus der Anhängerschaft den Orden formten, der sich vom Irak nach Ägypten ausdehnte, dessen gerühmt –, daß er sowohl über ʿAlī b. abī Ṭālib mit dem Propheten verwandt war, als auch über verschiedene Linien mehr oder minder weitläufig mit Abū Bakr, ʿUmar und Uṯmān.64 Natürlich erhöht es das Prestige, wenn man auf eine edle Herkunft verweisen kann. Vor allem aber garantiert sie den Eintritt in das Paradies; sie ist unwandelbar wie das Gold. Freilich fehlt ihr die Eigenschaft, andere zu läutern. Dergleichen vermögen allein die Gottesfreunde, wie wir schon erfuhren. Als Gottesfreund auch ein Nachkomme Mohammeds zu sein, bedeutet eine unüberbietbare Gewißheit, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden. Unter die großen Gnadengeschenke, deren Allah aš-Šaʿrānī würdigte, rechnet er in seiner Lebensbilanz die unerschütterliche Liebe zu den Nachkommen des Propheten, „selbst wenn sie nur in der mütterlichen Linie mit ihm verwandt sein sollten und auch dann noch, wenn diese Personen keineswegs gerade handeln“. Denn man kann gewiß sein, daß sie Allah und seinen Gesandten lieben, und wer Allah und seinen Gesandten liebt, den darf man weder hassen noch schmähen. Der Beweis dafür ist, daß der Prophet den Badr-Kämpfer an-Nuʿaimān jedesmal einer Grenz-Strafe65 unterzog, wenn dieser Wein getrunken hatte. Als an-Nuʿaimān eines Tages erneut erwischt wurde, riet man dem Propheten, er möge den Unverbesserlichen verfluchen, doch Mohammed wies dieses Ansinnen zurück: „Er liebt Allah und seinen Gesandten.“66 Hieraus leitet aš-Šaʿrānī den Grundsatz ab, daß, wenn schon einem Missetäter, der gar nicht mit Mohammed verwandt war, um der Liebe zu Allah und dem Gesandten willen solche Nachsicht gebührt, es erst recht verboten ist, die Sünder unter den Nachkommen des Propheten zu verabscheuen. Mohammed hätte selbst der eigenen Tochter Fāṭima, so wird überliefert, die Hand abgeschlagen, wenn man sie eines Diebstahls überführt hätte. Doch selbst in diesem Fall bliebe sie höchst verehrungswürdig. Als der Prophet einen Mann namens Māʿiz b. Mālik steinigen ließ, sagte er über ihn: „Er hat eine Buße getan, die, verteilte man sie auf alle Menschen der Erde, ausreichte!“ Māʿiz nämlich hatte gegen das Verbot der Unzucht verstoßen; sein Pflegevater drängte ihn, sich dem Propheten zu offenbaren, der den Vorschriften der Scharia folgte und ihn tötete. In der Überlieferung

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wird die Begebenheit nicht so sehr auf die rigorose Gesetzestreue Mohammeds zugespitzt,67 aber hier, in den Darlegungen aš-Šaʿrānīs, ist ihr Sinn vollkommen klar: Selbst wer ein todeswürdiges Verbrechen begangen hat, konnte, wenn er den Propheten ins Vertrauen zog, zwar nicht der Strafe entgehen, aber er durfte in der Gewißheit sterben, daß er das Paradies gewinnen werde. Mohammed soll versichert haben, er habe jenen Māʿiz bereits an den Wasserbächen der Wonnegärten geschaut.68 Zweierlei deutet aš-Šaʿrānī mit diesen Hinweisen69 auf weithin bekannte Ereignisse aus der Prophetenvita an: Die Liebe zu Mohammed und die Offenheit ihm gegenüber schützen vor der ewigen Verdammnis, und die Verwandten des Propheten, all jene Muslime, die ihre Abstammung auf ihn zurückführen können, sind in einer wenn auch noch so verwässerten Weise die gegenwärtigen Träger seiner Wesensart.70 Darum scheue man sich, sie zu hassen oder zu verachten! Denn wenn sie seine Nachkommen sind, so ist gewiß, daß sie Allah und den Propheten lieben, wie auch die gewöhnlichen Menschen einen bedeutenden Ahnherrn lieben. Im Zwischenreich ist Mohammed ohnehin seinen Glaubensgenossen stets nahe und tritt dort, ja bisweilen sogar im Diesseits, mit den Gottesfreunden in Beziehung. Seine Nachfahren aber verbürgen, da sie jedermann sichtbar sind, auch dem schlichten Muslim die Zugegenheit der ihr Leben zu einem guten Ende leitenden göttlichen Fügung. Könnte es darum für einen Gottesfreund eine wirksamere Bekräftigung seines Ranges geben als den Nachweis, von Mohammed abzustammen? Herkunft aus Nordafrika Warum aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz so ausführlich auf seine Abstammung zu sprechen kommt und dieses Thema sogar mehrfach anschneidet,71 ahnt man nun. Um in den Gegenstand weiter einzudringen, versuchen wir in einem ersten Schritt die Geschichte zu entschlüsseln, für die die Namen in der Genealogie stehen. Den Angelpunkt darin bildet jener Abū ʿImrān Mūsā, der Vorfahr aš-Šaʿrānīs in der männlichen Linie, der nach Ägypten einwanderte. Er ließ sich, wie al-Malīǧī, der Verfasser von aš-Šaʿrānīs Lebensbeschreibung, wiederholt, in Bahnasa nieder. Mūsās Vater, ein Mann namens Aḥmad, soll der „Sultan von Tlemcen“ gewesen sein. Bei al-Malīǧī trägt Aḥmad den Beinamen az-Zuġlī, und damit bekommen wir eine Nachricht zugespielt, die uns, wie gleich deutlich werden wird, weiterhilft. Al-Malīǧī zog übrigens in Bahnasa Erkundigungen ein und traf auf Leute, die noch von jenem Mūsā wußten und die Orte kannten, an denen er und seine Söhne begraben lagen. Hūr hieß das Dorf, in das Mūsā von Abū Madjan gesandt worden sein soll, um die Kenntnis vom „Pfad“ zu verbreiten, Adepten zu gewinnen und zu erziehen. Diesem Befehl kam Mūsā nach, und das spirituelle Feld, das er und seine Söhne zu bestellen hatten, war sicher sehr fruchtbar. Der Ort Hūr, nordwestlich von al-Ušmunain am Rande des bebauten Landes gelegen, wird in den Registern der mamlukischen

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Dienstlehen erwähnt. Erst unter dem Sultan Qaitbai wurde er dem Gebiet der Provinz Bahnasa zugeschlagen. Die Gegend hatte bis in die Zeit der Mamluken ihren christlichen Charakter bewahrt,72 und die Islamisierung der verbliebenen Andersgläubigen war eine der wichtigsten Aufgaben, die die Gottesfreunde sich stellten.73 Aš-Šaʿrānī widmete jenem Vorfahren eine Abhandlung, in der er dessen heiligmäßiges Leben rühmte und die Wunder beschrieb, mit denen jener Abū ʿImrān begnadet worden war: Er verstand die Sprache der Tiere, ritt auf einem Löwen, wanderte in das Land ar-Raǧrāǧ74 und nach China und konnte doch stets seinen Adepten antworten, selbst wenn er eine Jahresreise oder weiter von ihnen entfernt war. Hierzu merkt aš-Šaʿrānī an: „Darin folgten ihm meine Onkel in der väterlichen Linie und auch mein Vater. Als ich aber befürchten mußte, unsere Genealogie werde verlöschen und vollständig verlorengehen, erwähnte ich meine Ahnen in meinen Schriften.“75 Wundergeschichten Der Sinn dieser Worte bleibt vorerst dunkel. Worin folgten die Onkel und der Vater dem Mūsā Abū ʿImrān? Wahrscheinlich sind nicht Wunder gemeint, sondern die Bemühungen um das gottgefällige Werk der Islamisierung und der Ausbildung von Zöglingen, was zu den Kindheitserinnerungen paßt, die aš-Šaʿrānī erzählte. Jedenfalls wird er es als nützlich empfunden haben, auf einen Vorfahren verweisen zu können, der all jene Dinge vermocht hatte, die ein Gottesfreund dem staunenden Volk vorzuführen hat. In den Überlieferungen über die Anfänge und die ersten Anhänger der Gemeinschaft des ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī, die von dem Ägypter ašŠaṭṭanaufī um 1300 in einem Buch gesammelt worden waren, ist mehrfach vom Bändigen eines Löwen und vom vertrauten Umgang mit Tieren die Rede – Wunder, die aš-Šaʿrānī fehlten, aber er hatte, wie erinnerlich, eine ganz andere Vorstellung von der Gottesfreundschaft. Daß ihn in der Kindheit ein Krokodil vor dem Ertrinken rettete, belegt in den Augen des damaligen Lesers, daß aš-Šaʿrānī nicht ganz ohne diese Fähigkeiten seines Ahnherrn blieb. In seinen Schriften kehrt er im übrigen eine Begnadung mit derartigen Kräften nicht hervor; es ist erst al-Malīǧī, der mehr hierüber zu berichten weiß: Aš-Šaʿrānī fürchtete sich vor keinem Geschöpf, sei es eine Schlange, ein Skorpion, ein Krokodil, ein Räuber, ein Dämon, ein Gewalttäter. Und es trug sich zu, daß er in einem verlassenen Mausoleum übernachten mußte, in dem so große Schlangen hausten, daß niemand anders sich hineinwagte. Bis zum Morgen streckten sich die erregten Tiere gegen ihn empor, jedoch griffen sie ihn nicht an, ihm aber sträubte sich nicht ein Haar. Als der Tag anbrach, fand er im Staub und in der Asche, die den Boden bedeckten, ihre Spuren so breit wie der Unterschenkel eines Mannes. Die Bewohner des Dorfes waren über alles das aufs höchste erstaunt. Ein anderes Mal fuhr er zu Schiff den Nil hinauf nach Ober-

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ägypten. Plötzlich folgten dem Boot sieben riesige Krokodile mit Leibern wie Wasserbüffel, und die Passagiere fielen in Panik. Er aber, nachdem er das Gewand abgelegt und sich einen Schurz umgebunden hatte, sprang in den Fluß. Kaum hatten ihn die Untiere erblickt, da flüchteten sie, und er stieg in das Boot zurück.76 Erst nach aš-Šaʿrānīs Tod ranken sich um seine Gestalt Legenden, die ihn den Vorstellungen anpassen, die sich das gemeine Volk von einem Gottesfreund macht. Er selber sah sich, das ist schon offenkundig geworden, ganz anders, und je weiter man seinem Lebensweg folgt, desto einsichtiger wird der Abstand, der ihn, den Absturzgefährdeten, von den Ungelehrten – und auch von vielen Gelehrten – trennt. Die Banū Ziġba Als das Todesjahr jenes Mūsā, der von Abū Madjan (gest. 1197) mit dem Weg der Leute vertraut gemacht worden sein soll, nennen aš-Šaʿrānī und im Anschluß an ihn al-Malīǧī das Jahr 707 (begann am 3. Juli 1307).77 Mūsā müßte seinen Meister um 110 Jahre überlebt haben! Es kann sich demnach allein um eine spirituelle Vaterschaft handeln, wie uns aš-Šaʿrānī an anderer Stelle auch erläutern wird. Die Banū Zuġlī, zu denen der Vater Mūsās zählte, sind nach aš-Šaʿrānī und al-Malīǧī ein nordwestafrikanischer Beduinenstamm. Wenn man in Ibn Ḫaldūns umfangreicher Geschichte der Araber und Berber nachschlägt, wird man in der Tat rasch fündig. Der große Stammesverband der Banū Hilāl b. ʿĀmir, der zusammen mit den Banū Sulaim im 11. Jahrhundert in Nordafrika einwanderte, zerfiel in verschiedene Untergruppen, unter ihnen die Banū Ziġba. Sie bemächtigten sich zunächst eines Gebietes, das sich von Tripolis bis nach Gabes erstreckte. Eng verbündeten sie sich mit den Banū Bādīn, die zu den Zanāta-Berbern gehörten. In der Zeit der almohadischen Vorherrschaft über Nordwestafrika, im 12. Jahrhundert, rückten beide Stämme weiter nach Westen vor und sicherten sich die Macht im mittleren Magreb, zwischen M’sila und Tlemcen. Die Banū Ziġba hätten vor allem die Wüstengebiete dieser Region kontrolliert, die Banū Bādīn dagegen das Bergland, schreibt Ibn Ḫaldūn. Um die Wende zum 13. Jahrhundert, als das Reich der Almohaden zerfiel, wuchs der Einfluß der Zanāta-Stämme im mittleren Magreb, sie verließen die Berge, brachten die Verbindungswege und die daran liegenden Städte in ihre Gewalt und zwangen nun die Banū Ziġba, ihrerseits in die Berge hinaufzuziehen und sich dort durchzuschlagen. Vorübergehend waren sie verpflichtet, den Zanāta-Berbern Abgaben zu leisten, doch dies währte nicht lange, denn die Beduinen verteidigten sich und setzten durch, daß jene ihnen Dienstlehen übertrugen.78 Die Nachrichten, die Ibn Ḫaldūn aufzeichnet, sind verhältnismäßig vage. Sie lassen sich durch einige Notizen aus der almohadischen Historiographie ergänzen. Ibn Ṣāḥib aṣ-Ṣalāh, der im 13. Jahrhundert schrieb, rühmt die Banū Ziġba, die sich seit langem mehr als die anderen Araber für die Sache der Almohaden stark machten. Als sich der al-

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mohadische Kalif Abū Jaʿqūb Jūsuf (reg. 1163 – 1184) bei einer Gelegenheit die Ergebenheit seiner Untertanen zusichern ließ und die einzelnen Stämme aufrief, hatten die Banū Ziġba den Vortritt unter allen anderen Beduinen, denn sie waren die ersten Araber gewesen, die sich der Almohaden-Bewegung angeschlossen hatten.79 Die Banū Ziġba zerfielen laut Ibn Ḫaldūn in fünf Sippenverbände, deren vornehmster die Banū Jazīd waren. Sie empfingen von den Almohaden Dienstlehen bei Bougie, gerieten, als die Zanāta-Berber, wie angedeutet, an Macht gewannen, vorübergehend ins Hintertreffen, eroberten jedoch später ihr Land bei Bougie zurück und haben es, wie Ibn Ḫaldūn sagt, „bis heute“ in Besitz. Die Rückgewinnung der ehemaligen almohadischen Dienstlehen durch die Banū Jazīd fällt in das Jahr 761 (begann am 23. November 1359).80 In der Führung der Banū Jazīd lösten sich nacheinander drei Sippen ab, deren letzte die Banū Saʿd b. Mālik waren; einer ihrer Klane waren die Banū Zuġlī b. Rizq. Sie bestimmten, wo sich die Verbände ihres Stammes auf den Zügen von Weide zu Weide eine Zeitlang niederließen und wann man wieder aufbrechen sollte. Was man bei Ibn Ḫaldūn findet, nützt einem freilich nichts, um die von aš-Šaʿrānī wiedergegebene Ahnenreihe zu bestätigen. Dazu sind die Nachrichten über die Mitglieder der Banū Zuġlī, die die genannten Aufgaben erfüllten, zu spärlich. Außerdem wurde das Amt auch unter den Söhnen eines Beduinenfürsten von Bruder zu Bruder weitergereicht, so daß die Vater-Sohn-Reihung des Stammbaumes immer nur in Teilen mit der Reihenfolge der Inhaber der Führerschaft übereinstimmen kann. Für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts nennt Ibn Ḫaldūn einen gewissen Mūsā b. abī l-Faḍl b. Zuġlī, dem dessen Bruder Aḥmad gefolgt sei, dann dessen Bruder ʿAlī, und nach diesem habe die Führerschaft bei Abū l-Lail b. abī Mūsā b. abī l-Faḍl gelegen, dessen Tod in das Jahr 791 (begann am 31. Dezember 1388) fiel. Möglicherweise ist jener Aḥmad mit dem von aš-Šaʿrānī genannten Vorfahren gleichzusetzen, dessen Sohn Mūsā von Abū Madjan in die Geheimnisse des Pfades der Leute eingeführt worden sein soll und dann in dessen Auftrag nach Ägypten reiste. Es bleibt freilich die Schwierigkeit, daß aš-Šaʿrānī und al-Malīǧī das Todesjahr mit 707 angeben, was nach den Daten und Ereignissen, die uns Ibn Ḫaldūn überliefert, ungefähr ein Jahrhundert zu früh ist. Um einen Zeitraum von über zweihundert Jahren, die nach dieser Datierung zwischen der Ankunft Mūsās in Ägypten und der Geburt aš-Šaʿrānīs liegen, zu überbrücken, sind sieben Geschlechterfolgen, wie sie in dem Stammbaum erscheinen, ausreichend, doch auch wenn man aš-Šaʿrānī und al-Malīǧī einen Irrtum unterstellt und den Zeitpunkt der Übersiedelung in die Mitte des 14. Jahrhunderts verlegt, ist die Anzahl der Vorväter noch nicht zu groß. Nun hat aš-Šaʿrānī viele Nachrichten über seinen Großvater väterlicherseits Sidi ʿAlī b. Šihāb ad-Dīn aš-Šaʿrānī gesammelt, der 1486 im Alter von 55 Mondjahren starb.81 Von diesem sagt er, dessen „vierter Großvater“ sei jener Sultan Aḥmad gewesen,82 vielleicht der Inhaber der oben erwähnten Dienst-

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lehen im Gebiet von ar-Raǧrāǧ. Nach dieser Rechnung wäre die Ahnenreihe um ein Glied kürzer – ohne daß man irgend Gewißheit erlangen könnte, welches zu streichen wäre. Doch sprächen diese Angaben für die Irrigkeit des frühen Todesdatums Abū ʿImrān Mūsās. In jedem Falle bleibt eine Unsicherheit, und es gelingt uns nicht, wesentlich mehr über die Ahnen aš-Šaʿrānīs in Erfahrung zu bringen, als er selber dem Leser mitteilt. Lediglich daß seine Behauptungen nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, möchte man einräumen. Muḥammad b. al-Ḥanafīja Nun erzählt aš-Šaʿrānī, daß die Genealogie seiner beduinischen, seit dem 11. Jahrhundert in Nordwestafrika umherziehenden Ahnen auf Muḥammad b. al-Ḥanafīja zurückgehe, einen Sohn ʿAlī b. abī Ṭālibs, den dieser mit einer Frau aus dem ostarabischen Stamm der Banū Ḥanīfa gezeugt hatte. Aš-Šaʿrānī weiß allerdings nicht, über welche Glieder der Stammbaum der Banū Zuġlī mit Muḥammad b. al-Ḥanafīja verbunden wurde, denn an dieser Stelle seien in der Aufzeichnung, die er in den Händen halte, zwei Namen getilgt worden. Es ist also unklar, auf welche Weise seine Familie die Behauptung, mit dem Propheten nahe verwandt zu sein, rechtfertigte. Von einer Abstammung von Mohammed konnte ohnehin keine Rede sein, denn nicht dessen Tochter Fāṭima, sondern eine andere Frau war die Mutter des Muḥammad b. al-Ḥanafīja gewesen. Diese Familienüberlieferung wurde aš-Šaʿrānī anscheinend nicht von seinem Vater, sondern von seinem Vetter Kamāl ad-Dīn Zūfā übermittelt, der in der Gegend von Bahnasa lebte.83 Kamāl ad-Dīn erzählte ihm auch dies: „Auf unserem alten Stammbaum fanden sich die Unterschriften der Gottesfreunde, Gelehrten und Richter des Magreb. Nun ereignete sich zwischen unseren Vettern und dem Kalifen Sidi Jaʿqūb, dem Abbasiden, ein Vorfall, der nicht zur Schilderung taugt. Da bestach Sidi Jaʿqūb, der Abbaside, wegen des Stammbaums jemanden, der unseren Vettern diesen wegnahm und verschwinden ließ und sagte: ‚Nie und nimmer haben wir Vettern!‘ Denn sie fürchteten das Aussterben oder die Schwäche ihrer Dynastie, so daß unseren Vettern das Kalifat hätte gegeben werden können. Bei meinem Leben! Die Nachkommen des Propheten haben sehr wohl darauf Anspruch, und sie sind in Ägypten doch zahlreich!“84 Auch dieser Text ist nicht sehr erhellend. Aš-Šaʿrānī fügt an, daß er ihn nur deswegen zitiere, weil er befürchte, die Genealogie der Familie könnte ganz in Vergessenheit geraten. Der lange schwärende Zwist um das Kalifat Jaʿqūb, mit dem Herrschernamen al-Mustamsik, wurde 1497 zum Kalifen erhoben. Ibn Ijās weist aus diesem Anlaß darauf hin, daß nur vier „Befehlshaber der Gläubigen“ sowohl in väterlicher als auch in mütterlicher Linie Hāšimiten gewesen seien, nämlich ʿAlī b. abī Ṭālib, dessen Sohn al-Ḥasan, der Abbaside al-Amīn

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(reg. 809 – 813) und dieser al-Mustamsik. Gegen dessen Ausrufung zum Kalifen erhob dessen Vetter Ḫalīl Einspruch, denn er hielt ihn für vollkommen untauglich. Der Sultan wies den Protest jedoch mit der Begründung zurück, Ḫalīls Vater sei nie Kalif gewesen, und nur der, dessen Vater dieses Amt innegehabt habe, könne es selber erlangen.85 Sowohl Jaʿqūb als auch sein Nebenbuhler waren Urenkel des Kairoer Abbasiden al-Mutawakkil I. (reg. 1362– 1383 und 1389 – 1406); sie haben ferner einen gemeinsamen Großvater väterlicherseits. Dessen Sohn Muḥammad, der Vater Ḫalīls, hatte sich bereits Hoffnungen auf das Kalifat gemacht, war aber 1497 bei der Inthronisierung Jaʿqūbs übergangen worden.86 Im Winter 1508 auf 1509 erkrankte Jaʿqūb al-Mustamsik so schwer, daß er sich gezwungen sah, von seinem Amt zurückzutreten. Nun glaubte Ḫalīl, seine Stunde sei endlich gekommen. Er wandte viel Geld auf, um seine Kandidatur zu betreiben, doch überzeugte sich der Sultan schließlich von der Untüchtigkeit Ḫalīls, der, so Ibn Ijās, wegen eines Sprachfehlers nicht einmal in der Lage gewesen sein soll, die Eröffnungssure zu rezitieren, und so mußte sich Qānṣauh al-Ġaurī in das Unvermeidliche fügen und Jaʿqūbs Sohn Muḥammad zum Kalifen al-Mutawakkil III. erheben lassen. Als der Sultan bald darauf an einem Augenleiden erkrankte, soll er geklagt haben, daß dies die Strafe für die Unterstützung des falschen Kandidaten sei.87 Ḫalīl starb im Frühjahr 1514, doch die Querelen um das Kalifat gingen weiter, seine Söhne gaben keine Ruhe.88 Noch einmal, Ende 1516, wurde jener Jaʿqūb in das Kalifat berufen; al-Mutawakkil III. war in der Schlacht von Marǧ Dābiq gefangengenommen worden. Wieder hieß es, nun könne doch ein Sproß Ḫalīls in das Kalifat gelangen, aber in der entscheidenden Sitzung wies Jaʿqūb eine Urkunde vor, in der ihn sein Sohn für die Zeit der Abwesenheit mit der Wahrnehmung aller Amtsgeschäfte betraut hatte.89 Das Thema erledigte sich, als Selim in seinem Gefolge al-Mutawakkil III. nach Kairo mitbrachte. Als der Eroberer nach Istanbul zurückkehrte, mußte al-Mutawakkil III. ihn begleiten, desgleichen zwei Söhne Ḫalīls. Und so geschah, was zu erwarten war: Der Zwist zwischen den verfeindeten Linien der Abbasiden ging in Istanbul mit unverminderter Schärfe weiter. Beide Parteien wurden beim Sultan vorstellig und beschuldigten sich gegenseitig, den jeweils anderen um ein beträchtliches Vermögen geprellt zu haben. Selim wußte sich keinen anderen Rat, als die Besitztümer zu teilen. Ein Jahr später, im Herbst 1520, hörte man aus Konstantinopel die Nachricht, der Kalif sei nach Yedikule verbracht und unter Arrest gestellt worden, und als Gründe nannte man, er habe sich der Teilung des Vermögens widersetzt; außerdem habe er ein ausschweifendes Leben begonnen, sich Sängerinnen gekauft und seine Tage mit unpassendem Zeitvertreib verbracht; schließlich habe der Sultan verhindern wollen, daß sein prominentester Gefangener sich heimlich auf die Reise nach Ägypten mache, wie schon so manche andere. Mit der Inhaftierung des Kalifen haben, wie Ibn Ijās es sieht, die intrigierenden Söhne Ḫalīls endlich ihr Ziel doch erreicht.90 Sidi ʿAlī b. Dāʾūd, der türkische Chronist der Inbesitznahme Ägyptens

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durch die Osmanen, berichtet davon, daß der Statthalter Aḥmad, der sich wie ein mamlukischer Sultan aufführte, nach altem Brauch am Beginn des Monats die Glückwünsche der vier Großqāḍīs und des Kalifen entgegennahm – dessen Namen erwähnt er leider nicht. Ein Kalif war auch zugegen gewesen, als man gegen den Widerstand des schafiitischen Großqāḍīs jenem Aḥmad als dem neuen Sultan gehuldigt und dieser sich den Herrschernamen „der siegreiche König“ beigelegt hatte.91 Aš-Šaʿrānī stand in einem engen Verhältnis zu Ǧānim al-Ḥamzāwī und konnte daher die Politik Aḥmads nicht gutheißen; daran sei hier erinnert. Offensichtlich hatte seine Familie aber schon mit dem erwähnten Zwist im Hause ʿAbbās irgendetwas zu tun gehabt, und sie scheint sich auf die Seite Ḫalīls gestellt zu haben, denn es soll Jaʿqūb gewesen sein, der aš-Šaʿrānīs Angehörigen die Abstammung von Muḥammad b. al-Ḥanafīja bestritt. Er selber habe keine Vettern, soll Jaʿqūb behauptet haben. Das wird soviel heißen wie: Wir haben keine Vettern, die mit uns um das Kalifat wetteifern könnten. Die Zugehörigkeit väterlicherseits und mütterlicherseits zu den Hāšimiten war nämlich nach dem Zeugnis des Ibn Ijās ein Argument, das 1497 bei den Auseinandersetzungen um das Kalifat in die Debatte geworfen worden war. Denn nicht nur der rivalisierende Zweig der Abbasiden, auch alle anderen Nachkommen eines der Söhne Hāšims waren nach der Genealogie Vettern Jaʿqūbs, wenn auch nicht ersten oder zweiten, sondern eines viel höheren Grades. Ein Sohn Hāšims war ʿAbd al-Muṭṭalib, der Großvater des Propheten; zu ʿAbd al-Muṭṭalibs Söhnen zählten ʿAbbās, der Ahnherr der Abbasiden, ʿAbdallāh, der Vater Mohammeds, und Abū Ṭālib, der Vater ʿAlīs. Von letzterem leiten sich die Aliden her, unter denen die Linien, die auf al-Ḥasan und al-Ḥusain zurückgehen, besonderes Ansehen genießen, da deren Mutter, Fāṭima, die Tochter des Propheten ist. Für die Legitimation der bedeutenden islamischen Herrscherhäuser war die genealogische Nähe zum Propheten sehr wichtig. Der Zwist zwischen den Abbasiden, deren Abstammung weder über den Propheten noch über ʿAlī b. abī Ṭālib, dessen Vetter und Schwiegersohn, lief, und den Aliden hatte schon eine achthundertjährige Geschichte, als er um die Person Jaʿqūb al-Mustamsiks aus uns nicht durchschaubaren Gründen erneut entbrannte. Unter dem zweiten Abbasidenkalifen al-Manṣūr (reg. 754– 775) hatten sich ḥasanitische Aliden im Hedschas erhoben, die geltend machten, daß sie sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Linie von Fāṭima abstammten, während al-Manṣūr mütterlicherseits nicht einmal Hāšimite war.92 Die Aufmerksamkeit für derartige Fragen erlahmte nicht; der Geschichtsschreiber al-Maqrīzī, den wir so oft zu Rate zogen, verfaßte eine Abhandlung, in der er die Argumente Revue passieren ließ, mit denen sich schon im 7. und 8. Jahrhundert die Hāšimiten und die Omaijaden, deren Ahnherr ʿAbd Šams ein Bruder Hāšims war, um das Recht der Herrschaft über die Muslime gestritten hatten.93 Jetzt also führte man für Jaʿqūb die zweifache Abkunft von Hāšim ins Feld und

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verband damit die Begründung des Ausschlusses aller Vettern, auch der Aliden, vom Kalifat. Die ägyptische Auslegung des Begriffs der „Leute des Hauses“ Auf solchem Ausschluß zu beharren, war für die Kairoer Abbasiden mehr als nur die Unterstreichung des mit ihrem herausragenden Amt verbundenen Prestiges. AšŠaʿrānī selber leitet uns zum Verständnis jenes Satzes aus dem Mund Jaʿqūbs hin, indem er ein Prophetenwort anführt: „Laut Zaid b. Arqam sprach der Gesandte Allahs: ‚Ich beschwöre euch bei Allah, nehmt euch der Leute meines Hauses an!‘ Dreimal sagte er dies. Und Zaid legte das Wort ‚Leute meines Hauses‘ so aus: Die Sippe ʿAlī (b. abī Ṭālibs), die Sippe Ǧaʿfar (b. abī Ṭālibs), die Sippe ʿAqīl (b. abī Ṭālibs), die Sippe des ʿAbbās.“ Nur zwei der Söhne ʿAbd al-Muṭṭalib b. Hāšims werden demnach als Vorfahren der „Leute des Hauses“ des Propheten anerkannt, nur in deren Nachkommenschaft findet sich die „edle Art“, die durch die genealogische Nähe zu Mohammed begründet sein soll. Es sind dies ʿAbbās und Abū Ṭālib; ʿAbdallāh, der Vater des Propheten, kommt nicht in Betracht, da Mohammeds Söhne im frühesten Kindesalter starben. Die Nachfahren weiterer Söhne Hāšims, etwa des alḤāriṯ, wurden schon früh auf Betreiben der Abbasiden aus dem erlauchten Kreis hinausgedrängt.94 Mit den Aliden und den anderen auf Abū Ṭālib zurückgehenden Sippen war dergleichen nicht ohne weiteres möglich. Dafür war der Anteil gerade der Aliden an der islamischen Geschichte zu groß. Die abbasidische Kalifatsideologie sprach deshalb davon, ʿAlī habe freiwillig dem ʿAbbās, dem von Allah ausersehenen Ahnherrn der Herrscher über die Muslime, alle Ansprüche auf die Führerschaft übertragen. Überall in der islamischen Welt – wenn man von Iran absieht, das sich im 16. Jahrhundert dem Schiitentum zuwandte – mochten solche Argumente, die die Abbasiden vorbrachten, überzeugen, jedoch nicht in Ägypten, und so war die Stellung der Kairoer Abbasiden vermutlich immer ein wenig heikel. Denn in Ägypten, so erläutert aš-Šaʿrānī und beruft sich dabei auf as-Sujūṭī, verstand man unter den „Leuten des Hauses“ allein die Aliden, bestritt also die Gültigkeit des unter dem Namen von Zaid b. Arqam, dem um 680 gestorbenen Anhänger ʿAlī b. abī Ṭālibs, verbreiteten Prophetenwortes. As-Sujūṭī unterstrich, daß allein in Ägypten die „edle Art“ ausschließlich den Aliden vorbehalten sei.95 Vermutlich handelt es sich hierbei um ein Erbe des fatimidischen Kalifats, das von 969 bis 1171 im Lande regierte. Die Fatimiden machten sich die in Nordafrika geläufige Vorstellung zu eigen, der legitime islamische Herrscher müsse nicht nur Hāšimit sein, sondern seinen Stammbaum über den Vater wie über die Mutter auf Fāṭima zurückführen können.96 Sie selber aber waren in Wirklichkeit nicht einmal Aliden, sondern Nachkommen des ʿAqīl b. abī Ṭālib.97 Daß sie als Erzrivalen der Bagdader Abbasiden und um ihren eigenen Makel vergessen zu machen, die „edle Art“ streng auf die

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Aliden beschränkt haben sollten, wäre einleuchtend. Jaʿqūb al-Mustamsiks Kalifat diente womöglich dem Zweck, auch ihm als einem Abbasiden dank der zweifachen Abstammung von Hāšim einen Platz unter den „Leuten des Hauses“ zu sichern. Die Vorzüge der „edlen“ Herkunft Als Nachkomme Muḥammad b. al-Ḥanafījas hätte aš-Šaʿrānī zwar nicht dem vornehmsten Kreis der Eigentümer „edler Art“ angehört, aber eben doch einer der weitläufigen Linien der Aliden, die, seitdem die Abbasiden 749 in Kufa die Macht ergriffen hatten, diese als Usurpatoren der ihnen, den Aliden, zustehenden Rechte verunglimpften. Nun ging es bei der Beanspruchung „edler Art“ aber nicht nur um das Prestige. Ein Verwandter des Propheten zu sein, bedeutete viel mehr, und ašŠaʿrānī setzt sich in seiner Lebensbilanz verschiedentlich hiermit auseinander, freilich meist unter dem Blickwinkel, welche Pflichten er gegenüber einem Mann oder einer Frau von „edler Art“ habe. Aber diese Bescheidenheit ist gespielt, denn allein schon seine Bemerkung, er flechte Hinweise auf die eigene vornehme Herkunft in die Vita seines Großvaters ein, damit die Genealogie nach dem Eingreifen der Partei des Kalifen Jaʿqūb nicht in Vergessenheit gerate, ist ein Beleg dafür, wie sehr ihm dies alles am Herzen lag. Aš-Šaʿrānī zitiert in seiner Lebensbilanz einen Satz Ibn ʿArabīs. Dieser hatte behauptet, die Verfehlungen der „Leute des Hauses“ seien nur dem Äußeren nach, also in der Art und Weise, wie sie, von den fünf Sinnen erfaßbar, im Diesseits in Erscheinung träten, als Sünden zu werten. Ihrem Wesen nach seien sie die Manifestationen dessen, was Allah verfügt.Vom Standpunkt des dem Diesseits und seinen Möglichkeiten der Beurteilung verhafteten Menschen verstoßen auch die Angehörigen des Hauses des Propheten bisweilen gegen die Scharia, aber man muß bedenken, daß Allah ihnen schon im voraus vergeben hat. „Allah will die Unreinheit von euch nehmen, ihr Leute des Hauses, und euch ganz läutern!“ heißt es in Sure 33, Vers 33, und so fragte Ibn ʿArabī, was schmutziger sein könnte als die Sünde. Jeglichen Tort, den einem jemand „edler Art“ antut, darf man als ein gemeiner Mann nicht zurückweisen, man muß vielmehr Höflichkeit gegen den Nachkommen Mohammeds üben und die vermeintliche Untat als etwas ansehen, das Allah verhängt hat, so wie er jemandem eine Krankheit vorherbestimmt. Selbst wenn die „Leute des Hauses“ uns beleidigen oder unser Vermögen rauben, ziemt es sich nicht, sie vor den Richter zu zitieren, denn jene sind „Fleisch vom Fleische des Gottesgesandten“. Aš-Šaʿrānī ergänzt diese Äußerung Ibn ʿArabīs durch eine Reihe von Ḥadīṯen: Abū Bakr soll die Mahnung Mohammeds überliefert haben, daß die Muslime in den „Leuten des Hauses“ den Propheten selber beschützen sollten. „Bei dem, in dessen Hand mein Leben ist! Die Verwandten Mohammeds sind mir mehr wert als meine eigenen!“ schwor Abū Bakr; und als Ḥalīma, die Amme des Gottesgesandten, einmal

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zu Abū Bakr und ʿUmar kam, zogen beide das Obergewand aus und breiteten es vor ihr hin. Allein durch die Tatsache, daß sie den künftigen Propheten gesäugt hatte, war sie der „edlen Art“ teilhaftig geworden. Erstaunliches findet aš-Šaʿrānī auch aus späterer Zeit zu berichten. Mālik b. Anas (gest. 795), der berühmte medinensische Gelehrte, wurde vor den Statthalter al-Manṣūrs gerufen, der ihn verprügeln ließ, bis er in Ohnmacht fiel. Als Mālik, der sich keines Vergehens schuldig sah, wieder zu sich kam, bat er die Umstehenden: „Ich rufe euch zu Zeugen an dafür, daß ich den, der mich prügeln ließ, von allen Vergehen freispreche!“ Nach dem Grund befragt, fuhr Mālik fort: „Ich fürchte, daß ich, sollte ich sterben, den Gesandten Allahs treffe, und dann müßte ich mich vor ihm schämen, wenn einer seiner Verwandten um meinetwillen in die Hölle käme!“ Der Statthalter, der sich an Mālik vergriffen hatte, war Ǧaʿfar b. Sulaimān, ein Mitglied der Familie der Abbasiden. Später, als alManṣūr persönlich Medina aufsuchte, wollte er dem Gelehrten Genugtuung verschaffen, aber dieser beharrte: „Nach keinem Hieb wurde die Peitsche von meinem Leib emporgehoben, ohne daß ich Ǧaʿfar wegen seiner Verwandtschaft mit dem Gottesgesandten freigesprochen hätte.“ Die Erweiterung des Kreises der „Leute des Hauses“ Bei Ibn ʿArabī in den Mekkanischen Eröffnungen hat aš-Šaʿrānī zudem gelesen, daß die Zugehörigkeit zur Prophetenfamilie nicht allein durch die Blutsverwandtschaft bestimmt werde. Auch Salmān al-Fārisī, ʿAlīs treuer Diener, zähle zu ihr und sei in die Verheißung von Sure 33,Vers 33, eingeschlossen. Folgen wir einen Augenblick Ibn ʿArabīs Gedanken zu diesem Gegenstand! Die Familie des Gottesgesandten – die „Sippe des Hauses“ – ist in vollkommener Weise dem Einen Wahren zugewandt, von den Geschöpfen abgekehrt. Anderenfalls könnte sie nicht ganz und gar ihm dienen; und worin dieser Dienst in Wahrheit besteht, das wird uns Ibn ʿArabī noch zu erklären haben. Hier genügt uns, was er über die Heilsbestimmtheit der Prophetensippe mitzuteilen hat. „Da nun der Gesandte Allahs durch und durch ein Diener ist, hat Allah ihn und die ‚Leute seines Hauses‘ vollständig geläutert“, wie an der besagten Stelle des Korans bezeugt wird. Wer zu ihnen rechnet, hat an diesem Vorzug Anteil. Daher ist Mohammeds Versicherung, Salmān gehöre „zu uns“, ein Zeugnis dafür, daß Salmān „lauter ist und göttlichen Beistand und den Schutz“ vor Fehltritten genießt. „Alle Scharifen, die Nachkommen der Fāṭima, und alle, die ‚Leute des Hauses‘ sind wie Salmān al-Fārisī, zählen bis zum Jüngsten Tag zu denen, die gemäß Sure 33, Vers 33, Vergebung erlangt haben. Sie sind geläutert, indem sie ganz zu Allah gehören, sowie dank dessen besonderer Fürsorge, und dies wegen des hohen Ranges Mohammeds und wegen der Fürsorge Allahs für ihn!“ Erst im Jenseits wird sich der Wert der Würde zeigen, mit der Allah die „Leute des Hauses“ auszeichnete – schon im Gericht wird man erkennen, daß ihnen alle Schuld verziehen

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wurde. „Wenn die Überlieferung über Salmān al-Fārisī wahr ist, dann steht er tatsächlich auf solch einer Rangstufe! Beginge Salmān eine Handlung, die nach dem äußeren Sinn der Scharia zutiefst verabscheuungswürdig ist und dem, der sie zu verantworten hat, heftigen Tadel zuzöge, dann bedeutete dies, daß man jemanden zu den ‚Leuten des Hauses‘ rechnete, der nicht vom Schmutz (der Sünde) gereinigt worden wäre. Die ‚Leute des Hauses‘ hätten dann also Anteil an jenem Schmutz in dem Maße, wie Salmān mit ihnen in Verbindung gebracht würde. Nach eindeutigem Text sind sie aber die Geläuterten! Salmān gehört zweifelsfrei zu ihnen! Und so hoffe ich, daß Allah (allen) Nachkommen ʿAlīs und Salmāns ebendiese Fürsorge angedeihen läßt, wie sie den Söhnen al-Ḥasan und al-Ḥusain und deren Nachkommen und den Schutzbefohlenen der ‚Sippe des Hauses‘ beschieden ist. Denn die Barmherzigkeit Allahs reicht sehr weit!“ Aš-Šaʿrānī paraphrasiert diese Worte Ibn ʿArabīs, und dabei hebt er hervor, was für ihn entscheidend ist: „Wenn die Überlieferung wahr ist, daß Salmāns Sündenschmutz getilgt wurde, weil er der Schutzbefohlene der ‚Leute des Hauses‘ war, so hoffen wir, daß seinen Nachkommen und den Nachkommen ʿAlīs, die mütterlicherseits nicht von Fāṭima abstammen, ebendiese (göttliche) Fürsorge beschieden ist wie den Söhnen al-Ḥusains. Denn die Barmherzigkeit Allahs reicht weiter als (lediglich) bis dahin.“98 Die Vorrechte der „Leute des Hauses“ Wir ahnen, was es aš-Šaʿrānī bedeuten mußte, auf seine Zugehörigkeit zu den „Leuten des Hauses“ verweisen zu können. In überraschendem Zusammenhang werden wir später wieder auf Salmān al-Fārisī treffen, und dann werden wir die Tragweite dessen ermessen, was aš-Šaʿrānī eben dargelegt hat. Verfolgen wir zunächst, wie man in seinem Milieu über den Umgang mit den Nachfahren der „Leute des Hauses“ dachte! Er zitiert Sidi ʿAlī, den Palmblattflechter, mit dieser Mahnung: „Jemand von ‚edler Art‘ kann von uns verlangen, daß wir mit unserem Leben für ihn einstehen, denn in ihm finden sich das edle Fleisch und das vornehme Blut des Gottesgesandten. Dessen Verwandter ist ein Teil von seinem Fleisch, und der Teil verdient die gleiche Ehrung und Hochachtung wie das Ganze, und die Unverletzlichkeit eines Stückes von ihm, nachdem er verstorben ist, gilt genauso gut wie die Unverletzlichkeit eines Stückes von ihm, als er noch lebte.“ Aus demselben Grund bekundete Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī jedem Verwandten Mohammeds eine tiefe Unterwürfigkeit: „Wer einem von ‚edler Art‘ zu nahe tritt, der tritt dem Gottesgesandten zu nahe… Dem, der an Allah glaubt und dessen Gesandten liebt, ziemt es nicht, mit der Verehrung… eines Verwandten des Propheten so lange zu zögern, bis er die Richtigkeit der Abstammung kennt. Es muß ihm vielmehr schon genügen, daß jener offen den Anspruch erhebt. Ein solches Verhalten ist dem Gläubigen angemessen, der den Propheten ohne zu zaudern verehren soll und dabei nicht erst nach

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der Richtigkeit der Genealogie fragt.“ Sidi Ibrāhīm vertrat sogar die Meinung, der einfache Muslim solle, wenn er von der Verschuldung eines Glaubensbruders „edler Art“ erfahre, sogleich bereit sein, dafür aufzukommen. Aš-Šaʿrānī fügt hinzu, daß nur eine Minderheit der Gefährten anderer Auffassung sei und die Verehrung der Verwandten Mohammeds von deren schariatreuem Lebenswandel abhängig mache. Sidi ʿAlī lehrte ihn sogar, daß die einfachen Muslime sich den Verwandten Mohammeds gegenüber auf der Stufe von Knechten befinden. Den Menschen „edler Art“ solle man nicht nur mit Worten Ehrerbietung zollen, man solle sie mit Geschenken erfreuen – die nicht mit der Pflichtabgabe der Läuterungsspende verrechnet werden dürfen. Aš-Šaʿrānī klagt, daß eine solche Haltung gegenüber den Verwandten Mohammeds inzwischen fast ganz aus der Übung gekommen sei, nur er befolge sie strikt. Andere Leute aber scheuten sich nicht, einen solch ehrwürdigen Mann in Dienst zu nehmen, ihm womöglich das Tragen des Gebetsteppichs zu befehlen und die Anweisung zu geben, hinter dem auf einem Maultier reitenden Herrn hinterdrein zu laufen.99 Die Verwandten Mohammeds sind Fleisch von seinem Fleisch, sagte aš-Šaʿrānī; in ihnen ist der Prophet selber gegenwärtig, wenigstens zu einem Teil. Nur in seiner äußeren Erscheinung wies der Gottesgesandte nämlich eine irdische, den auf das Diesseitige eingestellten Sinnen der Menschen erkennbare Gestalt auf. Sein Inneres war ganz und gar Licht, und zwar jenes Licht, das das Auge des gewöhnlichen Menschen blendet, weil es nicht das Diesseits, sondern den verborgenen Seinsbereich durchströmt.100 Die Verwandten des Propheten müssen, wenn auch in ganz geringem Maße, etwas von jenem jenseits des Irdischen liegenden Sein aufweisen, denn aš-Šaʿrānī versichert, daß er sie allein an ihrer Stimme zu erkennen vermöge, selbst wenn sie durch einen Vorhang seinem prüfenden Blick entzogen seien. Er ist in der Lage, eine spirituelle Verbindung zu ihnen herzustellen, die spontan wirksam wird: Sobald ein Mann „edler Art“ in seiner Nähe ist, fühlt sich aš-Šaʿrānī gedrängt, ihn seiner Ehrfurcht zu versichern, und indem aš-Šaʿrānī dazu anhebt, ist er sich sicher, daß jener ein Verwandter Mohammeds ist. Hierfür bedarf es weder des grünen Turbans noch einer von einem Beamten beglaubigten Stammtafel. AšŠaʿrānī vergleicht diese erstaunliche Hellsichtigkeit mit einer anderen Fähigkeit, deren er sich rühmt. Er vernimmt Worte und erkennt spontan, ob es sich um die schlichte Rede eines beliebigen Menschen oder um eine Äußerung des Propheten handelt. Üblicherweise bedient man sich der Hilfsmittel der ḥadīṯ-Wissenschaft, um dessen Anweisungen zu identifizieren, doch aš-Šaʿrānī hat den Weg über die Gelehrsamkeit nicht mehr nötig. Es drängt ihn, indem ihm eine Aussage als prophetisch bewußt wird, unverzüglich dazu, das in ihr angesprochene Verhalten auszuführen. Aš-Šaʿrānī bringt hiermit weitere Gnadengaben in Zusammenhang, die ihm schon in seiner Jugend beschieden worden seien. Er habe sofort durchschaut, ob der Unterhalt, den ihm jemand habe spenden wollen, rechtmäßig erworben sei oder

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nicht. Schließlich habe er die Fähigkeit besessen, gefälschte Urkunden von echten zu unterscheiden: Der Buchstabe einer Fälschung sei ihm stets wie tot vorgekommen. Auch lügnerische Rede habe er auf der Stelle entlarven können. Doch habe er flehentlich das Herz zu Allah gewandt und sei im Jahre 950 (begann am 6. April 1543) von diesem bedrückenden Können erlöst worden. Aus „Höflichkeit gegen die lautere Scharia“, so sagt er, habe er diese Bitte an Allah gerichtet,101 eine dunkle Bemerkung, die man wohl so verstehen kann, daß die formalen Verfahren, die die Scharia bei vielen Geschäften vorschreibt, oft zu einem Auseinanderklaffen von eigentlichem Ziel und schariatischer Regelung führen. In jenen Jahren nahm in aš-Šaʿrānīs Denken das Konzept einer auf der Gottesfreundschaft fußenden muslimischen Gesellschaft Gestalt an, in der sich der unheilvolle Widerspruch zwischen forum externum und forum internum auflösen sollte. Doch darüber später mehr! Die Besitzlosigkeit der Prophetenfamilie Ein Verwandter Mohammeds erkennt den anderen spontan, die Urkunden, die die Abstammung bezeugen – und die im Falle aš-Šaʿrānīs unvollständig waren, wie wir hörten –, haben für den Verkehr der Menschen „edler Art“ untereinander keine Bedeutung. War die Gründung der Klause schon mit einem Mangel an Dokumenten belastet, der durch den Hinweis auf das Wesen der wahren Gottesfreundschaft aufgehoben werden mußte, so kann aš-Šaʿrānī auch seine Abkunft vom Propheten nicht einwandfrei belegen, und wieder beruft er sich zum Ausgleich des Mangels auf eine Fähigkeit, die eben nur jenen Erwählten eignen soll. Die edle Abstammung und sein Verhalten als Meister einer Klause bedingen sich übrigens gegenseitig. Auch das gibt aš-Šaʿrānī den Brüdern zu bedenken, denen er empfiehlt, die in den Gnadengeschenken niedergeschriebenen und mit Beispielen erläuterten Charaktereigenschaften nachzuahmen. „Allah hat mich davor beschützt, die freiwilligen und die der Ritualpflicht entsprechenden Gaben zu verzehren, solange ich nur irgendetwas in die Hand bekommen konnte, womit ich mein Leben fristete. So handelte ich, nachdem mir zu Ohren gekommen war, daß ich zu den Nachfahren von Sidi Muḥammad b. al-Ḥanafīja gehöre. Eine Ausnahme ließ ich nur gelten, wenn die freiwilligen Gaben einem allgemeinen Zweck dienten, wie dies bei den Stiftungen der Fall sein kann – dann zehrte ich davon, sofern ich zu denen zählte, die nach den Bestimmungen der betreffenden Stiftung ein Anrecht auf deren Ertrag hatten. Dies gehört zu den größten Gnadenerweisen, die Allah mir schenkte. Mir half dabei die Genügsamkeit, die Allah mir gewährte – wer um Bescheidenheit bittet, dem wird sie von Allah geschenkt, und wer mit dem, was er hat, zufrieden sein möchte, den macht Allah zufrieden! Schon mein Vater und mein Großvater sowie mein Bruder, Meister ʿAbd al-Qādir, waren von solcher Art. Sie sagten: ‚Wir fürchten, wir könnten gegen das rechte Verhalten unserer Vorfahren verstoßen und von dem Schmutz der

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Leute essen.‘“ Wann immer, betont aš-Šaʿrānī, er etwas aus dem Aufkommen der Läuterungsgabe, deren Leistung nach bestimmten Hebesätzen eine der Ritualpflichten der Muslime ist, habe empfangen dürfen, habe er es an die Bedürftigen, die Armen, Witwen und Alten weitergegeben.102 Aš-Šaʿrānī war ein Jurist, er kannte die Bestimmungen über die Läuterungsgabe, die die Muslime, sobald ihr Jahreseinkommen einen bestimmten Betrag überschreitet, an den Fiskus, das „Vermögen Allahs“, abführen müssen. Wer aus diesen Mitteln Hilfe erhalten darf, wird nach allgemein anerkannter Lehre in Sure 9,Vers 60, mitgeteilt. Es sind die Armen und die „Leute des Weges“, worunter in der Zeit des Propheten die Menschen verstanden wurden, die sich ihm anschlossen und daher die Unterstützung durch ihre Sippe verloren. Ferner dürfen die Gelder zum Freikauf von muslimischen Sklaven, für die Auslösung Hochverschuldeter und für die Gewinnung von Andersgläubigen ausgegeben werden, die man zur Annahme des Islams bewegen möchte. Schließlich sind aus dem Aufkommen der Läuterungsgabe die Beamten zu besolden, die sie verwalten. Die Nachfahren des Propheten haben demnach keinen durch diesen Status begründeten Anspruch auf Dotationen. Ja, sie müssen, wenn sie dem Vorbild ihres Ahnherrn folgen wollen, sogar ihr Eigentum als ein Gut betrachten, das sie als eine freiwillige Spende auszuteilen haben; auf keinen Fall können sie es vererben. Es ist ihnen allerdings gestattet, es in eine Stiftung einzubringen. Das Vermögen wird auf diese Weise „gemeinnützig“, und sofern der Nachfahre Mohammeds den Anforderungen genügt, die die Stiftungsurkunde festlegt, mag er wie die anderen Berechtigten aus den Einkünften seinen Anteil beziehen.103 Mehr als zuvor ist aš-Šaʿrānī, seitdem ihm seine Abkunft vom Propheten mitgeteilt wurde – vielleicht durch seinen Vetter Kamāl ad-Dīn Zūfā – gehalten, alles das, was ihm an Spenden anvertraut wird, denen weiterzureichen, die auf Wohltätigkeit angewiesen sind. Das Vorbild für solche Gottesfreundschaft und deren Verwirklichung im Alltag fand er jedoch ohnehin in seiner Familie, und er läßt es offen, ob er bei alldem, was er von ihr erzählt, immer an die Zugehörigkeit zur Prophetensippe denkt. So widmet er in seinem Buch über die Lebensabrisse der Gottesfreunde einen langen Artikel seinem Großvater ʿAlī Nūr ad-Dīn. Die praktischen Auswirkungen der beschriebenen Haltung werden hier dem Leser anschaulich. Zugrunde liegt ihr die koranische Auffassung, daß jegliche Art von unrechtmäßig erworbenem Besitz das Heil in Gefahr bringt; selbst wenn der Vorteil, den sich jemand aneignet, gar nicht auf den ersten Blick wahrgenommen werden kann, sondern nur nach längeren Erwägungen einleuchtet, muß er gemieden werden. Ihn leichten Herzens entgegenzunehmen oder auch nur ihn sich aufdrängen zu lassen, wäre eine grobe Mißachtung der göttlichen Vorsehung, die vor aller Zeit bestimmt hat, wieviel Lebensunterhalt einem jeden Geschöpf zukommen wird. So betrieb der Großvater eine Mühle; jedesmal, wenn er für einen Fellachen Getreide gemahlen hatte, hob er den Stein und kratzte das Mehl, das sich dort ge-

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sammelt hatte, in eine Schüssel und verknetete es zu einem Teig, den er den Hunden zu fressen gab; die Menge des verlorengegangenen Mehls ersetzte er dem Fellachen aus den eigenen Vorräten. Bis zu seinem Tode aß der Großvater nie eine Taube, denn die Tauben nährten sich vom Saatgut, das die Fellachen in die Erde gebracht hatten. Obwohl sein Sohn ihm Rechtsgutachten zeigte, die den Verzehr erlaubten, hielt er an seiner Meinung fest; denn die Fellachen versuchten doch, mit Steinschleudern die Tauben zu vertreiben, willigten also ganz und gar nicht darin ein, daß die Saat aufgepickt wurde. Mit einem ähnlichen Argument weigerte sich der Großvater, Honig zu essen; die Inhaber der Obstgärten jagten die Bienen von den Bäumen fort, sagte er, als sein Sohn ihn auf Sure 16, Vers 69, aufmerksam machte: „Eßt von jeglicher Art der Früchte!“ befiehlt Allah den Bienen. Die Nahrung, die sie an den Blüten finden, ist der Lebensunterhalt, den der Schöpfer ihnen bereitet hat. Doch der Großvater ließ sich nicht irremachen: „Sind die herrenlosen Früchte gemeint oder die, die jemand besitzt?“ ʿAlī Nūr ad-Dīn hatte viele Jahre an der al-Azhar-Hochschule verbracht und war eng mit Zakarja al-Anṣārī, den aš-Šaʿrānī noch hatte kennenlernen dürfen, und mit Ibrāhīm al-Matbūlī befreundet gewesen. Alle drei hatten die Skrupelhaftigkeit auf die Spitze getrieben, und auch aus der Zeit, als der Großvater wieder im Heimatdorf lebte, sind Episoden überliefert, die dessen unbeugsame Hartnäckigkeit in dieser Glaubensfrage veranschaulichen. Er lebte nicht von seiner Klause, er lebte für sie: „Noch in der Nacht, nachdem er ein wenig geschlafen hatte, stand er auf, vollzog die rituelle Waschung und betete eine Zeitlang. Dann schlug er den unteren Teil seines Gewandes nach oben und befestigte ihn mit einem Gürtel um die Leibesmitte, bis zu der seine Hose hoch reichte, nahm große irdene Krüge und begann dabei den Koran zu rezitieren, und unermüdlich bis zum Anbruch des Morgengrauens füllte er sie. Manchmal trug er den halben Koran vor, ehe er damit fertig war. Er füllte das Wasserbecken seiner Klause, die er nördlich des Dorfes errichtet hatte, dann das Becken der Moschee, ein weiteres am Weg nach Memphis, abgesehen von dem gemauerten Bassin, das im Dorf war. Und als seine drei Söhne, nämlich mein Vater, Muḥammad und ʿAbd ar-Raḥmān, eigene Klausen errichteten, füllte er auch für sie die Becken, selbst die Hundetränke, und erlaubte niemandem, auch keinem aus der eigenen Familie, das zu übernehmen. Schließlich füllte er noch das Becken für die rituelle Waschung in der eigenen Klause und versorgte und säuberte die Wasserbehälter vor den Zellen. Dann stieg er auf das Dach der Klause und pries Allah und rief schließlich zum Gebet, kam herab und vollzog den Ritus der Frühdämmerung. Danach rezitierten er und die Lehrer der Kinder den Koran, dann beteten sie das Morgengebet. Bis zum Hervortreten des Sonnenballs rezitierte er weiter den Koran, dann versammelten sich die Kinder in der Schule, und er unterrichtete sie…, bis man zum Nachmittagsgebet rief. Wieder füllte er das Becken oder ergänzte das Wasser. Hiernach öffnete er seinen Laden an der Pforte der Klause; dort gab es

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reines und scharfes Olivenöl, Honig, eingedickten Fruchtsaft, Reis, Pfeffer, Mastix und anderes. Er verkaufte an die Leute, bis er gegen Sonnenuntergang deren Bedarf an Nahrungsmitteln befriedigt hatte. Darauf rief er erneut zum Gebet, vollzog es als Imam, lehrte dann wieder bis zum Abendgebet die sieben Lesarten des Korans, betete den Anwesenden vor und unterbrach nicht eher die freien Zusatzgebete, ehe niemand mehr durch die Gassen ging und die Menschen schliefen. Dann schlummerte auch er eine Weile, um sich bald wieder zu erheben, sich rituell zu reinigen, zu beten, die Krüge zu nehmen, die Becken zu füllen, wie erzählt. Sommers wie winters tat er dies, und als ihn seine Frau einmal fragte, ob er nicht eine Nacht ruhen wolle, antwortete er: ‚Nicht dafür haben wir das Diesseits betreten!‘“104 Nichts als dies war seinem Großvater das Leben in der Klause – und konnte es bei dem Enkel anders sein? Auch er würde so handeln, und auch er würde alles, was man ihm schenkte, den Bedürftigen austeilen, so wie es der Onkel ʿAbd ar-Raḥmān ihm vom Großvater erzählt hatte: „Sidi Muḥammad b. ʿAbd ar-Raḥmān ließ mir drei große Schalen, jede von einem Diener auf dem Kopf getragen, mit Geschenken zukommen. Auf der einen lagen Wolltücher, zwei Musselintücher und Gewänder aus Baalbek-Stoff, auf der zweiten Süßigkeiten und Nüsse, auf der dritten einige Behälter mit wohlriechenden Essenzen. Mein Großvater wies die Gewänder und Stoffe zurück, nahm aber die Süßigkeiten und das Parfum an; letzteres verteilte er an die jungen Mädchen des Dorfes, die Süßigkeiten an die Waisenkinder. Weder er noch jemand aus seiner Familie kostete von allem auch nur ein bißchen. Mein Onkel ʿAbd ar-Raḥmān wollte sich ein Stückchen von dem Naschwerk greifen, doch mein Großvater verbot es ihm. ‚Sohn, das ist Gift in unserem Körper!‘ sagte er, ‚denn der Großvater des Gebers zog den Zehnten ein!‘“105 Das Ideal der Nüchternheit des Lebenswandels Der Einfluß des Großvaters auf aš-Šaʿrānī scheint tiefer zu reichen, als man der Lebensbilanz auf den ersten Blick entnehmen konnte. Das Gedankengut des Gottesfreundes Ibrāhīm al-Matbūlī, das, ähnlich dem des Palmblattflechters, die Anschauungen aš-Šaʿrānīs vom heiligmäßigen Rang der arbeitenden Bevölkerung prägte, wurde ihm wenigstens zum Teil über Geschichten vermittelt, die man vom Großvater erzählte. „Ihn begleitete einmal auf dem Weg von Kairo in sein Dorf ein Fremder, der wie ein Derwisch aussah. ‚Welch ein Gewerbe treibst du?‘ fragte ihn mein Großvater. Jener antwortete: ‚Ich bin Gebetsrufer auf der Elefanteninsel.‘106 ‚Und hast du für die Zeit deiner Abwesenheit einen Vertreter benannt?‘ ‚Die Angelegenheit ist doch ganz einfach!‘ rechtfertigte der Fremde sein Versäumnis. Da sagte der Großvater: ‚So müssen wir uns trennen!‘ trieb sein Reittier an und verließ den Unbekannten.“ Müßiggang und Geringschätzung der Arbeit waren ihm verhaßt, genauso der Hokuspokus, mit dem manche Derwische das Volk verblüfften und

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beeindruckten. Deshalb sorgte er dafür, daß Angehörige der Barhāmīja-Gemeinschaft gar nicht erst das Dorf betraten und ihre Kunststücke vorführten – sie schluckten Feuer oder zogen sich die scharfe Schneide eines Schwertes über die Zunge oder die Handfläche. Sie sollten, pflegte er sie aufzufordern, ihm aus dem Koran und der Sunna nachweisen, daß solches Tun zum Islam gehöre, und sie sollten glaubhaft machen, daß Ibrāhīm ad-Dasūqī (gest. um 1250), der Gründer ihres Ordens, derartige Praktiken geübt habe. Einmal geschah es freilich, daß die Mehrheit der Dorfbewohner das Spektakel gern anschauen wollte. Doch sei am selben Abend den Derwischen Ibrāhīm ad-Dasūqī erschienen und habe sie gemahnt, sie sollten Meister ʿAlī Nūr ad-Dīn gehorchen; „mit allem Tun, das dem Vorbild der Rechtgeleiteten Kalifen und der großen Schulhäupter zuwiderläuft, habe ich nichts zu schaffen!“ Ad-Dasūqī legte also persönlich zugunsten des Großvaters Zeugnis ab, der bekannte, in eben diesen Orden aufgenommen worden zu sein. Wenn dies alles zu den geheiligten Bräuchen zählte, dann, so versicherte er, wäre er der erste, der sich daran hielte.107 Vorfahren und Rivalen Daß aš-Šaʿrānī als Gottesfreund und Meister in einer eigenen Klause gern auf die enge Verbindung seiner Vorfahren mit den „Leuten“ verwies, wird man verstehen. Von Meister Abū Madjan sei, so hörten wir, jener Mūsā nach Ägypten geschickt worden, dem aš-Šaʿrānīs Sippe ihren guten Ruf in der Gegend von Bahnasa verdankte. Ferner hieß es, daß jener Mūsā im 14. Jahrhundert in das Niltal einwanderte. Abū Madjan, der, wie schon angemerkt, bereits 1197 starb, hatte in Bougie seine Wirkungsstätte gehabt. Der Almohade Abū Jūsuf Jaʿqūb al-Manṣūr (reg. 1184 – 1199) hatte ihn dann nach Tlemcen gerufen. Auf dem Weg dorthin hatte Abū Madjan den Tod gefunden; bald darauf hatte man in Tlemcen für ihn einen Grabbau errichtet. Aš-Šaʿrānī kennt diese Überlieferung, er weiß auch, daß sich am Ende des 12. Jahrhunderts die Anhängerschaft Abū Madjans über Alexandrien bis nach Oberägypten ausbreitete, wo Meister Abū l-Ḥaǧǧāǧ (gest. 1244) aus Luxor dem Orden zu großem Ansehen verhalf.108 Eine Aufnahme Abū ʿImrān Mūsās, des magrebinischen Ahnherrn aš-Šaʿrānīs, durch Abū Madjan selber ist also ausgeschlossen. Es kann nur der Eintritt in die Gemeinschaft der Derwische gemeint sein, die in Abū Madjan ihren Stifter sah. Nun liest man bei aš-Šaʿrānī auch die Bemerkung, der ägyptische Gottesfreund Madjan (gest. nach 1446), ein Nachfahre jenes Abū Madjan, sei „in Kairo in der Moschee des ʿAbd al-Qādir ad-Dašṭūṭī am Qarʿ-See außerhalb der Stadtmauer nach Osten hin“ bestattet; dort habe man ein Mausoleum gebaut, zu dem das Volk pilgere.109 – Der genannte Madjan war einer der Adepten des Asketen Aḥmad gewesen, eines Mannes, der um 1420 verstorben war. Mit Bezug auf Aḥmad behauptet aš-Šaʿrānī, dieser habe den Pfad der Leute aufs neue gebahnt, weswegen man ihn

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deren „al-Ǧunaid“ genannt habe. Al-Ǧunaid, der Bagdader Schafiit und Sufi, hatte um die Wende zum 10. Jahrhundert erkannt, daß man nicht anders als über den Propheten zu Allah gelangen könne. Nur wenn man den Spuren Mohammeds getreulich folge, dürfe man hoffen, den Schöpfer als den Herrn alles Seienden in seinem wahren Wesen zu erkennen. Alles Wissen, das der Mensch benötige, sei im Koran und in der Sunna umschlossen. „Wer den Koran nicht auswendig weiß und die Überlieferungen nicht niederschreibt und nicht Einsicht in das islamische Recht gewinnt, ehe er den Weg betritt, dem darf man nicht nacheifern!“110 Al-Qušairī, dessen Abhandlung aš-Šaʿrānī unter Anleitung durch Zakarjā al-Anṣārī studierte, schöpfte einen erheblichen Teil seines Stoffes aus den Schriften al-Ǧunaids und aus dem, was man mündlich von jenem überlieferte. In einem Punkte freilich unterschied man sich im Kairo des frühen 16. Jahrhunderts grundsätzlich von den Überzeugungen al-Ǧunaids, nämlich in der Gottesidee. Al-Ǧunaids Spiritualität war durchdrungen von der erschreckenden Einsicht in den unüberbrückbar weiten seinsmäßigen Abstand zwischen Allah und seiner Kreatur. Allah ist der Werkmeister, der seinen Geschöpfen unendlich überlegen ist.111 Das hatte sich geändert: Das Verborgene, der Seinsbereich, in dem sich Allahs Fügung entfaltet, ist zugänglich geworden. Allah und seine Kreatur haben das Sein gemeinsam, vermöge dessen sie beide den Gegensatz zum Nichts bilden. Anschluß an eine einflußreiche Strömung Der Asket Aḥmad, so schreibt aš-Šaʿrānī weiter, schützte sich vor der Unterstellung mangelnder Rechtgläubigkeit mit seiner Kennerschaft im islamischen Recht.112 Seine Hinneigung zu den Lehren der Gottesfreunde konnte man ihm, der wie alǦunaid auf die strenge Beachtung der Scharia pochte, daher nicht verübeln. Daß er trotz allem mit einigen Rechtsgelehrten, unter ihnen dem berühmten Ibn Ḥaǧar alʿAsqalānī, aneinandergeriet, als er sich eine eigene Moschee bauen ließ, berichteten wir an anderer Stelle. Madjan empfing die Kenntnis des Weges bei dem Asketen Aḥmad; die Gemeinschaft des großen Wundertäters Muḥammad al-Ḥanafī (gest. 1443) behauptete freilich, Madjan habe auch in dessen Klause geweilt, und zwar „vierzig Tage lang“. Doch unterstreicht aš-Šaʿrānī, daß man in der durch Madjan gegründeten Gemeinschaft von dessen Ausbildung bei al-Ḥanafī nichts habe wissen wollen, wie denn auch der auf al-Ġamrī zurückgehende Kreis, aus dem aš-Šaʿrānī selber hervorgegangen war, eine spirituelle Abkunft von al-Ḥanafī in Abrede stellte.113 In den Augen aš-Šaʿrānīs ist Madjan das Vorbild eines nüchternen, sich auf die Scharia stützenden Gottesfreundes, der Vertreter einer Spiritualität, wie er selber sie verficht, waren ihm doch aufsehenerregende Huldwunder versagt geblieben. Muḥammad al-Ḥanafī hatte demgegenüber die Bedeutung der Huldwunder betont. Sie stünden mit dem Koran und der Sunna im Einklang, was heißen

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konnte, daß sie die ausschlaggebenden Zeichen der Beglaubigung der Gottesfreundschaft seien.114 Aš-Šaʿrānī hatte einen Ahnherrn, der aus dem Magreb nach Ägypten einwanderte, und so auch Madjan, der von sich sogar behauptete, von Sidi Abū Madjan abzustammen. Der Vorfahr Madjans, der aus dem Magreb nach Ägypten gekommen war, ein Mann mit Namen ʿAlī, wurde in einem Dorf der Provinz Minūfīja bestattet, Madjans Vater in Ašmūn, nachdem er dorthin übergesiedelt war, um eine größere Anzahl von Sippen, die noch dem Christentum angehörten, zum Übertritt zum Islam zu bewegen. Wie aš-Šaʿrānī verließ Madjan sein Heimatdorf und zog nach Kairo, wo er den Pfad der Leute kennenlernen wollte. Zusammen mit al-Ġamrī wollte er, wie wir schon hörten, bei Muḥammad al-Ḥanafī die Zeit der Heranbildung verbringen, aber ein Ekstatiker gab beiden den Rat, lieber beim Asketen Aḥmad in die Lehre zu gehen.115 Als man aš-Šaʿrānī wegen seines Ritus des Gebets für den Propheten aus der alĠamrī-Moschee drängte, fand er in der Medresse der Umm Ḫūnd Unterschlupf. Ein Neffe Madjans, Muḥammad b. ʿAbd ad-Dāʾim, hatte sich mit seinem Derwischzirkel ebenfalls dort niederlassen wollen, denn aus der Klause des Madjan war er von dessen Sohn Abū s-Suʿūd vertrieben worden. Abū s-Suʿūd jedoch überzeugte Umm Ḫūnd davon, daß sie den Eindringling nicht gewähren lassen durfte, wenn sie nicht ihren Jenseitslohn, den sie für die Errichtung der Medresse erwarten durfte, einbüßen wollte. Höchstpersönlich suchte sie diesen Ort auf und setzte durch, daß Muḥammad b. ʿAbd ad-Dāʾim die Medresse verließ; in der Nähe des Triumph-Tores im Norden Kairos fand er schließlich eine Bleibe.116 Verschiedentlich überschneiden sich mithin die Kreise, in denen Madjan und der um eine Generation jüngere ašŠaʿrānī zu Gottesfreunden geformt wurden: Aus dem Dorf stammen beide, beide kommen aus Familien, die aus dem Westen nach Ägypten einwanderten und, obwohl nun schon seit langem dort ansässig, nicht in der einheimischen Bevölkerung, den Fellachen, aufgingen. Sie behaupteten diesen gegenüber vielmehr eine religiöse Autorität, die sie auf das Verdienst der Ausbreitung des Islams gründeten. Das wird im Falle Madjans offen ausgesprochen, bei aš-Šaʿrānīs Vorvätern in Bahnasa läßt es sich vermuten. Hierbei ist in Rechnung zu stellen, daß Islamannahme nicht nur die Bekehrung Andersgläubiger meint, sondern den Eintritt in die Ritualgemeinschaft des Meisters. So wird, um bei Madjan zu bleiben, berichtet, daß ein Malikit den Weg, den jener lehrte, scharf tadelte. Madjan lud den Kritiker zu einer Maulid-Feier; es gelang Madjan, ihn von der Wahrheit des Weges zu überzeugen, und der Rechtsgelehrte, der zuvor die Übersteigung des Wissens durch die Erkenntnis für überflüssig gehalten hatte, gab nun zu: „Durch Sidi Madjan bin ich zum Islam geführt worden, dies ist der Beginn meines Übertrittes zur Religion des Islams.“ Bis zu seinem Tode blieb jener in der Klause Madjans, um diesem zu dienen.117

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Eifersüchteleien Irgendwelche feste Regeln, irgendwelche allgemein anerkannte Voraussetzungen für den Erwerb der Meisterschaft gab es nicht, ebenso wenig ein Verfahren, in dem der Nachfolger eines verstorbenen Meisters und Inhabers einer Klause bestimmt wurde. Alles kam auf die Propaganda an, die für diesen oder jenen getrieben wurde, auf die Art und Weise, wie in Gegenwart der Mächtigen von diesem oder jenem gesprochen wurde. „Wisse, daß es zwischen den Anhängern der Gelehrten und Frommen immer wieder Streit und Aufruhr gab, weil eine jede Gruppe ihren Meister über alle anderen erhob. Jeder Gelehrte und jeder Meister einer Sufi-Gemeinschaft muß den Bruder wegjagen, der im Angesichte aller einen anderen Meister rühmt und sagt: ‚Ich bin nicht wert, sein Schüler zu sein!‘ oder dergleichen Anspielungen macht, wenn er denn überhaupt Anspielungen benötigt. Mag er so reden, um sich selber zu verkleinern oder um im Gegenteil sich selber einen so hohen Rang zuzuschreiben, daß er nicht mehr Schüler des Meisters sein kann, sondern dessen Meister sein möchte!“ In keinem Fall darf man jemanden unter den Brüdern dulden, der auf solche Weise Unruhe in die Gemeinschaft trägt und noch dazu das Verhältnis zu den anderen Meistern vergiftet. Als Sidi Muḥammad b. ʿAbd ad-Dāʾim im Sterben lag, da benannte er zwölf Obmänner, die unter Wahrung seiner spirituellen Eigenheiten neue Gemeinschaften aufbauen sollten. Erfolg hatte aber nur Sidi ʿAlī al-Marṣafī (gest. nach 1523), weil er nicht so töricht gewesen war, jene verletzende Art von Vergleichen zuzulassen, mit denen sich die Anhängerschaft der übrigen Obmänner untereinander befehdete.118 Überhaupt herrschte zwischen den Söhnen eines Meisters und seinen besten Zöglingen oft ein gespanntes Verhältnis. Nur selten habe ein Zögling die innere Größe, sich am Anblick der Nachkommen seines Meisters zu erfreuen. Die meisten seien Schwachköpfe, die, sobald sie die Söhne des Meisters treffen, erwarten, daß diese sich ihnen unterwerfen und sich jetzt von den ehemaligen Zöglingen unterweisen lassen, die den Meister spielen möchten. Die Gemeinschaft zerfällt dann gewöhnlich in zwei verfeindete Gruppen, wie es auch nach dem Tod ʿAlī al-Marṣafīs geschah. Die eine liebt die Söhne des einstigen Meisters, die andere haßt sie. Als Sidi Madjan verstorben war, scharte sich ein Teil der Anhänger um dessen Sohn Abū s-Suʿūd, der andere um dessen Neffen Sidi Muḥammad, der, wie wir hörten, zunächst keine Bleibe fand. Abū s-Suʿūd aber war nach Ansicht aš-Šaʿrānīs für die Aufgaben eines Meisters gar nicht geeignet, so daß niemand bei ihm eine Erziehung durchlaufen habe. Madjans Pfad setzt sich nur in der Gemeinschaft des Neffen fort. „Der Weg wird dem vererbt, den Allah erwählt, und ist nicht an die Familie gebunden wie eine materielle Erbschaft!“ stellt ašŠaʿrānī fest. „Als mein Meister Muḥammad aš-Šanāwī starb, feindeten mich seine Söhne eine Zeitlang an.“ Daher mußte er ihnen schmeicheln, was er mit solchem Erfolg tat, daß einer von ihnen schließlich sein Zögling wurde, die Schwelle der Klause aš-Šaʿrānīs küßte und ihn zum Ratgeber in allen Dingen des Lebens erkor.119

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Erster Teil: Der Weg

Die Abstammung von einem Meister ist nach den Beteuerungen aš-Šaʿrānīs nicht zur Legitimierung der Meisterschaft notwendig. Dennoch könne man oft erleben, daß gerade die, deren Unterricht und deren Frömmigkeit mangelhaft seien, sich auf die Vorväter beriefen, um ihren Anspruch zu verteidigen. Manche verstehen es, den Attributen und Insignien der Meisterschaft, die sie sich besorgt haben, den Schein der Rechtfertigung zu geben. Allah sei es gedankt, schreibt aš-Šaʿrānī, daß er ihn vor solchem Schwindel bewahrt habe.120 Von Meister Muḥammad ašŠanāwī, dem eben Erwähnten, hatte er immerhin eine Art formaler Aussendung erhalten, vergleichbar derjenigen, die Sidi Muḥammad b. ʿAbd ad-Dāʾim seinen Obmännern erteilte. Aš-Šanāwī genoß im westlichen Deltagebiet höchstes Ansehen; er propagierte dort den Weg, lehrte Männer, Frauen und Kinder die Formel des Gottesgedenkens. Wie die anderen Meister, deren enger Zuneigung aš-Šaʿrānī sich rühmt, war auch aš-Šanāwī von der Idee der Nüchternheit und Gesetzestreue aller Gottesfreundschaft durchdrungen. Er nahm daran Anstoß, daß man zu den MaulidFeiern für Aḥmad al-Badawī, den großen Gottesmann jener Landschaft, mit Flöten und Trommeln aufspielte, und setzte durch, daß man auf solche Lustbarkeiten verzichtete, um sich stattdessen dem Gottesgedenken hinzugeben. Aš-Šaʿrānī selber zählte zu den Männern, denen aš-Šanāwī erlaubte, so, wie Allah es ihnen eingab, dieses Ritual zu lehren, auch wenn sie vorerst das seinige befolgen sollten. Dies geschah um die Wende von 1525 auf 1526121 – ein weiterer Hinweis auf die Zeit, in der aš-Šaʿrānī sich zum Meister und Eigner einer Klause emporschwang. *** Nur weniges, was aš-Šaʿrānī zur Beglaubigung seines Anspruches, einer Klause als Meister vorzustehen und Adepten zu erziehen, vorweisen konnte, war hieb- und stichfest. Die Abstammung von Muḥammad b. al-Ḥanafīja,122 auf die er vielleicht erst durch den Streit der Brüder seines Vaters mit dem Kalifen aufmerksam wurde, war nicht zweifelsfrei dokumentiert. Aber immerhin konnte er seine „edle Art“ dafür ins Feld führen, daß er die Gaben, die er einnahm, nicht für sich selber zweckentfremden werde: Die Prophetenfamilie hat keinen Anteil an den regelmäßigen Einnahmen der Muslime. Seine Klause wurde nach nicht ganz durchsichtigen Manipulationen gegründet, er mußte lange um ihren Bestand bangen. Erst als er seine Lebensbilanz niederschrieb, war sie ihm sicher – wegen seiner hervorragenden Beziehungen zu den osmanischen Paschas; davon werden wir noch hören. Aufsehenerregende Huldwunder waren ihm in der Zeit, in der er sie am nötigsten gebraucht hätte, versagt geblieben. So konnte er sich einzig auf seine Auslegung der Gottesfreundschaft berufen, auf die völlige Abkehr von allen ichhaften Gedanken. Den Weg zu solcher Entsagung, der in das Schauen mündet, hat er uns anschaulich beschrieben: Vom Wissen ist er zum Erkennen gelangt; er hat die Textgelehrsamkeit hinter sich gelassen, und selbst vom Streben nach immer neuen „Standplätzen“ hat

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er sich unabhängig gemacht.123 Die Neider, die darauf lauern, daß er vom Seil stürzt, nehmen an solcher Eigenständigkeit Anstoß. Doch darf man von Eigenständigkeit, gar von – eigentlich verpöntem – Ichbewußtsein sprechen? Und wenn ja, in welchem Sinne? Das ist noch nicht klar. Hat er alles, was er schildert, wirklich so erlebt? Jedenfalls wird er sich gegen Anfeindungen der Zeitgenossen und gegen Anfechtungen, die aus dem eigenen Inneren kommen mochten, so verteidigt haben. Der Verteidigung mag auch der Hinweis auf seine Abstammung und auf die Kette seiner spirituellen Vorfahren gedient haben – sie führt ihn zu Abū Madjan al-Maġribī hinauf. Durch den Seitenblick auf Madjan aus Ašmūn und auf den Asketen Aḥmad wird wenigstens in Umrissen deutlich, welche Art von Weg aš-Šaʿrānī sich hierdurch beglaubigt – eine durch Gaukelwerk, also künstlich entfachte Ekstase, die womöglich von den strengen Vorschriften der Scharia absieht, eine gleichsam bodenlose Spiritualität, ist seine Sache nicht. Die „Edlen“ fallen doch nie aus der Huld Allahs heraus, gleichwie Gold niemals zu Erde entartet. Gold kann man umgekehrt auch nicht aus minderwertigen Metallen gewinnen, hatte Afḍal ad-Dīn seinem Vertrauten aš-Šaʿrānī versichert. Es sind diese „Edlen“, die die Fortdauer des Islams gewährleisten, wie beispielhaft am Tageslauf ʿAlī Nūr ad-Dīns, des Großvaters aš-Šaʿrānīs, anschaulich wird. So hat aš-Šaʿrānīs Spiritualität nicht zuletzt dank seiner Zugehörigkeit zur Hierarchie der Gottesfreunde einen festen Rahmen. Der Anführer ist der Pol (arab.: al-quṭb), und es bedeutete mehr als bloße verantwortungslose Lobrednerei, daß man seit einiger Zeit begonnen hatte, den osmanischen Sultan mit diesem Pol gleichzusetzen: Das sind die neuen machtpolitischen Gegebenheiten. Aber es ist in Ägypten, wo aš-Šaʿrānīs ihnen gerecht werden muß. Beobachten wir von nun an, wie unter diesen Voraussetzungen das alles Frucht bringt, was er bis zur Mitte seines Lebens an Schätzen – immateriellen wie materiellen – aufgehäuft hat!

Zweiter Teil: Das Bewahren

Kapitel 1 Die Klause 1.1 Einnahmen Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehören die Heiterkeit, die ich empfand, wenn ich abends und morgens mittellos war, und die Beklemmung, wenn ich abends oder morgens einen Dinar oder einen Dirham besaß – genau das Gegenteil des Empfindens derjenigen, die das Diesseits lieben. Dies zählt zu den Charaktereigenschaften des Gottesgesandten. So überliefert al-Baihaqī (gest. 1066), daß der Prophet, wenn er abends noch etwas an irdischem Gut bei sich entdeckte und keinen Armen oder Elenden fand, der es hätte entgegennehmen können, nicht seine Klause aufsuchte, sondern die Nacht über in der Moschee schlief. Ich verhielt mich stets ebenso, bis das Jahr 957 (begann am 20. Januar 1550) anbrach. Da öffnete Allah mir die Einsicht, daß abgesehen von den Propheten sich im Wesen eines jeden Menschen etwas um den Lebensunterhalt sorgt und erst dann Ruhe gibt, wenn man… über ein paar Münzen verfügt, mit denen man sich kaufen kann, was man benötigt. Seit jenem Jahre verwahre ich… an die einhundert Niṣf oder einen ähnlichen Betrag, der noch unter dem Mindestsatz liegt, ab dem eine Läuterungsgabe geleistet werden muß. So verhielten sich viele unter den Altvorderen, unter anderem Sufjān aṯ-Ṯaurī…, der sagte: „Das irdische Gut, selbst wenn es noch so zahlreich ist, kommt nicht dem Wert eines Mückenflügels gleich… Doch hätte ich gern, daß mein Haus nicht eine Nacht ohne Gold und Silber wäre… Es ist mir nämlich lieber, den Nachkommen vierzigtausend Dinare zu hinterlassen und mich kaum um meinen Lebensunterhalt gekümmert zu haben, als mit leeren Händen zu sterben und dafür in Sorge um meine Nahrung gewesen zu sein; das nämlich ist der Vorbote der Sorge um (ein reines Verhältnis zu) Allah.“ Auch pflegte er das Gold vor sich aufzuhäufen und dann in die Luft zu schleudern und zu sagen: „Gäbe es nicht dieses Gold, würden die Menschen um unseretwillen zu Bettlern!“ Und Abū Sulaimān adDārānī (gest. 733) sagte: „Die Sache hat nicht darin ihr Bewenden, daß du zum Gottesdienst die Füße nebeneinanderstellst, während andere sich für dich abplagen. Sie besteht vielmehr darin, daß du deine Speise bei dir hortest und dann hinter dir die Tür schließt.“ Viele Leute sind nämlich darin fehlgegangen, daß sie sich im Äußeren ganz von den irdischen Dingen lossagten und dann gierige Blicke nach allem warfen, was die anderen besaßen, die sie ernähren, kleiden, für ihre Bedürfnisse aufkommen sollten. Darum, mein Bruder, verwahre dein Essen und schließ die Tür hinter dir! Dann brauchst du dir keine Gedanken darüber zu machen, wer bei dir anklopfen könnte – anders, als wenn du nichts im Hause hättest und du bei jedem Klopfen denken müßtest: „Vielleicht ist das jemand, der etwas zu essen bei sich hat, das wir gemeinsam verzehren können.“ Dies wird durch das Wort aš-Šāfiʿīs bekräftigt: „Frag niemals jemanden um Rat, der kein Mehl im Hause hat!“ – weil nämlich sein Verstand zerstreut und seine Vorsorge mangelhaft ist. – Wisse, mein Bruder, daß das Festhalten am Diesseits und das Verweilen in ihm auf Kosten anderer, die wie wir bedürftig sind, nichts mit dem „Standplatz“ der Enthaltsamkeit zu tun hat, wohl hingegen das Verweilen in ihr auf eigene Kosten; denn das erstere mag nichts anderes sein als angeborener Geiz. So hörte ich Sidi ʿAlī, den Palmblattflechter, warnen: „Demjenigen, der um des Diesseits willen Güter hortet, bieten sich zwei Möglichkeiten: Entweder enthüllt sich ihm die Einsicht, daß dies alles zu seinem Unterhalt gehört, oder es enthüllt sich ihm solche Einsicht nicht. Wenn ja, dann entspricht es der Höflichkeit gegen Allah, davon https://doi.org/10.1515/9783110789119-012

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Zweiter Teil: Das Bewahren

den Menschen auszuteilen, wenn sie ihn darum bitten; er erwirbt damit gute Nachrede und macht sich bei ihnen beliebt. Außerdem kehrt das Verschenkte zu ihm auf irgendeinem Weg zurück, so daß niemand von ihnen ihm auch nur ein Stäubchen wegnehmen kann. Dadurch entgeht er im übrigen der Verlegenheit, Dinge zu horten, die er im Augenblick nicht benötigt. Eröffnet sich ihm hingegen nicht die Einsicht, daß jene Güter zu seinem Unterhalt gehören, dann bleibt es ihm überlassen, ob er sie aufbewahren möchte oder nicht. Er wartet dann, und wem immer er es zuteilt, dem gehört es.“ Allgemein muß man sagen, daß diese Charaktereigenschaft nur jemand in sich ausbilden kann, der unter Anleitung durch einen Meister den Weg wandert und unter dessen Erziehung ausharrt, bis dieser ihn nach den Eigenschaften der Knechtschaft geformt hat, so daß er nun davon überzeugt ist, daß er neben seinem Herrn keinerlei Besitzrecht am Diesseits und am Jenseits hat, daß er vielmehr nur ein Knecht ist, den der Eine Wahre zu seinem Statthalter bestimmte über sein Vermögen, damit er es den übrigen Knechten austeile, wie es recht und billig ist. So ist es ihm gleichviel, ob sich die Güter aller Menschen in seiner Hand befinden oder in der Hand eines anderen. Diese Charaktereigenschaft hat etwas sehr Angenehmes, das der Mensch in sich noch eindringlicher empfindet, als die Annehmlichkeit des Besitzes irdischer Güter durch die Leute des Diesseits empfunden wird – eine Erfahrung, die die Leute Allahs machen. Als Ibrāhīm b. Adham (gest. 776 oder 790) allen Besitz fahren ließ und man ihn deswegen tadelte, sprach er: „Wenn die Herrscher wüßten, in welcher Euphorie wir leben, kämpften sie gegen uns mit dem Schwert darum.“ Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, sagte: „Erst dann hat der Knecht den ‚Standplatz‘ der Knechtschaft ganz und gar errungen, wenn er nicht mehr vermeint, er habe neben Allah ein Eigentum im Diesseits und im Jenseits; er ist nichts weiter als ein Knecht, der vom Vermögen des Herrn zehrt, aus dem Vermögen seines Herrn seine Kleidung erhält, das Haus seines Herrn bewohnt. Sobald er dies weiß, entfällt ein für allemal die Verlegenheit des Festhaltens und Aufbewahrens, und niemals geht er mit etwas, worum man ihn bittet, geizig um, es sei denn, es gäbe einen schariatischen Grund.“ Verstehe dies und befleißige dich, diese Eigenschaft zu erwerben, mein Bruder! Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!1

*** Allahs Fürsorge – Die Sorge des Menschen – Materieller Gewinn und die Heimtücke Allahs – Die Vorteile des eigenständigen Erwerbs des Lebensunterhalts – Die unerläßliche Lauterkeit des Erwerbs – Eine ältere Beurteilung des Erwerbs: al-Māwardī – Der tiefgreifende Wandel der Beurteilung des Erwerbs – Ein Blick in die Metaphysik – Erwerb des Lebensunterhalts, ein Weg der Gotteserkenntnis – Die Magie – Aš-Šaʿrānīs Einkünfte – Rechtfertigung des Reichtums – Verhaltensmaßregeln

Allahs Fürsorge Ein Eigentum an irgendwelchen Dingen des Diesseits gibt es nicht, und noch weniger darf sich der Muslim ein Eigentumsrecht am Jenseits anmaßen;2 nur eine von Allah gestiftete Beziehung zwischen seinen Knechten und dem übrigen Teil der Schöpfung läßt sich feststellen. Worauf sich diese Beziehung im Einzelfall erstreckt, mithin welcher Ausschnitt aus der unüberschaubaren Fülle des Schöpfungsgeschehens einem bestimmten Menschen zugewiesen ist, das nennt man den Le-

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Abb. 3: Haus am Ḥākimī-Kanal

bensunterhalt, ein weiter Begriff, der nicht nur die unmittelbar zur Lebensfristung nötigen Güter wie Speise, Kleidung, Behausung umfaßt, sondern auch die Kinder, die Stellung in der Gesellschaft und die Fähigkeit einschließt, sich der Kulturgüter zu bedienen, kurz alle materiellen und immateriellen Bestandteile der conditio humana. Lebensunterhalt, das kann im Koran noch handgreiflich den Regen meinen, den Allah herabsendet, um den Menschen Nahrung zu geben (Sure 45, 5), aber auch schon in ganz verallgemeinerter Weise alles das, was ihnen bestimmt ist, um das Dasein zu fristen (Sure 39, 52; 42, 12). Allah ruft jedes Geschöpf ins Dasein, und in jenem Augenblick ist schon entschieden, was ihm während der festgesetzten Zeitspanne der diesseitigen Existenz zugemessen werden wird: Das ununterbrochene fürsorgliche Handeln Allahs wird dem Menschen im Begriff des Lebensunterhalts zu Bewußtsein gebracht. Nach einer Überlieferung vom Propheten erhielt einst Johannes durch Allah die Anweisung, dem Volk Israel fünf Befehle auszurichten; Johannes zögerte, bis schließlich Jesus ihn drängte, dem Auftrag nachzukommen. So rief Johannes seine Landsleute in der Moschee von Jerusalem zusammen und verkündete ihnen, wonach sie sich fortan richten sollten: „Ihr sollt Allah verehren und ihm nichts beigesellen. Ein Gleichnis: Jemand kauft (mit den Mitteln) seines reinen Vermögens, sei es geprägtes oder ungeprägtes Gold, einen Sklaven, der sich an die Arbeit macht, aber die Früchte seiner Arbeit nicht dem Herrn, sondern je-

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Zweiter Teil: Das Bewahren

Abb. 4: Das „Tor der Eroberungen“ (Bāb al-futūḥ)

mand anderem übergibt – wen unter euch würde es freuen, wenn sein Knecht sich so verhielte? Allah ist es, der euch schafft und ernährt, deshalb verehrt ihn und gesellt ihm nichts bei! Und er befahl euch, das rituelle Gebet zu vollziehen. Denn Allah richtet sein Antlitz auf das Gesicht des Knechtes, solange dieser sich nicht abwendet. Wenn ihr betet, so wendet euch also nicht um!“ Das Fasten, die Almosen und das Gottesgedenken sind die übrigen drei Pflichten, deren Erfüllung Johannes nach dieser Überlieferung zu fordern hat.3 Die Entgegennahme des Lebensunterhalts ist, wie hier deutlich wird, ein unaussonderbarer Teilaspekt der Geschöpflichkeit: Vor Allah von Angesicht zu Angesicht, so ist der Mensch geschaffen. Er ist bereits im Heil, das nicht erworben werden muß, sondern nur vertan werden kann. Im Ritus wird die Beziehung zwischen dem Knecht und seinem wahren Herrn, zwischen dem Geschöpf und seinem einzigen Schöpfer vergegenwärtigt, und diese Beziehung schließt die Sorge des Herrn für den Unterhalt des Knechtes ein.

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Die Sorge des Menschen Je strenger man darauf achtet, sich nicht von Allah abzuwenden, desto besser fügt man sich seiner Fürsorge ein.Wer die rituellen Pflichtgebete durch die Übungen des Gottesgedenkens ergänzt, wird darum mehr als andere, die sich dieser Mühe nicht unterziehen, sein ganzes Dasein auf den Lebensunterhalt abstellen können, der ihm von Anfang an zugemessen ist, und zwar, wie aš-Šaʿrānī lange Zeit glaubte, in täglichen Rationen. Was einem im Laufe des Tages zufällt, muß auch ganz und gar verbraucht werden, und wenn ein Überschuß bleibt, dann muß es sich um Speisen oder Güter handeln, die nicht zu dem von Allah bestimmten Lebensunterhalt gehören und daher ohne Verzug aus der Hand gegeben werden sollten. Behielte man sie nämlich, dann wäre dies ein Zeichen genau jener Besitzgier, die der Koran den verstockten Mekkanern ein ums andere Mal vorwirft. Erst im vorgerückten Alter erkannte aš-Šaʿrānī, daß der menschlichen Natur die Sorge um den künftigen Hunger eigen ist. Nur die Propheten, so behauptet er nun, spüren sie nicht. Diese Sorge ist oft so zudringlich, daß sie einen daran hindern kann, unentwegt mit allem Sinnen und Trachten bei Allah zu sein. Darum ist es vernünftig, ihr die Ursache zu entziehen und über einen längeren Zeitraum im voraus zu planen. Wenn man sich nämlich mit der Frage martert: „Wovon werde ich morgen leben?“ dann keimt wegen dieser Ungewißheit auch die Furcht, Allahs nicht in völliger Lauterkeit zu gedenken. Wenn man daher mit Gaben reich bedacht wird, so wie Sufjān aṯ-Ṯaurī mit Goldstücken, und wenn man auch sonst über genügend Mittel verfügt, so daß man leichten Herzens der Zukunft entgegenblickt, dann mag man reichlich austeilen. Man versetzt dadurch seine Mitmenschen in die gleiche glückliche Lage. Hätte man diesen Überfluß nicht, müßte man selber betteln und wäre schuld daran, daß man die Spender derart in Bedrängnis bringt, daß sie ihrerseits vor lauter Sorge um den nächsten Tag die vornehmste Pflicht des Muslims, stets in Gedanken und Handlungen vor Allahs Angesicht zu sein, vernachlässigen müßten. Trotz der Erkenntnis, daß es ohne vorausschauende Überlegungen keine innere Ruhe für den Gottesdienst geben kann, bleibt alles langfristige Wirtschaften dem Verdacht ausgesetzt, es bewirke, vielleicht sogar unbeabsichtigt, die Aneignung von lebensnotwendigen Gütern, deren Wert denjenigen der von Allah festgelegten Mittel, die der einzelne in seinem Erdendasein verbrauchen soll, weit übersteigt. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, war darauf bedacht, von seiner Arbeit zu leben und anderen nicht zur Last zu fallen; aber er wechselte seine Tätigkeit mehrfach.4 Dabei ist jedoch nicht zu erkennen, daß die jeweils neue Tätigkeit ihm die Gelegenheit zu höheren Einkünften eröffnet hätte. In der Empfehlung, die er aš-Šaʿrānī gab, weist er darauf hin, daß es zwar geboten ist, für sich selber zu sorgen, und das auch über den Tag hinaus, aber es gehört dazu das bedenkenlose Weggeben des Erworbenen, denn das Verschenkte, sofern es denn ein Teil des von Allah festgelegten Lebensunterhalts war, wird ohnehin als ein Gegengeschenk zurückkehren. Das schiere

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Ansammeln von Gütern ist demnach eine falsch verstandene Vorsorge. Jeder, der ein Gewerbe treibt, wandelt nach dieser Wirtschaftsethik, deren Ziel die Sicherstellung des reinen Gottesgedenkens ist und deren Fundament die koranische Botschaft vom Lebensunterhalt der Geschöpfe, auf einem sehr schmalen Grat, und aš-Šaʿrānī ist Allah von Herzen dankbar, daß er ihn zeit seines Lebens von solchen Bedrängnissen freigehalten hat. „Er hat mich davor bewahrt, ein tägliches, wöchentliches, monatliches oder jährliches Einkommen zu erwarten. Vielmehr hat mir der Eine Wahre von sich aus Lebensunterhalt zugewiesen, ohne daß ich danach hätte Ausschau halten müssen. Nein, ich wußte dank richtiger Eingebung, daß an dem mir zugedachten Lebensunterhalt niemand einen Anteil werde haben können. Und seitdem nehme ich mir die Freiheit, ihn über einen Vermittler oder unmittelbar zu erbitten, wenn ich ihn rasch benötige. Denn ich bin Zeuge der Gnade, die Allah an mir wirkt, ohne daß es dafür irgendeine andere Ursache gäbe außer dieser Gnade. Dies ist eines der größten Gnadengeschenke, die Allah mir zuteil werden ließ und die der Mensch erst erlangt, wenn er sich gänzlich gelöst hat von jedem Vertrauen auf die Geschöpfe, die materiellen Güter, das Handwerk und die Künste. Denn solange der Mensch noch auf die Geschöpfe baut, ist er nach Allahs Brauch nicht würdig, daß der Eine Wahre ihn mit einer Gnade begünstige – außer, es geschähe, um den Menschen stufenweise ins Verderben zu führen, wovor Allah uns behüten möge!“ Materieller Gewinn und die Heimtücke Allahs Materieller Gewinn, der nicht mit der Arbeit der Hände oder aus Einkünften, die man als Verwalter, Lehrer oder Richter regelmäßig bezieht, erzielt wurde, ist keineswegs eine Gnade Allahs, auch wenn es so scheinen mag. Im Gegenteil, wenn dieser Gewinn Menschen zufließt, die sich nicht ihrer Ichsucht entschlagen haben, dann ist er ein Zeichen dafür, daß Allah sie zur Hölle verdammt hat. Sie sind längst auf einer schiefen Bahn, auf der sie, wenn auch langsam, so doch ohne Halt in ihr Verderben gleiten. – Gerade die Gottesfreunde müssen sich vor einer allzu überwältigenden Begünstigung durch Allah fürchten. Es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Huldwundern einerseits und dem Gelingen und dem Erfolg andererseits, die sich an einem Gottesfreund zeigen mögen. Nach außen, für den oberflächlichen Betrachter, sieht alles gleich aus, aber es kann sehr wohl sein, daß jemand von Allah mit Gunsterweisen überhäuft wird und doch bei ihm keinerlei Ansehen genießt. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1210), der kenntnisreiche schafiitische Korankommentator, widmet diesem Thema einige aufschlußreiche Bemerkungen. Möglicherweise beschenkt Allah einen Menschen großzügig, um ihn durch solche Freigebigkeit zu ehren, die Geschenke können aber auch die diesseitigen Vorzeichen eines Verhängnisses sein, in das Allah den Menschen schrittweise hineinzieht (Su-

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re 68, 44): Allah gewährt alle irdischen Schätze, die jener sich nur wünschen mag. Doch geschieht dies einzig und allein, um den scheinbar so Glücklichen tiefer und tiefer in Sündhaftigkeit und Frevel zu verstricken. Der Gottesfreund soll die Huldwunder daher nicht herbeisehnen und sie erst recht nicht absichtlich und zum Zwecke irdischen Gewinns herbeizuführen suchen. Vielmehr sollte er, wenn sie ihm widerfahren, sich vor Allah fürchten.5 – Von der stufenweisen Annäherung an das Verhängnis sprach auch aš-Šaʿrānī. Wenn er aber stets alles, was er einnimmt, bis auf den kleinen Rest weggibt, der ihn von der Furcht vor dem nächsten Hunger befreit, darf er hoffen, daß Allah ihn nicht auf jene heimtückische Weise vernichten will. „Denn die Schöpfung ist ein Schleier (der den Blick auf Allah verhindert), und solange der Knecht bei den Geschöpfen steht und auf deren Gaben und Gnade hofft, sie anbettelt, an ihren Türen vorspricht und sich dabei vom Vertrauen6 auf Allah wegwendet, so lange ist er jemand, der, was den Lebensunterhalt betrifft, Allah die Kreaturen beigesellt, und so verhält er sich schon, wenn er nur mit dem Herzen den Verwalter und den Einnehmer (der Stiftungserträge) um die Zahlung des Gehaltes bittet und sich dabei nicht bewußt ist, daß es sich um eine Huld Allahs handelt… Dies ist die Sünde der Beigesellung beim Streben nach Unterhalt! Wer diese Sünde begeht, verdient es, daß er unvermutet mit dem Entzug der Nahrung bestraft wird oder durch Betrug seine schariatisch erlaubte Tätigkeit, etwa den Handel in schariatisch einwandfreier Weise oder sein unbedenkliches Handwerk, verliert. Wenn der Mensch nun sich reuig von seinem Vertrauen auf den Erwerb abwendet, dieser Beigesellung abschwört, dann erwartet ihn schon eine andere Art der Beigesellung, die verborgener als die erste ist, nämlich die Zuversicht seines Herzens, daß er immer rituell erlaubten Erwerb tätigen werde, und das Vergessen der Tatsache, daß auch dies nur eine Gnade Allahs ist. Womöglich straft ihn Allah damit, daß er ihm den Blick dafür verhüllt, daß dies alles die Huld des Schöpfers ist und von diesem ausgeht, ohne daß der Mensch sie sich durch irgendeine vorherige Leistung verdienen könnte. Wenn er sich auch von diesem Irrtum reumütig abkehrt, solche Beigesellung eines Mittels aufgibt und erkennt, daß Huld und Gnade allein von Allah ausgehen unabhängig von jeglichem Mittel, sei dies die eigene Kraft oder der eigene Erwerb, da ja die Methode des Erwerbens keinerlei Einfluß auf die Erzielung seines Lebensunterhalts und dessen Erlangung hat, dann erst beschenkt ihn der Eine Wahre, ohne daß zuvor eine Leistung erbracht worden wäre – dies ist der Lebensunterhalt des vollendeten Gläubigen, der ihm zufließt, von woher er es nicht erwartet!“ Wenn man sich dagegen auf die diesseitigen Mittel verläßt, mit denen man reine Gewerbe ausüben kann, dann verfällt man, ohne es zu bemerken, der Sünde der Vielgötterei. Nur die Besten unter den Dienern Allahs vermögen sich gänzlich von ihr freizuhalten. „Allah ist auf die Menschen eifersüchtig, wenn sie sich auf jemand anderen als ihn verlassen – es sei denn, er hätte es vorher erlaubt.“ Der

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Unterhalt, dessen sich die Besten erfreuen, gleicht schon hier auf Erden demjenigen, den sie im Paradies genießen werden – ohne jegliche Beigabe eines Geschöpfes.7 Die Vorteile des eigenständigen Erwerbs des Lebensunterhalts Indem aš-Šaʿrānī über den Erwerb räsoniert, der in Wahrheit nicht das Werk des Menschen ist, hat er einen Grundbegriff der islamischen Theologie im Hinterkopf, der mit eben diesem Wort bezeichnet wird. Jegliches Handeln des Menschen geht nicht von diesem, sondern von Allah aus, und auch der Erwerb des von Allah bestimmten Handelns durch den Menschen liegt nach aschʿaritischer Lehre nicht in dessen Macht, sondern muß von Allah gewirkt werden.Vereinzelt hat uns aš-Šaʿrānī schon auf diese Lehre hingewiesen, später wird er uns erklären, wie er sie vor dem Hintergrund seiner Ansichten über die Beschaffenheit des Kosmos versteht. Zunächst aber beteuert er, daß er sich ein ums andere Mal an Allah gewendet und ihn gebeten habe, er möge es ihm nicht zu schwer machen, für sich, seine Sippe und sein Gesinde alles Lebensnotwendige sicherzustellen. Denn es war ihm, dem Gottesfreund, zu Bewußtsein gekommen, daß er von der Pflicht, mit der Arbeit seiner Hände etwa als Schneider, Kaufmann oder Flechter das tägliche Brot zu verdienen, befreit sei. Wenn der Schöpfer anderen die Aufgabe übertragen hatte, für einen Gottesfreund zu sorgen, dann sollte diese zusätzliche Bürde nicht wie eine Fron auf ihnen lasten. Aš-Šaʿrānī fand den Ausweg, ein Stück Land zu pachten und es gegen Lohn bearbeiten zu lassen. Mehrfach spricht er in seiner Lebensbilanz hiervon, und es geht ihm nicht um die Rechtfertigung etwaiger versteckter Gewinne aus einer unternehmerischen Tätigkeit. Im Gegenteil, wichtig ist nicht der Gesichtspunkt, wie man durch die Investition von Geldern in die Landwirtschaft eine Rendite erziele, sondern die Überlegung, daß die Speise, die man zu sich nimmt, redlich erworben ist und dem von Allah zugemessenen Unterhalt entspricht. Dies ist am ehesten gewährleistet, wenn man sie sich mit eigener Arbeit verdient oder – sofern Allah dies nicht vorsieht – wenn man sie einer Herstellung verdankt, die man gerecht bezahlt und – noch wichtiger – die man unmittelbar überwachen kann, so daß jegliche unschariatische Manipulation ausgeschlossen bleibt. Im Idealfall ist die Klause des Gottesfreundes daher ganz auf die Selbstversorgung und die eigenständige Verarbeitung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ausgerichtet. Verließe man sich hingegen auf das, was an fertigen Produkten gespendet wird, dann wäre kaum zu vermeiden, daß man verzehrte, was unter irgendeinem Gesichtspunkt von bedenklicher Beschaffenheit wäre. Aš-Šaʿrānī hebt deshalb hervor, daß die Altvorderen – wahrscheinlich meint er die Gefährten des Propheten – den Muslimen nahegelegt hätten, einem Gewerbe nachzugehen; und auch die Meister der aš-ŠāḏilīGemeinschaft hätten ihre Brüder dazu angespornt. Wer von dem lebe, was er sich erarbeite, und zugleich alle Pflichten erfülle, die Allah den Muslimen auferlegt, von

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dem könne man mit Fug und Recht sagen, daß seine Anstrengung auf dem Pfade zum Einen den Grad der Vollkommenheit erreicht habe. Es fällt aš-Šaʿrānī nicht leicht, mit sich und seinen Brüdern darüber ins reine zu kommen, daß er des Zwanges zur Arbeit ledig ist. Zu lebenskräftig waren in Ägypten die von aš-Šāḏilī und seinem wichtigsten Schüler, Abū l-ʿAbbās (gest. 1287) aus Murcia in al-Andalus, verbreiteten Ideale der tätigen Gottesfreundschaft. Aš-Šaʿrānī, der selber in dieser Tradition steht, verkennt nicht, daß sein Lebensweg im Lichte jener Ideale fragwürdig erscheint. Abū l-ʿAbbās al-Mursī, so schreibt er in den Viten der Allah Nahestehenden, ist der einzige wahre Erbe aš-Šāḏilīs,8 und al-Mursī habe betont, daß die Art der Gottesfreundschaft, für die sein Meister aš-Šāḏilī stehe, weder diejenige der Leute aus dem Osten sei, noch den Magrebinern und Andalusiern zugerechnet werden dürfe; der erste Pol dieser Richtung sei vielmehr al-Ḥasan, der älteste Sohn ʿAlī b. abī Ṭālibs, gewesen; und als al-Mursī in Ägypten die Unterweisung aš-Šāḏilīs genossen habe, sei ihm deutlich geworden, daß jener Meister ein weit tieferes Wissen besitze als alle, die aus dem Osten gekommen seien9 – womit vermutlich die Gemeinschaft des ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī gemeint ist. AšŠaʿrānī beschäftigte sich eingehend mit dem Gedankengut aš-Šāḏilīs. Er sammelte es, um es für den Unterricht seiner Zöglinge zu verwenden.10 Abū l-ʿAbbās al-Mursī pflegte seine Gefährten zum Erwerb des Lebensunterhalts zu nötigen: „Jeder von euch soll das Weberschiffchen zu seinem Rosenkranz machen oder seine Axt, oder er soll die Finger beim Nähen oder Flechten bewegen!“ Dies ist zwar eine großartige Einsicht, kommentiert aš-Šaʿrānī, doch wenn sie allgemeine Geltung beanspruchte, dann enthielte sie eine Einschränkung, die Allah seinen Geschöpfen gar nicht auferlegt habe. Er habe die Menschen nur angehalten, das Leben mit schariatisch einwandfreien Gütern zu fristen, gleichgültig, woher diese stammten. Dem einen sei es beschieden, ein Gewerbe auszuüben, dem anderen nicht. Darum ist aš-Šaʿrānī froh, einen Ausspruch al-Mursīs aufgreifen zu können, den dieser gegen Ende des Lebens getan haben soll: „Unser Weg ist das unausgesetzte Gottesgedenken und das Unterlassen der üblen Nachrede und des Argwohns gegen die Knechte Allahs. Wer dies befolgt, dem gewährt Allah Unterhalt in einer Art, mit der der Betreffende gar nicht rechnet.“ Al-Mursī legte niemandem, der sich ihm anschloß, nahe, den Beruf aufzugeben, sondern mahnte ihn, bei seiner Tätigkeit zu bleiben; das habe auch der Prophet getan. Was sich jedoch nicht miteinander vertrug, war laut al-Mursī die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und der Betrug an den Kunden. Am ehesten entspricht den Vorstellungen aš-Šaʿrānīs ein Satz, den er einst von ʿAlī, dem Palmblattflechter, hörte: „Nicht jedem Derwisch ist es bestimmt, einen Beruf auszuüben. Vielmehr ist dies nur den vollkommenen Männern gegeben, die weder durch Handeln noch durch Verkauf vom Gedenken Allahs abgehalten werden (vgl. Sure 24, 37)… Wen die Geschäfte jedoch von Allah ablenken, der sollte sie besser aufgeben. Allah spricht: ‚Wir haben im Diesseits den Lebensunterhalt unter ihnen aufgeteilt

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und den einen um Stufen über den anderen gestellt, damit die einen die anderen in Dienst nehmen können. Die Barmherzigkeit ist freilich besser als das, was sie aufhäufen‘ (Sure 43, 32).“ Letzten Endes zählt eben doch nur die Gnade Allahs.11 Die unerläßliche Lauterkeit des Erwerbs Den Begriff von Einnahmen und Erwerb, wie ihn die šāḏilitische Gemeinschaft kannte, arbeitete im frühen 14. Jahrhundert Ibn al-Ḥāǧǧ in seinem schon erwähnten umfangreichen Kompendium heraus, in dem er die alltäglichen Verrichtungen des Muslims und zahlreiche Gewerbe danach untersucht, ob bzw. wie sie als Gottesdienst durchgeführt werden können. Denn darauf kam es, wie eben gehört, den Šāḏiliten an. Bei seinem uns ebenfalls schon bekannten Mentor Ibn abī Ǧamra hatte er gelernt, daß es notwendig sei, alles irdische Tun, selbst das, welches nicht rituell und daher nicht den ins einzelne gehenden Vorschriften des Gesetzes unterworfen ist, in steter Hingewandtheit zu Allah zu vollziehen, so daß es als eine Gehorsamsleistung bewertet werden könne, die – mit Hinblick auf das Gericht – auf der Habenseite des Kontos des Menschen zu Buche schlägt. Ibn al-Ḥāǧǧ erteilt den Muslimen zunächst einige allgemeine Ratschläge, wie sie, sofern sie mündig sind, für sich selber sorgen können und sich doch nicht von Allah entfernen müssen. Im Gegenteil, ihre alltägliche Tätigkeit bringt sie ihm näher! Es ist nämlich ein Irrtum, den Erwerb unter die rein diesseitigen Verrichtungen zu zählen. Zwar soll Mohammed gesagt haben: „Die Liebe zum Diesseits ist der Anfang jeder Sünde“, aber damit wollte er nicht das Bemühen um die Lebensfristung tadeln, sondern allein die Liebe zum irdischen Gewinn, meint Ibn al-Ḥāǧǧ. Beides sind ganz verschiedene Dinge, und man treffe manchen dem Erwerb Hingegebenen, der in Wahrheit ein Asket ist, und manchen Untätigen, der von Begierden gepeinigt wird. Nun sind die Gelehrten der Ansicht, daß der Bedarf des Menschen an Zurüstungen für das Jenseits weit größer ist als alle Sorge um das Diesseits. „Wenn darum jemand dem Erwerb obläge mit der Absicht, seine muslimischen Brüder von der Verpflichtung zu befreien, sich um den für ihn nötigen Lebensunterhalt zu kümmern, wäre solcher Erwerb die bedeutsamste aller dem Menschen möglichen Handlungsweisen, denn sie verbindet das nach der Scharia Pflichtgemäße mit den freiwilligen Zusatzleistungen“, die, wie das schon erwähnte heilige Ḥadīṯ in Aussicht stellt, die Annäherung an Allah bewirken, die so weit gelingen kann, daß der Mensch Auge, Ohr, Zunge des Einen Wahren wird.12 Schariatische Pflicht ist laut Ibn al-Ḥāǧǧ die Formulierung der Absicht, mit der sich der Muslim ins Gedächtnis ruft, daß das, was er zu tun unternimmt, im Angesichte Allahs erfolgt; des weiteren gehören die Bedeckung der Blöße und die im Ritualgesetz vorgeschriebene Körperpflege hierher; als Zusatzleistung wertet Ibn al-Ḥāǧǧ alles, was geeignet ist, die Bedürfnisse der Glaubensbrüder zu befriedigen. Sie werden auf diese Weise nicht nur von der

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Pflicht freigestellt, für einen zu sorgen, was gerade eben mit Lob bedacht wurde. Darüber hinaus macht der Tätige sich um das Wohl der muslimischen Gemeinschaft verdient und erfüllt damit die eine Absicht, die unbestreitbar einem jeden Muslim nützlich ist. Den andern nicht zur Last fallen und dabei die beste aller Gemeinschaften (vgl. Sure 3, 110) zum Blühen zu bringen, darauf vor allem kommt es Ibn al-Ḥāǧǧ an. Drei Männer, die sich der Gottesverehrung hingaben, habe der Kalif ʿUmar b. alḪaṭṭāb einmal gefragt, woher ihr Unterhalt komme. Der erste habe geantwortet, das überlasse er Allah, worauf sich ʿUmar schweigend dem nächsten zuwandte. Dieser erzählte, sein Bruder sammele Brennholz, verkaufe es und teile den Erlös mit ihm; jener Bruder sei der Frömmere von beiden, habe der Kalif gemeint und sei zum Dritten weitergegangen. Der gab zu, er sitze in der Moschee und erwarte, daß die Besucher auf ihn aufmerksam würden und ihm Spenden aushändigten. ʿUmar habe mit der Peitsche auf ihn eingeschlagen und ihn auf den Markt hinausgetrieben. Ibn al-Ḥāǧǧ ist überzeugt, daß ʿUmar den Dritten züchtigte, weil dieser ein Schmarotzer sei; der erste hingegen habe wenigstens mit seinem Gottesdienst eine lautere Absicht verbunden, nämlich Allah nahezukommen, und habe sich darum ganz auf ihn verlassen und nichts von den Glaubensbrüdern erhofft. – Ihm wäre aš-Šaʿrānī zu vergleichen, wie er sich in der Lebensbilanz vorstellt. – Man kann deshalb nicht behaupten, daß man sich von aller Erwerbstätigkeit verabschieden muß, ehe man den Weg zu Allah beschreitet, man darf ihr nur nicht verfallen. Und die Tätigkeit muß frei von allen Verstößen gegen die Scharia sein. Gerade das aber, so klagt Ibn alḤāǧǧ, sei inzwischen fast unmöglich geworden. Nahezu jedes Gewerbe werde heutzutage auf eine betrügerische Weise ausgeübt, und so sei der gewissenhafte Händler oder Handwerker vielfach gezwungen, seine Tätigkeit aufzugeben und, um die Anwartschaft auf das Paradies zu wahren, sich ausschließlich der Gottesverehrung zu widmen. Am liebsten möchte Ibn al-Ḥāǧǧ verzagen, aber sein Meister Ibn abī Ǧamra untersagte alle Mutlosigkeit und erinnerte an das Prophetenwort: „Eine Gruppe aus meiner Gemeinde wird unbeirrt an der Sache Allahs festhalten, und die Widersacher werden ihr nichts anhaben können, bis der (letzte) Befehl Allahs ergeht.“13 Um den Mißständen entgegenzuwirken, die jedem Skrupelhaften die Ausübung eines Gewerbes unerträglich machen, hat Ibn al-Ḥāǧǧ sein Buch verfaßt. Dem Gemüsehändler hinter seinem Verkaufsstand empfiehlt er, er möge vor Beginn des Handels die Absicht formulieren, mit seinem Tun den Muslimen das Leben zu erleichtern und angenehm zu machen. Dies ist mehr als ein Wort; alle Geschäfte, die er abschließt, haben der Scharia zu genügen. Manche neue Praktik entspricht dieser Forderung leider ganz und gar nicht. So hat man sich angewöhnt, die Malve14 am Beginn der Saison, wenn sie noch nicht in der Beschaffenheit zu haben ist, in der man sie sonst vertreibt, mit Stroh oder Halfagras zu Bündeln zu schnüren, in denen

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man dann oft mehr Erde findet, als das Gemüse wiegt. Der Kunde, der solch ein Bündel ersteht, tätigt einen von der Scharia untersagten Risikokauf, denn er weiß nicht, was er für sein Geld bekommt. Die Händler dürfen sich nicht darauf herausreden, daß eine andere, ehrliche Art des Verkaufs am Beginn der Saison nicht möglich sei. Wenn es sich tatsächlich so verhalte, dann müsse man von derartigen Geschäften Abstand nehmen und warten, bis die Malve ausgewachsen ist und in reichlicher Menge auf den Markt kommt. Der erzielte Preis mag dann geringer sein, aber dafür steht der Gewinn mit dem göttlichen Gesetz im Einklang. Vergleichbare Unsitten sind beim Vertrieb der Kolokassie eingerissen. Sie wird in zwei Formen gehandelt; die eine, die sogenannten Köpfe, gilt als minderwertig, die andere, die Finger, ist begehrter, nicht zuletzt, weil sie schneller gar wird. Wenn man die Köpfe schält, lassen sie sich vom bloßen Augenschein her leicht mit den Fingern verwechseln. Dies nutzen die Gemüsehändler und führen ihre Kunden hinters Licht. Ibn al-Ḥāǧǧ kann keinerlei Notwendigkeit erkennen, die die Verkäufer zwingen könnte, beide Arten miteinander zu vermischen, und darum läßt sich ein solches Geschäftsgebaren nicht rechtfertigen.15 Ist schon von den Gemüseverkäufern zu erwarten, daß sie ihre Geschäfte in lauterer Absicht betreiben, so gilt dies für die Papierhändler um so mehr. Denn „man schreibt den edlen Koran auf Papier nieder, dessen Kommentierung, die abrogierenden und die abrogierten Verse und alle weiteren mit dem Koran befaßten Wissenschaften, desgleichen das ḥadīṯ des Propheten samt Auslegung und allen Weisheiten und Hinweisen, die es enthält und die niemand ganz zu überblicken vermag, die Bücher der Jurisprudenz und aller sonstigen mit der Scharia zusammenhängenden Wissenschaften“ sowie alle Arten von Verträgen, die die Muslime miteinander schließen – durchweg Angelegenheiten von höchstem Gewicht im praktizierten Glauben. Die Papierhändler bilden deshalb für Ibn al-Ḥāǧǧ einen Berufsstand, der in ganz besonderer Weise der „besten Gemeinschaft“ dient, und man muß dieses Gewerbe, sofern man es mit lauterer Absicht betreibt, als einen vortrefflichen Gottesdienst schätzen. Die Absicht hat hier viel weiter zu reichen, als dies bei anderen zu fordern ist: Ein fester Glaube und die ständige Bereitschaft, auf die schariagerechte Benutzung der Ware zu achten, sind unerläßlich. Sobald der Papierhändler bemerkt, daß der Kunde die Ware zur Anfertigung von Verträgen oder Schriften benutzen wird, die der Scharia widersprechen, sollte er sich dem Abschluß des Handels entziehen. Ist dieser schon getätigt, dann sollte der Verkäufer alles daransetzen, ihn rückgängig zu machen oder, wenn dies nicht gelingt, den Erlös nicht einzustreichen, sondern zu spenden. Daß der Papierhändler selber sich keinerlei Übervorteilung des Kunden zuschulden kommen läßt, bedarf keiner Erwähnung. Die Gelegenheiten hierzu sind freilich vielfältig, denn der Preis der Papiersorten unterscheidet sich erheblich, je nach dem Maße, in dem es gebleicht und geglättet wurde, und je nach der Jahreszeit der Fabrikation. Auch darauf

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muß der Papierverkäufer achten, daß die Handwerker, die die Ware herstellen, züchtig gekleidet sind. In vielen Betrieben ist es nämlich gang und gäbe, daß die Arbeiter bei der Herstellung des Papierbreies ihre Schamgegend nur unzureichend bedecken, ja es kann sogar sein, daß das knappe Tuch sie eher betont als verbirgt. Wenn der Papierhändler, der in seinen Betrieb kommt, derartiges bemerkt, muß er sich seiner lauteren Absicht erinnern. Solche Frivolität hinnehmen, hieße gegen Allah ungehorsam sein, und der Papierhändler ist für Allah tätig, kauft und verkauft, und muß daher darauf achten, daß jene Unsitten unterbleiben. Wenn er die Beachtung der Scharia durchsetzt, dann wird ihm dies am Tage des Gerichts entgolten. Hier und jetzt aber wird sich seine Gesetzestreue herumsprechen, und es werden ihn Kunden aufsuchen, die der gleichen Gesinnung sind. Die Altvorderen achteten darauf, daß das Gewerbe, mit dem sie den Lebensunterhalt verdienten, sich nach den Forderungen des praktizierten Glaubens richtete. Jetzt sei es meist umgekehrt, klagt Ibn al-Ḥāǧǧ, doch wer den Altvorderen ähnlich werde, der erlange dereinst Glückseligkeit. Manche Papierhändler wenden ein, es gebe einfach keine Handwerker mehr, die willens seien, sich nach den genannten Vorschriften zu richten. Ibn al-Ḥāǧǧ läßt dies nicht gelten. Der Verkäufer und Eigner des Betriebs müsse sich nur bereit finden, seinen Arbeitern ausreichend Zeit für die rituellen Gebete zu geben und ihnen notfalls etwas mehr Lohn zu zahlen, dann verhielten sie sich schon, wie man es verlangen müsse, und auf allen Geschäften werde der Segen Allahs liegen.16 Eine durch und durch der Scharia verpflichtete Gemeinschaft, wie sie Ibn alḤāǧǧ vorschwebt, kennt für jede Tätigkeit einen gerechten Lohn, der sich aber nicht aus Angebot und Nachfrage errechnet und sich auch nicht als der größtmögliche Gewinn aus einer produzierenden Tätigkeit oder einer Handelstransaktion bestimmen läßt. Der gerechte Lohn stellt sich vielmehr ein, sobald die Tätigkeit oder das Geschäft unter allen erdenklichen Gesichtspunkten dem Gesetz Allahs entspricht. In diesem Idealfall erhält jeder Muslim den ihm von Allah vorausbestimmten Lebensunterhalt. Den Zustand der Gemeinschaft der Muslime, in dem das Wirtschaftsleben solchen Grundsätzen entspricht, kann man weder als starr noch als dynamisch kennzeichnen. Dies sind Begriffe, von denen man nichts wußte. Er muß vielmehr als eine vollkommene Harmonie zwischen der Tätigkeit und der unablässig ergehenden Fügung Allahs charakterisiert werden, der in jedem Augenblick sein Schöpfungswerk lenkt und gestaltet. Allerdings erhebt sich die Frage, weshalb der Erwerb des Lebensunterhalts mit so viel Anstrengung verbunden sein muß. Der Kalif ʿUmar verscheuchte zwar den Moscheebesucher, der es darauf anlegte, von den Glaubensbrüdern Gaben zu erbetteln, nicht aber den, der bekundete, daß er sich ganz auf Allah verlasse. Mochte dessen frommer Sinn tatsächlich ohne alle Berechnung sein, die Abhängigkeit von der Mildtätigkeit der Muslime blieb doch. Die Art, in der Ibn al-Ḥāǧǧ das Verhältnis zwischen dem ununterbrochenen

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göttlichen Schaffen und dem Gewähren des Lebensunterhalts auslegt, ist der sufischen Frömmigkeit geschuldet, die in seiner Zeit prägend für die islamische Kultur war. Greift man auf ältere Quellen zurück, so stößt man auf ein ganz anderes Verständnis von Gewerbe und Lebensunterhalt, das skizziert werden soll, damit die Eigenart der Überzeugungen Ibn al-Ḥāǧǧs und aš-Šaʿrānīs desto klarer hervortritt. Eine ältere Beurteilung des Erwerbs: al-Māwardī Al-Māwardī (gest. 1058), ein schafiitischer Rechtsgelehrter auch er, anders als ašŠaʿrānī jedoch in den Dingen der Politik höchst erfahren und ein bewährter Diener der abbasidischen Kalifen, schrieb einen Leitfaden, wie man sich in den diesseitigen Angelegenheiten bewähren und wie man seinen praktizierten Glauben verrichten soll. Der Verstand und das von Allah herstammende Wissen bilden die Grundlage, auf der beides gut gelingen wird. In dieser Überzeugung wurzeln alle Überlegungen, die al-Māwardī vorträgt. Selbstverständlich ist die Welt, das Diesseits, für den Menschen von weit geringerem Gewicht als das Jenseits; die ewige Glückseligkeit ist der Endzweck der auf Erden geübten Glaubenspraxis. Hieraus folgt, daß die Welt nur eine Durchgangsetappe auf dem Weg markiert, den jeder Mensch zu durchwandern hat, eine Etappe, die allerdings gut genutzt werden sollte.Wenn sie sechzig Jahre dauert, dann kann man sie als vollkommen preisen; doch selbst solch ein langes Leben kann der Mensch zu höchstens einem Sechstel der Gottesverehrung widmen. Sorgen, Schmerzen, der Schlaf rauben die übrige Zeit. Um möglichst viel von der kostbaren Wegstrecke für den getätigten Glauben und die Aufhäufung von Jenseitsverdienst zu gewinnen, empfiehlt es sich, alle Liebe zum Diesseits aus dem Herzen zu verbannen.17 Worin unterscheidet sich dies von den Ansichten aš-Šaʿrānīs, wird man fragen. In der Tat, al-Māwardīs Gedanken scheinen auf dasselbe hinauszulaufen. Aber al-Māwardī erörtert, bevor er sich der Glaubenspraxis und der ihr förderlichen Weltflucht zuwendet, den Verstand als ein Werkzeug, das dem Menschen die Orientierung im Diesseits und die Bewältigung der Aufgaben ermöglicht, die es ihm stellt. Der Verstand muß ohne Fehl sein, damit das Wissen überhaupt die Wirkungen, die Allah ihm zugedacht hat, entfalten kann. In aš-Šaʿrānīs Lebensbilanz – und auch sonst in seinem Werk, soweit es mir bekannt wurde – wird eine solche Aufgabe des Verstandes nicht erörtert. Die Untersuchung des bestmöglichen Umganges mit dem Diesseits, die alMāwardī auf die Kapitel über den praktizierten Glauben folgen läßt, leitet er mit dem Hinweis ein, daß der Mensch mehr als alle anderen Geschöpfe des Zusammenhaltes mit seinesgleichen bedürfe. Denn Allah in seiner unendlichen Weisheit hat, wie al-Māwardī betont, alle Kreatur so geschaffen, daß sie von ihm als dem Schöpfer abhängig bleibt, während er allein auf nichts und niemanden angewiesen ist. Dank dem Umstand, daß alle Kreatur nur in den unübersehbar vielen Schöp-

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fungsakten Allahs ins Dasein tritt, ist ihr Dasein lediglich ein abgeleitetes, und dies zeigt sich auch daran, daß alle Kreatur einzig von ihm ihren Lebensunterhalt erlangt. Die Schöpfung und die Gewährung der Mittel, um als Geschöpf zu existieren, sind auch bei al-Māwardī zwei Seiten ein und derselben Tatsache. Aber er treibt seine Überlegungen in eine ganz andere Richtung voran als aš-Šaʿrānī. Denn er unterscheidet klar zwischen dem Menschen und den übrigen Geschöpfen. Die Tiere, so sagt er, sind so geschaffen worden, daß sie existieren, ohne die Hilfe ihrer Artgenossen zu benötigen; der Mensch hingegen kann ohne die Artgenossen nicht sein Dasein fristen. Den Lebensunterhalt, den er von Allah empfängt, hat er nicht unmittelbar und ohne eine gemeinschaftlich erbrachte Leistung zur Verfügung. Diese Leistung ist der Erwerb, die Tätigkeit, die ihm erst eigentlich ein Überleben unter den Bedingungen des Diesseits ermöglicht. „Als Allah den Menschen schuf, voller Bedürfnisse und offenkundig schwach, gab er ihm zur Erlangung dessen, was er braucht, bestimmte Mittel, (nämlich) zur Überwindung seiner Schwäche die zahlreichen Kunstgriffe, die er ihm, auf den Verstand verweisend, empfahl…“ Allerdings befreite Allah den Verstand nicht von allen Fesseln, denn der Mensch wird die Ziele, die zu erreichen ihm der Verstand ermöglicht, immer nur in dem Maße tatsächlich erreichen, wie Allah es im voraus bestimmt hat. Die Menschen sollen nämlich nicht dem Irrtum verfallen, alles das, wovon sie leben, verdankten sie sich selber. In jedem Fall hat aber der Mensch einen Teil seiner Sorge dem Diesseits zuzuwenden, ja, gerade darin, daß er diese Sorge nicht einfach verdrängt, sondern ihr nachgibt und sich darum kümmert, wovon er sich ernähre und wie er sich kleide, erkennt alMāwardī den Grund der islamischen Glaubenswahrheit, daß die Welt der Ort der Belastung mit dem göttlichen Gesetz und damit der Bewährung des Menschen ist. Sich ganz aus ihr zurückzuziehen und auf die Mildtätigkeit der Glaubensbrüder zu hoffen, wäre demnach eine verfehlte Schlußfolgerung aus der koranischen Botschaft von Allah als dem alleinigen Ernährer. „Also ist es geboten…, die Angelegenheiten des Diesseits in den Blick zu nehmen. Es ist Pflicht, die Verhältnisse des Diesseits zu sondieren und sich Einsicht darüber zu verschaffen, worauf dessen geordneter Zustand beruht und weswegen es in Unordnung geraten kann. Denn wir müssen die Ursachen für Gedeihen und Verderben und die Voraussetzungen für Aufblühen und Verfall kennen, damit den Bewohnern diesbezüglich nichts zweifelhaft sei und ihnen deutlich werde, worin ihr Bestes besteht. Dann können sie ihre Angelegenheiten in richtiger Weise in Angriff nehmen…“18 Al-Māwardī untersucht nach diesen grundsätzlichen Bemerkungen, wie ein Gemeinwesen beschaffen sein muß, in dem die Muslime mit Erfolg ihren Arbeiten und Geschäften nachgehen19 – je geringer ihre Sorge um das Lebensnotwendige ist, desto mehr Zeit werden sie gewinnen, um sich auf das Jenseits vorzubereiten. Denn dies ist der letzte Sinn des irdischen Daseins, wie wir erfahren haben.

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Um sich im Gehorsam gegen das göttliche Gesetz zu bewähren, hat der Mensch laut al-Māwardī seinen Verstand zu gebrauchen. In der Zusammenarbeit mit seinen Artgenossen erkundet er die Beschaffenheit des Diesseits. Aus den Einsichten, die er auf diese Weise erringt, zieht er die Schlüsse, die ihm den Weg zur Befriedigung der Bedürfnisse eröffnen. Daß er damit niemals weiter kommen wird, als Allah es festlegte, indem er jedem Geschöpf den Lebensunterhalt bemaß, versteht sich von selbst. Über dieses Maß hinauszudenken und hinauszustreben ist aber nicht verwerflich, denn wer kennt überhaupt das Maß? Um es zu kennen, müßte der Mensch die Fähigkeit übersinnlicher Wahrnehmung haben und schauen, was Allah, weise wie er ist, auf die Wohlverwahrte Tafel schrieb. In der Zeit al-Māwardīs hatte sich die muslimische Frömmigkeit noch nicht dahin entwickelt, daß sie in ihrem Kern gerade in solcher Wahrnehmung bestand. Bei Ibn al-Ḥāǧǧ und ebenso deutlich bei aš-Šaʿrānī tritt die von dieser Entwicklung verursachte Verschiebung der Gesichtspunkte zutage. Das Maß des Lebensunterhalts, das für den einzelnen Muslim und die von ihm Abhängigen festgelegt wurde, darf nicht überschritten werden. Das wäre frevelhaft. Und nicht aus innerweltlichen Sachverhalten und deren vernünftiger Nutzung in einem Gewerbe gewinnt man demzufolge die Grundlage seiner Existenz; sie ist vielmehr schon gegeben, weil von Allah in jedem Einzelfall so und nicht anders verfügt. Gewerbe und Geschäft, bei al-Māwardī die lebensnotwendigen Folgen der Konstitution des Menschen, verkümmern zu Umwegen, die die meisten bedauerlicherweise gehen müssen, um an ihr Ziel zu gelangen. Die Meinung, daß man wie etwa Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, sein Gewerbe vielfach wechseln könne, verrät den Schwund an Bedeutung, den die berufliche Tätigkeit erlebt. AlMāwardī erklärt eine weit in die Zukunft vorausschauende Hoffnung für wesentlich; denn nur wenn der Ahnherr erwarten kann, daß die Nachkommen den Nutzen von dem erben werden, was er unter großen Entbehrungen aufbaut, wird er in seinen Mühen einen Sinn erkennen. Das langfristig geplante Wirtschaften allein kann einen steigenden Wohlstand herbeiführen.20 Genau entgegengesetzt handelte aš-Šaʿrānī: Wenn man ganz auf den von Allah zugemessenen Lebensunterhalt rechnet, dann muß alles, was einkommt, auch sofort ausgeteilt werden. Alle gewerbliche Tätigkeit gerät unter den Verdacht, sie lenke den Menschen von der Gottesverehrung ab und verführe ihn, auf mannigfache, meist ungeahnte Weise gegen die Scharia zu verstoßen. Allein die vollständige Einbeziehung jeder Tätigkeit in eine Lebensführung vor dem Angesichte Allahs konnte den Muslim davor bewahren, solchen Gefahren zu erliegen. Der tiefgreifende Wandel der Beurteilung des Erwerbs Nicht in allen Einzelheiten und Zwischenstufen soll diese folgenreiche und tiefgreifende Verschiebung des Blickwinkels erörtert werden, unter dem man den Er-

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werb des Lebensunterhalts bewertete. Der genaueren Beschreibung der kosmologischen und theologischen Ansichten aš-Šaʿrānīs soll hier nicht vorgegriffen werden, obschon sie eng mit dem in Rede stehenden Thema zusammenhängen. Der Korankommentator Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī weist mit seinen Erläuterungen zu Sure 2, Vers 22, auf die Veränderungen hin, die nach dem 11. Jahrhundert in Gang kamen. „(Allah) sandte vom Himmel Wasser herab, dann brachte er hierdurch Früchte hervor, die euch als Lebensunterhalt dienen.“ Dazu schreibt ar-Rāzī: „Allah schuf die Erde gleich einer Muschel, die Perlen in ihr waren Adam und seine Nachkommen.“ Er lehrte Adam, daß die Erde ihm wie eine Mutter sein solle, denn sie spende alles, was er für sein Dasein im Diesseits benötige; ja, die Erde sei noch fürsorglicher als eine Mutter, die ihr Kind nur mit einer Art von Milch nähre, die Erde aber halte viele verschiedene Speisen bereit. Am Ende des Lebens werde Adam sich ganz dieser großen Mutter anheimgeben müssen (vgl. Sure 20, 55), was aber nichts Bedrohliches sei, denn wie könne man jemandem mit seiner Mutter drohen? – Solange der Mensch im Leib der Mutter ist, gehorcht er Allah; er begeht nicht den geringfügigsten Fehltritt, sondern folgt unverzüglich dem Befehl des Schöpfers. Schließlich gelangt er, mit dem Kopf voran, in die Welt hinaus. Hier aber mag Allah ihn siebzigmal zum Gebet rufen, der Mensch setzt seine Füße nicht in Bewegung, er gehorcht nicht. Der Regen, der die Früchte hervorbringt, gleicht der Vermählung von Himmel und Erde. Die Früchte, der Lebensunterhalt, sollen den Menschen dazu anregen, über sich selber und über Himmel und Erde nachzusinnen und zu begreifen, daß nur jemand, der dem Wesen und den Eigenschaften nach den Geschöpfen unendlich überlegen ist, dies alles zu bewirken vermag. Hieraus ergeben sich nach ar-Rāzī zwei Fragen: Schafft Allah gemäß seiner Gewohnheit nach einem Zusammentreffen von Regen und Erde die Früchte, oder verhält es sich so, daß er dem Wasser eine befruchtende und der Erde eine empfangende Eigenschaft anerschuf, so daß die Früchte entstehen, sobald diese beiden Eigenschaften die Gelegenheit erhalten zu wirken? Gälte das letztere, dann könnte der um die Sicherung seines Daseins ringende Mensch mit diesen Kräften rechnen und versuchen, sie für seine Ziele einzusetzen. Die Menge und die Beschaffenheit der Güter, die sein Auskommen gewährleisten, könnten zwar nach wie vor von Allah im voraus festgelegt sein. Aber dies könnte so gedeutet werden, daß die Tatkraft des Menschen eine unabdingbare Voraussetzung für den Erwerb des vorherbestimmten Lebensunterhalts ist. Anders verhält es sich dagegen, sobald man annimmt, daß alles unmittelbar von Allah geschaffen wird. Was könnte dann die größte Anstrengung des Menschen ausrichten? Ar-Rāzī macht, noch ehe er die Problematik im einzelnen durchdenkt, dem Leser klar, worauf seine Überlegungen hinauslaufen werden: Gleichviel, ob die Früchte aus einem unmittelbaren Schöpfungsakt hervorgehen oder sich Kräften verdanken, die von Allah der Materie zugewiesen wurden, in jedem Falle steht

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hinter dem, wovon der Mensch lebt, die Weisheit des Schöpfers. Im einzelnen gilt: Niemand wird daran zweifeln, daß Allah in der Lage ist, die Früchte ohne jene Mittel, nämlich ohne die Erde und den Regen, hervorzubringen. Laut Ar-Rāzī folgt dieser Schluß zwingend aus dem aschʿaritischen Atomismus. Denn was ist eine Frucht? Nichts weiter als ein „Körper, dem Geschmack, Farbe, Geruch und Feuchtigkeit innewohnen; der Körper nimmt diese Eigenschaften auf; es liegt in Allahs Handlungsvermögen, sie ohne Voraussetzung zu schaffen.“ Denn die Tatsache, daß etwas in Allahs Handlungsvermögen liegt, wird entweder dadurch begründet, daß dieses in der Zeit entsteht, oder dadurch, daß es möglich ist, oder durch beides gemeinsam. Dies vorausgesetzt, ergibt sich notwendig, daß Allah dazu fähig ist, jene Akzidentien in einem Körper spontan und ohne die genannten Mittel zu schaffen. Dieser Verstandesbeweis wird durch die Beweise bekräftigt, die der religiösen Überlieferung entstammen, wo es unter anderem heißt, „daß der Erhabene das Wohlleben der Paradiesbewohner… spontan und ohne Mittel schafft. Wir wollen damit allerdings nicht sagen, daß seine Fähigkeit zum voraussetzungslosen Schaffen die Fähigkeit zum Schaffen mittels dieser Kräfte, die auf den Körper einwirken, und jener in ihm, die diese aufnehmen, grundsätzlich ausschließt. Es ist jedoch offenkundig, daß die modernen unter den Theologen letzteres verwerfen…“ Ein Blick in die Metaphysik Zum besseren Verständnis der Probleme, um die es hier geht, müssen wir einen kurzen Ausflug in die islamische Metaphysik unternehmen, deren Hauptströmungen ar-Rāzī in einem Handbuch zusammenfaßte. Die wichtigste Aufgabe der Metaphysik besteht darin, das Verhältnis zu bestimmen, in welchem das Sein Allahs dem von ihm geschaffen werdenden Sein des Diesseits gegenübertritt. Je stärker man alle Seinsmacht beim Schöpfer sucht, desto weniger kann man davon sprechen, daß die Welt eine in ihr selber angelegte Mächtigkeit besitzt. Die Welt, das postuliert ar-Rāzī in Übereinstimmung mit der überwältigenden Mehrheit der muslimischen Theologen, besteht aus zweierlei, aus Substanzen und Akzidentien. Ein Drittes gibt es im geschaffenen Seinsbereich nicht. Sowohl von den Substanzen her als auch von den Akzidentien aus läßt sich auf vier unterschiedlichen Wegen die Existenz eines Schöpfers und Herstellers beweisen, der dem Sein nach anders verfaßt ist als sein Werk. Der erste und einfachste ist der Weg, den Abraham, wie im Koran erzählt wird, beschritten hat (Sure 6, 74– 79): In den Gestirnen vermag er keine Gottheiten zu erkennen, denn die Gestirne gehen unter, sind also an die Zeit gebunden; ihnen wie dem ganzen Diesseits seinsmäßig überlegen ist derjenige, der alles geschaffen hat. Er steht jenseits der Zeit. Zweitens kann man argumentieren, daß Substanzen und Akzidentien nur vorübergehend existieren und einem Wandel unterworfen sind; so, wie sie existieren, müssen sie folglich nicht sein, denn wenn

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sie mit Notwendigkeit so wären, wie sie in einem gegebenen Augenblick sind, dann müßten sie ewig so sein. Daraus ergibt sich, daß ihr Sein nur ein mögliches ist, dem das notwendige Sein Allahs gegenübersteht. Eng verwandt mit dieser Gedankenführung ist die Überlegung, daß zwar alle Körper etwas Gemeinsames haben, nämlich die Körperhaftigkeit; doch sind alle Körper je nach ihren spezifischen Eigenschaften voneinander verschieden, wegen dieser Verschiedenheit demnach kontingent, und sie bedürfen einer außerhalb ihrer liegenden Wirkkraft, damit sie so, wie sie sind, in Erscheinung treten, sich verändern, verschwinden. Auf dem vierten Weg nimmt man ebenfalls die Akzidentien in den Blick. Sie sind kontingent, der Mensch kann dies an der Entstehung seiner selbst beobachten: Aus einem Samentropfen wächst er über verschiedene Stufen zur Leibesfrucht heran (vgl. Sure 22, 5 und 23, 14), und doch sind es nicht seine Eltern, die dies bewirken.Was aber ist es dann? „Man frage nicht: ‚Weshalb ist es undenkbar, daß jenes Bewirkende eine erzeugende Potenz ist, die in dem Samentropfen angelegt ist?‘ Denn wir müßten in diesem Falle so weiter argumentieren: Jene Potenz ist entweder eine solche, die ein eigenes Empfinden und eine Wahlmöglichkeit hat, oder sie ist es nicht. Das erstere aber ist falsch, denn sonst müßte man behaupten, der Samentropfen verfüge über eine vollkommene Bestimmungsmacht und Weisheit beim Gestalten, doch weiß man intuitiv, daß dies nicht der Fall ist. Das zweite aber ist ebenfalls falsch; denn der Samentropfen muß seinem Wesen nach entweder ein Körper aus gleichartigen Teilen sein oder nicht; wenn das erste gilt, dann muß er als eine Kugel geschaffen sein, denn wenn eine einfache Kraft auf eine einfache Materie wirkt, muß sie etwas Gleichförmiges hervorbringen, nämlich eine Kugel – darauf berufen sich jedenfalls die Naturphilosophen, nämlich auf die kugelförmige Zusammenballung aller einfachen Materie –, und wenn das zweite gilt, dann ist der Samentropfen aus verschiedener einfacher Materie zusammengesetzt, und jeder dieser Arten von Materie müßte je eine einfache Kraft inhärieren, was wiederum die Kugelförmigkeit einer jeden Art nach sich zöge, so daß der Samentropfen aus zahlreichen aneinandergefügten Kugeln bestehen müßte. Da dies falsch ist, wissen wir, daß der Bewirkende, der den Körper der Tiere und Pflanzen schafft, ein weiser Bewirkender ist.“21 Damit kein regressus in infinitum statthabe, muß ein Bewirkender, und zwar derjenige, der den ersten Anstoß gibt, notwendig existieren, woraus sich, wenn man ar-Rāzī folgt, herleiten läßt, daß es keine der Materie eigene Wirkkraft gibt, sondern nur eine Verkettung von einzelnen Verfügungen, die von Allah getroffen werden. Dies ist, knapp gefaßt, die Lehre der Theologen, die ar-Rāzī in seinem Kommentar zu Sure 2, Vers 22 als die Modernen bezeichnet. Er rechnet sich zu diesen und zieht eine Grenze zwischen ihnen und einigen älteren Aschʿariten des 11. Jahrhunderts, die, ähnlich wie manche Muʿtaziliten, zwar nichts Drittes neben den Substanzen und Akzidentien gelten ließen, aber immerhin annahmen, daß man den einzelnen Substanzpartikeln unter bestimmten Vorausset-

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zungen einen ihnen eigenen Zustand zuerkennen müsse,22 etwas, das weder als Akzidens noch als Substanz definiert werden kann und folglich nicht, wie diese beiden, unmittelbar zu Allah ist. In der sunnitischen Theologie und Metaphysik, die die aschʿaritische in ihren Spielarten ist, kann letzten Endes das Erwerben des Lebensunterhalts nicht als ein vom Menschen geplantes Benutzen innerweltlicher Kräfte gedacht werden. Gewiß gab es Kritik an diesen Theorien. So unterzog der in Europa vor allem als Mathematiker berühmte Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī (gest. 1274) das Handbuch ar-Rāzīs einer strengen Überprüfung und tadelte diesen, weil aus der These von der Kugelförmigkeit einfacher Materie nicht folge, daß zusammengesetzte Materie aus lauter kleinen Kugeln bestehe. Viel grundsätzlicher aber war aṭ-Ṭūsīs Einwand gegen die Behauptung, ein regressus in infinitum werde nur vermieden, wenn die Kette der Wirkkräfte in jedem einzelnen Fall bei Allah ende. Er schrieb unter anderem: „ArRāzī nimmt für die Gesamtheit jedes der unendlich vielen Dinge eine bewirkende Kraft an, weil jede Gesamtheit ihrer einzelnen Teile bedürfe, woraus folge, daß die Gesamtheit durch unendlich viele Wirkkräfte zustande kommt, so viele, wie sie Einzelteile aufweist.Wenn nun jeder Teil weder die Ursache für sich selber, noch für die von ihm ausgehende Ursache (des Bestehens des Ganzen) ist, ergibt sich zwingend, daß er allein nicht die Ursache für die Gesamtheit ist.“ Ar-Rāzī verlegt nämlich, wie gehört, die letzte Ursache in Allah; die einzelnen Teile der Gesamtheit sind, so behauptet er, aus sich heraus für nichts eine Ursache, nicht einmal für ihr eigenes Dasein. Daraus aber, so fährt aṭ-Ṭūsī fort, ist keineswegs mit Notwendigkeit abzuleiten, daß ein solches Einzelteil nicht zusammen mit den vielen anderen doch etwas verursachen kann, ohne daß Allah eingreift. Die Ursachen der Gesamtheit könnten sehr wohl in dieser selber zu finden sein, denn woher will ar-Rāzī wissen, daß man sie unbedingt außerhalb dieser Gesamtheit zu suchen hat? Das gilt doch nur, wenn man unter Ursache eine gänzlich in sich unabhängige Wirkkraft versteht, aber muß man das tatsächlich? „Wenn wir eine Gesamtheit aus etwas notwendig Existierendem und etwas Möglichem annehmen, das von ersterem verursacht ist, dann ist das Notwendige nicht die Ursache von sich selber, und das Mögliche ist nicht die Ursache von sich selber und nicht von einer Ursache, und dennoch ist jedes von beiden ein Teil der Ursache des Ganzen, und dieses Ganze hat keine Ursache, die außerhalb seiner läge.“ Womit aṭ-Ṭūsī hier ringt, das ist der Gedanke des Organismus, einer Gesamtheit von Wirkungen, die aufeinander bezogen sind und nicht durch Eingriffe von außen in Gang gesetzt und gelenkt werden; eine dieser Wirkkräfte mag notwendig sein, damit der Organismus sich entfalte, sie ist aber nur unter diesem einen Gesichtspunkt notwendig und kann für alles, was außerhalb des Organismus liegt, ohne Belang sein. Ar-Rāzī aber hat immer das absolut Notwendige, also Allah, im Sinn und ist deshalb unfähig, zu dieser Hypothese vorzudringen. Freilich kämpft aṭ-Ṭūsī hier nicht ganz redlich gegen den Aschʿariten, denn er un-

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terstellt ihm gleich am Beginn, seine Schule betrachte die Welt als eine aus unendlich vielen Teilen bzw. Schöpfungsakten zusammengesetzte Gesamtheit. Im Anschluß an die eben wiedergegebenen Argumente hofft er, Mathematiker der er ist, den Aschʿariten dadurch ad absurdum zu führen, daß er ihm unterstellt, er wolle Allah als die letzte Ursache zu einer unendlichen Anzahl von Ursachen hinzunehmen, wo doch die Addition einer endlichen Zahl zum Unendlichen nicht zulässig ist.23 Die Aschʿariten hüteten sich jedoch, dem Diesseits in irgendeiner Form Unendlichkeit zuzuschreiben, die sie allein dem Schöpfer vorbehielten,24 und ar-Rāzī hat an der Stelle, auf die sich aṭ-Ṭūsī bezieht, auch nirgends gegen diese Regel verstoßen. Erwerb des Lebensunterhalts, ein Weg der Gotteserkenntnis Kommen wir nun wieder zu ar-Rāzīs Auseinandersetzung mit dem Lebensunterhalt zurück! Wenn Allah in der Lage ist, die Früchte ohne jene Mittel, ohne Erde und Regen, zu schaffen, welche Weisheit liegt dann darin, daß er sie schon so lange Zeit auf dem Umweg über diese Mittel hervorbringt? Ar-Rāzī beginnt die Antwort mit dem Gedanken, daß Allah nach seiner Gewohnheit in einer bestimmten Reihenfolge vorgeht. „Denn die mit der Scharia Belasteten wissen, wenn sie, um die Früchte zu erlangen, beim Pflügen und Pflanzen Mühe ertragen und sich damit von einem Arbeitsgang zum anderen abplagen, daß es, da sie schon um des irdischen Nutzens willen solche Strapazen erdulden, weit angemessener ist, um des jenseitigen Nutzens willen Mühen auf sich zu nehmen, die schwerer sind als die für das Diesseits notwendigen. Dies entspricht dem, was wir an anderem Orte sagten: Der erhabene Allah ist fähig, die Heilung ohne das Einnehmen von Medizin zu schaffen; doch es ist seine Gewohnheit, die Menschen die Medizin zu lehren, denn wenn man die Bitterkeit der Medizin erträgt, damit durch diese der Schaden einer Krankheit abgewendet werde, so ist es weit angemessener, die Mühen der Belastung mit dem Gesetz zu ertragen, um den Schaden der ewigen Strafe abzuwenden. Und zweitens ist es besser zu sagen: Schüfe er den Lebensunterhalt mit einem Mal und ohne diese Mittel, dann ergäbe sich unverzüglich das unerläßliche Wissen davon, daß dieser Unterhalt dem Mächtigen, Weisen zuzuschreiben ist. Wer dies befürwortet, ist dem zu vergleichen, der die Belastung mit dem Gesetz und die Prüfung des Menschen verwirft. Wenn Allah den Lebensunterhalt aber durch diese Mittel schüfe, dann wäre der mit dem Gesetz Belastete auf genaues Erwägen und tiefes Nachdenken angewiesen, um zu erkennen, daß der Lebensunterhalt dem Mächtigen zuzuschreiben ist – wodurch er sich überhaupt erst Lohn im Jenseits verdiente! Deshalb heißt es: ‚Gäbe es nicht das Gewerbe, geriete nie jemand in Zweifel!‘ Drittens schließlich gewinnen die Engel und die Hellsichtigen aus diesem Umstand mahnende Beispiele und treffende Gedanken.“25

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Nicht mehr aus der conditio humana, aus der eigentümlichen Verfaßtheit des Menschen, die bestimmt, wie er der Welt gegenübertritt, leitet sich die Notwendigkeit des Erwerbs her, sondern aus dem Wunsch Allahs, ihm den Heilsweg zu verdeutlichen. Pflügen, Säen, Ernten, alles dies wäre, wenn man das Diesseits, die endlich große Fülle der Materiepartikeln und die endlich große Anzahl der schöpferischen Handlungen Allahs recht bedenkt, nicht nötig. Aber dann wäre die wahre Gotteserkenntnis auch gar zu wohlfeil und nicht mehr als ein Verdienst des Menschen zu werten. Denn nur wenn er selber etwas tun muß, lernt er, von sich selber abzusehen und sich trotz aller eigenen Leistung – die in Wahrheit nur Schein ist – ganz der Fügung des Einen zu unterwerfen. Nicht umsonst nennt ar-Rāzī ganz am Schluß die Engel und die Hellsichtigen: Letztere sind jene Menschen, die schon über die diesseitigen, mit den fünf Sinnen wahrnehmbaren Dinge hinwegzublicken vermögen und nicht mehr vollständig an sie gefesselt sind, und die Engel, denen die zweideutige Gabe des Verstandes vorenthalten blieb, leben ohnehin allein der Lobpreisung Allahs und sind ihm gehorsam – so mag ihnen wenigstens der Blick auf die Anstrengungen der Menschen und auf deren prometheischen Stolz, der durch und durch verfehlt ist, verdeutlichen, was es mit dem Einen auf sich hat. – In eben dem Sinn, den ar-Rāzī darlegt, deutet auch aš-Šaʿrānīs Zeitgenosse Ibn Ḥaǧar alHaitamī den Begriff des Lebensunterhalts. Man fragte ihn, was die Aussage des Korans meine: „Allah ist es, der euch schafft und euch dann ernährt“ (Sure 30, 40). Zum Lebensunterhalt darf, so antwortet Ibn Ḥaǧar, in keinem Fall alles gerechnet werden, was der Mensch besitzt – dann wäre auch gestohlenes Gut eine „Nahrung“; desgleichen ist die Ansicht zu verwerfen, der Lebensunterhalt sei das, was der Leib benötige, um zu existieren – in diesem Falle gäbe es ein innerweltliches Kriterium, an dem man ablesen könnte, wie groß die Menge der Güter ist, auf die eine Person zur Fristung des Daseins Anspruch erheben könnte. „Nahrung“ ist laut Ibn Ḥaǧar die von Allah vor aller Zeit bestimmte Menge an Verbrauchsgütern, unabhängig davon, ob sie ausreicht, die leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen oder nicht.26 Die Magie Wenn der Lebensunterhalt vor aller Zeit zugeteilt wurde, dann ist alle Anstrengung, sich mehr zu verschaffen als das, was man hat, müßig. Aber es gab die Versuchung, dies doch zu erreichen, und zwar auf dem Weg der Magie, denn sie ist nichts anderes als die Kunst, in das Verborgene einzugreifen. Aš-Šaʿrānī allerdings rühmt sich, daß er dieser Versuchung niemals erlegen sei. Aber er gibt auch zu, daß zahlreiche Derwische und Gelehrte ihre Liebe zu Allah, zum Propheten, zu dessen Gefährten und anderen, die Allah nahegekommen sind und seine besondere Fürsorge genießen (vgl. Sure 56, 11 f.), mißbrauchten, um solche verabscheuenswürdigen Praktiken zu betreiben. Ihr Vermögen und ihren Glauben hätten sie vertan, bloß

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um bestimmte Drogen und Räuchermittel zu erwerben. Manche verlegten sich auf die Schatzsuche, dangen Arbeiter und ließen Gräber umwühlen, und schließlich standen sie mit leeren Händen da. Erstaunliche, ja erschreckende Beispiele weiß ašŠaʿrānī zu berichten. Einem Zögling des Meisters Abū s-Suʿūd al-Ǧāriḥī27 widerfuhr es, daß ihn ein Gaukler überredete, an die 27 000 Niṣf aufzutreiben, die man benötige, um einen Schatz zu heben, der auf seinem Grundstück verborgen liege. Er kaufte die Kräuter, die der Gaukler benannte, dann ließ man diesen auf den Hof des Anwesens. „Der Gaukler aber verstand sich auf die Magie…, und so räucherte er mit einem Kraut, dessen Wirkung ihm bekannt war. Der Zögling sah darauf in der Phantasie, wie sich eine Tür neben dem Abort öffnete. Zusammen mit dem Magier stieg er dort hinab, und sie fanden Haufen von Gold und Silber, groß wie Hügel; und sie erblickten den König des Schatzes! Er schlief auf einem Bett, dessen Füße aus Gold waren, in seidene Gewänder gehüllt und mit einem Netz aus Perlen bedeckt. ‚Hast du noch irgendeinen Zweifel?‘ fragte der Gaukler, und der Zögling verneinte das. ‚Dann gib mir das Geld, damit ich dir das Räucherwerk besorge, das alle Hindernisse überwinden wird! Damit sollst du jedesmal räuchern, wenn du etwas von den Schätzen holst! Sonst aber werden alles, was du herausbringen läßt, die Diener an sich nehmen!‘ Da händigte ihm der Zögling das ganze Geld aus, das er besaß, dazu die goldenen Armreifen seiner Mutter und das feine Tuch, das sich seine Ehefrau um die Haare zu winden pflegte. Schließlich hatte ihm der Magier alle Wertsachen abgeluchst. ‚Jetzt gehe ich und suche für dich die Kräuter!‘ Sie stiegen aus dem Verlies… empor, und der Magier versperrte die Tür – und danach entdeckte der Zögling nicht eine Spur mehr von ihm, bis auf den heutigen Tag!“28 Ganz erstaunlich sind die Beispiele für die, so würden wir sagen, Leichtgläubigkeit der Menschen. Sie hielten es eben für wahrscheinlich, daß man der Knappheit der Güter, mit denen sie auskommen mußten, am ehesten auf jene Weise entgehen werde. Selbst einen Richter, Nūr ad-Dīn aus Aschmun, kann aš-Šaʿrānī als Zeugen für dieses Übel aufbieten. Dieser Richter fiel auf einen Gaukler herein, der zehn venezianische Golddukaten in einen Schmelztiegel gelegt und darüber Kleie gestreut hatte. Von den Dukaten wußte der Richter natürlich nichts, ihm zeigte der Betrüger nur den Tiegel mit der Kleie, schickte den Mann dann zu einem Drogenhändler, der in alles eingeweiht war, damit jener dort ein Kraut im Wert eines Dirhams kaufe. Dieses Kraut legte der Gaukler dann auf die Kleie, erhitzte den Tiegel und zeigte dem verblüfften Richter, daß man aus der wertlosen Kleie lauteres Gold erschmelzen könne; das sei kein Schwindel, der Richter möge nur gehen und das Gold von dem Juden, der am Eingang des Basars der Goldschmiede sitze, auf die Reinheit überprüfen lassen. Wie man sich denken kann, war der Jude ganz begeistert und versprach, für weitere Lieferungen einen mehr als guten Preis zu zahlen. Den Richter konnte nun nichts mehr daran hindern, unermeßlich reich zu werden. Die einhundert Dukaten, die der Gaukler für die Herstellung eines ganzen

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Zentners Gold forderte, schienen ihm moderat. Als es schon zu spät war, gelang es, den Richter zu warnen: Der Zauberer, dem er sein Vermögen anvertrauen wollte, sei ein Gauner, und der Jude sei gar keiner, sondern ein verkleideter Muslim. Vergeblich bemühte sich der Richter, die einhundert Dukaten zurückzubekommen. Den bösen Folgen einer aus Habgier betriebenen Alchimie, den diesseitigen wie den jenseitigen, entrinnt man nicht, warnt aš-Šaʿrānī. Denn selbst wenn es gelingen sollte, Falschgeld herzustellen, und selbst wenn diese Münzen den echten an Wert gleichkommen, der Sultan wird es nicht dulden, daß sich jemand seine Rechte anmaßt, und er wird den Schuldigen zum Tode verurteilen. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, war davon überzeugt, daß alle Alchimie, selbst wenn sie tatsächlich zustande brächte, was die Menschen behaupten, die sich ihr verschrieben haben, am Ende doch ins Verhängnis führe, weil sie eine schlimme Sünde ist. Denn „es gibt einen Unterschied zwischen den Metallen, die Allah erschuf, und jenen, die der Mensch durch allerlei Listen und Vorrichtungen erzeugt“. Und aš-Šaʿrānīs „Bruder“ Afḍal ad-Dīn29 warnte einst einen Derwisch, der sich dem Studium der Alchimie hingab, und wollte ihn von seiner Leidenschaft abbringen. Die einzige Alchimie, nach deren Kenntnis der Derwisch trachten dürfe, sei das göttliche Schöpferwort: „Sei!“ Zum Beweis dafür sprach Afḍal ad-Dīn zu einem Stein: „Sei Gold!“ und augenblicklich verwandelte er sich in Gold, und ebenso wieder zurück in den Stein, als Afḍal ad-Dīn es befahl.30 Dies freilich ist ein Können, das dem Derwisch erst dann geschenkt wird, wenn er sich ganz von seiner Ichhaftigkeit gelöst hat; zu eigennützigen Zielen darf man es gerade nicht verwenden. Amīn ad-Dīn, der Imam der al-Ġamrī-Moschee, erzählte einst seinem Zögling, weshalb der Gottesfreund Aḥmad den Beinamen „der Asket“ erhalten habe, wo doch jeder Fromme, der sich dem Derwischtum verschreibe, ein Entsagender sein müsse: Bei einem anderen Gottesfreund hatte Aḥmad die „richtige Alchimie“ erlernt. „Kratze mit dem Fingernagel etwas Staub zusammen, woher auch immer, dann streue ihn auf einen beliebigen Stein und sprich: ‚Im Namen Allahs, des Allerbarmers!‘ und sogleich wird der Stein zu Gold.“ Aḥmad sei der Anweisung gefolgt, und alles sei geschehen, wie vorausgesagt. Doch habe Aḥmad unverzüglich befohlen, das Gold in den Abort zu werfen und dem, der diesen Auftrag ausgeführt habe, geboten, davon zu schweigen, solange er, Aḥmad, lebe. Deswegen habe man ihn den Asketen genannt.31 Überhaupt war Afḍal ad-Dīn in solchen Künsten höchst erfahren; schon im Kindesalter, kaum sieben Jahre alt, hatte Allah ihn mit der genauesten Kenntnis der Grundsätze der Alchimie ausgezeichnet, doch schon vier Jahre später bat Afḍal adDīn den Schöpfer, er möge ihn wieder von diesem Wissen befreien.32 Aš-Šaʿrānī gibt hierzu keine weiteren Erklärungen ab, doch müssen wir ihn so verstehen, daß die Gefahr, sich zu eigennützigem Gebrauch hinreißen zu lassen, allzu groß ist. Die genaue Erläuterung des Wesens der Alchimie, die aš-Šaʿrānī an diese Warnungen anschließt, wird erst später unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Wichtig ist in

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diesem Zusammenhang nur die Feststellung, daß das Wissen hiervon niemals erworben werden kann, sondern einzig und allein wie ein Gnadengeschenk dem einen oder anderen beschieden wird, weshalb es sich verbietet, die Einzelheiten Unberufenen zu verraten.33 Gold und Staub gelten aš-Šaʿrānī, wie er uns schon einmal versichert hat, ohnehin gleichviel: „Auf diesem ‚Standplatz‘ verharrte ich ein Jahr lang ungefähr. Dann aber gab Allah mir Einblick in die Weisheit, die darin liegt, daß das Gold dem Staub vorzuziehen ist. Und so zog ich das Gold vor, obschon ich von seinem Rang nicht um der menschlichen Natur willen wußte, wie es bei den Söhnen des Diesseits sonst der Fall ist. Dieser Zustand ist vortrefflicher als der frühere“, in dem ihm Gold und Staub gleich viel oder wenig bedeuteten. „Dem äußeren Schein nach bin ich jetzt jemand, der das Diesseits liebt, die innere Absicht aber ist eine ganz andere. Denn bisweilen deponiere ich das Gold bei mir, und zwar nur aus Höflichkeit gegen Allah, der anordnete, daß Kauf und Verkauf allein damit zu erfolgen haben. Wenn der Begriff der Enthaltsamkeit an irdischen Dingen der Scharia entsprechend gebraucht wird, dann meint man damit die Enthaltsamkeit des Herzens, das sich nicht zu den Gütern hinneigt, aber man denkt nicht an den Verzicht auf die Nutzung der Güter, die ohne Hinneigung geschieht.“34 Das Gold, nach islamischem Recht der eine unveränderliche Maßstab, mit dem sich der Wert von Gütern und Leistungen messen läßt, und daher für alle Geschäfte unentbehrlich, weiß aš-Šaʿrānī zu schätzen; doch allein in dieser Eigenschaft des schariatischen Maßes ist es ihm teuer. Er bewahrt es auf, um damit die notwendigen Transaktionen zu tätigen. Daß es nicht sinnvoll ist, jeden Tag alles auszugeben und am nächsten erneut auf den Empfang des voraus festgelegten Unterhalts zu rechnen, hat er im vorgerückten Alter gelernt. Er nannte das Jahr 1550 als den Zeitpunkt dieses Sinneswandels. Aš-Šaʿrānīs Einkünfte Aš-Šaʿrānī berührt in seiner Lebensbilanz häufig Fragen seiner Einkünfte, ohne jedoch dem Leser zu enthüllen, woher sie im einzelnen stammten. Diese Seite seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten hält er offensichtlich für wenig wichtig, es geht ihm doch in erster Linie darum, den Leser vor falschem Verhalten zu warnen. Oder mußte er den Anschein vermeiden, jenem Dritten zu gleichen, den ʿUmar b. alḪaṭṭāb mit der Peitsche aus der Moschee getrieben hatte? Jedenfalls erfährt man nur mittelbar einiges über die vielfältigen Quellen, aus denen er schöpfen konnte, und aš-Šaʿrānīs größte Sorge ist es, daß man ihn nur ja nicht mit jenem müßigen Asketen verwechsle, den wir am Beginn des Prologs kennengelernt haben, sondern in ihm einen echten Gottesfreund sehe, vergleichbar dem ersten unter jenen dreien, denen ʿUmar in der Moschee begegnet war. Nie habe er vom Vermögen der Waisen oder von anderen Mitteln gezehrt, die ihm nach der Scharia nicht zur Verfügung

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stehen durften, beteuert aš-Šaʿrānī, und an einem Beispiel macht er deutlich, welches Fehlverhalten er ablehnt: Wenn der Anhänger eines Meisters gestorben ist, dann darf sich der Meister nicht lange bei den verwaisten Kindern aufhalten und bei ihnen womöglich übernachten, wie er es zu tun pflegte, als jener Anhänger noch am Leben war; erst wenn das Erbe schon verteilt ist, darf er sich von den Hinterbliebenen einladen lassen. Freilich achte er darauf, daß die Kosten für die Bewirtung nicht aus dem Erbe beglichen werden! Doch ist es ohnehin bedenklich, sich von jenen aushalten zu lassen, und wenn der Meister es gar darauf anlegt, ihr Gast zu sein, dann verstößt er gegen Allahs Gesetz. Sowohl auf dem Lande als auch in Kairo geschehe es allzu oft, daß die Ehefrau des Verstorbenen, von den Obmännern des Meisters dazu gedrängt, ein Festmahl für die Bewohner der Klause des Meisters zubereitet.35 Geldwerte Leistungen und Zuwendungen machten, so darf man aus solchen Angaben schließen, einen wesentlichen Teil der Einkünfte aus, die ašŠaʿrānī teils für sich und seine engere Familie, teils für seine Anhängerschaft aufwenden konnte. Daneben finden sich in seinen Lebenserinnerungen viele Andeutungen über Einnahmen aus regelmäßiger Tätigkeit. So schreibt er an einer Stelle: „Wenn ich ein Stück Land, das zu einer Stiftung gehörte, sei diese unter meiner Verwaltung oder nicht, bebaute, dann nahm ich die Belange dieser Stiftung wahr. Erzielte ich einen Überschuß, der höher als die gewöhnliche Grundsteuer war, dann teilte ich ihn zwischen mir und der Stiftung… Denn in meinen Augen hat das Stiftungsland den gleichen Status wie das Vermögen der Waise, gleichviel ob ich der Verwalter bin oder nur derjenige, der es bestellt, ohne zur Aufsicht befugt zu sein.“ In beiden Fällen fühlt sich aš-Šaʿrānī als jemand, der die Interessen Dritter wahrnimmt. Vielfach nämlich geschieht es, daß die Aufseher in die eigene Tasche wirtschaften und die Fellachen zu Arbeiten heranziehen, zu denen diese nicht verpflichtet sind. Solch einen Unterschleif läßt sich aš-Šaʿrānī nie zuschulden kommen. Er trägt Sorge, daß alles, was erwirtschaftet wird, den Derwischen zufließt, und mehr, als jeder von diesen empfängt, wünscht sich auch er selber nicht.36 Eine andere Tätigkeit als das Verwalten von Ländereien hat aš-Šaʿrānī anscheinend nie ausgeübt. Er rühmt sich, daß er niemals Ämter angestrebt habe; niemals habe er vom Sultan ein Gehalt bezogen.37 Die Gelegenheiten, aus der Position des anerkannten Gottesfreundes Kapital zu schlagen, waren zahlreich. Viele Leute hatten das Bedürfnis, einem solchen Mann einen Gefallen zu tun, weil sie davon überzeugt waren, daß dies ihr Jenseitsverdienst mehre. Aš-Šaʿrānī war es jedoch äußerst unangenehm, wenn jemand ankündigte, er werde kommen und ihm dieses oder jenes Geschenk überreichen. Noch ehe das geschehen konnte, verweigerte aš-Šaʿrānī den Empfang, denn er fürchtete, sein Inneres werde dem Geschenk mit freudiger Erwartung entgegenblicken. Weil manche Leute von dieser Angewohnheit wußten, versuchten sie, ihn mit ihrer Gabe

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zu überraschen, was bisweilen gelang. Aš-Šaʿrānī verbrauchte dann nichts von alledem, sondern reichte es vollständig an die Bedürftigen in seiner Klause weiter. Manchen Meistern war derartige Zurückhaltung ganz fremd. Sie scheuten sich nicht, die Menschen zu erpressen und mit der Furcht vor der übernatürlichen Kraft Geschäfte zu machen. Da gab es, wie aš-Šaʿrānī erzählt, einen Meister, der hohe Summen verlangte, wenn er gebeten wurde, diese Kraft für die Heilung Kranker einzusetzen. Ein mächtiger Würdenträger wurde eines Tages von einer Lähmung befallen. Der Meister suchte ihn auf und verlangte, er möge ihm einhundert Dinar auszahlen und ihm noch dazu ein Landgut kaufen, dessen Ertrag sich auf die gleiche Summe belief. Hiernach, das versprach der Meister, werde er ihn von der Lähmung befreien, die er bei ihm ausgelöst habe. Der Würdenträger war nämlich einige Zeit vorher nicht auf die Bitten eingegangen, die der Meister bei ihm zugunsten einer dritten Person vorgetragen hatte. So einfach ließ sich jener Mann freilich nicht ins Bockshorn jagen. Er hielt den Meister eine Weile hin und schickte zu aš-Šaʿrānī, um dessen Rat einzuholen. „Es kommt darauf an, wie sehr du an jenen Meister glaubst“, ließ dieser ausrichten. „Wenn du daran glaubst, daß er jene Kraft besitzt, dann gib ihm, was er verlangt.“ Aš-Šaʿrānī gesteht, daß er sich nicht getraut habe, den erpresserischen Meister klipp und klar einen Betrüger zu nennen. Es hätte ja immerhin sein können, daß nach Allahs Vorauswissen die Heilung des Würdenträgers durch jenen Meister hätte bewirkt werden sollen. Dann wäre er, aš-Šaʿrānī, der Grund dafür gewesen, daß der Würdenträger nicht mehr hätte genesen können. Ebenso wenig hätte aš-Šaʿrānī freilich behaupten dürfen, der geldgierige Gottesfreund besitze tatsächlich die Fähigkeiten, deren er sich rühmte. Das wäre womöglich eine Lüge gewesen. Hätte er ihn offen einen Schwindler genannt, dann wiederum wäre zu befürchten gewesen, daß jener den Pöbel, mit dem er sich umgab, ihm auf den Hals gehetzt hätte.38 Doch nicht nur die Fürsprachen und die Heilungen konnten ein Geschäft sein – aš-Šaʿrānī behauptet, aus alledem nie einen materiellen Nutzen gezogen zu haben39 –, auch krafthaltige Gegenstände hatten ihren Wert, jedenfalls bei den Menschen, die an den Meister glaubten, aus dessen Umgebung die Gegenstände stammten. Aš-Šaʿrānī empfindet dergleichen als abgeschmackt und verurteilt einen solchen Mangel an Respekt scharf. Heute sei dergleichen allerdings an der Tagesordnung, und ihm fällt ein Beispiel ein, das einer gewissen Komik nicht entbehrt. Jemand wollte einiges für seine Tochter kaufen, hatte aber kein Geld. Also nahm er einen Beutel und steckte einige Haare des Meisters hinein, an den er glaubte. Dem Händler bot er diesen Beutel als Pfand für den Kaufpreis an, den er ihm fürs erste schuldig bleiben müsse. Selbst für einen ganzen Zentner Haare des Meisters werde er die Ware nicht aushändigen, erboste sich der Kaufmann, und überall auf dem Basar spottete man über jenen Einfaltspinsel, der gehofft hatte, alle Welt verehre den Meister so, daß man die Haare für Geld nehmen werde.40

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Rechtfertigungen des Reichtums Sorgen um den Lebensunterhalt hatte aš-Šaʿrānī nie, zumindest nicht, seitdem er sich einen Ruf als Gottesfreund erworben hatte. Ganz im Gegenteil, er mußte es vermeiden, in Gegenwart Dritter über Waren und deren Preise zu sprechen, denn kaum wurde dergleichen erwähnt, so fühlte sich einer der Anwesenden bemüßigt, ihm das zu schenken, wovon gerade die Rede war.41 Dies war ein unschätzbarer Vorzug, den aš-Šaʿrānī genoß. Denn nicht wenige unter den Mitgliedern seiner Anhängerschaft trachteten danach, einander beim Wettbewerb um Ämter auszustechen. Aš-Šaʿrānī wollte solches Verhalten nicht von vornherein rügen; er prüfe stets, wer am geeignetsten sei. Nur den Einsatz unlauterer Mittel suche er zu verhindern. Mißstände müßten bekämpft werden. So tadelte Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, jemanden scharf, der einen Posten erlangt, dann aber gegen Geld einem anderen überlassen hatte. Jeder, der den Mangel kennt, wird freilich Verständnis dafür haben, daß die Konkurrenten mit Verbissenheit um jeden noch so geringen Vorteil streiten – solange nur die Scharia nicht verletzt wird. Früher sei alles viel leichter gewesen. Die Kaufleute und die Mächtigen hätten den Gelehrten reiche Gaben zukommen lassen, ohne daß diese eigens darum hätten bitten müssen; die Großen hätten Erkundigungen über die Gesetzeskenner und Derwische eingezogen, die in ihrem Viertel lebten, und diesen allabendlich Mahlzeiten ausgeteilt. Aš-Šaʿrānī lehrte seine Zöglinge, daß es nicht verwerflich sei, sich um einen Posten zu bemühen, sofern man anders sich und seine Familie nicht durchbringen könne; denn der Empfang der Entlohnung schütze einen davor, das Leben mit unerlaubten Dingen zu fristen. Allerdings mahnte aš-Šaʿrānī seine Zöglinge, die bei einem Mächtigen eine Stelle antraten, sie sollten nicht vertrauensselig alles annehmen, was man ihnen biete. Immer muß untersucht werden, ob der Herr seine Bediensteten mit Gütern entlohnt, die nach den Regeln der Scharia erworben wurden. AšŠaʿrānī gab daher den Adepten kurze Anweisungen mit auf den Weg, etwa: „Ich rate dir dringend, nicht alles an dich zu raffen, was dir Leute deinesgleichen schenken wollen, und hüte dich, darüber hinwegzusehen, wie sie mit den Untertanen umgehen, denn es ist zu befürchten, daß du in der Hölle brennen wirst!“42 Wenn man dafür eintritt, daß die Gelehrten ihren Aufgaben unabhängig von den Interessen bestimmter Geldgeber nachgehen, dann darf man ihnen ihren Wohlstand nicht neiden, wie es allzu oft geschehe. Hat nicht schon aš-Šāfiʿī erkannt: „Ein Gelehrter muß über Vermögen und Prestige verfügen, so daß er sich vor niemandem demütigen muß und auf niemanden angewiesen ist.“ In alter Zeit konnten manche Gelehrte auf einen geradezu märchenhaften Reichtum bauen; unter den Beispielen, mit denen aš-Šaʿrānī diese Behauptung abstützt, nennt er Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, der tausend Sklaven gehabt haben soll und noch dazu Diener und Dienerinnen. Es zeuge von Mißgunst und Unverständnis, wenn man, wie es jetzt üblich sei, Gelehrte und Gottesfreunde um ihrer Besitztümer willen kritisiere. Auch unter den Gottes-

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freunden gab es in früherer Zeit einige, die reich waren, andere, die Not litten.Wenn einige der berühmten Frommen auf prachtvoll herausgeputzten Pferden sitzen und kostbare Gewänder tragen, dann soll man sich nicht darüber das Maul zerreißen und sie der Unredlichkeit zeihen, wenn sie ihren Anhängern Enthaltsamkeit predigen; das tun sie doch nur, um ihnen die Gier nach irdischen Gütern auszutreiben.43 Verhaltensmaßregeln Nicht nur daß Allah den Lebensunterhalt eines jeden Menschen nach unerforschlichem Ratschluß festlegt, rechtfertigt die Entgegennahme reichlicher Gaben. Die Würde des Gelehrten, der sich niemandem beugen darf, verlangt materielle Unabhängigkeit, die, wenn man aš-Šaʿrānīs Gedanken verfolgt, eben nicht durch das Ausüben eines Gewerbes oder einer Beamtentätigkeit gesichert wird, sondern durch die Geschenke, die den unterschiedlichsten Quellen entstammen. Nur mittelbar kann man sich ein Bild von der Fülle dessen machen, was einem beliebten Gottesfreund, an dessen Frömmigkeit und Einsicht in das Verborgene viele Menschen glauben, Tag für Tag zuströmte. Zwei Abschnitte aus aš-Šaʿrānīs Lebensbilanz sind besonders erhellend, wenn sie auch von einer schwer erträglichen Selbstgefälligkeit zeugen. Im ersten spricht er von der ungewöhnlichen Gnadengabe Allahs, ihn vor allen Neidgefühlen geschützt zu haben, die in ihm hätten aufkommen können, wenn ein Beduinenscheich, ein Intendant oder sonst ein hoher Amtsträger sich einen anderen Gottesfreund zum Meister erwählte. „Ja, ich freue mich darüber außerordentlich…, denn ich fürchte, daß mein Herz sich jenem Missetäter zuneigen könnte. Dann aber hätten meine Hand und meine Zunge nicht genügend Kraft, bei ihm für andere vorzusprechen.“ Wenn man mit einem der Großen und Mächtigen auf allzu vertrautem Fuße verkehrt, verliert man die Freiheit, ihn streng zu ermahnen und ihn zu bewegen, Unrecht und Gewalt, die er den ihm Unterstellten antun mag, zu kritisieren und Besserung zu verlangen. „Überhaupt wurden wir stets nur deshalb Gefährten der Mächtigen, weil wir diejenigen, die Unrecht erlitten, retten und von Bedrängnis befreien wollten. Darum weiß man, daß der Kummer des Derwischs über seinen Gefährten, den Emir, der in die Anhängerschaft eines anderen übertritt, äußerst schändlich ist. Manche Derwische feinden jenen Emir und dessen neuen Meister sogar deswegen an. Dazu kann es nur kommen, weil solch ein Derwisch den Emir nur aus diesseitigen Interessen begleitet, nämlich um dessen Wohltaten zu empfangen. Wäre er in lauterer Absicht dessen Gefährte geworden, würde ihm dies niemals Kummer bereiten. So schloß sich mir einmal ein Beduinenscheich an, ohne daß ich wußte, daß er vorher der Begleiter eines anderen gewesen war. Jener war aufs äußerste betrübt und begann, sowohl mir wie auch jenem Mächtigen die Ehre abzuschneiden. Nur Allah weiß, womit mich der im Stich gelassene Meister verleumdete. Darum bat ich jenen Emir, er möge um Allahs willen

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zu ihm zurückgehen und sich selber und mir Ruhe vor dessen böser Zunge verschaffen. Das tat er, obschon ich zu jener Zeit noch keinerlei Speise, die von ihm, dem Beduinenscheich, stammte, verzehrt und noch kein einziges Geschenk erhalten hatte“, so daß es für die Eifersucht noch gar keinen handfesten Grund gab. „Bruder, hüte dich, einen Beduinenscheich oder einen anderen Großen zu begleiten, ohne zuvor genau überprüft zu haben, ob er möglicherweise der Gefährte eines Betrügers gewesen ist. In solchem Falle wird für dich der Jüngste Tag hereinbrechen, wie mir dies einst widerfuhr… Enthalte den Söhnen des Diesseits, mein Bruder, all deine Anstrengungen vor, denn die Seelen der meisten Menschen neigen dazu, solche Leute zu begleiten, ja, sie reißen sich sogar darum. Doch dreimal Pfui über alle, die sich das Gewand des Derwischs anlegen und sich doch nach den Gütern des Diesseits drängen und der rechten Führung derjenigen, denen das Flickengewand wohl ansteht, zuwiderhandeln! Und ein Bravo all jenen, die das Gewand der Derwische vor Leuten schützen, die es entehren!“ Und dies ist der zweite Abschnitt, in dem aš-Šaʿrānī wiederum ungeniertes Selbstlob und Verhaltensregeln miteinander vermischt. Allahs Huld sei ihm auch darin zuteil geworden, daß es ihm gegen den Strich gehe, von den Speisen eines Adepten zu zehren, bevor in diesem die Liebe zu ihm, dem Meister, unerschütterlich und beständig geworden sei. Ein neuer Zögling müsse erst zu der Überzeugung gelangt sein, daß „alles, was er besaß, nun mein Eigentum geworden war“. Dabei sei es gleichgültig, ob jener die Speisen für ein Gastmahl im eigenen Haus habe vorbereiten lassen oder sie zu aš-Šaʿrānī schicke. „Die Weisheit, die in solchem Verhalten liegt, ist die folgende: Wenn man sich aus dem Vermögen des Adepten ernährt, dann verleitet ihn das, sich deswegen gegenüber dem Meister etwas einzubilden und diesen gering zu schätzen: Der Zögling läßt sich verführen, einen Vorrang vor dem Meister zu beanspruchen. Das aber hebt die Möglichkeit auf, irgendeinen Nutzen aus dem Verhältnis zum Meister zu ziehen. Die Krankheit, sich allzu rasch von seinen Adepten aushalten zu lassen, hat sich allerdings unter den Derwischen weit ausgebreitet. Da kannst du erleben, wie sich manch einer auf die Speisen seines Zöglings stürzt, kaum daß dieser sich entschlossen hat, ihn zu begleiten, und von ihm Geschenke annimmt. So kleidet dann der Zögling die Sippe und die Kinder des Meisters ein, und der Meister kümmert sich nicht darum, wie sehr dadurch seine Stellung leidet. Einem solchen Derwisch ist überhaupt nicht bewußt, daß es zu den Voraussetzungen der Meisterschaft gehört, sowohl in den diesseitigen als auch in den jenseitigen Angelegenheiten die Macht über den Adepten innezuhaben. Einmal kam jemand zu mir und sagte: ‚Der und der verpflichtete mich als seinen Zögling unter der Bedingung, daß ich ihm alles gebe, was er von mir fordert. Er drohte, wenn ich es ihm verweigerte, werde er mich lange im ungewissen lassen und mich von sich fernhalten; das hätte ich mir dann selber zuzuschreiben.‘ Ich erwiderte ihm, solches Verhalten zeuge davon, daß jener Meister den Pfad verlassen

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habe. Sidi Muḥammad aš-Šanāwī sagte: ‚Das Vermögen der Zöglinge ist den Meistern verboten!‘ Das gilt allerdings nur für solche Adepten, die nicht zu der Einsicht gelangen, daß ihr Meister alles besitze, was sie haben. Die wahrhaften Meister speisen selbstverständlich bei ihren Zöglingen, wie dies in den Büchern über die subtilen Gebräuche der Gottesfreundschaft vielfach dargelegt wird. Darum sei Allah gepriesen, daß er bewirkte, daß niemals die Speise eines Adepten in meinem Leib bleibt, der noch nicht ganz von der Liebe zu mir ergriffen worden ist! Und wenn ich aus Vergeßlichkeit davon genösse, dann spürte ich die Schwere dieser Speise in mir, so als hätte ich ein Stück von einem Berg gegessen! Mein Inneres geriet einmal in Aufruhr, so daß ich mich übergeben mußte. Dies gehört zu den unschätzbaren Gnadengaben, die Allah mir schenkte. Versteh dies, Bruder, und sei bestrebt, deinen Charakter danach zu bilden, dann wirst du den rechten Weg gehen! Lob sei Allah, dem Herrn der Welten!“44

1.2 Ausgaben Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört die Fülle dessen, was ich an die Derwische verteilen konnte; denn an Stiftungserträgen und anderen guten Einnahmen, die für sie gedacht waren, kam viel herein. So bin ich in der Lage, alljährlich an die 20 000 Niṣf zu verteilen, ohne selber etwas davon zu verzehren und für Kleidung auszugeben. Alles verwahre ich für sie. Wenn ich in Erfahrung bringe, daß an irgendeiner Stiftung oder einem Geschenk irgend etwas zweifelhaft ist, teile ich nichts davon aus, sondern sage ihnen: „An diesem Gut ist etwas bedenklich; nur wer in einer Notlage ist, mag sich davon so viel nehmen, wie zur Behebung der Not erforderlich ist; anderenfalls soll er die Finger davon lassen.“ Dies, damit ich am Jüngsten Tag nicht für die Folgen geradezustehen habe, dergestalt daß sie im Diesseits das Wohlbefinden davon hätten und ich im Jenseits die Sündenlast. Die Zahl der Blinden, die bei mir leben, beläuft sich auf neunundzwanzig. Je zwanzig Personen kneten in einer Schicht den Brotteig, dessen Gewicht jeden Tag eineindrittel Irdabb45 beträgt. Die Zahl der Gäste, die mich alltäglich aufsuchen, erreicht – zuzüglich zu denen, die sich ständig in der Klause aufhalten – siebzig Personen. Allah, der Segensreiche und Erhabene, stellt mir alles zur Verfügung, was die zu ständigem rituellen Aufenthalt bei mir Weilenden samt ihren Ehefrauen brauchen. Nicht einer unter ihnen geht außerhalb der Klause einer Tätigkeit nach, aus der er Einkünfte erzielt; alles, was er gemäß der Scharia benötigt, findet er in der Klause. Nur ganz selten muß er irgend etwas auf dem Markt kaufen. Und je zahlreicher die Kinder der rituell bei mir Weilenden werden, desto mehr freue ich mich, ganz so, als wären es meine eigenen. An die vierzig der Männer, die in der Klause leben, habe ich verheiratet, und ich habe ihnen aus den Gaben, die Allah mir huldreich gewährt, den größten Teil des Brautgeldes bezahlt, desgleichen das Hochzeitsmahl und das Mahl zum Fest des Haaropfers.46 Auch führte ich die meisten von den Erwachsenen in mehreren Jahren mit auf die Pilgerreise nach Mekka, ohne einen von ihnen mit irgendwelchen Kosten zu belasten, es sei denn, er hätte etwas ohne mein Wissen bezahlt. Ich bemühte mich aufs äußerste, ihnen nichts aufzubürden; für ihre Frauen kaufte ich sogar die Liebesmedizin, damit sie davon ihren Nutzen hätten, und anderes. Dies ist, mein Bruder, ein Verhalten, das du vermutlich noch über keinen anderen Derwisch in allen Klausen Kairos

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gehört hast, außer über mich. Strebe danach, ebenfalls diesen Charakterzug anzunehmen, dann wirst du den rechten Weg wandeln…47

*** Kostgänger und Stiftungen – Die Versorgung der Klause mit Lebensmitteln – Die Derwische – Verwerfung der Feindseligkeit gegen das Diesseits – Zwischen Verwöhnung und Aufforderung zum Verzicht – Furcht vor Neid und Mißgunst – Die exponierte Stellung des Gottesfreundes – Geschenke für die Mächtigen – Die Gastmähler – Prestigefragen – Unaufrichtigkeit und Parteigeist – Der religiöse Sinn der Gastmähler – Inszenierung der Hingewandtheit zu Allah

Kostgänger und Stiftungen Aš-Šaʿrānīs Klause, am Rande des Teils von Kairo gelegen, der in der Fatimidenzeit entstanden war, darf man sich nicht als einen beschaulichen Ort denken, an dem Einzelgänger ein Leben der stillen, einsamen Gottesverehrung führen. Wenn er uns schon erzählte, wie, als er noch in der al-Ġamrī-Moschee weilte, die Stimmen der Teilnehmer an den Übungen des rituellen Gedenkens Allahs und des Gebets für den Propheten weithin schallten, so müssen wir uns auch seine eigene Klause als ein geräumiges Anwesen voller Betriebsamkeit vorstellen. Aš-Šaʿrānī, seine Familie und sein Gesinde machten nur einen kleinen Teil der Menschen aus, die ständig dort lebten oder sich Tag für Tag dorthin begaben. Sie alle fanden Verköstigung. Die Männer, die er angenommen hatte, damit sie sich, wie er es einst selber getan hatte, gänzlich der Verehrung des Einen verschrieben, wurden mit allem versorgt, so daß sie sich niemals über den Erwerb ihres Lebensunterhalts Gedanken machen mußten – und zum Lebensunterhalt, den Allah den Muslimen gewährt, gehören auch die Ehefrauen und die Kinder, die ebenfalls die Fürsorge aš-Šaʿrānīs genossen. Und die vielen Menschen, deren Reise zu Allah hin aš-Šaʿrānī sogar dadurch beschleunigte, daß er ihnen die Wallfahrt ermöglichte, vermochte er mit seinen schariatisch ganz unbedenklichen Mitteln zu ernähren und zu kleiden – im Idealfall, wie wir schon hörten, mit Mitteln, die ihm ohne irgendeine zielgerichtete Erwerbstätigkeit zuflossen und die, sofern die Quelle lauter war, eben gar nichts anderes sein konnten als die ihm durch den Schöpfer vor aller Zeit zugemessenen Güter. Selbst die Einkünfte aus Stiftungen waren bei strenger Erwägung nicht über jeden Zweifel erhaben, eben weil, ehe sie zur Verfügung standen, eine Verwaltungstätigkeit ausgeübt werden mußte, bei der mancherlei Fehler unterlaufen konnten. Außerdem mochte die freudige Erregtheit, mit der man den gesicherten Einkünften entgegensah, die Herzen von Allah ablenken. In Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Scharia gab aš-Šaʿrānī denen, die auf Dauer in der Klause wohnten und um die vollkommene Unterwerfung des Lebensvollzugs unter das Gesetz rangen, nur in Notfällen etwas aus Stiftungsmitteln; in Notfällen nämlich

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darf der Muslim auch Wein trinken oder Fleisch von Tieren verzehren, ohne daß er sich sicher ist, daß diese in schariatischer Weise geschlachtet wurden. In seiner Lebensbilanz spricht aš-Šaʿrānī dieses heikle Thema mehrfach an. Daß er sich weigerte, aus der Hand des Emirs Ǧānim al-Ḥamzāwī bestimmte regelmäßige Zuwendungen entgegenzunehmen, wurde schon erwähnt. Aš-Šaʿrānī hatte damals darauf hingewiesen, daß er sich nicht den Unterhalt verscherzen wollte, der ihm ohne eigenes Zutun, allein dank der Segenskraft des Gottesgesandten, in reichem Maße zuströmte, seitdem er in der al-Ġamrī-Moschee den Ritus der Gebete für den Propheten eingeführt hatte. Nie, so rühmt er sich, habe er sich auf Stiftungen und dergleichen verlassen. „Die meisten, die über eine Stiftung, ein Gehalt oder den Ertrag einer Liegenschaft verfügen, sind, wie du finden wirst, in wenig gesegneten Umständen, denn die Schulden lasten auf ihnen. So klagen und weinen sie immerfort, und dies nur, weil sie sich betreffs ihres Unterhalts nicht auf Allah verlassen, sondern auf die Einkünfte aus Liegenschaften und auf anderes. Wenn du, mein Bruder, daran zweifelst, dann befrage, ohne daß sie vorher deine Absicht kennen, alle, die sich so durchschlagen. Alle klagen und weinen! Der Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung liegt darin, daß ein jeder von ihnen, sobald er ein Festmahl oder eine Geburtstagsfeier ausrichten will, andere um Hilfe bitten muß. Wir aber haben schon so und so viele Hochzeitsmähler veranstaltet, ohne daß Allah uns gezwungen hätte, jemanden um Unterstützung anzugehen. Mir erzählte Meister ʿAbd al-Ḥalīm al-Manzilāwī: ‚Bei uns in der Klause waren die Güter, von denen wir lebten, mehr als reichlich, bis einer der Großen uns einige Grundstücke stiftete; da wurden die Güter in der Klause knapp, der Segen schwand. Wir waren gezwungen, uns die meiste Zeit Geld zu borgen, um für die Derwische Getreide und Beikost zu kaufen.‘ Im Prophetenḥadīṯ heißt es nämlich, Allah lehne es ab, den Lebensunterhalt seines gläubigen Knechtes anders als in einer Weise sicherzustellen, von der jener keine Vermutung hat.48 Der Muslim soll sich nämlich ganz Allah zuwenden, anders etwa als jemand, der ein ganzes Jahr lang seine Nahrung hortet und dabei kaum, äußerstenfalls selten, Allahs gedenkt.“49 In seinem Buch über die Viten der Gottesfreunde kommt aš-Šaʿrānī ebenfalls auf ʿAbd al-Ḥalīm al-Manzilāwī zu sprechen. An die einhundert Menschen hätten dessen Klause bevölkert; als dann große Stiftungen für diese Klause getätigt worden seien, hätten die Derwische immer wieder an die Einnahmen gedacht, die zu erwarten gewesen seien, und damit hätten die Schwierigkeiten angefangen.50 Die Versorgung der Klause mit Lebensmitteln Doch nicht allein Mängel, die die spirituelle Reinheit des Lebensunterhalts hätten beeinträchtigen können, wußte aš-Šaʿrānī zu vermeiden – und das bei der großen Zahl der Menschen, die er zu versorgen hatte! Selbst so berühmte Gottesfreunde wie

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Muḥammad al-Ġamrī, Sidi Madjan, ʿUṯmān al-Ḥaṭṭāb oder Ibrāhīm al-Matbūlī waren nicht einmal auf halb so viele gekommen. Deshalb war es eine ungewöhnliche Gnade Allahs, daß aš-Šaʿrānī den Backofen für das Brot der Derwische auf dem eigenen Anwesen betreiben konnte. Dieses lag, wie erinnerlich, unmittelbar am Ḥākimī-Kanal, und so gelangten zahlreiche Schiffsladungen mit Bohnenstroh dorthin – und dies ist ein Brennstoff, der rituell rein ist. „Nur in seltenen Fällen benötigten wir Mist“, der damals üblicherweise verfeuert wurde. Bei den Schariagelehrten war aber umstritten, ob das Feuer eine läuternde Kraft habe. In der Regel wurde dies verneint, so daß zu befürchten war, daß ein mit Mist unterhaltenes Feuer das Brot rituell verunreinigen könnte. Ibn al-Ḥāǧǧ, der alle Erwerbstätigkeit in lautere, auf das Jenseitsverdienst anrechenbare Gottesverehrung umwandeln wollte, machte sich über diese Gefahr seine Gedanken und bestand beispielsweise darauf, daß selbst die Hersteller von Dickmilch, die in Töpfen erhitzt wurde, ihre Gefäße nach jedem Gebrauch auch von außen sorgfältig und in einer so großen Menge Wassers wuschen, daß nach Maßgabe der Regeln der Scharia mit einer vollständigen Reinigung gerechnet werden durfte. Der Betreiber eines Backofens freilich ist in viel höherem Maße der Gefahr ausgesetzt, seine Glaubensgenossen zu schädigen und deswegen das Ziel zu verfehlen, das jedem Muslim vor Augen stehen muß, nämlich ein streng nach der Scharia geregeltes Leben zu führen. Dabei ist er, vergleichbar dem Müller, mehr als andere Handwerker verpflichtet, seine Arbeit unter der Absicht der Wahrung vollkommener ritueller Reinheit zu verrichten, denn was er tut, dient unmittelbar und tagtäglich dem Dasein der Menschen. Stattdessen kümmert es ihn meist wenig, daß er den Ofen mit Eselsmist heizt – der Dung von Kamelen, Rindern und Kleinvieh wäre wenigstens nach der malikitischen Rechtsschule nicht unrein. Sobald der ganze Boden des Ofens erhitzt ist, schiebt er die Glut in einer Ecke zusammen, dann wischt er den freigelegten Teil des Bodens mit einem feuchten Lappen aus, ohne diesen stets von neuem in einer hinreichend großen Menge Wassers zu reinigen, und mit den Händen, die nun durch das mit der Asche des Eselskots vermischte Wasser beschmutzt sind, ergreift er die ungebackenen Brote, um damit den Ofen zu beschicken. Und dann verzehren die Leute das Brot, das in derart gräßlicher Weise rituell verschmutzt ist! Ibn al-Ḥāǧǧ empfiehlt deshalb, man solle sich Stroh oder Halfagras zum Heizen beschaffen oder zumindest den Lehren des Mālik b. Anas folgen. Wenn der Kunde, der Tag für Tag seinen Teig dem Heizer anvertrauen muß, an dessen Arbeitsweise Zweifel hegt, dann bleibt ihm, so Ibn al-Ḥāǧǧ, nichts anderes übrig als nur den Kern des Laibes zu genießen.51 Welche Sorgen nahm aš-Šaʿrānī den Seinen ab!52 Die Einkünfte seiner Klause reichten für unbedenkliches Brennmaterial! Mit dem Bohnenstroh heizten die Frauen der in aš-Šaʿrānīs Klause wohnenden Derwische jeden Tag den Ofen, um Brot aus mehr als einem Irdabb Teig zu backen. „Keinem der Derwische in Kairo gelang dies, weder Sidi Aḥmad, dem Asketen, noch Sidi Madjan oder anderen, und

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dies, obwohl jene doch so einflußreich gewesen waren, solch einen hohen Rang eingenommen und den Gehorsam der Mächtigen genossen hatten! Auch außerhalb Kairos kenne ich keine Klause, die mehr Brot bäckt und in der die Zahl der Bewohner größer ist, abgesehen von jener al-Ġamrīs,53 der Klause Sidi Muḥammad ašŠanāwīs und dem Anwesen Aḥmad al-Badawīs. Lob sei Allah, der es bewirkt hat, daß der Ofen im Hause ist und die Derwische nicht darauf angewiesen sind, den Teig zum Backofen auf den Markt zu bringen, der mit Mist und anderem Unreinen geheizt wird, insbesondere weil an regnerischen Tagen und im Winter die Wege glitschig sind und Kälte herrscht!“54 Aš-Šaʿrānī fügt seiner Lebensbilanz eine Reihe weiterer Bemerkungen bei, aus denen die Brüder, für die sie geschrieben ist, sich ein Bild von der Menge der Waren machen sollen, die Allah zur Verfügung stellte: „Jedes Jahr an die zehn Qinṭār55 Bienenhonig und an die zwanzig Qinṭār eingedickten Saft des Zuckerrohrs; ferner dreihundert Irdabb Weizen. In der Zeit des Winters wurden jährlich insgesamt vierzig Irdabb Saubohnen gegart. Wir verbrauchten im Jahr sieben Irdabb Hafer, sieben Irdabb Reis, an die fünfundzwanzig Irdabb Erbsen und Linsen. Bei jedem Fest des Fastenbrechens stellten wir Kuchenteig im Gewicht von fünf Irdabb her, außerdem erhielten wir vom Lande drei Irdabb fertigen Kuchen; zusätzlich kaufen wir an Datteln, Johannesbrot und Feigen ungefähr fünf Qinṭār. Diese Verhältnisse trifft man heutzutage in keiner Klause Kairos an… Jedes Jahr (schenkt mir Allah) etwa zweitausend indische Melonen, die wir für die Gäste und für kranke Muslime aufbewahren; desweiteren beschenken wir damit Arme und Reiche. Wir haben alljährlich einen Vorrat davon, selbst wenn sie in Kairo kaum noch zu haben sind. Diese Melonen bauen wir auf der Insel an, die im Gebiet von Baršūm aṣ-Ṣuġrā56 liegt. Ferner zählt zu den Gnadengaben Allahs, daß wir auf dieser Insel so und so viele Schiffsladungen Brennholz schlagen, mit dem wir das ganze Jahr über kochen. Die meisten Klausen Kairos müssen das ganze Jahr Brennholz kaufen, desgleichen Melonen. Kein Derwisch in Kairo und kein Gelehrter bewahrt diese Dinge in seinem Haus auf und gibt sie dann anderen, indem er sich selber zurücksetzt. Nur wir handeln so.“57 Die Derwische All diesen Aufwand setzt aš-Šaʿrānī einzig und allein dafür ein, daß sich die Bewohner seiner Klause ohne Unterlaß dem Erwerb des Wissens hingeben können – so wie er selber einst in der Moschee al-Ġamrīs in die Welt des von Allah durch Vermittlung seines Propheten den Muslimen geschenkten Wissens eintauchte. Freilich darf man nicht mit einem überwältigenden Erfolg rechnen: „Heutzutage sind die Gefäße der Herzen löchrig; wenn dem nicht so wäre, dann gehörten die in der Klause Wohnenden inzwischen zu den größten Gelehrten. Doch leider verhält

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es sich mit ihnen wie mit den meisten Studenten, die nicht eine Lektion in einem Wissensgebiet abhalten können, ohne sie am selben Abend durchgenommen zu haben. Ich verfüge jedoch, Allah sei es gedankt, über so viel Wissen, daß es für alle Bewohner reicht.“ Sie haben es nicht nötig, die Klause zu verlassen und bei anderen zu studieren. Aš-Šaʿrānī scheut sich nicht vor der Behauptung, daß Allah ihm das Verstehen aller Wissenschaft eingegeben hat, die überhaupt bekannt ist. Wenn jemand es fordert, wird es aš-Šaʿrānī darum nicht schwer, das islamische Recht nach einer jeden der vier Schulen zu unterrichten, wenn er selber sich auch allein der schafiitischen verbunden weiß. Ihm steht klar vor Augen, worüber die Schulgründer uneins waren und auf welche Überlieferungen sie sich in ihrem Streit berufen. Viel hält aš-Šaʿrānī sich darauf zugute, daß er allein zu erkennen vermochte, inwiefern man nur auf die Quellen, aus denen die Altvorderen ihre Ansichten schöpften, den Blick richten muß, damit einem zu Bewußtsein kommt, daß aller Zwist nur Schein ist.58 Alle Aufwendungen, die aš-Šaʿrānī leistet, alle Anstrengungen, die er unternimmt, haben nur ein Ziel: den Derwischen zu nutzen. „Doch sobald ich bemerkte, daß sich einer von ihnen allein um der Liebe zum Diesseits willen dieser Lebensweise verschrieben hatte, schreckte mein Sinnen vor ihm zurück. Es entstand kein Band der Zuneigung zwischen ihm und mir, selbst wenn er sich Tag und Nacht bei mir aufhielt.“ Wer sich so uneinsichtig zeigt, muß die Klause verlassen. Denn wenn solch ein Mensch auch nur ein wenig von der Skrupelhaftigkeit und ihrer Bedeutung begriffen hätte, dann stünde ihm unentwegt vor Augen, daß man nur dann von den Stiftungseinkünften zehren darf, wenn eine von der Scharia anerkannte ernste Notlage dies zulasse. Ausschließlich denen, die über das Diesseits hinausgelangen und sich vollkommen dem göttlichen Bestimmen einfügen wollen, ist der Verbrauch des gestifteten Gutes gestattet.59 Aš-Šaʿrānī spielt hier auf die Worte des Korans an, die den Kreis der Personen umreißen, die in den Genuß von Zuwendungen kommen dürfen, die der Gemeinschaft der Muslime übergeben werden; Sure 9, Vers 60 nennt die Armen und die Bedürftigen – „die Armen“, das aber ist der Begriff, mit dem die Derwische bezeichnet werden, und so deutet aš-Šaʿrānī die Aussage des Korans in einem Sinne, den sie in der Zeit Mohammeds noch gar nicht haben konnte: Nur echten Derwischen darf die Stiftung nutzen, jenen, die gegen die Welt Enthaltsamkeit üben. Was aber heißt Enthaltsamkeit gegenüber dem Diesseits? Aš-Šaʿrānī verweist zunächst auf die christlichen Mönche; sobald sich einer von ihnen der Welt zuwendet, führen seine Ordensbrüder Klage gegen ihn vor dem „Obmann der Kirche“ und vertreiben ihn, denn sie befürchten, die ganze Gemeinschaft könnte sich von seinem Irrtum anstecken lassen. Wenn mithin selbst bei den Andersgläubigen die Enthaltsamkeit hochgeschätzt wird, um wieviel mehr muß dies bei den Muslimen gelten, meint ašŠaʿrānī. Er beruft sich auf Ibn ʿArabī, der in seinen Mekkanischen Eröffnungen davon spreche, daß in allen Religionen eine asketische Gesinnung gepredigt werde und die

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Scharia verlange, daß alles, was in eine Stiftung für einen bestimmten Personenkreis eingebracht wurde, allein diesem zugute komme.60 Enthaltsamkeit meint nach muslimischer Überzeugung keine Feindseligkeit gegen das Diesseits, keinen Welthaß, sondern den bedachtsamen Griff nur nach den Gütern, die, wie wir hörten, ohne Zweifel Teil des Lebensunterhalt sind, den Allah schon vor aller Zeit – wie alḤasan al-Baṣrī meinte, zweitausend Jahre vor der Erschaffung der Leiber61 – festgelegt hat. Verwerfung der Feindseligkeit gegen das Diesseits In der muslimischen Frömmigkeit wußte man, wie wir uns erinnern, schon seit dem 8. Jahrhundert sehr genau zwischen einer als Ausdruck der Verachtung des Diesseits geübten Askese und einer skrupelhaften Vorsicht in der Aneignung dessen zu unterscheiden, was einem die Schöpfung bietet.62 Askese, die einem Gefühl des Ekels vor dem Diesseits entspringt, Askese auch, die die Aufmerksamkeit der Glaubensbrüder erringen will, belegt nur zu deutlich die Herrschaft ichhafter Gedanken; sie kann demnach die Sache eines Gottesfreundes nicht sein. Die Welt ist schließlich das Werk des gütigen Allschöpfers und Allerhalters, und schon aus Achtung vor ihm verbietet es sich, sie zu hassen und zu verwerfen. Man nehme daher in Dankbarkeit das, was einem zugedacht ist, prüfe aber stets genau, ob man nicht, womöglich unbeabsichtigt, über dieses Maß hinausgreift. Es mag nämlich sein, daß man sich an gute Speisen gewöhnt und sich dann auf Zweifelhaftes einläßt.63 Autoren vom Schlage eines Ibn al-Ḥāǧǧ stellen dem gemeinen Mann die gleiche sich der Fügung des Schöpfers einbeschreibende Lebensweise in Aussicht, wie sie in der im Prolog wiedergegebenen Episode noch dem Gottesfreund vorbehalten ist. Aš-Šaʿrānī betont, daß er seine Brüder, die in der Klause zu gottgefälligem Tun wohnten, so gut erzogen habe, daß sie nicht auf den Gedanken verfielen, ohne Erlaubnis von den Nahrungsmitteln zu essen, die in reichem Maße einkamen. Sie nahmen es hin, daß sie alle in gleicher Weise berücksichtigt wurden; das Alter bedeutete keinen Vorrang. „Ich befahl dem Obmann, alles, was der Klause zufloß, sei es Honig, sei es Obst, so zu verteilen, wie man in Medina das Getreide an die ausgibt, die sich dort rituell aufhalten. So kann es vorkommen, daß jeder nur eine Feige oder einen einzigen Pfirsich erhält. Wenn man nun voraussetzt, daß der Meister der Klause die Schwierigen, Unedlen, Durchtriebenen bei sich hütet, aber einen von ihnen mit irgendeiner Sache bevorzugt, dann verstößt er gegen die Grundsätze der Derwische, und Allah wird ihnen unweigerlich den Unterhalt entziehen. Denn zwar ist es so, daß die Essenden, je zahlreicher ihre Atemzüge sind, desto mehr Unterhalt herbeileiten. Doch kann es auch geschehen, daß dreißig Durchtriebene mit ihren Atemzügen nicht so viel herbeileiten wie ein einziges Waisenkind oder ein einziger Blinder.“64 Es war ein schwieriger Balanceakt, den aš-

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Šaʿrānī Tag für Tag durchzustehen hatte – einerseits mußte er darauf achten, daß er nur das austeilte, und zwar in gleichen Portionen, was er für den ihm und allen von Allah bereitgestellten Unterhalt erkennen konnte, andererseits mußte er, wenn er zu knauserig war, gewärtigen, daß die Derwische murrten und ihn vielleicht verließen, womit ein kaum wiedergutzumachender Verlust an Ansehen verbunden gewesen wäre. Alle diese Schwierigkeiten, die sich aus dem inzwischen ausgiebig erörterten Verständnis von göttlicher Fürsorge ergaben, waren nämlich von Fragen des Prestiges überlagert. Schmolz die Zahl der Anhänger, der bei ihm weilenden Derwische, dahin, dann vielleicht auch die Zahl der Gönner, die an ihn und seinen Zutritt zum Verborgenen glaubten. Die wirtschaftliche Grundlage der Klause geriet in Gefahr, andere Gottesfreunde mochten sich in den Vordergrund spielen, ihn ausstechen. Allzu aufdringlich durfte aš-Šaʿrānī den Wohlstand jedoch auch nicht zur Schau stellen. Denn Neid und Mißgunst und etwaige Verleumdungen konnten ebenfalls Schaden stiften. Immer wieder berührt er darum diese heiklen Punkte, die ihm zu schaffen machten, seit er zu einem bekannten und erfolgreichen Gottesfreund geworden war. Zwischen Verwöhnung und Aufforderung zum Verzicht Man durfte die Männer, die um Anschluß an die Gemeinschaft nachsuchten, nicht gleich verprellen, indem man ihnen die ganze Wahrheit über das Derwischtum enthüllte, doch ebenso wenig war es ratsam, sie an einen angenehmen Müßiggang zu gewöhnen, nur um sich ihrer Treue zu versichern. Aš-Šaʿrānī behandelte alle Adepten äußerst zuvorkommend und freundlich, wenn er ihnen zum ersten Mal begegnete, und verzichtete darauf, schon jetzt ihre Aufrichtigkeit auf die Probe zu stellen. Dies solle nicht geschehen, bevor sie mit dem Pfad und seinen Eigenheiten vertraut geworden seien. Als warnendes Beispiel war ihm das Erlebnis eines befreundeten Meisters im Gedächtnis geblieben, der nicht einmal absichtlich seine Anhänger zum Tragen rauher Wollkleidung und zum Verzehr von Brot aus ungesiebtem Gerstenmehl genötigt hatte. Aber es ist schon so, seufzt aš-Šaʿrānī, man kann der berühmteste Gottesmann Ägyptens sein, wenn die Derwische meinen, ihnen werde zuviel Verzicht auferlegt, sehen sie sich nach einem anderen um. Sein Freund war mit einer Schar von Zöglingen, an die einhundert Mann, durch die Provinzen westlich des Nildeltas gestreift und überall aufs beste bewirtet worden; Süßigkeiten, Geflügel hatte man zubereitet, Kleinvieh geschlachtet. Doch eines Tages mußte der Meister in die Gebiete östlich des Deltas überwechseln; die Adepten begleiteten ihn. Dort jedoch bot man ihnen nichts weiter als Saubohnen und mit Fett verrührten Gerstenbrei an. Die Derwische begannen, hinter vorgehaltener Hand zu nörgeln; hatten sie im Westen noch frohgestimmt ausgerufen: „Diese Tage mit unserem Meister, das ist wirklich ein Leben!“ so verkrümelten sie sich jetzt einer nach

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dem anderen, bis der Meister schließlich ganz alleine war. Nur um das gute Essen war es ihnen gegangen, nicht um die Annäherung an Allah! Einige freilich kamen danach zur Besinnung und schämten sich. Sie kehrten reumütig zurück, aber der Meister wies sie ab. Er wollte den Bewohnern der Gegenden, durch die er zog, nicht mehr derartige Lasten aufbürden. „Behandle deine Brüder heutzutage wie die kleinen Kinder, die noch keinen Verstand haben!“ rät aš-Šaʿrānī dem Leser seiner Lebensbilanz, „leg ihre Aufrichtigkeit nicht auf die Waagschale, denn sie werden dann alle fliehen!“65 Allzu aufwendig darf der Lebensstil des Gottesfreundes aber auch nicht sein. Aš-Šaʿrānī ist froh, daß seinem Selbst eine Abneigung gegen luxuriöse Speisen eingepflanzt ist, die in kostbaren Schüsseln aus Porzellan oder europäischem Glas serviert werden. Desgleichen empfindet er einen Widerwillen gegen feine Wollstoffe, hochwertiges venezianisches Tuch und gegen Leinen aus Qandahar. Letzteres ist in Kairo ohnehin nur noch ganz selten auf eine schariatisch unbedenkliche Weise zu erwerben – eine Bemerkung, die auf den Niedergang des Transithandels zwischen Europa und Indien hinweist, der einst eine bedeutende Einnahmequelle Ägyptens gewesen war. Aš-Šaʿrānī tröstet sich über diesen Mangel mit dem Gedanken hinweg, daß auch der Prophet nur einen Turban aus grober Baumwolle getragen habe, und Jesus habe seinen Jüngern eingeschärft: „Für die Sterblichen ist es schon sehr viel, wenn sie Gerstenkleie und Asche essen, rauhe Gewänder tragen und auf Kehrichthaufen schlafen.“ Wenn ein Derwisch sich in vornehme Kleidung hüllt und auf einem edlen Reittier daherkommt, dann muß man sich stets fragen, wie er es wohl mit der Skrupelhaftigkeit hält, die seinem Stand angemessen ist. Kann es nicht sein, daß er leichtsinnig über den Lebensunterhalt, der ihm bestimmt ist, hinausgreift? Nur bei den ganz Großen in der Gottesfreundschaft ist solcher Argwohn überflüssig, denn ihnen manifestiert sich der Eine Wahre oft als der Freundliche, nicht als der Erhabene und Abschreckende; für sie siebt er noch aus dem Kot des Anrüchigen und aus dem Blut des Verbotenen das Erlaubte heraus. Die köstlichen Speisen, die prächtigen Gewänder, die rassigen Reittiere, die ihnen zu Gebote stehen, beweisen dies. Einst trug es sich zu, daß Ibn Zunbūr, der mächtige und verhaßte Wesir des Sultans an-Nāṣir b. Qalāʾūn (reg. 1294 – 1340), am ZuwailaTor auf ʿAlī b. Wafāʾ traf, den beliebten Gottesfreund, der ihm wie ein König mit seinem Gefolge erschien. „Was bleibt eigentlich uns noch?“ fuhr es dem Wesir durch den Sinn. Im selben Augenblick befahl ʿAlī b. Wafāʾ einem der Diener, die ihn umgaben: „Geh und flüstere ihm ins Ohr: ‚Euch läßt man nur den Kot des Diesseits und die Strafe im Jenseits übrig.‘“ Und nach wenigen Tagen fiel Ibn Zunbūr beim Sultan in Ungnade und ging aller Reichtümer verlustig. – Der Wesir wurde 1352 gestürzt und nach Qus in Oberägypten verbannt, wo er kurz darauf starb. Ibn Ijās gibt in seiner Chronik eine Liste des Vermögens wieder, das man damals einzog, ein eindrucksvolles Zeugnis der Raffgier jenes Würdenträgers.66 – „Hüte dich, und noch

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einmal, hüte dich“, warnt aš-Šaʿrānī den Leser, „jemanden zu tadeln, den du in dieser Zeit in einem solchen Aufzug erblickst (wie ihn einst ʿAlī b. Wafāʾ aufbieten konnte)!“ Der leiseste Hauch von Mißgunst wäre ganz und gar unangebracht, und die Folgen allein eines derartigen Gedankens können verhängnisvoll sein. Das lehrt der Fall des Ibn Zunbūr. Furcht vor Neid und Mißgunst Aš-Šaʿrānī vermeidet lieber, sich unter die großen Gottesfreunde zu rechnen. Wenn er seine Zeitgenossen mit Prachtentfaltung blendete, dann riefe er ihren Neid hervor und müßte fürchten, sich nicht nach der Art ʿAlī b.Wafāʾs zur Wehr setzen zu können. Ihm bleibt nichts als die Gratwanderung, unvollkommen wie er ist. Er gehört zu denen, die nur durch Selbsterniedrigung die Mittel erlangen könnten, um sich mit Glanz und Reichtum zu umgeben; ihn also müßte man eines Mangels an Skrupelhaftigkeit zeihen, ihn und viele andere. Denn ist es nicht wahr, daß man heutzutage nur dann wohlhabend wird, wenn man sich ganz den Missetätern ausliefert, die die Herrschaft ausüben? Heute, wo man kaum anders seine Nahrung finden kann als unter der Gefahr des Todes?67 Dabei ist es keineswegs so, daß ašŠaʿrānī in Lumpen einhergehen müßte; er hat alles, auch teure Kleidung. Aber er verrät den Brüdern, für die er dies alles niederschreibt, daß er sie nur zu einem von der Scharia gebilligten Zweck überzieht, und zwar dann, wenn es gilt, reiche und vornehme Leute für sich zu gewinnen. Diese legen nun einmal auf dergleichen Wert und fühlen sich beim Anblick schäbiger Stoffe abgestoßen. Die Scharlatane unter den Derwischen machen sich dies zunutze und treten stets in einem blütenweißen Gewand auf, dessen hohen Preis jedermann erkennt.68 Auch beim Ausritt achtet ašŠaʿrānī auf Bescheidenheit, um dem neidischen Gerede der Menschen zu entgehen, desgleichen dem versteckten Vorwurf, er prüfe nicht sorgfältig genug, wo die Grenze dessen liegt, was Allah für ihn vorsieht. Es wäre aš-Šaʿrānī unangenehm, wenn einer oder mehrere Brüder aus seiner Gemeinschaft vor seinem Reittier hergingen. Er läßt dies nur zu, wenn es notwendig ist, das Reittier vor einer Menschenmenge anzuhalten, vor allem, wenn es sich um Greise oder Blinde handelt. Ganz oft aber befiehlt er seinen Zöglingen, sich vor ihm an einen bestimmten Ort zu begeben, den er aufsuchen will. Damit nimmt er allen den Wind aus den Segeln, die anderenfalls über ihn Bosheiten verbreiten würden. Ganz verwerflich wäre es nämlich, der Anhängerschaft ihren Platz hinter dem eigenen Reittier anzuweisen. Das widerspräche der guten Sitte, die der Prophet einst begründete, als er nicht zuließ, daß Abū Huraira hinter ihm herschritt; er befahl ihm, ebenfalls aufzusitzen, doch sobald sich herausstellte, daß zwei Männer nicht auf dem Maultier reiten konnten, bestand er darauf, daß jener vor ihm hergehe, ein Zeichen der Demut des Propheten, meint aš-Šaʿrānī. Um nur kein Aufsehen zu erregen, hätten manche Gottesfreunde wie Abū

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l-Ḥasan al-Ġamrī, wenn sie ihre Klause verließen, sich nur an abgelegene Orte begeben, die von wenigen Menschen aufgesucht wurden.69 Die exponierte Stellung des Gottesfreundes Der Lebensunterhalt und wie er erworben und wozu er verwendet wird, das sind die für jedermann sichtbaren Seiten der Gottesfreundschaft. Hier muß sich jeden Tag aufs neue beweisen, daß diese Männer sich ganz dem göttlichen Bestimmen ausgeliefert haben. Erringt jemand wie aš-Šaʿrānī hier das Vertrauen, wenn nicht gar den „Glauben“ des gemeinen Volkes, dann wird er gleichsam zu einem Magneten, der die Eisenspäne nach seinen Kraftlinien anordnet – nicht nur die eigenen Adepten, sondern alle Muslime, die in seine Nähe geraten: Sie richten sich gemäß der gottgewollten Daseinsart aus. So wirkt der Gottesfreund weit über seine Klause hinaus und formiert die muslimische Gesellschaft, indem er all ihre Glieder zu dem Einen Wahren hinwendet und sie fortan in solcher Hingewandtheit festhält, und zwar beständiger als es die Machthaber und ihre Beauftragten je vermocht hätten. Um 1535 schrieb aš-Šaʿrānī einen Leitfaden für die Derwische seiner Klause. Das erquickende Nilwasser:70 über die Verpflichtungen und Gelöbnisse nannte er dieses Werk, das er später überarbeitete und dem er mehrere ähnlichen Inhalts an die Seite stellte, so vor allem eine umfangreiche Sammlung der Versprechen, die man im Einklang mit Koran und ḥadīṯ den Adepten abzuverlangen habe; denn sollten sie es an der Beachtung ihrer Gelöbnisse fehlen lassen, wären sie aus der Klause zu weisen.71 Im Erquickenden Nilwasser hatte aš-Šaʿrānī die Untermauerung seiner Aussagen durch die beiden autoritativen Textgattungen verabsäumt, was ihm herbe Kritik eingetragen hatte.72 Dieser Mangel bot allerdings nur, wie wir noch erfahren werden, den Anlaß für die Kritik, die Ursachen liegen viel tiefer und haben mittelbar mit dem Umschwung der Verhältnisse zu tun, der durch die Vernichtung des Mamlukenregimes ausgelöst wurde. Die Regeln der Meisterschaft der „Leute“ ähneln denen der Marktaufsicht,73 belehrt aš-Šaʿrānī den Leser. Sie beschränkt sich auf den klugen, mit Zurückhaltung vorgebrachten Ratschlag und hat mit dem Ausüben von Macht nichts gemein. Es wäre ganz untunlich, wollte der Marktmeister sich gegenüber den höheren Würdenträgern und den Reichen groß aufspielen. Vor allem dann hat er sich strengste Zurückhaltung aufzuerlegen, wenn diese ihren Konkurrenten neidlos jeden Erfolg gönnen. Sollten die Mächtigen des Marktes einen Groll gegen den Meister fassen, wird dieser überhaupt nichts mehr bewirken. Geduld, auch im Ertragen von Kränkungen, und ein hohes Maß an Diskretion werden vom Marktmeister gefordert. Sollte er beides nicht aufbringen können, dann wird es ihm nicht gelingen, die Menschen voreinander zu schützen, nämlich gegen den ihnen angeborenen Trieb, ihresgleichen zu übertrumpfen. „Schau, Bruder, wie der Marktmeister auf einem Seil entlangschreitet, das von Minarett zu Minarett ge-

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spannt ist, mit der Waage“ – gemeint ist die Balancierstange – „in der Hand!“ Ohne sie neigte er sich stärker und stärker zu einer Seite, müßte schließlich abstürzen und bliebe zerschmettert am Boden liegen.74 – Wir ahnen nun, wie peinlich genau der Gottesfreund sich selber beobachten muß, wie scharf seine Mitmenschen ihn mit Blicken fixieren und welch weitreichende Wirkungen im Idealfall von ihm ausgehen sollen. Vorerst betrachten wir allerdings weiter das Äußere seines Lebensstils. Auch dieser galt als eine schwierige Kunst, in der die Gottesfreunde sich Tag für Tag zu bewähren hatten. Sie mußten auf der einen Seite so viel Ansehen erwerben, daß jedermann sichtbar wurde, daß sie es waren, denen man, wenn man die Grenzen des von Allah festgelegten Unterhalts überschritten hatte, großzügige Tilgungsraten solcher Schuld anvertrauen durfte. Auf der anderen Seite sollte der Gottesfreund, wenn ihm die Fülle der Gelder und Güter zur Verfügung stand, nicht allzu sehr mit seinem Wohlleben prunken. Freilich besaß er nur, was Allah ihm bestimmt hatte, und das durfte er guten Gewissens für sich nutzen. Aber dies mußte in Demut geschehen, gleich wie der Prophet nicht duldete, daß der junge Abū Huraira hinter ihm lief, sondern ihn zunächst zum Mitreiten aufforderte und, sobald sich dies als unmöglich erwies, ihn vorangehen hieß. Ein wesentliches Teilgebiet der schwierigen Kunst bestand in dem Geschick, mit dem der Gottesfreund das Vermögen einsetzte, um sein Prestige zu erhöhen. Liest man aš-Šaʿrānīs Lebensbilanz, dann gewinnt man zuerst den Eindruck, es sei allein wichtig, die Schar der Zöglinge zu vergrößern und so zu versorgen, daß sie stets zufrieden ist und sich ohne Murren der Gottesverehrung widmet, dann vielleicht auch das Loblied ihres Meisters singt – was aš-Šaʿrānī in einer Bescheidenheit, die der Leser als gespielt auffaßt, jedenfalls für seine Person ablehnt – um schließlich darauf zu warten, daß sich Emire und andere Würdenträger gedrängt fühlen, diesen Meister zum Empfänger der Sühnegaben zu erwählen. Das ist jedoch ein Irrtum. Der Meister muß selber zusehen, wie er durch den richtigen Einsatz seiner Mittel das einmal errungene Prestige bewahre und womöglich vermehre. Es ist keineswegs so, daß ein tatenloses Abwarten ausreicht. Innerhalb des Rahmens des von Allah festgelegten Unterhalts hat der Gottesfreund Aufgaben zu erfüllen, die nicht gering sind, auch wenn sie nach der geläufigen Vorstellung von der göttlichen Fürsorge, die wir von unterschiedlichen Seiten her ausloteten, mit einem eigenständigen Erwerb von Mitteln der Daseinsfristung nichts zu tun haben. Geschenke für die Mächtigen Zu den Gnadengaben, mit denen aš-Šaʿrānī durch Allah begünstigt wurde, zählen die vielen prächtigen Gewänder, die man ihm schenkte. Er behielt sie nicht für sich, auch verteilte er sie nicht unter seine Zöglinge, die sich in ihnen wahrscheinlich

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etwas wunderlich ausgenommen hätten. Er übergab sie vielmehr bedeutenden Persönlichkeiten. Einer der Obmänner seiner Klause führte darüber eine Liste, die aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz überliefert. Sie zeigt dem aufmerksamen Leser, wie hartnäckig der Gottesfreund bemüht sein mußte, sich nach vielen Seiten abzusichern und die Gewogenheit einflußreicher und mächtiger Männer zu erringen. „Meister Nūr ad-Dīn aš-Šūnī hatte die Güte, aus meiner Hand einen Überrock im Wert von zweihundert Niṣf anzulegen; desgleichen Meister Abū l-ʿAbbās al-Ḥarīṯī (gest. 1538) eine schwarze Jacke mit weiten Ärmeln.“ – Wie mit aš-Šūnī verband ašŠaʿrānī auch mit al-Ḥarīṯī eine enge spirituelle Freundschaft. Al-Ḥarīṯī war im übrigen ein Gottesfreund, der das sogenannte freiwillige Derwischtum scharf verurteilte, eine Bewegung, die glaubte, ohne einen Meister auskommen zu können. Das sei ganz unmöglich, meinte al-Ḥarīṯī, denn es gereiche den Zöglingen des Pfades zum Schaden, wenn sie niemals den Zorn eines Meisters spürten, sondern sich selber überlassen blieben. Al-Ḥarīṯī schmähte solche Leute als Wegelagerer, die die Armen auf dem Lande überfielen und die Erziehung des Charakters ganz vernachlässigten. Doch stand al-Ḥarīṯī nicht nur wegen der Ansichten über Erziehung und Meisterschaft aš-Šaʿrānī nahe. Er hatte diesem einst zu geduldigem Ausharren geraten, vielleicht in der Krise, die sich anbahnte, als in der Mitte des 16. Jahrhundert die osmanische Verwaltung noch einmal sehr energisch die Frage der Nutzbarmachung Ägyptens für den Fiskus in Angriff nahm und aš-Šaʿrānī wegen des uns schon bekannten Mangels an Urkunden in Bedrängnis geriet. Jedenfalls sei al-Ḥarīṯī bei dieser Gelegenheit seinem Grab in Damiette entstiegen, nach Kairo geeilt und habe sich in einer Entfernung von nur fünf Ellen vor aš-Šaʿrānī hingestellt.75 – „Desgleichen hatte Sidi Muḥammad, der Sohn Sidi Abū l-Ḥasan al-Ġamrīs, die Güte, aus meiner Hand einen Überrock im Wert von dreihundert Niṣf anzunehmen, als ihn die Räuber auf dem Lande überfallen und entblößt hatten.“ Einen Neffen des Gottesfreundes ʿAlī al-Marṣafī beschenkte aš-Šaʿrānī gar mit einem neuen Überwurf, der nicht weniger als vierzig Dinar teuer gewesen sein soll. Einem Meister, der in der al-Ḥākim-Moschee, unweit der Klause aš-Šaʿrānīs, tätig war, überreichte er ein kostbares Gewand aus feinem Seidenstoff in Baalbeker Machart. Das Oberhaupt der Gemeinschaft des Aḥmad al-Badawī bedachte er mit einem wollenen Kleidungsstück, das er von dem Beduinenfürsten Muḥammad b. Baġdād bekommen hatte; auch andere Mitglieder dieser Gemeinschaft durften sich über Geschenke aš-Šaʿrānīs freuen. Er nennt unter anderen einen Diener am Heiligtum in Tanta sowie den Mann, der dort das Becken mit Wasser füllte, mit dem man die rituelle Waschung vollzog. Offensichtlich war es dringend geboten, sich die Gunst der einflußreichen Badawī-Gemeinschaft zu bewahren. Aš-Šaʿrānī stiftete mit dem Verschenken von Gewändern jedoch auch freundschaftliche Beziehungen zu Gelehrten, die noch nicht als Meister des spirituellen Pfades Ruhm erworben hatten. So ehrte er Meister Zain al-ʿĀbidīn mit einem Gewand aus grüngefärbter Wolle

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und dessen Diener mit einer roten Jacke und einem schwarzen Turban; der Diener, so schreibt aš-Šaʿrānī, sei nämlich ein Mann, der Abū Bakr und ʿUmar liebe.76 – Mit Zain al-ʿĀbidīn b. Nuǧaim gewinnt aš-Šaʿrānī Verbindungen zu der unter den Osmanen führenden hanafitischen Rechtsschule. In den Viten seiner Zeitgenossen, einer kleinen Schrift aš-Šaʿrānīs, die man als eine Ergänzung zu seinen größeren prosopographischen Werken77 über die „Leute“ betrachten muß, kommt er auf Ibn Nuǧaim (gest. 1562) zu sprechen. Er sagt, daß er ihn schon etwa ein Jahrzehnt kenne und Anfang 1547 mit ihm zusammen auf die Pilgerreise gegangen sei, und eine Reise lege den Charakter des Menschen frei; er trete über die Grenzen hinaus „und macht offenkundig, ob er gut oder schlecht ist“. Ibn Nuǧaim habe ihn einst gefragt, ob es nicht besser sei, das Lehren und das Verfassen von Gutachten aufzugeben und stattdessen sich völlig dem Pfad der Leute zu überantworten; doch aš-Šaʿrānī habe dem Freund geraten, davon so lange Abstand zu nehmen, wie er sich nicht ganz sicher sei, daß er das Wissen der Scharia bis in alle Verästelungen beherrsche. Schließlich habe Ibn Nuǧaim sich nicht mehr davon abhalten lassen, seinen Wunsch zu verwirklichen, und sei von Meister Sulaimān al-Ḫuḍairī78 auf den Weg des Erkennens geführt worden.79 Kostbare Stücke, vielleicht auch solche, denen in der Osmanenzeit ein gewisser Hautgout anhaften mochte, übergab aš-Šaʿrānī seinen Schwägern; einer von ihnen erhielt ein Gewand, das einst Qānṣauh al-Ġaurī gehört hatte. In gleicher Weise zeigte sich aš-Šaʿrānī seinem älteren Bruder ʿAbd al-Qādir erkenntlich, dem er die Anfänge seiner Bildung verdankte. Ihm, dessen Kindern und Kindeskindern schenkte er viele Tücher und Kleider, darunter einiges aus dem Besitz al-Ġaurīs. In der Liste überwiegen die Namen von Meistern des Pfades eindeutig, aber man stößt auch auf andere Personen. Dem Emir Muḥjī d-Dīn b. abī Iṣbaʿ, dem aš-Šaʿrānī so viel schuldete und um dessentwillen er einst fast zu Tode gekommen wäre, überreichte er eine weiße Jacke, die vorher Meister Nūr ad-Dīn aš-Šūnī getragen hatte.80 In diesem Falle war es ihm darum zu tun, seinem Gönner die Segenskraft, die an jenem Kleidungsstück haftete, zu übermitteln. Bisweilen lassen die spärlichen Angaben der Liste auch einen Zweck durchscheinen, der ganz vordergründig ist. Würdenträger erhielten Kleidungsstücke, damit sie einen Teil ihrer Schulden begleichen oder Kriegsgefangene auslösen konnten. Einem Gottesnarren erfüllte er die Bitte um ein Gewand, ohne daß eigens ein Grund genannt werden muß. Zu sehr fürchtete man die Macht dieser unheimlichen Männer. Naheliegend war es auch, die lokalen Machthaber in der Umgebung Kairos durch derartige Gaben gewogen zu stimmen; aš-Šaʿrānī nennt mehrere Beispiele hierfür. Vor allem aber während der Pilgerreise war es unerläßlich, einen großen Vorrat an Kleidungsstücken mit sich zu führen. An den Wasserstellen wurden die Frauen der Beduinen bedacht; schließlich durfte man sich die räuberischen Stämme nicht zu Feinden machen. In Medina traf ašŠaʿrānī einmal auf einen Mann, der ihm anbot, ihn an das Grab des Propheten zu

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führen. Es stellte sich heraus, daß dieser Mann einen Namen hatte, in welchem ašŠaʿrānī ein günstiges Omen vermutete. Der Fremdenführer trat mit dem Gast vor den Gottesgesandten und erbat von diesem alles Gute im Diesseits und Jenseits, und dies in einer Weise, daß aš-Šaʿrānī sich beschämt fühlte. Er jedenfalls hätte es nie gewagt, im Angesicht Mohammeds solche Bitten auszusprechen. Auf der Stelle entledigte sich aš-Šaʿrānī seiner Jacke und legte sie jenem um die Schultern, dem man sie danach um einen guten Preis abkaufen wollte. Überhaupt, schreibt aš-Šaʿrānī, herrsche im Hedschas ein Mangel an Kleidern, was ihn bei einer Wallfahrt gezwungen habe, dem eigenen Sohn das Hemd wegzunehmen und ihn mit dem Hinweis zu trösten, in Kairo werde es ein leichtes sein, wieder eines zu beschaffen. „Ich habe dir, mein Bruder, einige von denen genannt, denen ich Kleider schenkte, und du sollst mich darin nachahmen und den Brüdern und anderen, solchen, die du kennst, und solchen, die dir unbekannt sind, nach meinem Beispiel austeilen. Fürchte dabei nicht die Armut, denn Allah sagt: ‚Alles, was ihr aufwendet, wird er euch ersetzen!‘ (Sure 34, 39) und ‚Diejenigen, die ihr Vermögen auf dem Pfade Allahs ausgeben, sind wie ein Getreidekorn, das sieben Ähren hervorsprießen läßt, in jeder einhundert Körner. Allah entgilt alles demjenigen, bei dem er es will, um ein Vielfaches. Allah umfaßt alles und weiß alles!‘ (Sure 2, 261). Bis auf den heutigen Tag habe ich, Allah sei es gedankt, niemals davon Abstand genommen, den Leuten Gewänder und Geld zu geben – und Allah hat mich nichts anderes sehen lassen als reichlichen Unterhalt. Bei Allah, wüßte ich, daß irgend jemand in Kairo unter Wahrung der guten Absicht, unter Verzicht auf das Gut des Diesseits und bei Begnadung durch leichtes Einkommen gleich viele Kleider wie ich verschenkt hat, machte ich meine Brüder auf ihn aufmerksam, damit sie sich ihn zum Vorbild nähmen, und versteckte mich selber! Doch ist mir niemand bekannt geworden, dem Ähnliches widerfahren wäre. Die Handlungen werden von Allah eben nach den Absichten beurteilt!“81 Die Gastmähler Bei keiner Gelegenheit zeigten sich die Verbindungen in die höchsten Kreise, über die ein Gottesfreund verfügte, so sehr im Lichte der Öffentlichkeit wie bei den Gastmählern, die er veranstaltete oder die man zu seinem Geburtstage ausrichtete. Bei keiner anderen Gelegenheit auch ließen sich das Ansehen, das er bei seinesgleichen hatte, und die Ehrfurcht, mit der ihm die Menge der einfachen Derwische und das gemeine Volk begegneten, beeindruckender zur Schau stellen. Die Gelage offenbarten den Rang, den jemand in der Gesellschaft einnahm, und so war es ratsam, sich hierin nicht die geringste Nachlässigkeit zu erlauben, wenn man einmal so weit aufgestiegen war, daß von einem derartige Bewirtungen erwartet wurden. Den osmanischen Eroberern waren diese Bräuche fremd und unver-

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ständlich, und sie zeigten sich, wie schon erwähnt, ungehalten über die häufigen Bitten um Spenden, die die Gelehrten und Gottesfreunde an sie richteten. Sie erkannten nicht, daß es für die Großen empfehlenswert war, sich auf dem Umweg über reichliche Gaben, die zu dem genannten Zweck genutzt werden konnten, Einfluß auf die Kairoer Bevölkerung zu verschaffen. Der Statthalter ʿAlī Pascha machte unverblümt seinem Ärger über das Luft, was er für unverschämte Bettelei erachtete. Für die Gottesfreunde selber war es gewiß nicht immer einfach, nach außen hin, insbesondere aber vor dem eigenen skrupelhaften Gewissen, die Gottgefälligkeit dieser Gastereien zu rechtfertigen. Es galt, genau darauf zu schauen, wessen Einladung man annahm. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, wird auch in diesem Zusammenhang von aš-Šaʿrānī als ein strenger Lehrmeister zitiert. Er, so warnte er ihn eines Tages, lebe von der Arbeit seiner Hände, nicht von dem, was sich irgendein Emir aneigne; wie solle er da andere auffordern, ihrerseits von solchen Speisen zu essen, über die man beim besten Willen nicht sagen könne, durch welche Geschäftspraktiken sie beschmutzt seien. Die Derwische dieser Zeit nehmen derartige Bedenken nach Meinung aš-Šaʿrānīs auf die leichte Schulter; manche reisen im Lande umher, schnorren bei Verwaltern und Missetätern die Mittel für ein Gastmahl zusammen, laden viele Leute ein und scheren sich gar nicht darum, ob sich diese durch die Speisen inwendig besudeln.82 Überhaupt sind aš-Šaʿrānī alle Einladungen zu Festessen ein Graus, mag der Anlaß noch so unverfänglich sein. Es verstößt gegen jeden Anstand, wenn man sich zu einem Totenmahl einladen läßt. Die Angehörigen des Verstorbenen fühlen in ihrem ganzen Leib den brennenden Schmerz des Abschieds, und die übrigen Anwesenden tun sich gütlich! Das widerspricht dem Prophetenwort: „Die Gläubigen mit ihrer gegenseitigen Liebe und ihrem Erbarmen sind wie ein einziger Leib – sobald nur eines seiner Glieder leidet, ist der ganze übrige Leib zum Schutz und zur Wache aufgerufen.“ Es gibt Festessen für die Derwische, die man in Erfüllung eines Gelübdes ausrichtet. Auch sie muß man unbedingt meiden, denn nichts als die pure Not drängt den Gastgeber zu solchem Aufwand; er wünscht sich vielleicht die Heilung eines Kranken, und nur dies, nicht etwa ein Hang zur Freigebigkeit, treibt ihn an. Dabei überliefert man, daß ein Gelübde den von Allah beschlossenen Lauf der Dinge weder beschleunigen noch verzögern kann. Ein Ärgernis sind schließlich die üppigen Hochzeitstafeln. Nur allzu oft ist der Wunsch, die Nachbarn zu übertrumpfen, der einzige Grund für den Aufwand, der nicht selten die Mittel des Einladenden bei weitem übersteigt. Alles dies sind Festlichkeiten, die zumindest im Verdacht stehen, die Grenzen des zugemessenen Lebensunterhalts zu verletzen, und deshalb sind sie nicht der passende Ort für einen Derwisch, der es mit der Gottesfreundschaft ernst meint.83

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Prestigefragen Das Vorbild, das aš-Šaʿrānī vorschwebt, läßt sich auch ganz aus seinen Überlegungen ableiten, die er seinen Brüdern über den Erwerb und das Ausgeben von Mitteln zur Lebensfristung mitgeteilt hat. Jenseits dieser guten islamischen Sitten beginnt jedoch der Bereich subtiler Fragen des Prestiges, auf die aš-Šaʿrānī ebenfalls in seiner Lebensbilanz eingeht. Was er dabei für richtig hält, läßt sich aus dem Glauben begründen, aber es fällt dem Leser zusehends schwerer, aš-Šaʿrānī von jeglicher Unaufrichtigkeit freizusprechen. Er beteuert, daß Allah ihm die Liebe zum Besuch aller anderen Gottesfreunde eingeimpft hat, mit Ausnahme lediglich der Neider. „Ich verzichte darauf, sie zu besuchen, weil ich besorgt um sie bin. Denn ich weiß, daß ich, sobald ich zu ihnen gehe, ihren Schmerz nur vermehre, vor allem wenn ich mich ihnen in prächtigen, parfümierten Gewändern präsentiere. Zu den Gnaden, die mir Allah gewährte, gehört auch, daß ich keinen meiner Gefährten dazu dränge, mich zu besuchen oder zu mir zu kommen, wenn ich krank bin. Ja, ich lasse sie es gar nicht wissen, wenn ich erkrankte, weil ich fürchte, jemand von ihnen könnte meinen Kummer auf sich nehmen84 oder etwas davon. Es genügt mir, daß Allah darüber Bescheid weiß. Wenn es dann geschieht, daß mich doch jemand aufsucht, sei ich gesund oder krank, dann nur, um mir von sich aus seine Gunst zu bekunden, und zwar gegen meinen Willen, denn ich bin nicht in der Lage, es ihm angemessen zu vergelten. Angenommen, ich suchte einen von ihnen tausendmal in eben der Weise auf, wie er mich einmal, dann hätte ich ihm, wie ich meine, seinen Besuch noch nicht entgolten, wo ich doch so sehr von der Segenskraft der Besucher zehre und mein Herz ihnen so eng verbunden ist. Kommen meine Gefährten hingegen nicht zu mir und nur einen einzigen Teil von mir verlangt es danach, daß sie sich einstellen, dann ist dieser Teil schwach und kaum so, daß sich an ihm das Eigene zeigt.“ – Nicht auf diesseitigen Lohn richte sich das Streben des Leibes, will ašŠaʿrānī sagen, das in Wahrheit Eigene liegt in der Hingewandtheit zu Allah. – „Der Prophet und Gesetzgeber hat nur deshalb gefordert, daß wir uns gegenseitig aufsuchen, weil er wollte, daß die Herzen zueinander finden, damit wir uns dabei helfen, die mohammedsche Religion zum Triumph zu führen.“ Dies allein zählt doch, und deshalb hat aš-Šaʿrānī vielfach Allah gebeten, manche Gelehrten und Gottesfreunde, die den Muslimen so unendlich großen Nutzen bringen, möchten bloß nicht auf den Gedanken verfallen, ihn, den geringen aš-Šaʿrānī, aufsuchen zu wollen; sie vertäten damit doch nur ihre kostbare Zeit.85 Zu denen, die aš-Šaʿrānī in so überaus lobenswerter Rücksicht auf das Wohl der Muslime mit der Kraft des Herzens davon abhielt, sich bei ihm einzustellen, gehört Šams ad-Dīn aš-Širbīnī, ein Gelehrter, der sich vor allem in der Rechtswissenschaft hervorgetan hatte. Aš-Širbīnīs Bescheidenheit war allenthalben bekannt, und dies, obschon sonst die Gelehrten meist durch ihr anmaßendes Wesen unangenehm auffallen. Das jedenfalls schreibt aš-Šaʿrānī in den Biographien seiner Zeitgenossen,

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von denen er eine aš-Širbīnī widmet. Dieser war so zurückhaltend und so sehr darin geübt, die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen, daß er während der Pilgerreise bis zur Erschöpfung zu Fuß ging, nur um das Reitkamel zu schonen. Aš-Šaʿrānī äußert sich in diesem Zusammenhang ganz anders über aš-Širbīnī als in der Lebensbilanz, und es wird dem Leser deutlich, worum es wirklich geht. „Aš-Širbīnī erwies mir die Gunst, mich unzählige Male aufzusuchen, und da ich nicht in der Lage war, ihm das zu entgelten, wußte ich, daß er nach Allahs Willen mir im Rang überlegen war.“ Also nichts mit dem großmütigen Abwehren von Geselligkeit, die der Gemeinschaft der Muslime hätte zum Schaden gereichen können! Wenn einen eine Person von hohem gesellschaftlichen Rang aufsucht, dann empfand man dies als eine Beschämung, sofern es nicht gelang, diesen Besuch in angemessener Form zu erwidern, und es konnten tausend Gegenbesuche zu wenig sein, um einen Ausgleich zu schaffen, wie aš-Šaʿrānī selber gesteht. In jedem Fall ist es besser, einem Mächtigen oder einem Prominenten unverzüglich die Aufwartung zu machen, sobald man davon hört, dieser hege die Absicht, einem einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Lobend hebt aš-Šaʿrānī darum hervor, daß aš-Širbīnī mit äußerstem Takt vorging, wenn er zu jemandem kam: Er blieb einfach vor der Tür stehen, klopfte nicht, sondern wartete, und wenn ihm niemand öffnete, dann wandte er sich zum Gehen und rezitierte heiteren Sinnes die erste Sure des Korans. Es gebe kaum einen Gelehrten, der sich solche Zurückhaltung auferlege, fügt aš-Šaʿrānī hinzu. Im Gegenteil, manche klopfen an die Tür, und wenn niemand antwortet, fangen sie an zu schimpfen, bringen den Hausherrn in schlimmste Verlegenheit und lassen sich nicht abweisen. Sie belästigen einen mit ihrer Gegenwart, und man fühlt sich so elend, als müßte man einen ganzen Liter Gift hinunterwürgen.86 Ein wenig ahnt man nun die vielfältigen Zwänge, die mit der Sitte des Besuchens und Einladens verbunden waren. Sicher war es das beste, sich hinter einen Vorhang von religiös begründeten Verhaltensregeln zurückzuziehen, wie aš-Šaʿrānī es seinen Zöglingen rät: Er habe immer nur an Feierlichkeiten teilgenommen, bei denen der Gesetzgeber, der Prophet, dies empfohlen habe. Man konnte aš-Šaʿrānī niemals dort antreffen, wo man ihn über Gebühr loben würde, doch auch dort nicht, wo man ihn verachtete. Schon an der Art, wie man begrüßt wird, kann man erkennen, was einen erwartet; wird man geringgeschätzt, dann begegnet man mürrischen, finsteren Blicken, wohingegen die „Söhne dieser Welt“ und die Einnahmen aus unschariatischen Geschäften höchst willkommen seien. „Wo ist der Besitzer der richtigen Waage, der Verehrung und Verachtung nicht aufs Geratewohl verteilt? Die meisten bei einer Feier Versammelten sind miteinander verfeindet, und die übrigen warten ab, was die Mehrzahl macht. Schließlich gehen sie nach Hause und erzählen sich: ‚Vor dem und dem ist niemand aufgestanden, vor dem und dem haben sich dagegen alle erhoben, den und den hat man an das Kopfende plaziert, den und den ganz hinten, als der und der hereinkam, denn dieser ist gelehrter oder frömmer; der

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und der saß am Kopfende, aber als der Marktvogt auftauchte, komplimentierte man ihn nach hinten; der und der saß, doch als der und der eintrat, stand er auf und ging hinaus, so daß der Hinzugekommene äußerst verlegen war.‘“ Wird man zu einer Hochzeit eingeladen, dann ist man nach der Scharia verpflichtet zu erscheinen, es sei denn, man träfe dort mit jemandem zusammen, mit dem man keinen Umgang haben möchte. Aš-Šaʿrānī hebt aber hervor, daß seine Abneigung gegen Feierlichkeiten einen anderen Grund hat. Denn sollte man ihn überschwenglich ehren, dann könnte sich seine Eigenliebe regen; begegnete er Verachtung, dann verschleierte ihm dies den Blick auf die großzügigen Gaben, die er von Allah empfängt. Darüber hinaus hätte er durch seine Anwesenheit andere dazu verleitet, ungerechtfertigte Urteile auszusprechen, was Allah ihm zur Last legen könnte. Als Adept aber hat er dem Meister das Versprechen gegeben, niemals der Anlaß für eine Sünde eines anderen Muslims zu werden. Wer vernünftig ist, scheut sich vor großen Menschenansammlungen. Einmal betrat aš-Šaʿrānī die al-Azhar-Moschee, als dort ein Totengebet abgehalten wurde. Gerade wollte er wieder weggehen, da erkannte man ihn, und die Leute stürzten herbei, ihm die Hände zu küssen, und sie liefen ihm nach und achteten nicht mehr auf das Totengebet. Solches Verhalten machte ihn derart verlegen, daß er fortan, wenn man dort für einen Toten betete, der Pflicht der Teilnahme nachkam, indem er beim Tor blieb und nach Beendigung der Zeremonie sofort davoneilte.87 Unaufrichtigkeit und Parteigeist Voller Fallstricke ist der gesellige Verkehr. Das eigene Prestige wie das der Besucher muß gewahrt bleiben; die islamische Deutung dessen, was der Anstand verlangt, muß unaufhörlich erwogen werden. Gebetene und ungebetene Gäste müssen je nach ihrem Rang geehrt und bewirtet werden. Von der erfolgreichen Meisterung dieser Schwierigkeiten hängen der Einfluß und das Ansehen des Gottesfreundes bei allen Schichten der Bevölkerung ab. Die höchste Kunst bestand darin, alles bis ins kleinste Detail genau vorzubereiten und dennoch den Gästen den Eindruck zu vermitteln, das Festmahl sei eine ganz alltägliche Angelegenheit, und der pure Zufall habe die Teilnehmer zusammengeführt. Allzu große Aufwendungen bewirken nämlich, daß der Gastgeber seiner Besucher bald überdrüssig wird. Selbst wenn sich tausend Freunde bei ihm einstellen sollten, prahlt aš-Šaʿrānī, könnte ihm das keinerlei Mißbehagen verursachen. Weil er nur bescheidene Vorbereitungen trifft, fallen sie ihm nie und nimmer zur Last, und nie kommt er in die Verlegenheit, sie mit Speisen zu bewirten, die ihnen im Magen liegen. Denn er gönnt sie ihnen von ganzem Herzen. Der Prophet hat den Muslimen solches Benehmen dringend angeraten, denn alles, was ein Geizkragen seinen Besuchern anbietet, macht diese krank. Manche Gastgeber haben sich dies alles nicht klargemacht, und sie haben

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dann ihr ganzes Vermögen verloren; denn, knauserig wie sie waren, konnten sie es nicht übers Herz bringen, die Gäste allein um Allahs willen zu beköstigen. Sie erfüllten diese Pflicht vielmehr nur, um Ansehen bei den Menschen zu gewinnen, mithin aus einem unlauteren Beweggrund, und das zeitigte jene furchtbaren Folgen. Bewahrt der Meister jedoch die richtige innere Einstellung zu seinen Gästen, dann wird er schließlich ein Mehrfaches an Gut und Geld sein eigen nennen, als er je verbrauchte. Nach aš-Šaʿrānīs Erfahrung sind es vor allem die Söhne der großen Gelehrten und Sufis, die diesen Zusammenhang nicht durchschauen. Sie wollen behalten, was ihre Väter erwarben. Nicht, daß sie nach deren Tod mit dem Sparen beginnen, ist zu befürchten, viel eher, daß sie mit eben der Großzügigkeit zahllose Freunde freihalten und sich aus diesem Grunde in hohe Schulden stürzen. Sie bedenken nicht, daß sie noch gar nicht in den Rang ihrer Väter aufgestiegen sind und deswegen auch nicht voraussetzen dürfen, daß Allah ihnen ebenso viel zuerkannt hat wie jenen. Nur wenigen Meistern ist es bestimmt, jeden Beliebigen, der sie aufsucht, zu bewirten. Meister ʿAbbūd, dessen Klause am Fuß des Muqaṭṭam-Berges lag, unterhielt dort ständig vier große Tafeln, in jedem Iwan des Gebäudes eine, an denen sich jeder, der hereinkam, gütlich tun durfte. Als Meister ʿAbbūd starb, fiel die Leitung der Klause einem anderen Derwisch zu, der auf dem Pfad schon einen Rang erklommen hatte, der höher als derjenige ʿAbbūds war. Doch wollte es dem Nachfolger nicht glücken, alle zu befriedigen, und so mußte er die Klause verlassen.88 Ständig muß der Gottesfreund darauf achten, daß seine Zöglinge ihn nicht allenthalben preisen, ihn nicht mit unmäßiger Ehrerbietung behandeln. Bei einem Emir mag solche Schmeichelei hingehen, nicht aber bei ihm, denn jeder Anflug von Stolz oder Selbstgefälligkeit stürzt ihn ins Verderben. Der Parteigeist, mit dem manche Gemeinschaften untereinander streiten, welche von ihnen den vortrefflichsten Meister habe, wirkt abstoßend. Aš-Šaʿrānī erlebte, daß die Zöglinge eines Meisters jeden, der sich einem anderen anschließen wollte, fast zu Tode prügelten. Anhänger einiger Meister wurden miteinander handgemein und griffen sich mit Sandalen und Schuhen in den Händen an, sie verursachten einen Skandal, der schließlich in Konstantinopel ein Nachspiel hatte.89 Das sind abschreckende Beispiele, die zeigen, was geschehen kann, wenn man nicht streng auf Bescheidenheit und Zurückhaltung Wert legt. Der Gottesfreund dagegen, der sich ein demütiges Auftreten zur Pflicht macht, gilt schließlich sogar in der eigenen Heimat etwas. AšŠaʿrānī hebt dies ganz besonders hervor und findet, daß er hierin ein leuchtendes Vorbild sei – und der Beweis dafür sind die vielen Fellachen aus seinem Dorf, die an ihn glauben.90 Gerade die Bescheidenheit ist es, die den Muslim dahin führt, daß er eins wird mit dem, was entsprechend dem vor aller Zeit gefaßten Ratschluß Allahs in die Wirklichkeit tritt. Es verbietet sich daher, Fremde und Bekannte eigens davon zu unterrichten, daß man an einem bestimmten Tag ein Festmahl veranstalten wird, sei es zu einer Hochzeit, einer Beschneidung, aus Anlaß der Genesung von einer

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Krankheit oder wegen sonst eines denkwürdigen Ereignisses. Indem man auf jegliche Ankündigung verzichtet, begibt man sich gar nicht in die Gefahr, auf den Beifall der Mitmenschen zu schielen; ebenso vermeidet man, daß Freunde und Verehrer sich bemüßigt fühlen, einen mit Spenden zu unterstützen, die womöglich nicht in lauterer, gottgefälliger Absicht geleistet werden. „Wenn ich erfahren habe, daß einer meiner Obmänner bei jemandem darüber redet, erteile ich ihm einen Verweis, so daß er dies fortan unterläßt. Ich teile meinen Obmännern meine Absicht erst mit, wenn die Speisen schon zubereitet sind. Dies ist ein Charakterzug, der selten und wertvoll ist und heute von kaum einem der Derwische beachtet wird. Vielmehr sind manche Derwische zornig über jeden, der ihnen bei einem Gastmahl nicht hilft.“ Es gibt Derwische, die sich nicht einmal schämen, bei den Großen und Reichen vorzusprechen und von ihnen Gaben zu erflehen; nur einen Teil davon verwenden solche Schelme für das Festessen, den anderen verkaufen sie oder verbrauchen ihn für sich selber. Aš-Šaʿrānī freilich hat seine Adepten so gut erzogen, daß sie meist das Weite suchen, wenn ihnen zu Ohren kommt, daß er eine Einladung vorhat. Allah ist dafür zu danken, daß sie sich so verhalten; denn manche stellen sich doch nur ein, weil sie fürchten, man könnte sie für ihr Fernbleiben tadeln, und zu allem Überfluß dingen sie einen Lobredner, nur um dem Gastgeber einen Gefallen zu tun und sich bei ihm einzuschmeicheln. In Wahrheit aber belasten sie ihn mit einer Sünde, denn sie wollen doch nichts anderes erreichen, als daß der Meister ihre verborgene und dünkelhafte Selbsteinschätzung für bare Münze nimmt.91 Nur nach schonungsloser Prüfung der eigenen Redlichkeit wagt aš-Šaʿrānī, jemanden einzuladen. Es wäre schlimm, wenn ihm zu Bewußtsein käme, daß er sich seinen Gästen unterlegen fühlte. Allah war so huldreich, ihm die Fähigkeit zu schenken, Emiren, Gelehrten und Frommen vorbehaltlos mit Ehrfurcht zu begegnen. Viele, die sich für Gottesfreunde ausgeben oder die sich als Meister aufführen, weil ihr Vater oder Großvater es gewesen ist, lassen es an solcher Demut ganz und gar fehlen. Nur dem äußeren Scheine nach verstehen sie sich auf die Meisterschaft, deren Wesenskern sie nicht erfassen. Aš-Šaʿrānī betont dies, denn bei ihm verhält es sich ganz anders – auf einen berühmten Vater kann er sich nicht berufen, er selber ist es, dem Allah diesen Rang zuerkannte. Jenen falschen Meistern, die nur die Formen ihres Standes beherrschen, widerfährt es, daß die Leute sagen: „‚Es war ein bedeutendes Geburtstagsfest, denn der und der waren zugegen, anders als das Geburtstagsfest des N.N., an dem kein Großer teilnahm.‘ Dabei kann es doch sein, daß den Gelehrten, Frommen und Emiren wegen der Anwesenheit bei diesem Geburtstagsfest andere wesentlich wichtigere Dinge entgangen wären. Denkbar ist auch, daß jene nur kommen, nachdem man ihnen die Füße geküßt hat und wichtige Persönlichkeiten bei ihnen ein Wort für den mit dem Fest Geehrten eingelegt haben, nicht aber, weil sie ihn lieben oder an ihn glauben.“ Besonders hohes Ansehen gewinnt man, wenn man die Feier des Geburtstags eines der vom Volk verehrten Gottesfreunde

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der Vergangenheit veranstaltet. Dann aber muß man strenger noch als sonst prüfen, ob alles, was man den Gästen anbietet, rituell einwandfrei und nicht durch unschariatische Geschäftspraktiken verunreinigt ist. Speisen aus der Hand von Missetätern muß man zurückweisen. Nur für die großen Gottesfreunde und Frommen, deren Huldwunder und rühmenswerte Taten in allen Ländern der Erde gepriesen werden, soll man Geburtstagsfeiern ausrichten, etwa für den Imam al-Laiṯ b. Saʿd, für aš-Šāfiʿī, Sidi Aḥmad al-Badawī, Sidi Ibrāhīm ad-Dasūqī, die Meister der Gemeinschaften der Banū Wafāʾ, der Ġamrīja, Madjanīja, Bakrīja und anderer, deren Feiern aus den eigenen Mitteln bezahlt werden, so daß man nicht auf die Unterstützung durch Übeltäter angewiesen ist. Es ist angebracht, für solche bekannten Gottesmänner Geburtstagsfeiern zu veranstalten, weil sich die Herzen zur Liebe zu ihnen hingezogen fühlen und weil man an sie glaubt. Selbst wenn man jemandem davon abriete, zu einer solchen Feier zu gehen, täte er es doch, und wäre es in einer kalten Winternacht. Denn er spürt in seinem Innern Geborgenheit und Beistand. Auch Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, hob hervor, daß ein Derwisch, der – für wen auch immer – eine solche Feier vorbereitet, vor allem darum besorgt sein muß, daß die Mächtigen und Reichen in gelöster Stimmung und ganz ohne Argwohn erscheinen. Sie dürfen der Feierlichkeit nicht mit dem unangenehmen Gefühl beiwohnen, daß sie lieber ferngeblieben wären, sich dies aber nicht getraut hätten, weil sie die üble Nachrede fürchteten, die jener Derwisch und seine Zöglinge im Falle ihrer Abwesenheit in Umlauf setzen könnten. Nicht der geringste Hauch von Eitelkeit darf auf seiten des Veranstalters im Spiele sein, nicht der geringste Verdacht unredlicher Nebenabsichten darf die Arglosigkeit der Gäste trüben. Der religiöse Sinn der Gastmähler Mittelbar enthüllt aš-Šaʿrānī hier den Zweck einer jeglichen Feier: So, wie der Gottesfreund sein ganzes Empfinden, Denken und Trachten auf den Einen Wahren richtet und ihn schließlich auch bei den banalsten Tätigkeiten des Alltags nicht mehr aus dem Sinn verliert, so sollen, wenn man den Gedenktag eines berühmten Gelehrten oder Erkennenden begeht, alle Anwesenden, die in der Mehrzahl ja nicht in dieser Form der Verbundenheit mit dem Schöpfer geübt sind, wenigstens während der Feier die beglückende Erfahrung der Gottnähe machen. Indem der Derwisch zur Festtafel lädt, nimmt er die wichtigste Aufgabe wahr, die ihm in der Gemeinschaft der Muslime überantwortet ist: Jene zur Erkenntnis zu führen, daß alle Kreatur zu Allah hin geschaffen ist, dem einen Schöpfer und Ernährer. Darum ist unter allen Umständen zu vermeiden, daß Speisen schariatisch zweifelhafter Herkunft aufgetragen werden, darum auch muß jeder noch so heimliche Wunsch nach Mehrung des Ansehens, jede noch so leise Regung eines Interesses unterbunden werden, das sich auf die Belange dieser Welt richtet. Deshalb muß, so führt aš-

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Šaʿrānī aus, der Gastgeber sicher sein, daß keiner der Eingeladenen mit dem Gefühl kommt, er sollte eigentlich anderswo sein, wo er dem Islam eher nützen könnte. „So mag ihn im Inneren vielleicht die Abfassung eines Traktats über die Scharia beschäftigen oder die Ausarbeitung eines Fetwas… Er nähme dann ohne sein Herz und ohne lautere Absicht teil. Ich erlebte einen Wissenssucher, der zur Einladung seine Kladden mitbrachte und die ganze Nacht über darin las, ohne seinen Sinn darauf zu lenken, was er auf dieser Feier tat. Welchen Nutzen hatte seine Anwesenheit? Desweiteren kommt es vor, daß der Gastgeber es nur für wahrscheinlich hält, daß der Eingeladene kommen wird. Vor allem bei Hochzeitsmählern ist dies der Fall.“ Eine solche Einladung darf nach der Scharia nur aus einem triftigen Grund abgelehnt werden.Wenn der Gastgeber es nur für wahrscheinlich erachtet, daß jener die Einladung zum Hochzeitsmahl befolgen wird, und wenn jener tatsächlich ausbleibt, dann hält der Gastgeber jenen für einen Sünder, was aber falsch sein kann, da es für das Ausbleiben einen triftigen Grund geben mag. Der Gastgeber selber belastete sich infolgedessen mit einer Schuld, die das Erreichen des Zweckes der Feier verhindert. Aš-Šaʿrānī wertet es deswegen als unbedenklich, auf das Aussprechen von Einladungen zu verzichten oder sie so zu formulieren, daß man den Empfängern anheimstellt, ob sie kommen wollen oder nicht. Er deutet hier den über das Vermeiden von Aufsehen hinausgehenden „islamischen“ Grund für seine Empfehlungen an, eine bevorstehende Feier möglichst gar nicht anzukündigen oder niemanden zur Teilnahme zu bitten. Doch auf eine vertrackte Weise spielen wieder die Erwägungen über Prestige und üble Nachrede in alles hinein. Aš-Šaʿrānī schreibt, daß auch die folgende Vorstellung die Aufgeräumtheit des Gemüts des Gastgebers beeinträchtigen kann: „Der Veranstalter schickt nur denen eine Einladung, von denen er weiß, daß sie zu ihm kommen, selbst wenn man sie auch von anderer Seite zur Teilnahme an einem weiteren Gastmahl bittet. Wenn der Gastgeber es für wahrscheinlich hält, daß ein Bruder, den er zum Gastmahl lädt, ablehnen wird, dann soll er diesen nicht einladen, damit der Ablehnende nicht dadurch belastet werde, eine Gefälligkeit nicht angenommen zu haben. Denn der Gastgeber wäre Schuld daran, daß die Leute über jenen herfallen, der die Einladung ausschlug, und ihn als hochmütig beschimpfen…“ Aš-Šaʿrānī verbindet diese Ratschläge, deren Gedankenführung man nicht immer auf Anhieb folgen kann, mit anderen, die unmittelbar einleuchten. So sei es am besten, keine Greise zu Feiern zu bitten, die eine Nacht andauern könnten. Denn jene werden von Leiden wie häufigem Harndrang geplagt und werden schon deshalb ihren Sinn nicht so vollständig auf das Fest ausrichten, wie es erforderlich wäre. „Bewahre, mein Bruder, bei der Veranstaltung von Feiern eine lautere Absicht“, trage Sorge, daß alle Vorbereitung im Rahmen dessen bleibt, was die Scharia gestattet, und dann bitte ohne irgend die Ränge zu beachten, die Derwische und Armen herzu, „das ist das Beste. Ich erlebte kein vortrefflicheres, kein mit weniger Aufwand verbundenes Geburtstagsfest als das unseres Meisters Nūr ad-Dīn aš-Šūnī.

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Seine Gefährten speisten des Abends zu Hause; dann stellten sie sich ein, setzten sich im Zustand ritueller Reinheit vor dessen Grabstätte und rezitierten vom Abend bis zum Anbruch des Morgens abwechselnd den Koran, sprachen das Gebet über den Gesandten Allahs und gedachten Allahs. Da war niemand, dessen Gegenwart sie Beachtung geschenkt hätten, abgesehen von Allah.“92 Inszenierung der Hingewandtheit zu Allah Die Einkünfte, das hat uns aš-Šaʿrānī im vorigen Teilkapitel ausführlich erläutert, ergeben sich nicht daraus, daß der Mensch das Diesseits seinen Belangen unterwirft. Das kann er gar nicht, denn Allah hat dies schon für ihn getan und tut es fortwährend, solange der Schöpfer seiner Kreatur den Bestand zubilligt. Der Lebensunterhalt, zu dem man alles rechnen muß, wodurch das Dasein des Menschen ermöglicht wird und wodurch es die von Allah vorgesehene Würde erhält, ist schon vor der Erschaffung der Welt für jeden einzelnen festgelegt worden. Der Mensch hat zwar die Möglichkeit, sich vor dem vom Schöpfer bestimmten Zeitpunkt oder in einer größeren als der zugewiesenen Menge die Güter des Diesseits anzueignen, doch wird er letzten Endes Allah nicht überlisten. Irgendwann wird der Frevler das Konto, das er überzogen hat, ausgleichen müssen, entweder schon im Diesseits, indem er die Läuterungsgabe abführt, oder aber im Jenseits. Ja, Diesseits und Jenseits stehen in einem auf Ausgleich des Nutzens und des Schadens hinwirkenden Zusammenhang. Die Menge des Guten und des Schlechten, das Allah einem Menschen zugewiesen hat, bleibt gleich, aber es ist ratsam, möglichst viel Schlechtes schon hier und jetzt durchzustehen und sich das Gute für das Jenseits aufzusparen. Der Prophet Jonas, so erzählt man, hatte eine zänkische Frau. Eines Tages lud er einige Freunde zum Essen ein, das er selber zubereitete. Seine Frau half ihm nicht, sondern überschüttete ihn währenddessen mit Beschimpfungen. Die Gäste wunderten sich, warum er sich das alles gefallen lasse, worauf er ihnen erklärte: „Ich bat Allah einmal, er möge mich schon hier auf Erden die Strafe erleiden lassen, die er mir in der kommenden Welt zugedacht hat. Allah antwortete mir: ‚Deine Strafe ist eine Frau, die so und so heißt.Verheirate dich mit ihr!‘ Das habe ich getan, und jetzt leide ich meine Strafe.“93 Die Einnahmen wie die Ausgaben liegen fest, nicht nur in der Höhe, auch der Zeitpunkt, an dem sie erfolgen, ist in der Regel vorausbestimmt. Erst spät hat aš-Šaʿrānī gelernt, daß trotzdem ein wenig Vorsorge gestattet ist, sofern sie nicht in dem Irrglauben getroffen wird, man könne das Maß des Lebensunterhalts verändern. Es gibt keine bessere Gelegenheit als die Gastmähler, um auf die ununterbrochene Fürsorge Allahs aufmerksam zu machen, und bei keiner anderen Gelegenheit kann die Ausgabe dessen, was man einnimmt, so vollkommen im Einklang mit dieser Fürsorge stehen. Jeder Gedanke an den Erwerb liegt den Bewirteten fern. Die von aš-Šaʿrānī an vielen Stellen angeschnittene Frage der guten,

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der prophetischen Charakterzüge leitet von der eben erwähnten Idee des Ausgleichs ihre Dringlichkeit her. Denn wer anders als die Propheten hätte über dies alles besser Bescheid wissen und sich geschmeidiger dem fügen können, was Allah in jedem Augenblick vor aller Zeit für sie vorgesehen hatte? Das Fest, dessen Teilnehmer im Idealfall ohne jede diesseitige Ablenkung feiern und Speisen verzehren, die unter allen Gesichtspunkten den Erfordernissen der Scharia genügen, also dem vom Schöpfer gewährten Unterhalt entsprechen, ist der inszenierte Augenblick der Erfahrbarkeit der göttlichen Fügung im Diesseits. Das hat das Fest mit dem Geschenk gemeinsam, das ja auch eine zum von Allah bestimmten Zeitpunkt erfolgende Zuteilung von Lebensunterhalt darstellt. Geschenke versprechen, ist daher mit ähnlichen Risiken verbunden wie die Einladung zu Feiern. „Zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß der Lebensunterhalt bei mir in der Klause in großer Fülle vorhanden ist, so daß er ihren Bewohnern gleichsam zuströmt und ich meinen Gefährten Reis, Honig, Hühner, Gänse und anderes schenke. Wenn ich jedoch jemandem verspreche, ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas zu schenken, der Zeitpunkt aber verstreicht, ohne daß ich dies tue, dann weiß ich, daß ich später niemals mehr diese meine Pflicht erfüllt haben werde, selbst wenn ich dem Betreffenden dann tausend Dinare oder ein Mehrfaches gäbe. Vielmehr bin ich der Auffassung, daß ich ihn, indem ich ihn in jenem Augenblick vergeblich warten ließ, in Verwirrung stürzte, was schwerer wiegt als mein Geschenk. Deshalb verspreche ich am liebsten nie etwas, weil ich fürchte, ich könnte das Versprechen brechen; allein die Propheten sind von diesem Fehler ausgenommen… Manchmal passiert es mir, daß ich das Gebet für den Propheten zu dem Zeitpunkt, für den ich es mir vorgenommen hatte, versäume. Ich spüre dann, wie der Gottesgesandte auf mein Gebet wartet, aber ich weiß, daß ich ihm das Warten auf keine Weise entgelten kann, selbst wenn ich ihm alle übrigen von Allah gutgeheißenen (rituellen) Handlungen schenken würde. Sein Rang ist zu hoch! Und wenn ich für ihn mein übliches Gebet hernach einhunderttausendmal wiederholte, wäre ich nicht der Ansicht, daß ich ihm Genugtuung verschafft hätte… Hätte ich ihm das Gebet nicht für einen bestimmten Zeitpunkt zugesagt, wäre ich nicht in solche Verlegenheit geraten. Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī riet daher, man solle das Gottesgedenken nicht an einen Zeitpunkt knüpfen, sondern sich zu jedem Augenblick in der Gegenwart Allahs wissen. Wenn man aber einen Zeitpunkt festlege, dann müsse man genau zu diesem Zeitpunkt mit Allah sein und seiner gedenken, denn nur die Anwesenheit vor Allah zu der versprochenen Zeit kann angerechnet werden. Nun lehrt die Erfahrung, daß die meisten, die zusätzliche Gebete in einer von ihnen im voraus festgelegten Zeitspanne versprechen, sie dann unaufmerksamen Herzens vollziehen, so daß der Nutzen solcher Gebete gering bleibt…“94 ***

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In dem um 1535 für die Derwische verfaßten Leitfaden des guten Verhaltens schreibt aš-Šaʿrānī, wenn jemand einmal die Gottesfreundschaft erreicht habe, dann zeige sich ihm angesichts des Einen Wahren gar nicht mehr die – ohnehin nie bestehende – Möglichkeit einer eigenen Handlung. Der Gottesfreund ist erfüllt von dem, was der Eine Wahre ihm zuteilt. Was dies in der Lebenswirklichkeit bedeutet, ist uns an der Institution der Klause und am Verhalten des Gottesfreundes im Kreise seiner Anhänger und Bekannten einsichtig geworden. Mit dem Herzen ist er unablässig am Hofe des Einen zugegen, denn sein Herz gleicht einem Spiegel, auf dem sich abbildet, was an jenem Hofe verfügt wird und dann ins Sein tritt. Nach außen kehren darf der Gottesfreund dieses Geheimnis nicht. Aber tatsächlich schläft und speist er fortan nie mehr in freier Wahl. Vielmehr „wird er in allen Lebensumständen im Wissen Allahs, das sich ihm im Schauen enthüllt, getrieben – und doch hat er an Wissen über Allah nichts weiter zur Verfügung als die Hinweise, die im Schöpfungskosmos angelegt sind“. Der Kosmos, der unentwegt von Allah geschaffen wird, und das Selbst des Gottesfreundes sind eins. Weder eine Einkörperung göttlichen Seins im Gottesfreund noch eine Vergöttlichung alles Seienden behaupte er,95 beteuert aš-Šaʿrānī. Er ist ganz von dieser, der geschaffenen Welt, aber mittels seiner Gottesfreundschaft wird den Muslimen vor Augen gestellt, was es heißt, daß die Welt unablässig im Zustand des Geschaffenwerdens, des Bestimmtwerdens ist. Die Klause, die dort anfallenden Einnahmen und Ausgaben, sind nur ein kleiner Bereich, in dem jetzt jene höchste islamische Glaubenswahrheit96 erkennbare Wirklichkeit sein soll – doch muß diese Wirklichkeit künftig in der ganzen Gemeinschaft der Muslime zu erkennen sein! Was aber ist der islamische Kosmos, und wie steht der Mensch in ihm und zu ihm?

Kapitel 2 Kosmos und Charakter 2.1 Kosmos Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich den Erkennenden in ihrer Koranauslegung, die sie auf dem Wege der Enthüllung finden, beipflichtete und nicht sagte: „Das widerspricht aber dem, was die große Mehrheit der Kommentatoren behauptet!“ Denn die Auslegung durch die Schauenden ist wertvoller als die eines jeden anderen. Das Aufdecken nämlich ist die Mitteilung von Sachverhalten, wie sie an und für sich sind, und zwar weder im Diesseits noch im Jenseits verändert – im Gegensatz zur Kommentierung durch die Leute des Denkens und Verstehens. Ich hörte meinen Bruder Afḍal ad-Dīn, dessen sich der erhabene Allah erbarmen möge, mehrfach sagen: „Das Geringste, was man tun muß, ist, die Aussagen der ‚Leute Allahs‘ über einen Koranvers oder ein Ḥadīṯ als eine Äußerung zu der betreffenden Frage gelten zu lassen und sie nicht ganz und gar zu übergehen, was häufig geschieht. Denn die ‚Leute Allahs‘ sind Gelehrte, die die höchste Gewißheit erlangt haben.“ Ein anderes Mal hörte ich Afḍal ad-Dīn bei der Auslegung des Koranverses „als Brüder auf Ruhebetten einander gegenüber gelagert“ (Sure 15, 47) folgendes ausführen: „Hier ist gemeint, daß es sich, wenn sie einander gegenüber liegen, um das Gegenüber des Bildes im Spiegel handelt, das nicht wie das Gegenüber zweier Körper ist. Denn bei dem Gegenüber des Bildes im Spiegel ist das rechte Auge des Schauenden auch das rechte Auge des im Spiegelbild Geschauten, auch wenn dieses im Spiegel geschaute rechte Auge den Platz auf der linken Seite des Gegenübers einnähme, sofern dieses von einer fremden Person dargestellt würde.1 Genau umgekehrt verhält es sich mit dem Gegenüber von zwei Körpern des Diesseits. Denn dein rechtes Auge bildet das Gegenüber des linken Auges deines Gefährten, und das gleiche gilt für alle Glieder deines Leibes. Im Diesseits nämlich liegt jedes Glied zweier Körper seinem jeweiligen Gegenpart gegenüber. Gerade so ist es im Jenseits aber nicht; denn dort hat das Gegenüberstehen in der geistigen und in der wahrnehmbaren Weise so statt, wie du dein Abbild im Spiegel erblickst. Und dies“, so fuhr Afḍal ad-Dīn fort, „ist die wahre Art von Gegenüberliegen, denn die Sachverhalte enthüllen sich im Jenseits in vollkommener Weise. Das Gegenüberliegen dort entspricht nämlich den Formen, die man mit dem Verstand erfaßt, und dem Geist, der in allem waltet. Denn so, wie du hier im Diesseits mit dem Leib offenkundig, jedoch mit deinem Geist verborgen bist, so wird es sich dort im Jenseits mit dir umgekehrt verhalten. Im Hinblick auf diesen Umstand hat sich jemand, dem eine unzureichende Enthüllung zuteil wurde, in Irrtümer verstrickt; denn er leugnete das Zusammenrufen der Leiber am Beginn des Jüngsten Tages, weil er sah, daß sie sich in beliebiger Gestalt formten. Derartiges, so behauptete er, sei nur den Geistwesen möglich. Hätte jener die Vision genau überprüft, dann hätte er gefunden, daß dort, umgekehrt wie im Diesseits, die Leiber in den Geist eingehüllt sind. Wie also Leib und Geist hier im Diesseits gemeinsam am Erscheinen der Handlungen beteiligt sind, so auch im Paradies oder in der Hölle. Und wäre es nicht so, wie wir festgestellt haben, dann wäre nicht denkbar, daß sich im Diesseits Gottesfreunde herausbilden. Denn dem Gottesfreund hier wird doch nur vor der Zeit das verliehen, was er nach plausibler Ansicht im Paradies sein wird. Der weise Sinn hiervon ist, daß man vor der Zeit den Gottesfreunden die frohe Botschaft davon übermittelt, was sie im

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Zweiter Teil: Das Bewahren

Paradies sein werden, damit sie sich daran freuen und damit ihre Glaubensgewißheit noch an Kraft zunehme.“ Versteh das, damit du den rechten Weg wandelst!2

*** Das Verhältnis von Geist und Materie im Diesseits und im Jenseits – Diesseitige Bekundungen des geistigen Kerns der Gottesfreunde – Die Furcht hinter der Heilsgewißheit – Das Zwischenreich – Selbstbehauptung bei völliger Ausgeliefertheit an Allah – Die Ekstase – Die Wirkung der Musik: Entschränkung der Sinne – Die Kultivierung der Angst – Ein schwacher Widerschein der Werkgerechtigkeit – Avicenna: Zerstreuung der Todesfurcht – Die Seele – Vergeistigung des von Tod und Gericht beherrschten Lebensentwurfs

Das Verhältnis von Geist und Materie im Diesseits und im Jenseits Materie und Geist bilden den geschaffenen Kosmos. Aber es ist nicht so, daß dieser aus einer gleichförmigen Mischung beider besteht; er ist vielmehr in zwei Bereiche geteilt. Im einen herrscht die Materie vor, die sich im Körper des Unbelebten und im Leib des Belebten manifestiert. Der Geist ist im Diesseits durch das Materielle gewissermaßen eingehüllt, im Jenseits dagegen, wo der Geist dominiert, hüllt er seinerseits den Leib ein und zwingt ihm damit eine Verfaßtheit auf, die er im Diesseits nicht hat. Im Spiegelbild wird, wie uns aš-Šaʿrānī belehrte, einiges vom jenseitigen Seinsbereich und seinen Eigentümlichkeiten erkennbar. Denn wenn man in einen Spiegel blickt, dann liegt das rechte Auge, das sich vielleicht durch eine Rötung des Lides vom linken unterscheidet, auch tatsächlich dem rechten Auge gegenüber; träte einem aber im Diesseits eine wirkliche Person entgegen, die ebenfalls unter einer Rötung des rechten Auges leidet, dann nähmen beide das gerötete rechte Auge ihres Gegenübers von ihnen aus gesehen auf der linken Seite wahr. Was aš-Šaʿrānī oder sein Gefährte Afḍal ad-Dīn in diesem Beispiel zum Ausdruck bringen wollen, ist die Überzeugung, daß im Seinsbereich, in dem der Geist vorwaltet, die Dinge in ihrer unveränderlichen Bestimmtheit erkennbar sind, unabhängig von den Verhältnissen, die Raum, Zeit, die materielle Verfaßtheit mithin, ihnen aufnötigen. Wenn es keine Räumlichkeit gibt, dann ist gar nicht denkbar, daß die rechte Seite eines Körpers, der einem zweiten zugewandt ist, dessen linker gegenüberliegt. Eine derartige Unzulänglichkeit kann es nur in dieser materiellen Welt geben, in der „rechts“ nicht ein absoluter Begriff ist, sondern eben nur ein relativer. – Daß „rechts“ als eine vom Betrachter aus getroffene Ortsbestimmung zu werten ist, die in einem Seinsbereich ohne Räumlichkeit gar nicht sinnvoll wäre, fällt aš-Šaʿrānī nicht auf. Das aber ist auch nicht zu erwarten, denn ihm und Afḍal ad-Dīn geht es allein um die Verdeutlichung der Zweiteilung des Kosmos, der von Allah geschaffenen und in jedem Augenblick beherrschten Welt. Der verborgene Seinsbereich, der geistige, in dem sich die Fügung des Schöpfers rein zur Geltung bringt, ist, da in ihm die Materie bezwungen ist, eben von einer ganz anderen Erscheinungsweise.

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Schon al-Ġazālī legte dar, daß es dem Muslim möglich sei, sich geistig von den Bedingungen der materiellen Welt zu lösen und dadurch zu höherer Erkenntnis zu gelangen, und daß man diesen Weg als einen Aufstieg, also eine Ortsveränderung im Raum, beschreibe. Dies sei aber nur ein Notbehelf, dessen man sich bediene, um überhaupt zum Ausdruck zu bringen, was man vor dem geistigen Auge habe.3 Indem nun deutlich wird, was es heißt, daß der Körper „in den Geist eingehüllt“ ist und damit die Bedingungen seiner diesseitigen Existenz verloren hat, muß aš-Šaʿrānī auf einen Irrtum zu sprechen kommen, dem man leicht verfallen kann. Es ist keineswegs so, daß im verborgenen Seinsbereich der Leib nicht mehr vorhanden ist, so daß man etwa behaupten könnte, die auferstandenen und zum Gericht versammelten Menschen seien reine Geistwesen. Wenn ein Gottesfreund diese Auferstandenen in verschiedenen Formen schaut, die sie in ihrem Erdenleben nicht aufweisen, so ist daraus nicht zu folgern, die Wiedererweckung der Leiber, wie die islamische Eschatologie sie lehrt, entspreche nicht der Wahrheit. Nein, die Schrecknisse, die der Mensch nach seinem Tode zu erwarten hat, sind keineswegs bloße Schauermärchen. Man wird sie leiblich durchstehen müssen! Hierauf werden wir gleich zurückkommen. Wenn die Körper im Verborgenen in unterschiedlichen, ihnen durch den Geist aufgeprägten Gestalten erscheinen, dann gilt umgekehrt, daß der Körper des Gottesfreundes, wenn auch äußerlich ganz von den Bedingungen der Materie geprägt, schon völlig vom geistigen Sein des verborgenen Bereichs des Kosmos beherrscht wird. Darauf deutet aš-Šaʿrānī mit den Worten Afḍal ad-Dīns hin, und dem Leser seiner Lebensbilanz, der die Abschnitte über das Erkennen sorgfältig durchstudiert hat, erschließt sich nun die kosmologische Grundlage dessen, was dort mitgeteilt wurde. Diesseitige Bekundungen des geistigen Kerns der Gottesfreunde Aš-Šaʿrānī hat dank seinem häufigen und engen Umgang mit anderen Gottesfreunden, „Königen der Jenseitigen“, wie er sagt, genügend Hinweise darauf sammeln können, wie unterschiedlich diese das Durchschlagen des geistigen Seins durch ihren materiellen Leib hindurch erfahren. Der Schöpfer gibt ihnen dabei Einblick in seine Geheimnisse. Darum werden sie dessen inne, „was er bei seinem Schöpfen in das Sein bringt“. Manche Gottesfreunde schützen sich davor, daß diese Erkenntnisse aus ihnen herausbrechen, indem sie sich für Narren ausgeben oder ständig in tiefer Demut und Selbsterniedrigung einherwandeln. Andere zeigen nur wenigen, die sie für geeignet halten, wie es um sie steht. Wieder andere hat Allah dazu ausersehen, daß sie aussprechen, was er zu tun gedenkt. Einige der Gottesfreunde wissen dies im voraus, andere erst dann, wenn es schon geschehen ist. Einige glauben an das, was Allah im jeweiligen Augenblick tut und sagt, anderen wiederum enthüllt sich der Kosmos, sei es, daß sie ihn nur in seiner Gesamtheit

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wahrzunehmen vermöchten, sei es, daß sie sogar alle einzelnen Vorgänge des göttlichen Schaffens erkennten nebst allem, was Allah zu jedem noch kommenden Augenblick ins Werk setzen wird. Abū l-Ḥasan b. aṣ-Ṣabbāġ, ein Meister aus Alexandrien, fragte seine Gefährten: „Ist unter euch jemand, dem Allah, wenn er in der Welt etwas ins Dasein rufen will, davon Kunde gibt, bevor es geschieht?“ und als alle dies verneinten, rief er aus: „Weint über eure Herzen, denen der Zutritt zu Allah verwehrt ist!“ Wieder andere Gottesfreunde vernehmen, sobald sie einen Garten betreten, wie jeder Baum und jeder Strauch ihnen zurufen und ihnen mitteilen, welchen Nutzen und welchen Schaden sie den Menschen stiften gemäß der Weisheit des Schöpfers. Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī schwor, daß in ihm diese Fähigkeiten schon zum Durchbruch kamen, ehe er geschlechtsreif wurde. Bisweilen wird ein Gottesfreund, der eine in eine leibliche Schale gehüllte Erscheinung des geistigen Seinsbereiches ist, seine Kräfte derart steigern können, daß er abändert, was bereits im Begriff ist zu geschehen.4 Meister Muḥammad aš-Širbīnī5 erschaute einst mit Entsetzen, wie der Todesengel kam, um ihm den Sohn zu nehmen. Der Meister ergriff den Knaben und entriß ihn mit Gewalt dem Engel, den er anfuhr: „Geh zu deinem Herrn zurück!“ und der Sohn lebte danach noch an die dreißig Jahre. Auch anderen Gottesmännern gelang es, dergestalt auf das Walten der göttlichen Bestimmung Einfluß auszuüben. In dem Lehrgedicht Die Perle, das gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstand und das bis ins 19. Jahrhundert als eine viel studierte und häufig kommentierte Zusammenfassung der sunnitischen Glaubenslehren an der al-Azhar benutzt wurde, ist ebenfalls davon die Rede, daß das Bitten mit den richtigen Worten ein Verhängnis aufhalten könne.6 Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, stieg einst, als der Nilstrom nicht in dem erforderlichen Maße anschwoll, in den Nilometer auf der Insel ar-Rōḍa hinab, und siehe, das Wasser folgte ihm nach oben, an jenem Tag um eine ganze Elle. „Und als die Palme, die im Hof unserer alten Medresse steht, einige Jahre keine Früchte trug, fragte ich ihn um Rat, und er empfahl mir, ich solle der Palme sagen: ‚Der Mekkapilger ʿAlī, der Palmblattflechter, gebietet dir: Trage in diesem Jahr Früchte, oder man wird dich fällen!‘ und sie trug in jenem Jahr so viel Datteln, daß wir mit Stützen die Fruchtstände sichern mußten.“ Eine solche Fähigkeit ist äußerst selten. „Es gibt nahezu keinen Derwisch, der wirklich einem solchen Mann begegnet in dieser Zeit, in der sich die Gottesfreunde hinter siebzigtausend Schleiern verbergen.“7 Kaum ein Zeitgenosse hat eine so tiefe Einsicht in den Zusammenhang zwischen dem diesseitigen Geschehen und seiner Vorprägung im geistigen Seinsbereich gewinnen dürfen wie er, schreibt aš-Šaʿrānī. Nähme man ihm auch noch den letzten Schleier vom Gesicht, so stiege seine Gewißheit gleichwohl nicht mehr. Dies danke er dem Erbe ʿAlī b. abī Ṭālibs – wie erinnerlich, war zu einem nicht näher bestimmbaren Augenblick seines Lebens deutlich geworden, daß er über Muḥammad b. al-Ḥanafīja vom Vetter und Schwiegersohn des Propheten abstammte. Wenn aš-

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Šaʿrānī nun unvermittelt alle Schrecknisse des Jüngsten Tages in unübertrefflicher Klarheit vor Augen hätte, vermöchte ihm dieses Schauen nicht die Gewißheit des Glaubens zu vermehren, es wäre nichts weiter als die gänzlich ungetrübte Wahrnehmung dessen, was er ohnehin weiß. Wenn die Sonne durch einen Wolkenschleier hindurchscheint, dann hat man eine unwiderlegbare Kenntnis von ihr, und verzieht sich der Wolkenschleier, dann sieht man klar, wovon man schon die Gewißheit erlangt hat. Und niemand zweifelt, daß die Frau, die von feinem, durchscheinendem Stoff verhüllt der Hochzeitsgesellschaft gezeigt wird, die Braut ist, und wenn sie den Schleier ablegt, steigt nicht die Gewißheit dieser Erkenntnis, sondern nur die Klarheit. Aber was ist mit dieser unübersteigbaren Gewißheit gewonnen? Der Zusammenhang beider Seinsbereiche, die wesentliche Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der islamischen Heilsbotschaft, daß der Mensch vor Allah von Angesicht zu Angesicht steht und niemals aus der ihn beglückenden Gegenwart des Einen Wahren verstoßen werden kann – die unerschütterliche Gewißheit, daß dieser Zusammenhang den Kosmos konstituiert, vermittelt gerade nicht die Seelenruhe, nach der es aš-Šaʿrānī so sehr verlangt. „Ich fürchtete mich vor einem bösen Ende, wie es schon viele Große ereilte, deren Schüler zu sein ich nicht wert bin. Einmal fragte man al-Ǧunaid: ‚Bist du besser oder ein Hund?‘ und er antwortete: ‚Das ist verborgen, außer Allah weiß es niemand.Wenn ich in die Hölle komme, dann ist der Hund besser als ich, und wenn ich ins Paradies komme, dann bin ich besser als der Hund.‘ Man überliefert, daß der Messias zu den Jüngern sprach: ‚Ihr fürchtet die Verfehlungen, wir, die Schar der Propheten, aber fürchten den Unglauben.‘“8 Die Furcht hinter der Heilsgewißheit Das eben ist es! Das Eindringen in die Geheimnisse des Kosmos, das Schauen auf die göttliche Bestimmung gibt dem Gottesfreund das Empfinden, weit über die Schar seiner Glaubensbrüder hinausgehoben zu sein. Er ist mit einer Erkenntniskraft begnadet worden, die ihm die Einsicht in die Weisheit eröffnet, mit der Allah stets zu Werke geht. Aber es gibt eine Grenze, die auch das Schauen nicht überwinden kann, und hinter dieser Grenze liegt das, was der Muslim am heftigsten zu wissen begehrt: Wie wird es mit ihm nach dem Gericht weitergehen? Darf er dessen sicher sein, daß er, der nach seiner Überzeugung den wahren Glauben bezeugt und für den der letzte und größte aller Propheten sein Wort einlegen wird, nicht doch in die Hölle verwiesen wird? Mag der Muslim auch die Weisheit Allahs schauend entschlüsseln, der letzte Zielpunkt, auf den solches Erkennen zuläuft, ist das Gericht; es ist das drohend sich auftürmende Ereignis, auf das das Zusammenspiel von Offenkundigem und Verborgenem durch den Schöpfer hingeordnet wird, und dann, erst dann, im Augenblick der Aburteilung, wird jedem mitgeteilt, wie es mit ihm auf

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ewig weitergehen wird. Hier, im Diesseits, mögen die Kräfte des Gottesfreundes ausreichen, um bisweilen sogar den Todesengel zu überwinden, und wenn ihm dies gelingt, dann mag er sich viel darauf zugute halten. Doch was dies Gelingen im Hinblick auf das Jenseitsschicksal besagt, ist vollkommen ungewiß. Selbst al-Ǧunaid, das Vorbild der sunnitischen Gottesfreunde, ist im Zweifel, ob er am Tag des Gerichts Allah nicht genauso wenig gelten werde wie ein unreiner Hund – und bei wem könnte man eher von einem gelungenen Leben sprechen als bei ihm, dem ersten der großen Meister, bei denen aš-Šaʿrānī nach eigenem Bekunden nicht einmal hätte in die Schule gehen dürfen? Bereitwillig bestätigt aš-Šaʿrānī allen Gottesfreunden, daß sie in das Verborgene spähen. Aber sie alle hüten sich davor, „etwas von den Fünfen in Anspruch zu nehmen, die am Ende der Sure ‚Luqmān‘ genannt werden“. Dort heißt es: „Ihr Leute! Seid vor eurem Herrn auf der Hut und fürchtet einen Tag, an dem kein Vater etwas für seinen Sohn ausrichten kann, kein Kind etwas für seinen Vater! Was Allah ankündigt, ist wahr! Darum soll euch das diesseitige Leben nicht in Sicherheit wiegen; und auch der Betörer soll euch ja nicht in Sicherheit wiegen vor Allah! Nur Allah hat das Wissen von der Stunde; er sendet den Regen herab; er weiß, was im Mutterleib verborgen ist; niemand weiß, was er morgen erwerben wird; niemand weiß, in welchem Land er sterben wird. Allah aber ist allwissend, allkundig!“ (Sure 31, 33 f.). Diese Verse ruft sich aš-Šaʿrānī ins Gedächtnis und schreibt dann: „Man sagt, daß Allah dem Propheten diese fünf Erkenntnisse schenkte, ihm dann aber befahl, sie geheim zu halten. Wenn dies richtig ist, dann ist wohl denkbar, daß seine Erben“ – die Gottesfreunde – „darüber verfügen. Vielleicht behauptet jemand, daß ein Gottesfreund dem Regen befiehlt: ‚Komm herab!‘ worauf tatsächlich Regen fällt. Dieser Behauptung halten wir entgegen, daß ein solches Geschehen nicht in einem Widerspruch zu der Aussage über das Wissen von jenen Fünfen steht. Denn dieser Meister durfte doch nur nach Allahs Willen auf das Herabkommen des von Allah gewirkten Regens schauen bzw. Allah gab ihm den Zeitpunkt ein, auf den er das Fallen des Regens festgelegt hatte. Man kann überhaupt nicht davon reden, daß der Gottesfreund aus eigener Kraft den Regen herabgeholt hätte, auch nicht davon, daß er die Ursache dafür gewesen wäre. Der Koranvers spricht dem Menschen das Vermögen ab, es regnen zu lassen. Dergleichen ist unmöglich. Man erzählte uns über den Meister Aḥmad as-Sabtī aus dem Magreb, daß er die Grundsteuer des Landes, für das er Allah um Regen angerufen hatte, an sich nahm und behauptete: ‚Hätte ich nicht Allah angefleht, wäre dort kein Regen gefallen!‘ Da weigerte sich jemand, ihm den Steueranteil am Getreide auszuliefern, worauf der Meister entgegnete: ‚Wir befehlen dem Regen, nicht das Land dieses Mannes zu benetzen!‘ und so geschah es auch. Der Regen fiel auf das Land der Bauern rechts und links von ihm, doch auf sein Getreide nicht ein Tropfen. Da brachte der Mann dem Meister die verweigerte Grundsteuer, worauf dieser rief: ‚Allah, ich bitte dich, sag dem Regen, er solle das Land dieses Mannes

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hier bewässern!‘ und es begann darüber wie aus Kübeln zu regnen.“ Allah erzeigte dem Meister ein Huldwunder, und es ist nicht so, daß der Meister den Regen bewirkt hätte. Aš-Šaʿrānī erzählt weitere Geschichten dieser Art. Keine darf als ein Beweis dafür gewertet werden, daß ein Gottesfreund aus sich heraus Zeitpunkt und Todesart eines Menschen vorauszusagen vermöchte oder gar wüßte, wie die Leibesfrucht beschaffen sei, männlich oder weiblich, geschweige denn, welches Jenseitsschicksal ihr bestimmt ist. Gänzlich unbekannt ist den Menschen der Zeitpunkt des Jüngsten Tages; klar dagegen sind die Schrecknisse, die dann über die Welt hereinbrechen werden. Selbst was die Menschen morgen treiben werden, ob sie gute oder schlechte Taten auf ihrem Jenseitskonto erwerben werden, ist nicht vorauszusagen. Aš-Šaʿrānī gibt die Ansichten einiger Muslime wieder, die hervorheben, die Verse am Ende der Sure „Luqmān“ schlössen nicht gänzlich aus, daß man etwas von jenen fünf Fragen in Erfahrung bringe. Auf eine Erörterung dieser Ansicht läßt er sich aber nicht ein, sondern er stellt fest, daß mit allem, was Allah schafft, auch ein Wissen verbunden ist, in das er niemandem Einblick gewährt. „Sie wissen nichts von dem, außer was er will“, heißt es im Thronvers (Sure 2, 255).9 Diese Unzugänglichkeit der letzten, wichtigsten Dinge ist äußerst bedrückend, denn sie eröffnet hinter aller Heilsgewißheit, deren sich der Muslim in seinem irdischen Dasein erfreuen darf, ganz am Ende doch die Möglichkeit, von Allah verworfen zu werden. Allah hat sich vor aller Zeit den noch nicht materiell geschaffenen Nachkommen Adams als der Herr zu erkennen gegeben (Sure 7, 172), und er hat den Menschen den Weg gewiesen, sich ganz seiner im Diesseits waltenden Fügung anzuempfinden und alle Ichhaftigkeit auszulöschen. Im Diesseits und so weit, wie dieses betroffen ist, brauchen sie dann nichts zu befürchten! Ihr Dasein ist zu Allah hin geschaffen und ihnen so und nicht anders verliehen worden. Aber was danach kommt, das müssen sie fürchten. So steht es in den letzten Versen von Sure 31, und hier und jetzt gibt es keine Gelegenheit, dieser Furcht zu entrinnen. Ezra, so überliefert der sunnitische ḥadīṯ-Kenner al-Baihaqī (gest. 1066), sprach zu Allah: „Ich weiß, daß du ein gewaltiger Herr bist. Wenn du es wolltest, würde man dir gehorchen und niemand widersetzte sich dir! Und wie sieht es auf Erden aus? Da gab ihm Allah dieses ein: ‚Laß ab von dieser Frage, oder ich werde deinen Namen aus dem Verzeichnis der Propheten streichen!‘“ Aš-Šaʿrānī findet die Vorstellung, ein seinem Wesen nach sündloser Prophet müsse nach dem Ende der Welt die Verdammnis gewärtigen, keineswegs befremdlich. Denn Allah ist in allem vollkommen souverän, sein Wille unterliegt keinerlei Beschränkung. „Ein Urteil, das jemand über einen anderen fällt, hat keine Kraft über den, der es fällt…“ Ungläubig sind nach Sure 5, Vers 17, die Christen, da sie Jesus, den Sohn der Maria, für Allah erklären. „Sprich: ‚Wer könnte denn bei Allah etwas dagegen ausrichten, wenn er Jesus, den Sohn der Maria, und dessen Mutter vernichten wollte und alle, die auf Erden leben?‘“ Der Prophet selber

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war sich dessen bewußt, daß ein winziges Vergehen drakonisch geahndet werden kann.Wenn es zudem in Sure 11,Vers 107, heißt, die Insassen der Hölle müßten darin bleiben, solange die Himmel und die Erde bestünden, es sei denn, Allah überlegte es sich anders, dann ist daran keine Zuversicht zu knüpfen. Aš-Šaʿrānī sieht in dieser Wendung nichts anderes als die Verpflichtung, an die ewige Gültigkeit jener letzten Entscheidung zu glauben, von der nicht einmal die Propheten voraussehen können, wie sie ausfallen wird. Zwar nahm der Gottesfreund ʿAlī al-Marṣafī für sich das Wissen in Anspruch, verbindlich vorherzusagen, wer die Glückseligkeit erlangen und wer verworfen werde, und Ibn ʿArabī hat sich sogar selber in der Schar der Paradiesbewohner geschaut, aber aš-Šaʿrānī läßt dergleichen nicht gelten. Denn was beide erschauten, gehörte der Welt der Traumgesichte an und verdient nur dann Vertrauen, wenn der Schauende ganz und gar sündlos ist – wie die Propheten –, und diesen Rang erreichen die beiden Gottesfreunde selbstverständlich nicht. So wartet am Ende aller Einsicht in den Kosmos, in den Lauf der Dinge seit dem Augenblick der Erschaffung der Welt aus dem Nichts bis zu ihrer Vernichtung, nichts anderes als unbezähmbare, im Diesseits niemals zu beruhigende Furcht. „Du hast dich, mein Bruder, zu fürchten, solange du lebst!“10 Das Zwischenreich Alle seine großen Meister waren nach ihrem Tode nicht ganz und gar von aš-Šaʿrānī abgeschieden. Im Gegenteil, sie verkehrten nach wie vor mit ihm, berieten ihn. „Einer von ihnen, nämlich Meister Aḥmad aš-Šanāwī, breitete vor mir einen grünen Gebetsteppich aus, damit ich darauf Platz nähme, ein anderer besprühte mir den Bart mit Wohlgeruch, Moschus und Ambra.“ Aš-Šaʿrānī wagte es freilich nicht, vom Angebot aš-Šanāwīs Gebrauch zu machen und sich niederzusetzen, und zwar aus Scheu vor Allah. Die Geste des verstorbenen Meisters konnte als die Erlaubnis gedeutet werden, als dessen Nachfolger Zöglinge auf den Weg der Leute zu führen und ihnen die Formel des Gottesgedenkens anzuvertrauen. Doch besagte die Geste auch, daß aš-Šaʿrānī die Wahl überlassen blieb, ob er das Angebot annehmen oder ausschlagen wollte; hätte aš-Šanāwī ihn mit eindeutigen Worten zur Nachfolge aufgefordert, hätte er dem nachkommen müssen. Nun hatte aš-Šanāwī allerdings schon vor dem Tod aš-Šaʿrānī zum neuen Meister bestimmt, so daß es jetzt mit der bescheidenen Ablehnung sein Bewenden haben durfte. Die Berufung zu Lebzeiten ašŠanāwīs hatte mehr Gewicht als jene aus dem Zwischenreich, erläutert aš-Šaʿrānī, doch gilt dieser Grundsatz nur, sofern man auf die äußere Wirkung schaut. Die innere, in ihm selber sich entfaltende, ist viel mächtiger, sofern die Aufforderung aus dem Zwischenreich erfolgt, denn dieses ist der Ort, an dem sich „die Wesenheiten rein manifestieren“.11 Das Zwischenreich, die Welt des Verborgenen, ist dem Hof Allahs vorgelagert. Die von diesem Hof ausgehenden Bestimmungen können im

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Zwischenreich, einem Bezirk geschaffen werdenden Seins von klarer, nicht durch die Sinnlichkeit des Diesseits getrübter Erscheinungsweise, geschaut werden, und es mag für den Gottesfreund eine beglückende Erfahrung sein, daß er erkennt, was Allah von Anfang bis Ende mit dieser geschaffenen Welt vorhat und was in jedem Augenblick geschieht. Wer auf das angewiesen ist, was seine fünf Sinne wahrnehmen und was sein Verstand erschließen kann, der wird niemals zu solch tiefer Einsicht vordringen. Aber der ganze von der Weisheit des Schöpfers durchwaltete Kosmos ist eben nur zeitlich, und am Jüngsten Tag wird dieses Gefüge zunichte werden. Ob danach Allah noch irgend etwas mittels seiner Fügung bestimmen wird, ist ungewiß, nein, ganz und gar unwahrscheinlich. Die letzte Entscheidung, die er trifft, kann nicht revidiert werden. Paradies und Hölle werden sein, desgleichen diejenigen, die der einen und der anderen Bleibe zugewiesen wurden. Aber nichts mehr wird sich ändern; Allah in seiner unendlichen Souveränität wird auf immer bei sich selber bleiben, und das, was einst der Kosmos war, wird einer unausdenklichen Verlassenheit überantwortet sein. Selbstbehauptung bei völliger Ausgeliefertheit an Allah Die frühe aschʿaritische Theologie hatte Allah für einen unberechenbaren Willkürherrscher erkannt, dem man sich bedingungslos und unter Hintanstellung aller Hoffnung auf die Behauptung des menschlichen Selbst unterwerfen mußte. Die Welt war Allahs Werk, sie war meisterlich geordnet, wurde von ihrem Schöpfer kundig von Augenblick zu Augenblick neu geprägt. Der Mensch aber hatte keine Aussicht, sie je zu begreifen, weil es keine Aussicht gab, je Ihn zu begreifen. Die bedrückende Hilflosigkeit der Kreatur, ihr Ausgeliefertsein an den Schöpfer, wurde nicht aufgehoben, aber wenigstens gemildert durch die vor allem von al-Ġazālī verbreitete Zuversicht, dieser Schöpfer gehe in allem mit Weisheit vor und nicht, wie man hatte befürchten müssen, wie ein böser Tyrann. Mit dieser Denkfigur entzogen sich die Muslime zwar nicht ihrer Glaubenseinsicht, daß Allah in jedem Augenblick alles bestimme, doch sie drängten die beklemmende Empfindung des Ausgeliefertseins ein wenig zurück. Das Schöpfungswerk zeigte sich ihnen nun als ein Kosmos, auf dessen Verfaßtheit, so wie er sich manifestierte, sie sich verlassen konnten. Die Möglichkeit, daß im nächsten Augenblick alles durch Allah in verhängnisvoller Weise verändert würde, war nicht ausgeschlossen, aber sie wurde in den Hintergrund gerückt. Nach wie vor war alle innerweltliche Kausalität nur Schein, aber wenn man die kaum in eine einheitliche Ordnung zu bringenden bunten Erscheinungen der materiellen Welt hinter sich ließ und zu ihrer verborgenen Grundlage, der Weisheit Allahs, vorstieß, dann wurde ein Sinn des scheinbar Sinnlosen faßbar. Hier, in dieser Welt, gibt es dann doch Möglichkeiten, die Anwartschaft auf das Paradies zu festigen. Aš-Šaʿrānī ist sich dessen bewußt und hat

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zeit seines Lebens entsprechend gehandelt: Er hat alles das getan, „wovon Allah die Länge des Lebens, den Unterhalt und das Sterben im Glauben abhängig machte“. Aš-Šaʿrānī beläßt es nicht bei dieser Versicherung, sondern er bemüht sich, seinen Brüdern zu erklären, wie dies angesichts der unabwendbaren Wirksamkeit der göttlichen Vorherbestimmung zu verstehen ist. „Wenn im Vorauswissen Allahs festgelegt ist, daß ich lange lebe oder mein Unterhalt reichlich ist oder daß ich im rechten Glauben aus der Welt gehe, dann wird dies unausweichlich eintreffen – dies ist die Behauptung einiger Leute, die ohne Meister den Weg zu kennen beanspruchen. In Wahrheit ist dies der Gipfel der Unwissenheit.“ Wären sie bei einem Meister in die Lehre gegangen, hätten sie Einblick in die Wahrheit erhalten. „Denn der erhabene Allah hat die Ursachen dem Verursachten vorgeordnet und alle Kreatur der Versklavung durch die Ursachen unterworfen. Von niemandem könnte man mit Fug und Recht behaupten, er vermöge sich dem allen zu entziehen. So verhält es sich nun einmal, und zum guten Benehmen des Knechtes gehört es, dem Befehl seines Herrn zu gehorchen und diesem Folge zu leisten, wohin er ihn auch leiten mag. Wenn der Herr ihn wissen läßt, er werde ihm nur unter der Voraussetzung verzeihen, daß er das und das sage, dann steht es dem Knecht nicht zu, seinen Herrn zu bitten, er möge ihm verzeihen, ohne daß jene Worte gesagt würden. Nimm dir dies zum Maßstab!“ Es gibt sehr wohl eine Art von Kausalität in dieser geschaffenen Welt, aber sie ist von Allah in jedem Einzelfall ausdrücklich festgelegt worden und kann durch den Menschen nicht erschlossen werden. Die Länge des Lebens und die Üppigkeit des Unterhalts, den Allah gewährt, sind nicht zu beeinflussen, indem man streng auf die Gesundheit achtet oder die eigene Arbeitskraft möglichst gewinnbringend einsetzt. Die Kausalverknüpfungen werden von Allah souverän bestimmt, und dementsprechend hat der Mensch zu handeln. Wie üblich veranschaulicht aš-Šaʿrānī seine Auffassung mit Zitaten anderer Meister, so etwa ʿAbd al-Qādir ad-Dašṭūṭīs, der seinen Zöglingen diese Zusammenhänge an einem Erlebnis Abū Idrīs al-Ḫaulānīs,12 eines Frommen des 7. Jahrhunderts, aufwies. Abū Idrīs leitete einen Zirkel, dem er erbauliche Predigten vortrug; danach stellte sich gewöhnlich al-Ḫaḍir bei ihm ein, und sie unterhielten sich vertraulich. Abū Idrīs fragte den Besucher aus dem Zwischenreich eines Tages: „Was muß der Mensch tun, damit Allah ihn als einen Gläubigen sterben läßt?“ Al-Ḫaḍir erwiderte, daß er eben diese Frage unzähligen Propheten vorgelegt habe, ohne eine Antwort zu erhalten; erst Mohammed habe Rat gewußt: „Wer das Morgengebet vollzieht, den Thronvers (Sure 2, 255) vorträgt und ‚Der Gesandte glaubt an das, was ihm aus der Gegenwart seines Herrn herabgesandt wurde…‘ bis zum Ende der Sure (Sure 2, 285 f.) und ‚Allah bezeugt, daß es keinen Gott außer ihm gibt‘ (Sure 3, 18) bis zu den Worten ‚und du gewährst Unterhalt, wem du willst, ohne Abrechnung‘ (Sure 3, 27) rezitiert, der wird im rechten Glauben sterben.“13

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Seit langem gab es ein umfangreiches Schrifttum, das dem Muslim diese Art von Kausalität nahebrachte. Aš-Šaʿrānī entnimmt im Anschluß an die Belehrung durch ʿAbd al-Qādir ad-Dašṭūṭī ein weiteres Beispiel dem bis heute beliebten Erbauungsbuch Der Garten der Erkennenden von Naṣr b. Muḥammad as-Samarqandī (gest. 983). Ursache und Verursachtes sind so beschaffen, daß Materielles und Immaterielles in unbeschränkter Weise ineinandergreifen. Klare Abgrenzungen gibt es nicht, wie denn der Kosmos so verfaßt ist, daß das Verborgene und das Offenkundige sich mischen, wobei hier, im Diesseits, im Offenkundigen, das Materielle vorwaltet, im Verborgenen das „Immaterielle“. Der Gottesfreund in dieser Welt ist ein Leib, der den Geist umschließt, im Zwischenreich, dem Bezirk des Verborgenen, in dem er nach dem Tode des Anbruches des Jüngsten Tages harrt, ist er ein Geist, der den Leib verhüllt, hörten wir. Offenkundiges und Verborgenes sind miteinander verwoben, und dank den unzähligen durch Allah von Fall zu Fall gestifteten Ursache-Wirkung-Verhältnissen darf man dieses Miteinander einen Kosmos nennen. Aber nie darf man vergessen, daß alles dies nur gilt bis zum Anbruch des Gerichts. Was danach kommt, weiß niemand, und unter diesem entscheidenden Vorbehalt steht jede von Allah zuvor festgelegte Kausalität, die in Wahrheit nichts weiter ist als eine durch Allah gewohnheitsmäßig eingehaltene zeitliche Aufeinanderfolge von Schöpfungshandlungen. Die Ekstase Zweierlei folgt aus dieser Vorstellung von der Ordnung der geschaffenen Welt: Zum einen muß es ratsam sein, schon hier und jetzt – nach Art der Gottesfreunde – die Fülle des Geistes, die der Körper in sich birgt, zu steigern. Zum anderen aber ist stets zu bedenken, daß eine Gewißheit bezüglich dessen, was alles irdische Dasein überschattet, nämlich des Gerichts, hier nicht zu erlangen ist. Die Steigerung der Geistesfülle, das Verdichten jener Beschaffenheit, die den Menschen zum Einswerden mit der göttlichen Fügung bereit macht, ist der Weg zum Glück in dieser Ära vor dem Endgericht, aber dieses Glück ist, wie alles Geschaffene, flüchtig und, streng betrachtet, sogar heimtückisch, weil es gleich dem Rausch immer nur für kurze Zeit vorhält und die Furcht lediglich verdeckt, nicht aber auflöst. Trotzdem ist dieser Rausch, die Ekstase, erstrebenswert, wofern sie nur darauf abzielt, daß man tatsächlich in der göttlichen Bestimmung entwird. Die Absicht allein trennt zwischen gottgefälliger Ekstase und verwerflicher Betörung der Sinne. Aš-Šaʿrānī weist den Leser seiner Lebensbilanz mehrfach auf diese ihm sehr wichtige Unterscheidung hin, so etwa, wenn er sich mit Musik und Gesang auseinandersetzt. Grundsätzlich sei er bereit, jedem, selbst einem der Beauftragten der Machthaber, einem Übeltäter mithin, abzunehmen, daß er in eine löbliche Ekstase falle, wenn auch nur ausnahmsweise – denn jener ist ja nicht durch die harte Schulung der Ichabstreifung

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gegangen, der ein Mann wie aš-Šaʿrānī sich am Beginn des Weges unterwarf. „Bisweilen zieht Allah vor einigen Herzen den Schleier fort, und sie sehnen sich nach ihrem Ursprungsland zurück – und deshalb neigen sie sich hin und her wie ein Baum, der seine Wurzeln aus der Erde herausreißen möchte.“ Während des Gottesgedenkens wird der Leib des Menschen in einem solchen Maße geisthaltig, daß er zu schwanken beginnt, denn mächtig zieht es ihn hinauf, belehrte aš-Šaʿrānī seine Brüder, als er ihnen über seine Erfahrungen mit dieser Art der Verehrung des Einen berichtete.14 Hier nun werden wir darüber ins Bild gesetzt, daß auch Ungeübte von solchem Erleben überwältigt werden können. Die Musik mag dem förderlich sein. Viele Rechtsgelehrte haben sie für unerlaubt erachtet, denn alles, was den Verstand trübt und dadurch die strenge Befolgung des göttlichen Gesetzes beeinträchtigt, ist abzulehnen, eben weil es wider die Geltung der Scharia wirkt. Doch wenn man das Ineinander von Offenkundigem und Verborgenem, von Materiellem und Geistigem recht erwägt, muß jedes Mittel zulässig sein, das letzterem, wenn auch nur flüchtig, die Oberhand verleiht, denn das Geistige ist doch die lautere Fügung Allahs. Im Jahre 980 waren die berühmtesten Schariagelehrten des Irak unter einem Dach versammelt, und sie baten einen Sänger, er möge ihnen ein Lied vortragen. Die Botschaft der Geliebten, hob dieser an, verheißt die Erfüllung alles Begehrens! „Besuche mich und ziere dich nicht, o mein Geliebter!“ lauten ihre Worte, „denn daß du mich liebst, ist allen bekannt!“ Freudetrunken ruft der Liebhaber aus: „Wart auf mich, daß ich gehorsam zu dir eile!“ Wie kann man, wenn die Großen der Rechtswissenschaft sich an diesem Lied ergötzten, noch ein Gutachten gegen die Musik abfassen? Wäre damals das Dach herabgestürzt, es wäre im Irak wirklich niemand mehr am Leben gewesen, der hätte sagen können, was die Scharia in diesem oder jenem Fall vorschreibt – alle maßgeblichen Juristen ließen sich von jenem Gesang ergötzen! Meister Afḍal ad-Dīn, der von aš-Šaʿrānī so oft zitierte Freund und Gefährte, meinte, daß die Musik je nach dem Zwecke, zu dem sie ertönt, von dreierlei Art ist und dementsprechend durch die Scharia bewertet wird. Untersagt ist es, den Liedern zu lauschen, die das Begehren und die Leidenschaft entfachen und zu verbotenem Tun verführen. Geboten, ja Pflicht ist es, solchen Gesängen zuzuhören, die von Menschen vorgetragen werden, die der Liebe zu Allah verfallen sind, so daß sie durch das Verlangen, ihm zu begegnen, gleichsam aus dem Boden ihres materiellen, diesseitigen Daseins gerissen werden – so sind die Verse zu verstehen, die man einst den irakischen Gelehrten vortrug! Die dritte Art von Musik ist zulässig und rechtlich indifferent. Es ist sogar möglich, daß gegen Lohn ein Gesang vorgetragen wird, der jemanden in eine erwünschte Ekstase der Gottesliebe versenkt – dieser Zustand kann demnach mit Absicht herbeigeführt werden. ʿUmar b. al-Fāriḍ (gest. 1235), der verehrte wie auch gehaßte Dichter der spirituellen Nähe zu Allah, wurde eines Tages zu einem Festmahl geladen. Der Sänger verlangte vom Gastgeber einen Dinar, und er werde Ibn al-Fāriḍ in Verzückung versetzen. Jener

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entsprach der Forderung, und als der Sänger vortrug: „Ich ließ im Hedschas jemanden zurück – am Tag der Trennung vertraute ich ihm meine Tränen an“, da riß es Ibn al-Fāriḍ empor, und alle Anwesenden folgten seinem Beispiel und wiegten sich hin und her. Ein anderes Mal betrat er mit einem Fremden sein Haus, in dem etliche Frauen das Tamburin schlugen und sangen, und die ganze Nacht verbrachte Ibn al-Fāriḍ in Ekstase. Dem Fremden war dies alles höchst verdächtig, wie Ibn alFāriḍ am nächsten Morgen bemerkte; doch waren die Bedenken grundlos, denn der Dichter hatte alle diese Frauen als Sklavinnen gekauft, allein zu dem Zweck, in ihm das Feuer des Sehnens nach der Begegnung mit Allah zu entfachen. Die Wirkung der Musik: Entschränkung der Sinne Von Sidi ʿAlī, dem Palmblattflechter, ließ sich aš-Šaʿrānī genau über die Wirkungen der Musik unterrichten. Die Musik ist in hohem Maße der Einsicht in die Wahrheiten des Verborgenen förderlich; so lautet seine These, die er wie folgt begründet: „Allah hat seinen Knecht mit der Aufgabe belastet, mittels der fünf Sinne Handlungen zu erwerben, mittels des Hörens, Sehens, Tastens, Riechens und Schmeckens. Er hat ihn aber auch mit der Aufgabe belastet, mittels der verborgenen fünf Sinne, über die die Schauenden gebieten, Handlungen zu erwerben. Wenn erst das Selbst des Wanderers von allen Schlacken befreit ist und er von Allah die Fähigkeit des Eingreifens (in die Fügung) erhielt, dann sind alle seine Gliedmaßen tätig, ein jedes Glied vermag die Aufgaben eines anderen zu übernehmen. Er hört dann mit den Augen, sieht mit den Ohren, redet mit den Augen und so fort. Hüte dich, dies abzustreiten, denn zur Strafe für dein Leugnen wirst du des Zugangs zu dieser Erfahrung beraubt. Man weiß doch, daß die Leute Allahs nicht bloß etwas Bestimmtes unter den seienden Dingen hören. Denn jedes Wort oder jede Bewegung im Seienden hat einen subtilen Sinn und ein lauteres Geheimnis, so daß das edle Streben (der Leute Allahs) erregt werden kann, wenn sie das Wehen des Windes, das Schwanken der Bäume, das Rauschen des Wassers, das Summen der Fliegen, das Knarren der Türen, das Zwitschern der Vögel, den Ton der Saiten, das Pfeifen der Flöte, das Stöhnen des Kranken, den Wehelaut des Betrübten, das Schreien, das Jammern der Totenklage hören. Es gibt zwischen allen diesen Geräuschen keinen Unterschied; sie sprechen lediglich eine andere Disposition der menschlichen Natur an.“ Die in materiellen Seinsbereichen gegebenen unterschiedlichen Wahrnehmungsarten verschwinden, sobald der Geist, den der Leib des Menschen einhüllt, dominierend wird. Im verborgenen Seinsbereich manifestiert sich das, was wir hier, im offenkundigen, als Gestalt bezeichnen und was scheinbar eine deutlich bestimmbare Erscheinungsform aufweist, auf eine Art und Weise, daß es sich, wenn wir das dort Geschaute mit der auf das Offenkundige ausgerichteten Sprache ausdrücken wollen, in ganz verschiedenen Konturen darstellt, Konturen, die nach

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unserer diesseitigen Erfahrung ein und dasselbe Ding niemals annehmen kann, weder nacheinander, noch gar gleichzeitig. Darüber belehrte aš-Šaʿrānī den Leser am Beginn dieses Kapitels und warnte ihn vor dem Irrtum, im Verborgenen lebten reine Geistwesen. Den Worten Sidi ʿAlīs, des Palmblattflechters, muß man entnehmen, daß dementsprechend die für das Offenkundige geschaffenen Sinnesorgane im Verborgenen entschränkt sind – und eben dies ist der glückhafte Zustand der Ekstase, der durch den Gesang hervorgerufen werden kann. Den Gottesfreunden, den Menschen, die die spirituellen Anlagen, die der Schöpfung eignen, in sich herangebildet haben, kann jeder denkbare Laut zum Reiz werden, der ihr Wahrnehmungsvermögen für das Verborgene öffnet, es gegen das Diesseitig-Materielle abschottet und sie in ein Schauen hinübergleiten läßt, das der Außenstehende mit dem Wort Verzückung benennt. „O Geliebter, o Geliebter!“ ruft der Ekstatiker aus, ohne noch seine Umgebung wahrzunehmen. Die Verfaßtheit der geschaffen werdenden Welt wird in solchen Augenblicken erkennbar, und deshalb kann aš-Šaʿrānī auf die Ansicht Afḍal ad-Dīns verweisen, daß es schariatische Pflicht sei, sich derartige Erfahrungen anzueignen. Viele Male drängt der Koran die zweifelnden Mekkaner, sich aus der Anschauung der Natur, aus dem Beobachten der Wirkungen des Regens, des Wachstums und des Verwelkens der Pflanzen einen Begriff von der unbezwingbaren Schöpferkraft Allahs zu bilden. In der Ekstase erfüllt sich diese Forderung im eigentlichen Sinn: Das unauflösbare Band der Liebe zwischen der Kreatur und dem Einen Wahren tritt zutage, die glückhafte Erkenntnis der Heilsbestimmtheit alles Geschaffenen. Daß sich Bäume in tiefer gegenseitiger Zuneigung aneinanderlehnen, daß der Magnet das Eisen an sich zieht, das sind irdische Metaphern für die den Kosmos durchdringende Liebe zwischen Schöpfer und Geschöpf. Und da es diese Metaphern gibt, so muß auch die Musik erlaubt sein, folgert aš-Šaʿrānī, eben weil sie den Sinn dieser Metaphern existentiell erfahrbar macht. Nicht allein zwischen dem Magneten und dem Eisen herrschen die Kräfte gegenseitiger Anziehung, schreibt aš-Šaʿrānī, nein, jedes Ding hat einen Magneten, von dem es erfaßt wird, das Silber genauso wie das Gold, ja sogar das Wasser.Wenn man einen „Wassermagneten“ unmittelbar über der Oberfläche des Wassers in einem Gefäß aufhängt, dann steigt das Wasser in den „Magneten“ hinein, und man hat die Menge des Wassers, die dieser „Magnetstein“ aufsaugte, sogar wiegen können; sie entsprach genau derjenigen, um deren Gewicht sich der Inhalt des Gefäßes verringert hatte.15 – Das die Seinsbedingungen des Diesseits hinter sich lassende Erkennen der Liebe, die, von Allah ausgehend, den Kosmos, beide Seinsbereiche, durchzieht, bringt dem Gottesfreund wie auch dem unvorbereiteten Muslim einen Augenblick tiefsten Glücks. Der Augenblick aber ist allzu rasch vorüber, das Erleben läßt sich nicht auf Dauer stellen. Der Mensch stürzt unweigerlich zurück in die Furcht. Denn was er geschaut hat, enthüllt ihm nur die Wahrheit über die Welt, in der er lebt, über diese Welt, die einst aus dem Nichts

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geschaffen wurde und die nach Allahs Ratschluß wieder zunichte werden wird, in dem Geschehen am Ende der Tage, von dem der Koran so eindringlich spricht – und was dann mit dem Menschen wird, ist ganz ungewiß, denn Allah kann tun, was er will! Alles Nachdenken, alles Schauen steht unter diesem Vorbehalt, und so ist das Dasein des Muslims von der Angst beherrscht, die nur in den Momenten der Ekstase schwindet, und von dem unerfüllten Wunsch, doch irgend etwas zu wissen von dem, was unwißbar ist. Das bohrende Fragen nach dem, was einen nach dem Tode erwartet, ist der eigentliche Gegenstand, der den Muslim zur Beschäftigung mit dem Kosmos drängt: die vergebliche Suche nach einer Antwort, die er hier nicht finden wird. Die Kultivierung der Angst Die Warnung der Unachtsamen nannte Naṣr b. Muḥammad as-Samarqandī sein anderes Erbauungsbuch, das ungleich häufiger als der Garten der Erkennenden gelesen wird. Die Angelpunkte des Daseins des Muslims sind der Tod und das Gericht; so lautet, auf einen kurzen Nenner gebracht, die Botschaft as-Samarqandīs. Damit der Muslim gut vorbereitet vor den Richterstuhl trete, empfiehlt as-Samarqandī ihm, alle Handlungen einzig unter dem Gesichtspunkt zu vollziehen, daß sie um Allahs willen geschehen. Nur ja nicht darf irgendein anderer Zweck dem Menschen in den Sinn kommen – all sein Tun wäre dann nichts als Heuchelei, nichts als Augendienst, mit dem man sich vor den Mitmenschen brüsten will. Nachdem asSamarqandī diesen Gedanken mit einigen Überlieferungen belegt hat, deutet er an, was er unter einer Handlung versteht. Er denkt vor allem an die Riten, dann an die Errichtung von Bauwerken, die dem Gemeinwesen der Muslime nützen – Moscheen, Brücken, Grenzfesten, schließlich auch denkt er an den Krieg gegen die Andersgläubigen. Die Arbeit, mit der man sich den Lebensunterhalt verdient, gerät ihm nur am Rande in den Blick.16 – Die Gleichsetzung der Scharia mit den Regeln des guten, anständigen Verhaltens behauptet sich erst nach dem 11. Jahrhundert17 und führt dann, wie erwähnt, zu den Ansichten, die Ibn al-Ḥāǧǧ in seinem Werk zusammenfaßt: Alles Handeln, in der göttlichen Weisheit gründend, soll um Allahs willen geschehen und dadurch dem Muslim ein gewisses Maß an Zuversicht verschaffen, die freilich, wie wir nun ahnen, der unüberwindlichen Ungewißheit über das Jenseitsschicksal nicht standhält. – Doch zurück zu as-Samarqandī! Die vortrefflichsten Menschen vereinen in sich fünf Verhaltensweisen: Sie sind stets darauf aus, Allah zu verehren; der Nutzen, den sie den anderen Geschöpfen bringen, ist offensichtlich; niemand muß befürchten, sie könnten Böses tun; sie selber verzichten auf das Gut aller anderen Menschen und sind stets auf den Tod vorbereitet. „Wisse, Bruder, daß wir für das Sterben geschaffen wurden, und es gibt keine Möglichkeit, ihm zu entkommen!“ fügt as-Samarqandī an. Nach Sure 2, Vers 64,

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wünscht sich jeder aufrechte Muslim den Tod, und nur der Lügner flieht ihn, weil er weiß, daß sein Handeln schlecht war.18 Auf den Tod folgen freilich die Schrecknisse und Qualen der Grabespein und dann die Leiden und Prüfungen am Jüngsten Tag, die aber von den nie endenden Foltern der Hölle weit in den Schatten gestellt werden. Das Paradies verheißt wundervolle Genüsse. Der Muslim darf auf die Barmherzigkeit Allahs hoffen, doch mehr als eine Anwartschaft auf solche Art von Glückseligkeit ist hier, im Diesseits, nicht zu erwerben, und den Anfang dieses Weges zur Anwartschaft macht man mit der Buße, der Hinwendung zu Allah und der reuigen Abkehr von allem, was aus einem anderen Grund als dem der Annäherung an den Einen unternommen wird. Wie nach der Umkehr das Leben zu gestalten ist, legt as-Samarqandī dann dar: Schlechte Eigenschaften wie Neid oder Hochmut sind ganz abzustreifen, die rituelle Reinheit ist so sorgfältig wie irgend möglich zu bewahren, die Ritualpflichten müssen genau erfüllt und sollten übererfüllt werden; der Gehorsam gegen Allah und die Feindschaft gegen den Satan sind die Lebensprinzipien, die nach der Umkehr uneingeschränkt gelten. Aš-Šaʿrānī hat sich mit diesem Thema eingehend befaßt und ein Werk hinterlassen, das die Zustände der Toten und des Jenseits beschreibt. Es handelt sich um eine verkürzte und überarbeitete Fassung eines Buches von Šams ad-Dīn al-Qurṭubī (gest. 1273).19 Eine Bemerkung im Vorwort zeigt uns, wozu Schriften dieser Art dienten. Er habe, erläutert aš-Šaʿrānī, die grammatischen Schwierigkeiten, die sich in den von al-Qurṭubī zusammengestellten Überlieferungen fanden, samt und sonders ausgemerzt. In Abhandlungen, mit denen man die Zuhörer dazu bringen will, daß sie aus Furcht vor dem Tod und dem Gericht laut aufschluchzen, sind derlei Passagen gänzlich unangebracht. Man denke sich: Die Zuhörer weinen, „und auf einmal ist da ein Grammatiker, der fragt: ‚Woran schließt sich dieses Wort an?‘ Dann erhebt sich doch ein Lärmen, und mit einem Schlag verschwinden Demut und Betrübtheit…“20 In der Tat hat aš-Šaʿrānī einen leichtverständlichen Text niedergeschrieben. Die Quellen, denen das Material entnommen ist, bleiben jedoch erkennbar. So schildert er nach Abū Nuʿaim al-Iṣfahānī (gest. 1039), dem Verfasser eines umfangreichen prosopographischen Nachschlagewerks mit dem Titel Der Schmuck der Gottesfreunde, was in dem Augenblick geschieht, in dem sich der Geist des Menschen vom Körper trennt: Engel kommen und bringen den Geist vor Allah, und wenn dem Verstorbenen die Glückseligkeit bestimmt ist, dann befiehlt Allah, man möge diesem Geist den künftigen Platz im Paradies zeigen, und je sorgfältiger die Leichenwäscher waren, desto ausgiebiger wird die Rundreise sein. Danach aber wird er zurückgeführt und in den Raum zwischen dem Leichentuch und dem Leichnam hineingezwängt. Wird der Tote dann aufgebahrt und zu Grabe getragen, hört der Geist jedes Wort, das die Anwesenden sprechen. Was nun folgt, geht auf al-Ġazālī zurück. Bei Beginn des Totengebets müsse der Geist in den Leib zurückgekehrt sein, und so, Leib und Geist wie ein Lebendiger,

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erwarte er die strenge Befragung durch die Totenengel Munkar und Nakīr.21 Sie träten herzu, nachdem zuvor ein anderer Engel dem Verstorbenen das Verzeichnis seiner Taten um den Hals gehängt habe. Munkar und Nakīr seien von schrecklicher, schwarzer Gestalt; mit ihren riesigen Eckzähnen vermöchten sie die Erde aufzureißen, ihre Stimmen seien furchterregend wie das Donnergrollen, dem der Blitz folge. Jeder von beiden habe einen eisernen Hammer in der Hand, so gewaltig, daß er damit Berge plattschlagen könnte. Das Selbst, vorwitzig wie es sei, sei schon im Begriff gewesen, den Leib zu verlassen, aber kaum habe es die Peiniger erblickt, da schlüpfe es durch ein Nasenloch wieder in den Leichnam zurück. Der liege unbeweglich da, den Kopf nach hinten gestreckt wie beim Gurgeln; eine Flucht sei unmöglich, aber er höre und sehe genau, was ihm bevorstehe. Die beiden brüllten ihn mit solcher Grobheit an, daß die Erde sich vor Furcht gleichsam verflüssige. „Wer ist dein Herr? Wer dein Prophet, wo deine Gebetsrichtung?“ wollen sie wissen. Wenn der Tote ein frommer Gelehrter gewesen sei, dann werde er sich zu einer Gegenfrage ermannen: „Wer hat euch zu mir geführt, wer hat euch geschickt?“ – Beide redeten, das wisse jeder fromme Gelehrte, doch nur mit Allahs Vollmacht! – „Wie recht er hat!“ versicherten Munkar und Nakīr einander, „er ist vor unserer Pein sicher!“ Und sie errichten über seinem Grab einen Kuppelbau, der zur Rechten zwei Türen habe, die sich zum Paradies hin öffneten. Der Verstorbene müsse in seinem Grab verweilen bis zum Jüngsten Tag, aber die Wartezeit sei ihm keine Last mehr, denn eine angenehme frische, wohlriechende Brise verschaffe ihm Erquickung. Doch nicht nur die frommen Gelehrten, auch die ungebildeten Muslime, die auf ihrem Tatenkonto nur wenige gute Handlungen aufzuweisen hätten, könnten darauf rechnen, daß ihnen der Aufenthalt im Grab erleichtert werde. Das gute Handeln trete ihnen als eine hübsche Gestalt entgegen und bereite sie auf die Befragung vor, und so würden sie rasch die richtigen Antworten geben. Sollten sie freilich stocken, dann öffneten die beiden eine Pforte zur Hölle, und die Toten vernähmen das Rasseln der Ketten (vgl. Sure 86, 4), schauten auf die Schlangen und Skorpione, auf die ekligen Speisen, die stinkenden Getränke, und Entsetzen befalle sie. Al-Qurṭubī, der sich bis hierher an al-Ġazālī gehalten hat, fügt hinzu, daß ein Stammeln bei der Beantwortung der Frage: „Wer ist dein Herr?“ mit einem Hammerschlag geahndet wird, der das Grab zum Brennen bringt; und sobald das Feuer erloschen ist, wird es durch den nächsten Schlag aufs neue entfacht, und so geht es fort bis zum Tag des Gerichts. Daß den Bekennern anderer islamischer Richtungen als des Sunnitentums, von den Andersgläubigen ganz zu schweigen, noch viel qualvollere Foltern bevorstehen, wird man sich denken.22 Die Tiere und auch manche Menschen, die vom Wissen zum Erkennen vorgedrungen sind, hören das Wimmern der in den Gräbern Gepeinigten. Nur wenige probate Mittel weiß aš-Šaʿrānī aufzuzählen, die einen ungelehrten Muslim vor solchen Qualen retten. Man kann das Leben dem Kampf gegen die Andersgläubigen widmen, und findet man dabei den Tod, dann

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bleibt einem jene Prüfung erspart. Auch wenn man am Freitag stirbt, braucht man nichts zu befürchten; desgleichen ist die Totgeburt von aller Pein freigestellt. Zudem soll es helfen, wenn man jede Nacht Sure 67 rezitiert: „Voll Segen ist der, in dessen Hand die Herrschaft ruht!“ und in der Krankheit zum Tode Sure 112: „Sprich: Er ist Allah, ein einziger…“23 Ein schwacher Widerschein der Werkgerechtigkeit Der Topographie des Weltgerichts, der Beschreibung der Vorgänge am Ende der Zeiten und schließlich dem, was aš-Šaʿrānī zu Paradies und Hölle zu sagen hat, wollen wir uns nicht mehr zuwenden. Dies alles ist wahrhaft furchterregend und bringt, wie wir uns nun vorzustellen vermögen, die Zuhörer zum Verzagen, Verzweifeln, stürzt sie in panische Angst. Jene Topographie ist für sie Wirklichkeit. AlQurṭubī erörtert, wo am Jüngsten Tag das Wasserbecken des Propheten Mohammed zu erreichen sein wird, an welchem sich alle frommen Muslime werden erfrischen können, während die übrigen aus den Gräbern Erweckten fortgejagt werden und in der unerträglichen Hitze verschmachten müssen. Aš-Šaʿrānī verdeutlicht diesen Ort mit einer einfachen Strichzeichnung,24 wie er auch sonst zum Mittel der bildlichen Veranschaulichung seiner Vorstellungen greift, wovon wir noch hören werden. Ist man aš-Šaʿrānī und al-Qurṭubī bis hierher gefolgt, dann wird man sich davon überzeugt haben, daß dem Muslim doch recht wirksame Mittel zur Verfügung stehen, mit denen er sich vor all jenem schrecklichen Unheil bewahren kann. Weshalb dann jene Furcht? Für die Diesseitskausalität, so muß man gleich einschränken, mag dies alles so gelten; Verursachtes und Ursache sind hier von Allah aufeinander abgestimmt, so daß das Handeln der Menschen seinen Sinn hat. Was aber im Jenseits kommt, das ist ungewiß und ist nicht mehr an die Diesseits-Kausalität geknüpft. Laut Abū Huraira sprach der Gottesgesandte einst: „Jemand handelt lange Zeit wie ein künftiger Paradiesbewohner, dann aber, am Schluß, begeht er eine Handlung der Hölleninsassen…“ und auf die Abschlußhandlung kommt es an!25 Die Gelehrten allerdings wollen dies nicht unbedingt gelten lassen. Sie möchten die Balance halten zwischen der Ungewißheit des Jenseitsschicksals einerseits und einem Rest von Werkgerechtigkeit andererseits, denn das Empfinden des völligen Ausgeliefertseins müßte jeden Mut, sich auf das Jenseits schon hier vorzubereiten, vernichten. Der islamische Weg, dessen Beschreiten sie lehren und der mit der reuigen Umkehr beginnt, darf seinen Sinn nicht einbüßen. Aber überall lauert die Gefahr der Selbstzufriedenheit, und gerade die Gottesfreunde, die skrupelhaft mit sich selber zu rechten verstehen, fürchten sich am meisten davor, von Allah am Ende verworfen zu werden. Die Gelehrten, schreibt aš-Šaʿrānī, erhalten die Spannung zwischen Ungewißheit und Werkgläubigkeit aufrecht, indem sie behaupten, nur wer auf seiner Wi-

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dersetzlichkeit gegen Allah beharre und ihn damit herausfordere, der werde nicht zu retten sein. Die Umkehr dagegen verhindere wohl doch – wenn auch nicht mit völliger Gewißheit – die endgültige Verdammnis. Da lebte in Fustat, wie aš-Šaʿrānī erzählt, ein frommer Gebetsrufer. Eines Tages erblickte er vom Minarett hinab eine hübsche Christin und verliebte sich unsterblich in sie; sie aber wies ihn ab; erst wenn er Christ geworden sei, werde sie ihn heiraten; so gab er schließlich den Islam auf; da er es gewohnt war, von oben über die Stadt zu schauen, stieg er von nun an auf das Dach des Hauses, das seiner christlichen Ehefrau gehörte – und stürzte bald darauf zu Tode! „So erreichte er nicht seine Absicht“, kommentiert aš-Šaʿrānī, nämlich ein glückliches Zusammenleben mit der schönen Christin, „und starb auch nicht als Muslim – möge Allah uns von allem Übel befreien!“26 Hier bestätigt sich die Lehre von der Abschlußhandlung; doch hätte der abtrünnige Gebetsrufer bereut, wäre ihm das Schlimmste erspart geblieben. Avicenna: Zerstreuung der Todesfurcht Abū Nuʿaim al-Iṣfahānī, dem aš-Šaʿrānī die Schilderung des Abscheidens des Geistes vom Leichnam verdankt, war ein Zeitgenosse Avicennas (gest. 1038). Eine wenig beachtete unter dessen zahlreichen Schriften befaßt sich mit eben dem Thema, das nach den Bemerkungen aš-Šaʿrānīs in der Vorrede zum Buch über die Zustände der Toten in erbaulichen Lesungen kultiviert wurde: mit der Furcht vor dem Ende des irdischen Daseins. Diese Furcht ist laut Avicenna ganz und gar absurd. Seine Glaubensgenossen machen sich eine ganz irrige Vorstellung vom Tod, erklärt er. Sie glauben, im Augenblick des Abscheidens der Seele löse sich das Selbst auf; andere meinen, sie müßten einen unerträglichen Schmerz durchleiden, qualvolle Strafen erwarteten sie; wieder andere seien so töricht, den Tod zu fürchten, weil sie ihren irdischen Besitz aus der Hand geben müßten. Wie abwegig sei dies alles! Avicenna weiß es besser: Die Seele legt nur ihr Werkzeug fort, den Leib, dessen sie nicht mehr bedarf. Sie ist eine unkörperliche Substanz, kann also gar nicht gefoltert werden und die Schmerzen der materiellen Welt erleiden. Sie läßt den Körper zurück und existiert in der ihr eigentümlichen Wesensart in vollkommener Glückseligkeit auf ewig weiter, und dies in einer oberen, erhabenen Welt in der Nähe des Schöpfers, dort, wo Allahs Fügung unmittelbar und ohne durch die Verfaßtheit des irdischen Seinsbereichs getrübt zu sein, zur Wirkung gelangt. Mit einem Federstrich wischt Avicenna so alle die Ängste beiseite, die in Werken wie denen as-Samarqandīs für die entscheidende Grundlage des muslimischen Daseins in dieser Welt erklärt werden. Für den Muslim, der ganz nach der Überlieferung erzogen worden ist, die man auf den Propheten zurückführte, sind diese furchteinflößenden Überlieferungen eine unbezweifelbare Wahrheit. Teils hatte Allah selber im Koran so gesprochen, teils hatte Mohammed seinen Gefährten dies alles mitgeteilt, bis in die

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schauerlichsten Einzelheiten. Avicenna erkühnte sich, den Glauben an solche Drohungen als töricht hinzustellen, und er zog damit die Schlußfolgerung aus einer sich schon mindestens ein Jahrhundert hinziehenden Erörterung über das Wesen der Seele. Die Gedanken, die diese Diskussion beherrschten, sind in großen Zügen zusammengefaßt und aufgezeichnet worden. Neuplatonische Vorstellungen mischten sich mit Elementen der antiken Naturphilosophie, und alles schien zunächst ein intellektuelles Spiel zu sein, geistreiche Abendunterhaltung, zu der sich die Mächtigen und die Reichen im ausgehenden 10. Jahrhundert jene Wenigen einluden, die sich auf diesen Gebieten auskannten. Erst Avicenna aber war vollends zu Bewußtsein gekommen, welche Sprengkraft in dieser dem Islam fremden Überlieferung enthalten war. Die Seele Die aschʿaritische Theologie, die zu seinen Lebzeiten in Blüte stand, kam ohne eine Seelenlehre aus. Die materielle Welt des Diesseits, des Geschaffenen, wird durch Allah immer wieder von Augenblick zu Augenblick aus einer großen, aber endlichen Anzahl von Substanzpartikeln zusammengefügt, und jeder Partikel weist er für jeden Moment je ein Akzidens zu, wodurch das Diesseits erst als das zur Erscheinung kommt, als was wir es wahrnehmen; außer dem Diesseits gibt es nur Allah. Er ist es, der diese Welt in jedem Augenblick ihrer Existenz mit souveräner Meisterschaft neu gestaltet, unabhängig von den scheinhaften physikalischen Regelmäßigkeiten, denen alle menschliche Tätigkeit unterworfen ist. Scheinhaft sind diese Regelmäßigkeiten, weil sie nichts weiter sind als Gewohnheiten des Einen. Aus unergründlichem Ratschluß hält er sich eine unbestimmte Zeitlang an diese Gewohnheiten, jederzeit kann er sie abrupt durchbrechen, ohne daß dem Menschen ein Anlaß hierfür erkennbar würde. Zwar gibt es auch nach aschʿaritischer Ansicht den Seinsbereich des Verborgenen, aber er ist nichts anderes als die Fügung Allahs, durch die dieser – unter Verzicht auf alles, was wir Irdischen als Werkzeug bezeichnen würden – in unbezwingbarer Macht alles zustande bringt, was in jedem Augenblick ist. Insofern es sich hierbei um den Inhalt der Offenbarung handelt, muß man in Anlehnung an den Koran vom Geist sprechen, der nur dem Begriffe, nicht der Sache nach etwas anderes als die Fügung Allahs ist (Sure 17, 85). Die Seele kann in dieser Lehre entweder ein Akzidens sein, das einer Substanzpartikel des menschlichen Leibes inhäriert, oder sie ist nur ein Wort, das nach dem Sprachgebrauch des Arabischen in rückbezüglichen Wendungen auf das Subjekt verweist. – Diese aschʿaritische Lehre läßt sich freilich nicht ganz mit dem Koran in Einklang bringen, und erst recht nicht mit der Prophetenüberlieferung, zumal nicht mit jener, die vom Tod und den letzten Dingen handelt. „Allah nimmt die Seelen zu sich, wenn diese sterben, und während ihres Schlafes auch diejenigen, die noch nicht gestorben

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sind. Diejenigen, die nach seinem Ratschluß sterben, behält er bei sich, die übrigen schickt er auf eine bestimmte Frist wieder fort“, heißt es in Sure 39, Vers 42, und in Sure 89, Vers 27 bis 30, verspricht Allah: „Du zuversichtliche Seele, kehre zufrieden und im Guten angenommen zu deinem Herrn zurück! Schließ dich der Schar meiner Diener an, betritt mein Paradies!“ Und wenn der Geist des Menschen, nachdem ihm das Paradies gezeigt worden ist, wieder zwischen den Körper und das Leichentuch geschoben wird und wenn die Seele in diesen Körper zurückflieht, sobald sich Munkar und Nakīr nähern, dann müssen Geist und Seele etwas anderes sein als dieser Körper, etwas anderes auch als Akzidentien, die doch nach aschʿaritischer Lehre nicht unabhängig von Substanzpartikeln existieren können. Avicenna bewegte sich demnach nicht völlig außerhalb islamischer Vorstellungen, wenn er zeit seines Lebens über die Seele nachsann und dabei die ganze antike Überlieferung, soweit er ihrer habhaft werden konnte, durchmusterte und sich aneignete. Den stärksten Beweis für das Vorhandensein einer Seele glaubte er schließlich mit einem Gedankenexperiment gefunden zu haben: „Wenn du ganz gesund bist, ja sogar in manchen anderen Zuständen, in denen du auf etwas in richtiger Weise aufmerken kannst, wirst du dann das Dasein deines Selbst übersehen und dich selber“ – oder: deine Seele – „negieren können? Ich meine nicht, daß ein Verständiger dies vermag. Sogar beim Schläfer im Schlaf, beim Trunkenen im Rausch entgeht dem Selbst nicht das Selbst, auch wenn der Betreffende sich nicht klarmacht, daß sich sein Selbst in seinem Denken repräsentiert. Wenn du annähmest, daß dein Selbst, als es geschaffen wurde, mit gesundem Verstand und gesunder Gestalt geschaffen wurde, und wenn es, obschon in unbeeinträchtigter Verfassung, weder seine Körperteile sehen könnte, noch die Gliedmaßen einander zu berühren vermöchten, weil sie gespreizt sind und du eine Zeitlang so in nicht warmer und nicht kalter Luft aufgehängt wärest, dann würdest du finden, daß dein Selbst nichts wahrnähme außer der Gegebenheit seines Seins.“ Mögen die fünf Sinne nichts wahrzunehmen haben, der Mensch nimmt sein Selbst, seine Seele wahr, und diese muß infolgedessen etwas sein, das nicht dem diesseitigen Seinsbereich zugehört, der doch das Betätigungsfeld der fünf Sinne ist. Keiner der fünf Sinne vermag sich selber wahrzunehmen, die Seele ist es, die verarbeitet, was jene ihr übermitteln. Sie aber, da sie dem Diesseitigen nicht zugehört, ist darüber hinaus imstande, sich selber zu erkennen. Beim Tode des Körpers, durch dessen Sinnesorgane sie über das Diesseits unterrichtet wurde, ist sie jener oft leidvollen Wahrnehmung ledig. Die Qualen, die in so furchteinflößender Weise ausgemalt werden, kann es gar nicht geben.

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Vergeistigung des von Tod und Gericht beherrschten Lebensentwurfs Bei diesem negativen Befund ist Avicenna aber nicht stehengeblieben. Vielmehr hat er, indem er Gedanken der schon erwähnten Erörterungen über das Wesen der Seele weiterentwickelte, eine vergeistigte Nachbildung des islamischen Lebensentwurfs geschaffen, den as-Samarqandī in der Warnung der Unachtsamen beschrieben hatte. Jedem Menschen wohnt eine Seele inne, und sie ist zunächst geneigt, nach ihrem eigenen Triebe den Menschen zu lenken und ihn zum Bösen zu verführen. Avicenna beruft sich auf die koranische Josefserzählung. Die Ehefrau des obersten Verwalters von Ägypten hatte Josef, von dessen Schönheit geblendet und verwirrt, verführen wollen; er aber widerstand ihr. Als dieser wahre Sachverhalt ans Tageslicht kommt – die Frau hat zunächst Josef beschuldigt, ihr nachgestellt zu haben –, räumt Josef ein, auch er sei nahe daran gewesen, in der Keuschheit schwankend zu werden; nur einem Fingerzeig Allahs verdanke er es, daß er standhaft geblieben sei, denn „die Seele drängt den Menschen stets zum Bösen“ (Sure 12, 53). Aber neben dieser Triebseele ist in jedem Menschen auch eine Vernunftseele angelegt. Intelligible Formen vermag sie aufzunehmen, die von dem Einen ausgehen, sie vermag hierüber Reflexionen anzustellen und intuitive Einsichten zu erlangen. Durch peinlich genaues Erfüllen der göttlichen Gesetze, durch Beachten der Ethik – hier zeigt sich das antike Erbe – wird der Muslim die Vernunftseele derart kräftigen, daß sie die Triebseele in ihre Gewalt nimmt und bändigt. Die siegreiche Vernunftseele ist es, die nach Avicenna in Sure 89, Vers 27 f. aufgerufen wird, sie ist es, der Allah schon hier den Eintritt in das Paradies zusagt.27 Die Gedanken Avicennas wurden vielfach aufgegriffen und überarbeitet. Die Islamforschung, die in ihm vor allem den Überlieferer antiker Naturphilosophie erblickt, hat sich um diese folgenreichen Nachwirkungen seines Schaffens bisher wenig gekümmert. Dabei ist unschwer zu erkennen, daß die Gottesfreunde ihm wesentliche Anregungen verdanken. Die Triebseele, jede ihrer ichhaften Bestrebungen, muß unterdrückt werden, damit man sich wie Josef ganz dem Fingerzeig Allahs öffne. Was nach der Umkehr, von der as-Samarqandī sprach, zu befolgen ist, soll einzig und allein der Kraft der „zuversichtlichen Seele“, der Vernunftseele, zum Durchbruch verhelfen und deren Wirksamkeit auf Dauer stellen. ʿUmar as-Suhrawardī (gest. 1234) beschrieb und erläuterte genau dies in seinem Buch Die Gnadengaben der Erkenntnisse,28 das neben der Abhandlung von al-Qušairī zur wichtigsten Lehrschrift der„Leute“ wurde. As-Suhrawardī schildert den Lebensweg nach Eintritt in deren Gemeinschaft, nach der Umkehr mithin, als einen mühevollen Vorgang, an dessen Ende dank dem übermächtig gewordenen Einfluß der „zuversichtlichen Seele“ die Abstreifung des Ich gelingt. Die Botschaft Avicennas barg aber auch Gefahren. Denn er hatte die Seele als etwas Drittes neben Allah und dem von ihm geschaffenen Diesseits konzipiert. Sie verläßt im Augenblick des Todes den Leib, den sie bis dahin regiert hat, und findet sich fortan in der Nähe Allahs. Dann

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aber ist die ganze Eschatologie außer Kraft gesetzt, in der doch der machtvollste Anreiz für die Einhaltung des Gesetzes Allahs liegt. Bereits in der frühesten koranischen Verkündigung diente die Drohung mit dem Untergang der Welt und mit dem Gericht dazu, den Mekkanern die Notwendigkeit eines sittlichen Lebenswandels plausibel zu machen. Bei Avicenna wurden Weltende und Jüngstes Gericht gleichsam übersprungen: Die Seele, zu ihresgleichen in die Gegenwart Allahs vorgedrungen, war von all dem nicht mehr betroffen; die entscheidende Grenzlinie, an der gemessen, angenommen oder verworfen wird, war durchlässig geworden. Wenn diese Grenzlinie Bestand haben soll, dann durfte ihr Überqueren nicht schon hier und jetzt verheißen sein. Der Kosmos, das von Allahs Weisheit durchdrungene Schöpfungswerk, durfte keinen Sonderfall einer über ihn hinausreichenden Gegebenheit, nämlich einer Allseele, zulassen.Wie die Materie mußte auch die Seele bzw. der Geist – das schwankende, vielschichtige Verhältnis, in dem beide gesehen werden, kann hier nicht erörtert werden – ganz dem Kosmos zuzurechnen sein und sein Schicksal teilen: die Vernichtung am Ende der Zeiten. Diese Forderung wurde durch die Annahme erfüllt, hier, im Diesseits sei der Geist in den Körper eingehüllt, im Zwischenreich, im Verborgenen, bedecke der Geist den Leib. Geist oder Seele einerseits, der Körper andererseits verharren, solange Allah sein Schöpfungswerk fortsetzt, in inniger, untrennbarer Vermischung, und damit ist der Muslim auch nicht von der Grabespein befreit, nicht vom Gericht. Und so bleibt es denn notwendig, ihm jene künftigen Schrecken so anschaulich wie möglich vor Augen zu führen, ihm aber auch die Aussicht auf eine Milderung der Pein zu eröffnen, wofern er sich zur Umkehr mit all ihren Folgen entschließt. Den Rat der Gottesfreunde, in denen das Selbst des Menschen und Allahs unaufhörliches Schöpfungswalten aufs innigste verwoben sind, wird er hierbei nicht entbehren wollen, wenn sie ihm auch nicht den Gewinn des Paradieses zusichern dürfen. Denn von welcher Art das Sein nach dem Abschluß des Gerichtes sein wird, läßt sich unter den Bedingungen des Diesseits niemals in Erfahrung bringen.

2.2 Charakter Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich allen Fleiß darauf verwendete, jedem Haschischesser seine Sucht verhaßt zu machen, ihn jedoch nicht in grober Weise schalt, sondern freundlich mit ihm umging… Dazu zählte, daß ich ihm süße Speisen zu essen gab, etwa Fadennudeln mit eingedicktem Zuckersud, und ihm nicht finster ins Gesicht blickte, vielmehr vor den Derwischen seine Vorzüge pries, damit er Zutrauen zu uns faßte. Dann ließ ich nicht ab, ihm die schädlichen Auswirkungen des Haschischs ins Gedächtnis zu rufen, damit ihm womöglich der Genuß zuwider werde. Meister Quṭb ad-Dīn al-ʿAsqalanī, der Nachfolger des Meisters der Meister, Šihāb ad-Dīn ʿUmar as-Suhrawardīs, zählte einhundertzwanzig diesseitige und jenseitige Schäden des Haschisch auf. Die Heilkundigen sagen sogar, daß das Haschisch

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mehr als dreihundert Krankheiten hervorruft, von denen bis heute keine einzige heilbar ist: die Minderung der Körperkräfte, die Verbrennung des Blutes, die Verminderung der Schamhaftigkeit, die Durchbohrung der Leber, Schwären am Körper, die Austrocknung des Feuchten, die Schwächung des Zahnfleisches, eine gelbe Hautfarbe, Löcher in den Zähnen; Haschisch ruft einen stinkenden Atem hervor und erzeugt Melancholie, Elephantiasis, Aussatz, Stummheit, Gesichtslähmung und kann zu einem plötzlichen Tod führen; es bewirkt, daß man sich häufig irrt, vergeßlich wird und ein Menschenfeind; Haschisch verursacht Nachtblindheit und verwirrt den Verstand, ja erzeugt meistens sogar Wahnsinn, vernichtet das Ehrgefühl, verdirbt das Denken und bringt stattdessen schädliche Phantasien hervor und macht, daß man der Gegenwart und der Zukunft nicht gedenkt, sondern alle Sorge um das Jenseits fahren läßt und nicht mehr zur Kenntnis nimmt, daß der Knecht des Herrn gedenken muß; das Haschisch verleitet einen, die Geheimnisse der Brüder auszuplaudern, nimmt einem die Schamhaftigkeit, drängt einen zur Heuchelei, vernichtet die Mannesehre, stellt einen bloß, zerstört das Ehrgefühl, macht einen arm, läßt einen zum Gefährten des Satans werden; neben den genannten verursacht das Haschisch noch andere akute und chronische Krankheiten und verführt zur Päderastie. Zittern, Schreckhaftigkeit, Ausfallen der Wimpern, Austrocknen der Samenflüssigkeit gehen zu Lasten des Haschisch; es bringt verborgene Krankheiten zum Ausbruch, schädigt den Darm, verstärkt die Atemgeräusche, bringt Husten hervor, hält den Harn zurück und erhöht die Gier, rötet die Lider und schwächt die Augen. Es macht einen zu träge zum Vollzug des rituellen Gebets, hält einen vom Besuch des gemeinschaftlichen Gottesdienstes ab, verführt einen dazu, alle Arten von Sünden zu begehen. Meister Quṭb ad-Dīn (al-Qasṭallānī, gest. 1287)29 schreibt, daß ihm eine so große Anzahl von Menschen, wie zur vielwegigen Verbürgung eines Propheten-Ḥadīṯes notwendig sind,30 versichert habe, daß häufiger Haschischgenuß einen plötzlichen Tod herbeiführe, wie dies vielen Süchtigen widerfahren sei; bei manchen habe sich der Verstand verwirrt, andere seien von Krankheiten und chronischen Leiden aller Art wie Fieber, Schwindsucht, aufflammender Melancholie, Atemnot und Wassersucht befallen worden und hätten ein böses Ende genommen. Die Gelehrten und Heilkundigen sind sich darin einig, daß das Haschisch außerordentlich schädlich für Leib und Verstand ist und einen vom Gottesgedenken und vom Gebet abhält. Etwas, das solche Wirkungen hat, ist nach Meinung aller Muslime verboten; denn was etwas Verbotenes verursacht, ist selber verboten. In den Aussagen des Ibn al-Baiṭār31 (gest. 1248) heißt es, die Sucht des Haschischessens lasse sich dadurch behandeln, daß man Aprikosen und warmes Wasser einflößt, bis es zum Erbrechen kommt, so daß der Magen davon gereinigt wird; auch das Trinken von Zitronensaft ist sehr nützlich hierfür. Der erwähnte Quṭb ad-Dīn sagt ferner, der Genuß von Haschisch ist nach der Meinung der meisten islamischen Gelehrten des Hedschas, des Jemen, Irans, Ägyptens und Syriens verboten. Es handelt sich nämlich um ein berauschendes Betäubungsmittel wie die Muskatnuß, den Safran, den Schierling und dergleichen, die den Verstand und das Denken zerstören. Meister Badr ad-Dīn b. Ǧamāʿa (gest. 1333)32 stellt in einem Fetwa fest, daß das Haschisch ohne Wenn und Aber verboten ist. Einige gelehrte Ärzte sind der Ansicht, es sei ein Betäubungsmittel, die meisten aber bezeichnen es als Rauschmittel.33 Sowohl der Käufer als auch der Konsument machen sich einer Sünde schuldig und unterliegen außerdem der Bestrafung durch den Sultan, ebenso der, der Haschisch anbaut, der, der es kocht und transportiert, der, zu dem es gebracht wird, schließlich auch der, der dies billigend geschehen läßt, und der, der darüber schweigt. Sie alle müssen daran gehindert und ernsthaft davon abgehalten werden. Wenn jemand reumütig umkehrt, mag es dabei sein Bewenden haben; wenn er aber unbelehrbar ist, dann muß er nach einhelliger Meinung aller Rechtsschulen ausgepeitscht werden. Manche Gelehrte vertreten die Auffassung, derjenige, der

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das Haschisch für erlaubt erkläre, sei ein Gottloser; dessen Ehe sei zu scheiden wie diejenige eines Säufers, damit ihm dies zu einer ernsten Mahnung gereiche. – Im Zeitalter des Imams alMuzanī (gest. 878)34 wurde das Haschisch bekannt, und schon er gutachtete, daß das Haschisch nach der Lehre des Imams aš-Šāfiʿī verboten ist. Die vier Schulgründer haben sich über das Haschisch nicht geäußert, da es in ihrer Zeit noch unbekannt war. Als nun al-Muzanī auf das Verbot erkannt hatte, gaben die Hanafiten, die den Genuß für erlaubt erklärt hatten, ihre Ansicht auf und gutachteten von nun an, daß das Haschisch verboten ist, obschon es von bedeutendem Wert ist,35 und daß der Verkäufer zurechtzuweisen ist. Ibn Taimīja (gest. 1328) schrieb, daß der Genuß des Haschisch in der Mitte des 6. Jahrhunderts (der Hedschra, begann 1107 n. Chr.) um sich griff. Wer zunächst feststellte, daß das Haschisch erlaubt sei, stützte sich darauf, daß lediglich eine den Gegenstand, d.h. das Haschisch, an sich betreffende Erlaubnis gemeint sei (die nicht auf die Wirkungen, die der Genuß auslöst, achtet). Als dann die Verderblichkeit des Genusses sichtbar wurde, vor allem in Medien, rückten sie von diesem Fetwa ab und argumentierten: Das Haschisch schädigt den Verstand und den Körper, bewirkt, daß der Mensch, wenn er ißt, niemals satt wird; daß er, wenn ihm etwas gegeben wird, nie genug erhält; daß er, wenn er angesprochen wird, nicht zuhört; es macht den Beredten stumm, den Gesunden stupide, den Wachen schlafend. – Wenn du, mein Bruder, dem Haschischesser diese Übel vor Augen stellst, ihn dabei aber freundlich behandelst, wird er dir vielleicht folgen und sich reumütig vom Genuß dieses Giftes abwenden, sowie vom Verzehr alles dessen, was trunken macht, betäubt, einen in Vergessen versenkt. Wer sich solch einen Charakterzug aneignet, der mit dem Vorgehen gegen die Haschischesser zum Ausdruck kommt, der bedarf völliger Klugheit, des Vollbesitzes seines Verstandes, des Mitgefühls und der Barmherzigkeit gegen die Menschen und einer langen Zeit. Denn wenn sich ein Übel festgesetzt hat, braucht man Ausdauer, um es zu beheben. Die meisten Haschischesser frönen diesem Laster ihr Leben lang, ihr Körper ist daran gewöhnt. Wer sie bewegen will, sich davon abzuwenden, muß sich von ihnen ganz allmählich eine Verringerung ihrer Gewohnheit erschleichen; genau so ist es beim Opium, beim Bilsenkraut, bei der indischen Paste.36 Es ist nicht möglich, ein Aufgeben der Sucht mit einem Mal zu erreichen. Handle du, Bruder, so, wie ich es dir hier schildere! Beschreibe dem Süchtigen eindringlich die Übel des Haschischessens, damit sie sich ihm fest einprägen; danach fordere ihn zur Buße auf!37

*** Verpflichtung zur Erziehung – Die Gratwanderung des Erziehers – Sein und Seinsollen – Islamische Charakterbildung – Einheit von Tat und Gesinnung – Das „Erwerben“ von Taten – Die durch Allah geschaffenen Taten und deren schariatische Bewertung – Der „Tatenerwerb“, ausgelegt durch die Theologie – Die Höflichkeit gegen Allah – Die Zeitabhängigkeit der Charakterbildung – Das Heraustreten aus der Enge des Nichtseins, der wahre Grund der Angst

Verpflichtung zur Erziehung Die geschaffene Welt, die dank Allahs Weisheit einen Kosmos bildet, ist nicht so verfaßt, daß man alles laufen lassen dürfte, da ohnehin alles von Allah bestimmt ist. Nichts geschieht ohne Allahs ausdrücklichen Willen, aber damit es geschieht, hat der Schöpfer bisweilen Ursachen vorgesehen, die gemäß seinem Ratschluß durch den Menschen zu schaffen sind. Diese Ursachen oder Mittel, deren sich der Mensch

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zu vergewissern hat, bilden die vom Einen Wahren absichtsvoll offengelassenen Lücken im Schöpfungsgeschehen, offen allerdings nur insofern, als in Allahs Vorauswissen feststeht, ob der Mensch sie füllen wird oder nicht. Der Gottesfreund, der sich zum Einblick in das Verborgene erhoben hat, wird ebenfalls erkennen, wie es sich mit jenen Lücken verhalten wird. Der gewöhnliche Muslim verfügt nicht über eine solche Fähigkeit, und daher soll er in jedem Fall danach trachten, die Welt nach Maßgabe des Gesetzes zu verändern und vor dem Absinken in die Widersetzlichkeit gegen Allah zu bewahren. Dies ist die Überzeugung, die aš-Šaʿrānī überhaupt berechtigt, sich als Erzieher von Adepten zu betätigen und den Charakter der Menschen, die in ihm ihren Meister erkannt haben, zu formen. Ist unter ihnen ein Haschischesser, dann darf er nicht einfach über dessen Sucht hinwegsehen, denn sie ist das größte Hemmnis auf dem Weg zur Annäherung an Allah. Der Genuß des Rauschgiftes schwächt die Kräfte des Verstandes und des Körpers und untergräbt wie der Alkohol die Fähigkeit zur obersten Pflicht eines Muslims, zur Gottesverehrung. Und auch die anderen Zöglinge brauchen Anweisungen; sie müssen wissen, wie man mit einem Süchtigen verfährt, um ihn vom Laster zu befreien. Der Wiederbelebung bestimmter längst in Vergessenheit geratener Charakterzüge der Leute des Weges gilt alle Kraft aš-Šaʿrānīs; er eifert darin seinem Meister Muḥammad ašŠanāwī nach.38 Um mit der Erziehung erfolgreich zu sein, braucht man allerdings einen langen Atem, und man darf sich nicht davon irremachen lassen, daß manche die bestgemeinten Ratschläge mit Grobheiten erwidern. Zumal dem Ungebildeten aus der Hefe des Volkes darf man derlei Rüpelhaftigkeit nicht übelnehmen. Geradheit des Redens und Handelns will aš-Šaʿrānī nicht von ihm erwarten, denn nur wenige aus jener Schicht durften sich der Aufmerksamkeit Allahs erfreuen und haben eine Erziehung genossen. Überhaupt muß man die Menschen je nach dem Grad, in welchem sie einer Ausbildung bedürfen, in vier Gruppen einteilen, deren erste jener Pöbel stellt, dem man – wie dem Haschischesser – niemals direkt kommen darf, dessen Aufgeschlossenheit für Ermahnungen man vielmehr allmählich gewinnen muß. Viel gefährlicher, und wohl auch schwieriger zu beeinflussen, sind die Menschen, die „eine Zunge, aber kein Herz“ haben. Sie sind beredte Künder der göttlichen Bestimmungen und legen einen beeindruckenden Eifer in der Erfüllung der Riten an den Tag, und doch sind sie nichts als Heuchler, eben weil das Herz gar nicht bereit ist, das Gesetz anzunehmen und zur Richtschnur des Alltags zu machen. Sie scheuen sich nicht, bewegende Mahnpredigten zu halten, aber sind sie erst durchschaut, dann müssen sie gewärtigen, daß man ihnen entgegenruft: „Sag das zu dir selber!“ Wieder andere wissen nicht, wie sie mitteilen sollen, was sie in ihrem Herzen erkannt haben; sie sind gleichsam die verborgenen Zeugen für die Geltung des Gesetzes, und sie haben stets auf das eigene Tun acht; das ist ihre erste Sorge, nicht der Glaubensbruder. Manche von ihnen erreichen gar den Rang eines Got-

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tesfreundes, ihre Bescheidenheit und Selbstzweifel hindern sie jedoch, sich den Mitmenschen zu offenbaren. Aš-Šaʿrānī nennt einige wenige Zeitgenossen, die nach seiner Auffassung diesen lobenswerten Charakterzug aufweisen, und empfiehlt den Brüdern, die Verbindung mit ihnen zu suchen. Benötigen diese schon keinerlei Erziehung mehr, dann gilt dies erst recht für die Muslime, bei denen sowohl Zunge als auch Herz ganz bei Allah sind,Wissen und Handeln mithin eine Einheit eingehen und ganz von Allahs Willen bestimmt werden. Die Charaktereigenschaften des Einen kommen bei ihnen zum Durchbruch, und deshalb sind sie dazu ausersehen, in Vertretung des Gottesgesandten die Muslime auf den rechten Weg zu führen; es ist, erklärt aš-Šaʿrānī, geradezu Pflicht, den Umgang mit solchen Gottesfreunden zu suchen und ihnen zu dienen. Nach ihren Charakterzügen soll man sich formen.39 – Daß aš-Šaʿrānī mit diesen Worten die Aufgabe und den Rang beschreibt, die er selber im Kairo jener Tage für sich beansprucht, liegt nahe. Nicht zuletzt als eine Charakterlehre faßte er die Huldreichen Gnadengeschenke auf, die er, dem Beispiel as-Sujūṭīs folgend, mit so großer Detailfreude vor dem Leser ausbreitet. Allah befahl einst dem Propheten, diese Art von Gnadengeschenken vor jedermann zu rühmen, denn nur wenn sie der Öffentlichkeit bekannt werden, können sie erzieherisch wirken. Die Gratwanderung des Erziehers Seit der Kindheit hat aš-Šaʿrānī die Nähe solcher Gottesfreunde gesucht, Gelehrter, die Wissen und Handeln miteinander verweben, und in ihrer Gegenwart kam es ihm immer vor, als stünde er vor dem Gottesgesandten selber. Denn lebte der Gottesgesandte zu jener Zeit, dann gäbe er keine anderen Anweisungen, als diese Gelehrten sie erteilen.40 Sobald einem Frommen zu Bewußtsein gekommen ist, welche Gnadengaben ihm zufließen, dann muß er sich der Verpflichtung, die sich daraus ergibt, ohne jeden Vorbehalt stellen. Er muß sich offen zu seiner Meisterschaft bekennen, auch wenn es unbequem, ja vielfach auch höchst beschwerlich ist, im Lichte allgemeiner Aufmerksamkeit zu stehen. Die Furcht, er könnte sich zurückziehen, empfindet aš-Šaʿrānī darum stärker als die Furcht, mit den Mahnungen, die er als Meister zu erteilen hat, Anstoß und Ärgernis zu erregen. „Das Selbst frohlockt, wenn es die Leute sagen hört: ‚Der da hat das Zeug zum Meister, aber er verschmäht die Meisterschaft und zieht es vor, sich vor den Menschen zu verbergen, obwohl er zu den ganz großen Gottesfreunden zählt, was freilich die meisten Leute gar nicht wissen. Eben dies ist ein Indiz dafür, daß er aufrichtig alle Bekanntheit verabscheut. Denn läge ihm etwas daran, dann gäbe es in ganz Ägypten niemanden, der bei den Herrschern und Großen in höherem Ansehen stünde. Er aber ist zu klug, auf öffentliche Aufmerksamkeit aus zu sein; wie ein in sich selber fest gegründeter Berg ist er!‘“ Auf solche ganz verborgenen Gedankengänge müsse der Meister seines

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Zeitalters unablässig achtgeben, warnt aš-Šaʿrānī. Falsche Bescheidenheit könne einen straucheln lassen, denn sie verführe einen dazu, hinter dem zurückzubleiben, was Allah von einem erwartet. Doch ebenso wenig dürfen die Annehmlichkeiten, die eine Meisterschaft mit sich bringt, den Ausschlag geben. Es schmeichelt einem, in einem reinen, weißen Gewand umherzulaufen, in allen Kreisen, die sich der Gottesverehrung widmen, auf den Ehrenplatz komplimentiert zu werden, nur zu besonderen Anlässen unter das gemeine Volk zu treten. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, mahnte aš-Šaʿrānī: „Verwirf alles, dem das Selbst zuneigt, weil es das für Glück hält, sogar wenn es dem Ursprunge nach gut sein sollte! Die Absicht nämlich ist wie ein Elixier; eine böse Absicht, die eine Gehorsamstat infiziert, verwandelt diese in Sünde. Der Verständige untersucht darum sein Inneres ganz genau.“ Die Kunst liegt darin, die Erziehungspflichten des Meisters nicht zu vernachlässigen, ohne aber den Meister herauszukehren. Es ist wie ein fortgesetztes Angreifen und Fliehen. Mit diesem der Kriegskunst entlehnten Bild41 verdeutlicht aš-Šaʿrānī die Methode,42 die am ehesten Erfolg verspricht und doch den Meister vor Überheblichkeit bewahrt: Mit dem sofortigen Einsatz aller Kräfte mag man den Gegner überwältigen und einen Triumph genießen, in Wahrheit aber gilt es, den Gegner aus der Reserve – und auf den richtigen Weg – zu locken. Sein und Seinsollen Alle Bildung des Charakters muß sich darauf richten, Geschaffenheit und Handlungsweise, Kosmos und Tun zur Übereinstimmung zu bringen. Dies ist das höchste Ziel aller islamischen Erziehung. Denn Allah bestimmt in seinem unaufhörlichen, von Weisheit geprägten Schöpfungshandeln den Lauf des Diesseits, und je vollkommener der Muslim sich diesem Geschehen anschmiegt, desto vollkommener wird sein islamischer Charakter. Niemandem gelang dies freilich in der Weise, die Allah seinem Propheten Mohammed zugestand, wenn auch die Gottesfreunde, wie aš-Šaʿrānī versichert, ihr recht nahekommen. Der Inhalt der islamischen Ethik geht in dem weise gelenkten Diesseits auf, wie es aš-Šaʿrānī bereits mit seinen Vorstellungen von Einnahmen und Ausgaben verdeutlichte: Was Allah jedem Geschöpf als Lebensunterhalt zumaß und was im irdischen Leben diesem Geschöpf auch tatsächlich zur Verfügung stehen wird, das ist Faktum und Norm zugleich; es ist Sein und Seinsollen in einem. Indem es so, wie Allah es vor aller Zeit festlegte, Wirklichkeit wird, ist es irdisches Sein; und indem das schöpfende und lenkende Handeln Allahs, unter anderem Blickwinkel betrachtet, sein Gesetz ist, ist es irdisches Seinsollen. Nur vorübergehend, nie im Endergebnis, kann es ein Abweichen von dem Seinsollen geben. Dieses Abweichen ist, wie gehört, mit der Läuterungsgabe zu sühnen, sofern es den Unterhalt betraf, ansonsten mit der reuigen Umkehr, die den Anfang des Weges der „Leute“ markiert, das Betreten des schwierigen Pfades der

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Erziehung. Wieso aber gibt es überhaupt solche Abweichungen? Auch sie sind von Allah gewollt, denn gäbe es sie nicht, dann wäre das Gesetz unerkennbar. Das Gesetz aber ist, wie dargelegt, ein Teil des schöpferischen Handelns Allahs.Wenn Allah sich selber schauen und damit sein Schöpfertum manifestieren will, muß er das Abweichende schaffen, die Welt in ihrer Unvollkommenheit, die Allahs Innewerden der eigenen Vollkommenheit, seine Selbsterkenntnis, erst eigentlich ermöglicht.43 Diese Andeutungen mögen hier genügen. Sie fassen die Voraussetzungen zusammen, unter denen aš-Šaʿrānī die kosmologische Grundlage islamischer Charakterbildung erörtert. Aš-Šaʿrānī empfand Dankbarkeit gegen Allah, wenn er von seinen Feinden einer Untat bezichtigt wurde, die er gar nicht begangen hatte. Denn welch andere Weisheit sollte in solchen Vorfällen liegen als die, daß Allah ihn vor eben dieser Untat hatte warnen wollen? Ein ums andere Mal wurde aš-Šaʿrānī damit auf die schmerzliche Tatsache gestoßen, daß er keineswegs fehlerlos war. Ein ums andere Mal auch hatte er sich einzugestehen, daß er sich in alles schicken mußte, was Allah an und mit ihm wirkte, und daß er sich um Lob und Tadel der Mitmenschen nicht kümmern durfte. Die Möglichkeit, daß er die schwerste überhaupt denkbare Sünde begehen könnte, war nicht von der Hand zu weisen. Wieder überfällt aš-Šaʿrānī die Furcht der Gottesfreunde vor dem Scheitern ganz am Ende, eine Furcht, aus der es, so wie der Kosmos nun einmal verfaßt ist, keinen Ausweg gibt. „Das Stück Lehm, aus dem die Schöpfung, abgesehen von den Propheten und den Engeln, gebildet wurde, ist ein einziges. Deswegen ist es denkbar, daß ein Gottesfreund sich die gleichen Verfehlungen auflädt wie ein Verbrecher.“ Aš-Šāfiʿī soll gemeint haben, daß jemand, den man aufs äußerste reizt und der dennoch keine Zornesregung verspürt, stumpf wie ein Esel sei. Dieses Bonmot widerspricht bei oberflächlicher Betrachtung der Haltung, die aš-Šaʿrānī predigt. Aber wirklicher Zorn ist doch nur der, der einen einzig und allein um Allahs willen überkommt. Davon kann allerdings keine Rede sein, wenn man zur Wahrung der eigenen Ehre sich über böswillige Unterstellungen erregt. Wer sich allein deswegen hinreißen läßt, seiner Empörung Luft zu machen, der übersieht völlig, was Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, so ausdrückte: „Ein Muslim, der einen vollkommenen Glauben erlangt hat, der sieht, wie alle guten und schlechten Eigenschaften in ihm verborgen sind, so wie die Dattelpalme im Dattelkern angelegt ist. Wenn er demnach bis zum äußersten gerühmt wird, gewinnt er kein bißchen mehr an Wissen über seine guten Seiten, und wenn er bis zum äußersten getadelt wird, dann mehrt sich ebenso wenig das Wissen von seinen schlechten Seiten. Denn ihm ist bewußt, daß alle Eigenschaften in ihm aufgehen und untergehen. Alles, weswegen man ihn lobt oder tadelt, hat mit dem nichts zu tun, was er an sich selber schaut.“

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Islamische Charakterbildung In einem Traum erhielt aš-Šaʿrānī weitere Aufklärung darüber, wie dies zu verstehen sei. Er erblickte am Himmel eine Tafel aus Rubin, auf der in grüner Schrift dies zu lesen war: „Das Stück Lehm, aus dem alle Schöpfung außer den Propheten und Engeln geschaffen wurde, ist wie eines, das aus allen Körpern, aus Substanzpartikeln und Akzidentien, geknetet wurde, so daß aus allem ein einziger Geist entstand. Deshalb findet sich in jedem Stäubchen eines jeden Wesens die Gesamtheit der Eigenschaften, die auf alle anderen verteilt wurden. Solange die göttliche Fürsorge einen Menschen umhegt, sind alle rühmenswürdigen Eigenschaften in Tätigkeit versetzt, und die schlechten ruhen. Weicht aber die Fürsorge von ihm zurück, machen sich die schlechten ans Werk, und es ruhen die guten.“ Die Wesen, die den Kosmos konstituieren, weisen in einer Mischung, die nicht rückgängig gemacht werden kann, Dispositionen zum Guten wie zum Bösen auf; Dispositionen, die zum diesseitigen Sein keineswegs als etwas über dessen materielle Verfaßtheit Hinausgehendes hinzutreten, sondern mit diesem selber, so wie es ist – Substanz und Akzidentien –, gegeben sind. Das diesseitige Sein so, wie es von unseren Sinnen wahrgenommen wird, hat neben den physikalischen und chemischen auch immaterielle Qualitäten, von aš-Šaʿrānī hier als Geist bezeichnet. In dem Maße, wie die Geschöpfe sich der Hingewandtheit zu Allah versichern, werden die positiven, gotterwünschten Eigenschaften wirksam. Hieraus ergibt sich, daß das Ziel islamischer Charakterbildung darin bestehen muß, solche Hingewandtheit durch den Akt der Umkehr einzuleiten und danach durch unausgesetztes Bemühen um die Abstreifung des Ich zu stabilisieren. Einzig die Propheten und die Engel brauchen keinerlei Anfechtungen zu befürchten; sie sind dank ihrer abweichenden „materiellen“ Konsistenz sündlos. Der Gottesfreund darf sich einer solchen Verfaßtheit nicht freuen, er ist einmal freigebig, ein anderes Mal geizig, einmal tapfer, ein anderes Mal feige. Er ist genötigt, sich mühsam einen positiven Charakterzug nach dem anderen zu erobern und dabei die schlechten Eigenschaften mehr und mehr auszuschalten. Sie mögen am Ende ganz gebändigt sein, die „Heerscharen des Gehorsams gegen Allah“ mögen einen Sieg errungen haben; trotzdem sind die bösen Eigenschaften noch vorhanden.44 Die wahrhaft Erkennenden kritisieren daher den Erzieher, der behauptet, er treibe seinen Adepten den Hochmut oder den Neid aus. Ein solches Versprechen kann man nur gelten lassen, wenn man sich darüber im klaren ist, daß Neid und Hochmut nicht verschwinden, sondern bloß überdeckt werden und in der Verborgenheit auf den Augenblick lauern, an dem sie erneut ihre Wirkung entfalten können. In dieser Überzeugung wurzelt aš-Šaʿrānīs Methode der Erziehung, die er beispielsweise dem Rauschgiftsüchtigen angedeihen lassen will. Geduld und Beharrlichkeit sind gefragt; Erziehung, die ihr Ziel in der raschen Überwältigung und im sofortigen Beseitigen des Fehlverhaltens sucht, gibt sich Illusionen hin. Die

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Methode des ständig wiederholten „Angreifens und Fliehens“ hat ihren Grund nicht allein darin, den Meister vor aller Selbstüberschätzung zu bewahren, sondern vor allem in der Beschaffenheit des Kosmos. Denn „was dem diesseitigen Aufwachsen zuzuschreiben ist, kann nur durch die Vernichtung des Wesens aufgehoben werden. Dies geschieht durch die Aufhebung des diesseitigen Aufwachsens und die Herbeiführung des jenseitigen beim Betreten des Paradieses. Versteh dies! Da die Vollkommenen wissen, daß ihr diesseitiges Aufwachsen in einer Verflechtung von Gegensätzen erfolgt und daß niemand sie einer schlechten Eigenschaft zeihen kann, ohne daß sich diese wegen dieser Eigentümlichkeit des ersten Aufwachsens auch tatsächlich in ihnen befindet, sind sie auch nicht allzu verärgert über den, der sie beschuldigte, denn er nannte nur Eigenschaften, die offen oder latent in ihnen sind. Die koranische Bestrafung wird einem Verleumder ja nur deswegen angedroht, weil man die Gemeinschaft der Muslime vor Unruhe bewahren muß; denn nicht jedem wurde die Einsicht in das zuteil, was wir sagten, so daß er beispielsweise mit dem, der ihn verleumdete, Geduld zu üben vermag. Versteh dies! Anders verhält es sich mit den Erkennenden, denn sie sehen den Teil ihrer irdisch-menschlichen Eigenschaften, der in ihrem Stück Lehm ist, zwar weniger und weniger wirksam werden, doch, wie schon gesagt wurde, niemals ganz verschwinden. Genau aus diesem Grunde legen die vollkommenen Asketen stets einige Dirhams in ihre unmittelbare Nähe, um jenen Teil ruhig zu stellen, der aufgeregt lauert und einem den Blick verwehrt auf den göttlichen Teil und darauf, daß der irdisch-menschliche abgetan ist, und um letzteren zu unterdrücken, der sich um den Lebensunterhalt sorgt und sich mit diesem, so wie Allah ihn zuweist, nicht zufrieden gibt. Das ist überdies auch der Grund, weswegen die vollkommenen Asketen köstliche Speisen und Getränke zu sich nehmen, teure Gewänder anlegen und auf weichen Betten schlafen, nachdem sie lange Zeit alle Mühe auf die Bezwingung dieses Teils verwandt haben. Und schließlich ist dies der Grund dafür, daß sie so häufig Allah um Verzeihung bitten für die Widersetzlichkeiten, die latent in ihnen sind, wenn Allah sie ihnen auch bereits vergab, wie dies in mehreren Aussprüchen des Propheten bezeugt ist.“45 Einheit von Tat und Gesinnung Die allmähliche Überdeckung der bösen, wider Allahs Willen gerichteten Anlagen führt, solange der Mensch seinem „ersten Aufwachsen“ (vgl. Sure 56, 62) verhaftet ist, niemals zu einem Ende, erläutert aš-Šaʿrānī. Ein Rückfall in die Eigenschaften und Verhaltensweisen, die der Schöpfer verabscheut, ist jederzeit zu gewärtigen – und geschieht auch. Aš-Šaʿrānī ist jedoch dankbar dafür, daß er dies mit Allahs Hilfe stets sofort erkennt und in jedem Augenblick seines Lebens weiß, ob er gerade mit der Glückseligkeit rechnen darf oder die Verdammnis fürchten muß. Allah befreit ihn hierdurch von der quälenden Grübelei über das Jenseitsschicksal und bewahrt

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ihn davor, in Argwohn gegen den Schöpfer zu verfallen. „Jedem wird zu dem verholfen, wofür er geschaffen wurde.Wer zu den Glückseligen gehört, der wird zu dem Handeln der Glückseligen geleitet, und wer zu den Verdammten gehören wird, der wird zu dem Handeln der Verdammten geleitet“, soll Mohammed in Anlehnung an Sure 92 befunden haben.46 Aš-Šaʿrānī liest aus diesem Prophetenwort, daß es manchen Menschen gelinge, die jeweils durch sie geschehende, von Allah bestimmte Handlungsweise in Bezug auf die jenseitigen Folgen zu deuten. Es ist nämlich nicht so, daß die Bilanz, die nach dem Tode eines Menschen zu ziehen ist, hierfür den Ausschlag gibt, sondern allein die Schlußhandlung, bei der ihn der Tod ereilt. Davon hat aš-Šaʿrānī schon gesprochen. Jetzt aber erweitert er seine Betrachtungen hierüber, denn er fordert, daß eine richtige, dem Gesetz entsprechende Handlung von einer sie vorbehaltlos bejahenden Gesinnung begleitet sein müsse, damit sie als ein Indiz für die im Augenblick des Geschehens aufleuchtende Hoffnung auf Glückseligkeit gewertet werden dürfe. Dies ist nur folgerichtig, weil die Manifestation im Materiellen einerseits und im Verborgenen andererseits die beiden Seiten einer Münze sind; erfolgt ein Akt der Gottesverehrung nach außen hin gesetzestreu, jedoch im Innern von einem Anflug des Zweifelns begleitet, dann ist er im ganzen bereits als Widersetzlichkeit und als ein Anzeichen der Verdammnis zu verstehen.47 Die Charakterbildung muß demnach von den Erscheinungsformen aus in die Tiefe des Innern vordringen und die Einheit von Tat und Gesinnung herzustellen trachten. Das „Erwerben“ von Taten Der Gottesfreund, der das Verborgene schaut, vermag den Charakter seiner Zöglinge heranzubilden, eben weil der Kosmos eine innige Verflochtenheit von Materiellem und Geistigem aufweist, wie schon dargelegt wurde. „Ich glaube daran, daß meine Handlungen sich entsprechend meinen Gehorsamsleistungen und meinen Widersetzlichkeiten in schöne oder häßliche Gestalten wandeln, so daß ich sie vor mir sehe, als gehörten sie dem materiellen Seinsbereich an. Oft nehme ich wahr, wie sie im Augenblick ihres Geschehens sich in einem bestimmten Zustand befinden, doch indem sie emporsteigen, verändern sie sich, von gut zu böse und umgekehrt.“ Die Taten aš-Šaʿrānīs geschehen, sie treten hervor, sagt er wörtlich, und zwar aus dem Nichtsein in das Sein. Schon aus dieser Vorstellung ergibt sich, daß der Mensch nach aš-Šaʿrānī nicht der Herr der eigenen Handlungen sein kann, denn das Schaffen aus dem Nichts ist allein Allah möglich. Der Mensch erwirbt diese Handlungen insofern, als sie an ihm hervortreten; und die Handlungen an sich, das, was beispielsweise die islamische Rechtswissenschaft zu erfassen und zu bewerten hat, sind vor Allah gar nicht entscheidend. Von Bedeutung ist vielmehr die spirituelle Qualität, und diese enthüllt sich nur dem, dessen Blick über den unseren Sinnen zugänglichen Bezirk

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des Seienden hinausreicht. Aš-Šaʿrānī erinnert sich in diesem Zusammenhang der eindringlichen Worte, mit denen Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, von derartigen Einsichten sprach: „Der Glaube eines nach Vollkommenheit strebenden Menschen, auch wenn dieser Mensch unter den ‚Leuten‘ allseits anerkannt ist, bleibt unvollkommen, ehe er nicht wahrzunehmen beginnt, wie sich seine Handlungen im Spirituellen manifestieren, indem sie zu dem Ort an den Sphären aufsteigen, wo sie verharren werden, sei es am Thron Allahs, an der Wohlverwahrten Tafel, am Fußschemel oder am Lotosbaum (Sure 53, 14), wie dies von den Leuten des Schauens allgemein für wahr befunden wird.“ Die koranische Kosmologie, der zufolge die diesseitige Welt vom Fußschemel Allahs umgrenzt ist und sein Thron jenseits des Wassers steht, das alles Geschaffene einschließt, mischt sich bei Sidi ʿAlī mit der Vorstellung von den sich drehenden Sphären. Eine gigantische, wie ein mechanisches Spielwerk gedachte Vorrichtung geistiger Beschaffenheit vermittelt dem Diesseits die Fügung, die Befehle Allahs, die in dem Augenblick, in dem sie ergehen, dank dieser Vorrichtung diesseitig wahrnehmbar werden, danach aber zurücktreten in das geistige Sein, dem sie eigentlich angehören, und, dem Schauenden ihre wahre Eigenschaft offenbarend, wieder hinaufsteigen und an ihrem, wie ein Peripatetiker sagen würde, „natürlichen Ort“ zur Ruhe kommen. Tafel und Schreibrohr (Sure 85, 22; Sure 68, 1), desgleichen der Lotosbaum, haben in diesem Gemälde vom Ergehen und Zurückkehren der Fügung Allahs keine eigentliche Aufgabe. Sie bezeichnen nur den Raum an der Grenze zwischen dem göttlichen und dem geschaffenen Sein. Dem volkstümlichen Glauben der Muslime aber sind sie unentbehrliche Requisiten, Anhaltspunkte für eine nach Anschaulichem suchende Frömmigkeit.48 Allahs Thron war, bevor er die Schöpfung in Angriff nahm, über dem Wasser (Sure 11, 7); dort war Allah ganz bei sich, eine Reminiszenz an den guten, aber untätigen Gott gnostischer Systeme. Der islamische Allah ist jedoch nicht untätig, im Gegenteil, er ruht niemals. Unablässig wirkt er in seine Schöpfung hinein; Thron und Fußschemel, Tafel und Schreibrohr, stehen für den Ausgangsort und für die Art dieses Wirkens, der Lotosbaum für die äußerste Grenze, jenseits deren Allah bei sich selber ist und bleibt. Von dort aus hat er oder sein Bote sich einst, wie in Sure 53 bezeugt wird, dem Propheten gezeigt, und nur bis an jene Grenze steigen die von Allah gewirkten Handlungen des Menschen zurück, so wie sie von dort aus in ihrem wahren Sein bestimmt werden und am handelnden Menschen im Diesseits zur Erscheinung kommen – mehrdeutig, wie die materielle Welt ist. Indem sie zurücksteigen, offenbaren sie sich dem mit dem Schauen Begnadeten in ihrer wahren, eindeutigen Beschaffenheit.

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Die durch Allah geschaffenen Taten und deren schariatische Bewertung Sidi ʿAlī wußte auch, daß jeder Buchstabe einer Koranrezitation oder eines anderen Wortes – vermutlich des Gottesgedenkens – sich im Geistigen als ein Engel darstelle, schön oder häßlich, je nach der Aufrichtigkeit oder Heuchelei, die den Sprecher prägt. Diese geistigen Erscheinungsformen stehen laut Sidi ʿAlī für die fünf Bewertungskategorien, mit denen die Scharia eine jede Handlung beurteilt. Ist eine Tat empfehlenswert, dann erscheint ein Engel in einer Gestalt, die an Schönheit derjenigen nahekommt, die den Pflichthandlungen zugeordnet ist, und in einem gleichen Verhältnis stehen die häßlichen Engel der verabscheuenswerten und der verbotenen Handlung zueinander. Aš-Šaʿrānī findet für die Ansichten Sidi ʿAlīs mannigfache Bestätigung. Mohammed selber soll gesagt haben: „Wenn der Mensch spricht: ‚Es gibt keinen Gott außer Allah!‘ dann verläßt seinen Mund ein weißer Vogel, der danach unter dem Thron Allahs umherflattert. Er erhält den Befehl: ‚Beruhige dich!‘ worauf er erwidert: ‚Bei deiner Macht! Ich beruhige mich nicht, bevor du dem, der jene Worte gesagt hat, alles verzeihst!‘“ Afḍal ad-Dīn erzählte ašŠaʿrānī, daß der Schlaf sich stets wie eine Wolke oder wie dichter Rauch nähere und sobald diese Erscheinung über ihm stehe, überkomme ihn der Schlummer. Auch sehe Afḍal ad-Dīn, wie sich die Barmherzigkeit auf die Leute niederlasse, die sich dem Gedenken des Einen hingeben. Ein anderer Meister bestätigte aš-Šaʿrānī derartige Erscheinungen. Die mit dem Schauen Begabten nähmen die Luft wahr, als wäre sie angefüllt mit unzählig vielen Engeln, alles dies die geistigen Erscheinungen der Handlungen der Menschen. Auch aš-Šaʿrānī weiß von einem Erlebnis zu berichten, das in diesen Zusammenhang gehört: Er wurde sich dessen inne, wie die Gegenwart Allahs (vgl. Sure 9, 26 und Sure 48, 26) und die Bescheidenheit wie weiße Baumwolle auf das Grabmal aš-Šāfiʿīs hinabsanken.49 Was aš-Šaʿrānī hier vor dem Leser ausbreitet, sind bereits in frühislamischer Zeit bezeugte sunnitische Vorstellungen vom Hereinwirken des verborgenen Seins in das offenkundige; auch das Herabsteigen und Zurückkehren des Wortes der Fügung Allahs wurde in sunnitischen Kreisen schon im 8. Jahrhundert erörtert. Obgleich das Prophetenwort, auf das aš-Šaʿrānī hinweist, in den kanonischen Sammlungen fehlt, stößt man dort auf zahlreiche andere ähnlichen Inhalts.50 In der von al-Malīǧī zusammengetragenen Vita aš-Šaʿrānīs finden sich entsprechende Aussagen: Mit dem Herzen schaute er die Verwandlung und das Aufsteigen der Taten der Menschen. Aber al-Malīǧī erweitert diesen Gedanken: Alle diese Engel haben eine Aufgabe zu erfüllen, sie preisen Allah ohne Unterlaß, und dies in Sätzen, die ihrer Eigenart angepaßt sind. Die Engel, die den Thron des Höchsten tragen, rufen: „Preis sei dir, der du verzeihst, nachdem du alles in Erfahrung gebracht hast!“ „Preis dem, der das Schöne zeigt und das Häßliche verhüllt!“ lauten die Worte der Engel, die den Vorhang vor der Majestät Allahs halten. Aš-Šaʿrānī reiht sich in ihre Scharen ein. „Ich kenne unter meinen Zeitgenossen keinen, der mir bei diesen

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Handlungen, bei denen ich den Engeln helfe, beistünde“, soll er gesagt haben.51 Die Engel, die personifizierten durch Allah gewirkten Handlungen, werden hier als das Lob Allahs verstanden, in welchem sich der Schöpfer selber in seiner Eigenschaft als Schöpfer anschaut, und indem aš-Šaʿrānī bei den Handlungen des Lobes mittut, ist er einer der wenigen Menschen – in Ägypten gebe es in seiner Zeit niemanden außer ihm –, die berufen sind, auf diese Weise die Schöpfungswerke zu repräsentieren. Noch sind wir freilich nicht vorbereitet, diese höchste Stufe der Gottesfreundschaft zu verstehen. Wir kehren vielmehr zu den Taten der Menschen zurück und insbesondere zur Bildung des Charakters, die sich nach allem, was uns aš-Šaʿrānī bislang enthüllte, nicht von einem Maßnehmen an den Gegebenheiten des Diesseits her entwickeln wird, sondern vom Erkennen dessen, was im Werke ist. Nicht die verwirrende Vielfalt der Sinnenwelt ist für das rechte Tun maßgebend, sondern die verborgene Wahrheit, die sich der Sinneswahrnehmung entzieht. Zu den Gnadengaben, die ašŠaʿrānī empfangen hat, zählt er keine geringere als den festen Glauben daran, daß Allah die Handlungen aller Menschen schafft, und zwar genau in jenem Augenblick, in welchem sie geschehen, so daß der im Diesseitigen befangene Betrachter sie dem Menschen zuschreibt. Dies sei, wie aš-Šaʿrānī einräumt, wohl das Schwierigste, was einem Muslim zugemutet werde; denn man verlange von ihm, zwei widersprüchliche Aussagen zu vereinen. Der Beleg, den die Theologen immer wieder herangezogen haben, steht in Sure 8,Vers 17: „Nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah tötete sie, und nicht du schossest, als du schossest, sondern Allah schoß! Allah wollte den Gläubigen dadurch gute Taten zuerkennen. Allah hört und weiß alles!“ Die muslimische Überlieferung verknüpft diese Worte mit drei Begebenheiten aus dem Leben Mohammeds. Vor der Schlacht von Badr soll er, seine Feinde verfluchend, Kieselsteine in Richtung ihrer Truppen geschleudert haben; während seiner Niederlage bei Uḥud soll der Prophet einen sich auf ihn stürzenden Feind mit einem gutgezielten Pfeilschuß außer Gefecht gesetzt haben; bei der Eroberung der Oase von Ḫaibar habe er sich einen starken Bogen genommen, der in der Mitte einen festen Griff aufwies, und mit einem Schuß den in der Festung auf einem Ruhebett liegenden Kommandanten getötet.52 Die erste Erklärung verdeutlicht den Sinn des Verses am besten, denn es geht in ihm um das Töten im Krieg gegen Andersgläubige: Eine Handlung, die mehr Jenseitsverdienst einträgt, ist undenkbar – und doch ist auch sie nicht des Menschen eigenes Werk. Allah ist es, der in Wahrheit den Pfeil abschießt – damit er „den Gläubigen dadurch gute Taten“ zuerkennt, sei es in der Schlacht von Badr, in der Niederlage bei Uḥud oder beim Angriff auf Ḫaibar.

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Der „Tatenerwerb“, ausgelegt durch die Theologie Was laut aš-Šaʿrānī die größten Schwierigkeiten bereitet, ist der Grundsatz der Gleichzeitigkeit göttlichen und menschlichen Handelns. In der Tat, nur als ein Nacheinander von Ursache und Verursachtem konnte man sich in der islamischen Theologie Kausalität denken; erst muß die göttliche Fügung ergangen sein, dann erfolgt das Tun des Menschen, das von ihr ausgelöst wird. Aber wir wissen bereits, daß der Kosmos des Gottesfreundes so nicht verfaßt ist. In der Sinnenwelt herrscht lediglich der Anschein, die Ursache liege dem Verursachten voraus. Die Sinnenwelt ist an die Zeit gebunden, nicht aber der Seinsbereich der göttlichen Fügung. Das Verborgene, diese Fügung, ist ununterbrochen im Offenkundigen gegenwärtig, und infolgedessen braucht derjenige, der die ganze Wahrheit erfassen möchte, zwei unterschiedlich begabte Augen, mit denen er die zwei Ebenen des Geschehens einer Handlung zu beobachten vermag. Erst dann wird er die Verwirrung überwinden, die sich bei ihm einstellt, wenn er nur mit dem diesseitigen Augenlicht sehen, nicht aber mit dem geistigen Auge schauen kann. Aš-Šaʿrānī hält diese Frage nach dem Wesen der Taten des Menschen für so gewichtig, daß er den Leser auffordert, sich mit ihm auf einen Gang durch die Geschichte der islamischen Theologie zu begeben. Wir werden ihn dabei begleiten, allerdings nur so weit, wie es dem Verständnis unseres Gegenstandes, der Bildung des Charakters, dienlich erscheint. Es ist notwendig, bei der Betrachtung des Vielen, das ins Sein tritt, voranzuschreiten, bis man zu schauen vermag, wie Allah die erste Materie schafft, der nichts anderes Geschaffenes vorausgeht. Hier, an dieser Grenze zwischen Allahs unerforschlichem Wesen und dem Bezirk der Kreaturen, nimmt also der Vorgang des Schaffens fortwährend, solange die Welt existiert, seinen Ausgang. Was ašŠaʿrānī als eine Materie, der nichts vorausliegt, beschreibt, darf man sich allerdings nicht als Stoff vorstellen; es ist das immaterielle Sein der reinen Fügung, das sich freilich, da es in die Seinsbedingungen des Geschaffenen hineingezogen wird, bei weiterer Ausdifferenzierung als Materie niederschlägt und damit in die Zeitlichkeit einrückt. Aš-Šaʿrānī verzichtet darauf, diese dem Neuplatonismus entstammenden Ideen näher zu erläutern, so daß uns nichts übrig bleibt, als diese Unschärfe hinzunehmen. Wie immer man die Einzelheiten gedanklich fassen und explizieren mag, eines steht unverrückbar fest, nämlich daß der Eine Wahre der einzige Täter im eigentlichen Sinne des Wortes ist.Wenn sich die Ergebnisse seines Tuns, je näher wir unsere Vorstellung auf die uns umgebenden Dinge und auf die um uns und an uns geschehenden Handlungen lenken, auch mehr und mehr verzweigen und viele Zweige sich kreuzen, so daß ein Geflecht von sekundären Ursachen und verursachten Gegebenheiten sichtbar wird, muß man doch immer anerkennen, daß überall die göttliche Kraft wirksam ist. Wie aš-Šaʿrānī schon an anderer Stelle ausführte, gibt es eine scheinhafte innerweltliche Kausalität, denn Allah hat da, wo sich die Zweige kreuzen, bestimmte Ergebnisse von ebenso bestimmten Voraus-

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setzungen abhängig gemacht; und er allein ist es, der diese Abhängigkeit von Mal zu Mal stiftet, und deshalb wird der Erkennende zu der Einsicht geführt, daß überall Allahs Macht entscheidet. Aš-Šaʿrānī schreibt dem diesseitigen Geschehen auf der untersten, der letzten Ebene der Ausdifferenzierung des göttlichen Schöpfungshandelns eine Art geliehener innerweltlicher Kausalität zu, und damit gerät er in einen scharfen Gegensatz zur aschʿaritischen Theologie in ihrer frühen Ausprägung. Sie hatte auf der völligen Diskontinuität des geschaffenen Seins bestanden. Seitdem al-Ġazālī jedoch die auf Avicenna zurückgehenden Lehren von der Weisheit des Schöpfers und von der Qualität des Menschen, der in Leib und Seele zerfällt, hoffähig gemacht hatte, veränderte sich die aschʿaritische Theologie, jedoch ohne daß es einen herausragenden Denker gegeben hätte, dessen Werk diese Veränderungen eindeutig auf den Begriff gebracht und ihnen die einhellige Anerkennung als der neuen aschʿaritischen Theologie und Metaphysik verschafft hätte. In der alten aschʿaritischen Metaphysik bestand alles Geschaffene, so auch der Mensch, aus Substanz und Akzidens, und wenn das eine fehlte, dann konnte auch das andere nicht sein, und so mußte Allahs Schaffen das in jedem Zeitatom von neuem geleistete Beladen der Substanzpartikeln mit den ihnen in eben diesem Zeitatom zugedachten Akzidentien sein. Neben dem so verfaßten Diesseits, der fortwährend geschaffenen werdenden Welt, gab es nur Allah. Die Welt in ihrer unüberschaubaren Seinsfülle war das von Augenblick zu Augenblick durch Allah verwirklichte Ergebnis seines Ratschlusses, der die einzige Ursache alles Existierenden war. Ratschluß und Ergebnis wurden in zeitlicher Abfolge vorgestellt. – Die von Avicenna für die islamische Metaphysik entdeckte und entsprechend konzipierte Seele zerbrach das herkömmliche aschʿaritische System, denn sie, so lehrte er, schied im Tode von dem Leib des Menschen ab und vereinte sich in der Nähe Allahs mit ihresgleichen. Sie war ein Geschöpf Allahs, gewiß, aber wie verhielt sie sich zu der durch Substanz und Akzidens vollständig beschriebenen Welt, die wir das sinnfällige Diesseits nennen? Indem man die Seele zu einem wesentlichen Element des durch den Koran legitimierten verborgenen Seinsbereichs machte und diesen, dessen seinsmäßiger Status in der frühen aschʿaritischen Metaphysik fragwürdig geworden war, als einen dem Bezirk des materiellen Geschaffenen vorgelagerten geistigen entwarf, gewann man die Möglichkeit, die Unvollkommenheiten und Absurditäten der sinnfälligen Welt der Unvollkommenheit der Materie und der Sinne zuzuschreiben und nicht mehr einer unauslotbaren, geradezu tyrannischen Willkür des Einen anzulasten. Die Verworrenheit der materiellen Welt, so wie wir sie wahrnehmen, war nicht mehr der Weisheit letzter Schluß. Diese Verworrenheit war vielmehr nur Schein, den der Weise mit übersinnlichem Schauen zu durchdringen vermochte, um dahinter das lautere Walten der göttlichen Fügung zu erkennen. Die Erklärung, daß diese so quälend unstete, nicht beherrschbare, bedrohliche Welt ein Ort der Bewährung sei, klang nun plausibel, und sie verlangte nach der These von der durch

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Allah gestifteten und bestimmten innerweltlichen Kausalität, die vom rein immateriellen Ausgangspunkt des göttlichen Schaffens her betrachtet als Gleichzeitigkeit von Ursache und Verursachtem ausgelegt werden konnte, in der zeitgebundenen materiellen Ausfaltung dieses Schaffens jedoch als zeitliche Aufeinanderfolge in Erscheinung trat. Die Lehren des frühen Aschʿaritentums behielten damit ihre Gültigkeit, aber dem, was sie beschrieben, lag der immaterielle und zeitlose Ausgang des schöpferischen Handelns Allahs voraus. Mächtig wurde jetzt das Begehren, den Zusammenhang zwischen dem Bezirk des materiellen Geschaffenen und dem ihn überwölbenden immateriellen näher zu erkunden und sich seiner, so gut es irgend ging, zu vergewissern – und schließlich auch, das Handeln des Menschen so auszurichten, daß es schon hier und jetzt, in dieser Wirrsal, dem genüge, was im Bezirk des geistigen Geschaffenen dem Scharfsichtigen zur Anschauung kommt. Eben dies ist das Ziel, unter dem aš-Šaʿrānī die Sicht der sunnitischen Theologie auf das Handeln des Menschen umreißt und von anderen Lehren unterscheidet. Dabei ist er sich sicher, daß selbst Anhänger der Theorie, daß die Welt ewig ist, letzten Endes nicht umhin können, die Auffassung vom Doppelcharakter des menschlichen Handelns zu bestätigen. Mögen diese Richtungen auch nicht an einen personalen Schöpfergott glauben, selbst sie räumen ein, daß die Natur oder das ewige Fatum die Taten des Menschen mitbestimmen. Die Ansicht der Sunniten sei in ihrem Kern Gemeingut der Menschheit, meint er. Die Muʿtaziliten, die das Sunnitentum einst bekämpften, zu Lebzeiten aš-Šaʿrānīs aber längst keine gewichtige islamische Glaubensrichtung mehr waren, lehrten zwar, daß die Kraft zur Tat im Menschen angelegt und seiner Lenkung unterworfen sei, aber der Mensch selber war ein Geschöpf Allahs, und so kann man sehr wohl behaupten, daß jede Handlung ein Zusammenwirken des Schöpfers mit seiner Kreatur zum Ausdruck bringe. Daß die Muʿtaziliten in der Blütezeit ihrer Denkströmung gerade dies ablehnten, sondern hervorheben wollten, daß die von Allah geschaffene Welt durch und durch diese Welt ist, von Allah zwar nach dem Besten ihrer Bewohner eingerichtet, aber seitdem den Geschöpfen zu eigenverantwortlicher Gestaltung anheimgegeben, macht sich aš-Šaʿrānī nicht klar. Die Aschʿariten verwerfen die muʿtazilitische Deutung des Handelns selbstverständlich. Der Mensch, so formuliert aš-Šaʿrānī die aschʿaritische Position, ist das Substrat, an dem sich die Handlungen Allahs manifestieren; er ist der Ort, an dem sich dieses Handeln abspielt, die sinnliche Wahrnehmung erfaßt es an den Menschen und an den übrigen Erscheinungsformen der untersten, materiellen Stufe der Schöpfung. Diesen Sachverhalt meint die aschʿaritische Lehre vom Erwerb der durch Allah gewirkten Taten. Das ins Übersinnliche hinausgreifende Schauen erkennt, daß alles von Allah gewirkt ist. Aš-Šaʿrānī resümiert in diesen Sätzen bereits die spätaschʿaritischen Ansichten seiner Zeit; doch schwingt in ihnen, wie unschwer zu bemerken ist, das Dogma des 10. und frühen 11. Jahrhunderts noch mit, das besagte, in jedem winzigen

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Augenblick seines Daseins sei der Mensch von Allah gelenkt. Und noch deutlicher treten die Akzente hervor, die das neue Aschʿaritentum setzt, wenn aš-Šaʿrānī fortfährt: „(Das übersinnliche Sehen) nimmt die materielle Schöpfung schon wahr hinter dem Vorhang dessen, durch den sie in Erscheinung tritt und der sie will und wählt, und dann erwirbt sie der Schauende, indem er sie für sich wählt.“53 Mit anderen Worten, der Erwerb der Taten, von dem al-Ašʿarī und seine Schule von Beginn an sprachen, ist nicht mehr wie einst die einfache Tatsache, daß die jeweils von Allah festgelegte Konstellation von Substanzen und Akzidentien am Menschen wahrnehmbar wird, der die und die von Allah bestimmte Handlung ausführt, und daß der den Menschen im nämlichen Augenblick konstituierende Komplex von Substanzen und Akzidentien das von Allah gefügte Handeln aufweist, d. h. unter den Bedingungen des Diesseits erfahrbar macht. Handeln heißt in der neuen aschʿaritischen Interpretation, hinter den Vorhang des diesseitigen Seins, der materiellen Schöpfung, zu spähen und das billigend anzunehmen, was dort, in der geistigen Schöpfung, am Werke ist. Die Höflichkeit gegen Allah Auf keinen Fall darf der Muslim aus diesem Verständnis von Handeln schließen, alles sei von Allah festgelegt und der Mensch habe überhaupt keinen Anteil an dem, was an ihm zur Erscheinung kommt. Man muß zwar einräumen, daß alles Tun durch Allah aus dem Nichts ins Sein gebracht wird, aber es wird mit dem Menschen in Relation gesetzt. Das meint, insofern als das Handeln Teil der immateriellen Schöpfung und damit makellos ist, ist es auch gut und dem Schöpfer zuzuerkennen; insofern es aber in der materiellen Schöpfung in Erscheinung tritt und mangelhaft, wenn nicht gar häßlich ist, hat der Mensch es sich selber zuzuschreiben. Dies gebietet, und hier berühren wir den Kern der muslimischen Charakterbildung, wie ašŠaʿrānī sie fordert, die Höflichkeit gegen Allah. Die Lehre vom Erwerb der Taten durch den Menschen verleiht unter diesem Gesichtspunkt der Scharia einen Sinn, während diese sinnlos bliebe, wenn die geistige Schöpfung und die ihr nachgeordnete materielle ein und dasselbe wären. „Wenn wir das Tun einzig Allah zuschreiben, folgen daraus Schlüsse, vor denen wir uns hüten müssen, obschon es für eine solche Zuschreibung in der Offenbarung einen Grund gibt“ – nämlich neben anderem Sure 8, Vers 17. „Indem man einzig Allah das Tun beilegt, wird die Weisheit aufgehoben, die in der Anrede des Menschen mit den Belastungen der Scharia begründet ist, und das bedeutet eine Kritik an dieser Anrede und an den Belastungen überhaupt und eine Ausblendung der sinnlichen Wahrnehmung. Denn niemand erhält Befehle und Verbote, der nicht das Vermögen zu handeln besäße. Nun ist erwiesen, daß die Geschöpfe mit Befehlen und Verboten belastet sind. Bekräftigt wird dies durch die Tatsache, daß Allah die Menschen zu Stellvertretern auf

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der Erde eingesetzt hat (Sure 2, 30): Sie setzen ein und setzen ab. Deswegen neigten einige Schauende zu der Ansicht, das Erwerben erfolge ganz gewiß. Dies wäre ein sehr starkes Argument für die Statthalterschaft. Und es würde nicht dadurch abgeschwächt, daß alles Erworbene auf Allah als den Ursprung zurückgeht. Alle, die die Lehre vom Erwerben ablehnen, betrachten das Argument der Befürworter nicht aus dem Grunde als schwach, weil diese Befürworter das Erwerben verfechten; das tun sowohl die Befürworter wie auch ihre Gegner, denn die Lehre vom Erwerben fußt auf einer Offenbarung und auf Erwägungen des Verstandes. Die Gegner erklären das Argument allein deshalb für schwach, weil jene dann abstreiten müssen, daß das menschliche Handlungsvermögen irgendeine Auswirkung hat. Versteh das! Wenn wir die Handlung jedoch allein dem Menschen beilegen, dann können wir uns ebenfalls auf Gründe berufen, die in der Offenbarung zu finden sind. Doch folgt hieraus etwas Unzulässiges…, denn die Handlung ins Sein zu bringen, geschieht nicht in wirklicher Gemeinsamkeit zwischen dem Herrn und dem Knecht. Man rechnet die Muʿtaziliten nicht deswegen den Polytheisten zu, weil sie die Handlungen der Menschen ganz den Menschen zuschrieben. Die Muʿtaziliten erklärten die Menschen ja nicht zu Mitgöttern, sondern brachten die Taten nur dem Verstande gemäß mit den Menschen in Zusammenhang“ – der Verstand aber verarbeitet nur die Sinneseindrücke, die ihm ein Bild von der materiellen Schöpfung vermitteln, und ist nicht zum Schauen in die geistige Schöpfung berufen. „Das Gesetz gibt den Muʿtaziliten recht“, denn es nimmt nur auf die unterste Ebene der Schöpfung Bezug. „Die Aschʿariten allerdings knüpften das Tun alles potentiell Existierenden dem Verstande gemäß ohne weitere Differenzierung allein an Allah, und auch sie fanden hierin die Unterstützung im Gesetz, und nach der Meinung der Schauenden ist diese Argumentation stärker“, weil sie Allah als den einzigen Ursprung alles dessen, was in die Existenz tritt, klar herausarbeitet. Aš-Šaʿrānī zitiert nun einen Absatz aus einem seiner Bücher über die Viten der Gottesfreunde: „Wisse, daß einer von ihnen die Vollmacht empfing, mit dem Schöpferwort ‚Sei!‘ in die göttliche Fügung einzugreifen, und gleichwohl davon Abstand nahm – aus Höflichkeit gegen Allah – und dies so begründete: ‚Alles menschliche Tun ist dem Verstande und dem Schauen gemäß nicht uns zuzuschreiben.‘ Als der Gottesfreund dies erkannt hatte, sprach er weiter: ‚Wir bringen das Tun sogar der sinnlichen Wahrnehmung, nicht nur dem Verstande und dem Schauen gemäß, mit Allah in Verbindung, damit wir vor dem Übel bewahrt bleiben, das bisweilen den befällt, der mit dem Schöpferwort über das Seiende verfügt. Hätte das Handeln eine wirkliche Beziehung zu uns und unterließen wir es, um danach Allah zu bitten: Tue es an unserer Stelle! dann begingen wir eine Unhöflichkeit, und in einem solchen Falle wäre es der Inbegriff der Höflichkeit gegen Allah, es uns selber zuzuschreiben.‘“ Die Höflichkeit gebietet, Allah als den alleinigen Ursprung aller Handlungen anzuerkennen. Nur die absurde Annahme, Allah wäre unfähig zu

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handeln, könnte den Menschen veranlassen, sich selber als den Ausgangspunkt eines Geschehens zu setzen.54 Die Heranbildung des islamischen Charakters erfolgt demnach in einem Spannungsfeld, das von drei Gegebenheiten, die niemals vollends zu harmonisieren sind, erzeugt wird. Indem der Muslim seine ichhaften Regungen ausschaltet, fügt er sich dem reinen Walten der schöpferischen Bestimmung ein, das den immateriellen Bezirk beherrscht. Man könnte meinen, daß damit das Ziel jener Heranbildung bereits erreicht ist. Denn indem man nun handelt wie jemand, der ganz und gar Allahs ist, hat man doch die „Handlungsweisen Allahs“ angenommen, und zwar in solchem Maße, daß man mit Fug und Recht sein Stellvertreter in der Schöpfung genannt werden darf.55 Die seit Avicenna und al-Ġazālī vorherrschende sunnitische Kosmologie steht solcher Art der Vollendung jedoch entgegen. Denn es ist zwischen dem Bezirk geistiger Schöpfung und jenem ihrer materiellen Erscheinung zu trennen, und einen entsprechenden Doppelcharakter weist das Handeln auf. Hier, im Diesseits, tritt es in den sinnfälligen Bezirk ein und bleibt unvollkommen und in dieser Unvollkommenheit dem Gesetz unterworfen, der Last, die dem Menschen auferlegt ist. Damit kommt uns der zweite Pol des Spannungsverhältnisses ins Auge. Hier und jetzt, unter den Bedingungen der materiellen Schöpfung, ist die Unvollkommenheit nicht zu beheben, und es bleibt, wie uns aš-Šaʿrānī eindringlich ins Gedächtnis rief, die Furcht vor dem, was nach dem Ende des Diesseits geschehen wird. Allah will, wie Sure 8, Vers 17, zu entnehmen ist, daß manche Menschen Verdienst anhäufen, Allah bestimmt, wer in das Paradies gelangen wird. Das einzige, wessen sich der Mensch in dieser Lage befleißigen kann, ist die Höflichkeit vor dem Schöpfer: Alles, was der Mensch an Taten wirkt, nimmt seinen Ausgang bei dem Einen Wahren, die Höflichkeit läßt den Menschen jedoch zögern, das Böse, das Scheitern, das doch nur das unvollkommene Hervortreten des von Allah Gefügten in der Materie ist, dem Schöpfer anzulasten – ebenso wenig wie jener Gottesfreund, der die Vollmacht des Verfügens erhalten hatte, sich dieses Verfügen selber zuschreiben wollte und deswegen darauf verzichtete. Die Höflichkeit gegen Allah ist die dritte Größe in diesem Spannungsfeld; sie ist eine Lebenshaltung, die quer zur Ohnmacht des Geschöpfes liegt, quer aber auch zur Handlungsfähigkeit, wie das Gesetz sie erfordert. Sie wehrt die muʿtazilitische Zumutung der Selbstverantwortlichkeit ab, aber auch die frühaschʿaritische Verwerfung jeglicher Eigenbestimmung und ist, so scheint es, eine Konsequenz der durch Avicenna und al-Ġazālī in Gang gesetzten Erarbeitung eines neuen Verständnisses des Verborgenen. Die Zeitabhängigkeit der Charakterbildung Die Bildung eines muslimischen Charakters gelingt, wenn der Mensch sich der göttlichen Fügung öffnet und schließlich in ihr aufgeht. Die Zweideutigkeiten, die

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dem Erscheinen der geistigen Schöpfung in der materiellen anhaften, schwinden dann. Wendet man sich der praktischen Seite dieser Arbeit am Menschen zu, so hat man zuallererst zu bedenken, daß es nicht einen einzigen, ein für allemal festliegenden Kanon an Verhaltensweisen gibt, die den Muslimen vermittelt werden, damit sie ihr Ziel erreichen. Jede Epoche hat ihre eigenen Unarten und damit auch einen eigenen Kanon an Charaktereigenschaften, um deren Einpflanzung in die Herzen der Glaubensgenossen die Meister ringen müssen. So wird al-Ġazālīs Werk über die Belebung des Wissens vom praktizierten Glauben keinesfalls durch asSuhrawardīs Gnadengaben der Erkenntnisse überflüssig gemacht. Die überragende Gestalt, die im ausgehenden 15. Jahrhundert die Merkmale der Charakterbildung, die auf diese Zeit passen, einer großen Schar von Zöglingen weitergab, war Ibrāhīm al-Matbūlī. Von zahlreichen seiner Schüler und Anhänger erfragte aš-Šaʿrānī die Normen, die er selber als die für ihn und seine Epoche, in der er lebt, gültigen anerkannte. Er faßte sie in einem Werk zusammen, und wenn man diese Matbūlīschen Charaktereigenschaften durchstudiert, fällt sofort ins Auge, wie aš-Šaʿrānīs Lebensbilanz von jener Überlieferung geprägt ist. Die Huldreichen Gnadengeschenke sind gewiß mehr als ein Echo dessen, was er über al-Matbūlī in Erfahrung brachte, denn sie verknüpfen dies alles mit der profunden Gelehrsamkeit, die Ibrāhīm al-Matbūlī oder dessen Anhänger Sidi ʿAlī nicht zu Gebote gestanden hatte, und sie eröffnen ein ums andere Mal einen Blick auf die Persönlichkeit ihres Verfassers, des Seiltänzers über den Abgründen, in denen er zu zerschellen droht. – Wenn auch die Anforderungen, denen die muslimische Charakterbildung genügen muß, sich über die Zeiten hin verändern,56 so kann doch nicht bezweifelt werden, daß der Prophet und die Berichte über sein Handeln die eine umfassende Quelle dieser Kenntnisse sind. Aš-Šaʿrānī versucht auf wenigen Seiten, die hervorstechenden Charakterzüge Mohammeds zu beschreiben, in denen sich, wenn auch in allgemeiner Form, al-Matbūlīs Auslegung, die für die Gegenwart maßgebliche, wiederfinden läßt: Mohammed war stets bescheiden, erwartete kein Wohlleben, pflegte die Gesellschaft mit dem niederen Volk, ertrug die Grobheit der Beduinen, nahm alle Einladungen zu Gastmählern an, widmete sich unermüdlich der Gottesverehrung, grüßte stets höflich und lächelte die Gefährten an, bevorzugte fleischlose Speisen, schwieg über alles, was ihn nicht betraf usw.57 Was aber war das Außergewöhnliche an Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī? Er ist der von Mohammed selber bestätigte Interpret der prophetischen Charaktereigenschaften in dieser Zeit, denn vielfach ist er mit ihm zusammengetroffen. Als Ibrāhīm ein Knabe war, träumte er oft von Mohammed; seine Mutter klärte ihn darüber auf, daß er sich deswegen nicht verwundern müsse. Jedem könne dergleichen widerfahren; ein wahrer Gottesfreund sei erst der, dem auch im Wachsein Mohammed entgegentrete. Und dies habe Ibrāhīm schließlich erlebt. Wie ein Schüler sich Rat beim Meister holt, so ließ sich Ibrāhīm vom Propheten Anweisungen geben.58 Aš-Šaʿrānī

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fragte den Palmblattflechter verwundert, ob dergleichen nicht sehr befremdlich sei, doch Sidi ʿAlī erwiderte, daß jeder Gottesfreund ohne Vermittlung Dritter Kenntnisse aus dem Munde Mohammeds empfange. Dies trifft, wie Sidi ʿAlī weiter ausführte, sogar auf die Rechtsgelehrten zu, die sich zu eigener Entscheidungsfindung aufschwingen. Jeder, der die Enge bloßer Übernahme von Wissen verläßt, stößt in einen Bereich vor, in welchem er ganz und gar sicheres Wissen vorfindet. Ein Gottesfreund wird dennoch stets seine Erkenntnisse allein vom Propheten empfangen, denn Wissen, das man von Menschen übernimmt, ist höchstens wahrscheinlich richtig, eben weil gewöhnliche Menschen es weitergegeben haben. Sidi Muḥammad al-Maġribī, der Lehrer und Meister Ǧalāl ad-Dīn as-Sujūṭīs, war einer jener Männer, die im Wachen dem Propheten begegneten und mit ihm redeten. AlMaġribī erläuterte auch, was das heiße: „im Wachen“. Indem der Schleier, der zwischen dem Gottesgesandten und dem Gottesfreund hängt, hinweggezogen wird, sitzt der Spätgeborene gleichsam neben Mohammed, der körperlich in seinem Grab in Medina liegt. Nicht gemeint sei, daß der Prophet sich leiblich dem Gottesfreund nähere. Solcher Mühen ist das edle Wesen Mohammeds überhoben, das im Zwischenreich lebt, seitdem er dem Diesseits abgestorben ist. „Dies“, fügte alMaġribī hinzu, „ist die reine Wahrheit, und wenn der Vollkommene ihn von Angesicht zu Angesicht schaut, da ja Mohammeds Ruf zum Islam ganz allgemein ist und das Licht seiner Scharia überall verbreitet, so muß gesagt werden, daß das Licht der Scharia an keinem Ort aufleuchtet, ohne daß Mohammed dort zugegen wäre – so nehmen ihn die Schauenden wahr.“ Und dafür findet aš-Šaʿrānī unter den großen Gottesfreunden des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts genügend Beispiele.59 Das Heraustreten aus der Enge des Nichtseins, der wahre Grund der Angst Bei der Lektüre der Matbūlīschen Charaktereigenschaften stoßen wir, wie schon angedeutet, auf mancherlei, was uns bereits bekannt ist. Der Gottesfreund fürchtet sich nicht vor Skorpionen, Raubtieren oder Dieben, und sollte ihn einmal doch Furcht überkommen, dann nur, weil er ganz bei Allah ist, nicht aber, weil er ihn aus dem Blick verliert; der Ursprung der Furcht nämlich liegt darin, daß der Mensch die Enge des Nichtseins verlassen hat und in die Weite der Existenz gelangt ist, so daß seine Natur alles flieht, was ihn in jene Enge zurückdrängen könnte. Die Gottesfreunde, die von Allah über das Seiende Macht erhielten, erkennen, daß alles, was ihnen ein Leid zufügen könnte, dies nur nach Allahs Willen täte, und so fürchten sie allein ihn.60 – Allen Zöglingen al-Matbūlīs wurde Ehrfurcht vor den Nachkommen des Propheten eingeimpft; nur dann darf ein gemeiner Mann eine Nachfahrin Mohammeds heiraten, wenn er sich der Pflicht bewußt ist, ihr zeit seines Lebens zu dienen.61 – Die Handwerker und Fellachen sorgen mit ihrer Arbeit dafür, daß die

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Muslime, die sich ganz der Gottesverehrung weihen, leben können, und deshalb schreibt Allah dem einfachen Mann ein hohes Jenseitsverdienst gut. Überdies wird er nie von Zweifeln an der Religion befallen, denn er kennt die Winkelzüge nicht, mit denen der Verstand sich dem Glauben und seinen Forderungen zu entwinden sucht.62 – Alle Zöglinge nehmen das Brot nur in tiefer Ehrerbietung in die Hand, es ist die wertvollste Gnadengabe Allahs.63 – Den Haschischesser weisen sie nicht mit groben Worten zurecht; sie geben ihm süße Speisen und versuchen, ihn Schritt für Schritt von der Verderblichkeit seines Tuns zu überzeugen.64 – Ein jeder, der die natürliche Charakterbildung durchlaufen hat, hofft, möglichst viele Schüler zu gewinnen, um sie die Höflichkeit gegen Allah zu lehren; er sagt ihnen: „Wir sind für euch wie ein Exerzitium; dieses erlegen wir euch auf, wenn ihr die Unsrigen werdet, und unterwerfen euch Zwängen, die euren Neigungen zuwider sind, und befehlen euch, damit einverstanden zu sein und mit uns Geduld zu üben, denn ihr sollt euch auf diese Weise zum richtigen Verhalten gegen Allah emporarbeiten. Denn jeder, der nicht die Höflichkeit gegenüber dem Meister als Richtschnur anerkennt, erhascht nicht den geringsten Schimmer der Höflichkeit gegen Allah…“65 – Schon al-Ǧunaid wollte den Herrscher auffordern, jeden Muslim zu bestrafen, der behaupte, es gebe nichts außer Allah oder Allah sei der einzig Handelnde im ganzen Kosmos; dies ist eine Lehre, die, wie al-Matbūlī wußte, das Gesetz zerstört. In den Epochen zwischen dem Auftreten der Propheten greift stets der Götzendienst um sich, bemerkte hierzu Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, aber das Intervall zwischen zwei großen Gottesfreunden ist von weitaus scheußlicheren Ideen beherrscht: Allah ist das einzig Vorhandene, die Welt selber ist Allah!66 – Aš-Šaʿrānī, der die Matbūlīschen Charaktereigenschaften anscheinend erst ganz am Ende des Lebens aufgeschrieben hat, verweist den Leser auf seine Huldreichen Gnadengeschenke; dort werde man Näheres finden. *** Die Höflichkeit gegen Allah gebietet, die Mangelhaftigkeit der materiellen Erscheinungsform des durch den Schöpfer in vollkommener Weise im rein geistigen Bereich seiner Fügung ins Werk Gesetzten allein dem Materiellen zuzuschreiben. Weil der Mensch Leib und daher materiell ist, trägt er insofern die Verantwortung für die Taten, die an seinem Leib durch Allah in Erscheinung gebracht werden. Und allein da dies sich so verhält, ist die Erziehung, die die Meister je nach den Leiden der Zeit den Adepten angedeihen lassen, überhaupt theologisch zu rechtfertigen. Sie hat freilich nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie von jemandem vorgenommen wird, der den Zusammenhang zwischen dem Vollkommenen, Immateriellen und dem Unvollkommenen, Materiellen genau so klar durchschaut wie der Prophet, nämlich der Gottesfreund, in dem Kosmos und Selbst eins geworden sind. Ein solcher Erzieher hat einen Zugang zur Scharia, wie er den bloßen Schriftgelehrten fehlt; und

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dank diesem Zugang ist er berufen, die Leiden der Zeit zu heilen. Ohne Säumen folgen wir aš-Šaʿrānīs Wink und suchen in den Huldreichen Gnadengeschenken weiteren Aufschluß.

Kapitel 3 Der Einzelne, die Mitmenschen und das Gesetz 3.1 Alleinsein Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich Vollkommenheit an meinen Gefährten, Unzulänglichkeit aber an mir selber wahrnahm. Aus eben diesem Grunde verschmähte ich es, mich von den Menschen zurückzuziehen, es sei denn, irgendein nach der Scharia zulässiger Zweck rechtfertigte das Alleinsein, etwa daß ich fürchtete, von mir könne etwas ausgehen, wovon die anderen einen Schaden haben könnten. Denn zwei Möglichkeiten, keine dritte, gibt es: Entweder bin ich der Schüler eines anderen oder der Lehrer dieses anderen, und in beiden Fällen ist die Zurückgezogenheit nicht statthaft; man darf nämlich die Belange des Diesseits und des Jenseits nicht verabsäumen. Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī sagte stets: „Wer in dieser Zeit die Zurückgezogenheit und das Alleinsein sucht, weil er vermeint, da gebe es niemanden, der es wert sei, mit ihm die Gesellschaft zu teilen, der setzt sich der Gefahr der Verarmung im Diesseits und im Jenseits aus und noch dazu dem Übel, das seinen häßlichen Bestrebungen und dem Mißtrauen gegen die Menschen entspringt, von denen er sich absondert. Nur in den Zwischenzeiten, in denen das göttliche Gesetz verlorengeht, ist das Alleinsein zu fordern. Daher pflegten sich die Weisen jener Epochen von den übrigen Menschen zurückzuziehen, weil sie sich von den Trübungen ihres Selbst zu läutern suchten, damit sie wenigstens einen leichten Schimmer des Lichts fänden, das ihnen den Weg leuchtete; man nannte jenes Licht das menschengemachte Gesetz (arab.: al-qānūn). Wenn aber das von Allah gegebene Gesetz vorhanden ist, wie in unserer Zeit, dann hat das Alleinsein keinen Nutzen, es sei denn, man verschriebe sich ihm aus irgendeinem mit eben diesem göttlichen Gesetz zu vereinbarenden Grund.Wer heutzutage hofft, daß ihm während des Alleinseins irgendein Weg erkennbar werde, den er wandeln könne, neben dem Weg des Korans und der Sunna, wie ihn die handelnden Wissenden auffassen, der mag sich lange quälen! Sein Alleinsein wird scheitern, und bliebe er tausend Jahre für sich, er könnte uns nicht eines der Prophetenworte bringen, die al-Buḫārī, Muslim und andere in Fülle überliefern! Wie töricht ist doch ein Mensch, der im hellsten Licht der Sonne sich mit dem Licht einer Lampe Helligkeit verschaffen möchte! Es gibt nichts, wodurch man sich Allah nähern könnte, das er nicht in seinem Buch erwähnt und durch den Mund seines Gesandten erläutert hätte!“ Dem füge ich hinzu: Was Sidi Ibrāhīm ausführt, gilt nur für die Meister. Für die Zöglinge aber sind nach einmütiger Ansicht der Meister des Weges die Zurückgezogenheit und das Alleinsein unentbehrlich. Die Meister beabsichtigen damit selbstverständlich nicht, daß die Adepten, sobald sie bis in die innersten Winkel des Herzens geläutert sind, ein neues göttliches Gesetz verkünden. Sie wollen nur, daß die Adepten sich entsprechend der Scharia verhalten, und zwar in vollkommener Weise, etwa indem sie sich ununterbrochen vor Allah wissen und ihn fürchten. Dies jedenfalls ist die Ansicht, die mir einleuchtet.1

*** Alleinsein und Berufung – Der Streit um Ibn ʿArabī – Das Herrsein Allahs und das Herrsein des Menschen – Schöpfung als das Aufscheinen des Lichts in der Finsternis des Nichtseins – https://doi.org/10.1515/9783110789119-014

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Der Sinn des Alleinseins jenseits der „Standplätze“ – Die Zwischenzeiten – Verteidigung Ibn ʿArabīs – Aš-Šaʿrānīs Saphire und Juwelen – Offenbartes und geschautes Gesetz – Die geschaute Weisheit des Gesetzes: das Fasten – Ibn ʿArabīs Intentionen und aš-Šaʿrānīs Auslegung – Aš-Šaʿrānī wird verleumdet

Alleinsein und Berufung Im Alleinsein, in der Abgeschiedenheit vom Getriebe der Welt, reift die Einsicht in deren Mangelhaftigkeit, sofern man sich dem Übersinnlichen öffnet. Die Muslime kennen niemanden, der dies in so erschütternder Weise erfuhr wie ihr Prophet. Allah machte ihm, wie es in seiner Vita heißt, die Einsamkeit lieb. Mohammed verbarg sich in einer Höhle auf dem Berg Ḥirāʾ und hielt dort Andacht; darauf kehrte er zu Ḫadīǧa zurück, nur um sich einigen Proviant zu holen und dann die Höhle erneut aufzusuchen. Plötzlich überfiel ihn Allah: „Mohammed, du bist der Gesandte Allahs!“ „Und, da ich stand, sank ich auf die Knie nieder, und dann kroch ich weiter, mit zitterndem Nacken, zurück ins Haus zu Ḫadīǧa und stöhnte: ‚Hüllt mich ein! Hüllt mich ein!‘“ (vgl. Sure 73, 1).2 Seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert ist die Geschichte von Mohammeds Berufung so oder ähnlich erzählt worden. Er wurde von Allah erwählt, das eine Gesetz des Schöpfers erneut und letztmalig den Menschen zu verkünden. Dies ist die weitreichendste Folge, die ein Leben in Absonderung von den Menschen haben kann, und sie ist nur in einem Zeitalter zu erwarten, in dem das Wissen vom göttlichen Gesetz, das einst durch einen Gesandten verkündet worden war, zur Gänze verloschen ist. Es wäre darum allzu verwegen, wenn ein Meister nun, da doch der Koran und die Sunna jedermann zugänglich sind, es in der Einsamkeit Mohammed gleichtun wollte. Die Zöglinge der Meister hingegen sollen sich eine Zeitlang von der Welt absondern, damit sie das durch den Propheten überbrachte Gesetz ganz in sich aufnehmen und damit sie existentiell erfahren, daß sie, indem ihnen dies gelingt, sich dem Walten der Fügung unterwerfen, durch die Allah fortwährend die Welt schafft. Der Streit um Ibn ʿArabī Was Ibrāhīm al-Matbūlī und, seinen Worten folgend, aš-Šaʿrānī hier vortragen, ist nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, die Herkunft der Kosmologie, der die Schauenden verpflichtet sind, so weit zu verdunkeln, daß die Gesetzesfrömmigkeit und folglich auch die Meisterschaft gesichert werden. Der ungenannte Stein des Anstoßes ist Ibn ʿArabī (gest. 1240), dessen gedankenreiche Schriften dahingehend ausgelegt werden konnten, er lehre, daß es nichts außer Allah gebe, eine Theologie, die, wie wir schon hörten, keinen Raum für ein Gesetz und eine dessen Erfüllung aufdrängende Eschatologie läßt. Dies jedenfalls lasen jene Sunniten, die die Erscheinung der Gottesfreundschaft mit Skepsis betrachteten, aus den Werken Ibn

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ʿArabīs heraus. Die anderen, Männer wie Ibrāhīm al-Matbūlī, Sidi ʿAlī, aš-Šaʿrānī und ihresgleichen mußten solchen Argwohn abwehren. Schon seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert dauerte dieses Ringen an. Gegen Ende der Mamlukenzeit war der Streit mit Heftigkeit wieder aufgeflammt. Hohe Wellen schlugen die Auseinandersetzungen um Burhān ad-Dīn al-Biqāʿī (gest. 1480), der, in Damaskus tätig, heftig die These al-Ġazālīs kritisiert hatte, das Diesseits, so wie es existiere, sei die vortrefflichste aller denkbaren Welten – eben weil es von der Weisheit Allahs durchzogen ist. Al-Biqāʿī unterstellte jedoch, damit sei die Lehre der Philosophen und der Anhänger der These, es gebe nichts außer Allah, zum Ausdruck gebracht. Die Welt selber, so wollte al-Biqāʿī die Aussage al-Ġazālīs verstehen, sei nichts anderes als eine Erscheinungsweise göttlichen Seins und daher unüberbietbar vollkommen.3 In einer Streitschrift wurde al-Ġazālī durch al-Biqāʿī scharf verurteilt, was wiederum die Damaszener Bevölkerung derart in Wut versetzte, daß al-Biqāʿī nicht einmal mehr zum Freitagsgottesdienst sein Haus verlassen konnte. Er versuchte, sich die Zustimmung berühmter Kairoer Kollegen zu verschaffen, wodurch der Zwist auch nach Ägypten getragen wurde. As-Sujūṭī berichtet darüber in seinen autobiographischen Notizen.4 In Kairo schwelte dieser Konflikt schon lange. Hier waren es neben den Schriften Ibn ʿArabīs ganz besonders die Verse des Dichters ʿUmar b. al-Fāriḍ, die für jene Richtung standen, der man die Auflösung des Gesetzes in der Göttlichkeit der Welt vorwarf.5 As-Sujūṭī ergriff mit Entschiedenheit Partei für Ibn al-Fāriḍ, sein Intimfeind asSaḫāwī hielt es mit der anderen Seite und stellte sogar ein umfangreiches Nachschlagewerk mit den Namen all jener Gelehrten zusammen, die die, wie er meinte, Vergöttlichung des Diesseits verdammt hatten. Es wurde, das sei betont, nicht darüber gestritten, ob jegliches Hereinragen des Verborgenen in das Offenkundige auszuschließen sei. Daß das Verborgene hier und jetzt wirksam war, bezweifelte auch ein Mann wie as-Saḫāwī nicht; dies entnahmen wir seinem Aufriß über die spirituelle Topographie Kairos, den wir mehrfach zu Rate zogen. Die unabweisbare Frage war aber, ob die Kosmologie der Derwische und Gottesfreunde dieses Hereinragen nicht überbetone. Und noch eine zweite Frage tauchte am Horizont auf: Mußten nicht die Erkenntnisse, deren sich die Gottesfreunde rühmten und die über das Erlernbare hinausgingen sowie fehlerfrei und mit unanfechtbarer Autorität ausgezeichnet sein sollten, die überkommene Schariawissenschaft in ein Zwielicht rücken und somit den Vorrang der Gesetzesgelehrten in der Gesellschaft antasten? As-Sujūṭī, den aš-Šaʿrānī bewunderte, hatte die erste Frage mit Nein beantwortet und in mehreren Schriften angedeutet, daß tatsächlich die Buchgelehrsamkeit nicht der Weisheit letzter Schluß sei. Aš-Šaʿrānī, auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, wagte sich mit solchen Ansichten besonders weit vor. Er scheute sich nicht, die Überlegenheit der Gottesfreunde offen auszusprechen und in einem Werk über die Umgestaltung der Schariawissenschaft zu begründen und zu rechtfertigen. Die

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Freude an der Heranbildung einfacher Menschen zu muslimischen Charakteren hatte aš-Šaʿrānī von den Zöglingen Ibrāhīm al-Matbūlīs übernommen. Diese Freude konnte er in Schaffenskraft verwandeln, weil er davon überzeugt war, daß Ibn ʿArabī nie den Boden des islamischen Gesetzes verlassen hatte. Die Beschreibung des Kampfes für die, wie aš-Šaʿrānī meinte, wahren Lehren Ibn ʿArabīs ebnet uns den Weg zum Verständnis dessen, was aš-Šaʿrānī als seine größte Lebensleistung ansah. Das Herrsein Allahs und das Herrsein des Menschen Ibn ʿArabīs Gedanken lassen sich am einfachsten verdeutlichen, wenn man sich ihnen von Sure 41,Vers 53 f., her nähert. „Wir werden sie unsere Wunderzeichen an den Horizonten sehen lassen und in ihnen selber, damit ihnen deutlich werde, daß es die Wahrheit ist. Genügt es denn nicht, daß dein Herr für alles Zeuge ist? Freilich zweifeln sie daran, daß sie ihrem Herrn begegnen werden. Er aber umfaßt alles.“ Ursprünglich sind diese Worte an die zweifelnden Mekkaner gerichtet, denen schon so oft geraten wurde, aus den Vorgängen in der Natur das weise Wirken des Einen herauszulesen, desgleichen aus der Heranbildung der Leibesfrucht, aus Geburt, Aufwachsen, Lebensschicksal des Menschen die Einsicht zu gewinnen, daß es jener Schöpfer ist, in dessen Händen alles liegt, und daß es daher kein leeres Geschwätz ist, wenn der Prophet den Jüngsten Tag ankündigt. Im 73. Kapitel der Mekkanischen Eröffnungen widmet sich Ibn ʿArabī diesen Versen, löst sie dabei aber völlig aus dem Zusammenhang, in dem Mohammed sie vorgetragen hatte. Ibn ʿArabī will die Geheimnisse und das Wissen beschreiben, mit denen die Männer Allahs, unter ihnen die „Bedürftigen“, die Derwische, ausgezeichnet sind. Zu diesen zählen, wenn man den Koran ernstnimmt, alle Menschen: „Ihr Menschen, ihr seid es, die Allahs bedürfen!“ (Sure 35, 15). Die Bedürftigkeit der Menschen ist grenzenlos; alles, wessen sie sich in ihrem Dasein bedienen, ist ein von Allah Genanntes und bezeugt die Bestimmungs- und Schöpfungsmacht des Einen Wahren. Alles, womit die Menschen umgeben sind, ist die sich fortwährend manifestierende Fügung des Einen, die als das eigentliche Wesen alles Existierenden, auch des Menschen selber, verstanden werden muß. In Sure 35, Vers 15, teilt Allah mit, daß „die Menschen Allahs in absoluter Weise bedürfen; das Bedürfen ist ganz ihnen eigen… Der Eine Wahre scheint in der Gestalt eines jeden Dinges auf, dessen (der Mensch) um (Allahs) willen bedarf. Hingegen gibt es gemäß jenem Vers kein Ding, das derjenigen bedürfte, die selber Allahs bedürfen. Sie aber bedürfen eines jeden Dinges!“ Es ist nach Ibn ʿArabī ein Unglück, daß die Dinge, das Diesseits, deswegen die Eigenschaft haben, dem Menschen die Erkenntnis des Einen zu verstellen. Selber geschaffen, vermeinen die Menschen, geschaffener Dinge zu bedürfen. Nur die wahrhaft Bedürftigen – die echten Derwische – durchschauen die diesseitige Oberfläche und werden dessen

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inne, daß es allein Allah ist, dessen sie bedürfen, und könnte es eine härtere, unheilvollere Bedürftigkeit geben als diese? „Deswegen bedarf der Mensch seines Gehörs und seines Gesichtssinnes und all seiner Gliedmaßen und Wahrnehmungen, nach außen wie im Innern. Der eine Wahre teilte in einem einwandfreien Ḥadīṯ mit, daß Allah das Gehör, der Gesichtssinn, die Hand des Knechtes ist.“ Ibn ʿArabī spielt hier auf das schon im frühen Islam häufig zitierte Wort an: Der Muslim hat, wenn er denn eine Anwartschaft auf das Heil erwerben will, die Ritualpflicht peinlich genau zu erfüllen; wenn er sich seinem Schöpfer jedoch annähern möchte, dann muß er ganz in zusätzlichen Handlungen der Gottesverehrung aufgehen, wie aš-Šaʿrānī sie beschrieb, damit Allah selber schließlich Gehör, Gesichtssinn, Hand seines ihm vollends anheimgefallenen Knechtes wird. Ibn ʿArabī fährt fort: „Der Bedürftige bedarf, indem er des (gottgegebenen) Gehörs und Gesichtssinnes bedarf, (in Wirklichkeit) allein Allahs. Das Gehör und der Gesichtssinn sind infolgedessen die Erscheinungsorte des Einen Wahren, und solches gilt für alle Dinge. Wie subtil verhält es sich mit der Durchdringung der vorhandenen Dinge durch den Einen Wahren und mit der gegenseitigen Durchdringung der vorhandenen Dinge!“ – Sie sind ineinander untrennbar verwoben, eben weil sich in ihnen allen Allahs Fügung zur Geltung bringt. – „Dies genau meint Allahs Wort (Sure 41, 53): ‚Wir werden sie unsere Wunderzeichen an den Horizonten sehen lassen und in ihnen selber!‘ Die Wunderzeichen meinen hier die Hinweise darauf, daß es sich (bei ihnen) um die Erscheinungsorte des Einen Wahren handelt.“ Die rituellen Pflichten, etwa das Ramadan-Fasten, zwingen den Muslim immer wieder dazu, ganz „in Allah“ zu leben, behauptet Ibn ʿArabī und spielt damit auf die Heilsbotschaft des Korans an: Alle Schöpfung ist zu Allah hin geschaffen und kann daher nicht in das Unheil fallen – „kein Tier gibt es, das von Allah nicht am Schopfe gehalten würde“ (Sure 11, 56). Aus der Erwägung dessen, was sich in der Welt und als Welt zeigt, gelangte Abraham zur Einsicht in die Heilsbestimmtheit aller Kreatur – „ich wende mein Angesicht dem zu, der die Himmel und die Erde geschaffen hat, als Gottsucher tue ich das, und ich bin nicht jemand, der dem Einen andere Götter beigesellt!“ (Sure 6, 79). Im Vollzug der Riten vergegenwärtigt sich der Muslim die Heilsbotschaft, die zuerst Abraham erkannte. Daß Allah „dich im Ramadan umfaßt, ist insofern wie ein Umfassen der Ehrung und der Freistellung (von menschlichen Attributen) zu verstehen, als er dir in deinem zwingend gegebenen Knechtsstatus eine Ritualpflicht auferlegt hat, damit du dir die Eigenschaft zuschreiben kannst, die ihm, nicht dir, zusteht, nämlich die Freistellung von Speise und Geschlechtsverkehr während des lichten Tages – und das ist immerhin die Hälfte der Zeit deiner Existenz! Dann freilich trittst du in die Nacht ein und verläßt deinen Herrenstatus mit seiner Freistellung von Speise und Geschlechtsverkehr und gehst wiederum zum Knechtsstatus über, indem du das Fasten brichst.“ Allah und Mensch sind für Ibn ʿArabī durchaus nicht ein und dasselbe. Nur in den Augenblicken schranken-

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loser Gottesverehrung, in denen, wie während des Ramadan-Fastens, die Erscheinungen irdisch-diesseitiger Mangelhaftigkeit aufgehoben sind – die Abhängigkeit von Nahrung und vom Ausleben der Fleischeslust – erfährt der Mensch ein Herrsein, das demjenigen Allahs entspricht. Allah aber eignet die absolute Freistellung, und das ist entscheidend; sein Herrsein schwindet niemals. Schöpfung als das Aufscheinen des Lichts in der Finsternis des Nichtseins „In ihnen selber“ leuchtet Allah auf, aber eben nicht, indem er sich mit den Menschen gleichmacht. So liest Ibn ʿArabī Sure 41, Vers 53! In genau diesen Worten des Korans entdeckt er überdies die Mahnung, der Mensch solle nüchtern alle die Gemütszustände zergliedern, die ihn beim Ringen um die Annäherung an Allah überkommen, und dies geschieht am besten, wenn er sich auf dem Standplatz des Alleinseins befindet. Dieser Standplatz ist der höchste, der dem Menschen überhaupt erreichbar ist, denn hier ist das Diesseits vollends abgetrennt, die existentielle Gotteserfahrung tritt ein: Zuerst entdecken sich dem, der bis dorthin vorgedrungen ist, die Wunderzeichen der Welt, dann enthüllt Allah dem Menschen, daß er auch in sich selber diese Wunderzeichen findet, die er zuvor außerhalb seiner erkannte. Alle diese Zeichen geben dem ins Alleinsein Versenkten die Gewißheit, daß Allah der Eine Wahre ist, der, indem er erscheint, selber als der Wesenskern des Kosmos zum Erscheinen kommt. Das Alleinsein nämlich leitet sich – und hier spielt Ibn ʿArabī mit der betreffenden arabischen Wortwurzel – aus der Leere her, in der die Welt in Erscheinung trat. Der leere Raum besteht aus finsterer Substanz, winzigen Stäubchen vergleichbar, und indem sich nun der Eine Wahre als das Licht enthüllte, wurden die Stäubchen sichtbar und gingen damit vom Nichtsein in das Sein über. So gibt es im Diesseits nichts, in dem nicht der lichthafte Eine Wahre aufscheint: „Allah umfaßt alles“ (Sure 41, 54). Diese Erkenntnis gelingt aber nur dann, wenn das völlige Alleinsein erreicht wurde, gleichwie im Ramadan-Fasten vorübergehend die Bedingtheit des Diesseitigen aufgehoben ist und das Herrsein eintritt. Die Befindlichkeit jenseits der „Standplätze“, von aš-Šaʿrānī als der Zielpunkt der Meisterschaft gerühmt, gewährleistet solche Erkenntnis. Der Sinn des Alleinseins jenseits der „Standplätze“ „Da die Leere von nichts anderem als der Welt bewohnt wird, ist der in das Alleinsein Versenkte im Alleinsein in sich selber. Das ist sein Ursprung. Wenn er nun nicht eine Färbung annimmt (und damit im Offenkundigen sichtbar und existent wird), dann ist er im Alleinsein in Allah und verharrt in diesem Alleinsein auf ewig, ohne daß er durch die Zeit eingeschränkt würde, weder durch die vierzigtägige Zurückgezogenheit noch durch anderes.“ Das Alleinsein, von dem Ibn ʿArabī spricht, darf man nicht mit jener festbemessenen Frist der Absonderung von der Welt

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verwechseln, die man den Adepten vorschreibt. Allein schon das Faktum der Frist belegt, daß es sich um etwas gänzlich Diesseitiges handelt. „Der Erkennende… erkennt, daß er im Alleinsein in Allah ist, nicht in sich selber… Daher sieht er sich selber in sich selber, insofern als seine Spur im ihn Umfassenden sich in den Bildern findet, die das Umfassende zur Erscheinung bringt. Und insofern als die Einzeldinge (der Welt, die mit dem Umfassenden identisch sind) zahlreich sind, sieht der Erkennende darin, was ihm selber zugehört, und jedes Einzelding ist in jedem Augenblick vom anderen unterscheidbar.“ Die Gliedmaßen und Sinnesorgane des Menschen sind deutlich gegeneinander abgehobene Einzeldinge, erklärt Ibn ʿArabī, und auch das mentale Wesen der Menschen ist mehrschichtig, man spricht von Verstand, Denken, Vorstellungswelt. Dennoch ist der Mensch einer. Übertragen wir dies auf die Welt als eine ganze, dann gilt: Sie ist mannigfaltig, aber der Eine Wahre bestimmt die Gesamtheit aller Einzelheiten, die den Leib des Kosmos ausmachen. Dies ist die Frucht der Erkenntnis, die der „Standplatz“ des Alleinseins bietet. Ist er einmal erreicht, dann wird man diese Erkenntnis nie mehr aufgeben können. Das, was man gemeinhin unter Alleinsein versteht, meint dagegen, daß man sich an die Mannigfaltigkeit verliert: Man hofft etwa darauf, daß man das Lob Allahs erlausche, das alle Einzeldinge, die den Kosmos bilden, ohne Unterlaß ausrufen. Der Adept weiß sich demnach gerade nicht in einem leeren Raum, sondern in einem, der von den Phänomenen des Diesseits angefüllt ist, und sobald seine Wahrnehmungen enden, beginnt er damit, sie zu bedenken und zu analysieren. Das schauende Durchmessen des Kosmos, das in den vierzig Tagen der Zurückgezogenheit geübt werden soll, verfehlt, so befürchtet Ibn ʿArabī, eben den Zweck, dem es eigentlich dienen müßte.6 Die Frage nach der richtigen Deutung der Zurückgezogenheit ist demnach keine Spitzfindigkeit, sondern sie rührt an die Grundlagen der Gottesfreundschaft, ja des Sunnitentums überhaupt. Aš-Šaʿrānī hat sich dieser Frage mehrfach in seinen Schriften angenommen und bedenkt sie vor allem unter dem Blickwinkel, ob das Werk Ibn ʿArabīs für das Sunnitentum gerettet werden kann oder ob es verworfen werden muß – was freilich kaum zu erreichen gewesen wäre. Selims Befehl, Ibn ʿArabī in Damaskus einen Grabbau zu errichten, ist nicht der geringste Beleg für die Anziehungskraft, die das Werk dieses Mannes ausstrahlte, und es gibt weitere Belege für das hohe Ansehen, in dem es bei den osmanischen Sultanen stand.7 AšŠaʿrānī schreibt in seiner Lebensbilanz, er empfinde tiefe Dankbarkeit gegen Allah, „weil er mich als jemanden einsetzte, der die Sunna wiederbelebte und die verderblichen Neuerungen vernichtete – als nach dem Tod der Meister, die in unserer Kindheit wirkten, eine Zwischenzeit eintrat.Wer zum Pfad Allahs ruft, der nimmt in der muslimischen Glaubensgemeinschaft die Stelle der Gottesgesandten wahr.“ Sie wurden, wie uns oben mitgeteilt wurde, stets berufen, wenn das göttliche Gesetz in Vergessenheit geraten war, und überbrachten es dann von neuem. Die Zwischenzeit,

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die mit dem Tod von Männern wie Ibrāhīm al-Matbūlī und seinen Schülern anbrach, ist jedoch nicht so unheilvoll, denn das Gesetz ist nicht verschwunden. Es wird nach wie vor gelehrt, aber es wird nicht mehr in dem Maße beachtet, wie dies notwendig wäre. Die Gottesfreunde nehmen es nun auf sich, die Menschen zum Gehorsam gegen die Scharia aufzufordern und sie zu erziehen; auch das Alleinsein hat hierbei seine Aufgabe. Aš-Šaʿrānī weiß aber, daß er nicht der einzige ist, der sich um die Gesetzestreue der Glaubensbrüder müht; er nennt in seiner Lebensbilanz eine Reihe anderer Meister, die, schlösse sich ihnen die Gemeinschaft aller Muslime an, sie „mit Allahs Erlaubnis zur geraden Straße“ (Sure 11, 56) führten. Fast alle, die aš-Šaʿrānī in diesem Zusammenhang erwähnt, finden sich auch im Anhang zu seinem prosopographischen Nachschlagewerk. Dort rechtfertigt er sich für den als ungewöhnlich, wenn nicht gar anstößig empfundenen Entschluß, lebende Personen in solch ein Verzeichnis aufzunehmen. Aš-Šaʿrānī beteuert, daß er sich dessen sicher sei, daß Allah diesen Männern niemals das Wissen und die Erkenntnis, über die sie verfügen, entreißen werde. In Kürze aber werde Ägypten keine Rufer dieses Ranges mehr haben. Wer klug ist, nutze die Gelegenheit und lasse sich durch sie erziehen, ehe es zu spät ist! Unter ihnen sind Hanafiten wie Šams ad-Dīn al-Barhamtūšī, Sirāǧ ad-Dīn al-Ḥānūtī und Burhān ad-Dīn as-Saḫāwī, mit denen aš-Šaʿrānī zehn Jahre und länger engen Umgang pflegte, und der uns schon bekannte Šams ad-Dīn aš-Širbīnī, um dessen Aufmerksamkeit sich der Herrscher von Mekka einst vergeblich bemühte, sowie Naǧm ad-Dīn al-Ġaiṭī, zu dessen Lehrern Zakarjā al-Anṣārī zählte, und Meister Nūr ad-Dīn aṭ-Ṭanṭāʾī, der erste al-Azhar-Gelehrte, den aš-Šaʿrānī kennenlernte.8 Die Zwischenzeiten Wie verhält es sich mit den Zwischenzeiten innerhalb der islamischen Geschichte? Sobald die großen Schulgründer, die die Scharia durcharbeiteten und die Möglichkeiten erforschten, sie auf das Leben anzuwenden, einer nach dem anderen dahingegangen waren, wuchs „vor den Herzen ein Schleier“. Um den islamischen Glauben nicht gänzlich dem Verlöschen preiszugeben, schickte Allah die Meister, die al-Qušairī in seiner Abhandlung nennt, Männer der frühen sufischen Frömmigkeit wie as-Sarī as-Saqaṭī und al-Ǧunaid – vorbildlich vereinten sie in ihrem Lebenswandel das Wissen und das Tun. Im 10. Jahrhundert beginnt die zweite Zwischenzeit, die von ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī, Aḥmad ar-Rifāʿī, Abū Madjan al-Maġribī und ihresgleichen beendet wird. Wieder jedoch schwindet der Gesetzesgehorsam, und erst die Šāḏilīja und die Wafāʾīja können in Kairo aufs neue die Tradition der Gottesfreundschaft begründen. Das geschieht im 14. Jahrhundert. Sidi ʿAlī al-Marṣafī, Meister Muḥammad aš-Šanāwī, Männer, die sterben, als aš-Šaʿrānī in die Mitte seines Lebens eintritt, sind die letzten Zeugen dieser zu Ende gehenden Epoche der

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Gottesfreundschaft. Jetzt hat Allah aš-Šaʿrānī und jenen Zeitgenossen, von denen die Rede war, die Aufgabe der Wiederbelebung der Schariatreue aufgebürdet, „und Lob sei ihm, daß er mich zu einem von ihnen gemacht hat“. Freilich ist nicht zu befürchten, daß die Welt je ohne einen Gottesfreund auskommen müßte. Immer gibt es einen Pol, Zeltpflöcke, Ersatzmänner geben, alle diese herausragenden Gestalten der Hierarchie der Menschen, die dem Einen nahestehen. Wären sie nicht, dann „verfiele das Sein zur Gänze mit einem Mal, so daß man selbst in der Zeit, in der der Jüngste Tag anbricht, niemanden fände, der ‚Allah, Allah!‘ sagte“. Verteidigung Ibn ʿArabīs In den Epochen zwischen den Gottesgesandten wurde das Gesetz verworfen, und die Menschen verehrten Götzenbilder unter dem Vorwand, diese würden sie dem Einen nahebringen (vgl. Sure 39, 3). In den Zeiten zwischen dem öffentlichen Wirken der Gottesfreunde geschah noch Schändlicheres! So verfielen einige Irrgeister in Oberägypten auf den Gedanken, es gebe nichts Seiendes außer Allah! „Leblose Materie, Pflanzen, Skorpione, Schlangen, die Dschinnen und die Menschen, die Engel und der Satan“, alles sei Allahs sich in der Zeit manifestierendes Sein, Der Schöpfer und sein Werk seien wesensgleich! Nicht einmal jemand, über den der Wahnsinn Macht hat, kann so etwas behaupten, entrüstet sich aš-Šaʿrānī; nicht einmal der Teufel würde, schriebe man ihm eine solche Lehre zu, dem zustimmen. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, bestätigte seinen Zögling im Abscheu gegen jene nicht genauer bezeichneten Irrenden in Oberägypten; nicht einmal Juden und Christen hätten sich zu solchen Hirngespinsten verstiegen, hätten sie doch nur Ezra und Jesus, nicht aber die ganze Schöpfung für identisch mit Allah erklärt (vgl. Sure 9, 30)! „Der vollkommene und fest im Wissen verwurzelte Meister Muḥjī d-Dīn Ibn ʿArabī hat mehr als genug über die Widerlegung der Leute gesprochen, die das Innewohnen (des Göttlichen in der Schöpfung) und die Vereintheit (des göttlichen Seins mit dem geschaffenen) behaupteten“, schreibt aš-Šaʿrānī, und damit gibt er zu erkennen, inwieweit er selber sich gegen den Verdacht wehren mußte, mit jenen verworfenen Lehren zu sympathisieren. „In unserem Buch Die Saphire und die Juwelen: über die Glaubensansichten der Großen haben wir dies ausführlich erörtert“, und zwar unter Zugrundelegung einer Handschrift Ibn ʿArabīs, in die die Feinde jenes berühmten Gottesfreundes noch nicht ihre Verfälschungen eingeschmuggelt hätten. Der Teufel habe nämlich den Feinden Ibn ʿArabīs eingeflüstert, sie sollten dem berühmten Mann skandalöse Aussagen unterschieben, und dann habe der Teufel unwissenden Muslimen eingeredet, Ibn ʿArabī habe solch abstruse Gedanken tatsächlich verfochten. Dabei habe Ibn ʿArabī in den Mekkanischen Eröffnungen ausdrücklich festgestellt: „Wer nicht in die Irre gehen will, der darf niemals die Waage des äußeren Sinnes der Scharia aus der Hand legen und muß

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sich (allein) auf das stützen, was die großen Schulgründer und deren Nachahmer für richtig erkennen…“9 Aš-Šaʿrānīs weit ausholendes Werk Die Saphire und die Juwelen, wie auch eine weniger umfangreiche Abhandlung unter dem Titel Der rote Schwefel: Darlegung der Arten des Wissens des größten Meisters können hier nicht im entferntesten angemessen gewürdigt werden, ebenso wenig seine Verteidigungsschrift Die zufriedenstellenden Erwiderungen, in Vertretung der großen Rechtsgelehrten und Sufis erteilt. Im Vorwort zu letzterem Traktat kommt er wieder auf die heftige Kritik zu sprechen, die ihm die erste Fassung des Erquickenden Nilwassers10 eingebracht hatte. Was er dort vorgetragen hatte, war nicht durchgängig mit Zitaten aus dem Koran und dem ḥadīṯ untermauert, und so hatten seine Feinde ihm leicht Ansichten unterschieben können, die allen streng mit der Überlieferung argumentierenden Gelehrten als skandalös, ja als purer Unglaube erscheinen konnten. Das seien alles die Intrigen der Neider gewesen, versichert er in den Erwiderungen. In Wahrheit „bin ich ein mohammedanischer Muslim11 und habe nie ein Buch verfaßt, ohne zuvor den Meistern des Islams die Kompendien der Scharia vorgetragen zu haben. So wollte ich die Spuren jener mir unterschobenen Worte tilgen, die womöglich in einigen Köpfen haftengeblieben waren.“12 Aš-Šaʿrānī stellt in einer sehr umfangreichen Einführung in die Erwiderungen aberhunderte von Erkenntnissen zusammen, in denen die mit dem Schauen Begnadeten den Buchgelehrten voraus sind, und macht im Hauptteil den Leser darauf aufmerksam, daß die Gottesfreundschaft sich stets der strengsten Beachtung der Scharia befleißigt habe. Desweiteren versucht er zu belegen, daß der Prophet es seinen Anhängern verboten habe, leichtfertig jemandem, der tagtäglich nach Mekka gewandt bete und die Glaubensbezeugung hersage, den rechten Glauben abzusprechen. Somit fehle jeder Grund, Ibn ʿArabī zu verdammen. Gewiß finden sich in seinen Werken Passagen, bei deren Lektüre einem braven Schariaspezialisten ein Schauer den Rücken hinabläuft. Aber hat nicht schon der große Gelehrte und Lexikograph Maǧd ad-Dīn al-Fīrūzābādī (gest. 1414/5) die Vermutung geäußert, all das Anstößige hätten Übelwollende in Ibn ʿArabīs Texte hineingeschmuggelt? Das stärkste Indiz hierfür sei doch, daß Ibn ʿArabī während seines langen Aufenthalts in Damaskus den dortigen Gelehrten seine Schriften zur Begutachtung überlassen habe, und sie hätten nichts Bedenkliches darin entdecken können?13 Und so wie Ibn ʿArabī war es auch aš-Šaʿrānī mit etlichen seiner Traktate gegangen, weshalb er sie einigen al-Azhar-Gelehrten vorgelegt hatte, die ihm die Unverfänglichkeit seiner Thesen bescheinigten.14 Wenn ašŠaʿrānī die Gedanken und das Werk Ibn ʿArabīs verteidigt, dann hat er auch sich selber im Auge – das müssen wir uns einprägen, bevor wir nun seine Saphire und Juwelen näher in Augenschein nehmen.15 Unter ständiger Bezugnahme auf die Schriften Ibn ʿArabīs beschreibt er hier die Beschaffenheit des Kosmos als einer klar von Allahs Sein abgehobenen Entität. Aus

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dieser jeden Verdacht eines Spiels mit der Lehre von der Vereintheit des Seins ausschließenden Kosmologie folgt selbstverständlich, daß Menschen und Dschinnen auch nicht einen Augenblick ihrer Existenz von der Verpflichtung, dem Gesetz zu gehorchen, frei sind. Aš-Šaʿrānī entwickelt die sunnitische Apologie Ibn ʿArabīs teils, indem er bestimmte umstrittene Kapitel der Mekkanischen Eröffnungen zitiert, teils aber auch in freier Erörterung. Es bleibt in solchen Fällen unklar, welche Aussagen Ibn ʿArabīs er im Auge hat. Wahrscheinlich geht es aš-Šaʿrānī in jenen Abschnitten darum, grundlegende Vorstellungen der Gottesfreundschaft zu benennen und als einwandfrei sunnitisch zu erweisen. Mit solch einem Beispiel beginnen wir den kurzen Überblick über die Saphire und Juwelen, um darauf eine knappe Zusammenfassung der Gedanken zu versuchen, die ihn bei der Auslegung Ibn Arabīs leiteten. Aš-Šaʿrānīs Saphire und Juwelen In Sure 7, Vers 172, verkündet Mohammed den Mekkanern, die am Jüngsten Gericht und an der Existenz eines Schöpfergottes zweifeln, daß Allah in grauer Vorzeit aus dem Rückgrat der Kinder Adams „deren ganze Nachkommenschaft hervorholte und sie befragte: ‚Bin ich nicht euer Herr?‘“ worauf sie antworteten: „Wir bezeugen es.“ Allah wollte nämlich den Zweiflern, also den Mekkanern, nicht zugestehen, daß sie am Tag des Gerichts alle Schuld von sich wiesen und sich damit herausredeten, sie hätten von einer künftigen Abrechnung nichts geahnt. Die Muʿtaziliten, so beginnt aš-Šaʿrānī seine Überlegungen, lasen aus diesen Worten, daß die Verabredung, die Allah mit den Menschen traf, sicherstellen sollte, daß diese sich ihres Verstandes bedienten, um die Forderungen des Gesetzes zu erkennen und nach deren Maßgabe das Dasein zu meistern. Diese Auslegung des Verses findet aš-Šaʿrānī völlig abwegig. Nicht mehr und nicht weniger sei mit jenen Worten gesagt, als daß Allah mit den Menschen, und zwar mit allen, die im Laufe der Weltgeschichte leben werden, einen Bund schließt! Was dies bedeutet, erläutert aš-Šaʿrānī nun Schritt für Schritt. Dabei übergehen wir die Mutmaßungen über den Ort des Geschehens und die Art und Weise, in der die Nachkommen dem Rückgrat entstiegen. Wesentlich ist nur, daß er sich die künftigen Menschen winzig wie Stäubchen vorstellt, ihnen aber gleichwohl einen klaren Verstand zuspricht. Einem anderen Meister16 entlehnt aš-Šaʿrānī die Ansicht, daß damals auch „diejenigen zur Linken“, die am Jüngsten Tag zur Hölle verdammt werden, Allah als ihren Herrn anerkannten; die Szenerie spielt doch in der Zeit vor der Herabsendung des Gesetzes. Die Menschen befanden sich in einem Zustand der Heranbildung, währenddessen ihnen die unauflösbare Verbundenheit mit dem Schöpfer zu Bewußtsein gebracht wurde, und zwar mittels des Schauens, nicht etwa dank theologischer Belehrung. Es ist dies eben jene Stufe der Entwicklung, zu der der Gottesfreund zurückstrebt. Zwischen jener ersten Heranbildung

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und den jetzigen Bemühungen der Gottesfreunde liegt freilich die mehrfach wiederholte Offenbarung des Gesetzes, dessen Auslegung und Befolgung vorwiegend durch den Verstand zu gewährleisten sind. Jedenfalls zeigte sich erst in der Zeit der Belastung der Menschen mit dem Gesetz, daß es einerseits Paradiesbewohner, andererseits Hölleninsassen geben werde. Hält man sich allein an das, was der Schauende über die Menschheit in Erfahrung bringt, dann gelangt man zu dem Urteil, sie sei insgesamt im Heil17 – was Ibn ʿArabīs Lehre, die auf Sure 11, Vers 56, aufbaute, ja auch besagte. Aber für aš-Šaʿrānī ist es unbestritten, daß der Mensch in die glückliche Epoche vor der Belastung mit dem Gesetz nicht zurückkehren kann. Die spirituelle Erkenntnis der Heilsbestimmtheit aller Kreatur muß mit der bitteren Wahrheit, dem Gesetz unterworfen zu sein, in Einklang gebracht werden, und dies ist eine Überzeugung, die Ibn ʿArabī nirgends so deutlich formulierte, wie es ašŠaʿrānī lieb gewesen wäre; dann nämlich gäbe es den ganzen Zwist gar nicht. Im 368. Kapitel der Mekkanischen Eröffnungen beschäftigt sich Ibn ʿArabī mit der Weisheit Allahs. Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt man, wenn man in ašŠaʿrānīs Saphiren liest: „Darlegung, daß die Handlungen des Einen Wahren alle das Wesen der Weisheit selber sind und daß man nicht sagen darf, sie geschähen durch die Weisheit – damit es nämlich nicht die Weisheit ist, die Allah die Handlungen abzwingt, so daß er an Weisheit übertroffen wäre. Es geht nämlich nicht an, daß er von irgend jemandem an Weisheit übertroffen wird, wo er es doch ist, der am weisesten vorgeht. Aus dieser Überlegung erkennt man, daß es sich nicht gehört, die Handlungen Allahs durch die Weisheit verursacht sein zu lassen. Meister Muḥjī dDīn sagt im 368. Kapitel mit Bezug auf Sure 15, Vers 85: ‚Wir haben die Himmel und die Erde und alles, was zwischen beidem ist, durch das Wahre geschaffen‘: ‚Das Wort durch in der Wendung hat die Bedeutung wegen, also wegen des Wahren. Es handelt sich um das gleiche wegen wie in Sure 51, Vers 56: Ich habe die Dschinnen und die Menschen nur deswegen geschaffen, daß sie mich verehren. Allah‘, so sagt Ibn ʿArabī, ‚erschafft in aller Regel nicht eine Sache durch eine andere,18 sondern er schafft eine Sache bei Vorliegen einer Sache. Desweiteren weiß man, daß Allah, wenn er mitteilt, daß er etwas durch etwas schafft, dieses an die Stelle des durch zu setzende wegen als das wegen der Weisheit versteht.19 Das Wesen seines Schaffens ist mit dem Wesen der Weisheit also identisch, denn sein Schaffen wird nicht durch die Weisheit verursacht.‘“ Aš-Šaʿrānī fügt diesen Sätzen die Bemerkung an, Allah erschaffe Menschen, die zur Hölle verdammt sind, mit demselben Gleichmut wie andere, die dem Paradies bestimmt sind; wenn er jemandem Gnade schenkt, dann ist dies nichts weiter als ein Zeichen seiner Huld, und wenn jemand dem Feuer verfällt, dann ist es eine gerechte Strafe.20 – Schlägt man nun in den Mekkanischen Eröffnungen nach, dann stößt man an der angegebenen Stelle tatsächlich auf die obigen Formulierungen. Allah schafft nicht durch etwas, sondern wegen des Vorliegens seiner Weisheit, oder vielleicht besser, um seiner Weisheit

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willen, die sich durch dieses Schaffen zur Geltung bringt. Die Annahme, Allah greife beim Vorgang des Schaffens auf etwas, auf das Wahre oder die Weisheit, zurück, die ihm ermöglicht, als Schöpfer in Erscheinung zu treten, erklärt Ibn ʿArabī für Vielgötterei. Dann fährt er fort: „Einige haben ‚das Wahre, durch das geschaffen wird‘ als die Ursache des göttlichen Schaffens interpretiert; der eine Wahre legt aber seinem Schaffen keine Ursache zugrunde. Letztere Auffassung ist in sich selber richtig, so daß man sich dabei keine (neben Allah wirksame) Fügung denken kann, die die Verursachtheit des Geschaffenen ergäbe. Vielmehr ist die Tatsache, daß er die Kreatur hervorbringt, ein Gnadengeschenk, das von ihm ausgeht und der Kreatur zugute kommt. Es ist eine voraussetzungslos von ihm initiierte Huld, wo er doch der Welt nicht bedarf. Andere erklären ‚das Wahre, durch das geschaffen wird‘ für eine vorhandene Essenz, durch die Allah alles übrige schafft, und führen dazu aus, daß aus dem Einen nur Eines hervorgehen kann; dieses Hervorgehen jenes Einen (aus dem Einen) war das Hervorgehen des Verursachten aus einer Ursache, dessen Hervorgehen wegen der Ursache mit Notwendigkeit erfolgt. Darüber ließe sich vieles sagen. Was ich aber meine, ist folgendes: Wenn die Fügung Allahs kommt, dann ist der Fügende die Fügung; dies bedeutet, die Einsheit dem zuzugestehen, der die Fügung innehat. Vermeidet Vielgötterei, sie ist klar erwiesenes Unrecht, ganz und gar untersagt!“21 Indem Allah kraft seiner Fügung das Diesseits hervorbringt und lenkt, ist nicht etwas Geschaffenes in dieser Welt gegenwärtig, sondern er selber. In mehreren Abwandlungen trägt Ibn ʿArabī diesen Gedanken in dem von ašŠaʿrānī genannten Kapitel vor. Alles, was existiert, sind seine Gnadengeschenke, und jedes Gnadengeschenk ist unmittelbar zu Ihm, dem Schenkenden.22 Dieser Satz ist es womöglich, der aš-Šaʿrānī Anlaß gibt, an einen Ausspruch Mohammeds zu erinnern: Allah ließ die Welt aus zwei vollen Händen entstehen; die Wesen der einen für die Hölle, die der anderen für das Paradies, und „niemand erhob Einspruch, denn damals gab es nichts Existierendes außer ihm!“23 – So verkehrt aš-Šaʿrānī zielstrebig Ibn ʿArabīs These von der überzeitlichen Komplementarität des göttlichen und des diesseitigen Seins24 in die gut sunnitische Lehre, Allah habe die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen und lenke sie seither, wobei schon feststeht, wer nach dem Ende des Diesseits welches Jenseitsschicksal zu gewärtigen hat. Ohne sich auf Ibn ʿArabī zu beziehen, legt aš-Šaʿrānī in den Saphiren dar, daß die Seele nach dem Tod des Körpers fortlebt, sei es, daß sie sich wohl befinde, sei es, daß sie gepeinigt werde: Die Eschatologie bleibt unangetastet; das, was dem Bekenner der Ideen Ibn ʿArabīs zumindest zweifelhaft sein mußte, ist für aš-Šaʿrānī eine unumstößliche Tatsache.25 Auf mittelbare Weise, nicht in der unbequemen, mühevollen Auseinandersetzung mit den Texten Ibn ʿArabīs, versucht aš-Šaʿrānī in vielen Teilen seiner Abhandlung, das in den Augen schlichter Sunniten Anstößige abzuschleifen; die redliche Auseinandersetzung kommt häufig zu kurz. So überschreibt er ein Kapitel: „Darlegung, daß alle großen Sufis in der Rechtleitung ihres Herrn

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standen und daß der Pfad Abū l-Qāsim al-Ǧunaids der geradeste aller Pfade der Leute ist, weil er den Kern der Scharia freilegt.“ Ibn ʿArabī kommt hier nicht vor.Was sollte er auch in einer Reihe von Gelehrten wie al-Ašʿarī, dessen schroffe Gegenüberstellung von Schöpfer und Werk zwar in vielfältiger Weise abgemildert, aber keineswegs völlig aufgehoben wurde? Nur die unverbesserlichen Ketzer ziehen die Richtigkeit der Theologie al-Ašʿarīs in Zweifel, und al-Ǧunaid selber hat ohne jegliche Kompromißbereitschaft darauf beharrt, daß der Koran und die Sunna des Propheten allem anderen vorgezogen werden müßten. „Wenn ich zu entscheiden hätte“, soll al-Ǧunaid drohend gesagt haben, „dann ließe ich jeden enthaupten, den ich die Meinung vertreten höre, es gebe nichts Existierendes außer Allah oder es sei kein Tun außer demjenigen Allahs. Denn dem äußeren Wortsinne nach ist dies die Leugnung alles anderen außer Allah und die Zerstörung sämtlicher Vorschriften, die dem Menschen als Gesetz auferlegt wurden.“26 Eine tiefer schürfende Auseinandersetzung mit den Ideen Ibn ʿArabīs sucht man in den Saphiren und Juwelen aš-Šaʿrānīs mithin vergebens. Kaum sorgfältiger durchdacht und ausgearbeitet als die Erwiderungen, sind diese Saphire ebenfalls eine Kampfschrift, die einzig darauf abzielt, genügend Pulver und Geschosse für das Gefecht gegen jene Sunniten aufzuhäufen, die davor warnten, Gottesfreundschaft und Gesetzeswissenschaft miteinander zu vermengen. Ein ähnliches Ziel verfolgt aš-Šaʿrānī mit der Abhandlung Der rote Schwefel. Mit diesem Wort belegen die Alchimisten das „Elixier des Goldes“, wie aš-Šaʿrānī erläutert. Das Wissen, welches in dieser Schrift verbreitet werde, sei pures Gold verglichen mit den Äußerungen und den Kenntnissen aller anderen Sufis. Aus den Mekkanischen Eröffnungen hat ašŠaʿrānī solch lauteres Gold zusammengesucht, von dem alle nur reden, das aber für gewöhnlich niemand in die Hände bekommt, weil es so selten ist. Aš-Šaʿrānī meint vor allem die Geheimnisse der Scharia, zu deren Erkenntnis Ibn ʿArabī vorgedrungen sei und die ihm klarer als irgend jemandem vor seiner Zeit aufgeleuchtet seien.27 In Kürze werden wir nach diesen Geheimnissen fragen müssen. Noch aber geht es um das Alleinsein, das sich laut Ibn ʿArabī im Schauen des göttlichen Seins erfüllt, des Seins, das sich in die Finsternis des Nichtseins hinaus entfaltet. Nach ašŠaʿrānī macht das Alleinsein eine unentbehrliche Stufe auf dem Weg zum Gottesfreund aus, die man nicht überspringen, auf der man aber ebenso wenig stehenbleiben darf. Offenbartes und geschautes Gesetz „Ich brachte die subtilsten Geheimnisse, von denen die Erkennenden wissen, mit allem zur Übereinstimmung, was die Propheten verkündeten“, schreibt aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz; kaum jemand sonst habe ein derartiges Gnadengeschenk erhalten. Die meisten seien der Überzeugung, daß alles, was den Erkennenden auf-

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leuchtet, nicht zur Scharia gehören könne. Seinem Gefährten Afḍal ad-Dīn verdankte er jedoch die Einsicht, daß das Gesetz, welches die Propheten zu überbringen hatten, dem Inhalte nach genau dem entspreche, was in den Zwischenzeiten, den Perioden des Schwundes oder völligen Fehlens des göttlichen Gesetzes, die „Ersatzmänner“ schauen. Ihnen stellt er die islamischen Gottesfreunde gleich. Der durch den Propheten gestifteten Gesetzlichkeit, der sich die muslimische Gemeinschaft verpflichtet weiß, entspricht die auf die Weisheit gegründete Führerschaft, die die „Ersatzmänner“ innehaben. Aš-Šaʿrānī erhebt, indem er diese Gedanken Afḍal ad-Dīns zitiert, in der Tat einen erstaunlichen Anspruch: Die Gesandten Allahs, Mohammed als deren letzter, übergaben ihrer Gemeinde einen Rahmen von Verhaltensnormen, das Gesetz Allahs; die Gottesfreunde, jedenfalls die Spitzen ihrer Hierarchie, haben nach Mohammeds Tod die Herrschaft über die Muslime inne und leiten das Recht dazu aus ihrer Fähigkeit ab, ihnen mitzuteilen, welche „Weisheit“ hinter jeder Vorschrift verborgen ist. „Die Würdigen in den Zwischenzeiten begeben sich in die Zurückgezogenheit und zähmen ihr Selbst, bis einem von ihnen ein Licht aufleuchtet. In seinem Denken erscheint ihm etwas, wodurch die Ordnung des Diesseits aufrechterhalten wird, sofern man danach handelt. Es ist dies wie eine“ – an das Diesseits gebundene – „Regelung (arab.: alqānūn). In den Zeiten, in denen das göttliche Gesetz in Kraft ist, darf man nicht gemäß einer solchen Regelung verfahren, denn sie bezieht sich nur auf die jedermann sichtbaren Angelegenheiten des Diesseits, und niemand gelangt hierdurch zu einem Wissen über die Verhältnisse im Jenseits; niemand erfährt durch die an das Diesseits gebundene Regelung, daß nach dem Tode die Wiederauferweckung folgt, die Abrechnung, das Paradies, die Hölle… So verhält es sich mit den Erkennenden, damit das Seiende niemals ohne jemanden ist, der in Wirklichkeit oder im übertragenen Sinne zu Allah ruft.“ Der Kosmos ist durch die göttliche Fügung bestimmt, dank ihrer ist er, wie er mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Die „Ersatzmänner“ in den vom Verlust prophetischen Wissens geprägten Zwischenzeiten erkennen dies; sie schauen, wie die Fügung ihre Wirkung im Diesseits entfaltet, und aus dieser Einsicht leiten sie Regelungen ab, die jedoch nur mit dem Diesseitigen rechnen. Diese Welt, das Geschaffene, übersteigen sie nicht, und daher rufen sie nur im übertragenen Sinn und nicht wirklich zu Allah. Denn das vermögen einzig und allein die Propheten, und zwar weil Allah selber sie anspricht und ihnen seine Botschaft auf unterschiedliche Weise vermittelt. Eine Abkehr vom Diesseits haben die Propheten deshalb nicht nötig. Demgegenüber sind die Gottesfreunde und Erkennenden gezwungen, sich zumindest zeitweise vom Getriebe des Diesseits abzukehren, denn nur dann werden sie es durchschauen. Selbstverständlich ist das, was ihnen in den Zeiten des Alleinseins zu Bewußtsein kommt, in gleicher Weise eine Eingebung von Allah wie die Botschaft der Propheten. Schließlich geht alles von dem Einen Wahren aus. Aber die Eingebungen, die

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den Erkennenden geschenkt werden, öffnen nicht den Blick für das Wesen des Transzendenten. Der Kosmos ist gegen das Transzendente hin verschlossen, wie wir belehrt wurden. Mögen wir auch noch so heftig Einsicht in das Jenseitige begehren – mehr als das, was Allah darüber den Propheten mitteilte, werden wir nie erkennen. So werden die Regelungen, die die „Ersatzmänner“ erschauen, nur das Ziel verfolgen können, die Menschen zu einer geschmeidigeren Anpassung an Allahs unablässiges Schöpfungshandeln zu erziehen. Nicht zuletzt ist der Unterschied zu den Offenbarungen daran zu ermessen, daß die von den Gottesfreunden geschauten Regelwerke auf bestimmte Länder und Epochen zugeschnitten sind. Die „Ersatzmänner“, die dem Wirken der Weisheit Allahs auf die Spur gekommen sind, wissen, wie unvollkommen das ist, was sie, wenn sie aus dem Alleinsein zurückkehren, ihren Landsleuten als Vorschrift auferlegen, und träte ein Prophet auf, würden sie sich ohne Zögern in die Schar seiner Anhänger einreihen. Denn seine Botschaft gilt für jeden Ort und für jede Epoche. So ist im Zeitalter des Islams das Alleinsein nur zulässig, wenn man es praktiziert, um diesseitsbezogene Normen zu finden, obwohl die Scharia, das zum Jenseits weisende Gesetz Allahs, in Kraft ist und jedermann jederzeit Auskunft über deren Normen erlangen kann. – Diese etwas gewundene Argumentation setzt aš-Šaʿrānī in den Stand, das individuelle Gotteserleben als eine Stärkung der auf der Scharia fußenden Gemeinschaft der Muslime auszugeben; die Kritik an der vermeintlichen Gesetzlosigkeit der sich auf Ibn ʿArabī und Ibn al-Fāriḍ berufenden Spiritualität soll sich als üble Nachrede erweisen. Die Gemeinschaft der Muslime darf die Zurückgezogenheit dulden, weil sie das weise Vorgehen Allahs mit seinem Kosmos enthüllt und dadurch der Vertiefung und Festigung der Ergebenheit gegenüber der Scharia dient. In Meister Demirdaš (gest. 1523) rühmt aš-Šaʿrānī einen Kairoer Gottesfreund, der den Adepten in dieser Absicht das Alleinsein auferlegte.28 Die geschaute Weisheit des Gesetzes: das Fasten Demirdaš war einst nach dem Tode seines Meisters in die Welt hinausgezogen und bis nach Täbriz gelangt, wo er seine spirituelle Erziehung vervollkommnete. Später war er nach Kairo zurückgewandert und hatte vom Sultan Qaitbai die Erlaubnis erwirkt, weit außerhalb der Stadt in Richtung Nordosten eine Klause und einen Palmengarten anzulegen,29 vielleicht auf Anraten Ibrāhīm al-Matbūlīs. In Demirdašs geistiger Welt nahmen Ibn ʿArabīs Mekkanische Eröffnungen und das berühmte auf den Konsonanten Tāʾ reimende Lehrgedicht der Spiritualität aus der Feder ʿUmar b. al-Fāriḍs den ersten Rang ein.30 Wahrscheinlich gehen wir nicht fehl, wenn wir die Einsichten in die tiefere Bedeutung der Scharia, die aš-Šaʿrānī im Roten Schwefel Ibn ʿArabī zuschreibt, als die reifsten Früchte eines solchen Alleinseins ansehen. Als ein Beispiel mögen uns die Ausführungen über das Fasten dienen, die

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aš-Šaʿrānī dem 71. Kapitel der Eröffnungen entnimmt. Das Fasten, so beginnt Ibn ʿArabī mit einem durch den Propheten verbürgten Ausspruch Allahs, ist „für mich die Handlung, in der ich mich mit göttlichem Proviant versorge, nämlich damit der Knecht sich in die Eigenschaft Allahs kleide; das Fasten ist die Eigenschaft, die dem zukommt, der durch und durch Allah ist.“ Indem man sich der Speise und des Trankes enthält, wird einem sichtbar, daß man, wie Ibn ʿArabī in der Seinslehre darlegte, als Teil des Diesseits eine Erscheinungsform des sich ins Nichtsein hinein manifestierenden göttlichen Seins ist. Die Ontologie Ibn ʿArabīs verleiht dem Gesetz einen Sinn, den man nicht ohne weiteres zu erkennen vermag, und legt, wenn man diese Ontologie für wahr erachtet, die Weisheit des Schöpfers offen. Das Alleinsein, wie Ibn ʿArabī es lehrte, ist der Augenblick, in dem man sich in sich selber versenkt und so verharrt, wobei man die Einzeldinge in ihrer Gesamtheit als den kosmischen Leib des Einen Wahren schaut. Während solcher Erfahrung schmilzt das, was das göttliche Gesetz fordert, zu Akten der Veranschaulichung dessen um, was der von Allah bestimmte Kosmos ist. Das ist der Verweis auf das Transzendente, der nur in einem Alleinsein gewonnen werden kann, das die Geltung der Scharia zur Vorbedingung hat. In den unglückseligen Zwischenzeiten ohne eine Scharia wäre der Weg zu einem solchen Erleben versperrt. Keine der Handlungen der Gottesverehrung ist dem Fasten vergleichbar; das Fasten ist seinem Wesen nach gar kein Tun, sondern ein Unterlassen. Dies schreibt Ibn ʿArabī in den Eröffnungen, und aš-Šaʿrānī sagt dasselbe in anderen Worten. Oder ist da doch ein Unterschied? „Das Fasten ist für mich“, zitierte aš-Šaʿrānī, „die Handlung, in der ich mich mit göttlichem Proviant versorge.“ Es gibt heilige Ḥadīṯe, solche, in denen Mohammed eine nichtkoranische Aussage Allahs überliefert, die dem Sinn dieses Satzes nahekomme.31 Ibn ʿArabī gibt sie in der genannten Passage der Eröffnungen jedoch nicht wörtlich wieder, sondern spielt nur auf sie an. Er bringt das Verbalnomen Fasten mit einer gleichlautenden Wurzel in Zusammenhang, die das Erreichen der Mitte, der Höhe des lichten Tages bedeuten kann. Das Fasten ist demnach die höchste aller Ritualpflichten, keine andere ist ihr vergleichbar. Allah entriß das Fasten den Menschen – hier denkt Ibn ʿArabī an Allahs Feststellung: „Das Fasten ist für mich!“ – und verpflichtet sie dennoch, es einzuhalten. Das Gebet und die Läuterungsgabe leisten die Menschen zu ihrem eigenen Nutzen, sie mehren ihr Jenseitsverdienst, vom Fasten aber hat nur Allah den Vorteil, so als vollzöge er selber diese Pflicht. Zugleich aber verheißt er dem Fastenden einen unschätzbaren Lohn: Allah bindet den Fastenden an sich, indem er auch ihm die Vergleichbarkeit abspricht. „Das Fasten ist in seinem eigentlichen Wesen ein Unterlassen, nicht ein Tun; es ist ein Absprechen der Vergleichbarkeit und damit ein Belegen mit einer negierten Eigenschaft. Infolgedessen verstärkt sich die Beziehung zwischen dem Menschen und Allah; Allah sagt doch über sich selber: ‚Ihm ist nichts vergleichbar!‘ (Sure 42, 11).“32 Es existiert nichts, was Allah gliche, also existiert nur

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Allah und sonst nichts. So legte Ibn ʿArabī diesen Satz anderswo aus.33 Jetzt kommt Ibn ʿArabī genau jene Deutung des koranischen Wortes in den Sinn: An-Nasāʾī (gest. 915) überliefert einen Rat, den Mohammed einem Gefährten erteilte: „Halte dich an das Fasten, denn ihm ist nichts vergleichbar!“ Der außergewöhnliche Charakter dieser Ritualpflicht ist damit bestätigt und ergibt sich nicht nur aus der scheinbaren Etymologie des Wortes. Dies sind die durch aš-Šaʿrānī unterschlagenen Voraussetzungen, unter denen die Worte zu lesen sind, die er als ein überarbeitetes Zitat des „größten Meisters“ wiedergab. Ibn ʿArabīs vollständiger Text lautet demgegenüber: „Wer erkennt, daß das Fasten eine Belegung mit einer Negation ist – es handelt sich um das Verschmähen von Dingen, die das Fasten aufheben –, der weiß mit Entschiedenheit, daß dem Fasten nichts vergleichbar ist. Denn ihm kommt kein Wesen zu, dem die Eigenschaft des Seins, die mit dem Verstand begriffen wird, zuzugestehen wäre. Eben deswegen sagt Allah: ‚Das Fasten ist für mich!‘ Denn in Wahrheit ist es weder eine Gottesverehrung noch ein Handeln, und wird es mit letzterem Begriff bezeichnet, dann nur im übertragenen Sinn, wie man denn auch den Ausdruck ‚vorhanden‘ auf die von uns mit dem Verstand erfaßte Wahrheit (d. h. Allah) nur im übertragenen Sinn anwendet. Denn der, dessen Vorhandensein zugleich sein Wesenskern ist, auf den kann man nicht in der gleichen Weise wie auf uns das (Vorhanden‐) Sein beziehen, denn ‚ihm ist nichts vergleichbar‘.“ Ibn ʿArabī führt nun das durch al-Buḫārī verbürgte Ḥadīṯ an, durch das er zu seinen Überlegungen angeregt wurde: „‚Jede (rituelle) Handlung des Sohnes Adams ist für ihn, abgesehen vom Fasten, das für mich ist‘, sagt Allah. ‚Ich entlohne entsprechend dem Fasten, das wie ein Schutzschild ist. An einem Fastentag soll niemand obszön reden oder herumschreien und wenn ihn jemand beleidigt oder bekämpft, dann soll er sagen: Ich bin ein Fastender, ich halte die Fasten ein!‘ Bei dem, in dessen Hand das Selbst des Propheten liegt, der üble Geruch aus dem Munde des Fastenden ist am Tag der Auferstehung in Allahs Meinung wohlriechender als Moschusduft, und der Fastende wird sich zweimal freuen: Wenn er das Fasten bricht, erfreut ihn das, und wenn er vor seinen Herrn tritt, wird er sich (noch einmal) über sein Fasten freuen.“ Ibn ʿArabī beruft sich jetzt wieder auf das Ḥadīṯ, das er bei an-Nasāʾī fand: Da dem Fasten nichts vergleichbar ist, wird der Fastende am Jüngsten Tag Allah in der Eigenschaft des „Ihm ist nichts vergleichbar“ entgegentreten: Allah sieht sich selber in ihm und umgekehrt! „Wessen Gesichtssinn beim Sehen und Wahrnehmen des Gegenübers Allah selber ist,34 der sieht in seinem Sehen nur sich selber.“ Die Freude des Fastenden liegt darin, daß er den Rang der Unvergleichbarkeit erreicht. „Die Freude über das Fastenbrechen, die er im Diesseits empfindet, rührt daher, daß das Recht der animalischen Seele, die nach Speise verlangt, erfüllt wird. Da nun der Erkennende sieht, daß seine animalische, vegetabile Seele seiner bedarf, und der Erkennende noch dazu die eigene Freigebigkeit bemerkt, da er der Seele Speise schenkt und dadurch ihr Recht erfüllt, wozu Allah ihn nötigt,35 hat der Erkennende

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hier eine Gotteseigenschaft inne: Er gibt der Seele mit der Hand Allahs, so wie Allah bei der Begegnung mit dem Auge Allahs gesehen wird!“ Das Fasten ist demnach eine Eigenschaft des Einen, der durch und durch Gott ist, und der Eine Wahre selber ist der Lohn des Fastens.Wieso aber ist das Fasten ein Schutzschild? Ibn ʿArabīs Grundgedanke der Komplementarität des diesseitigen und des göttlichen Seins kommt hier noch einmal ins Spiel. Der Befehl: „Sei vor Allah auf der Hut!“ könne bedeuten: „Hütet euch vor Allah!“ aber auch: „Seid für ihn auf der Hut!“ Das Fasten ist die Hut in diesem doppelten Sinn. Für Allah gilt das Wort: „Ihm ist nichts vergleichbar!“ und das Fasten ist eine unvergleichbare Art der rituellen Gottesverehrung, doch darf man in betreff der Handlung des Fastens nicht sagen: „Ihm ist nichts vergleichbar!“ also kein Ding. Denn „Ding“ ist etwas, von dem das Vorhandensein ausgesagt werden kann. Das Fasten aber ist, wie schon dargelegt wurde, ein Unterlassen, also eine negierte Entität, und nur dank der Negierung gibt es nichts, das ihm vergleichbar wäre, nicht aber, weil es, wie der Eine Wahre, die eine vorhandene unvergleichbare Entität wäre. Dies ist der Unterschied zwischen der Unvergleichbarkeit, die über Allah ausgesagt wird, und der Beschreibung des Fastens mit diesem Begriff.36 – Unterbrechen wir Ibn ʿArabī hier! Das Ḥadīṯ, demzufolge der Mensch seinen Schöpfer durch den Vollzug der Ritualpflichten verehren soll und durch hierüber hinausgehenden Gottesdienst sich dem Einen so weit nähern kann, daß dieser Eine selber mit seinem Knecht verschmilzt, der in diesem Augenblick mit Allahs Auge sieht, mit Allahs Hand zugreift usw., dieses seit frühislamischer Zeit bekannte Wort bestimmt Ibn ʿArabīs Auffassung vom Gesetz: Das Gesetz in seiner vollkommenen Erfüllung läßt die Heilsbotschaft existentiell wahr werden, die in Sure 11, Vers 56, verheißen ist. Die Mekkanischen Eröffnungen befassen sich daher sehr ausführlich mit den Ritualpflichten. Für Ibn ʿArabī folgt aus der Beschreibung des Kosmos als einer Erscheinungsform göttlichen Seins keineswegs die Vernachlässigung des Gesetzes. Im Gegenteil, erst wenn es beachtet wird, kann der Mensch die Komplementarität des diesseitigen und des göttlichen Seins an sich selber erfahren; ansonsten bliebe sie unerkannt. Der Vorwurf, Ibn ʿArabī lehre, es gebe nichts außer Allah, mit dem Hintergedanken, die Scharia aufzulösen, ist demnach keineswegs berechtigt. Ibn ʿArabīs Intentionen und aš-Šaʿrānīs Auslegung Wenn wir nun wieder zu aš-Šaʿrānīs Rotem Schwefel zurückkehren, beschleichen uns Zweifel, ob der Verfasser die skizzierten Intentionen Ibn ʿArabīs überhaupt verstanden hat. Ist es nicht eher so, daß er den Vorwurf im stillen wiederholt, jedoch Ibn ʿArabīs Werk aus einem vorerst noch nicht durchsichtigen Grund für das Sunnitentum retten möchte? Das könnte aš-Šaʿrānīs wenig glaubwürdige Behauptung erklären, man habe Ibn ʿArabī zahlreiche Aussagen unterschoben, die es jetzt

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auszusondern gelte. Aš-Šaʿrānī vertritt die Auffassung, daß im Alleinsein die Weisheit Allahs vor dem innersten Auge des Zöglings erscheint. Dieses Alleinsein ist aber entschieden nicht das, was Ibn ʿArabī mit diesem Begriff meinte: die existentielle Erfahrung der Heilsbestimmtheit. Alles, was auf sie hindeutet, tilgt aš-Šaʿrānī sorgfältig in seiner Überarbeitung. Das Fasten ist für Allah, diesen Satzsplitter aus dem bei al-Buḫārī überlieferten Ḥadīṯ hält aš-Šaʿrānī fest, desgleichen die sich anschließende Erörterung des Fastens als eines Unterlassens, und er sagt auch, daß der Fastende in diesem einen Augenblick, in dem er sich der Speise enthalte, wie Allah sei, der über alle Bedürfnisse erhaben sei. Wenn man scharf hinschaut, bemerkt man jedoch, daß es Ibn ʿArabī gerade darum nicht geht. Die „Erhabenheit“ Allahs über die Geschöpfe mit ihren Bedürfnissen ist ein Thema schon der frühen islamischen Theologie. Man darf, so behauptete man, Allah nicht mit Eigenschaften beschreiben, die an die ontologische Unvollkommenheit und Minderwertigkeit des Geschaffenen erinnern. Wenn also der Mensch im Augenblick des Fastens die Freiheit vom Bedürfnis der Nahrungsaufnahme demonstriert und in dieser Hinsicht die Erhabenheit Allahs spielt, so fällt er mit dem Fastenbrechen doch in die Bedürfnisse zurück. Ibn ʿArabī hebt demgegenüber hervor, daß das Fastenbrechen nicht ein Zurückfallen in die minderwertige Kreatürlichkeit ist, sondern im Gegenteil: Der Erkennende „gibt der Seele mit der Hand Allahs“ die Speise, die sie begehrt. Im Akt des Fastens und im Akt des Fastenbrechens – letzteres ebenfalls als Erfüllung der Scharia verstanden – wird die unüberbietbare Heilsgewißheit des Geschöpfes sichtbar. Was soll es nun bedeuten, daß Allah den üblen Geruch, der dem Mund des Fastenden entströmt, am Jüngsten Tag mehr schätzen wird als den Duft des Moschus? In den Mekkanischen Eröffnungen kommt Ibn ʿArabī zu dem Schluß, Allah nehme Gerüche anders wahr als die Menschen, doch auch diese empfinden gleiche Sinneseindrücke nicht immer gleich. In wessen Temperament die Hitze das Übergewicht erlangt habe, der ekele sich vor dem Duft des Moschus und der Rosen. Und wie andere Lebewesen als der Mensch bestimmte Gerüchte empfänden, sei ganz unbekannt.37 Für die Unterstreichung eines unüberbrückbaren Seinsabstandes zwischen Schöpfer und Geschöpf gibt diese seltsame Überlieferung also nichts her. Anders argumentiert aš-Šaʿrānī, der seine Vorlage zunächst sehr summarisch zitiert: Keinem Geschöpf hat Allah die Fähigkeit verliehen, den üblen Geruch wie den Duft des Moschus wahrzunehmen, „man überliefert vielmehr, daß die Vollkommenen unter den Menschen sowie die Engel sich vor schlechten Gerüchen ekeln“ – und nur Allah nicht, so hatte Ibn ʿArabī angeschlossen und seine Mutmaßung mitgeteilt, auch Tiere müßten nicht so empfinden wie Menschen. Aš-Šaʿrānī schreibt statt dessen, die im Ḥadīṯ gebrauchte Elativform „am besten“ – der üble Mundgeruch kommt Allah „am besten“ vor – sei eigentlich unstatthaft, weil es in Allah, dem wesensmäßig Einen, keinerlei Steigerung von Eigenschaften geben könne; ihm

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müßten alle Gerüche gleich sein, da sie nur wegen der unterschiedlichen Temperamente der Geschöpfe von diesen unterschiedlich wahrgenommen würden; Allah aber sei über eine Zusammengesetztheit aus Körpersäften „erhaben“. Der sich nun anschließende Hinweis auf unsere Unwissenheit, was die Tiere anbelangt,38 erhält infolgedessen einen ganz anderen Sinn als bei Ibn ʿArabī: Dem Einen Wahren sind alle Gerüche gleichviel, denn anders als dasjenige seiner Schöpfung ist sein Sein verfaßt. Ibn ʿArabī hatte dagegen die Tiere als Beispiele herangezogen, um darzulegen, daß in Allah genau wie in der ihm wesensmäßig zugehörenden Schöpfung die verschiedensten Weisen der Wahrnehmung denkbar sind. Aš-Šaʿrānī wird verleumdet Obschon aš-Šaʿrānī sich alle Mühe gab, Ibn ʿArabī zu entschärfen, stieß er mit einigen Schriften auf den erbitterten Widerstand mancher Gelehrter. Ausführlich berichtet er davon in seiner Lebensbilanz. Dabei bestätigten ihm Vertreter aller vier Rechtsschulen, daß seine Schriften nicht einen Deut von der Scharia abwichen. Eine eindrucksvolle Reihe bekannter Persönlichkeiten vermag er anzuführen, die seine Arbeiten mit lobenden Vermerken versahen. Šihāb ad-Dīn al-Futūḥī,39 ein Hanbalit, der von Qānṣauh al-Ġaurī in ein Richteramt berufen worden war, las aš-Šaʿrānīs Sammlung von Aussprüchen Sidi ʿAlīs, des Palmblattflechters, des Mannes mithin, der wie kaum ein anderer dessen Spiritualität formte. Als er mit dem Buch, dem ašŠaʿrānī den Titel Die Saphire und Juwelen gegeben hatte, zu Ende gekommen war, trug al-Futūḥī diese Worte in das Exemplar ein: „Ich habe dieses Werk Die Saphire und Juwelen zur Kenntnis genommen; es enthält wichtige Aussagen, die zu Dingen überliefert werden, die die ‚Leute‘ übergehen. Ich erwog die Ausdrücke so genau, daß dem von Zweifeln Angekränkelten Heilung widerfährt und der, der vom Weg abirrt, auf den rechten Pfad zurückgeführt wird. Als ich es streng geprüft hatte, fand ich, daß jene Saphire so wertvoll sind, daß kein Mensch sie ganz erfassen kann; wegen ihrer Bedeutung und ihrer Reinheit versprühen sie gleichsam Funken. Er ist ein Autor, der seinesgleichen sucht, ein Werk wie dieses hat vor ihm niemand verfaßt usw.“40 In der Einleitung zu den Saphiren und Juwelen gesteht aš-Šaʿrānī, daß er, da Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, ein Analphabet gewesen sei und sich infolgedessen in der Sprache der Gelehrten nicht ausgekannt habe, dessen Worte in die „unter den Gelehrten üblichen Ausdrücke habe übersetzen“ müssen. Aš-Šaʿrānī erläuterte zudem, wie er weiter einräumt, den Inhalt im „Lichte der Lehren“ der großen Meister des spirituellen Islams wie Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilīs und Abū Suʿūd b. abī l-ʿAšāʾirs.41 Er strebte mithin, während er die Worte Sidi ʿAlīs zusammentrug und aufzeichnete, eine Verharmlosung an, die alles Anstößige unter dem Deckmantel der gängigen Terminologie verstecken sollte. Al-Futūḥī starb 1542; aš-Šaʿrānī verfaßte jene Sammlung vermutlich in den Tagen, als die innere Berufung zum Got-

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tesfreund über ihn Macht gewann. Seine Sammlung der Aussprüche des Palmblattflechters hätte damals wohl kaum Aufsehen erregt. Jetzt aber gehörte er zu den herausragenden Persönlichkeiten in Kairo. Nun sah man sich genau an, was er schrieb, und so nimmt es nicht wunder, daß er in den Gelehrtenstreit der Zeit hineingezogen wurde. In seiner Lebensbilanz klagt er, daß man ihn heute meide. Einst habe man ihn im Kreise der Gelehrten hoch geehrt, jetzt aber reiche man ihm nicht einmal mehr die Hand, daß er sie küsse!42 Aš-Šaʿrānī schreibt dies den unausgesetzten Verleumdungen zu, die er erdulden müsse, und den Verfälschungen seiner Schriften; ganz Ägypten und der Hedschas seien angefüllt mit häßlichen Gerüchten über ihn!43 Ibn Nuǧaim, der hanafitische Rechtsgelehrte, zu dem auch ašŠaʿrānī enge Beziehungen gepflegt haben will,44 erhielt einmal eine Anfrage, ob es erlaubt sei, die Gelehrten Kairos beim Sultan in Konstantinopel anzuschwärzen, um sich deren Posten zu verschaffen. Einige „Dummköpfe“ unter denen, die sich an der al-Azhar-Hochschule religiösen Praktiken widmeten, hätten dem Sultan gemeldet, manche Lehrenden und Meister seien ihren Aufgaben nicht gewachsen, was nicht den Tatsachen entspreche. Müsse nicht, so fragte man Ibn Nuǧaim weiter, der Statthalter des Sultans gegen die Verleumder einschreiten? Ja, seien diese nicht Unruhestifter und deswegen sogar den koranischen Strafen (vgl. Sure 5, 33) zu unterwerfen? Ibn Nuǧaims Antwort fiel deutlich aus: Es ist verboten, aus einem anderen als einem schariatischen Grund die Absetzung eines Gelehrten zu betreiben; wer sich dessen schuldig macht, dessen Glaubensbezeugung gilt nicht und den darf man nicht als Vorbeter zulassen; es ist wie ein Abfall vom Islam zu werten, wenn man die Worte „Gelehrter“ und „Kenner des Rechts“ in die Diminutivform setzt und dadurch diese Personen herabwürdigt; allein die reuige Umkehr kann jemanden, der gegen dieses Verbot verstößt, vor dem Höllenfeuer retten; bereut er vor seinem Tode nicht, dann darf man an ihm nicht die Totenwaschung vollziehen, er darf nicht beerdigt, sondern nur wie ein Hund außerhalb der Friedhöfe verscharrt werden. ʿAbdallāh b. ʿUmar, der Sohn des zweiten Nachfolgers des Propheten, habe einst dafür plädiert, jeden, der Knoblauch gegessen hatte und einen üblen Geruch um sich verbreitete, der Moschee zu verweisen – um wieviel mehr müsse man die Gemeinschaft der Muslime vor all denen schützen, die das Ansehen der Gelehrten untergrüben, jener, die den Menschen sagten, was Allah für erlaubt und für verboten erkläre!45

3.2 Gemeinschaft Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich meine engsten Gefährten ohne Worte oder Zeichen, allein mit einem Blick zu erziehen vermochte. Denn mein Blick wirkte auf sie zum Guten ein, gerade wie der böse Blick andere zum Bösen anstiftet. Mir gelang solche

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Erziehung dank Allahs Tat und Wollen, denn er hat die Möglichkeit, einen Knecht zum Werkzeug des Guten zu erwählen, einen anderen zum Werkzeug des Bösen. Wisse, mein Bruder, daß ich kein Recht habe, mich allein dieses Charakterzugs zu rühmen. Sidi Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī, Sidi Abū l-ʿAbbās al-Mursī, Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī und Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, sind mir hierin zuvorgekommen. Sidi Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī lehrte: „Wenn schon die Schildkröte ihre Jungen mit Blicken erzieht, dann ist uns diese Methode erst recht angemessen.“ Die Schildkröte geht dabei wie folgt vor: Sie legt die Eier ab und entfernt sich dann vom Gelege und beobachtet es mit Blicken; jedes Ei, das ihrem Blick unzugänglich ist, verdirbt, und jedes, das von ihrem Blick erfaßt werden kann, gedeiht und bringt ein Junges hervor.Wenn die Jungen aus den Eiern schlüpfen, werden sie von der Schildkröte so tief in den Sand eingegraben, daß nur die Köpfe herausschauen, und alle, die sie fortwährend sieht, bleiben vor jeglichem Schaden bewahrt. Die Gefährten eines Derwischs sind von unterschiedlicher Art und Natur; manche haben ein weiches Gemüt, andere ein trockenes, hartes. So kannst du erleben, daß die Derwische ihre Gefährten einmal mit Hinweisen, ein anderes Mal mit Taten erziehen, einmal, indem sie ihnen Schmerzen zufügen, ein anderes Mal durch Winke und durch das Wecken von Verständnis, wieder ein anderes Mal durch reine Worte, einmal durch Träume, ein anderes Mal durch akute oder chronische Leiden. Denn wenn der Meister die Krankheit und ihre Medizin erkennt, muß er sich des Übels mit der richtigen Arznei annehmen und stets das Wohl des Zöglings im Auge behalten und darf niemals dessen Schaden billigen, ob der Seele die Arznei nun bitter oder süß erscheint. Wenn er die Verabreichung der Medizin ohne triftigen Grund aufschiebt, verrät er das Vertrauen, das Allah in ihn setzte. Bemerkt er am Adepten das Unvermögen oder die Weigerung, die Arznei, die er ihm verschrieben hat, einzunehmen, dann haben die Vollkommenen die Eigenschaft, ihm freundlich zuzureden, ihn mit etwas anderem zu kurieren, mit dem sie ihn überlisten. Allerdings muß der Zögling begreifen, was der Meister mit ihm macht.Wenn er bemerkt, wie der Meister ihm bei allen Grillen freundlich zuredet und ihm in einer Torheit zustimmt, dann muß der Zögling wissen, daß der Meister ihn täuscht, da er ihn für ungeeignet hält, den Pfad zu wandeln. Hüte dich also davor, mein Bruder, dich von den Meistern täuschen zu lassen! Befolge alles, was sie dir vorschreiben! Leere die Becher mit der schmerzhaften, bitteren Arznei! Denn hohe Ehrung ist darin verborgen, und die Erniedrigung, die in der Süße der Welt liegt, ist nur zu bekannt. In diesem Sinne dichtete Sidi ʿAlī alMarṣafī: „Wiese man mich an: ‚Tritt ins Feuer!‘ und es wären da glühende Kohlen, aus denen Flammen züngelten, und Funken stöben groß wie ein Kastell (vgl. Sure 77, 32) – wahrlich, das Aufzucken des Blitzes wäre nicht rascher als mein Gehorsam!“ Sidi Muḥammad aš-Šanāwī dichtete: „Sagte man mir: ‚Stirb!‘ ich stürbe und spräche: ‚Ich höre und gehorche‘ – und zum Todesboten riefe ich: ‚Herzlich willkommen!‘“ Zu den Brüdern, die ich mit meinem Blick erzog, gehören Sidi Muḥammad b. al-Muwaffaq, der Sekretär des Heeresdiwans; Sidi Muḥammad b. al-Amīr, der Meister des Marktes von Amīr al-Ǧujūš; Sidi Abū l-Faḍl, der Schwager von Muḥammad al-Ḥanafī; Sidi Abū l-Faḍl al-Ǧazīrī al-Qabbānī; Sidi ʿAlī b. Amīr Kabīr Arzmak; Sidi Abū Bakr b. abī Bakr b. abī Iṣbaʿ und dessen Bruder Muḥammad; al-Hāǧǧ ʿAlī al-Minūfī; al-Hāǧǧ ʿAlī al-Basṭī und andere, die mir aber nicht erlaubten, ihren Namen zu nennen – habe Allah Wohlgefallen an ihnen! Am mühseligsten ist die Erziehung von Männern, die bereits ein hohes Alter erreicht haben. Sie zu schlagen, ziemt sich nicht, ebenso wenig, sie im Stich zu lassen oder sie mit Diensten zu beauftragen, vor allem wenn sie im Inneren davon überzeugt sind, daß sie bereits Frömmigkeit besitzen. Sie haben fast keinen Nutzen mehr von der Gemeinschaft mit irgend jemandem. Das gleiche gilt für Menschen mit einer bösartigen Seele, die mit lauter Leichtfertigkeiten vollgestopft ist. Bisweilen wirkt nichts anderes als eine schmerzhafte Tracht Prügel und eine strenge Unzugänglichkeit, dem Palast des Statthalters vergleichbar. Bitte Allah,

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daß er auf mich und alle meine Gefährten blicke, die daraus Nutzen zogen, daß ich freundlich und barmherzig mit ihnen umzugehen pflegte!46

*** Zurechtweisende Blicke – Die Überlegenheit des Meisters – Die Analogie zwischen Meister und Allah – Aš-Šaʿrānīs Anwendung der Ideen Ibn ʿArabīs auf das Verhältnis zwischen Meister und Adepten – Erziehung ist Läuterung: die Metapher der Alchimie – Das Ziel der Erziehung: Gottesfreundschaft – Das Changieren zwischen Alleinsein und Gemeinschaft – Alleinsein und Gemeinschaft: Das Verhältnis zum weiblichen Geschlecht als Beispiel – Beischlaf als Vollzug göttlichen Bestimmens – Ibn ʿArabī über die Frauen

Zurechtweisende Blicke Mit den Blicken erziehen – schärfer läßt sich die Überlegenheit des Meisters über die Adepten kaum zum Ausdruck bringen: Er beobachtet sie, gibt ihnen, wenn nötig, unverblümt sein Mißfallen kund, für sie aber ziemt sich nichts von alledem. Ihre Blicke müssen unverwandt nach innen gerichtet sein, sie haben nicht das geringste Recht, einen Mitbruder oder einen Freund zu kritisieren. In einem Leitfaden zur nützlichen Gefährtenschaft, den aš-Šaʿrānī aus seinem großen Werk über die Ausbildung der Zöglinge zusammenstellte, fordert er diese auf, sich ganz in sich selber zu kehren, wenn sie bemerken, wie jemand der Scharia zuwiderhandelt. Nicht auf jenen Vorgang sollen sie achten, sondern nur an Allah denken und mit dem Täter Mitleid empfinden. Schlechtes Verhalten wäre es, wenn sie angesichts der Sünde bei sich selber sagten: „Dies ist doch alles Allahs Tun!“ und nicht mit sich selber ins Gericht gingen. Das eben war es, was man den Gottesfreunden vorwarf, die sich auf Ibn ʿArabī beriefen; von Dummheit zeuge derartige Gleichgültigkeit gegen die Gesetzesübertretungen, betont aš-Šaʿrānī deswegen. Aber die Zöglinge dürfen noch nicht den Schuldigen schelten oder scharf anblicken; noch ist es ihre Pflicht, sich ganz auf die eigene Fehlbarkeit zu konzentrieren. Der Adept muß lernen, mit den Augen zur selben Zeit in zwei verschiedene Richtungen zu schauen: auf das Handeln Allahs – er erkenne darin die unbezwingbare Weisheit und versage sich dann jeden Einspruch! – und auf die Verstöße der Menschen gegen die Scharia – er ereifere sich dabei für Allah! Dazu ist jeder Muslim aufgefordert, schreibt aš-Šaʿrānī und wiederholt, daß ein solcher Eifer um des Gesetzes willen nicht die völlige Hingabe an den Einen Wahren untergräbt. Im Gegenteil, der Muslim muß stets alle Aufmerksamkeit auf sich selber als den Erscheinungsort der Fügung Allahs richten. Wenn man dies beachtet, dann wird man die Tatsache, daß allein Allah die Taten der Menschen wirkt, nicht falsch verstehen. Der Verstoß gegen die Scharia ist zu tadeln; aber dieser Tadel darf sich nicht gegen den Glaubensbruder richten, der doch nur unter einem ganz äußerlichen Gesichtspunkt der Schuldige ist: nur insofern, als er im sinnfälligen, offenkundigen Seinsbereich als der Täter wahrge-

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nommen wird. In Wirklichkeit ist Allah es, der den Verstoß begeht, und dies nur in Verfolg eines weisen Zweckes, der höchstwahrscheinlich dem Tadler unbekannt ist. Daß solches Unwissen schwinde, ist darum das höchste Ziel aller Gemeinschaft und aller Erziehung, die die Meister zu leisten vermögen. Es ist erreicht, sobald die Adepten die Weisheit, die hinter der Verworrenheit alles Diesseitigen, Sinnfälligen waltet, zu schauen gelernt haben. Die Höflichkeit gegen Allah ist die Voraussetzung für das Erreichen dieses Zieles. Sie erst überwindet die vorlaute Besserwisserei und zügelt jegliche haltlose Kritiksucht, sie auch bringt dem Muslim zu Bewußtsein, daß sich an ihm selber ein ähnlich verhängnisvolles Handeln Allahs jederzeit vollziehen kann. Im Alleinsein sind derartige Einsichten ganz unmöglich. Darum ist die Eingliederung in eine Gemeinschaft unerläßlich, wenn man begreifen möchte, wie Allahs schöpferisches Handeln in und mit der Welt einerseits und das Gesetz andererseits, das er ihr auferlegt hat und gemäß dem er die Menschen zur Rechenschaft ziehen wird, in einem Zusammenhang stehen. In aš-Šaʿrānīs Denken und in seinem Selbstverständnis ist solche Höflichkeit gegen Allah die Grundlage aller islamischen Gesellschaft, wahrscheinlich sogar der Inbegriff der conditio humana überhaupt. Seine Bemühung um eine Interpretation des islamischen Rechts wurzelt in eben diesem Selbstverständnis, das ihn freilich, wie schon angedeutet, in einen kaum überbrückbaren Gegensatz zur herkömmlichen Schariagelehrsamkeit treibt. Doch darüber später! Zum rechten Verhalten der Zöglinge gehört es also, sich keine neugierigen und selbstbewußten, herausfordernden Blicke zu gestatten, nicht mit Umhergaffen die Zeit zu vertun, sondern in unerschütterlicher Glaubensruhe seinen Weg zu gehen, allen Streit, dessen Zeuge man wird, zu schlichten, sich gegen die Fehler der Mitmenschen blind zu stellen und stattdessen die guten Seiten zu rühmen. Nur all denen gegenüber, die für eine unzulässige Neuerung werben, sollen die Adepten mahnend die Stimme erheben, gegenüber jenen also, die die ererbten Grundlagen des Islams antasten.47 In sich gekehrt, um sich in der Höflichkeit gegen Allah zu üben, sind die Zöglinge den Prüfungen und zurechtweisenden Blicken des Meisters ausgeliefert – unendlich fern mag ihnen das Ziel erscheinen, das die Meister schon erreicht haben, unendlich groß deren Überlegenheit. Und entschiedener als mit dem Mittel der Blicke können die Meister diese Überlegenheit nicht ausspielen. Die Überlegenheit des Meisters Wahrscheinlich haben sich dieses Erziehungsideal und die Methoden, mit denen es verwirklicht werden soll, innerhalb der Gemeinschaften herausgebildet, deren Oberhäupter aš-Šaʿrānī als seine verehrungswürdigen Vorläufer ansieht. So weiß er, daß Muḥammad al-Ġamrī über seine Heranbildung bei dem Asketen Aḥmad erzählte: „Ich diente eine Zeitlang als Türhüter, dann als Lampenanzünder, dann als

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Obmann. Aḥmad, der Asket, teilte die Derwische in drei Gruppen ein: Erwachsene, junge Leute, Kinder. Jede Gruppe hatte ihren Platz für sich, so daß sie sich nicht untereinander mischten. Nur ein einziges Mal in der Woche kamen sie alle zusammen und unterhielten sich über alles, was in der übrigen Zeit der Woche unter ihnen vorgefallen war. Aḥmad hatte nämlich alle darauf verpflichtet, daß keiner von ihnen jemals von sich aus eine Antwort gebe, sondern einem Übeltäter verzeihe oder sich über ihn beim Meister beschwere. Dieser handle dann mit dem Schuldigen nach Belieben, sie alle nämlich betrachteten sich als Eigentum des Meisters, der mit ihnen macht, was er will. Sie aber sind nur Bevollmächtigte über ihren Leib, für den sie sich Beistand erbitten, weil er Allah zugeteilt ist. Keiner der Adepten war jemals verdrossen über das, was der Meister mit ihm machte, gleichviel ob er ihn links liegen ließ, ihn aus der Gemeinschaft entfernte, ihn schlug oder hungern ließ und anderes mehr. Vielmehr hielten sie es für richtig, daß der Meister ihnen im Rang überlegen war und auch jeder, der ihnen in ihrer Lage einen Wink geben konnte; denn sie waren ehrlich bemüht, sich Höflichkeit anzueignen.“48 Erziehung konnte Erwachsenen wie Kindern zuteil werden. Es ist nicht ersichtlich, ob alle Adepten des Asketen Aḥmad ständig in seiner Nähe lebten. Obligatorisch war anscheinend der Besuch der allwöchentlichen Treffen, bei denen sich alle die Zurechtweisungen des Meisters zu Herzen nehmen mußten. Wie weit er über die einfachen Mitglieder der Gemeinschaft hinausgehoben war, läßt sich immerhin ahnen. Mit zahlreichen Beispielen illustriert aš-Šaʿrānī dieses, wie er meint, fruchtbare Verhältnis zwischen dem Meister und seinen Adepten. Ihnen ist dringend zu raten, daß sie unverwandt den Blick auf den Boden richten, mögen sie sitzen oder gehen; möglichst wenig sollen sie ihre Augen umherschweifen lassen. Am besten ist es, wenn sie die Kapuze ihres Gewandes weit über das Gesicht ziehen, so daß sie nicht mehr sehen als den Fleck des Bodens, auf den sie gerade den Fuß setzen. Streng befolge der Zögling diese Regel, solange es ihm noch nicht möglich ist, die Dinge des Diesseits „mit dem Auge des Erwägens“ wahrzunehmen, also zu schauen, wie sich hinter diesen Dingen die Weisheit Allahs entfaltet! Wenn er dazu fähig sein wird, dann soll er aus Verlegenheit vor Allah am besten weiterhin diese Regel einhalten. Denn selbst ein Prophetengefährte wie Anas b. Mālik trennte sich weder im Winter noch im Sommer von seinem Burnus, der ihn am freien Umherschauen hinderte. Äußerst gefährlich ist es nämlich für den Zögling, wenn sein Blick unvermittelt auf den Meister fällt. Aš-Šaʿrānī weiß von Naqšbandī-Sufis in Iran und Indien, daß der Adept in einem solchen Moment sogar sterben kann, denn „der Meister enthüllt sich ihm in der Majestät, wie der Zögling sie in seinem Inneren sich von Allah vorstellt, und diesem Anblick hält er nicht stand“. Im Westen der islamischen Welt erzählte man sich Ähnliches. So soll der berühmte Gottesfreund Abū Madjan erblindet sein, als er seinem Meister Abū Jaʿzā ins Gesicht schaute, und die Sehkraft erst zurück-

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gewonnen haben, nachdem er sich mit dem Gewand des Meisters über die Augen gestrichen hatte.49 Die Analogie zwischen Meister und Allah Schon lange war man in Sufi-Gemeinschaften davon überzeugt, daß der Meister eine unbegrenzte und unwidersprochene Macht über die Zöglinge ausübe; wie die Leichname in den Händen des Totenwäschers sollten sie seinem Willen ergeben sein.50 In der spirituellen Überlieferung, auf die sich aš-Šaʿrānī beruft, jener, deren Leuchttürme Ibn ʿArabī und ʿUmar b. al-Fāriḍ waren, tritt die Analogie zwischen dem Einen Wahren und dem Meister überdeutlich zutage. „Der aufrichtige Adept“, sagte Sidi ʿAlī b. Wafāʾ, „ist der Thron, auf dem sich der Barmherzigkeitscharakter seines Lehrers zurechtsetzt. Allah hat es sich selber zur Regel gemacht, in kein Herz einzudringen, in das schon ein anderer eingedrungen ist. Einem Auge, das einen anderen als ihn im Spiegel wahrgenommen hat, zeigt er sich nicht.“ Diesem Wort ist eine Erklärung zugefügt, die ihm das Anstößige nehmen soll: Daß Allah in jemandes Herz eindringt, solle heißen, sein Wohlgefallen und seine Barmherzigkeit erfüllten es.51 Allah erscheint nur dem, der im Spiegel ihn allein – kein anderes Wesen außer Allah – zu schauen vermag; Allah ist mit dem Schauenden identisch. Allah kehrt in das Herz des Menschen nicht ein, wenn ein anderer als er es schon in der Gewalt hat, er füllt es nur aus, wenn er selber schon darin ist. An etlichen Stellen im Koran ist davon die Rede, daß Allah nach der Vollendung der Schöpfung auf seinem Thron Platz nimmt, um sein Werk als unangefochtener Souverän zu regieren; ununterbrochen kommt seine Barmherzigkeit dadurch zur Erscheinung. Der barmherzige, sein Schöpfungswerk vom Thron herab lenkende Allah ist laut Sidi ʿAlī b. Wafāʾ ein Gleichnis für den Meister und dessen Verhältnis zu den Zöglingen. Wie aš-Šaʿrānī uns bei anderer Gelegenheit lehrte, ist eine derartige Gebundenheit an den Meister, die Abbildung der Gebundenheit des entfalteten Seins an den Schöpfer, der tiefste Ausdruck gegenseitiger Liebe. Diese Liebe ist mehr als bloß „Glauben“, mehr als das „Fürwahrhalten“ der Erwähltheit des Meisters zur Gottesfreundschaft, das jene, die den Weg nicht betreten haben, dem Meister schulden.52 Dieser schenkt dem „Glauben“, den der Zögling ihm entgegenbringt, nicht die geringste Beachtung, denn „Glauben“ im Sinne von Fürwahrerkennen hat immer mit dem Verstand zu tun, der nie etwas mit Gewißheit erfaßt. Solcher Glaube ist wie ein Strick, der aus dem Bast der vorübergehenden Zustände, der Handlungen, der Ansprüche, der einander ablösenden Vermutungen geflochten wurde – er zerfasert oder reißt, und das, was er festzuhalten schien, wird wieder ganz fremdartig und ängstigend. Anders die Liebe: Ist der Zögling von ihr durchdrungen, dann ist er sich des Meisters gewiß wie des unverrückbaren Ozeans und will nichts anderes als das, was der Meister will.

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Der Liebende ist auf weniges angewiesen, der Glaubende auf vieles; das wenige, das nützt, ist wertvoller als das viele, welches nur Zerstreuung bringt.53 Aš-Šaʿrānīs Anwendung der Ideen Ibn ʿArabīs auf das Verhältnis zwischen Meister und Adepten Die Liebe, die der Adept für den Meister empfindet, ist die größtmögliche Erfüllung der Gemeinschaft, der Gefährtenschaft, und zugleich ist sie das unübertreffliche Erleben des Alleinseins. Der Adept gibt sich um der Gemeinschaft mit dem Meister willen selber auf, und dies bedingt in der Tat eine ganz andere Deutung des Alleinseins als jene, die für Ibn ʿArabī maßgeblich war, nämlich das Alleinsein, die Absonderung vom zerstreuenden Treiben der diesseitigen Welt, um die Kraft für die vollkommene Einhaltung des Gesetzes zu erlangen. Das Alleinsein Ibn ʿArabīs enthüllt den Wesenskern der Gefährtenschaft und der Gemeinschaft mit allem, was im Diesseits zur Erscheinung kommt: Die Gefährtenschaft, das ist die Gemeinsamkeit des Seins, die das Absolute und das Konditionierte zusammenfaßt. Dies ist der Leitgedanke, den auch aš-Šaʿrānī in wortreichen, auf mehrere Werke verteilten Ausführungen über Ibn ʿArabī herausarbeitet. Letzterer gründete aber keine Gemeinschaft, und so entspricht es seinem Denken nicht, wenn man diesen Leitgedanken als eine ins Metaphysische gewendete Umschreibung der Beziehungen interpretiert, die zwischen dem Meister und seinen Adepten obwalten sollen. Gleichwie bei Ibn ʿArabī in der Erfüllung der Ritualpflichten die Komplementarität des absoluten und des konditionierten Seins anschaulich und erfahrbar wird, so soll laut aš-Šaʿrānī in dem Verhältnis von Meister und Zögling das in der Übererfüllung der Ritualpflichten zugesagte Endziel der Annäherung an den Einen Wahren statthaben: „Mit nichts, was mir lieber wäre, nähert sich mir mein Knecht, außer mit dem Vollzug dessen, was ich ihm auferlegte. Und noch weiter nähert er sich mit den darüber hinausgehenden Gehorsamsleistungen, bis ich ihn liebe. Und wenn ich ihn liebe, dann bin ich sein Ohr, mit dem er hört, sein Auge, mit dem er sieht, seine Hand, mit der er zugreift…“54 Alleinsein und Gefährtenschaft verschmelzen in Eines; dies ist das Glück vollkommener Heilsgewißheit. Man gewinnt es nicht durch Spekulation oder durch kritisches Erwägen dessen, was das Diesseits ist, sondern durch die Gehorsamsleistungen, die über die Ritualpflichten hinausgehen. Sidi Abū l-ʿAbbās al-Mursī lehrte: „Zur Höflichkeit des Zöglings gegen den Meister gehört es, daß er den Dienst am Meister über den Dienst an seinem leiblichen Vater stellt, der nämlich ohne all das Gute ist, das ihn der Meister lehrt; der leibliche Vater ist die Trübung des Adepten, der geistige Vater hingegen seine Klarheit. Sein leiblicher Vater hat ihn aus Wasser und Lehm gemischt, sein Meister dagegen führte ihn in die höchsten Höhen hinauf!“55 Ganz ähnlicher Ansicht war Sidi Ibrāhīm ad-Dasūqī, er spielte auf das alte Bild vom Leichnam und vom Toten-

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wäscher an und fuhr fort: „…Der aufrichtige Zögling kann vor lauter ehrfürchtiger Scheu in Gegenwart des Meisters kein Wort sprechen. Er tritt nicht ein, geht nicht hinaus, hat mit niemandem Umgang, beschäftigt sich mit keinerlei Ḥadīṯ, nicht mit dem Koran, nicht mit dem Gottesgedenken – es sei denn mit Erlaubnis des Meisters, denn dieser beweist sich als der Treuhänder des Propheten56 für den Zögling, indem er diesen emporgeleitet.Wie manche vortreffliche Handlung gibt es, in die sich dann doch das Ich einmischt, und schon ist sie nicht mehr vortrefflich!“ Darum soll der Zögling stets bei einem einzigen Meister bleiben und geduldig auch dessen Grobheiten ertragen; denn der Zögling sehnt sich doch danach, daß in ihm selber das Licht und die innersten Geheimnisse des Meisters offenbar werden. Daher „ist der Meister in der Sprache der Leute des Pfades der ‚Vater des innersten Herzensgeheimnisses‘, und der Sohn darf sich ihm gegenüber nicht aufsässig zeigen, denn die Aufsässigkeit hat keinen Zügel, an dem der von ihr Getriebene sich festhalten könnte, vielmehr kommt sie in allen Situationen zum Vorschein. Deswegen setzt man den Adepten mit dem Leichnam vor dem Totenwäscher gleich. Darum, mein Sohn, gehorche jenem Vater und stelle ihn in allen deinen Angelegenheiten, die mit den Befehlen Allahs zu tun haben, über deinen leiblichen Vater. Denn der Zeuger des innersten Geheimnisses nützt dir mehr als der Zeuger des Leibes. Denn der Zeuger des innersten Geheimnisses nimmt seinen Sohn wie ein Stück festen Eisens her und schmilzt es, bis es flüssig wird und zu Tropfen zergeht, und unterzieht ihn einer geheimnisvollen Behandlung, um ihn in lauteres Gold zu verwandeln.“57 Erziehung ist Läuterung: die Metapher der Alchimie Die Alchimisten lehren, man könne Silber und Gold aus unedlen Metallen erzeugen, denn diese seien nichts weiter als durch Krankheit und Leiden depraviertes Edelmetall. Aš-Šaʿrānī kannte diese Hypothesen, sein Bruder Afḍal ad-Dīn hatte ihn jedoch zur Vorsicht gemahnt: Die Manipulationen der Alchimisten führen keineswegs zum Erfolg. Das Gold der wahren Gläubigkeit muß in einem Menschen bereits durch Allah angelegt sein, wenn es nach der Erziehung, der Läuterung, auf Dauer aufglänzen soll.58 Allein als Metapher für die Erziehung nimmt aš-Šaʿrānī das Tun der Alchimisten zur Kenntnis, eine Sichtweise, die, wie so vieles bei ihm, auf Anregungen Ibn ʿArabīs zurückgeht.59 In den Mekkanischen Eröffnungen greift dieser das Thema mehrfach auf. Gold sei von zweierlei Art, stellt er am Beginn einer facettenreichen Beschreibung der „Wissenschaft vom Elixier“ fest, man finde es nämlich als Erz, und man könne es als das Ergebnis eines Vorgangs der Läuterung erhalten. Letzteres sei möglich, weil alle Metalle eines einzigen Ursprungs seien und der Vollkommenheit, der Goldeigenschaft, zustrebten. Es gebe freilich zahlreiche Gründe, die diesem Streben entgegenwirkten. Ibn ʿArabī macht ohne Zögern deutlich, daß das, wovon er spricht, auf zwei miteinander verschränkten Ebenen spielt:

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In der Natur ist der Ursprung der Metalle der Dampf,60 im Bereich des Übernatürlichen (arab.: Pl. al-ilāhījāt) die Seele. Die natürlichen Eltern, Quecksilber und Schwefel, wollen sich vereinen und Gold zeugen, aber mannigfache Mißhelligkeiten könnten den Erfolg vereiteln. Wirkten jedoch beide gemäß der ihnen ursprünglich anerschaffenen Wesensart (arab.: al-fiṭra) aufeinander ein, so sei das Resultat vollkommen, wie ja auch jedes Kind, wenn die ursprünglich dem Menschen von Allah zugedachte Beschaffenheit unbeeinträchtigt bleibe, nicht nur als Muslim geboren werde, sondern vor allem auch in diesem Glauben aufwachse, während anderenfalls die Eltern es zu einem Juden oder Christen verdürben.61 Ibn ʿArabī zeigt sich überzeugt, daß eine allen Schädigungen begegnende Läuterung zu dauerhafter Vollkommenheit führe. Denn nie werde ein Richter ein Urteil gegen denjenigen fällen, der – wie das Gold – ohne Fehl ist. Ja, der Fehlerlose selber werde zu einem, der über andere zu urteilen vermöge. Nur er, so versichert Ibn ʿArabī dem Leser, habe bislang den Weg zur einer nicht rückgängig zu machenden Läuterung geschildert,62 woraus folgt, daß die auch später noch an den Tag gelegte Skepsis eines Mannes wie Afḍal ad-Dīns keine Ausnahme war. Der Weg der Erziehung kann auch als ein Aufstieg durch die Sphären hindurch in den verborgenen Seinsbereich hinein aufgefaßt werden. Wem dergleichen widerfährt, der schaut laut Ibn ʿArabī schließlich sogar den Vorgang der Schöpfung: Aus dem Verborgenen tritt das hervor, was man im Offenkundigen, im Seinsbereich der Körper, als Lichterscheinungen wahrnimmt. Entzöge man den Körpern dieses Licht, dann fielen sie in die Finsternis des Nicht-Geschaffen-Seins zurück, wie denn Schöpfung als das Anleuchten des Nichts zu verstehen sei. Das Nichts wird keineswegs als eine Leere gedacht, es ist vielmehr die unendliche Fülle finsterer, nicht vom schöpferischen Lichtstrahl des Einen getroffener Partikeln.63 Lichtlos meint eben auch ungestaltet. Das Geschaffene, die Welt ist demgegenüber ihrem Wesen nach gestaltet, und das bedeutet zugleich, Regeln unterworfen; ja, diese Regeln bilden ihren eigentlichen Seinsgrund.64 Schon al-Ġazālī hatte im 35. Buch seiner Belebung der Wissenschaften vom praktizierten Glauben ein neuartiges Verständnis des muslimischen Eingottglaubens erarbeitet. Dessen wesentlicher lebenspraktischer Zug sei das Vertrauen auf Allah, freilich nicht ein blindes und daher törichtes, wenn nicht gar frevlerisches Vertrauen darauf, daß Allah sogar dem Untätigen alles zum Besten wenden werde, sofern er dessen diesseitiges Glück beschlossen habe. Eine solche ganz ichsüchtige Herausforderung des Schöpfers lehnte al-Ġazālī in Bausch und Bogen ab. Es komme einzig darauf an, sich unter den gottgegebenen Regelungen des Diesseits zu bewähren. Diese sähen beispielsweise vor, daß man erst nach dem Pflügen und der Aussaat eine Ernte einbringen werde. Allah vertrauen, heiße, dementsprechend zu handeln, und zwar in dem Bewußtsein, daß die Ernte nicht durch das Pflügen und die Aussaat bewirkt werde, sondern einzig durch Allah, und daß dieser das erhoffte Ergebnis auch nicht eintreten lassen könne. Wenn sich

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solches Unheil tatsächlich ereigne, dann erfordere das Vertrauen auf Allah, auch hierin ein Zeichen seiner Weisheit zu erkennen, selbst wenn es nicht entschlüsselt werden könne.65 Die Welt, das folgt aus al-Ġazālīs neuer Lehre, ist nicht undurchschaubar, ist nicht das Resultat einer unauslotbaren göttlichen Willkür. Allahs Souveränität offenbart sich gerade darin, daß man seiner Weisheit vertrauen darf und soll. Das bedeutet allerdings auch, daß der Mensch gehalten ist, sich selber Gedanken darüber zu machen, was denn für sein Tun und Lassen aus der erkennbaren Regelhaftigkeit des Diesseits abzuleiten sei. Mit anderen Worten: Eine im Vertrauen auf Allahs Schöpfungshandeln bis zu einem gewissen Grad entschlüsselte Welt kann selber das Fundament einer Gesetzgebung sein. Die Zuständigkeit für das Sollen, für Gebot und Verbot, wird zumindest in Teilen den Schariagelehrten entrissen, deren Arbeitsgrundlage gerade die in ihren Augen gänzlich seinsohnmächtige und daher undurchschaubare Welt ist, und demgemäß einzig die Aussage der autoritativen Texte, der Rede Allahs. Spätestens im ausgehenden 13. Jahrhundert hatte im Sunnitentum die Auffassung Fuß gefaßt, daß die Heilsgeschichte des Diesseits in zwei Äonen zerfalle, deren erster bis zur Geburt Mohammeds gedauert habe. In jenem Zeitalter sei das göttliche Gesetz lediglich implizit, mittels einer entsprechenden Auslegung des Schöpfungsvorganges, greifbar gewesen. Im zweiten Äon sei es in der Form der Scharia explizit geworden, wodurch die Heilsgeschichte der Menschheit in ihr Reifestadium getreten sei. An der Entwicklung dieser Gedanken hatte Ibn ʿArabī einen entscheidenden Anteil gehabt,66 auf ihnen bauen auch seine Überlegungen zur Erziehung auf, denen wir uns jetzt des näheren zuwenden. Die Ergebnisse der Läuterung und Erziehung sind unterschiedlich, der Weg aber ist stets der gleiche. Er führt an eine Pforte, durch die man dem Wanderer ein Diplom herausreicht, das beurkundet, welchen Grad der Vollkommenheit er erlangt hat. Der höchstmögliche ist die Stellvertreterschaft (arab.: al-ḫilāfa) Allahs, die einst Adam errang (vgl. Sure 2, 30). Auch der Rang eines Gesandten Allahs, eines Propheten oder eines Gottesfreundes mag den Wanderer erwarten. Was er empfängt, ist in keinem Fall durch sein Wandern verdient, sondern entspricht der Disposition seiner Seele und liegt somit in Allahs Hand. Die Menschen entstammen nämlich alle einem einzigen Erzschacht (vgl. Sure 4, 1), sie sind jedoch in verschiedenem Maße für die Aufnahme der göttlichen Fügung begabt (vgl. Sure 82, 8). „Da der Ursprung der Partikularseelen von ihrem Vater her die Reinheit ist, sie aber eine Individualexistenz nur in diesem natürlichen Leib annehmen können und somit die Natur ihr zweiter Vater ist, treten sie als gemischte (Wesen) auf. Denn es zeigen sich an ihnen nicht das Aufstrahlen des reinen, von aller Materie freien Lichts und auch nicht jene absolute Finsternis, die der Nacht eignet. Die Natur gleicht dem Erzschacht, die Allseele den Sphären, die wirken und von deren Bewegung her die Elemente eine Wirkung erleiden. Der im Erzschacht geschaffene (metallene) Körper

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ist demjenigen des Menschen zu vergleichen. Die je spezifische Eigenschaft, die der Geist des Körpers im Erzschacht ist, hat die gleiche Bedeutung wie die Partikularseele im Körper des Menschen. Es handelt sich um den eingehauchten Geist.Wie die im Erzschacht geschaffenen Körper unterschiedlichen Ranges sind je nach den Schädigungen, durch die sie während der Zeitspanne, in der sie geschaffen werden, in Mitleidenschaft gezogen werden, obwohl sie der Vollkommenheit zustreben, um deretwillen sie als Individuen auftreten, so wurde auch der Mensch um der Vollkommenheit willen geschaffen. Nichts anderes als Schädigungen und Krankheiten, die ihm in seinem Wesen selbst oder als akzidentielle Beeinträchtigung zustoßen“, hindern ihn am Erreichen dieses Ziels.67 Die Partikularseele eines jeden Menschen wurde von Allah mit dem Wissen ausgestattet, daß es jemanden gibt, der sie mit ebendiesem Wissen ausgestattet und somit auch zur Suche nach jenem Unbekannten und zum Beschreiten des Wegs zur Vollkommenheit verpflichtet hat. Doch werden die Suchenden – im zweiten Äon – auf jemanden treffen, der ihnen versichert, diesen Weg selber schon gegangen und der Gesandte jenes Unbekannten zu sein. Der eine mag sich freudig belehren und führen lassen, der andere wird einwenden: „Weshalb sollte dein eigenständiges Suchen ein besseres Ergebnis zeitigen als das, das ich anstrebe?“ Denn letzten Endes wird jener Gesandte den Weg zur Vollkommenheit nicht grundsätzlich anders beschritten haben, als es der auf den eigenen Verstand Bauende für zwingend nötig erachtet. Unterscheiden sie sich nicht nur in der Methode? Ibn ʿArabī erörtert beide Möglichkeiten ausführlich, und auf den ersten Blick hat es den Anschein, als wäre eine Offenbarung überflüssig. Aber Ibn ʿArabī wäre nicht der Verfechter der Lehre von den beiden Äonen, wenn er den selbstverantwortlich Vorgehenden nicht doch in unaufhebbarer Unzulänglichkeit enden ließe. Denn schon im ersten Himmel, wo dieser vom personalisierten Geist der Mondsphäre begrüßt wird, begegnet sein Nebenbuhler, der Belehrte und Geführte, dem Propheten Adam, der ihm alle Gottesnamen übermittelt (vgl. Sure 2, 30 f.), soweit dies ratsam erscheint. Der selbständig Denkende bereut, daß er sich auf das Wagnis eigener Erkenntnis eingelassen hat, und nimmt sich vor, nach der Rückkehr von dieser Läuterungsreise noch einmal von vorn anzufangen und dann sich zu verhalten wie jener.68 Beide wissen, daß der Mondsphäre die vier Elemente und die aus diesen bestehenden Wesen zugehören, der Unterwiesene hat darüber hinaus die Einsicht gewonnen, daß hinter alldem das Wirken Allahs verborgen ist. Das Ziel der Erziehung: Gottesfreundschaft In dieser Art schildert Ibn ʿArabī die weiteren Stufen des Aufstiegs. Im sechsten Himmel herrscht Mose, Jupiter ist sein Wesir. Mose lehrt den „Folgsamen“, daß Allah sowohl in den Glaubenslehren offenbar wird als auch in „den Wünschen, die auf-

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bewahrt werden“.69 Nicht die Dingwelt ist real, sondern die Vorstellung, die der Mensch sich von ihr macht, und „real“ meint nichts anderes, als daß Allah in dieser Vorstellung aufscheint. Mose erzählt, wie er einst Feuer suchte und wie sich ihm darin der Eine enthüllte, eben weil dies die Individualisierung seines Wunsches war. Allah wird stets in dem geschaut, wonach es einen verlangt. Jede Substanz kann ihrer Form verlustig gehen und eine andere annehmen – aš-Šaʿrānī hat uns schon mehrfach hiervon erzählt.70 Der Kern jeglicher in Erscheinung tretenden Gegebenheit ist hingegen unwandelbar, da es sich um Allah selber handelt.71 In Anerkennung dieser Lehre kann der Skeptiker behaupten, eine Wandlung des Wesens eines Dinges sei ausgeschlossen; Afḍal ad-Dīn hatte hierauf beharrt,72 und es zeigt sich nun, daß diese Äußerung auf eine Widerlegung der Alchimie mittels der Kernlehre der Alchimie hinausläuft. Zaid redet über dich in der dritten Person als „er“, ʿAmr sagt zu dir „du“, du selber nennst dich „ich“. „Wenn ihr wirklich begriffet, was ich in diesen wenigen Gedankensplittern ausspreche, ihr gerietet auf ewig in Verzückung und zugleich in eine Furcht, vor der sich niemand mehr schützen kann. Daß der Berg zu Staub zerfällt, ist dasselbe, wie daß er sich als stabil erweist, und daß Mose (nach seinem Erschrecken) zu sich kam, ist dasselbe, wie daß er entsetzt zu Boden stürzte.“73 Wer sich der eigenen Erkenntnis überläßt, der nimmt die ihn umgebenden Gegenstände als Materie wahr, der andere hört, wie einst aš-Šaʿrānī,74 das Gotteslob, das unaufhörlich von ihnen ausgeht.75 Abraham öffnet den beiden Reisenden den siebten Himmel, wo Saturn sich sogleich des eigenständig Erkennenden bemächtigt und ihn in ein finsteres Verlies sperrt. Nur das Herz desjenigen, der stets mit Allah ist, umfaßt alles,76 wie der Gefangene in tiefer Zerknirschung einsieht. Denn wohl hat er während seiner Reise die wunderbarsten Bilder geschaut, der andere, der Geleitete, bemerkte dies alles ebenfalls, zusätzlich aber das Göttliche, das sich in allem manifestiert, dessen Sein möglich ist und das in der Zeit geschaffen wird.77 Gern würde der Erkennende sich Abraham nähern und mit diesem die himmlische Kaaba betreten, doch wird ihm dies verwehrt. Auch die Rückreise – zum Neubeginn – wird ihm noch nicht erlaubt. Er hat sich zu gedulden, bis der Geleitete von seinem noch weiter führenden Aufstieg wiederkehrt. Dieser durch den Verzicht auf den Gebrauch der eigenen Erkenntniskraft so sehr Begünstigte gelangt zum „Lotosbaum an der Grenze“ (Sure 53, 14) und erblickt dann einen breiten Strom – den Koran, der sich in Flüsse teilt, die Tora, den Psalter, das Evangelium, die sich ihrerseits in Bäche verzweigen: Wer immer aus einem dieser Gewässer trinkt, der beehrt den, aus dessen Gewässer er trinkt. Wahr ist, was Mohammed verkündet hat,78 alle anderen Lehren sind abgeleitete Wahrheiten, minderen Ranges zwar, aber Allah hat nun einmal jedem einen bestimmten Weg zugewiesen.79 Irgendwelche Veränderung hat oberhalb des siebten Himmels nicht mehr statt, man befindet sich im Übergang zum Ewigen. Da alles Geschaffene nach Veränderung, nach Abwechslung verlangt (Sure 16, 96), wird Allah

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sie den Paradiesbewohnern gewähren, meint Ibn ʿArabī. Vom Ort des göttlichen Fußschemels (Sure 2, 255) aus zieht es den Geleiteten ins Licht, in die Sphärenmusik, er verfällt in Ekstase.Von hier herab tönen die Melodien, die während der sufischen Seancen die Beteiligten in Verzückung reißen, sofern die Seelen hierauf vorbereitet sind, sei es durch das Liebesband zu einem Mädchen oder Knaben, sei es durch das Nachsinnen über ein Prophetenwort wie: „Allah ist schön, Allah liebt die Schönheit.“80 Beim Thron Allahs schließlich wird der Geleitete mit dem Elixier beschenkt, das den kranken Leib zu heilen vermag, so wie es Kupfer oder Eisen in Gold und Silber verwandelt.81 Der auf die Führung durch den Gesandten Allahs Vertrauende wird am Ende seiner Reise zu einem Gottesfreund, von dem Wissen und Weisheit ausstrahlen und der Einblick in die tiefsten Geheimnisse hat. Dank den spirituellen Einsichten, die ihm der siebte Himmel ermöglicht, ist er fähig, durch Kunstgriffe das Eisen zu Silber zu läutern, ja, mittels einer nicht näher bestimmbaren Qualifikation sogar zu Gold. Er weiß die „Drogen und Mittel“ einzusetzen, die „die Krankheit heilen, die in der Persönlichkeit derjenigen ausbrechen, die den Grad der metallischen Vollkommenheit, den Grad des Goldseins, erstreben“. Die Geheilten sind freilich nie so in sich gefestigt wie die Gesunden, bedauert Ibn ʿArabī, ein Rückfall ist stets zu gewärtigen. Nur diejenigen, deren Disposition die Gesundheit ist – was z. B. von Adam und von Johannes dem Täufer82 gesagt werden könne –, werden endgültig von ihren Leiden befreit. Die gewöhnlichen Menschen werden durch Allah zwar in bester Gestaltung geschaffen, dann jedoch in tiefste Tiefen hinabgestoßen (Sure 95, 4– 5). Immer wieder müssen sie um die Bewahrung ihrer Vollkommenheit kämpfen, indem sie sich mit ganzer Hingabe den jeglicher Kreatur angemessenen Knechtszustand gegenüber Allah vergegenwärtigen. – Dies ist, wie erinnerlich, das Generalthema der Gedankenarbeit Ibn ʿArabīs.83 – Die ihrem Wesen nach Gesunden, „die glauben und fromme Werke tun“ (Sure 95, 6), bedürfen nicht der Alchimie.84 Wie bereits gehört, sind die Verfehlungen der „Leute des Hauses“ laut Ibn ʿArabī keineswegs Sünden, eine Überzeugung, die aš-Šaʿrānī den Wert seiner Abstammung von Muḥammad b. al-Ḥanafīja erst eigentlich zu Bewußtsein brachte. Das Changieren zwischen Alleinsein und Gemeinschaft Damit kehren wir zu aš-Šaʿrānī Zurück! Die skizzierten Gedanken Ibn ʿArabīs machen uns deutlich, weswegen der „Vater des innersten Herzensgeheimnisses“ einen unanfechtbaren Vorrang vor dem leiblichen innehat. Letzterer vertritt die „Natur“, das Unverklärte, und vermag einen allenfalls so weit zu führen, wie es der eigenständig Suchende mit seiner Läuterung bringt. Wer sich von seinem spirituellen Vater anleiten läßt, der wird viel weiter gelangen. Vollendete Einsicht in die Beschaffenheit des Diesseits sollte jedoch nicht der Einsicht in das „Natürliche“ ent-

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raten, das doch dem nomos gehorcht, der erst am Beginn des mohammedschen Äons in Allahs höchsteigene Rede gekleidet und damit expliziert wurde. Die nunmehr möglich gewordene Vollständigkeit der Einsicht verlangt vom Zögling ein eigenartiges Changieren zwischen Alleinsein und Gefährtenschaft. Er muß begreifen, daß man ihm die Abkehr von der Welt gerade nicht abfordert; nur in ständiger Berührung mit der Welt wie mit seinem Meister wird ihm die Komplementarität von absolutem und konditioniertem Sein aufleuchten. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, riet aš-Šaʿrānī sogar, sich möglichst eng und oft mit der breiten Masse des Volkes einzulassen – „soweit du es ertragen kannst“ – und wenn der Teufel ihm dann einflüstere, unter diesen Voraussetzungen sei es unwahrscheinlich, daß ihm je eine Einsicht ins Verborgene widerfahre, dann dürfe er auf solches Geschwätz nicht achten. Wer sich unter die Menschen mischt, der gehört zu ihnen, und nicht durch dünkelhafte Distanz gewinnt man spirituelle Erfahrungen, sondern allein dadurch, daß man das ganze Tun und Lassen, das den Vorschriften der Scharia folgt, nicht mehr als ein Mittel zum Erreichen eines Zweckes, sondern als Zweck in sich selber betrachtet. Anderenfalls könnte man über die Fallstricke des Teufels straucheln.85 Der Palmblattflechter denkt bei dieser Belehrung an den schon im 7. Jahrhundert oft geäußerten Rat, der Muslim solle sich an die Gemeinschaft halten, damit er nicht wie das verirrte Herdentier eine Beute des Satans werde. Nur innerhalb der Gemeinschaft, in der man den Kultus ausübt und das Leben nach den Regeln der Scharia meistert, ist die Erleuchtung zu erhoffen, und zwar gerade dann, wenn man den Kultus und die Vorschriften des Gesetzes ohne auf das Diesseits gerichtete Hintergedanken einhält. Auch jener so oft wiederholte Rat empfängt erst in der den Menschen zu lauterem Gold umschmelzenden Überbietung der Schariatreue seine tiefste Erfüllung. Wenn also der Adept seinen Pfad beginnt und bereits verheiratet ist, dann darf er seine Frauen nur verstoßen, wenn sein Meister es für förderlich erachtet bei der Arbeit an dem großen Ziel. Die muslimische Spiritualität ist etwas ganz anderes als das Mönchstum.86 Alleinsein und Gemeinschaft: das Verhältnis zum weiblichen Geschlecht als Beispiel Was Alleinsein und Gemeinschaft bei aš-Šaʿrānī meinen, läßt sich am klarsten seinen Bemerkungen über das Verhältnis zum anderen Geschlecht entnehmen. In der Lebensbilanz berührt er dieses Thema mehrere Male. Bis er etwa dreißig Jahre alt war, behütete Allah ihn vor Unzucht und unwillkürlichem Samenerguß, schreibt er, „denn ich hatte keine Zeit, mich um eine Familie zu kümmern, da ich ganz mit dem Erwerb von Wissen beschäftigt war“. „Darum harre, mein Bruder, im Junggesellenstand aus, indem du dich auf die Kraft Allahs stützt, nicht auf dich selber!“ Entweder erfüllt Allah dem Begehrenden seinen Wunsch, oder er nimmt ihm die

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Lust aus dem Herzen. Wenn sie übermächtig wird, dann ist es am besten, eine Ehe einzugehen, damit man nicht auf Abwege gerate. Freilich wäre es vorzuziehen, wenn man verzichten könnte, bis man die Möglichkeit habe, aus eigenen Mitteln für eine Familie aufzukommen, und sich nicht verschulden müsse. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, wies seine ehelosen Anhänger an, sie sollten sich mit Fasten peinigen und sich notfalls einen Strick um den Leib binden, das werde ihre Lust abtöten. Wenn das nicht half, strich der Gottesfreund dem Adepten mit der Hand über die Lende, und fortan blieb auf immer jegliche Erektion aus. Auch Sidi Ibrāhīm alMatbūlī verfügte über die Kraft des endgültigen Auslöschens der Lust, er wandte sie aber nur an, wenn er im Verborgenen geschaut hatte, daß einem Zögling eine lebenslange Ehelosigkeit bestimmt war. Al-Matbūlī war es besonders wichtig, daß ein Mann mittels schariatreuer Tätigkeit seinen Unterhalt bestreite. War dies nicht möglich, dann sollte er lieber gegen die Empfehlung des Propheten und der Offenbarung verstoßen (vgl. Sure 4, 3) und nicht heiraten, als sich mit Betrügereien durchschlagen.87 – Die Frauen wurden, indem sie mit ihren Ehemännern verkehrten, gewissermaßen in deren Lebenssphäre einbezogen, und diese Verwandlung des Wesens wirkte nach dem Tod des Ehemannes fort. Aš-Šaʿrānī beteuert deshalb, daß er niemals die Witwe eines Gottesfreundes geheiratet habe. War nicht in Rechnung zu stellen, daß der Verstorbene in den Augenblicken engster Vertrautheit mit Allah diesen gebeten haben könnte: „Du bist es, der nach meinem Sterben sich meiner annimmt, du hast Vollmacht über meine Frau, o Herr, mache es ihr schwer, nach meinem Tod eine neue Ehe zu schließen!“ Wer immer sie heiraten sollte, liefe in sein Verderben! Ein Gefährte Sidi Madjans starb und hinterließ eine Ehefrau, die noch unberührt war. Obwohl der Verblichene gedroht hatte, er werde jeden umbringen, der nach ihm seine Gattin zur Frau nehme, wagte sie es, ihm zuwiderzuhandeln. Sie hatte sich ein Fetwa besorgt, das ihr diesen Schritt nahegelegt hatte. Als nun der neue Ehevertrag geschlossen war, erschien der Verstorbene mit einer Lanze und tötete seinen Nebenbuhler, und sie blieb Jungfrau ihr Leben lang.88 – Solche Beispiele schreckten aš-Šaʿrānī ab, dem Wunsch der Witwe des Gottesfreundes Šihāb ad-Dīn al-Kaʿkī zu entsprechen. Mehr als zwanzig Jahre war aš-Šaʿrānī dessen Gefährte gewesen,89 und al-Kaʿkī selber hatte ihn darum gebeten, die Frau zu heiraten, wenn er das Diesseits verlassen haben werde. Aš-Šaʿrānī fürchtete sich, zumal al-Kaʿkī ein Gottesnarr und Verzückter gewesen war. Als Meister Bahāʾ ad-Dīn mit Narrheit geschlagen wurde, wartete seine Frau sieben volle Jahre, ob er nicht wieder aus der Entrücktheit erwache; dann verschaffte sie sich ein Rechtsgutachten und ging mit einem anderen Mann eine Ehe ein. Noch in der Hochzeitsnacht erschien der Gottesfreund und erstach beide auf dem Lager, und den Richter, der den Ehevertrag geschlossen hatte, ließ er erblinden. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, urteilte, es zeuge von einem Mangel an Höflichkeit gegen Allah, wenn man die Witwe eines Gottesfreundes oder auch eines Herrschers eheliche; Allah habe diesen Männern

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einen hohen Rang geschenkt, und sie behielten ihn auch nach dem Tod. Deshalb müsse man den verstorbenen Gottesfreund und den verstorbenen Sultan ehren, als weilten sie noch unter den Lebenden. Sidi ʿAlī mißbilligte es daher scharf, daß Meister Muḥammad al-Ǧāwulī90 die Witwe des am Zuwaila-Tor gehenkten letzten Mamlukensultans Ṭūmānbeg heiratete.91 Aš-Šaʿrānī empfindet Dankbarkeit gegen Allah, weil ihn jedesmal, wenn er sich seiner Frau nähert, ein Gefühl der Verlegenheit vor dem Schöpfer überkommt. Die Eifersucht des Herrn wird in seinem Herzen übermächtig, und so unterläßt es ašŠaʿrānī, seine Frau auch nur zu berühren. Denn „nicht zu jeder Zeit erhält der Knecht die Kraft, zugleich mit der Ehefrau zu scherzen und einen unverschleierten Blick auf den Einen Wahren zu behalten“. Meister Abū Madjan, der große magrebinische Gottesfreund, hatte eine schwarze Dienerin, deren üppige Brüste ihm eines Tages den Sinn verwirrten. Nicht mehr auf Allah achtend, legte er einen Finger darauf – der sofort schwarz wurde! Aš-Šaʿrānī fällt ein warnendes Prophetenwort ein: „Wüßtet ihr, was ich weiß, dann lachtet ihr wenig und weintet viel und vergnügtet euch nicht mehr mit den Frauen auf dem Bett!“92 Nur für die Schwachen gelten Zugeständnisse; sie dürfen genießen und dabei vorübergehend Allah vergessen; die Erziehung zum Gottesfreund aber durchläuft die Stufen des Verzichts und der Abtrennung von allem Diesseitigen und erreicht schließlich das Einswerden mit der göttlichen Fügung. Wie das Verhältnis zu den Gütern entwickelt sich auch die Beziehung des Gottesfreundes zu den Frauen: Solange sie ihn an das Diesseits erinnern und dessen materieller Mannigfaltigkeit Gewalt über ihn schenken, muß er sich ihrer enthalten. Wenn sie ihn aber nicht mehr vom Schauen des Einen ablenken, dann mag er mit ihnen verkehren: „Der Gottesfreund ist erst dann vollkommen, wenn er vor Allah zugegen ist beim Geschlechtsakt genauso gut wie beim rituellen Gebet.“93 „Deshalb“, so belehrt aš-Šaʿrānī den Leser, „bitte ich den Einen Wahren mit dem Herzen um Erlaubnis, wenn ich mich in der Gottesverehrung befinde und den Geschlechtsverkehr ausüben will, um mir oder meiner Gattin die Züchtigkeit zu ermöglichen oder aus einer anderen rechtsgültigen Absicht. Oft widerfährt mir dergleichen, wenn ich gesättigt bin oder wenn ich etwas verzehrt habe, dessen Zugehörigkeit zu meinem Lebensunterhalt zweifelhaft ist und es mir nicht gelingt, es mir aus dem Magen zu würgen. Ich ersuche dann also Allah um die Erlaubnis, unterbreche die Rezitation des Korans oder die Gebetslitanei und bitte ihn, vor mir einen Vorhang herabzulassen, damit ich meiner Frau gebe, was ihr zukommt.94 Dies ist eine Charaktereigenschaft, deren sich nur wenige befleißigen. Man beginnt den Geschlechtsverkehr wie das Vieh, ohne sich darum zu kümmern, daß man Allah um Erlaubnis zu bitten hat, und so geschieht es dann, daß Allah sich auf immer vor einem verhüllt, einen bestraft oder daß man den jenseitigen Lohn verwirkt… So ging es mir einmal, und an die vierzig Tage dauerte die Strafe, nämlich daß Allah mir seine Zwiesprache versagte. Schließlich erbat ich mir vom Gottes-

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gesandten seine guten Dienste und erflehte mir von Allah um seiner Verpflichtung dem Propheten gegenüber, daß er Milde walten lassen möge, und Allah erhörte mich, weil er seinen Propheten ehren wollte. Wenn eine solche Charaktereigenschaft dank einer allgemeinen Billigung durch die Scharia dem Menschen auch statthaft ist, so wird die Beachtung der Höflichkeit und der Schamhaftigkeit vor Allah in diesen Dingen nicht vom Gesetz verworfen, sondern sogar ausdrücklich befürwortet!“95 Der Ehevertrag verpflichtet die Frau, das Begehren ihres Mannes nicht zurückzuweisen; er hat seine Rechte, die aus der Wahrnehmung der Unterhaltspflichten erwachsen. Dies ist die schariatische Ebene, die Ebene der Diesseitigkeit. Über ihr liegt das Verborgene; will man den Anforderungen gerecht werden, die die ungetrübte Bestimmung Allahs an einen stellt, dann muß man stets im Auge haben, was die Höflichkeit gegen den Schöpfer gebietet. Die Scharia macht die Frauen ähnlich wie Dienstleistungen und Waren zum Gegenstand von Verträgen, die Männer untereinander abschließen. In der muslimischen Spiritualität wird jedoch die Kluft zwischen denen, die den Vertrag eingehen, und jenen, die der Gegenstand des Vertrages sind, aufgehoben. Denn in der Zugehörigkeit zum konditionierten Sein als der Entfaltung des absoluten Seins sind sich Mann und Frau gleich. Aš-Šaʿrānī schreibt: „Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich vor den Frauen meinen Blick niederschlage… aus Höflichkeit gegen Allah, eben weil sie96 in seinem Haus sind und unter seinem Schutz stehen, nicht aus irgendeinem anderen Grund, etwa weil ich eine Strafe oder den Verlust eines Jenseitslohnes fürchtete, ganz zu schweigen von der Besorgnis, ich könnte etwas Verbotenes tun. Wer nämlich mit dem Auge des wirklichen Glaubens hinschaut, der wird finden, daß das ganze Diesseits das Haus Allahs ist und alle Personen, die einem verboten sind, seine Mägde und Knechte. Wer eine dieser Personen anblickt, ohne dazu berechtigt zu sein, der verrät seinen Herrn und zeigt sich in dessen Gegenwart ungehorsam. Daher ziemt es niemandem, irgendetwas, das zum Diesseits gehört, anders anzublicken als ein anvertrautes Gut. Deswegen gilt gemäß Koran und Prophetenüberlieferung das Gebot, den Blick zu senken.“ Niemanden und nichts hat der Mensch als Eigentum, nur wie über ein Depositum verfügt er über das, was das Diesseits für ihn bereithält (Sure 23, 8). „Die Unzucht des Auges ist das Blicken, die Unzucht des Mundes das Küssen, die Unzucht der Hand das Betasten“, soll Mohammed befunden haben.97 Die natürlichen Neigungen mögen einen zu solchem falschen Verhalten drängen, aber indem sich der Gottesfreund der Macht entzieht, die das Diesseits über den Menschen hat, lernt er, die Neigungen zu überwinden – nicht, indem er sie unterdrückt, sondern indem er ihnen die Verhaftetheit mit dem Diesseits austreibt. In dem Maße, wie er selber vom Eisen zum lauteren Gold umgeschmolzen wird, wandelt sich sein Handeln; es verliert den Diesseitsbezug und wird zur puren

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Vollstreckung des göttlichen Bestimmens. Die Liebe zwischen den Gatten ist eine überwältigende Kraft, ist Leidenschaft und hat ihre tiefen Wurzeln in der Natur des Menschen. Man muß mit dieser Kraft rechnen, und so ergibt sich für aš-Šaʿrānī zwangsläufig, daß er sich mit seinen Ehefrauen nie in irgendwelchen Angelegenheiten berät; der kühle Verstand ist nicht die Stärke der Frauen.98 Wahrscheinlich ist aber eine allgemeine Furcht vor dem Weiblichen, das als ein Ausdruck der natürlichen Prägung des Menschen begriffen wird, der wahre Grund für aš-Šaʿrānīs Urteil. Ibn Ḥaǧar al-Haitamī wurde einmal die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob man die Frauen das Schreiben lehren solle. Er verwies auf ein Prophetenwort: „Setzt sie nicht in eure Zimmer und bringt ihnen nicht das Schreiben bei, unterweist sie lieber im Spinnen und lehrt sie die 24. Sure!“ in der, wie Ibn Ḥaǧar anfügt, zahlreiche Bemerkungen über das züchtige Verhalten der Frauen zu finden sind (Sure 24, 31– 33). Mohammed erzählte ferner, einst sei der weise Luqmān an einer Elementarschule vorbeigekommen, in der er auch ein Mädchen erblickte. „Für wen wird denn dieses Schwert geschliffen?“ fragte Luqmān verwundert. Laut Ibn Ḥaǧar steht fest, daß die Frau, die in den Wissenschaften ausgebildet ist, ihre Kenntnis zu unguten Zwecken mißbrauchen wird. Schließlich ist ein kleiner Brief ein viel diskreterer Bote als ein Mensch, der eine Nachricht persönlich überbringt, „und deswegen wird die Frau, sobald sie schreiben kann, wie ein blankes Schwert sein, das an nichts vorbeikommt, ohne es schnell zu zerschneiden“. Sie ist nun in der Lage, auf jede Bitte oder Forderung rasch und wirksam zu antworten. Sehr nützlich ist es demgegenüber, die Frauen in den Koran und in die Verhaltensnormen der muslimischen Gesellschaft einzuführen.99 Eine ähnliche Auffassung scheint aš-Šaʿrānī zu vertreten; in seiner Beschreibung der Verhaltensweisen das Adepten zitiert er eine Schrift Sidi Muḥammad al-Ġamrīs, die sich mit dem Verbot beschäftigt, allzu engen Umgang mit Frauen und jungen Männern zu pflegen. Die Derwische, die der Gemeinschaft des Asketen Aḥmad angehörten, nahmen auch Frauen die Verpflichtungen ab, eröffneten ihnen also die Möglichkeit, den „Pfad der Leute“ zu betreten. Der Meister sei dabei mit der Adeptin allein, sage zu ihr: „Meine Tochter“ und sie zu ihm: „Mein Vater!“ Dergleichen sei mit der Scharia nicht zu vereinbaren, habe doch der Prophet seinen Gefährten geboten: „Wenn ihr etwas von ihnen erbittet, dann fragt sie danach, während sie hinter einem Vorhang verborgen sind! Das wird eure und ihre Herzen am ehesten lauter erhalten.“ Es sei, meinte Muḥammad al-Ġamrī, deshalb ganz unerträglich, daß eine Frau und ihr spiritueller Erzieher ohne einen Zeugen zusammenkämen: „Wie kann man einen Toren und eine Törin… zu einer verbotenen Liebe einladen wie die Fliegen zum Honigtopf?“100 Ganz so streng sah aš-Šaʿrānī die Dinge vielleicht nicht. Jedenfalls mußte er sich gegen den Vorwurf seiner Feinde zur Wehr setzen, in seiner Gemeinschaft nehme man es mit der schariatischen Trennung von Männern und Frauen nicht so genau.101

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Beischlaf als Vollzug göttlichen Bestimmens Nun findet sich in seiner Lebensbilanz ein zunächst befremdlicher Abschnitt: „Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß der Käfig meiner natürlichen Veranlagung zerbrochen wurde, so daß ich mich nicht mehr schämte, fremde Frauen die guten Sitten des Beischlafs zu lehren, von den Männern gar nicht zu reden. Nur wenigen wird diese Fähigkeit zuteil. Kaum jemand empfand mehr Verlegenheit vor einer verhüllten Jungfrau als der Prophet, und trotzdem brachte er seinen Gefährten bei, wie sie nach dem Stuhlgang die von den Exkrementen verunreinigten Körperteile säubern sollten, und lehrte die Frauen, wie sie während der Monatsblutung sich einen Stofflappen über die Scheide binden und diese mit Baumwollflocken vollstopfen sollten. Auch sagte er zu Umm ʿAṭīja, die die Mädchen zu beschneiden pflegte: ‚Schneide die Klitoris fort, aber verursache keine tiefe Wunde! Denn das hellt das Gesicht der Mädchen am ehesten auf und verschafft ihnen das meiste Ansehen bei den künftigen Ehemännern!‘102 Einige Rechtsgelehrte meinen, ‚das hellt das Gesicht am ehesten auf‘ bedeutet, daß die Scheidenflüssigkeit und das Blut am leichtesten abgehen können, und ‚es verschafft ihnen das meiste Ansehen bei den Ehemännern‘ heißt, daß es für die Männer beim Beischlaf am angenehmsten ist. Schau, mein Bruder, wie liebevoll sich der Prophet seiner Gemeinde annahm! Es ergibt sich, daß jeder, der sich einer Handlung schämt, die der Prophet vollzog, ein Dummkopf mit einer stumpfsinnigen Natur ist, sich womöglich zahlreicher schwerer Sünden schuldig macht und sich dabei weder vor Allah noch den Menschen schämt.“103 Was aber konnte aš-Šaʿrānī jene Frauen lehren? In ganz anderem Zusammenhang erteilt er dem Leser darüber Aufschluß: Er hat es Allah zu verdanken, daß er sich den Sinn von Koran und Sunna durch die richtige Tür erschloß, nämlich indem er zahlreiche über die rituellen Pflichthandlungen hinausgehende Taten der Gottesverehrung leistete. „Wer sich dessen befleißigt, den liebt Allah, und wen er liebt, dem erlaubt er, sich ihm an seinem Hof zu nähern, und wenn er jenen nahe zu sich geholt hat, dann gewährt er ihm Einblick in die Geheimnisse seiner Scharia.“ Aš-Šaʿrānī spielt hier wieder auf das uns schon bekannte Ḥadīṯ an, in dem Allah selber solchen Lohn all denen in Aussicht stellt, die unermüdlich mehr als nur ihre Pflicht tun. Denn zum Vollziehen des von der Scharia festgelegten Kultus ist der Mensch gezwungen, über die freiwillige Gottesverehrung entscheidet er selber – die Furcht vor der Strafe nötigt ihn zum Erfüllen der Pflichten, die Liebe treibt ihn zu allem, was darüber hinausgeht. „Die freiwillige Leistung, auf der der meiste Segen ruht, ist der häufige Geschlechtsverkehr, und zwar wegen der Verbindung und des Hervorbringens. Der Mensch verbindet beim Beischlaf das mit dem Verstand Erfaßbare mit dem, was den Sinnen zugänglich ist, und infolgedessen entgeht ihm kein Wissen, das dem Hof des höchsten Namens entströmt, weder ein äußeres noch ein inneres. Deswegen erreicht der Mensch die höchste Vollkommenheit, wenn er sich dem freiwilligen Gottesdienst im Geschlechtsverkehr hingibt;

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dann ist er dem am nächsten, das zu erwerben er anstrebt: Er wird durch Allah geliebt, und wer durch Allah geliebt wird, der wird zu einem Thron, auf dem der Eine Wahre sich zurechtsetzt, indem er jene Arten des Wissens auf ihn einströmen läßt; er wird zu einem Himmel des Herabsteigens, zum Fußschemel, an dem Allahs Gebote und Verbote manifest werden. Ihm zeigen sich mehr Arten des Wissens des Fußschemels, als er je zuvor in diesem Bereich hatte sehen können, obwohl er ihm zugehörte. Dies ist einer der erhabensten Pfade…“104 Der sogenannte Thronvers (Sure 2, 255) steht aš-Šaʿrānī hier vor Augen, in dem es in Wahrheit nicht um Allahs Thron geht, von dem herab dieser sein Schöpfungswerk regiert, sondern um den Fußschemel davor, der, wie es heißt, so groß ist, daß er alle Himmel und die Erde umfaßt: „Allah – es gibt keinen Gott außer ihm, dem Lebendigen, in sich selber Beständigen, den weder Schlummer noch Schlaf überkommen. Ihm gehört alles, was in den Himmeln und auf der Erde ist. Wer könnte sich erkühnen, bei ihm anders Fürsprache einzulegen als mit seiner Erlaubnis? Er weiß, was vor und was hinter ihm ist, sie aber umfassen von seinem Wissen nur, was er will. Sein Thronschemel umgreift die Himmel und die Erde, beides zu erhalten, ist Allah keine Last. Er ist der Hohe, Gewaltige!“ In dieses Wissen nun gewinnt aš-Šaʿrānī Einblick, wie wir schon hörten, dank dem ununterbrochenen Gottesgedenken, in das er sich hineinfand, als er vom gelernten Wissen zum Erkennen fortschritt. Mehrfach berührt aš-Šaʿrānī in der Lebensbilanz dieses Thema. An einer Stelle führt er eine Erläuterung an, die er Sidi ʿAlī al-Marṣafī verdankt, dem schon mehrfach erwähnten Gottesfreund, der vom Neffen Madjans auf den Pfad geführt worden war. „In keiner Art der Gottesverehrung“, sagte Sidi ʿAlī, „hat der Erkennende so großen Erfolg beim übersinnlichen Schauen seiner Knechtsstellung wie während des Geschlechtsverkehrs. Denn er nimmt wahr, wie er selber unter die Herrschaft der natürlichen Begierde gezwungen ist, die er nicht abzuschütteln vermag, eine Herrschaft, der er so sehr unterliegt, daß er kaum an etwas anderes zu denken vermag. Deshalb läßt es sich der Pol“ – der höchste in der Hierarchie der Gottesfreunde – „angelegen sein, häufig den Beischlaf zu vollziehen, weil er in diesen Augenblicken seinen Knechtsstatus so rein empfindet, daß kein Anspruch von Stärke beigemengt ist, sondern nichts als Schwäche bleibt.“ Die natürliche Prägung kann wie ein Käfig sein, die Menschen sind gegeneinander abgeschlossen; aber zur Erfüllung des Gesetzes sollen sie, dem Vorbild Mohammeds folgend, die Schranken der Scham überwinden. Die ausgelebte Natürlichkeit eröffnet die Einsicht in den Knechtsstatus des konditioniert Seienden gegenüber dem absolut Seienden und zugleich die Einsicht in die Komplementarität beider Arten des Seins. Sie wird in den Riten anschaulich, im Verhältnis des Meisters zum Zögling und im Geschlechtsverkehr, in dem das Alleinsein einerseits und die Gefährtenschaft andererseits erfahren werden. „Darum hüte dich“, warnt aš-Šaʿrānī den Leser seiner

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Erinnerungen, „über denjenigen herzuziehen, der oft den Beischlaft ausübt! Vielleicht ist der Grund dafür jene Weisheit, die wir erwähnten.“ Es ist, wenn man sich dies vergegenwärtigt, keinesfalls ratsam, den Beischlaf unter Bedingungen zu vollziehen, die auch der erfolgreichen Erfüllung der Ritualpflichten entgegenstehen. Weder zornig, noch mit Gefühlen des Neides oder des Hochmuts, noch durch diesseitige Geschäfte bedrängt, sollte man sich den Ehefrauen nähern. In diesem Kosmos wirkt ein vielfältiges von Allah geknüpftes Netz von Ursachen und Verursachtem, und so haben derartige Regungen des Gemüts ihren Einfluß auf den Charakter der Nachkommen, die aus einem solchen Akt hervorgehen mögen. Aš-Šaʿrānī kommt, nachdem er hierzu einiges ausgeführt hat, noch einmal auf das Verhältnis von Mann und Frau zu sprechen. Es wäre reine Rücksichtslosigkeit des Ehemannes, wenn er, nachdem er zu tiefsten Einsichten vorgestoßen ist, seiner Frau das Geld verweigerte, das sie nun für einen Besuch des Warmbades benötigt, um die rituelle Reinheit zurückzugewinnen. Allerdings gibt es klatschsüchtige Nachbarn, die genau nachzählen, wie oft sie diesen Weg nimmt, so daß es vielleicht besser wäre, sie könnte die Waschung zu Hause vollziehen. Dies hat der Ehegatte ihr zu erleichtern, beispielsweise indem er ihr nicht zumutet, daß sie sich im Winter mit kaltem Wasser wasche, sondern für ausreichend Brennstoff sorgt.105 Ibn ʿArabī über die Frauen Auch bei aš-Šaʿrānīs Ideen zum Verhältnis zwischen Mann und Frau hat Ibn ʿArabī Pate gestanden. Für ihn war nicht zu bezweifeln gewesen, daß die Frauen, wie alle Gattungen der Geschöpfe, gleich weit – oder besser: nahe – zu Allah waren. Die im Koran verankerte Minderrangigkeit der Frau gegenüber dem Mann – ihre Zeugenaussage hat weniger Beweiskraft als die eines Mannes (Sure 2, 282), sie wird gegenüber männlichen Erben benachteiligt (Sure 4, 11) usw. – läßt sich nicht begründen, wenn man überzeugt ist, daß alles Seiende, das im Diesseits zur Erscheinung gelangt, eine Besonderung des einen absoluten Seins darstellt und allein der Selbsterkenntnis des Einen Wahren dient. Dies ist die Bestimmung, die der ganzen Schöpfung unterliegt und die sich in einer den Gattungen der Kreatur eigenen „natürlichen“ Bewegung zeigt: Die Pflanzen dringen in den Boden ein, ihre Bewegung ist nach unten gerichtet, den Tieren ist die Horizontale eigentümlich, sie laufen auf vier Beinen; dem Menschen wurde die Bewegung nach oben anerschaffen, er richtet seine Gestalt auf. Niemand kann sagen, welche dieser zugewiesenen Richtungen des Vorwärtsdranges edler ist, von allen dreien gilt das koranische Wort: „Mein Herr ist auf einer geraden Straße“ (Sure 11, 56) – jede Manifestation des Absoluten im Konditionierten ist „gerade“!106 Indem Allah in der Gestalt des Großen Adam, des Makrokosmos, sich selber für sich selber zur An-

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schauung brachte, wurde er von tiefer Liebe zu sich selber durchströmt, und das diesseitige Gleichnis für dieses Liebesverhältnis zwischen absolutem und konditioniertem Sein ist die Liebe zwischen Mann und Frau: „Die Gestalt begründet am festesten, am erhabensten und vollkommensten die Beziehung (zwischen beidem)“, lehrt Ibn ʿArabī. „Die Gestalt“, das meint: nicht das Wort, nicht der auf Papier niedergeschriebene oder durch Hören aufgenommene, in wuchernde Auslegungen eingebettete Gesetzestext. „Denn die Gestalt macht aus dem Sein des Einen Wahren ein Paar, so wie die Frau, als sie ins Sein trat, aus dem einen Mann eine gerade Zahl, ein Paar machte. So trat eine Dreizahl in Erscheinung: der Eine Wahre, der Mann, die Frau, und nun sehnte sich der Mann nach dem Einen Wahren, der selber zugleich Ursprung des Sehnens der Frau nach ihm ist. Deswegen entfachte sein Herr in ihm die Liebe zu den Frauen so, wie Allah in Liebe zu dem entbrannte, der von seiner Gestalt war. Die Liebe erfaßte gerade den, aus dem heraus (der Mann bzw. die Frau) gebildet worden war, und (der Mann) liebte den, aus dem er gebildet worden war, nämlich den Einen Wahren.“ Der überzeitliche Vorgang der Selbstanschauung Allahs ist als ein Liebesverhältnis zu begreifen, dem dasjenige zwischen Mann und Frau nachgebildet ist, denn sie wurde aus der Rippe Adams geschaffen.107 So wie Allah im Makrokosmos sich selber anschaut, so der Mann in der Frau, und die Erfüllung dieses Liebesverhältnisses ist die Verschmelzung von Mann und Frau im Geschlechtsakt – so wie der Eine Wahre und der Gottesfreund im Augenblick des Entwerdens, der Abstreifung aller dem Diesseits verhafteten Regungen eins werden. „So gilt, daß die Begierde alle Teile des Mannes erfaßt. Deshalb befahl Allah ihm, sich nach dem Geschlechtsakt zu waschen, so daß ihn dann die rituelle Reinheit ganz erfaßt wie zuvor das Entwerden in der kreatürlichen Geschaffenheit, als die Begierde sich eingestellt hatte. Denn der Eine Wahre ist eifersüchtig auf seinen Knecht und vermeint, daß dieser an etwas anderem als ihm Genuß findet. Deshalb trug er dem Knecht auf, sich zu waschen, damit dieser wieder den Blick auf den richte, in dem er in Wahrheit entworden war, und nichts anderes war (beim Geschlechtsakt) geschehen! Wenn der Mann den Einen Wahren in der Frau schaute, dann ist dies ein Innewerden (Allahs) in dem, was die Wirkungen aufnimmt, und wenn er (Allah) in sich selber schaut, dann ist dies ein Innewerden (des Einen) in dem Bewirkenden – denn aus dem Mann ist die Frau gebildet worden.Wenn der Mann den Einen in sich selber schaut, ohne sich die Gestalt dessen zu vergegenwärtigen, was aus ihm heraus gebildet worden ist, dann bleibt sein Innewerden (Allahs) in dem, was die Wirkungen von seiten des Einen Wahren aufnimmt, ohne jegliches verdeutlichendes Mittel. Wenn er infolgedessen des Einen Wahren in der Frau innewird, dann ist dies die vollkommenste Art, denn er schaut den Einen Wahren sowohl als Bewirkenden wie auch als etwas, das Wirkungen aufnimmt und insofern, als er selber in besonderer Weise einer Wirkung unterliegt.“

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Dies ist nach Ibn ʿArabī der Grund, weshalb Mohammed von der Liebe zu den Frauen umgetrieben wurde. Ibn ʿArabī hat, indem er diese Gedanken entwickelt, einen Ausspruch des Propheten im Kopf, auf den er ein ums andere Mal anspielt: „Im Diesseits ist mir dreierlei lieb geworden: die Frauen, die Wohlgerüche und der Trost, den ich im rituellen Gebet finde!“108 Ibn ʿArabī legt dies alles keineswegs an einer versteckten Stelle seines Werkes dar, sondern im Höhepunkt seiner am weitesten verbreiteten Schrift, der Urbotschaften der Weisheit. In diesem Buch erläutert er, wie die Koinzidenz und Komplementarität des absoluten und des konditionierten Seins im Wirken eines jeden Propheten, angefangen mit Adam, zum Ausdruck kommt. Und den für die Muslime gültigen Ausdruck, der alle vergangenen in sich aufnimmt, fand die Erkenntnis der Heilsbestimmtheit alles dessen, was ist, in der mohammedschen Art ihrer Veranschaulichung – und eben die entwickelt Ibn ʿArabī aus dem erwähnten Wort des Propheten. Die Frauen, so führt Ibn ʿArabī aus, sind für den Mann genau das, was für den Einen Wahren die Natur ist, das Existente, worauf er einwirkt; er bringt darin Gestalten zum Erscheinen, indem die göttliche Fügung sich der Natur bemächtigt – ein „Geschlechtsakt in der Welt der aus den Elementen zusammengesetzten Gestalten; ein Bestreben in der Welt der lichthaften Geister, eine Anordnung bedingender Gegebenheiten um des Erzeugens willen“. – Die von aš-Šaʿrānī verfochtene Vorstellung vom Kosmos scheint sich auf solche Vorstellungen Ibn ʿArabīs zu stützen: Allah geht nach Zusammenhängen vor, die er selber stiftet. Ibn ʿArabī hat hierüber viel nachgedacht und geschrieben. Aš-Šaʿrānī freilich kann diese Kosmologie nur unter dem Vorbehalt der für die Geschöpfe undurchdringlichen Umgrenztheit des Diesseits und der völligen Unkenntnis dessen billigen, was nach dem Endgericht kommt, sowie unter dem Hinweis, man dürfe nie auf den Gedanken verfallen, es gebe nichts außer Allah. Für Ibn ʿArabī hingegen waren das Ende des Diesseits und das Jenseits im Grunde gar keinen Gedanken mehr wert; denn Allah und sein Selbstanschauen, in dem sich sein Schöpfertum offenbart, sind ja komplementär und gleichzeitig!109 – „Der Geschlechtsakt der ersten Vereinzelung ist in jedem dieser Aspekte zugegen“, fährt Ibn ʿArabī fort. „Wer also die Frauen im Bewußtsein dieser Tatsache liebt, der trägt in sich die Liebe Allahs. Wer sie hingegen allein in der natürlichen Begierde liebt, dem mangelt das Wissen von dieser (göttlichen) Begierde, und deshalb ist er beim Geschlechtsakt eine Gestalt ohne Geist; wenn auch (in Wirklichkeit) jene Gestalt im selben Augenblick einen Geist aufweist, so wird dieser von demjenigen, der zu seiner Gattin oder zu einer Frau, welche es auch sei, um des bloßen Genusses willen kommt, nicht wahrgenommen.“110 Soweit Ibn ʿArabī! Die Erziehung zur Gemeinschaft ist der wesentliche Gesichtspunkt, in dem aš-Šaʿrānī von ihm abweicht. Die Öffnung des eigenen Bewußtseins für die den Kosmos gestaltende Liebe Allahs zu sich selber soll der Kern der Bestrebungen des Muslims sein, meint Ibn ʿArabī. Das irdische Handeln des

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Menschen wird von Begierden angetrieben; wenn aber das Bewußtsein für jenes wahre Wesen der Begierden nicht geschärft wurde, dann verharrt man im Diesseitigen, gleichsam wie ein Körper ohne Geist. Dennoch ist der Geist wirksam, freilich unerkannt. Das möchte aš-Šaʿrānī nicht auf sich beruhen lassen. Ein Verfahren der Erziehung enthüllt das Wesen Allahs, enthüllt, daß er sich in der Schöpfung selber erkennt und daß der Mensch und sein diesseitiges Dasein das wesentliche Moment dieser Selbsterkenntnis Allahs darstellen. Das Ziel der Erziehung besteht nicht in der Abrichtung zu einem bestimmten Verhalten; dergleichen wäre auch mit Zwang, mit Prügeln zu erreichen. Es besteht in der Führung des Menschen zu sich selber, zu einem Zustand, in welchem das Gesetz nicht mehr befolgt werden muß, weil es von Allah stammt, sondern weil, indem es befolgt wird, die Verfaßtheit der Welt als des konditionierten Seins geschaut wird, wie aš-Šaʿrānī es im Anschluß an Ibn ʿArabī darlegte. Zu keiner Gelegenheit kann der Mensch dies tiefer erleben als im Augenblick der Vereinigung von Mann und Frau als einer bewußten Transzendierung größter Begierde – Alleinsein und Gemeinschaft in einem. Der Stachel des Nichtwissens dessen, was nach dem Ende solcher Selbstanschauung Allahs kommt, bleibt aš-Šaʿrānī jedoch, die Eschatologie, die alle Heilstrunkenheit mit dem Mal der Vorläufigkeit zeichnet. Ibn ʿArabis Überzeugung, die Entfaltung des konditionierten Seins sei mit dem absoluten koinzident, wurde schon um 1300 vom Sunnitentum verworfen,111 die Möglichkeit, dem Unheil anheimzufallen, von Ibn ʿArabī unter Verweis auf Sure 11, Vers 56, abgestritten, ist für aš-Šaʿrānī drohend und ängstigend wie eh und je – darum sein Beharren auf der Erziehung in der Gemeinschaft. Denn das von der Herde abgesonderte Tier verfällt zuallererst dem Satan.

3.3 Schöpferische Gelehrsamkeit Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich mich oft an die Worte der großen Schulgründer, die zu eigenen Entscheidungen berufen waren (arab.: al-muǧtahidūn), und an die Sufi-Meister hielt und deren Aussagen auf die einleuchtendsten Gründe zurückführte, ebenso die Worte ihrer Nachfolger: Alles deute ich im besten Sinn. Bisweilen gelingt mir dies bei einigen, obwohl ich weiß, daß sie selber gar nicht zu einer solchen Sicht der Dinge vordrangen. Ich nehme dies alles auf mich, nur um zu verhindern, daß man über sie herfällt! Einzelheiten lege ich an anderer Stelle dar. – Hier ist beispielsweise folgendes zu erwähnen: Wenn wir hören, daß ein Großer fleht: „O Allah, halte die bösen Zungen deiner Knechte von mir fern, damit sie mich nicht verächtlich machen!“ dann legen wir dies nicht so aus, als hätte er sich damit die Verehrung der eigenen Person durch die Menschen sichern wollen, sondern verstehen darunter, daß er nicht herabgesetzt werden wollte, weil seine Anhänger nicht aufhören sollten, seine Ratschläge und Mahnungen anzunehmen oder weil niemand eine Sünde begehen sollte, indem er ihn verleumdete…; ebenso wenig hören wir aus jener Bitte heraus, er habe sich in Unterwürfigkeit klein machen wollen, so als hätte er den Menschen sagen wollen:

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„Ein Geringer wie ich kann nicht ertragen, daß die Menschen so über ihn reden!…“112 Ich selber habe mit meinen Neidern genug Erfahrungen gemacht! Jeder Wicht entstellt in meinem Namen schariatische Fragen, die ich so nie erörtert habe, schreibt sie dann auf und bittet andere Rechtsgelehrte um ein Fetwa hierzu, das dann entsprechend der verdrehten Frage ausfällt. Die Ausfertigungen mit den Unterschriften der Gelehrten läßt man dann zirkulieren, und daraus entsteht mir ein schlimmer Lohn, dessen Summe ich wegen der Fülle der ungerechtfertigten Anwürfe gegen mich und meine Ehre gar nicht mehr zählen kann!… Aus dem, was ich berichte, ergibt sich, daß ein Mufti nicht voreilig ein Gutachten über eine schariatische Frage niederschreiben soll, die mit einem noch lebenden Kollegen im Zusammenhang steht, vor allem wenn er Hinweise darauf hat, daß der Frager ein Feind desjenigen ist, den die Frage betrifft. Durch eine vorschnelle Niederschrift entsteht großer Schaden, denn schon eine solche gegen jemanden gerichtete Bitte um ein Fetwa ist wie die Niederschrift, und wenn die Anfrage als ein Indiz für eine geringe Glaubenstreue angesehen wird, dann gilt das Fetwa gewiß als Beweis! Im Jahre 957 (begann am 20. Januar 1550) mußte ich erleben, wie jemand, der nicht gottesfürchtig ist, über mich die Lüge in Umlauf setzte, ich hätte für mich die Fähigkeit der eigenständigen freien Entscheidungsfindung (arab.: al-iǧtihād) in Anspruch genommen, so wie einer der vier Schulgründer. Frage nicht, Bruder, wie die Menschen da meine Ehre beschmutzten! Möglicherweise weckte ihren Argwohn, daß ich zahllose Fragen im Namen dieser Schulgründer beantwortete; man konnte also sehen, wie ich für eine Rechtsmeinung die Gründe der einen und der anderen Rechtsschule ermittelte, ganz so, wie es deren Anhänger getan hätten. So dürften meine Gegner dies alles mit ihrem verqueren Sinn ganz mißverstanden haben, obschon ich – Allah sei es gedankt! – niemals spontan im Namen eines Schulgründers antwortete, sondern stets erst, nachdem ich dessen Beweise studiert hatte… Ähnliches verbreitete man einst auch über Ǧalāl ad-Dīn as-Sujūṭī (gest. 1505). Tatsache ist, daß er nur die abhängige eigenständige Entscheidungsfreiheit beanspruchte. Die Fähigkeit, in Fragen der Scharia zu eigenen Entscheidungen zu gelangen, ist nämlich von zweierlei Art: frei und unabhängig, wie sie für die vier Schulgründer anzunehmen ist und nach diesen nur noch durch Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (gest. 923) beansprucht wurde, ohne daß man sie ihm zugestanden hätte; frei und abhängig, wie sie für (die herausragenden Gelehrten einer jeden Schule) anzunehmen ist. Diese entscheiden zwar eigenständig, aber abhängig. Dies habe ich in einer Schrift aus as-Sujūṭīs eigener Feder gelesen… Allerdings erlangt nach der Auffassung der Leute des Pfades schon der Zögling die Fähigkeit zu eigenständiger Entscheidung, und die Erkennenden haben sie ohnehin. Ibn ʿArabī drückt dies in den Mekkanischen Eröffnungen… so aus: „Wenn der Adept den Standplatz der Fähigkeit zu eigenen Entscheidungen in den Fragen der Scharia erreicht, soll er dann noch unter der Herrschaft seines Meisters bleiben, oder soll er sich diesem widersetzen? Beides wurde vertreten, ich aber meine, daß er unter der Herrschaft des Meisters bleibt, bis dieser ihn zum Wissen der Gewißheit, zur Essenz der Gewißheit, zur Wahrheit der Gewißheit emporführt.“ Ohne Zweifel geht dies noch über den Standplatz der eigenständigen Entscheidungen hinaus, denn in den Einzelfällen erreichen letztere doch nur den Grad des wahrscheinlich Richtigen. Allah nämlich bewahrt alle unsere Brüder davor, einen der Schulgründer und deren Nachahmer zu tadeln. Auch mich bewahrte Allah hiervor, und ich kenne unter meinen Zeitgenossen niemanden, der häufiger als ich für die Schulgründer und deren Nachahmer geantwortet hat; es verhält sich also ganz anders, als es die Neider über mich verbreiten! Wenn jemand, der nicht vom Parteigeist getrübt ist, in meinem Lehrvortrag säße und mir die Aussagen, die jede der Rechtsschulen zu einer bestimmten Frage macht und die in den Augen anderer als widersprüchlich gelten, vorlegte, dann würde ich sie ohne Haarspalterei

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miteinander in Einklang bringen. Als ich ein junger Mann war, erschien mir Abū Ḥanīfa, der größte Imam, im Traum; ihm zur Linken saß der Imam Mālik, und ich stand vor beiden; Mālik sagte zu Abū Ḥanīfa: „Niemand hat in unserem Namen so viele Antworten in Rechtsfragen gegeben wie dieser junge Mann.“ Darüber war ich hocherfreut.113

*** Grundsätzliches zum islamischen Recht – Die Uneinheitlichkeit der schariatischen Normen – Der Überlegenheitsanspruch der Hanafiten – Aš-Šaʿrānīs Harmonisierungsversuche – Gottesfreundschaft, die Überwinderin des Zwistes der Rechtsschulen – Ibn ʿArabīs Ansehen bei den osmanischen Sultanen – Schöpferische geistige Arbeit – Die Beschränktheit der Schriftgelehrsamkeit – Die Erkenntnisweise der Gottesfreunde – Sündlosigkeit und Unfehlbarkeit der Prophetenfamilie – Das Wissen der Prophetenfamilie – Von Ibn ʿArabī zu aš-Šaʿrānī – Aš-Šaʿrānī rechtfertigt sich

Grundsätzliches zum islamischen Recht Daß Neid und Mißgunst das Verhältnis der Fachgelehrten zueinander vergiften, ist nicht außergewöhnlich. Die Mittel, mit denen man seine Feindschaft austrägt, sind höchst unterschiedlich und der jeweiligen Kultur und Epoche angepaßt. Allahs offenbartes Wort, der Koran, und die durch den Einen Wahren inspirierten Taten und Worte Mohammeds, die im ḥadīṯ überliefert werden, sind die Quellen, aus denen sich die Gründer der Rechtsschulen je ein eigenes System der Scharia schufen. Jedes dieser vier Systeme ist in sich wahr, eben weil es von Allah her seinen Ursprung nimmt. Das Werk der Schulgründer wurde von bedeutenden Gelehrten fortgesetzt, die freilich nicht mehr in gänzlicher Unabhängigkeit arbeiten konnten, sondern den Prinzipien folgen mußten, die durch denjenigen unter den Vieren, in dessen Tradition sie jeweils standen, festgelegt worden waren bzw. festgelegt worden sein sollten. Mit anderen Worten: Seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert kann man die Schariawissenschaft nur noch als Hanafit, Malikit, Schafiit oder Hanbalit betreiben. Schon aṭ-Ṭabarī bemühte sich vergeblich, eine eigene Schule ins Leben zu rufen. Die vier waren, so meinte man, noch von niemandem in ihren eigenständigen Entscheidungen abhängig gewesen, die Gelehrten nach ihnen hatten nur noch die Möglichkeit, innerhalb eines vorgegebenen systematischen Rahmens eigenständig nach Lösungen zu suchen; Nachahmer sind die zahllosen Muslime, die die Entscheidungen der Schulgründer und ihrer gelehrten Interpreten annehmen und befolgen müssen. So lautet in aller Kürze die sunnitische Auffassung von der Geschichte des Rechts und der Herausbildung der von ihm geprägten muslimischen Gesellschaft. Der ganze von Allah gesteuerte Kosmos ist ununterbrochen auf den Einen Wahren ausgerichtet und singt dessen Lob. Das hatte aš-Šaʿrānī in jener Nacht des Jahres 1517 erfahren, als sein Geist in das Überbewußtsein emporgehoben worden

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war. Dem Menschen allein gesteht der Schöpfer das zweifelhafte Privileg zu, auch in der Abgewandtheit von ihm zu leben – dies freilich nur, damit erkennbar werde, daß dem von Allah ausgehenden Bestimmen nicht nur das Sein, sondern auch das Seinsollen zuzusprechen ist. Ohne die von Allah absichtsvoll mittels der Taten und Worte, die an einzelnen Menschen in Erscheinung treten, hervorgebrachten Verstöße gegen die von ihm selber gesetzten Normen gäbe es den Unterschied zwischen richtig und falsch nicht. Die Scharia wäre mithin nicht nur unverstehbar, sondern tatsächlich ohne jeden Sinn. So aber vermag der Eine Wahre sich selber als Gesetzgeber zu erkennen, ganz so wie er sich dank der Komplementarität von absolutem und konditioniertem Sein erst eigentlich in den Stand setzt, sich als allmächtigen Schöpfer zu begreifen. Das konditionierte Sein, dem der Mensch angehört, dient Allah zur Wahrnehmung seines Schöpfertums; und indem sich am Menschen auch Regungen der Abgewandtheit von Allah manifestieren können, leistet er dem Einen Wahren noch einen darüber hinausreichenden Dienst: Allah erfährt sich als den Stifter von Normen. Daß diese Normen in keiner dem Menschen faßbaren Beziehung zum absoluten Sein Allahs stehen können, leuchtet ein.Was die Scharia, ihre Befolgung oder Verletzung, für das Jenseitsschicksal des einzelnen Menschen besagen, läßt sich angesichts der Umgrenztheit der jetzigen Welt, des offenkundigen und des verborgenen Bereichs göttlichen Schaffens, nicht ermitteln. Jedoch ist gewiß, daß der Mensch seinem Schöpfer in dem beschriebenen Sinn dient, sofern er genau den Unterschied zwischen seinen gesetzeskonformen und seinen die Scharia verletzenden Taten erwägt. Da Allah zudem bei der Lenkung des Kosmos ein freilich nicht näher bestimmbares Maß an Regelhaftigkeit einhält, darf der Mensch sich selber in einer – wenn auch scheinhaften – Verkettung von Ursachen und Wirkungen wähnen, die gemäß der ihm durch Allah ermöglichten diesseitigen Bewertung richtig oder falsch, geboten oder verboten sind. Was diese Urteile im Hinblick auf jene mit dem Gericht anbrechende Ewigkeit bedeuten, bleibt ihm verhüllt. Nichtsdestoweniger hat er die Pflicht, sich trotz der nur virtuellen Kausalität des Kosmos schon hier und jetzt den Forderungen der Scharia anzubequemen, damit sein Dasein ganz zu dem Einen Wahren hingewandt werde – gleich dem der übrigen Geschöpfe – und damit sein Sein sich mehr und mehr dem Seinsollen annähere. Das islamische Recht nimmt demnach seinen Anfang von der Heilsbotschaft des Korans: Der Mensch ist, wie alle Schöpfung, unmittelbar zu Allah. Dies ist die ursprüngliche Wesensart, in der der Mensch gestaltet wurde, und diese Wesensart ist unabänderlich und unzerstörbar (Sure 30, 30). Aber sie kann verdeckt werden und ihm aus dem Blick geraten. Er ist sich dann nicht mehr der Grundlage seines Daseins bewußt, versucht, über den ihm zugedachten Lebensunterhalt hinauszugreifen, übt Macht über andere aus und erweist sich dabei als Missetäter, wählt sich womöglich falsche, nichtige Götter und betet sie an. Abraham fand den Weg von der

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Vielgötterei zur Verehrung des Einen Wahren, und in seiner Nachfolge alle Muslime. Im rituellen Gebet treten sie vor das Angesicht ihres Schöpfers und bezeugen, daß sie nicht wieder hinter die abrahamische Gotteserkenntnis zurückfallen. Der Kern des islamischen Rechts regelt daher die Riten. Doch erfaßt es den ganzen Lebensvollzug, um ihn nach Maßgabe der abrahamischen Erkenntnis zu formen. Die Verpflichtung, den Alltag im Angesichte Allahs und stets zu ihm gewandt zu bestehen, ist leicht ausgesprochen, desgleichen die Behauptung, der Kanon der Vorschriften, die über die vier Schulgründer auf den Propheten und infolgedessen auf Allah selber zurückgehen, halte eine Lösung für alle auftauchenden Probleme bereit. Die Wirklichkeit sieht anders aus; denn schon in elementaren Fragen weichen die Lehrmeinungen der Schulen weit voneinander ab. Dem schlichten Muslim, der den Gelehrtenstreit nicht durchschauen kann, aber sehr wohl spürt, daß es um sein Jenseitsverdienst geht, bleibt eine bedrückende Ungewißheit darüber, wie er handeln solle, um die Anwartschaft auf das Paradies nicht zu verspielen. Die Uneinheitlichkeit der schariatischen Normen Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Die Vorbedingung für den Vollzug jeglicher Gottesverehrung ist der Erwerb der rituellen Reinheit. Die vier Schulen stimmen darin überein, daß sie mit Wasser hergestellt werden muß, sofern es vorhanden ist und zu dem genannten Zweck genutzt werden kann. Das Wasser der großen Ströme, sei es süß oder brackig, darf man verwenden, da ihm eine dem Quellwasser gleichkommende reinigende Wirkung zugesprochen wird. Doch beginnen hier schon die Meinungsverschiedenheiten. Denn einzelne Gelehrte bestreiten diese Annahme und wollen den Gebrauch von Wasser aus den großen Flüssen oder aus dem Meer allein in Notfällen zulassen, ja halten sogar die im Koran nur beim Fehlen von Wasser gestattete Reinigung mit Sand (Sure 4, 43; Sure 5, 6) für tunlich. Abū Ḥanīfa und seine Schule sind im übrigen der Auffassung, daß mit „Wasser“ jede Flüssigkeit gemeint sei, die eine Verunreinigung der Haut oder der Kleidung beseitigt, also beispielsweise auch Essig, während die anderen drei Schulen dies entschieden verneinen; es komme nicht darauf an, daß der Zweck, die Reinheit, auch mit anderen Flüssigkeiten als Wasser erzielt werden könne, sondern allein darauf, daß Allah in den Vorschriften nur von Wasser spreche und ersatzweise den Gebrauch von Sand erlaube. Anders als die übrigen Schulen lehren die Hanafiten, daß auch das Sonnenlicht und das Feuer eine rituelle Unreinheit beseitigen; so wird das Fell, das man einem verendeten – und daher unreinen – Tier abzieht, nach hanafitischer Ansicht bereits rein, wenn man es in der Sonne zum Trocknen aufspannt; die anderen Schulen verlangen dagegen, daß es gegerbt wird. – Wie groß muß nun die Menge sauberen stehenden Wassers sein, um rituelle Verunreinigungen aufzunehmen? Diese Frage wird ganz unterschiedlich beantwortet,

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und auch innerhalb der einzelnen Schule schwanken die Angaben. Die Malikiten empfehlen denn auch, man solle schauen, ob Aussehen und Geruch des Wassers sich verändert hätten, und wenn dies der Fall sei, dann dürfe man es nicht mehr verwenden. – Haben fließendes und stehendes Wasser die gleiche reinigende Wirkung? Die Hanafiten, Hanbaliten und die neueren Schafiiten bejahen dies grundsätzlich, während die Malikiten sagen, auch fließendes Wasser könne rituell unrein, also unbrauchbar werden, man müsse es von Fall zu Fall prüfen. – Schließlich ist zu klären, ob man unrein wird, sobald man mit Wasser in Berührung kommt, das bereits für eine rituelle Waschung benutzt wurde. Die Hanafiten lehren, solches Wasser sei zwar noch rein, aber nicht mehr reinigend, eine Meinung, die die Schafiiten und Hanbaliten im wesentlichen teilen; die Malikiten halten es für reinigend, solange, wie angedeutet, eine Verschmutzung nicht erkennbar ist.114 – Schon die erste Voraussetzung für die Ausführungen der Riten in der von Allah geforderten Weise ist alles andere als klar, und die vier Schulen stehen sich nicht in brüderlicher Duldsamkeit gegenüber, sondern in bisweilen erbitterter Rivalität! Was also soll der Kairoer tun, wenn er sich fünfmal am Tag pflichtgemäß rituell reinigen will? Darf er auf die Malikiten hören und zur Waschung immer dasselbe Wasser nehmen, bis es sich „verändert“ hat? Muß er darauf achten, daß das Becken in der Moschee groß genug und immer voll ist? Und wenn er ein Handwerker ist, der mit Fellen umgeht, soll er dann den Hanafiten folgen? Fragen über Fragen, deren Beantwortung tief in den Alltag eingreift! Man rufe sich nur ins Gedächtnis, daß die meisten Bewohner Kairos auf das Wasser angewiesen waren, das in Schläuchen auf Tragtieren vom Fluß, dessen Bett weit westwärts der Stadt lag, herbeigeschafft wurde. Und es ist streng verpönt, sich für jede Lebenslage aus einer der vier Rechtsschulen die angenehmste Lösung herauszupicken! Nicht nur zu den rituellen Handlungen sagen sie höchst Unterschiedliches aus. Sich gegenseitig ausschließende Meinungen beherrschen alle übrigen Gebiete des Rechts, die Verpachtung von Land, die Indienstnahme von Arbeitskräften, den Kaufvertrag usw. Was also ist in jedem Einzelfall Allahs Wille? Im Jahre 1378 hatte in Palästina ein nicht näher bekannter Rechtsgelehrter einen Überblick über die Meinungsverschiedenheiten der vier Schulen geschrieben, den Stoff nach Sachgebieten geordnet, jedoch auf die Darlegung der Gründe, die die Anhänger einer jeden Richtung für ihre Vorschriften anführen, verzichtet. Die Kenntnis dessen, worin man sich einig sei und worüber man streite, sei für jeden, der nach einem eigenständigen Urteil suche, unerläßlich, erklärte der Verfasser im Vorwort.115 Diese Bemerkung deutet eine gewisse Unzufriedenheit an; die Urteilenden, die mit der Rechtspflege Betrauten, werden ermuntert, von außerhalb ihrer jeweiligen Schule auf die mannigfachen, oft widersprüchlichen Bestimmungen zu blicken. Der Organisation der Rechtspflege, wie sie über Jahrhunderte gewachsen war, entsprach eine solche Freiheit ganz und gar nicht. Alle Ämter waren viermal

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vorhanden, und der Zwist unter den Amtsinhabern war eine unerläßliche Voraussetzung für den Fortbestand der viererlei Pfründen. Allerdings war das Ansehen, das eine jede der Schulen genoß, nicht überall in der islamischen Welt gleichmäßig verteilt. In Ägypten waren die Schafiiten, deren Schulgründer in Kairo verehrt wurde, am beliebtesten; Hanbaliten und Malikiten konnten nicht gegen sie aufkommen, erst recht nicht die Hanafiten, die in der östlichen Hälfte der islamischen Welt das Übergewicht hatten. Mit den Mamluken, die bis ins 14. Jahrhundert meist im weitesten Sinne türkischer Herkunft waren, gewannen die Hanafiten jedoch in Ägypten an Bedeutung. Gegen 1400 erlangten sie die Gleichrangigkeit mit den übrigen Richtungen; seit 1371 durften die Hanafiten in allen Provinzstädten des Mamlukenreiches amtieren.116 Daß die osmanische Eroberung eine weitere kräftige Unterstützung für die Hanafiten Ägyptens mit sich brachte, wurde schon angedeutet. Nicht nur aus Gründen der jüngsten Rechtsgeschichte Ägyptens und Syriens spricht al-ʿUṯmānī ad-Dimašqī, jener palästinensische Autor, in seinem kleinen Handbuch stets von den „drei Namen“, wenn er Mālik b. Anas, aš-Šāfiʿī und Aḥmad b. Ḥanbal meint und ihnen die Hanafiten gegenüberstellt.117 Letztere sind die älteste Schule und zeichnen sich vor den anderen dadurch aus, daß sie in nicht ganz so nachdrücklicher Weise alle schariatischen Vorschriften aus dem Koran und der Prophetenüberlieferung ableiten. Sie gewähren den Erwägungen der Ratio etwas mehr Spielraum; im obigen Beispiel wird er daran erkennbar, daß sie zur Herstellung ritueller Reinheit neben Wasser auch andere Flüssigkeiten zulassen, sofern diese dem Zweck, nämlich der Beseitigung von Schmutz, dienlich sind. Seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert wurde gerade über diesen Punkt zwischen den Hanafiten und Schafiiten heftig und nicht immer sehr sachlich gestritten. Es steht denn auch etwas ganz Grundsätzliches zur Debatte, nämlich die Frage, ob die Tragweite schariatischer Bestimmungen an innerweltlichen Kriterien abgelesen werden darf, was die Hanafiten bis zu einem gewissen Grad befürworteten, oder ob eine solche Auslegung der Prinzipien des göttlichen Gesetzes unter Hinzuziehung der dem Menschen zugänglichen Kenntnisse vom Diesseits zu verwerfen sei. Dies meinten die Schafiiten und beriefen sich zur Begründung ihrer ablehnenden Haltung auf zweierlei: In der frühen – aschʿaritischen – Theologie gibt es keine innerweltliche Kausalität, und ein Mensch, der sich als ein wenn auch zweitrangiger Gesetzgeber betätigt, frevelt gegen den Knechtsstatus, den der Schöpfer ihm zugedacht hat.118 Der Überlegenheitsanspruch der Hanafiten Die Frage nach dem Verhältnis der Hanafiten zu den übrigen Rechtsschulen stellte sich in Ägypten nach dem Sieg Selims in aller Schärfe, wie bereits festgestellt wurde,

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und ganz besonders nach den Ereignissen von 1524, als mit dem Abenteuer des Albaners Aḥmad die Hoffnung auf die Herauslösung Ägyptens aus dem Osmanischen Reich gescheitert war. Eine Politik der Restauration mamlukischer Verhältnisse, abgesichert durch die unbedingte Loyalität gegen den Sultan in Konstantinopel, war nicht mehr möglich. Ein Gottesfreund wie aš-Šaʿrānī, der in Anlehnung an die Lehren Ibn ʿArabīs die im Verborgenen von Allah gewirkte Regelhaftigkeit des Diesseits durchschaute und deshalb die übrigen Muslime zur Anpassung an die schariatische Explizierung dieser Regelhaftigkeit zu erziehen hoffte, mochte nicht zuletzt dank seiner Einblicke in jenen Bezirk göttlicher Fügung zu der Auffassung gelangen, daß die hanafitische Schule mit seinen Überzeugungen besser übereinstimmte als die anderen drei. Eben in den Besitz einer eigenen Klause gelangt, schlug sich aš-Šaʿrānī jedenfalls auf die Seite der Osmanen. Dies alles vertraute er seiner Lebensbilanz an, die er im Februar 1554 fertigstellte.119 Im Jahr zuvor, so klagte er, war der Neid gegen ihn erneut aufgeflammt, da er über gute Verbindungen zum Statthalter ʿAlī Pascha verfügte; die Überprüfung der Eigentumsverhältnisse, die 1551 durchgeführt worden war, hatte aš-Šaʿrānī allem Anschein nach unbehelligt überstanden.120 Alle Kritik an der hanafitischen Schule habe er stets, wie er selber hervorhebt, energisch zurückgewiesen. Einer seiner Kollegen habe ein Heft mit den Unzulänglichkeiten Abū Ḥanīfas angefüllt und dieses Werk aš-Šaʿrānī vorgelegt; der aber habe sich nicht aus der Reserve locken lassen, sondern den Verfasser aus dem Haus gejagt. Nicht lange danach, fügt aš-Šaʿrānī befriedigt hinzu, sei jener von einer Leiter gestürzt und vegetiere seitdem als ein elender Krüppel dahin.121 Alle Schulgründer sind in gleicher Weise der Kritik der Spätgeborenen enthoben, so lautet der Standpunkt, den aš-Šaʿrānī damals verficht. In seiner Lebensbilanz erläutert er ausführlich, wie er dies versteht: Ihre Meinungen, mögen sie auch unterschiedlich sein, lassen sich auf einen Nenner bringen. Man muß nur das nachtragen, was alʿUṯmānī ad-Dimašqī wegließ, nämlich die jeweiligen Begründungen. Beobachten wir aš-Šaʿrānī dabei ein wenig! Aš-Šaʿrānīs Harmonisierungsversuche Darf man ein und dasselbe Wasser mehrfach verwenden, um sich rituell zu reinigen? Die Hanafiten, Schafiiten und Hanbaliten verneinten dies, die Malikiten machten die Entscheidung davon abhängig, ob sich die Beschaffenheit des Wassers erkennbar verändert hat. Aš-Šaʿrānī meint, die erstgenannte Ansicht gründe auf dem ḥadīṯ, genauer gesagt, auf dem Fehlen einer Überlieferung, die die mehrmalige Benutzung des Wassers gestatte; die Gefährten Mohammeds hätten auf den Feldzügen das Waschwasser nicht aufgefangen, sie hätten stattdessen bei der nächsten Reinigung, wie im Koran vorgesehen ist, Sand verwendet. „Vor allem aber sind die Sünden in das benutzte Wasser hineingefallen, wie dies in einer Überlieferung

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gesagt wird. Nach schariatischer Bewertung ist das Wasser demnach verschmutzt.“ Aš-Šaʿrānī spielt auf ein bekanntes, in mehreren Fassungen umlaufendes Ḥadīṯ an: „Wenn der Mensch die rituelle Reinigung vollzieht und sich dabei die Hände wäscht, dann fallen die Sünden ihm vor die Hände; wenn er sich das Gesicht wäscht, dann fallen ihm die Sünden aus dem Gesicht. Wäscht er sich die Unterarme und streicht sich mit den Händen über den Kopf, dann fallen sie ihm aus den Armen und vom Kopf, und wäscht er sich die Füße, dann fallen sie ihm von den Füßen. Wenn er sich zum Gebet aufstellt und dabei im Herzen und im Gesicht oder mit dem ganzen Körper bis hin zum Gesicht zu Allah gewendet ist, dann wird er den Gebetsplatz (frei von allen Sünden) verlassen, so wie an dem Tag, an dem ihn seine Mutter geboren hat.“122 Nimmt man dieses Prophetenwort ernst, dann kann die malikitische Ansicht, erst das Wasser, dessen Verschmutzung man mit den Sinnen wahrnehme, sei zu weiterem Gebrauch ungeeignet, nicht gebilligt werden; es ist doch gar nicht von „materiellem“ Schmutz die Rede, der, wie aus der bereits dargelegten Verfaßtheit des Kosmos folgt, nur die offenkundige Erscheinungsform einer verborgenen Gegebenheit ist. Aš-Šaʿrānī fährt darum fort: „Es verbietet sich deshalb für den Gläubigen, sich mit dem einmal verwendeten Wasser zu reinigen; denn die rituelle Reinigung hat die Aufgabe, die Reinheit und Heiligung des Leibes zu fördern; die Verwendung von Wasser, das mit Sünden versetzt ist, fördert jedoch die Verschmutzung. Zöge man vor dem Menschen den Vorhang weg, dann nähme er das gebrauchte Wasser in dem Becken, das man zur Waschung aufsucht, wie ein Wasser wahr, in das viele verendete Tiere, etwa Hunde, Schweine, Esel, Insekten gefallen sind – je nach den unterschiedlichen Widersetzlichkeiten gegen Allah wie Ehebruch, Sodomie, Genuß von Wein, üble Nachrede, Verleumdung, Anschwärzen der Mitmenschen bei den Herrschenden und anderen großen und kleinen Sünden und den verabscheuungswürdigen Handlungen, die sich durch Waschung vom Menschen lösten. Darum erbarme sich Allah des Imams Abū Ḥanīfa, der mit seinen drei Äußerungen die großen und die kleinen Sünden und das Verabscheuungswürdige zusammenfaßte! Denn er sagte: ‚Das verwendete Wasser hat den Status der schweren rituellen Unreinheit.‘ Ein anderes Mal sprach Abū Ḥanīfa von einer mittleren Verunreinigung, ein drittes Mal bezeichnete er das gebrauchte Wasser als rein, aber nicht reinigend.“ – Die drei Beurteilungen, die man Abū Ḥanīfa zuschreibt, nehmen in der Auslegung aš-Šaʿrānīs auf die Schwere der in ihnen „gelösten“ Verfehlungen Bezug; bedenkliche, von der Scharia nicht verbotene, jedoch als abscheulich eingestufte Handlungen begehen alle Menschen; infolgedessen ist es ratsam, bei jeder rituellen Waschung neues Wasser zu suchen, denn die reinigende Kraft hat das zuvor verwendete auf alle Fälle eingebüßt. Die Vorsicht gebietet, es stets als stark verunreinigt zu betrachten. Überdies kontaminiert eine einzige Sünde das gesamte zusammenhängende Quantum an Wasser, in das sie hineinfällt, im Prinzip den ganzen Ozean, wenn sie in ihm abgewaschen würde! Aš-Šaʿrānī lobt

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daher die Hanafiten, die sich gegen die Waschung an den Becken in den Medressen aussprachen. – Sein hanafitischer Kollege Ibn Nuǧaim schrieb zu dieser Frage, die damals anscheinend heiß umstritten war, im Jahre 1544 eine Abhandlung, die allerdings nicht ohne weiteres zu dem von aš-Šaʿrānī befürworteten Schluß gelangt; denn sofern das nur leicht verunreinigte Wasser nicht die Menge des frischen übersteigt, hat Ibn Nuǧaim keine Bedenken gegen die Verwendung einer solchen Mischung.123 Doch kann sich aš-Šaʿrānī insofern bestätigt fühlen, als ein mit schweren Sünden verschmutztes Wasser natürlich nicht dem frischen beigemengt werden darf und Vorsicht angebracht ist. Bei der Frage, mit der sich Ibn Nuǧaim beschäftigte, drehte es sich überdies um die Becken in Medressen. Man könnte argumentieren, daß an solchen Orten die Schüler zwischen den Gebetszeiten gar nicht die Gelegenheit haben, kleine oder gar große Sünden zu begehen, so daß man dort auf jene Zurückhaltung verzichten könnte. Womöglich steckt dieser Gedankengang unausgesprochen hinter aš-Šaʿrānīs Bemerkung, die Hanafiten seien zu rühmen, weil sie die Aufstellung von Waschbecken in den Moscheen verbieten. – Welchen Grund führen nun die Rechtsgelehrten an, die die Nutzung gebrauchten Wassers erlauben? Die Verschmutzung des Wassers kann mit Hilfe der fünf Sinne nicht erkannt werden. Allein Visionäre sind in der Lage, diesen Sachverhalt zu schauen. Die gewöhnlichen Menschen dürfen sich aber in jedem Fall auf ihre Sinne verlassen und, wie die Malikiten lehren, jedes „materiell“ reine Wasser zur rituellen Waschung verwenden. Allerdings sind nach aš-Šaʿrānī die Hanafiten nicht in jeder Hinsicht vorbildlich, lassen sie doch außer Wasser auch andere reinigende Flüssigkeiten zu. Warum ist das unannehmbar? Er führt dazu aus, daß Pflanzensäfte nicht den Zweck erfüllen können, um dessentwillen das Gebot der rituellen Reinheit erlassen worden sei – der Mensch soll in erquicktem Zustand, mit einem „lebendigen Körper“, vor den Schöpfer treten. Pflanzensäfte haben aber nur eine geringe „Geisthaltigkeit“; das Wasser, das in den Gewächsen aufsteigt, ist zwar in dem üblichen Maß „geisthaltig“, doch wird in der Pflanze diese Qualität auf den sich entwickelnden Samen konzentriert, dem Saft also entzogen.124 – Aš-Šaʿrānī hat mit diesen Überlegungen, wie er glaubt, die Gründe für die voneinander abweichenden Lehrmeinungen aufgezeigt. Worin aber liegt die verbindende Idee, um deretwillen er diese Arbeit unternimmt? Er schweigt sich in seiner Lebensbilanz hierüber aus. Es wird aber klar, daß alle einander widerstreitenden Auffassungen von der Sorge bestimmt werden, es könnte dem Muslim mißlingen, rein von Sünden und „erfrischt“ vor Allah zu treten, um ihn zu verehren. Um nichts falsch zu machen, ist es ratsam, sich die Sondermeinungen allesamt zueigen zu machen, damit gewiß erfüllt werde, was alle Rechtsschulen gemeinsam als den Sinn der schariatischen Vorschriften zur rituellen Reinheit erkannt haben. Die Meinungsverschiedenheiten sollen nicht dazu dienen, die Anhänger der jeweils anderen Richtungen herabzusetzen oder gar des

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Unglaubens zu zeihen. Sie sollen vielmehr das verschiedenartige Ringen einer jeden Schule um die Erreichung desselben Zieles bezeugen, weshalb man tatsächlich davon sprechen kann, daß der Dissens die Barmherzigkeit Allahs mit den Muslimen belegt. Die gewöhnlichen Rechtsgelehrten, denen das Verborgene unzugänglich bleibt, sind bedauerlicherweise nicht fähig, dies zu begreifen, und halten sich am äußeren Sinn der Wörter fest, die jedoch nicht eine offenkundige, sondern eine verhüllte Wahrheit meinen. Und so verbeißen sich die Juristen in einen völlig verfehlten Zwist und versetzen den gemeinen Mann in Angst und Schrecken.Wieder ist es Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, der für aš-Šaʿrānī die Sache auf den Punkt bringt: „Den Vollkommenen verhüllt und verrätselt Allah seine Rede nicht, zu ihnen spricht er in Worten, die das Fassungsvermögen der Gelehrten und der Laien umgreifen. Denn Verhüllung und Allegorien sind die Überbleibsel der Seelen!“125 – der zu zähmenden, gegen die Scharia gerichteten Triebe mithin. Gottesfreundschaft, die Überwinderin des Zwistes der Rechtsschulen Die Gottesfreundschaft nimmt dem Streit der Schulen die Schärfe. Der Bruder Afḍal ad-Dīn, den aš-Šaʿrānī in seinen Schriften oft zu Worte kommen läßt, zieht daraus die Konsequenzen: Sobald Rechtsgelehrte den „Pfad der Leute“ betreten, haben sie auf allen Zank darüber zu verzichten, welcher der vier Schulgründer der vortrefflichste sei. Afḍal ad-Dīn vergleicht die Scharia mit einem Meer, und es sei belanglos, an welchem Ufer man stehe und daraus schöpfe – es bleibe ein und dasselbe Meer; und Allah habe das Gesetz allen mitgeteilt, den Engeln, Gottesfreunden, Propheten genauso wie der Masse der einfachen Muslime, desgleichen den Andersgläubigen. Nur wenn jemand einen eindeutigen Text sinnwidrig auslege, müsse man einschreiten. Und nur in einem solchen seltenen Fall könne man feststellen, welche Schule im Recht sei, nämlich diejenige, die den Text uneingeschränkt gelten läßt. Für die vielen Ungelehrten folgt aus all dem die Pflicht, sich einer Rechtsschule ohne Wenn und Aber anzuschließen und sich niemals durch das Gezänk der Fachleute irremachen zu lassen.126 Auch aš-Šaʿrānī selber beteuerte, daß er niemals aus bloßem Übermut die Rechtsgelehrten seiner Zeit kritisiert habe, sondern nur dann, wenn es um die Wahrung klarer schariatischer Vorschriften gegangen sei.127 Allerdings hatte aš-Šaʿrānī auch einräumen müssen, daß man ihn verdächtigte, er wolle sich die Fähigkeiten der vier großen Schulgründer anmaßen, und das ist doch etwas anderes als die harmlose, wenn auch in den Augen mancher Gelehrter ärgerliche Behauptung, alle Schulen seien in gleicher Weise im Recht. Die Streitigkeiten verschärften sich derart, daß sogar der Sultan in Konstantinopel mit ihnen befaßt werden mußte. Aš-Šaʿrānī teilt in der Lebensbilanz darüber folgendes mit: Im Frühjahr 1541 trat er eine Pilgerreise an; unterwegs erfuhr er, daß man ihm unterstellte, er habe ein Rechtsgutachten verfaßt, dessen Inhalt mit den Lehren keines

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der vier Schulgründer übereinstimme; er habe behauptet, es sei dem Muslim erlaubt, das rituelle Gebet vor dem schariatischen Zeitpunkt zu vollziehen, wenn triftige Gründe dies nahelegten. Als aš-Šaʿrānī nach Kairo zurückkehrte, hatte die Nachricht von seiner angeblichen Irrlehre schon überall die Runde gemacht; man sah ihn schief an, und seine Anhängerschaft hatte manch böses Wort zu erdulden. Am 2. Šauwāl 941 (6. April 1535) hatte aš-Šaʿrānī die erste Fassung des Erquikkenden Nilwassers fertiggestellt, einer Sammlung von Verpflichtungen, die Gottesfreunde ihren Adepten abnehmen, um sie im Sinne der uns schon bekannten Ideale zu erziehen. Die meisten Verpflichtungen stammten, wie aš-Šaʿrānī unumwunden einräumt, von dem ungelehrten Palmblattflechter,128 auf dessen Spuren man überall in seinen Schriften trifft. Daß das Erquickende Nilwasser die Gelehrtenschaft Kairos spaltete und einen über Jahre währenden Zwist auslöste, wurde schon angedeutet. Vor allem das Vorwort war auf so heftige Ablehnung gestoßen, daß er sich nach zwei Jahren entschloß, es gegen ein anderes auszutauschen, das sich auch in der in Bulaq gedruckten Ausgabe findet, die auf einer erst sehr viel später von aš-Šaʿrānī überarbeiteten Fassung beruht. Sie ist um eine Übersicht über die Schriften ergänzt, die er von as-Sujūṭī überliefern durfte, und nennt als letztes Datum den 14. Raǧab 962 (4. Juni 1555), den Tag, an dem der Autor einem Meister Nūr ad-Dīn eine Überlieferungslizenz erteilte.129 Ganz am Schluß kommt aš-Šaʿrānī noch einmal auf das Echo zurück, das sein Erquickendes Nilwasser auslöste. Er habe „aus einem bestimmten Anlaß“ innerhalb der aufgezählten Verpflichtungen eine Umstellung vorgenommen; die jetzt vorliegende Fassung wie auch die älteren hätten jedoch den Beifall der Gelehrten gefunden.130 Schon nach der ersten Niederschrift im Jahre 1535 erfreute sich das Buch großer Beliebtheit, rasch waren zahlreiche Kopien im Umlauf. Einer von aš-Šaʿrānīs Adepten lieh sich eine davon bei einem der Neider seines Meisters aus; die Feinde, so merkte man, fertigten viele Kopien an, schoben in den Text jedoch zahlreiche theologisch bedenkliche Aussagen ein. In der Gelehrtenschaft der al-Azhar-Hochschule ereiferte man sich über die vermeintlichen Ketzereien aš-Šaʿrānīs; ein Jahr lang, schreibt aš-Šaʿrānī, habe er nichts davon gewußt, daß man sich hinter seinem Rücken über ihn das Maul zerriß. Einige Gelehrte aber hätten ihn in Schutz genommen, und denen habe er, als er von all dem erfahren habe, eine unverfälschte Abschrift seines Werkes überlassen. Mit ihren Unterschriften hätten jene die Unbedenklichkeit des Textes bestätigt und so die Machenschaften der Neider aufgedeckt. Dennoch hegten viele Kollegen nach wie vor eine tiefe Abneigung gegen ihn und versuchten, die Feindschaft zu schüren, indem sie Ahnungslosen jene aš-Šaʿrānī nur unterschobenen Aussagen vorlegten. Ihren Höhepunkt habe die Neidkampagne gegen aš-Šaʿrānī unter dem Statthalter ʿAlī Paša erreicht, der vom Herbst 1549 bis zum Dezember 1553 in Kairo amtierte. ʿAlī Paša zürnte einem seiner Untergebenen und verurteilte ihn zum Tode. Einer der Gelehrten Kairos begab sich auf die Festung,

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um für den Verurteilten ein Wort einzulegen und den Statthalter umzustimmen, fand aber kein Gehör. Schließlich wandte man sich an aš-Šaʿrānī: „Und der Paša behandelte mich ehrenvoll, hieß mich so nahe bei ihm Platz nehmen, daß zwischen uns nur ein Abstand von einer Elle war, und nahm meine Fürsprache an. Er sagte: ‚Belaste dich künftighin nicht mehr mit der Mühe, zur Festung heraufzusteigen; schicke uns einfach eine schriftliche Botschaft!‘“ Der erfolglose Gelehrte besorgte sich einige der aš-Šaʿrānī unterschobenen Aussagen, ließ sie ins Türkische übersetzen und fügte eine Reihe weiterer Verleumdungen hinzu. ʿAlī Paša ging auf diese Intrige aber nicht ein, und auch ein zweiter und dritter Versuch fruchteten nichts. Darauf entschloß man sich, den Sultan selber zum Vorgehen gegen aš-Šaʿrānī zu bewegen. Man brachte ein Schreiben auf den Weg nach Konstantinopel, in dem es hieß, jener Mann sei bei den Ägyptern äußerst beliebt; er behaupte, über die Fähigkeit zur freien Entscheidung in allen Fragen der Scharia zu verfügen, und habe zahlreiche Anhänger um sich geschart, so daß um die Ergebenheit des Landes zu fürchten sei, man bitte den Sultan daher, er möge aš-Šaʿrānī in die Verbannung schicken. Tatsächlich erwog man, ihn nach Mekka zu deportieren. Doch glücklicherweise war an der Hohen Pforte ein Sohn des Meisters Amīn ad-Dīn tätig, des Imams der al-Ġamrī-Moschee, dem ašŠaʿrānī, wie erinnerlich, die Ausbildung in den islamischen Wissenschaften verdankte. Dieser Sohn, Abū l-Luṭf mit Namen, entlarvte die Lügen der Denunzianten und brachte den Anschlag zum Scheitern. Aš-Šaʿrānīs Feinde in Kairo rieben sich schon vor Freude über ihren Coup die Hände – und erlebten dann, daß der Bote ohne den erhofften Befehl zurückkehrte und auch noch die Seite wechselte und sich aš-Šaʿrānī anschloß. Jener aber, der alles ausgeheckt hatte, wurde vom Schlag getroffen und starb bald darauf, „und sein Leib wurde schwarz wie Pech, nachdem er zu Lebzeiten des Mannes strahlend weiß gewesen war“.131 Ibn ʿArabīs Ansehen bei den osmanischen Sultanen Hier müssen wir vorerst innehalten, um die Hintergründe des Vorgangs auszuleuchten. Aš-Šaʿrānī hatte auf seinen Pilgerreisen der Jahre 1541 und 1547 in Mekka einen Sufi-Meister mit Namen ʿAlī al-Kāzawānī (gest. 1548) getroffen. Dieser hatte in Aleppo eine Klause besessen und war bei der Bevölkerung äußerst beliebt gewesen. Als während einer Revolte ein hoher osmanischer Würdenträger den Tod fand, behaupteten al-Kāzawānīs Feinde, er habe die Bevölkerung aufgehetzt. Er wurde deswegen nach Rhodos verbannt. Der Verdacht, ein Gottesfreund nutze seinen Einfluß zu unguten Zielen, war rasch ausgesprochen und konnte die Staatsmacht zum Eingreifen bewegen, wie dieses Beispiel zeigt. Doch der Sultan Süleyman war, wie schon seine Vorgänger, nicht bereit, gegen die Interpreten der Lehren Ibn ʿArabīs einzuschreiten. Daß Selim diesem Theosophen in Damaskus einen Grabbau

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errichten ließ, wissen wir bereits. Al-Kāzawānī galt für einen hervorragenden Kenner und Apologeten Ibn ʿArabīs, und so wurde das Exil auf Rhodos nur eine drei Jahre währende Zwischenstation. Auf ausdrückliche Anordnung Süleymans reiste er dann nach Mekka, wo man ihm wieder eine Klause stiftete.132 Intrigen gegen Gottesfreunde konnten am Hof des Sultans genau das Gegenteil dessen bewirken, was die Drahtzieher erhofften. Mit der Anschuldigung, jemand verbreite das Gedankengut Ibn ʿArabīs, waren die osmanischen Herrscher offensichtlich nicht zu alarmieren oder gar zu erzürnen. Schöpferische geistige Arbeit Genau um dieses Gedankengut ging es in den Querelen um aš-Šaʿrānīs Erqickendes Nilwasser. Ihren äußeren Verlauf kennen wir bereits. Im Vorwort der überarbeiteten Fassung von 1555, dessen Inhalt schon in groben Zügen skizziert wurde, beklagt sich aš-Šaʿrānī, jener ihm übelwollende Kopist habe unter die Verpflichtungen der Adepten einige Eulenspiegeleien des Ǧuḫā eingestreut.133 Deutlicher konnte der Fälscher nicht zum Ausdruck bringen, was er von den Einsichten der Gottesfreunde in den Kosmos hielt – nämlich nichts. Da die von aš-Šaʿrānī zusammengetragenen Verpflichtungen sich nicht aus den autoritativen Texten des Korans und der Sunna herleiten lassen, können sie nichts anderes sein als Lügengespinste. Sie sind schlichtweg Fiktion, und das ist das schärfste Verdikt, das die herkömmliche Schariawissenschaft über das Ergebnis menschlichen Bemühens um eine Aussage normativen oder deskriptiven Inhalts zu fällen vermag. In ihrer Sicht gibt es keine verfehltere intellektuelle Anstrengung als diejenige, die wissentlich außerhalb der ein für allemal die Wahrheit verbürgenden Texte unternommen wird. Das gilt selbstverständlich für jegliche Art „fiktionalen“ Schreibens oder Redens,134 aber wenn Regelungen des Verhaltens betroffen sind, dann ist ein von Koran und Sunna losgelöstes Nachdenken geradezu verwerflich. In der überarbeiteten Fassung des Vorwortes – die ursprüngliche kennen wir nicht – beugt sich aš-Šaʿrānī zum Schein diesem ehernen Gesetz islamischer Gelehrsamkeit. Ohnehin hat er zur Beruhigung seiner Feinde inzwischen die Mohammedschen Verpflichtungen niedergeschrieben. Dennoch läßt er es sich nicht nehmen, seine Vorstellungen von geistiger Arbeit wenigstens zu erläutern und damit auf seinem Recht zu beharren, ein Buch wie das Erquickende Nilwasser zu veröffentlichen. Er bitte den Leser, alles zu berichtigen, was darin von der Wahrheit abweiche. Wie sehr ein Autor sich auch um das Redigieren seines Werkes bemühe, immer würden Versehen und Entstellungen zurückbleiben. Aber alle Berichtigungen müßten mit ihm, aš-Šaʿrānī, abgesprochen werden, weil er schließlich am besten wisse, was er habe sagen wollen. Er gibt überdies zu bedenken, daß seine Bücher – mit Ausnahme der dem ḥadīṯ gewidmeten – nicht von gelehrter Art seien, also nicht

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dem Schrifttum der Schariawissenschaftler zugerechnet werden dürften. „Vielmehr sind sie brennende Scheite, die ich an den Lichtstrahlen der reinen Scharia oder an den Worten der ‚Leute des Pfades‘ entzündete. Wenn ich jemandes Worte zitiere, dann nur um zu belegen, was ich verstanden und ermittelt habe. Ist aber der Verfasser der erste, der das Scheit an den Lichtstrahlen der Scharia entzündet, dann kommt seine Aussage derjenigen der zur eigenen Urteilsfindung Befähigten (arab.: al-muǧtahidūn) gleich, wenn auch der Rang (meiner Person) ein anderer ist.“ Alle Worte eines solchen Mannes bedürfen natürlich einer kritischen Überprüfung, fährt aš-Šaʿrānī fort. Anders verhalte es sich mit den Schriften der überkommenen Gelehrsamkeit, die einzig und allein auf bereits vielfach durchdachten und hin- und hergewendeten überlieferten Aussagen fußt. ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb habe stets eingeräumt, daß sich seine Urteile dem eigenen Erkenntnisvermögen verdankten und deshalb korrigierbar seien; in ähnlichem Sinne habe sich Abū Ḥanīfa geäußert, und so sehe er, aš-Šaʿrānī, seine eigene Arbeit ebenfalls.135 In einer weiteren Version des Erquickenden Nilwassers, die nach den schweren Anwürfen, aber noch vor der Überarbeitung von 1555 entstanden ist, erfahren wir, daß aš-Šaʿrānī sich dessen bewußt war, daß er mit diesem Buch einen ganz neuen Weg einschlage. Einigen Gelehrten der al-Azhar habe dies eingeleuchtet, und sie hätten ihm in das Exemplar, das er ihnen zur Lektüre ausgeliehen habe, zustimmende Bemerkungen geschrieben. Dann sei hinter seinem Rücken jene schändliche Intrige inszeniert worden. Für einige der Verpflichtungen, die den Adepten nach der Scharia erlaubte Handlungen untersagen, ruft er Ibn ʿArabī als Zeugen auf und zitiert dann den Palmblattflechter mit der folgenden Ansicht: Die Gottesfreundschaft schöpfe ihre Erkenntnisse da, wo die Wissenschaft und das spekulative Denken an ihr Ende gelangt seien. Nur dann dürfe man jene Erkenntnisse zurückweisen, wenn sie offenkundig „den Worten des Gesetzgebers und dem Konsens“ widersprächen. Sei ein solcher Widerspruch nicht zu entdecken, müsse man den Geboten der Meister bedingungslos folgen. Aš-Šaʿrānī fügt hinzu, daß schon Ibn ʿArabī durch alḪaḍir auf den unverbrüchlichen Gehorsam gegen seine Meister verpflichtet worden sei.136 Unter den Bemerkungen, die die eben erwähnten al-Azhar-Gelehrten in ašŠaʿrānīs Exemplar schrieben, verweist diejenige des von ihm besonders geschätzten137 Malikiten al-Laqānī deutlich auf die Herkunft des Inhalts aus dem verborgenen Seinsbereich und vergleicht das Werk mit ʿUmar as-Suhrawardīs (gest. 1234) Gnadengaben der Erkenntnisse, deren Ziel die Formung des Muslims nach den dem Herzen zuströmenden Einsichten in das Walten der göttlichen Fügung ist.138 Ganz unverblümt äußerte sich auch der Hanafite Šihāb ad-Dīn darüber, daß die Gottesfreunde unmittelbar im Wirkungsraum göttlicher Souveränität Belehrung empfangen.139

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Die Beschränktheit der Schriftgelehrsamkeit Das tausendfach durchgekaute Wissen der herkömmlichen Schariawissenschaft ist demnach etwas ganz Unoriginelles; niemals kann es demjenigen, der sich damit abplagt, als eigenes Erkennen zugeschrieben werden.140 Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, scheint aš-Šaʿrānī zu solchen Ansichten verführt zu haben, bei denen es einem wackeren muslimischen Schriftgelehrten bis auf den heutigen Tag himmelangst wird. Die Juwelen und Perlen überschrieb er seine Sammlung der Äußerungen seines Lehrmeisters, aus denen er bleibenden Nutzen gezogen habe. „Warum“, fragte ihn aš-Šaʿrānī, „legen die Schriftgelehrten nicht die Worte der großen Gottesfreunde aus, wie sie dies bei den Worten des Propheten tun? Beides fließt doch aus demselben Meer!“ Sidi ʿAlī antwortete: „Ginge es nach Recht und Billigkeit, hätten die Gottesfreunde sogar eher den Anspruch auf Auslegung zu erheben! Denn in der Reinheit und Klarheit des Ausdrucks erreichen sie nicht die Stufe des Überbringers der Scharia.“ Die unnachahmliche Treffsicherheit der koranischen Rede ist das Beglaubigungswunder Mohammeds; die Gottesfreunde dürfen nichts Vergleichbares für sich beanspruchen. Die Schriftgelehrten aber haben, wie der Palmblattflechter seinem Zögling bei anderer Gelegenheit einschärfte, die Botschaft des Propheten durch zahllose wissenschaftliche Anmerkungen derart verrätselt, daß der schlichte Muslim sich kaum noch einen Reim darauf machen kann. Daher soll sich der Gottesfreund immer einer einfachen Sprache bedienen.141 Natürlich wird er die Klarheit der göttlichen Sprache des Korans nie erreichen – und eben deshalb müßte man sich um die Interpretation und Erläuterung der Aussagen des Gottesfreundes viel stärker bemühen als um den Koran. Denn immerhin stammen diese Aussagen aus derselben Quelle, der die Muslime schon den Koran und das ḥadīṯ verdanken. „Heute nacht kam mein Herr zu mir und legte mir die Finger mitten auf die Brust, so daß ich die Kühle der Fingerkuppen spürte – und so nahm ich das Wissen der Früheren und der Späteren in mich auf.“142 Hätte nicht der Prophet, sondern ein Gottesfreund diesen Satz gesprochen, man hätte ihn getötet! Den Muslimen ist leider nicht bewußt, daß auch die Gottesfreunde „die Höfe überschauen, von denen die Inspiration“ ausgeht. Die Höflichkeit gegen Allah geböte, auch den Botschaften der Gottesfreunde Glauben zu schenken. Das heißt freilich nicht, daß man die von den Schriftgelehrten überarbeiteten Worte des Überbringers der Scharia mißachten dürfe. Sich an die immer wieder durchdiskutierten Vorschriften einer der Rechtsschulen zu klammern, darin liegt schon viel Gutes!143 Die Erkenntnisweise der Gottesfreunde „Ist denn je einer der Vollkommenen hinter dem Vorhang der Nachahmung hervorgetreten?“ wollte aš-Šaʿrānī wissen. Sidi ʿAlī verneinte dies. Alles durch logisches

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Schließen, durch Evidenz oder durch Schauen erzielte Wissen bleibt Nachahmung. Wer auch immer auf eine dieser Arten Erkenntnisse gewinnt, darf nichts davon sich selber zuschreiben. Denn nicht er erzeugt sie, sondern sie leuchten in ihm auf. Die höchste Stufe der Nachahmung – und damit die dem Schöpferischen am nächsten kommende – erreicht derjenige, der „seinen Herrn nachahmt. Denn dies ist das wahre Wissen, weil Allah mit seinem Selbst wissend ist und bezüglich seiner selber nur das aussagt und im Gesetzestext vorschreibt, was die Wahrheit über ihn selber ist.“ Bis zu dieser Stufe der Propheten und Gottesfreunde schwingen sich die übrigen Menschen nicht auf. Manche „ahmen ihren Verstand mit Bezug auf das Evidente nach“. Einen noch niedrigeren Rang besetzen jene, die sich an die Ergebnisse ihrer Verstandesschlüsse halten. Jedenfalls gebe es kein Geschöpf, das ein Ding unmittelbar erkenne; vielmehr erfolge das Erkennen immer mittels eines Dritten, das zu dem Gegenstand und dem Wesen des Erkennenden hinzutrete, und wessen Wissen von solcher Art sei, der sei, im Gegensatz zu Allah, nicht wirklich wissend. Er sei ein Nachahmer, weil er das Wissen allein durch jenes seinem Wesen Hinzutretende erlangen könne. Alle Verstandesbegabten, die mit Hilfe sinnlicher Wahrnehmung und logischer Schlüsse Wissen erwürben, hielten sich, da sie sich jener Mittel zu bedienen vermöchten, für wissend – welch ein Irrtum! Alle ihre Mittel seien nämlich fehlbar. Anders die Gottesfreunde, die sich dem Einen Wahren so sehr genähert haben, daß er ihr Gehör, ihr Augenlicht, all ihre Kraft geworden sei: „Sie erkennen alle Dinge durch Allah – sie erkennen Allah durch Allah, indem sie Allah nachahmen.“144 Was es mit dem Geheimnis der göttlichen Bestimmungsmacht über die Geschöpfe für eine Bewandtnis habe, wollte aš-Šaʿrānī wissen; „hat jemand von den mohammedanischen Gottesfreunden darin Einblick?“ „Gewiß“, antwortete der Palmblattflechter, „und zwar um des Erbes willen, das der Gottesgesandte hinterließ, nicht aber dank der eigenen Wesensart. Allah hat das Wissen von seiner (Bestimmungsmacht) allein unserem Propheten geschenkt. Denn hätten die anderen Propheten jenen Einblick erlangt, dann hätte sie dies womöglich veranlaßt, in der Verkündung der Botschaft zu säumen… Daß Allah ihnen dies vorenthielt, ist ein Zeichen seiner Barmherzigkeit mit ihnen. Sie sollten den Dschihad und das andere, das ihnen aufgetragen war, ausführen!“ Bei Mohammed, dem letzten und größten aller Propheten, stand ein Schwinden des Eifers natürlich nicht zu befürchten, fügt Sidi ʿAlī hinzu.145 Sündlosigkeit und Unfehlbarkeit der Prophetenfamilie Diese Sätze des Palmblattflechters rufen uns aš-Šaʿrānīs Bemühungen um die Beglaubigung seiner Gottesfreundschaft in Erinnerung. Gehören doch zur Prophetenfamilie, die ohne jede Beeinträchtigung durch diesseitige Belange dem Einen

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Wahren zugewandt ist, auch Männer wie Salmān al-Fārisī. Aš-Šaʿrānī hatte den Leser auf Ibn ʿArabīs Mekkanische Eröffnungen aufmerksam gemacht, in deren neunundzwanzigstem Kapitel weiteres zu finden sei. Schlagen wir dort nach und nehmen wir den Faden an dem Punkt wieder auf, an dem Ibn ʿArabī die Weite der göttlichen Barmherzigkeit gepriesen hatte! Die Verheißung der Läuterung von allen Sünden blieb nicht auf die leiblichen Mitglieder der Familie Mohammeds beschränkt! Wer auch immer zu diesem Kreis gezählt wird, erhält von Allah diesen unschätzbaren Vorzug zuerkannt, und zwar nicht in Ansehung irgendeines Verdienstes, sondern gemäß einem unergründbaren Ratschluß. Sie alle sind nun „die Pole dieses ‚Standplatzes‘“ der Sündlosen und Unfehlbaren, derjenigen, die „die von ihrem Herrn“ – d.i. Allah – „gesetzten Grenzen beachten“. Salmān erbte diesen Ehrenrang. So wußte er ganz genau, welche Rechte Allah gegenüber seinen engsten Knechten geltend macht, vor allem aber auch, welch ein hoher Anteil an Sorge um sich selber wie um die übrigen Geschöpfe auf jenen erwählten Knechten lastet.146 Die Liebe zur Prophetensippe ist deswegen ein Zeichen dafür, daß man Allah selber und auch seinen Gesandten liebt. Daraus folgt, daß man selbst die einem ungelegen kommenden Worte und Taten eines Angehörigen der Prophetensippe wie einen Gnadenakt mit Freuden annehmen muß. So nämlich erlangt man Gewißheit darüber, daß Allah, um dessen willen man jene liebt, sich um einen sorgt. Denn jene einem widerwärtige Rede oder Handlung bestätigt immerhin, daß man jemandem in den Sinn gekommen ist, den Allah liebt. Demnach verbirgt sich in einem Verstoß gegen die Scharia, mit dem ein Nachkomme der Familie Mohammeds einem Glaubensbruder einen Tort antut, eine Hinterlist Allahs: Der schlichte Muslim, der unter dem Verstoß zu leiden hat, glaubt, indem er diesen rügt, die Scharia zu verteidigen; das aber ist nicht seine Sache, sondern Aufgabe der muslimischen Obrigkeit! Und so zieht sich jener Muslim den Haß derjenigen zu, deren unanfechtbare Würde ihn hätte veranlassen sollen, sich auf alle erdenkliche Weise bei ihnen einzuschmeicheln.147 Solch eine schwer erträgliche, weil unverhüllt für einen Heilsvorteil das Recht mißachtende Unterwürfigkeit soll nach Ibn ʿArabī der Maßstab des Verhaltens gegenüber den Nachkommen der Prophetenfamilie sein. Welch ein unauslotbares Geheimnis hierin liegt, hat laut Ibn ʿArabī nicht einmal al-Ḫaḍir schauen dürfen – ihm aber hat Allah es enthüllt! Denn indem sich im Reden und Handeln jener Erwählten das göttliche Bestimmen über die Schöpfung in reiner Form manifestiert, zeigt sich an ihnen, was göttliche Gesetzgebung ist. Ibn ʿArabī war nämlich zu der Einsicht gelangt, daß der Eine Wahre selbstverständlich auch die Übertretungen des von ihm verfügten Gesetzes schaffe, weil anders – d. h. wenn er in den Menschen nur gesetzeskonforme Handlungen zur Erscheinung brächte – niemand das Vorhandensein des Gesetzes erkennen, mithin sogar Allah selber sich nicht als den Stifter des Gesetzes erfahren könnte.148 Wie wir schon wissen, ist es der Daseins-

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zweck des konditionierten Seins, dem absoluten Sein die Erkenntnis seiner Absolutheit zu ermöglichen, was eben nur mittels des Kontrastes gelingt. Die Mitglieder der Prophetenfamilie leisten dem Absoluten diesen Dienst in einer unübertrefflichen Weise. Darum liebt Allah sie, und darum steht es allen Muslimen wohl an, sie zu lieben. Denn gerade wenn sie etwas begehen, das, weil wider die Scharia gerichtet, Empörung auslöst, sind sie dem Einen Wahren in höchstem Maße dienstbar. Die gewöhnlichen Menschen freilich verletzen keineswegs auf Allahs Befehl hin die Gebote, sondern aus eigener Widerspenstigkeit, und weil sie von sich auf die Sippe Mohammeds schließen, wollen sie aus diesem erlauchten Kreis nur diejenigen lieben, deren Handlungen gut und gesetzestreu sind. Das Wissen der Prophetenfamilie Ein weiteres tiefes Geheimnis der Prophetenfamilie beruht darin, daß Allah ihr einen Einblick in die Bestimmungen gewährt, die er für sie in dieser mohammedschen Scharia festlegte. Den Textgelehrten wird solch ein Einblick nicht zuteil. „Denn die spätgeborenen Kenner des Rechts und der Überlieferung erlangen ihr Wissen lediglich wie ein Toter auf Autorität eines Toten, so daß ihr Wissen nur wahrscheinlich wahr ist,149 denn das Überliefern erfolgt durch Bezeugen, und eine vielwegige Überlieferung findet sich selten. Wenn die Gelehrten nun auf Dinge stoßen, die das Wissen vom Vorliegen einer vielwegigen Überlieferung vermitteln, dann ist jener Wortlaut, der vielwegig übermittelt wurde, doch kein eindeutiger autoritativer Text bezüglich dessen, worüber sie urteilen. Denn ein unanfechtbarer autoritativer Text ist selten. Sie verwenden also jenen Wortlaut nach Maßgabe ihres Verständnisvermögens, und deswegen geraten sie in Streit. Bisweilen ist denkbar, daß jenem Wortlaut mit Bezug auf den betreffenden Fall ein anderer autoritativer Text widerspricht, der ihnen nicht zur Kenntnis gelangte… Sie erfahren also nicht, nach welcher der in jenem Wortlaut enthaltenen Möglichkeiten der Gottesgesandte, der Verkünder der Scharia, urteilte! Nun aber erhielten die Leute Allahs (die Lösung) von dessen Gesandtem mittels einer Enthüllung, und zwar als klare (göttliche) Fügung und als einen eindeutigen autoritativen Text mit Bezug auf das (in Rede stehende) Urteil, oder auch unmittelbar von Allah als ein treffendes Beweismittel, das ihnen von ihrem Herrn zuteil wurde,150 oder dank einer (das diesseitsgebundene Sehen übersteigenden) Sehkraft, dank deren sie die Geschöpfe zu Allah rufen.“ Das übernatürliche Schauen ist keineswegs dem Propheten vorbehalten. „Ich rufe euch zu Allah dank einer übernatürlichen Sehkraft, ich und alle, die mir folgen“, versichert Mohammed in Sure 12,Vers 108. Die „Leute Allahs“, so Ibn ʿArabīs Fazit, folgen dem Propheten und müssen daher mit solcher Sehkraft151 begnadet sein: Sie sind Allahs wertvollste Diener und besetzen jenen „Standplatz“ der Erwählten. – Und ein letztes Geheimnis entdeckte Ibn ʿArabī bei ihnen: Sie schauen, wie sich der Zwist

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über das Gesetz bildet, obschon doch der Ausgangspunkt ein einziger, homogener ist, den freilich nur derjenige wahrnimmt, der bis zum „Lotosbaum an der Grenze“ vorgedrungen ist, wie es in anderem Zusammenhang vorhin hieß. An der Existenz des Einen Wahren kann man nicht zweifeln. Es kann nur die Natur der Geschöpfe, die zerstörerische Zeit oder etwas anderes, Innerweltliches sein, das zu den so bedauerlichen Unklarheiten führt. An mangelnder Lauterkeit jener mit Notwendigkeit existierenden Quelle kann dies nicht liegen. Am 10. Rabīʿ aṯ-Ṯānī 633 (23. Dezember 1235) trug Ibn ʿArabī in seinem Haus in Damaskus zum ersten Mal diese bis dahin radikalste Kritik an der zur Textwissenschaft verkümmerten muslimischen Gelehrsamkeit vor.152 Diese stützt sich in der Tat ausschließlich auf ihre als ewig gültig und prinzipiell allumfassend angesehenen Quellentexte, den Koran und das ḥadīṯ, aus denen sie eine unwiderlegbare Deutung des Wesens Allahs und vor allem seines Vorgehens mit der Schöpfung abzuleiten bestrebt ist. Um diesen Anspruch aufrechtzuerhalten, mußte zuvörderst das Monopol des Propheten Mohammed auf dem Gebiet der transzendenten Erkenntnis durchgefochten werden. Schon anderthalb Jahrhunderte vor Ibn ʿArabī wurde die Textgelehrsamkeit herausgefordert und ihr Wert in Frage gestellt, und zwar durch al-Ġazālī. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß ein noch so verfeinertes Verständnis der Texte allein niemals zu einer wahrhaft islamischen Gesellschaft führen werde; ein inneres Schauen müsse hinzukommen. Was das im einzelnen heiße, legte er in mehreren Werken dar, die auf den erbitterten Widerstand Textgelehrter trafen und im Westen der islamischen Welt in Autodafés den Flammen überantwortet wurden. Ibn ʿArabī knüpft seine Gedanken an das von al-Ġazālī in der Nische der Lichter ausführlich erörterte und vom natürlichen Sehvorgang abgegrenzte übersinnliche Schauen an und rechtfertigt dieses mit der spirituellen Zugehörigkeit des Schauenden zur Prophetensippe sowie mit der Interpretation des Kosmos als des Allah unentbehrlichen Mittels zur Erkenntnis seiner selbst. Diese beiden Vorstellungen finden sich bei al-Ġazālī noch nicht. Ihm war trotzdem schon bewußt, daß durch das Schauen das Gerüst des islamischen Denkens und Lebens, die Scharia, ins Wanken gebracht werden könnte. In seinem letzten großen Werk, einer Darstellung der Grundlagen der Schariawissenschaft, deutete er dies an.153 Von Ibn ʿArabī zu aš-Šaʿrānī Ibn ʿArabī, dem das Wohl und Wehe der überkommenen Gesetzesgelehrsamkeit weit weniger am Herzen lag, schreckt dagegen nicht vor deren aus seiner Sicht unvermeidlicher Diskreditierung zurück: Worte, die Tote unter Berufung auf Tote gesagt haben! Indem aš-Šaʿrānī ihn paraphrasiert, stellt er sich mit Entschiedenheit in eine Tradition, die, weder in Ägypten und in der Levante, noch im islamischen Westen bis dahin siegreich, den Durchschnittsgelehrten seit langem ein Stachel im

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Fleisch war. Die sunnitischen Verteidiger Ibn ʿArabīs – unter ihnen aš-Šaʿrānī – wollten freilich nicht, wie ihre Widersacher behaupteten, die Normen des in ewigen Texten verbürgten gottgewollten Rechts zugunsten einer individualistischen Erwecktheit beiseite schieben. Vielmehr bestanden sie sehr wohl auf der Aneignung und Beachtung dieses „Wissens“. Aber sie hatten sich davon überzeugen müssen, daß solches Wissen allein nicht das leiste, was ihm ihre Gegner zutrauten. Das Erkennen mußte hinzutreten. Denn die Auslegung der autoritativen Texte durch den im Diesseitigen befangenen Verstand führt zu endlosem Streit und ist, wenn wir Ibn ʿArabī folgen, den von Allah selber stammenden Texten auch gar nicht angemessen. Das Schauen und die von den diesseitigen Fesseln befreite Sehkraft vermögen dagegen zu erfassen, was Allah – unabhängig von Zeit und Ort – in seiner Schöpfung ins Werk setzt. Erst unter dieser Voraussetzung wird eine Interpretation jener Texte gelingen, die keinen Zwist mehr aufkommen läßt. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, die Stimme der ungelehrten muslimischen Bevölkerung, hat seinen Zögling mittelbar auf all das hingewiesen, wie wir vorhin hörten. Aš-Šaʿrānī griff diese Anregungen auf und setzte sein Sehertum zur Linderung der Sorgen und Nöte des einfachen Mannes ein, dem das Dickicht der zahllosen widersprüchlichen Vorschriften der Scharia schwer zu schaffen machte. Dem Palmblattflechter schreibt aš-Šaʿrānī ferner die Aufklärung darüber zu, daß das Schauen allein noch keine der Scharia in ihrer Heilsbedeutsamkeit vergleichbaren Regelungen hervorbringt. In den Belehrungen über Kosmos und Charakter klang dies alles schon an. Mit geschärftem Blick wenden wir uns jetzt diesem Gegenstand noch einmal zu. Ist eine göttliche Entscheidung erst ergangen, dann ist sie in den Bestand des Diesseits eingeflossen und kann daraus nicht wieder entfernt werden; sie inhäriert fortan dem betreffenden Substrat. Es ist aber nicht zu leugnen, daß in den Zwischenepochen, die das Auftreten des einen Propheten von dem des nächsten trennten, die auf göttliche Offenbarung zurückgehenden Bestimmungen verschwanden.Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Was unterscheidet die sich im Diesseits akkumulierenden Fügungen des Schöpfers von jenen Bestimmungen? Sidi ʿAlī antwortet: „Der Geist der göttlichen Eingebung ist etwas, worin Kräfte des Zusammenhalts der Ordnung der Welt verborgen sind. Gehen die Schariabestimmungen verloren, dann tritt zu jedem Zeitalter, in dem dies geschieht, der nomos an deren Stelle. Jetzt, unter den Osmanen nennt man ihn qānūn. Er darf freilich nur in Ländern angewandt werden, in denen es keine Schariabestimmungen gibt.“ In den islamischen Regionen des Reiches, in Ägypten, Syrien, Anatolien ist er nicht in Kraft, denn sein Inhalt ist nicht unfehlbar wahr wie die Scharia; in der Vergangenheit wurde er sogar von ungläubigen Herrschern zusammengestellt.154 Alle Grenzen, die Allah gezogen hat, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Die erste umfaßt die der Weisheit des Schöpfers entspringende Lenkung des Gemeinwesens, die zweite die schariatischen Bestimmungen. Die Vorschriften beiderlei Art

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dienen dem fortlaufenden Fluß der kontingenten Phänomene, die das Diesseits konstituieren. Die Regelungen der ersten werden durch Inspiration den weisen Männern übermittelt und stehen in einer erkennbaren Beziehung zu den natürlichen Gegebenheiten des Landes, in dem sie erlassen werden. Ihre Auswirkungen gleichen denjenigen der Scharia insofern, als auch sie das Leben und die Güter schützen. Ihre Quelle ist aber nicht, und darauf weist Sidi ʿAlī ausdrücklich hin, der das Diesseits zergliedernde Verstand, sondern sie werden den irdischen Gesetzgebern, ohne daß diese es bemerken, von Allah eingegeben. Es fehlt den weisen Männern die Einsicht in das Jenseits und daß die Befolgung der Gesetze einen an Allah heranführen kann. Gleichwohl entwickeln sie Vorstellungen von einem einzigen Gott. Doch so wie sie in Unkenntnis des wahren Ursprungs ihrer Gesetze diese mit den Erscheinungen des Diesseits begründen, vermögen sie nicht ihr Gottesbild hiervon abzulösen. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, sie hielten es wie die Sufis, die doch auch über die Erkenntnis des Selbst zur Erkenntnis Allahs voranschreiten (vgl. Sure 41, 53).155 Dies ist aber nicht der Fall. Denn die Weisen finden keine Antwort auf die Frage, was das sei, das den Leibern Bewegung und Erkenntnisfähigkeit verleiht und sie am Ende als sterbliche Hüllen zurückläßt. „Sie kennen von sich selber nur die Eigenschaften, nicht aber das Wesen“, behauptet der Palmblattflechter. So schwanken sie ständig zwischen einem anthropomorphistischen Gottesbild und einem anderen hin und her, dem jegliche an das Diesseits gemahnende Züge fehlen. Erst das Erscheinen eines Propheten kann sie aus dieser Verwirrung erlösen. Nachdem aš-Šaʿrānī sich mit seinem Meister danach über die Beglaubigungswunder der Propheten verständigt hat, kommen beide zum Ausgangspunkt zurück. Nur dank dem, was die Propheten verkündigen, wissen die Menschen etwas über den verborgenen Seinsbereich und das Jenseits, nur aus der Offenbarung lernen sie, welche ihrer Handlungen vom Gehorsam gegen Allah zeugen und welche von Widerspenstigkeit. Denn wer den rechten Weg wandele und wer dereinst zur Hölle verdammt werde, das hänge allein von Allahs Ratschluß ab.156 Die aus dem Diesseitigen schöpfende Weisheit werde dergleichen nie enträtseln. Es ist demnach zweierlei, ob ein Muslim oder ein ungläubiger Weiser den nomos des von Allah gelenkten Kosmos auszuloten begehrt, um daraus Schlüsse für die Gestaltung des Daseins zu ziehen. Beide mögen sogar zu den gleichen Regelungen finden, der Muslim aber wird dabei immer die Verankerung seiner Einsichten im Transzendenten bedenken. Er ist so glücklich, im zweiten, im mohammedschen Äon der Weltgeschichte zu leben. Indem er den Kosmos durchschaut, wird ihm dank der Anstöße, die ihm sein Prophet gab, erst eigentlich klar, wie sinnreich der offenkundige Seinsbereich durch den verborgenen hindurch auf das Jenseits hingeordnet ist. Was die Osmanen qānūn nennen, kann, für sich genommen, in der Tat nur Andersgläubigen zur Richtschnur dienen. Den Muslimen ist der erschaute nomos

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jedoch ebenfalls nützlich, weil er sie beachten lehrt, daß die Scharia, die jenseitsbezogenen Gesetze, bis in das Alltägliche, das Banale, herabreichen – ein Umstand, den die auf das Schauen verzichtende Textwissenschaft oft nicht bemerkt. Wegen dieses Mangels verwickelt sie sich in Widersprüche, da von den Texten aus, wie Ibn ʿArabī sagte, nicht zweifelsfrei erschlossen werden kann, welche der in ihrem Wortlaut angelegten Möglichkeiten die von Allah und seinem Gesandten gemeinte sei. Das Ausspähen des Kosmos mag darum den Schriftgelehrten ein Ärgernis sein – wenn ein in der Scharia versierter Muslim sich darin übt, dann kann das jedoch nur höchst erwünschte Auswirkungen haben: Es ist die vollständige Wahrnehmung der im zweiten Äon den Menschen gewährten Möglichkeiten der Erkenntnis, hinter denen die Textinterpreten in fahrlässiger Weise zurückbleiben. Und damit sind wir wieder bei aš-Šaʿrānī und den Intrigen angekommen, die man gegen ihn spann. Ihn bei der osmanischen Obrigkeit der Mißachtung der Schriftgelehrsamkeit zu verdächtigen, konnte wirkungslos bleiben. Denn woran mußte dieser Obrigkeit mehr gelegen sein als an der Herauslösung wenigstens eines Teils ihrer Machtausübung aus der Zwangsjacke der Textwissenschaft? Daß die osmanischen Sultane Ibn ʿArabī verehrten, hat gerade auch hierin seinen Grund, wie später näher auszuführen ist. Er schuf mit seiner Kosmologie und seiner Auslegung der islamischen Heilsbotschaft die nötigen Voraussetzungen für diesen Schritt der Befreiung, und er sprach auch, wie vorhin erörtert, ohne Scheu die Konsequenzen aus. Den Gelehrten, schreibt er in den Mekkanischen Eröffnungen, verlieh Allah das Recht, im Rahmen der schariatischen Bewertungen nach eigener Erkenntnis Entscheidungen zu treffen (arab.: al-iǧtihād), und für die Muslime sind diese Entscheidungen bindend. Es sei eine allein den Muslimen vorbehaltene Auszeichnung, daß sich die göttliche Eingebung bei ihnen in den Urteilen der Gelehrten niederschlage. „Ein zu selbständiger Erkenntnisfindung Befähigter (arab.: al-muǧtahid) urteilt immer so, wie Allah es ihm im Verlauf der Erkenntnissuche (arab: al-iǧtihād) zeigt. Es ist dies ein Gnadenhauch (göttlicher) Gesetzgebung. Es ist dies allerdings nicht die (göttliche) Gesetzgebung an sich.“157 Aš-Šaʿrānī rechtfertigt sich Am 17. Ramadan 965 (3. Mai 1558),158 also etwa vier Jahre nach der Fertigstellung seiner Lebensbilanz, beendete aš-Šaʿrānī die Arbeit an jener längeren Abhandlung, die sich mit dem Verhältnis zwischen der Gottesfreundschaft und der Schariagelehrsamkeit beschäftigt: an den Zufriedenstellenden Erwiderungen. Er bearbeitete hier die Gedanken Ibn ʿArabīs, die wir gerade erörtert haben, und fahndete in der islamischen Geschichte nach Beispielen, die die Vermischung von Schauen und Jurisprudenz rechtfertigen. Das spirituelle Sehen verwandelte sich ihm dabei in den Inbegriff eigenständiger Erkenntnissuche. Wer das Recht hierzu beansprucht, der

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muß sich auf vielerlei Anfeindungen gefaßt machen. Schon in der fernen Vergangenheit sei das so gewesen. Mālik b. Anas (gest. 795) war davon betroffen, nach ihm aš-Šāfiʿī (gest. 820), dessen Schüler man achtzig Jahre in ihrer Lehrtätigkeit behindert habe. Erst al-Baihaqīs (gest. 1066) große ḥadīṯ-Sammlung, mit der er für aš-Šāfiʿī habe eine Lanze brechen wollen, habe dieser Schule weithin Anerkennung verschafft. Abū Ḥanīfa, Aḥmad b. Ḥanbal und sogar al-Buḫārī sind weitere Fälle, die ašŠaʿrānī in den Sinn kommen, ohne daß dem Leser jeweils klar würde, weshalb ausgerechnet sie in diesem Zusammenhang bemüht werden.159 So unterschiedliche Charaktere wie al-Ġazālī und den Qāḍī ʿIjāḍ, den unerbittlichen Feind der ġazālischen Ideen, vereint aš-Šaʿrānī in diesen Abschnitten der Zufriedenstellenden Erwiderungen.160 Fast scheint es, als hätte man ein „Wer ist wer?“ einer von bornierter Textgläubigkeit gepeinigten Gelehrtenschaft vor sich. Im Eifer vergißt aš-Šaʿrānī, daß es ihm um thematisch fest umrissene Beispiele zu tun sein muß! Oder ist er davon überzeugt, daß jegliche Art schöpferischen Denkens ein Zusammenspiel von Zergliederung des Diesseits und gottgeleiteter Einsicht in das Verborgene ist? Eine Antwort hierauf müssen wir schuldig bleiben. Die Beschwerden, die man beim Statthalter gegen ihn einlegte, wurden am Ende niedergeschlagen; stolz schildert ašŠaʿrānī, wie er von ʿAlī Paşa in Privataudienz empfangen wurde, bevor dieser im Dezember 1553 nach Konstantinopel zurückkehrte, um dort das Großwesirat zu übernehmen.161 Die Intrigen um aš-Šaʿrānī waren Zuspitzungen seines schon lange währenden Ringens um die Duldung seiner Erkenntnisse. Und die Vorgänge um seine Person wiederum waren Facetten des Grundkonflikts der islamischen Kultur: Unter dem Wust der vermeintlich ein für allemal wahren und allumfassenden Überlieferung kämpft das mit kritischem Verstand begabte Individuum gegen den Erstickungstod.

3.4 Die kleine und die große Waage Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich nie die Gelehrten meiner Zeit mit der Waage meines Verstandes maß und nie einen von ihnen hart anging, sei es in seiner Gegenwart, sei es in seiner Abwesenheit, außer in einer von der Scharia vorgeschriebenen Weise. Denn die Gelehrten des Islams zu kritisieren, verletzt Allahs uns erteilten Befehl, sie hoch zu achten und zu ehren. Allah nämlich erwähnt sie zusammen mit sich selber, sagt er doch: „Allah bezeugt, daß es keinen Gott außer ihm gibt; desgleichen bezeugen dies die Engel und die, die Wissen haben“ (Sure 3, 18). Wer also die Gelehrten hart angeht und kritisiert, der erniedrigt, wen Allah erhöhte, und das ist eine schlimme Dreistigkeit. Ich hörte, wie Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, sprach: „Niemand aus der islamischen Gemeinschaft ist dem Gottesgesandten näher als die Gelehrten, denn sie sind die Träger seiner Scharia und seine Vertrauensleute in seiner Gemeinschaft. Wer einen Gelehrten haßt, der haßt jemanden, den der Gottesgesandte

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liebt, und wer dies tut, der ist ein Feind des Gottesgesandten, und wer dies ist, der ist auch ein Feind Allahs, und wer ein Feind Allahs ist, der ist ein Feind aller Geschöpfe!“162

*** Freie Entscheidungsfähigkeit: as-Sujūṭī – Aš-Šaʿrānīs Berufung auf al-Ḫaḍir – Kosmos und Erfüllung der Scharia – Anregungen Ibn ʿArabīs – Abū Ḥanīfa als selbständig Suchender – Die Rechtfertigung der Schariamethodik Abū Ḥanīfas mit der Theosophie Ibn ʿArabīs – Die Große Waage – Der Ursprung der Scharia im Verborgenen – Erläuternde Skizzen – Freies Verfügen über die Scharia – Hören oder sehen?

Freie Entscheidungsfähigkeit: as-Sujūṭī Wie gegen viele andere Gelehrte war auch gegen as-Sujūṭī der Vorwurf erhoben worden, er habe für sich die freie Entscheidungsfähigkeit beansprucht.163 Ausführlich beschäftigt sich aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz hiermit nicht. Erst in dem kleinen biographischen Nachschlagewerk164 über seine herausragenden Zeitgenossen widmet er fast den ganzen as-Sujūṭī zugedachten Artikel diesem Thema. Unter Berufung auf ihn führt aš-Šaʿrānī aus, es gebe zweierlei Art von Befähigung zu freier Entscheidung, und beide Arten versehe man mit dem Prädikat „absolut“. Die erste sei diejenige gewesen, die Allah ausschließlich den vier Schulgründern ermöglicht habe. Sie hätten das für die Scharia bedeutsame Quellenmaterial, die Offenbarung und die Überlieferungen vom normativen Handeln und Reden Mohammeds, schöpferisch und von allen Vorgaben unabhängig zu einem handhabbaren Rechtssystem geformt. Seitdem sei nur noch die relative Freiheit der Suche nach Lösungen möglich, nämlich innerhalb der Systematik einer jeden Schule.165 Dies ist genau jenes Erforschen der Beweggründe der jeweiligen Lehrmeinung, wie es aš-Šaʿrānī bereits in seiner Lebensbilanz beschreibt und wie es am Beispiel der rituellen Reinheit gezeigt wurde: Man erkennt, indem man den Prinzipien der einzelnen Schule folgt, welche Erwägungen zu der einen oder anderen Ansicht geführt haben. Aber ganz so harmlos ist diese Art der Rechtsgelehrsamkeit denn doch nicht. Indem man nämlich durchschaut, wie die Systeme funktionieren, und indem man die Ergebnisse, die innerhalb eines jeden erzielt wurden, mit denjenigen der anderen drei vergleicht und sie alle auf einen im Verborgenen geschauten Sinn hin interpretiert, wird eben doch etwas Neues sichtbar. Nicht umsonst hat schon as-Sujūṭī davon gesprochen, daß er den im Zwischenreich gegenwärtigen Propheten – und nicht die gelehrten Kompendien vergangener Geschlechter – um Rat angehe: Die Arbeit der vier Schulgründer mißachtet er, wenn er dies behauptet! Auch aš-Šaʿrānī teilt seinen Lesern mit, daß er ununterbrochen die spirituelle Nähe Mohammeds genieße: Die Entfernung zwischen dessen Grab in Medina und aš-Šaʿrānī in Kairo ist gleichsam aufgehoben, „und ich rede den Pro-

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pheten an wie jemanden, der neben mir sitzt“. Jemand, dem so etwas noch nie widerfahren sei, möge es für eine Lüge halten; allerdings gebe es zu solcher Ablehnung erst Anlaß, wenn der Visionär gegen die Scharia verstoße.166 Aš-Šaʿrānī versteht sich insofern als einen Stellvertreter des Gottesgesandten, als er die Muslime auffordert, ihr Leben über die schariatischen Mindestpflichten hinaus auf Allah auszurichten. Doch wie einst Mohammed obliegt dem Gottesfreund nur die Pflicht, diese Forderung zu verkünden (Sure 3, Vers 20):167 Die Islamisierung der Gesellschaft, an deren Ende jede der vier Rechtsschulen ihre den einzelnen Muslim bindende Kraft verloren haben wird, läßt sich nicht mit Zwang vorantreiben, aber daß aš-Šaʿrānī von dem Wunsch durchdrungen ist, auf dieses Ziel hinzuarbeiten, steht außer Frage. Aš-Šaʿrānīs Berufung auf al-Ḫaḍir Er verstand es, diese Bestrebungen geschickt als einen Kampf für das von den Osmanen bevorzugte Hanafitentum auszugeben. Hinweise darauf finden sich in mehreren im vorigen Kapitel zu Rate gezogenen Abschnitten aus seiner Lebensbilanz. An einer Abhandlung mit dem Titel Die ḫaḍir’sche Waage, die er im Jahre 963 der Hedschra (begann am 16. November 1555) niederschrieb,168 also gut ein Jahr nach Fertigstellung der Lebensbilanz, tritt dieser Zug überdeutlich hervor. Auf dem Dach der al-Ġamrī-Moschee, so behauptet er in der Einleitung, sei ihm 931 (begann am 29. Oktober 1524) al-Ḫaḍir erschienen. Aš-Šaʿrānī sagt von sich selber, daß er damals von tiefer Verzweiflung über die Meinungsverschiedenheiten der Rechtsgelehrten erfaßt worden sei. Immer wenn er die Ansichten zweier Schulen über eine Frage hätte vereinen können, dann sei das Ergebnis auf einen Widerspruch zu den Aussagen beider Schulen in einer anderen Frage hinausgelaufen. Standen wirklich die Anhänger einer jeden Schule in der göttlichen Rechtleitung? In seiner Not will aš-Šaʿrānī Allah um eine Errettung aus solcher Ausweglosigkeit angefleht haben, und da sei ihm al-Ḫaḍir erschienen. „Höre zu!“ habe ihn dieser angeredet, „öffne das Auge deines Herzens!… Wisse, mein Sohn, daß die lautere Scharia, soweit es Gebot und Verbot angeht, in zwei Rangstufen erlassen wurde – Milde und Strenge! Nicht nur in einer, wie die meisten Leute glauben!“169 In der Lebensbilanz erwähnt aš-Šaʿrānī diese Vision nicht. Er spricht dagegen von dem heftigen Verlangen, Allah möge ihm ein Huldwunder schenken. Er begehrte eine jedermann erkennbare Beglaubigung seiner Gottesfreundschaft, stand er damals doch im Begriff, Meister einer eigenen Klause zu werden. Da gewährte ihm, wie er erzählt, der Schöpfer Einblick in das innere Gefüge des Kosmos und lehrte ihn, daß ein Wunder, auch wenn es an ihm oder durch ihn geschähe, nicht im entferntesten den Wert des standhaften Gehorsams erreiche, dessen er sich befleißige. Daß es die Unzulänglichkeit der Schariawissenschaft sei, die ihn bedrücke und deren er sich vor allem

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anderen annehme, davon schreibt er nichts in den Abschnitten der Lebensbilanz, die sich eindeutig auf jene Zeit beziehen. Offenbar aus der Rückschau deutet er jene Audition vom Jahre 931 der Hedschra in eine Berufung zur eigenständigen Erkundung der Scharia um, vergleichbar vielleicht der Vision Ibn ʿArabīs, der in Mekka von al-Ḫaḍir in den Kreis der Gottesfreunde aufgenommen worden sein will. Daß aš-Šaʿrānī in der Ḫaḍir’schen Waage seine Vergangenheit nach der aktuellen Zweckmäßigkeit zurechtlegt, ergibt sich zudem aus der Behauptung, jene Begegnung habe „auf dem Dach der al-Ġamrī-Moschee“ stattgefunden, „in der ich damals wohnte“ – im Jahre 931 war der Bruch mit dem Meister jener Klause schon längst erfolgt. In der Lebensbilanz ist es noch die Nilinsel ar-Rōḍa, auf der aš-Šaʿrānī die Geheimnisse des Kosmos schaut. Aber die Klause al-Ġamrīs ist jetzt, da ein Nachkomme Amīn ad-Dīns, wie wir hörten, in der Hauptstadt des Reiches zu Einfluß gelangt ist, natürlich eine bessere Empfehlung. Wofür steht die Figur al-Ḫaḍirs? In Sure 18 wird erzählt, wie Mose mit einem Diener eine lange Wanderung unternimmt, die beide bis zum „Zusammenfluß der beiden Meere“ führt. Versehentlich lassen sie dort einen Fisch liegen, den sie als Wegzehrung mitgebracht haben. Der Fisch aber ist, als sie ihn suchen, auf und davongeschwommen – für Mose das Zeichen, daß sie die Quelle mit dem Wasser des Lebens gefunden haben. Dort macht Mose die Bekanntschaft mit einem weisen Mann, dem er sich anschließt. Zuvor aber muß er dem Fremden versprechen, ihn niemals nach dem Grund seiner Handlungen zu fragen, mochten sie auch noch so merkwürdig sein. Mose bricht das Versprechen, erhält die gewünschte Aufklärung, muß sich aber auf der Stelle von jenem seltsamen Mann verabschieden (Sure 18, 60 – 82). Al-Ḫaḍir heißt jener Weise in den Korankommentaren und in den Legenden von den vorislamischen Propheten. Er ist eine in der volkstümlichen Frömmigkeit beliebte Figur, die man fast vertraulich mit ihrem Vatersnamen Abū lʿAbbās nennt. Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (gest. 1449), der hochgeschätzte Kairoer Gelehrte, widmete ihm in seinem Lexikon der Gefährten Mohammeds ein langes Kapitel: Al-Ḫaḍir war ein Prophet, der die Israeliten an das Gesetz erinnern wollte, das ihnen einst Mose gebracht hatte; doch sie hörten nicht auf ihn, und zur Strafe wurden sie von Nebukadnezar unterjocht; al-Ḫaḍir aber zieht seither ruhelos durch die Welt, „und er ist es, den die Leute sehen“.170 Ibn aṣ-Ṣalāḥ (gest. 1245), berühmt für seine Einführung in die ḥadīṯ-Wissenschaft, stellt in einem Fetwa fest, daß die meisten Gelehrten davon überzeugt seien, daß al-Ḫaḍir lebe, und im gleichen Sinne äußert sich sein Fachgenosse an-Nawawī (gest. 1277), der Verfasser eines der meistgelesenen islamischen Erbauungsbücher.171 Viele Seiten füllt Ibn Ḥaǧar mit den Zeugnissen von Männern, die die gleiche Ansicht vertraten, und mit den Berichten anderer, die al-Ḫaḍir begegnet sein wollten. Nicht ohne Grund ist es al-Ḫaḍir, auf den sich aš-Šaʿrānī beruft. Niemand anderes als al-Ḫaḍir hat nach dem, was in Sure 18 erzählt wird, die Schulweisheit derart bloßgestellt. Sie vermag nur den Augenschein

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zur Grundlage ihres Urteils zu machen – al-Ḫaḍir schlägt in ein Boot ein Leck und muß sich die Vorwürfe Moses anhören, der eben nicht weiß, daß der tyrannische Herrscher des Landes in Kürze alle Schiffe beschlagnahmen wird. Kosmos und Erfüllung der Scharia Al-Ḫaḍir also klärt den wegen des Zwistes der Schariakenner besorgten aš-Šaʿrānī weiter auf über die beiden Rangstufen „streng“ und „milde“: Einer jeden sind diejenigen Menschen zugewiesen, die sie zu erfüllen vermögen; wer stark ist, halte sich an die strengste Vorschrift, unabhängig von der Rechtsschule, und wer schwach ist, der mag sich mit dem milden Gebot begnügen, wiederum ohne Ansehung der Schule. Nie aber dürfe sich der Starke mit dem Einfachen zufriedengeben! „Die beiden Rangstufen fußen demnach auf der Rangfolge des Seins, nicht auf der Möglichkeit, frei eine Wahl zu treffen!“ Der Kosmos, das, was dank Allahs Fügung unablässig ins Sein tritt, steht mit dem göttlichen Gesetz in einer unaufhebbaren Harmonie, die im Idealfall in den Charaktereigenschaften des Menschen zum Vorschein kommt. In aš-Šaʿrānīs Lehre von den beiden Rangstufen der Scharia wird das göttliche Gesetz dieser Idee des Kosmos unterworfen: Je nach der Art, die Allah den Menschen anerschafft, sind sie zu einer strengen oder milden Auslegung der Scharia angehalten. Das Gesetz verliert damit keineswegs seinen fordernden, ein Seinsollen begründenden Sinn. Diesen Irrtum konnte man womöglich in den Lehren Ibn ʿArabīs entdecken, in denen das Gesetz auf die Aufgabe beschränkt zu sein schien, dem Einen Wahren die Gelegenheit zu geben, sich selber als einen Gesetzgeber zu erkennen. Der Stachel der Ungewißheit über das, was nach dem Gericht kommt, mußte bleiben; dessen war sich aš-Šaʿrānī, wie gehört, gewiß. Aber es mußte auch gelten, daß der Mensch hier, im Diesseits, stets von Allah „am Schopfe gehalten“ werde und „auf einer geraden Straße“ wandere (Sure 11, 56) – die Unterschiedlichkeit der Veranlagungen der Menschen, von denen doch jeder einzelne so und nicht anders durch Allah geformt worden war, konnte nicht unter eine einzige Auslegung der Scharia gezwungen werden. Denn unter solchen Umständen wären Sein und Seinsollen viel zu oft nicht in eine Harmonie zu bringen, weil dieser ein mangelhaftes Seinkönnen entgegensteht. Die beiden Rangstufen des Gesetzes betrachtete aš-Šaʿrānī nämlich nicht als zwei parallel verlaufende Linien, von denen die eine oder die andere eingehalten werden muß, sondern als die Bereiche statthaften Abweichens vom Gleichgewicht, innerhalb deren es zahllose Positionen gibt: „Wer sich die Erkenntnis dieser Waage vollends angeeignet hat, der wird niemals eine der Aussagen der zur eigenständigen Entscheidung Befähigten und ihrer Nachahmer aus dem Geltungsbereich der Scharia ausmerzen können, denn jede Aussage neigt entweder zur Milde oder zur Strenge. Jede Aussage wird ihrer Rangstufe zugewiesen, und wer dies vollends erkannt hat, der wird auch keine

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Aussage finden, die einer anderen schariatischen ganz und gar widerspricht.“172 Die eigenständige Suche nach Entscheidungen ist, wenn man sie richtig erwägt, die zwingende Schlußfolgerung aus der Kosmologie und aus deren Auswirkungen auf das Gesetz. Al-Ḫaḍir ergriff aš-Šaʿrānī bei der Hand und durchmaß mit ihm das Verborgene, bis sie zur Quelle der Scharia gelangten. Alle Rechtsschulen, das erkannte aš-Šaʿrānī jetzt, hatten dort ihren Ursprung, keine durfte für sich in Anspruch nehmen, dieser Quelle näher zu sein als eine andere. „Und ich sagte mich von meiner bisherigen Auffassung los, nämlich daß (in jeder Frage) nur ein eigenständig Suchender die Wahrheit findet.“ Wer in der Nachahmung eines der Schulgründer befangen ist, wird niemals verstehen, daß jeder, der regelgerecht eine Entscheidung aus den Grundlagen des göttlichen Rechts herleitet, auf die Wahrheit stößt. Denn, wie al-Ḫaḍir nun erklärte, „durch den Schleier der Nachahmung ist ihm die Sicht auf die Quelle, zu der der Schulgründer vordrang, verwehrt“. Das bedeutet aber nicht, daß man sorglos zwischen den Schulen hin und herspringen darf. Daß man die Gelehrten gerade daran hindere, sei ein Zeichen für die große Gnade Allahs. Habe man sich nämlich erst in einer dieser Schulen so weit ausgebildet, daß man ihre Art der Argumentation zu durchschauen beginne, dann hieße es, einen wesentlichen Teil des Lebens verschwenden, wenn man zu einer anderen überginge – nie gelangte man dann zu jener Quelle! Al-Ḫaḍir veranschaulichte dies alles mit einem Bild, das er aš-Šaʿrānī beschrieb: Die Quelle der Scharia ist einer Handfläche zu vergleichen, die einzelnen Schulen sind die Finger; ein jeder hat drei Glieder, von denen jedes ein dreijähriges Studium bedeutet. In insgesamt neun Jahren kann man zur Quelle gelangen, wenn man bei einer Schule bleibt; geht man jedoch von einem Finger zum nächsten über, verlängert sich die Zeit entsprechend. „So kann mit dieser Waage nur derjenige arbeiten, der die Scharia mit den gleichen Augen betrachtet wie einst die Gefährten des Propheten?“ fragte aš-Šaʿrānī am Schluß, und alḪaḍir bestätigte ihm diese Erkenntnis. So ist es! Wie damals, als es weder die Schulen noch die eigenständig Suchenden und ihren Anhang gab! Alle Nachahmer werden wie die Prophetengenossen sein, indem sie einer Belehrung über die Vorschriften des Gesetzes nicht bedürfen. Das über Jahrhunderte erarbeitete Fachwissen wird freilich nicht nutzlos werden. Die selbständig Suchenden werden sich weiterhin damit beschäftigen, und sie werden danach handeln, mag jenes Fachwissen noch so fein verästelt sein, und so wird es fortan bleiben bis zum Jüngsten Tag.173 Anregungen Ibn ʿArabīs Hier endet der ursprüngliche Text der Ḫaḍir’schen Waage. Es schließt sich nun eine Blütenlese von Bemerkungen an, die aš-Šaʿrānī im Kreise seiner Getreuen äußerte, um diesen Text zu erklären. Insbesondere erörterte er die Zeugnisse anderer Ge-

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lehrter, die al-Ḫaḍir begegnet sein sollen. Dann folgte eine Erläuterung, die, wenn man die einleitende Formulierung sowie den schon erwähnten Hinweis auf das Datum der Niederschrift erwägt, wieder aus der Feder aš-Šaʿrānīs stammt.174 Das Kernstück der Ḫaḍir’schen Waage ist selbstverständlich die Lehre von den beiden Rangstufen, die jedoch nicht beliebig gewählt werden dürfen, sondern entsprechend der einem von Allah zugemessenen Kraft.175 Wer ersteres behauptet, erliege einem Mißverständnis, das man allerdings schon gegen aš-Šaʿrānī ins Feld geführt habe, wie wir erfahren. Auf verschiedene Weise bemüht er sich darum, solche Fehldeutungen seiner Absichten auszuräumen. Jeder Muslim solle diejenigen Vorschriften seiner Rechtsschule befolgen, die die meiste Anerkennung finden, und dürfe nur dann auf Bestimmungen einer anderen zurückgreifen, wenn diese ein größeres Maß an „Vorsicht“ erkennen ließen.176 Wahrscheinlich stellt sich aš-Šaʿrānī die ungelehrte Gesetzeserfüllung durch die Prophetengefährten so vor. Es gilt als ausgemacht, daß allein auf dem Wege des Schauens von jener Quelle des Heils Kunde erlangt werden kann; sie liegt, wie erwähnt, im verborgenen Seinsbereich. Al-Ḫaḍir riet denn auch, daß man sich durch langes Hungern und peinlich genaue Gesetzeserfüllung auf dieses Schauen vorbereiten möge. Aš-Šaʿrānī merkt an, daß er diesen Rat beherzigt habe, und läßt einiges von dem anklingen, was er in der Lebensbilanz in aller Breite über seinen Weg zum Erkennen geschildert hat – dort freilich noch ohne einen Hinweis auf eine Anleitung durch al-Ḫaḍir. Und dann enthüllt er dem Leser unversehens das Werk, durch das er zu seiner Ḫaḍir’schen Waage angeregt wurde: Es sind Ibn ʿArabīs Mekkanische Eröffnungen, in deren 73. Kapitel eine Reihe von Fragen erörtert wird, die auf al-Ḥakīm at-Tirmiḏī (gest. um 932) zurückgehen, den ersten, der die Gottesfreundschaft durchdachte und ihre theologischen und schariatischen Konsequenzen untersuchte. An der bezeichneten Stelle der Eröffnungen finde sich – „in der dritten Antwort auf diese Fragen“, schreibt aš-Šaʿrānī, was aber nicht zutrifft – eine Anspielung auf jene Waage, denn Ibn ʿArabī führe aus, daß alles Seiende in Allah seinen Ursprung habe und über ihn niemals hinausgelangen werde. Wer sich auf dem Weg zur Annäherung an Allah diesen „Standplatz“ erarbeitet hat, der wird laut aš-Šaʿrānī auch erkennen, daß aller Zwist über die vom „Hof der Namen Allahs“ ausstrahlende Scharia gegenstandslos ist. Wahrscheinlich hat aš-Šaʿrānī die vierte Frage im Auge, denn dort wird angedeutet, was er in wenigen Worten zusammenfaßt. Ibn ʿArabī beschäftigt sich im 73. Kapitel seiner Mekkanischen Eröffnungen mit der Zahl der Gottesfreunde, deren letzter – deren „Siegel“ – zu sein al-Ḥakīm atTirmiḏī behauptet hatte.177 Das „Siegel“ seiner Zeit will Ibn ʿArabī im Jahre 595 (begann am 3. November 1198) in Fes kennengelernt haben, und es geht ihm darum, die ganze Hierarchie dieser Menschen, die Allah nahe zu sich geholt habe, zu beschreiben. „Wie willst du mit etwas Geduld haben, dessen Kunde du gar nicht erfaßt hast?“ (Sure 18, 68) fragt al-Ḫaḍir Mose, der leichtsinnig verspricht, keinen Auf-

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schluß über die Taten des ihm fremden Weisen zu verlangen. Die Kunde aber meint laut Ibn ʿArabī das jenseits der Ratio statthabende Erkennen. Die Gottesfreunde bringen sich in den Besitz von Truppen, fährt Ibn ʿArabī fort, nämlich von Handlungen, die streng den Regeln der Scharia unterworfen sind und das Ich unter Druck setzen. Letzten Endes gehören diese Truppen jedoch zu dem, was von Allah selber ausgeht: „Nicht ihr habt (die Feinde in der Schlacht von Badr) getötet, sondern Allah, und nicht du schossest, sondern Allah!“ (Sure 8, 17). Es ist Allahs Werk, daß die, die ihm nahestehen, in den Besitz dieser Truppen gelangen, die Ibn ʿArabī als „Seine Namen“ deutet, als Erscheinungsformen Seines Wesens. „Die Entitäten sind die Manifestationen des Einen Wahren, und so läuft alles auf ihn zurück, wie alles von ihm ausgegangen ist, und jenseits von Allah gibt es kein Ziel!“178 – Hier finden wir, worauf aš-Šaʿrānī sich beruft: Al-Ḫaḍir verfügt über eine Einsicht in das Sein und das Seinsollen, die derjenigen Moses vorausliegt; man wird eines solchen Erkennens würdig, wenn man sich kasteit, doch muß man wissen, daß die Truppen, die einen zur Askese und skrupelhaften Gesetzeserfüllung treiben, wie alles, was ist, unmittelbar von Allah stammen, ja eine der Erscheinungsweisen des Wahren sind: Sein und Seinsollen fallen in eins, und daraus folgen ein Wie und ein Was, die aš-Šaʿrānī grundlegend wichtig sind. So wie das Diesseits sich in verwirrender Mannigfaltigkeit dem Blick des Muslims darbietet, in Wirklichkeit aber ein Sein ist, so ist auch das Gesetz in der bis ins letzte durchdachten Form, in der es den Zeitgenossen vorliegt, ein einziges und einheitliches.179 Ibn ʿArabī spricht daher von der Wahrheit der Einsichten eines selbständigen Suchers in einer ganz anderen Weise, als dies in der Rechtsgelehrsamkeit üblich ist. Dort war man der Überzeugung, daß in der Tat jeder, der sich einer solchen Suche verschreibt, das Richtige trifft, da er sich redlich bemüht und nach seinen Geisteskräften das in überlieferten Texten auffindbare Gesetz auslegt. Subjektiv ist er stets im Recht, und er muß dies bekräftigen, indem er selber sich an die Vorschriften hält, die aus seinen Einsichten folgen. Die Möglichkeit eines objektiven Irrtums bleibt indessen bestehen, aber dieser Irrtum zieht keine Jenseitsstrafe nach sich. Bei Ibn ʿArabī ist jede Möglichkeit eines Irrtums ausgeschlossen. Aš-Šaʿrānī zitiert ohne Quellenangabe eine ganze Reihe diesbezüglicher Äußerungen. Bei Erwähnung des uralten sunnitisch-schiitischen Streits, ob das Abwischen der Pantoffeln ausreiche, um die rituelle Reinheit der Füße zu bewirken – die Schiiten verneinten dies –, merkt Ibn ʿArabī an: „Niemand darf das Urteil eines eigenständig Suchenden bekritteln, denn die Scharia, die Allahs Urteil ist, hat jenes Urteil bereits bestätigt, so daß es Teil der Scharia wurde, indem Allah es bestätigte… Dies ist ein Problem, bei dem viele Anhänger der Rechtsschulen auf eine unstatthafte Antwort verfallen, weil sie sich nicht vergegenwärtigen, worauf wir sie aufmerksam machten, obwohl sie es an sich schon wußten. Jeder, der einen eigenständig Suchenden des Irrtums zeiht und den Fehler dessen Wesen zuschreibt, der bezichtigt gleichsam den Gesetzgeber,

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also Allah, des Irrtums bezüglich dessen, was er als ein Urteil bekräftigte.“ Die eigenständig Suchenden sind nämlich die Erben der Propheten, eben weil Allah ihnen dieses Suchen nach dem Inhalt des Gesetzes erlaubt hat. Sie treffen die Wahrheit so unweigerlich, wie die Propheten bei der Verkündung der göttlichen Botschaft gegen jeden Fehler gefeit sind.180 Abū Ḥanīfa als selbständig Suchender Solch ein eigenständiger Sucher ist der „größte Imam“ Abū Ḥanīfa gewesen. Dies zu belegen, verwendet aš-Šaʿrānī viele Seiten seiner 1555 oder 1556 verfaßten Ergänzungen zur Ḫaḍir’schen Waage. Denn manche Schwachköpfe hätten sich unterstanden, die feinsinnigen Ableitungen aus Koran und Sunna, die Abū Ḥanīfa gefunden habe, zu bemängeln; jene seien unfähig, die Gedanken des Imams nachzuvollziehen. Aš-Šaʿrānī glaubt jedoch zu erkennen, daß sich die Zahl der Anhänger Abū Ḥanīfas stetig vermehre. „Deshalb, mein Bruder, handle nach allen Aussagen des Imams Abū Ḥanīfa und seiner Gefolgsleute und trenne nicht zwischen ihm und den übrigen Schulen!“ Eine solche Unterscheidung der vier Schulgründer in bessere und schlechtere ist ebenso verboten wie die Spekulation darüber, welche der Propheten vor Mohammed die bedeutendsten gewesen seien (vgl. Sure 2, 285 und 3, 84). Alle Schulgründer sind nämlich von dem Übel der eigenen juristischen Meinung frei!181 – Das gerade war es, was die anderen Schulen den Hanafiten vorwarfen, nämlich daß Abū Ḥanīfa allzu oft ohne Rücksicht auf Koran und Sunna entschieden und dabei seinem Sachverstand vertraut habe. Al-ʿUṯmānī ad-Dimašqīs Überblick über die Meinungsvielfalt der Rechtsschulen brachte die Außenseiterstellung der Hanafiten, soweit die Wertung der Rechtsquellen betroffen ist, deutlich zum Ausdruck: Die eigenständige Suche nach Entscheidungen dürfe lediglich meinen, daß man von einem autoritativen Text her zu einem Urteil gelange; denn nur so sei der gesetzgeberische Wille Allahs zur Geltung zu bringen.182 – Alle Imame, dies betont aš-Šaʿrānī wiederholt und verfälscht dabei die frühe Geschichte des islamischen Rechts, haben es ohne zu wanken mit der Scharia gehalten, was immer diese bestimmen mochte. Abū Ḥanīfas Auslegung der Quellentexte war allerdings so subtil, daß, wie schon Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, bemerkte, nur die Leute, die zum Schauen begabt waren, ihm folgen konnten. Abū Ḥanīfa sei einer der Großen unter den Visionären gewesen.183 Er habe wahrgenommen, welche Art von Sünden im Wasser der rituellen Waschung gelöst waren, Ehebruch, Verleumdung und andere, und so sei es nur zu verständlich, daß man von ihm drei unterschiedliche Aussagen über die Statthaftigkeit der Wiederverwendung solchen Wassers überliefert. – Angebliche Schlußfolgerungen aus autoritativen Texten, zu denen Abū Ḥanīfa gelangt sei, hat aš-Šaʿrānī in einem Heft gesammelt, und er hat die Lehren Abū Ḥanīfas sorgfältig geprüft und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß der

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große Imam nicht nur in den Fragen des Rechts, sondern auch in seinen Handlungen und seinen Auffassungen vom islamischen Glauben unverbrüchlich den Koran und die Sunna einhielt. Aš-Šaʿrānī scheint darin den Grund für die weite Ausdehnung der hanafitischen Schule zu sehen; er zitiert Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī, der geweissagt habe, wenn sich die Zeit der irdischen Welt dem Ende zuneige, dann werde die hanafitische Schule die letzte von den vieren sein, die zugrunde gehe. Nicht umsonst hätten Mālik b. Anas und aš-Šāfiʿī sich lobend über ihren älteren Gefährten geäußert, und daraus wieder ergebe sich, so aš-Šaʿrānī, die Pflicht der Malikiten und Schafiiten, den „größten Imam“ zu preisen. Da sei eines Tages ein greiser Rechtsgelehrter mit einem Manuskript bei aš-Šaʿrānī aufgetaucht, und das habe lauter Widerlegungen von Rechtsmeinungen Abū Ḥanīfas enthalten. AšŠaʿrānī sei gerade damit beschäftigt gewesen, ein Werk über die Ruhmestitel des Imams niederzuschreiben, und so habe er einen Blick in das Manuskript geworfen und dann den Besucher gefragt, woher er denn seine Weisheit habe. „Von Faḫr adDīn ar-Rāzī (gest. 1210) übernommen“, lautete die Antwort, worauf aš-Šaʿrānī den Ungenannten belehrt haben will: „(Der Schafiit) ar-Rāzī steht zum Imam Abū Ḥanīfa wie einer der Untertanen zum erhabensten Sultan. Kein Untertan darf gegen seinen Imam Einspruch erheben, es sei denn mit einem zweifelsfreien Recht, etwa unter Hinweis auf die eindeutigen Gesetzestexte. Was aber zu den Ergebnissen selbständiger Suche gehört, die gewiß sind, so hat niemand das Recht, gegen sie Einwände zu erheben. Die Aussagen des Imams Abū Ḥanīfa sind durchweg von dieser genannten Art.“184 Aš-Šaʿrānī unterbreitet dem Leser eine Sammlung von Zitaten aus der älteren Schariawissenschaft, die allesamt darauf hinauslaufen, daß Abū Ḥanīfa keineswegs daran gelegen war, das Schariarecht von Analogieschlüssen und von der Intuition der Sachkenner abhängig zu machen. Immer habe er sich um die Überlieferung bemüht und nie ohne einen solchen Quellentext eine Entscheidung gefällt. Auch die Meinung mancher Gelehrter, daß Abū Ḥanīfa zwar so verfahren sei, aber allzu oft schwach bezeugte Ḥadīṯe herangezogen habe, weist aš-Šaʿrānī entschieden zurück. Bevor er den „Pfad der Leute“ betrat, beschäftigte auch er sich mit derartigen Fragen und stellte eine Schrift zusammen, in der er die Textzeugen erörterte, die in den einzelnen Schulen zur Lösung eines bestimmten Problems zitiert werden. – Damals hatte ihm al-Ḫaḍir noch nicht die Waage geschenkt, und so war ihm nicht bewußt, daß die in der ḥadīṯ-Gelehrsamkeit erörterte Frage nach der zuverlässigen Verbürgung einer Überlieferung zweitrangig ist. Doch dieser späteren Einsicht ungeachtet, habe er sich davon überzeugen können, daß Abū Ḥanīfa ausschließlich glaubwürdige Tradenten anführe.185 – Für die herkömmliche Schariawissenschaft ist gerade die Zuverlässigkeit der Überlieferer eine Quelle erbitterter Auseinandersetzungen zwischen den Schulen. Wer aber im Besitz der Ḫaḍir’schen Waage ist, den läßt dergleichen ungerührt; er thront wie ein Herrscher über dem Getümmel

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und fällt kühl seine Urteile: hie die milde Vorschrift, dort die strenge. Davon jedenfalls schwärmt aš-Šaʿrānī. Wenn nun Malikiten und Schafiiten den Hanafiten vorhalten, sie gestatteten zu Unrecht das rituelle Gebet, ohne daß die Eröffnungssure hergesagt wird, und wenn sie den Hanafiten das Prophetenwort unterbreiten, das lautet: „Kein rituelles Gebet ohne die Eröffnungssure!“ dann folgt daraus eben nicht, daß Abū Ḥanīfa sich geirrt und ein wichtiges Ḥadīṯ übersehen hat. Denn wenn man Milde walten läßt, dann meinte der Prophet, kein Gebet sei ohne das Rezitieren der ersten Sure vollständig, obgleich es als gültig angerechnet werden könne.186 Die Rechtfertigung der Schariamethodik Abū Ḥanīfas mit der Theosophie Ibn ʿArabīs Die Ḫaḍir’sche Waage verschafft aš-Šaʿrānī die Rechtfertigung für seine Verknüpfung der Schariawissenschaft mit der von Ibn ʿArabī ausgehenden, jedoch durch die Bewahrung der Furcht vor dem, was nach dem Gericht kommt, verwässerten Lehre von der Vereintheit des absoluten und des konditionierten Seins. Zugleich nutzt ašŠaʿrānī den Hinweis auf die Unterrichtung durch al-Ḫaḍir, um seine unter der osmanischen Herrschaft entdeckten hanafitischen Neigungen hervorzukehren. Die Tatsache, daß Abū Ḥanīfa die Rechtsgelehrsamkeit noch nicht in dem Maße wie die Schulgründer nach ihm auf die Überlieferung verpflichtete, bedeutet in den Augen der anderen Richtungen einen schweren Mangel. Aš-Šaʿrānī deutet ihn in einen Vorzug um, indem er Abū Ḥanīfas Befähigung zur freien Entscheidung rühmt. Mittels des Schauens habe dieser erkannt, was sich hinter dem Wortsinn der Quellentexte an Wahrheit verbarg, gleichwie sich in dem unzulänglichen Erscheinungsbild, welches die den Sinnen offenstehende Welt bietet, die Vollkommenheit des göttlichen Bestimmens verhüllt. Diesen Gedankengang, der in der Ḫaḍir’schen Waage nur angedeutet wird, entwickelt aš-Šaʿrānī in der Großen Waage, seinem wichtigsten Werk zur Rechtswissenschaft. Es setzt die Arbeiten fort, von denen er eben gesprochen hat und die in die Zeit vor dem „Betreten des Pfades“ zurückreichen sollen. Die Frucht der damaligen Anstrengungen ist eine Schrift gewesen, der er den Titel Befreiung der ganzen Glaubensgemeinschaft von den Kümmernissen gegeben hat. Dieses Buch erwähnt er in seiner Lebensbilanz, und er verzeichnet, bei welchen bedeutenden Gelehrten er dafür Lob einheimste.187 In jenen Tagen war es aš-Šaʿrānī, wie eben festgestellt, lediglich darum gegangen, aus dem ḥadīṯ die Textzeugen aufzuschreiben, auf die sich die Anhänger der Schulen jeweils beriefen. Ihm taten die vielen Handwerker, Derwische und anderen kleinen Leute leid, die sich redlich um einen der Scharia entsprechenden Lebenswandel bemühten und von den Gelehrten immer wieder zu hören bekamen, sie machten Fehler über Fehler. So verwirrend seien oft die Auskünfte, daß der Laie gar nicht wissen könne,

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ob das, was man ihm sage, wirklich durch ein Ḥadīṯ abgesichert sei oder nicht. AšŠaʿrānī erkannte, daß man diesen Mißlichkeiten nur entrinnen könne, wenn man auf die Sunna des Propheten und der Vier Rechtgeleiteten Kalifen zurückging und diese Texte frei „von den Aussagen aller Sucher eigenständiger Lösungen“ darbot. Aš-Šaʿrānī wertete alle großen ḥadīṯ-Sammlungen bis hin zu denjenigen as-Sujūṭīs aus und suchte alles zusammen, was mit Gebot und Verbot und mit den edlen Charaktereigenschaften zu tun hat, nach denen sich der Muslim bilden soll. Das Prinzip der zwei Rangstufen der schariatischen Vorschriften kündet sich in der Befreiung der ganzen Glaubensgemeinschaft schon an. Widersprüchliche Aussagen des Propheten ließ aš-Šaʿrānī unter Verzicht auf haarspalterische Harmonisierung nebeneinander bestehen. Wenn man ein Ḥadīṯ finden konnte, in dem Mohammed den Besuch der Gräber heiliger Männer zu kultischen Zwecken untersagte, ihn in einem anderen dagegen erlaubte, dann wollte aš-Šaʿrānī nicht darüber streiten, welche der beiden Überlieferungen durch die widersprechende abrogiert sei und warum, und noch weniger wollte er entscheiden, ob die Befolgung der abrogierten eine Jenseitsstrafe nach sich ziehe. Vielmehr meinte er, die Annahme sei anstößig, Mohammed habe zunächst die Unwahrheit und danach die Wahrheit verbreitet. Was man die abrogierende Überlieferung nenne, sei nichts weiter als die im Augenblick herrschende Meinung. Wer sich an die Meinung der Minderheit halte, verstoße damit noch nicht gegen die Scharia.188 Die Große Waage In der Großen Waage verfolgt aš-Šaʿrānī ähnliche Ziele wie in der Befreiung der ganzen Glaubensgemeinschaft, aber nun eben als Gottesfreund, der von al-Ḫaḍir an die eine Quelle der Scharia und aller von autoritativen Texten her entwickelten Bestimmungen geführt worden ist. In der Einleitung zu diesem Werk nimmt er deswegen ausführlich dazu Stellung, wie sich die Scharia und die spirituelle Welt des Geschauten zueinander verhalten und wie dieses Verhältnis für die Rechtsgelehrsamkeit fruchtbar gemacht werden kann. Das Prinzip von den zwei Rangstufen der Scharia überträgt er auf die beiden Seinsbereiche. Die Scharia, insofern als sie ein am Diesseits ausgerichtetes Regelwerk ist, wird durch die höhere Wahrheit überwölbt, wie sie der Gottesfreund im Verborgenen vorfindet. Und eben wegen dieser höheren Wahrheit kann kein Urteil eines eigenständig Suchenden je in einen Widerspruch zur Scharia geraten. Die Rangstufen der Milde und der Strenge leiten sich aus den schariatischen Kategorien der Verpflichtung zur peinlich genauen Erfüllung einer Vorschrift und der unter gewissen, klar definierten Umständen statthaften Erleichterung her. Das räumt aš-Šaʿrānī ein, aber er betont, daß Milde und Strenge in seiner Lehre etwas viel Allgemeineres bedeuten. Milde ist immer im Hinblick auf die ihr gegenüberstehende strengere Regelung zu verstehen und setzt

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voraus, daß der Vollzug der strengeren für den Muslim die Belastung mit einer Verpflichtung mit sich brächte, die er nicht erfüllen kann. Allah aber belastet jeden nur nach der ihm gegebenen Fähigkeit, eine Aussage, die der Koran zu wiederholten Malen trifft.189 Was für den Starken schon eine Erleichterung darstellt, mag für den Schwachen genau das sein, was seinen Möglichkeiten entspricht und deswegen für ihn als Pflicht gilt. Ein Kranker kann vielleicht das rituelle Gebet mit Mühe im Sitzen vollziehen, und das muß er dann auch, während der Gesunde sich eine solche Erleichterung nicht herausnehmen darf. Wer also unter Beachtung der von der Scharia definierten Umstände eine Erleichterung beansprucht, der handelt recht, auch wenn der jeweilige Schulgründer nicht eigens hierauf verwies. Desweiteren gilt, daß auch derjenige, der eine Vorschrift strikt beachtet, obwohl er es gar nicht müßte, im Recht ist, außer in Fällen, in denen eine Anweisung des Gesetzgebers die strikte Befolgung ausdrücklich verbietet. So hat Mohammed festgestellt: „Es gehört nicht zur Frömmigkeit, auf Reisen zu fasten.“ Deshalb ist dies zu unterlassen, denn man könnte anderenfalls an der Gesundheit Schaden nehmen. Freilich ist das Ziel alles durch die Scharia geregelten Handelns die Annäherung an Allah, und diese kann nur gelingen, wenn die Triebseele dergestalt geläutert ist, daß sie diese Handlungen heiteren Sinnes vollzieht und sie schließlich sogar liebt. „Jeder, der eine Tat der Gottesverehrung durchführt und dabei diese Tat verabscheut, da sie strapaziös ist, hat bereits den Bereich der schariatischen Annäherungen verlassen, mit denen er dem Hof Allahs nahekommen möchte…“ Gerade die supererogativen Leistungen dürfen nicht als eine schwere Zumutung empfunden werden, denn man erbringt sie doch freiwillig! Aber auch die üblichen Pflichthandlungen sollen nicht gegen die natürliche Konstitution oder gegen im Augenblick wirkende Hemmnisse vollzogen werden. So ist beispielsweise das rituelle Gebet untersagt, wenn den Muslim die Schläfrigkeit überkommt; beginnt er es dennoch, dann muß er sich dazu zwingen, „und es liegt auf der Hand, daß dadurch der Jenseitslohn verfehlt wird, der aus der Liebe zum Gehorsam resultiert“.190 Nur die Liebe, nicht der Zwang, ermöglicht es dem Muslim, sich ganz der göttlichen Fügung zu öffnen und vor den Schöpfer zu treten. Jeglicher Zwang zeugt nämlich von der noch nicht ausgeschalteten Wirksamkeit auf das Diesseits gerichteter Bestrebungen. Wie erinnerlich, sollte das unentwegte Gottesgedenken, dessen sich aš-Šaʿrānī und seinesgleichen unterziehen, am Ende in die durch äußere Vorgänge nicht mehr zu beeinträchtigende Zugegenheit vor Allah münden. Geprägt von den Erfahrungen eines Gottesfreundes, erinnert aš-Šaʿrānī mit diesen Überlegungen an einen schon im Koran ausgesprochenen Grundsatz des Islams, nämlich daß es in Sachen des getätigten Glaubens keinen Zwang geben soll (Sure 2, 256);191 Allah will den Muslimen die Ausführung der Riten leicht machen, nicht schwer (Sure 2, 185). Die herkömmliche Rechtswissenschaft läßt mithin diesen höchst wichtigen Grundsatz der prophetischen Verkündigung häufig außer acht,

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und es bedarf erst der Gottesfreundschaft, um diese Fehlentwicklung zu berichtigen. Sie dringt zur Erkenntnis der von Allah geprägten Natur eines jeden Muslims vor, und sie erschließt ihm die für ihn angemessene, von Allah so und nicht anders geforderte Art der Verehrung des Schöpfers und der Meisterung des Alltags. Die herkömmliche Rechtswissenschaft in ihrer Einstufigkeit – im Diesseitigen befangen – ist zu einer solchen Leistung nicht in der Lage, und deswegen bedingt die Zweistufigkeit der schariatischen Vorschriften eine Zweistufigkeit juristischer Erkenntnis, in der das auf das Diesseits bezogene Wahrnehmen und Erwägen der Sachverhalte und der autoritativen Texte überstiegen wird durch die unmittelbare Schau auf das Bestimmen Allahs. In der Großen Waage legt aš-Šaʿrānī dar, daß die Schulgründer mit solcher Zweistufigkeit des Erkennens begnadet gewesen seien. Auf dem Wege des Schauens erkannten sie überdies, daß Allah die Vielfalt des diesseitigen Lebens nicht in einer einzigen Rechtsschule regeln wollte, sondern in mehreren unterschiedlichen, um ihr besser gerecht zu werden. So war keiner der großen Imame darauf bedacht, den Muslimen ein vollständiges und in sich geschlossenes System zu hinterlassen. Jeder der Schulgründer verzichtete auf manche Regelungen, um sie seinen Rivalen anheimzustellen, denn er wußte, daß dies dem Willen Allahs entsprach, so wie die Gottesfreunde wissen, welche Art von Lebensunterhalt dem einen oder dem anderen Menschen von Allah zugeteilt ist. Soviel zur Unterschiedlichkeit der Rechtsschulen, die sich jedoch in den beiden Rangstufen der Milde und der Strenge, wie gezeigt, auflöst! Der Ursprung der Scharia im Verborgenen Die großen Imame stützten ihre Rechtsmeinungen nicht nur auf den Koran und die Sunna, wie man in der herkömmlichen Jurisprudenz annimmt. Sie schauten auch in das Verborgene, und spirituell standen sie mit dem Gottesgesandten im Verkehr. Ihn befragten sie über alles, was sie dann in den umfangreichen Handbüchern niederschrieben. Aš-Šaʿrānī weiß, daß man diese Behauptung mit einigem Befremden lesen wird. Darum holt er ein wenig aus und weist darauf hin, daß der spirituelle Kontakt mit Mohammed ein gängiges Huldwunder sei, mit dem Allah die großen Gottesfreunde zu begnaden pflege – und wenn man nicht einmal den Schulgründern die Gottesfreundschaft zubilligen wolle, wem dann? Viele Gottesfreunde berichteten von solchen Erfahrungen, unter den jüngst Verstorbenen beispielsweise as-Sujūṭī, der sich sicher war, Mohammed auch wachen Auges zu sehen und mit ihm Gespräche zu führen.192 Im Besitz von ʿAbd al-Qādir aš-Šāḏilī (gest. nach 1538), einem Schüler und Biographen193 as-Sujūṭīs, war eine Notiz aus dessen Feder; as-Sujūṭī schrieb einem Unbekannten, der ihn gebeten hatte, beim Sultan Qaitbai Fürsprache einzulegen: „Wisse, mein Bruder, daß ich bis heute fünfundsiebzigmal im wachen Zustand mit dem Gottesgesandten zusammengekommen bin und mich mit ihm

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unterhalten habe. Müßte ich nicht fürchten, daß er sich vor mir verhüllte, wenn ich bei den Herrschern antichambrierte, stiege ich zur Festung hinauf, um beim Sultan für dich vorstellig zu werden. Doch bin ich ein Diener der Überlieferung vom Propheten; ich brauche ihn, um die Ḥadīṯe zu berichtigen, die die Überlieferungswissenschaftler entsprechend ihrer Methode für schwach erklären. Man kann doch nicht bezweifeln, daß der Nutzen, der darin liegt, bei weitem denjenigen überwiegt, den eine Fürsprache für dich brächte!“ Zahlreiche weitere Aussagen in diesem Sinne bringt aš-Šaʿrānī bei, um seine Ansichten bestätigt zu finden. Allerdings gerät er auf diese Weise in eine Schwierigkeit, die er bisher noch nicht bedacht hat. Wenn man nämlich für wahr erkennt, daß es zwischen der Milde und der Strenge zahllose je nach dem Individuum bemessene Arten der Erfüllung einer schariatischen Vorschrift gibt, wie können dann die Institutionen der Rechtspflege überprüfen, ob dem Gesetz Genüge geschieht? Ist nicht auch die Rechtssicherheit in der muslimischen Gesellschaft ein hohes Gut, dessen Schutz nun einmal auf die Gültigkeit äußerer, diesseitsverhafteter Kriterien angewiesen ist? „Mein Bruder Afḍal ad-Dīn geriet mit einem Rechtsgelehrten in einen Streit über ein Problem und sagte: ‚Bei Allah, keiner der großen Imame baute seine Schule auf etwas anderem auf als den Regeln der durch echte Visionen bekräftigten spirituellen Wahrheit. Es steht deswegen fest, daß die Scharia niemals dieser Wahrheit widerspricht. Es bleibt diese Wahrheit nur dann der Scharia fern, wenn etwa ein Richter die Aussage falscher Zeugen, deren Unbescholtenheit er für gegeben ansah, berücksichtigt; wären jene keine falschen Zeugen gewesen, wären die Wahrheit des verborgenen Seinsbereichs und die Scharia zur Übereinstimmung gekommen. Denn prinzipiell ist jene Wahrheit die Scharia und umgekehrt.‘“ In der Tat, schreibt ašŠaʿrānī, verlangt der Geber der Scharia, daß alle Umstände, die nach Maßgabe des Gesetzes beurteilt werden sollen, gemäß dem Augenschein, d. h. gemäß den mit den fünf Sinnen erfaßbaren Wahrnehmungen, beschrieben werden; es ist verboten, nach den Regungen des Gemüts zu fragen. Dies ist ein Beweis für die außergewöhnliche Barmherzigkeit, die Allah den Muslimen erzeigt. Denn wie oft verstricken sich Menschen in Lügen und spiegeln etwas vor, was ihren geheimen Wünschen und Empfindungen gar nicht entspricht. Darum begnügt man sich mit dem von außen erkennbaren Gehorsam und fragt nicht, ob der Betende vielleicht gar ein Ketzer ist. Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß Allah in jedem Fall wünscht, daß Handlung und Gesinnung übereinstimmen – daß Scharia und verborgene Wahrheit eins sind. Aš-Šaʿrānī löst die Schwierigkeit, auf die er gestoßen ist, indem er die Gesinnung für das Entscheidende erklärt: Die Urteile des diesseitigen Richters nehmen den an äußeren Kriterien ablesbaren Sachverhalt für das Eigentliche, und um das Diesseits dem göttlichen Gesetz zu unterwerfen, taugt dieses Verfahren auch. Allah aber schaut auf die Gesinnung und wird geheuchelten Gehorsam bestrafen.Von der Gesinnung her – und nicht, wie der Richter, vom äußeren

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Vollzug her – wird er sein Urteil fällen, und nur wenn Handlung und Gesinnung übereinstimmen, ist eine Tat des Gehorsams auf das Jenseitsverdienst anrechenbar. So gewinnt aš-Šaʿrānī aus der Erörterung des Verhältnisses von forum externum und forum internum ein zusätzliches Argument für die Stichhaltigkeit seiner Lehre von der Zweistufigkeit der schariatischen Vorschriften einerseits und der Zweistufigkeit der juristischen Erkenntnis andererseits. Der im Diesseitigen befangenen Auslegung der Scharia wird nur die diesseitige Hülle einer Handlung zugänglich. Diese Auslegung verfehlt daher zweierlei, zum einen die Erkenntnis, ob Strenge oder Milde angebracht war und worin beides im betreffenden Einzelfall hätte bestehen können, zum anderen und mit ersterem untrennbar verbunden, ob eine Harmonie von Tat und Gesinnung vorlag.194 Erläuternde Skizzen Der Nutzen der Waage, die aš-Šaʿrānī von al-Ḫaḍir erhalten haben will, liegt vor allem darin, daß die vielen Muslime, die nun entsprechend den ihnen von Allah zugewiesenen Fähigkeiten die Vorschriften in ihrer milden Form beachten, keine Gewissensbisse haben müssen. Die Erleichterungen, die ihnen die herkömmliche Rechtsgelehrsamkeit unter bestimmten klar umrissenen Voraussetzungen gewährte, waren doch immer nur Ausnahmen, und man mußte sich fragen, ob sie einem auch wirklich zustanden. Mit derartigen quälenden Gedanken hatte es jetzt ein Ende:195 Großzügige und strikte Auslegungen des göttlichen Gesetzes, die die vier bedeutenden Schulgründer und auch die Imame der untergegangenen Richtungen – aš-Šaʿrānī versteht unter ihnen die Anhängerschaft berühmter Sunniten wie Sufjān b. ʿUjainas oder Muḥammad b. Ǧarīr aṭ-Ṭabarīs – in Umlauf brachten, entstammen allesamt der einen Quelle beim „Lotosbaum“, an der auch aš-Šaʿrānī einen Augenblick hatte stehen dürfen. Hatte er in der Ḫaḍir’schen Waage schon versucht, seine Vorstellungen mit einer Zeichnung zu veranschaulichen, so bietet er in der Großen Waage dem Leser eine ganze Anzahl von Skizzen – ein im islamischen Schrifttum, zumal im theologischen und rechtswissenschaftlichen, recht ungewöhnliches Vorgehen.196 Eine nicht auftrennbare Kette bindet auch den letzten „Nachahmer“ an den nicht näher beschriebenen „Hof der Offenbarung“. Dies zeigt aš-Šaʿrānī mit der ersten Skizze. Ganz oben ist der Ort der noch unkonditionierten Offenbarung. Ihr folgt der Thron, auf dem Allah sitzt und die ganze Schöpfung lenkt. Unter ihm befindet sich der Fußschemel (arab.: al-kursī), der laut Sure 2, Vers 255 das ganze Diesseits umschließt. Der Fußschemel ist, wie erinnerlich, zugleich das Podest, von dem herab der vollends dem Diesseitigen, dem Ich entwordene höchstrangige Gottesfreund, der Pol (arab.: al-quṭb), in Allahs Bestimmen einzugreifen vermag. Denn er ist der Inbegriff des Menschen als des von Allah zum Statthalter über die

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Schöpfung (Sure 2, 30) Eingesetzten. Daher ist dies der ihm angemessene Ort, denn ihm sind alle Willensäußerungen Allahs wie die eigenen, und die Ichhaftigkeit und Diesseitsgebundenheit sind ganz von ihm gewichen, weswegen er es ist, in dem Allah sich selber erkennt.197 Unter dem Fußschemel, dem Podest, ist das höchste Schreibrohr eingeordnet: Die vor dem Beginn des Schöpfungshandelns ergangenen Bestimmungen des Einen Wahren werden aufgezeichnet und erreichen dadurch die erste Stufe auf dem Weg zur Verwirklichung im Diesseits. Es schließt sich nach unten hin die wohlverwahrte Tafel (Sure 85, 22) an, in die das Schreibrohr die von Allah her empfangenen Bestimmungen vor aller Zeit eingeritzt hat. Darunter befinden sich die „Tafeln des Auslöschens und Bestätigens“, der Ort, von dem aus der Eintritt des von Allah Verfügten in die Zeitlichkeit vonstatten geht. Denn das Diesseits ist so verfaßt, daß in ihm die überzeitlichen Anordnungen des Einen Wahren nur in einer zeitlichen Aufeinanderfolge verwirklicht werden können. Gabriel, der Botenengel, ist deshalb im Bereich unter diesen Tafeln beheimatet, und unter ihm wiederum der Prophet, dann seine Gefährten, dann die großen Schulgründer und schließlich die Masse der Muslime (Abb. 5). Es ist nicht ausgeschlossen, daß ašŠaʿrānī bei dieser Skizze an das Schichtenmodell der spezifisch „islamischen“ Kosmographie gedacht hat, wie es as-Sujūṭī in einer bekannten Abhandlung beschreibt.198 In den gedruckten Ausgaben der Großen Waage folgt eine Bemerkung aš-Šaʿrānīs, die sich mit der wiedergegebenen Skizze nicht in einen Zusammenhang bringen läßt; sie bezieht sich wahrscheinlich auf eine weitere, die er der Handschrift beigab. Dem Koran und der Scharia, die von Mohammed herkommt, habe er je ein Feld zugewiesen. Damit wolle er ins Gedächtnis rufen, daß der Mensch den Koran nicht vollständig begreife und auf die Interpretationshilfen Mohammeds angewiesen sei. Allah selber habe das so gewollt, sagt er doch im Koran: „Wer dem Gesandten gehorcht, der hat Allah gehorcht“ (Sure 4, 80). Mohammed ist demnach bevollmächtigt, von sich aus – und das heißt in Wahrheit, von Allah selber her – Gesetze zu erlassen: Wie das Schöpfungshandeln Allahs durch den vor aller Zeitlichkeit geschaffenen kosmischen Mohammed, den Makrokosmos, hindurch in die Zeitlichkeit eintritt,199 so auch Allahs Gesetzesrede. Der Strom der Scharia fließt durch Mohammed hindurch, wie in einer weiteren Skizze veranschaulicht wird, und ist durch viele Menschen nach ihm hindurch wirksam. Sie alle vermitteln dem Nachahmer die Berührung mit dem Gesetz des Einen Wahren. Die zweite hier wiedergegebene Skizze stellt einen Baum dar, der an einem Gewässer wächst. Dazu schreibt aš-Šaʿrānī: „Schau, mein Bruder, auf die Quelle unten am Baum und auf die Äste, Zweige und Früchte, dann wirst du entdecken, daß sie alle von der Quelle der Scharia herkommen. Die großen Äste sind den Schulgründern zu vergleichen, die kleinen Äste den Lehrmeinungen der bedeutenden Nachahmer, die Zweige, die aus den Ästen treiben, den Äußerungen der Studenten dieser Nachah-

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Abb. 5: Die Stufen der Vermittlung des göttlichen Gesetzes

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Abb. 6: Der Baum an der Quelle der Scharia

mer; und die roten Punkte über den kleinen Zweigen, das sind die Fragen, die man den Aussagen der Gelehrten eines jeden Zeitalters abgewinnt (Abb. 6), bis der Mahdi auftreten wird. In seiner Epoche wird die Bindung an das Handeln gemäß den Ansichten der früheren Rechtsschulen aufgehoben. Diese wurden durch die Leute der Enthüllung unmißverständlich dargelegt. Dem Mahdi wird Allah nämlich die Herrschaft gemäß der Scharia Mohammeds eingeben, und zwar in völliger Übereinstimmung mit ihr dergestalt, daß, wäre der Gottesgesandte am Leben, er dem

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Mahdi sämtliche Anordnungen bestätigte. Denn Mohammed sprach in einem Ḥadīṯ über den Mahdi wie folgt: ‚Er tritt in meine Spur, ohne einen Fehler zu machen.‘“ Nach dem Mahdi wird Jesus herabkommen, und ihm wird aus dem Munde Gabriels die Scharia Mohammeds übermittelt. „Keiner der Propheten, keiner der frühen und der späten Gelehrten hat je den wahren Kern der Scharia Mohammeds verlassen, und so stehen alle Propheten und Gottesfreunde unter dem Kreis der Scharia Mohammeds; ihr Wissen leitet sich von der Quelle seiner Scharia, vom Baum seines Wissens her… Jeder, der diesen Baum betrachtet und den Blick in ihn vertieft, der wird niemals eine… Äußerung zum Gesetz finden, die nicht mit dem, was vor ihr ist, verknüpft ist.“ Zwei weitere Skizzen sollen den Betrachter zu eben dieser Erkenntnis führen. In einen engen Kreis in der Mitte des Blattes sind die Worte „Die Quelle der lauteren Scharia“ hineingeschrieben; ein großer konzentrischer Kreis um diesen herum ist in achtzehn Segmente aufgeteilt, in denen die Namen der vier Schulgründer und anderer Leuchten des Sunnitentums stehen. Wie der beigegebene Text den Leser belehrt, handelt es sich um die selbständigen Sucher, sowohl jene, deren Ergebnisse nicht mehr in der Praxis genutzt werden, als auch die vier, die für die muslimische Gesellschaft maßgeblich geworden sind. Jedes Segment grenzt an den mittleren Kreis, alle Rechtsschulen gehen unmittelbar auf die Quelle zurück, keine verdient den Vorzug vor den übrigen. Auch wie ein sich verbreiterndes engmaschiges Netz zeichnet aš-Šaʿrānī diesen Sachverhalt: Dem Winkel γ eines gleichschenkeligen Dreiecks ist ein kleiner Kreis einbeschrieben, jene Quelle, und unter ihm breitet sich ein Netz von Linien aus, die parallel zu den Seiten a und b laufen und, indem sie sich schneiden, zahlreiche rautenförmige Maschen bilden. Jede Masche dieses Fischernetzes ist über die Schnittpunkte in vielfältiger Weise mit dem Kreis verbunden. AšŠaʿrānī setzt diese Serie von Skizzen mit einer weiteren fort, die dem Leser versichern soll, daß die Zugehörigkeit zu einer der vier Schulen – zu welcher auch immer – ihm ein günstiges Urteil im Gericht verschaffen wird. Mitten auf einem rechteckigen Feld ist die Waage errichtet, auf der die Taten abgewogen werden. Da innerhalb des Rechtecks jede Seite einer der vier Schulen zugeordnet und das entsprechende Feld angefüllt ist mit Muslimen dieser Schule, die der Entscheidung harren (Abb. 7), sonst aber außer dem Standplatz der Waage kein freier Raum gelassen wurde, muß man folgern, daß alle Muslime, welcher der vier Richtungen sie auch angehört haben mögen, im Gericht bestehen werden. Denn daß jede Schule wahr ist, wurde in den vorhergehenden Zeichnungen vermittelt. Es folgt eine Skizze, die zeigt, wie die vier Schulgründer Obacht geben, daß ihre Anhänger wohlbehalten die Brücke über den Höllenschlund passieren. Einer anderen ist zu entnehmen, daß der Weg jeder Rechtsschule an einer der Pforten des Paradieses endet, und schließlich zeichnet aš-Šaʿrānī einen Flußlauf, an dessen Ufer sich fünf Kuppelbauten erheben – die Wohnsitze des Propheten und der vier Schulgründer im Pa-

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radies, unmittelbar am „Fluß des Lebens“ gelegen. Und dieser Fluß erscheint im Diesseits als der „Strom der lauteren Scharia“, wie aus den Erklärungen aš-Šaʿrānīs hervorgeht. Nur weil sie der Scharia Allahs folgten, haben diese fünf Männer hier ihr Quartier beziehen dürfen und wurde ihnen die höchste Wonne zuteil, die Schau des Einen Wahren. „Erwäge dies, dann wirst du, so Allah will, den rechten Weg wandeln!“200

Abb. 7: Die Waage der Scharia

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Es ist schwer abzuschätzen, welchen Eindruck diese Bilder beim Leser hervorriefen. In volkstümlichen Abhandlungen über das Jüngste Gericht kann man bis auf den heutigen Tag derartige „Lageskizzen“ finden. Aber aš-Šaʿrānī bezweckte doch viel mehr. Er wollte dem Leser, der immerhin etwas vom islamischen Recht und den Streitereien der Schulen verstehen mußte, seine Sicht der Dinge vermitteln, die sich vom Herkömmlichen entfernte und dies gerade mit dem Schauen, mit dem Einblick in das Verborgene begründete. Daß die Gelehrtenwelt seine Bestrebungen skeptisch, wenn nicht gar feindselig betrachtete, hörten wir. Zwar konnte er noch, als er die Befreiung der ganzen Glaubensgemeinschaft fertiggestellt hatte, ein großes Lob des Gelehrten Nāṣir ad-Dīn al-Laqānī einheimsen, eines Mannes, der auch zu den Bewunderern von Sidi ʿAlī, dem Palmblattflechter, gehörte.201 Die Zurückführung der Schariawissenschaft auf das ḥadīṯ, auch unter Ausschluß der Überlegungen der Rechtsgelehrsamkeit, war erträglich. Sie entwertete zwar den Rang der vier Schulen, tastete aber das System, nach dem diese verfuhren, nicht an. In der Lebensbilanz klagt aš-Šaʿrānī darüber, daß ihn nun keiner der Kollegen mehr achte, also auch nicht al-Laqānī, der ihm am meisten Respekt entgegengebracht habe.202 In der Zeit, in der aš-Šaʿrānī diese Klage niederschrieb, hatte er sich aber, wie geschildert, schon erheblich weiter vorgewagt. Mit der These von den zwei Rangstufen des Gesetzes, in der Lebensbilanz nur vorsichtig angedeutet, nach deren Vollendung aber unter Berufung auf al-Ḫaḍir und unter vielfacher Bezugnahme auf das von den Osmanen bevorzugte Hanafitentum in der Großen Waage vollständig ausgearbeitet, trotzte er jetzt allem, was bisher als unumstößlich gegolten hatte. Nicht, daß ašŠaʿrānī dem Inhalte nach etwas ganz Neues geschaffen hätte! Das gewiß nicht! Aber wie hätte man nun noch die Existenz von vier Schulen mit je eigenen Ausbildungswegen rechtfertigen können? Hatte aš-Šaʿrānī jetzt nicht behauptet, das Wahre geschaut zu haben, weswegen er all denen, die sich noch mit ihren Texten abplagten, uneinholbar voraus sein mußte? Das Schauen, darin lag der Skandal! Freies Verfügen über die Scharia Was aš-Šaʿrānī in der Großen Waage vorträgt, kommt nicht mehr, wie noch in der Lebensbilanz, als eine Nachlieferung der Begründung für die Aussagen der Schulhäupter daher. Es gibt sich wie ein souveränes Verfügen über die Erkenntnisse der bisherigen Rechtswissenschaft, einzig geleitet von dem „ḫaḍir’schen“ Prinzip der Milde und Strenge, und aš-Šaʿrānī ist sich bewußt, daß ihm in dieser Art der Beschreibung der Scharia niemand zuvorgekommen ist.203 Wie schon in der Befreiung beginnt er jedes Kapitel, indem er die Ansichten zusammenstellt, in denen sich die Schulgründer einig waren. Sie alle sind der Meinung, daß es Pflicht sei, vor dem rituellen Gebet mit Wasser die Reinheit herzustellen, sofern dies möglich ist, ansonsten ersatzweise mit Sand; ferner daß das Rosenwasser und andere parfümierte

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Flüssigkeiten eine leichte rituelle Unreinheit nicht beseitigen und daß Wasser, das sich verändert hat, weil es lange stand, nach wie vor reinigend ist. Vielfältig seien demgegenüber die Gegenstände, über die sich die vier Schulen und auch außerhalb ihrer stehende Gelehrte – vermutlich der frühislamischen Zeit – stritten. So seien die Rechtsgelehrten der Metropolen der Ansicht, daß das Wasser der großen Ströme, sei es süß oder brackig, eine reinigende Wirkung habe. Andere meinen, mit dem Wasser des Meeres dürfe man die Waschung nicht vollziehen, wieder andere sagen, allenfalls in einer Notlage; manche erklären sogar die Reinigung mit Sand für statthaft, wenn man nur Meerwasser zur Verfügung hat. Die erste Ansicht, die die Waschung mit Brackwasser erlaubt, ist die milde, die anderen sind als streng einzustufen, gemäß dem Prinzip der Waage. Die Milde wird durch das koranische Wort: „Wir haben alles Lebendige aus Wasser gemacht“ (Sure 21, 30) nahegelegt. Denn die rituelle Reinigung wurde von Allah verordnet, damit der Mensch den Leib erquicke, jedesmal wenn sündhaftes Verhalten zur Erschlaffung geführt hat. Mit erfrischtem Leib soll sich der Mensch zur Verehrung Allahs einstellen. Die strengere Ansicht beruft sich demgegenüber darauf, daß das Meerwasser unfruchtbar ist, nicht zur Bewässerung einer Pflanze taugt und infolgedessen nicht „geisthaltig“ ist. Einem Ḥadīṯ zufolge lodert unter dem Meerwasser ein Feuer, Feuer aber ist eine Erscheinungsform des göttlichen Zorns, und es ziemt sich nicht, sich mit dem Zorn Allahs zu besprühen und dann vor ihn, den Einen Wahren, zu treten.204 – Dieses Beispiel mag genügen, um zu zeigen, wie weit aš-Šaʿrānī in der Großen Waage von der üblichen Darstellung des Stoffes abweicht. Er zitiert den Koran, gewiß, und er nimmt auf Überlieferungen Bezug, aber vielfach nur in Anspielungen, und erörtert stattdessen die Probleme frei von dem Zwang, jede Aussage durch die Worte der Schulgründer und ihrer Exegeten abzusichern. Vor allem aber breitet er vor dem Leser das aus, was hinter den verschiedenen Meinungen steht und was man eher „schauen“ als wissen kann. Hören oder sehen? Das führt uns zum Kern des Konflikts, der um aš-Šaʿrānīs im Spirituellen fundierte Schariawissenschaft aufbrach. Sein Zeitgenosse Ibn Ḥaǧar al-Haitamī wurde eines Tages um ein Fetwa angegangen, in dem er beantworten sollte, ob das Hören oder das Sehen vortrefflicher sei. Er führte aus: Die meisten Rechtsgelehrten sind der Auffassung, daß das Gehör besser ist als der Gesichtssinn; sie berufen sich auf Sure 10, Vers 42, wo es heißt: „Unter (den Andersgläubigen) gibt es manche, die dir zuhören. Willst du (Mohammed) etwa die Tauben hören machen, und dies selbst, wenn sie unverständig wären?“ Wer kein Gehör hat, ist auch seines Verstandes verlustig gegangen, dessen, was ihn zum Menschen macht, meint aš-Šaʿrānī. Wer blind ist, kann dagegen sehr wohl klug sein. Den Vorrang des Gehörs hat Allah im

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Koran auch dadurch verdeutlicht, daß er sich selber zunächst als allhörend und erst an zweiter Stelle als allsehend bezeichnet (z. B. Sure 17, 1), schreibt Ibn Ḥaǧar. Man kann sich vorstellen, daß Propheten erblinden, nicht aber, daß sie taub werden, denn sie könnten nicht mehr ihre Aufgabe wahrnehmen, den Menschen die Botschaft Allahs zu übermitteln. Doch auch wegen physikalischer Gegebenheiten ist das Gehör dem Gesichtssinn überlegen. Es empfängt die Botschaften aus allen Himmelsrichtungen, von oben und von unten, gleichviel ob Helligkeit oder Finsternis herrscht. Der Gesichtssinn dagegen wird nur wirksam, wenn er genau auf den jeweils betrachteten Gegenstand gerichtet wird. Außerdem hat Allah, wie bereits angedeutet, das Gehör mit der Tätigkeit des Verstandes verbunden: „Darin liegt eine Ermahnung für alle, die ein Herz haben oder genau zuhören und dabei aufmerksam sind“ (Sure 50, 37). Das Herz ist der Sitz des Verstandes, der Ort im Menschen, der die Kunde des göttlichen Gesetzes empfängt und ihn zum Gehorsam gegenüber dem Einen Wahren anhält. Wieder werden das Gehör sowie das Edelste im Menschen zusammen genannt, und es zeigt sich, daß das Gehör und der Verstand allein den Menschen vor dem Höllenfeuer bewahren können: „Hätten wir gehört und unseren Verstand benutzt, fänden wir uns nicht unter den Insassen des Feuers wieder!“ (Sure 67, 19). Zwar haben auch die Tiere ein Gehör, aber beim Menschen ist dieses Sinnesorgan dasjenige, welches als der Empfänger der Rede dient, dessen mithin, was den Menschen vor den übrigen Geschöpfen auszeichnet. Das Auge nimmt Farben und Gestalten wahr, aber nichts, was darüber hinausginge, nichts, was nicht auch die Tiere sähen. So ist es nicht verwunderlich, daß die Prophetenschaft stets das Gehör, nie den Gesichtssinn beansprucht. Freilich gibt es Leute, die sich auf das Sprichwort berufen: „Was mit eigenen Augen gesehen wurde, bedarf keiner Erläuterung.“ Mit diesem Satz versuchen sie den Vorrang des Gesichtssinnes zu begründen, der überdies sich des Lichtes bediene, wohingegen das Gehör auf die Luft angewiesen sei, und das Licht sei edler als die Luft. Ferner sei in die Schaffung des Auges mehr göttliche Weisheit eingegangen als in die Formung des Gehörs; das Auge nämlich bestehe aus sieben Schichten, dreierlei Feuchtigkeit, zahllosen verschiedenartigen Muskeln; es sei in der Lage, die Sterne jenseits des obersten Himmels wahrzunehmen, das Gehör reiche nicht einmal eine Parasange weit. Allahs Rede habe man im Diesseits gehört, dem Auge werde er sich erst im Jenseits darbieten; im Augenlicht zeige sich die Lebendigkeit des Individuums, wem man das Augenlicht raube, dessen Gesicht erstarre. Dies sind die Argumente beider Seiten, und nun zieht Ibn Ḥaǧar das Fazit: Wer für das Gehör Partei ergreift, hat recht; über den Gesichtssinn wird keinerlei religiöses Gebot vermittelt; so ist denn die Tatsache, daß man Allahs Rede im Diesseits hörte, ohne ihn hier schon zu sehen, das stärkste Argument nicht für die Vortrefflichkeit des Auges, sondern für den Vorrang des Gehörs; es ist so geschaffen worden, daß es hier und jetzt die zum Erwerb der

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Anwartschaft auf das Paradies unerläßlichen Gesetzesworte in vollkommener Weise empfangen kann.205 Ibn Ḥaǧar al-Haitamī stellt sich in diesem Fetwa ohne Wenn und Aber auf die Seite der Rechtsgelehrten – was sie bearbeiten, das ist gehört, das ist eine nicht in Bilder zu fassende Gesetzesbotschaft, und nach dem Vorrang des Gehörs ist die islamische Gesellschaft gestaltet, in der die Rechtsgelehrten die oberste Stufe für sich beanspruchen.206 Denn was der Prophet, vermittelt durch den Engel Gabriel, gehört hat, das ist im Koran den Muslimen zugänglich – Allahs wirkendes Wort, Gesetzesrede und schöpferisches unaufhörliches Gestalten im Diesseits in einem. Der Prophet, ganz dem Wollen des Einen Wahren anheimgegeben, belegte seit seiner Berufung mit seinem Tun und Reden jenen Doppelcharakter des wirkenden Gotteswortes, und im ḥadīṯ ist dieses Tun und Reden nicht nur als eine Sammlung von Normen, sondern in der ursprünglichen Wirkmächtigkeit bis in die Gegenwart vorhanden – sofern es mündlich von Generation zu Generation weitergegeben, am Leben erhalten wird. Die öffentlichen Veranstaltungen der mündlichen Weitergabe des ḥadīṯ, bei denen Hunderte von Zuhörern nach dem Diktat angesehener Gelehrter die inhaltlich längst bekannten Überlieferungen niederschrieben,207 sind das beredteste Merkmal der auf das Hören gegründeten muslimischen Gesellschaft. Das Sehen, die visuelle Analyse des Schöpfungsgeschehens, von dem Ibn Ḥaǧar al-Haitamī nicht zu Unrecht anmerkt, es sei die Sache der frühen rationalistischen Theologen gewesen, jener, die die Überlegenheit des Gesichtssinnes verfochten, hat gegenüber dem Hören nur eine dienende Funktion. Es soll lediglich auf einem zweiten Wege dem Verstand das nahelegen, was er dank dem Gehör schon weiß, nämlich daß es den Einen Wahren gibt; zu keinem anderen Zweck fordert der Koran die Mekkaner auf, sich in der Welt umzuschauen. Die von Ibn ʿArabī und ʿUmar b. al-Fāriḍ propagierte Spiritualität dreht das Verhältnis von Hören und Sehen keineswegs radikal um. Dies war allein die Sache der von Ibn Ḥaǧar erwähnten frühen – muʿtazilitischen – Theologen und Naturphilosophen gewesen, die nicht hatten gelten lassen wollen, daß Allah mittels seines Wortes im Diesseits zugegen war. Für sie war auch dieses Wort ganz diesseitig, der Geschichte unterworfen, und es war Allahs Gesetz, gerade weil es dem Diesseits eingepaßt war, dessen innere Beschaffenheit man kennen mußte, um das Gesetz zu erfüllen. Daher war ihnen die Erkundung des Diesseits mit den Augen die vornehmste Aufgabe der Gelehrsamkeit gewesen. Ibn ʿArabī und ʿUmar b. al-Fāriḍ, wie gesagt, gingen nicht zu diesen Theologen zurück. Schauen meinte für sie nicht, diese Welt an sich zu erfassen, sondern das, was hinter ihr verborgen ist, das nach ihrer Ansicht Eigentliche, mithin das, was Schöpfungswort und Gesetzesrede gemeinsam in ungetrübter Wahrheit besagen. Davon war das Diesseits doch nur der mangelhafte, den ebenso mangelhaften fünf Sinnen offenstehende materielle Abklatsch. Die koranische Rangfolge, erst das Hören, dann das Sehen, blieb erhalten, aber ihr

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wurde eine zusätzliche Bedeutung unterlegt: die Weisheit, die in diese Welt in Form der göttlichen Rede ununterbrochen einströmt, übersteigt die Begrifflichkeit des Gehörten; sie kann nur durch das geistige Auge geschaut werden. Die dem Sehen fehlende Gebundenheit an die Ratio, die die Rechtsgelehrten als einen Mangel empfinden, ist, wenn es um die Erfassung der Weisheit des Schöpfers geht, ein Vorzug; denn die Ratio ist im Diesseitigen befangen. So muß man sie hinter sich lassen, um im Schauen das zu erkennen, was das gehörte, also auf das Diesseitige angepaßte Wort in Wirklichkeit meint. Man schreitet vom Sehen über das Hören zum Schauen fort. *** Indem aš-Šaʿrānī hieraus für das wichtigste der die muslimischen Gesellschaft begründenden Symbolsysteme, das islamische Recht, die ihm naheliegenden Schlüsse zieht, fordert er die Mehrzahl seiner Kollegen heraus. Seit langem schon befinden sie sich in einem Abwehrkampf gegen die Erweiterung der Zweiheit von Sehen und Hören zu einer Dreiheit, als deren höchste Stufe das Schauen hinzutritt. Das rüde und ungeschickte Vorgehen Burhān ad-Dīn al-Biqāʿīs gegen die Anhänger Ibn ʿArabīs und ʿUmar b. al-Fāriḍs war noch gut in Erinnerung; es hatte die Kairoer Gelehrtenschaft gespalten. Dabei, dies sei noch einmal ins Gedächtnis gerufen, waren die Verfechter der Zweiheit der festen Überzeugung, daß das Verborgene in das Offenkundige hereinrage, aber eben nur als die auch metaphorisch nicht mit der Begrifflichkeit des Sehens beschreibbare Fügung Allahs, als sein unentwegtes Bestimmen dessen, was in jedem Augenblick das Diesseits ausmacht und was der Muslim zu tun hat, um möglichst oft und ohne diesseitige Ablenkung vor dem Antlitz des Einen zu stehen wie einst Abraham. Der Schauende nimmt jedoch wahr, was am Hof des Einen im Werke ist, und verkündet es den Glaubensbrüdern, macht sich auch anheischig, diese ebenfalls zu solcher Erkenntnis zu führen. Die auf der Rede, dem Hören fußende Gelehrsamkeit wird dadurch zu einer Art Propädeutik entwertet: Alle großen Imame haben recht, der Zank ihrer Nachfolger ist unwesentlich. Die Große Waage ist das Gründungsdokument einer neuen muslimischen Gesellschaft, deren Führer die Gottesfreunde sind. Gewiß greift aš-Šaʿrānī Ansätze auf, die in das Kairo des frühen 15. Jahrhunderts zurückreichen. Wie erinnerlich, war die Leitung der al-Muʾaijad-Medresse dem Professor des hanafitischen Rechts vorbehalten, dem gleichzeitig die spirituelle Erziehung der Studenten oblag. Aber erst aš-Šaʿrānī scheint es gelungen zu sein, aus der Schariagelehrsamkeit und der von Ibn ʿArabī herrührenden Deutung der Schöpfung als der Selbsterkenntnis des Einen Wahren diese Vision einer muslimischen Gesellschaft zu formen, in der Alleinsein und Gemeinschaft die komplementären und – im Idealfall – koinzidenten Befindlichkeiten der führenden Männer sind. Es sei daran erinnert, daß Selim in Damaskus die Grabstätte Ibn ʿArabīs ausbauen ließ. Schon seit Sultan Bajezid II.

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(reg. 1481– 1512) war Ibn ʿArabī bei osmanischen Gesetzesgelehrten rehabilitiert, und der Sultan wurde von Lobrednern als die „Achse des Zeitalters“ gefeiert, als der Oberste in der Hierarchie der Allah Nahestehenden.208 Vor diesem Hintergrund muß man aš-Šaʿrānīs Bestrebungen bewerten. Das den fünf Sinnen zugängliche, sich materiell manifestierende Diesseits ist ein Geflecht durch Allah gestifteter Ursachen und Wirkungen von verwirrender Vielfalt, und es ist um der Selbstanschauung Allahs willen ein Feld von Konflikten mit der Scharia, sofern diese als Textwissenschaft betrieben wird: Wissen und Handeln kommen nicht zur Übereinstimmung. Wohl aber Erkennen und Handeln! Die Visionäre, die Gottesfreunde, verkünden den Muslimen die Weisheit, die in dem liegt, was ist, und sie erkennen, wie im Verborgenen der Koran, der das Seinsollen darstellende Aspekt seines Schöpfungswirkens, ein unüberschaubares Geflecht von Wasserläufen bildet, ein von einer Quelle her sich entfaltendes Delta, wie Ibn ʿArabī meinte. Aš-Šaʿrānī macht daraus die Quelle des Bachnetzes der Scharia: Es harmoniert mit dem Schöpfungsprozeß und somit auch mit dessen Erscheinungsformen im Offenkundigen, wenn man die Wahrheit zu schauen vermag. Der Widerspruch von forum externum und forum internum ist letzten Endes nur die Täuschung der im Offenkundigen befangenen Sinne. So nehmen die Gottesfreunde den Muslimen die Furcht, in der widersprüchlichen Mannigfaltigkeit des hier und jetzt Gehörten das Richtige zu verfehlen: „Kein Tier gibt es, das Allah nicht am Schopfe hielte. Mein Herr ist auf einer geraden Straße!“ (Sure 11, 56). Wenn aber bereits das Diesseitige der Heilszustand ist, – der laut christlichem Glauben erst am Ende der Zeiten, nach dem Gericht, anbrechen wird –, ist dann die islamische Eschatologie, die Verheißung des Paradieses und die Androhung der Hölle, nicht eine grausame Komödie zur Einschüchterung der Muslime? Denn Allahs Selbstanschauung findet nach dem Gericht doch ihr Ende! So erzeugt die muslimische Heilsgewißheit eine ganz andere, neue Furcht: Dem Einen Wahren ist, so sagt man, die Schöpfung weniger wert als ein Mückenflügel. Nicht einmal die Propheten erfuhren, was am Hof Allahs für die Zeit danach geplant wird. Allah jedenfalls liebt die Welt nicht im entferntesten so sehr, daß ihm in den Sinn käme, um der Errettung der Sünder willen „seinen eingeborenen Sohn“ hinzugeben (Joh 3, 16); keinem Muslim wird das ewige Leben verheißen. Wenn sich der Eine Wahre am Ende aller Zeiten, des Erkennens seiner selber überdrüssig, in sich selber zurückzieht, dann bleibt von allem Geschaffenwerdenden – nichts!

Kapitel 4 Leiden und unbezwingbare Ängste 4.1 Leiden für Ägypten und den Sultan Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß ich häufig die Kümmernisse meiner Brüder auf mich lud und dennoch die Annahme ihrer Geschenke verweigerte, da ich tief mit allen, die sich zu dieser mohammedschen Glaubensgemeinschaft bekennen, fühle und ihnen Barmherzigkeit erzeige. Denn wenn ich schon ihre Kümmernisse ohne ein Geschenk auf mich lade, wie schlimm wäre erst mein Zustand, wenn ich von ihnen ein Geschenk annähme! Wahrscheinlich würde ich fast vergehen wie jemand, der ein Raṭl1 Gift getrunken hat. Häufig trifft überdies denjenigen, der mir etwas schenkte, ein weiteres Übel, und deswegen bemächtigen sich Trübsal und Bedrängnis meiner in einer Weise, die nur Allah kennt, und es ist zuletzt so, als wäre ich an der Stelle des Gebers! Bisweilen bin ich an den Leiden von fünfzehn Personen zur selben Zeit beteiligt, und oft habe ich das Empfinden, als würde mein Leib über dem Feuer geröstet! Vom Scheitel bis zum Fuß packt mich ein Fieber, so daß ich mich nicht einmal auf den Boden niedersetzen kann, und so liege ich da, bis jene Trübsal den Bruder verläßt. Ein Sprichwort lautet: „Die Speise für die Wachmänner2 wehrt den Angriff ab!“ Als im Jahre 958 (begann am 9. Januar 1551) über die Kairoer die Überprüfung ihrer Einkünfte aus frommen Stiftungen hereinbrach und sie auf das meiste der Erträge nicht mehr zurückgreifen konnten, träumte ich bei einem bestimmten Vorfall, daß ich auf einem schwarzen Hengst einherritt, der groß wie ein Elefant war. Vor mir auf dem Rücken des Hengstes lasteten drei Kamele, ein jedes so riesig, wie man es nur finden kann! Unterwegs bemerkte ich, wie sich das Muqaṭṭam-Gebirge in drei Stücke spaltete; eines davon schwebte zu mir herab und legte sich mir auf die rechte Schulter. Dann spaltete sich auch Kairo in drei Stücke, und eines, ein Drittel der Stadt, schwebte herbei und lud sich mir auf den Rücken. Der Hengst aber unter mir trug alle diese gewaltigen Lasten und lief seines Weges, als wäre nichts auf seinem Rücken – so unermeßlich war seine Kraft! Ich erzählte diesen Traum einem der Gottesfreunde der Zeit, und dieser erwiderte mir: „Genauso verhält es sich mir dir jetzt!“ und dann fuhr er fort: „Bei Allah, ich kenne heutzutage in Ägypten niemanden, der mehr als du die Kümmernisse der Menschen auf sich lädt! Möge Allah dir beistehen und dich in guter Weise lenken!“ – Wisse, mein Bruder, daß der „Standplatz“ des Tragens der Kümmernisse der Menschen nicht jedem der Derwische zuteil wird, vielmehr nur einzelnen unter ihnen, deren Glaube vollkommen geworden ist. Hierauf verweist das bei aṭ-Ṭabarānī und anderen angeführte und in einer Kette von Überlieferern bis zum Propheten verbürgte Ḥadīṯ: „Die Gläubigen in ihrer gegenseitigen Liebe und ihrem Erbarmen gleichen einem einzigen Leib, erkrankt an ihm ein Glied, dann ruft der ganze Leib mit seinen Gliedern sich zu gemeinsamem Schutz und Wachen auf!“3 – Dieses Wachen über die übrigen Glieder des Leibes der Muslime war die Aufgabe Sidi ʿAlīs, des Palmblattflechters; nach seinem Tod habe ich sie von ihm geerbt, so wie er sie vorher von Sidi Ibrāhīm alMatbūlī bei dessen Tod geerbt hatte. Als Sidi ʿAlī noch lebte, sprach er eines Tages zu mir: „Wenn du sehr alt wirst, dann wirst du ein Pol für die Kümmernisse der Menschen sein; eine nach der anderen werden die Lasten der Menschen auf dich gewälzt, bis du anfangen wirst, so laut zu schreien, daß man dich noch hinter sieben verschlossenen Türen hört.“ Dies prophezeite er mir, schon bevor ich meine Klause und das Haus am Ḥākimī-Kanal erbaute. Danach https://doi.org/10.1515/9783110789119-015

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zählte ich die Türen, hinter denen ich nun lebe, und schau, es waren sieben, wie es der Meister – Allah erbarme sich seiner! – geweissagt hatte. Bei ihm verhielt es sich, wenn auf die Menschen eine Last niederstürzte, wie folgt: Er erfreute sich weder einer Speise noch eines Trankes, noch des Schlafes; auch legte er weder ein sauberes noch ein parfümiertes Gewand an; er betrat kein Bad, errichtete keine Mauer, schnitt keinen Stoff für ein neues Kleidungsstück zu; und so verharrte er, bis jenes Leid von den Muslimen genommen war oder sie von einem anderen in Besorgnis versetzt wurden. Dann erst kehrte er zu seinem gewohnten Alltag zurück. Kaum einer der heutigen Derwische, die sich sogar als Meister ausgeben, tut dergleichen. Allerhöchstens wird dir einer von ihnen mit Worten seinen Schmerz bekunden oder auf deine Sorgen eingehen, solange du bei ihm sitzt. Doch kaum verläßt du ihn, dann vergißt er dich und speist und ist guter Dinge und lacht. Manchmal erhebt jemand Einwände gegen die, die zu einem Meister gehen, und belehrt sie, daß es besser sei, alles Allah anheimzustellen. Ihm ist zu entgegnen, daß es keineswegs der Überantwortung der Not an Allah widerspricht, wenn sich jemand die Kümmernisse der Menschen aufbürdet. Verstehe das! So leer sind die Herzen der Menschen von der Sorge um den Nächsten inzwischen geworden, daß man jemanden, der sie noch empfindet, gar nicht mehr für verständig hält! Da könnte einem Elenden der Mastdarm aus dem After heraushängen, es würde allenfalls jemand stehenbleiben und zu dem Elenden sagen: „Gib, bei Allah, mir den heraushängenden Mastdarm, ich will meine Katze damit füttern!“ Wer derartiges seinen Glaubensbrüdern zumutet, der kann doch nach jeglichem vernünftigen Urteil nicht mehr ein Fünkchen Mitleid für seine muslimischen Mitmenschen haben! Wenn so etwas auch nicht tatsächlich geschehen ist, so ist es doch ein Gleichnis, das sich der Verstand in jedem Fall vorstellen kann! Darum sei Allah gelobt, der mich zu einem Menschen machte, der die Sorge der Muslime auf sich lädt! – Übrigens sagte mir jemand, der in das Verborgene schaut, daß die Rötung des Wassers im Kanal unterhalb unseres Hauses auf die zahlreichen Kümmernisse zurückzuführen sei, die mir aufgebürdet würden. „Sieh dir das Wasser aller Kloaken am Kanal an“, sagte er mir, „bei keiner wirst du finden, daß sich das Abwasser rötet außer bei der unter deinem Haus!“ Allah freilich kennt den Grund am besten. Doch wisse das, damit du den rechten Weg wandelst, und Allah, der Segensreiche und Erhabene, lasse sich deine Rechtleitung angelegen sein! Preis sei Allah, dem Herrn der Welten!4

*** Rückblick auf die große Politik – Rückblick auf die bodenrechtlichen Verhältnisse – Aš-Šaʿrānīs Klause – Ergebenheit gegenüber den Osmanen – Stellvertretendes Leiden – Erscheinungsweisen des Leidens – Leiden und Bittgänge – Das Leid und die muslimische Glaubensgemeinschaft – Leiden als Beitrag zur Selbsterkenntnis Allahs – Leiden und Taktgefühl – Die Wachhabenden – Ein Dasein in Angst – Der allnächtliche göttliche Festzug

Rückblick auf die große Politik Nach den Unruhen und Wirren, die der Versuch des „Sultans“ Aḥmad ausgelöst hatte, sich zum unabhängigen Herrn von Ägypten aufzuschwingen, entsandte die Hohe Pforte den Großwesir Ibrāhīm Pascha. Er sollte das Land befrieden und verfügte über außerordentliche Vollmachten.5 Aḥmad hatte, wie erinnerlich, enge Beziehungen zu den Beduinen gepflegt und ihnen die Aussicht auf eine Vormachtstellung im Lande eröffnet. Nach der Enthauptung Aḥmads am 6. März 1524

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hatte es zunächst den Anschein, als würde auch ohne Zutun des Verräters die Kraft der osmanischen Besatzungstruppen dahinschwinden. Die wenigen Soldaten verzettelten sich in vielen weit über das Land verteilten Aktionen, ohne den Feind irgendwo zu einer entscheidenden Schlacht stellen zu können. Dennoch gelang es den Osmanen im Verlaufe des Sommers 1524, die Kontrolle über Ägypten Schritt für Schritt zurückzugewinnen. Die Unfähigkeit der Beduinen zu gemeinsamem Handeln, das einer längerfristigen Strategie verpflichtet gewesen wäre, machte sich bemerkbar. Im September trafen Verstärkungen aus Anatolien ein. Zudem wurden die einheimischen Intendanten im Lande durch osmanische Offiziere ersetzt. Noch ehe Ibrāhīm Pascha Anfang April 1525 in Kairo ankam, waren die Fundamente der osmanischen Herrschaft erneuert worden.6 Die Beduinen bildeten aber nicht den einzigen Gegenstand der Aufmerksamkeit des Statthalters. Als Selim Ägypten in Besitz nahm, wird er damit gerechnet haben, seinem Reich eine fruchtbare Provinz hinzuzufügen, und wäre nicht der ständige Abwehrkampf gegen die Beduinen gewesen, dann hätte der Sultan tatsächlich auf hohe Einkünfte hoffen dürfen. Was 1517 noch nicht in den weitreichenden Folgen abzusehen gewesen war, das war die Entwicklung der politischen Lage im Roten Meer. Schon Qānṣauh al-Ġaurī hatte einiges unternommen, um die Vorstöße der Portugiesen zu unterbinden. Ibrāhīm Pascha und seine Nachfolger erkannten, daß das Osmanische Reich seine Hand vor allem auf den Jemen legen müsse, wenn jener wichtige Handelsweg weiterhin ungefährdet von muslimischen Kauffahrteischiffen genutzt werden sollte. So schuf man unter Ibrāhīm Pascha das Amt eines Generalkapitäns von Ägypten, und man nahm den Ausbau des Hafens von Suez in Angriff. Wenig später befahl der Sultan den Bau einer Flotte für das Rote Meer. Die nötigen Materialien, darunter Holz aus Anatolien, wurden nach Suez transportiert. Im Juni 1538 segelte der damalige Statthalter Hadim Süleyman Pascha mit siebzig bis hundert Schiffen aus Suez ab. An Bord befanden sich zwanzigtausend Soldaten, unter ihnen siebentausend Janitscharen. Gudscherat war das Ziel, ein muslimisches Fürstentum, das schon in vorosmanischer Zeit vielfältige Verbindungen nach Kairo unterhalten hatte und sich jetzt von den Portugiesen bedroht fühlte. Der Herrscher hatte Sultan Süleyman um Hilfe ersucht, und die rückte nun tatsächlich an. Unterwegs tat Hadim Süleyman Pascha alles, um auf seine Weise die Herrschaft über den Jemen zu erlangen: Er lud den Fürsten von Aden zu einem Besuch auf dem Schiff ein, und als dieser der Einladung folgte, ließ er ihn kurzerhand umbringen. Als die osmanische Flotte in Gudscherat eintraf, war der dortige Herrscher von den guten Absichten der von seinem durch die Portugiesen ermordeten Vater herbeigerufenen Helfer nicht mehr recht überzeugt. Er wagte sich nicht an Bord des Schiffes Hadim Süleyman Paschas, sondern streute das Gerücht aus, die Portugiesen stünden im Begriff, mit einer riesigen Flotte Gudscherat zu überfallen. Das wirkte; Hadim Süleyman Pascha ließ überstürzt die Anker lichten und machte

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sich auf die Heimfahrt, nicht ohne etliche Geschütze und einige seiner Soldaten an Land zu vergessen.7 So waren alle Anstrengungen vorerst vergeblich gewesen. Schon 1540 stieß eine portugiesische Flottille nach Suez vor, allerdings ohne etwas auszurichten; in Kairo löste dieser Vorfall Angst und Schrecken aus.8 Der Besitz Ägyptens bedeutete für die Osmanen mithin die Notwendigkeit, zahlreiche kostspielige Unternehmungen in Gang zu bringen und entsprechend Material und Truppen bereitzuhalten, ohne daß abzusehen gewesen wäre, wann die Gefahr hätte gebannt werden können.Von dem letzten großen Versuch, die Portugiesen aus dem unmittelbaren Bereich osmanischer Interessen zu vertreiben, sei noch kurz die Rede. Piri Reis, vielleicht der berühmteste Seeheld der osmanischen Geschichte, erhielt 1547 das Amt des Generalkapitäns für Indien. Nicht mehr nur die Bedrohung Ägyptens war dafür ausschlaggebend. Auch der Persische Golf durfte von der Hohen Pforte spätestens seit dem Jahr 1534, als Aserbeidschan und der Irak dem Reich einverleibt worden waren, nicht vernachlässigt werden. Piri Reis nahm Aden ein, wandte sich dann gegen die Portugiesen, die sich in Maskat und auf der Insel Hormuz festgesetzt hatten und den Schiffsverkehr in den Golf hinein unterbrechen konnten. In den Häfen am Golf, etwa in Basra, hatte man noch nicht die nötigen Anlagen und Ressourcen schaffen können, so daß Piri Reis nach wie vor von Suez aus operieren mußte. Es gelang ihm, die Festung von Maskat zu stürmen. Danach griff er die portugiesischen Stellungen auf Hormuz an, doch hier blieb ihm der Erfolg versagt. Verschiedene Gründe, auch für Piri Reis unehrenhafte, werden für den Abbruch der Belagerung überliefert. Er segelte nach Basra, wo seine Flotte, die in einem Unwetter schweren Schaden genommen hatte, in erbärmlichem Zustand eintraf. Vergeblich hoffte Piri Reis auf Unterstützung durch den dortigen osmanischen Statthalter. Die Hilfe für die nötigen Reparaturen wurde ihm versagt, ein Teil der Matrosen suchte das Weite. Es blieb Piri Reis nichts anderes übrig, als mit den ihm verbliebenen Schiffen und Mannschaften nach Suez zurückzukehren. Dort traf er 1553 ein, und man empfing ihn übel: Der ägyptische Statthalter setzte ihn gefangen, ein Jahr später wurde Piri Reis enthauptet.9 Rückblick auf die bodenrechtlichen Verhältnisse Die Finanzverwaltung des Osmanischen Reiches in Ägypten kann man nicht losgelöst von den eben noch einmal ins Gedächtnis gerufenen weltpolitischen Verstrickungen der Hohen Pforte verstehen. Als Ibrāhīm Pascha im Frühjahr 1525 sein Amt in Kairo antrat, konnte es nicht nur auf die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung ankommen. Vielmehr mußte eine tiefgreifende Festigung der zerrütteten Verhältnisse gewagt werden. Das Zeugnis dieser Bemühungen ist das sogenannte Gesetzbuch Ägyptens, eine Sammlung von Erlassen aus der Zeit Ibrāhīm Paschas. Es

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gibt kaum ein Problem der Verwaltung, das hierin nicht angesprochen wäre, und zwischen den Zeilen vermittelt es dem Leser einen erschreckenden Eindruck von dem Zustand, in dem sich Ägypten befand. Ein Prinzip allerdings wird besonders hervorgehoben: Was die osmanische Verwaltung beabsichtigt, ist keineswegs eine Neugestaltung, sondern eine Reform, die den Erlassen wieder Geltung geben soll, die der mamlukische Sultan Qaitbai (reg. 1468 – 1496) verfügt hatte.10 Nach dem Tod dieses bedeutenden Herrschers, so mag es den Verfassern des Gesetzbuches erschienen sein, haben sich Unregelmäßigkeiten und Unterschleif gehäuft, und jetzt soll alles wieder besser werden. Das Kernproblem, das auch die Grundlage der Einkünfte aš-Šaʿrānīs betraf, bildeten die religiösen Stiftungen. Das Gesetzbuch kündigt an, daß die Hohe Pforte einen Beauftragten entsenden werde, der die Abrechnungen aller dieser Institutionen prüfen solle. Diese Prüfung sollte nicht in der Stille und Abgeschiedenheit einer Schreibstube durchgeführt werden, sondern in einer Versammlung, bei der hohe Persönlichkeiten zugegen sein mußten. Die Aufseher, deren Verwaltung sich als einwandfrei erwies, sollten hierüber ein amtliches Zeugnis ausgestellt bekommen. Das Gesetzbuch nennt einige Prinzipien, die bei der Untersuchung zu befolgen seien. Es heißt, daß Ausbesserungsarbeiten an den Immobilien einer Stiftung aus dem Ertrag zu finanzieren seien, und zwar auch zu Lasten der Zahlungen an die Nutznießer der Stiftung. Allein die Verwalter, die Gebetsrufer und Moscheeprediger genössen das Privileg, in jedem Fall besoldet zu werden, alle weiteren Einkünfte dürften, ja müßten notwendigenfalls für die Restaurierung aufgewendet werden. Diese Bestimmung macht deutlich, worauf es in jenen Tagen ankam. Die osmanische Verwaltung nahm sich im übrigen vor, dafür Sorge zu tragen, daß keine inkompetenten Personen mit Stiftungsgeldern versehen wurden. Der Kadi sollte, wenn eine Stelle frei war, geeignete Kandidaten ausfindig machen und im Einvernehmen mit dem Aufseher der Stiftung berufen; die Ernennung hatte durch den Pascha zu erfolgen. Diesem waren überdies die alljährlichen Abrechnungen in zwei Abschriften einzuhändigen, von denen eine nach Konstantinopel geschickt wurde. Zwischen den Zeilen ließ das Gesetzbuch die Mißstände erkennen, die seit dem Ende der tscherkessischen Herrschaft eingerissen waren. Eine ins einzelne gehende Bestandsaufnahme der bebauten Grundstücke in Kairo wurde in Aussicht gestellt; es gab zahlreiche aufgelassene Immobilien, die einst tscherkessischen Mamluken gehört hatten. Diese Anwesen waren dem Verfall preisgegeben, sei es weil die einstigen Eigentümer gestorben oder geflüchtet waren, sei es weil osmanisches Militär die Häuser usurpiert und – wir hörten schon davon – alles kostbare Inventar geraubt und wertvolle Teile wie Marmorverkleidungen herausgebrochen hatte. Das Gesetzbuch sah vor, daß jene osmanischen Soldaten, die bereit waren, das von ihnen beschlagnahmte Anwesen instandzusetzen und zu pflegen, nicht daraus vertrieben werden konnten. Sie hatten Miete in den Staatsschatz zu zahlen, die sie um die

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Auslagen für Herrichtung und Pflege mindern durften. Die osmanische Verwaltung bemühte sich, möglichst viele leerstehende Immobilien an den Mann zu bringen, um der Verödung ganzer Stadtviertel vorzubeugen. Eine Rückgabe an Verwandte der ehemaligen Eigentümer wurde allerdings ausgeschlossen. – Der Sultan Qaitbai hatte einst einigen seiner Mamluken zusätzlich zu den üblichen Einkünften Stiftungsgüter zum Nießbrauch überschrieben. Diese wurden nun in das Eigentum des osmanischen Fiskus übergeführt. Anscheinend versuchten die ehemaligen Nutznießer oder andere Personen, Teile dieser Immobilien dem Fiskus zu entziehen; denn es findet sich im Gesetzbuch das Verbot, zu einer Stiftung gehörende, jedoch zerstörte und daher keinen Ertrag einbringende Gebäude zu veräußern. An einem solchen Geschäft Beteiligte seien zu bestrafen. Überhaupt sollte, wie bereits erwähnt, die Rechtmäßigkeit aller Dotationen untersucht werden. Angehörige der ehemaligen Mamlukenarmee mußten sich ihre Anrechte bestätigen lassen, und bei Verdacht des Betruges waren die Immobilien, aus denen sie Einkünfte bezogen, zu beschlagnahmen. Unangetastet blieben dagegen die Stiftungen, die frommen und wohltätigen Zwecken dienten.11 Mit dem Erlaß des Gesetzbuches begann die eigentliche Inbesitznahme Ägyptens durch die Osmanen. In der Ernennungsurkunde, die Ḫairbeg übergeben worden war, hatte es geheißen, auf Befehl des Sultans Selim werde ihm Ägypten unterstellt12 – Ḫairbeg hatte de facto freie Hand erhalten, und das war nach Lage der Dinge das Vernünftigste gewesen, was die Osmanen hatten tun können. Denn, wie erinnerlich, war Ägypten damals noch lange nicht befriedet. Die Beduinen handelten in vielen Gegenden nach eigenem Gutdünken, was aus den versprengten Resten der mamlukischen Armee werden würde, war noch nicht abzusehen. Im Grunde legte der Sieger dem Verräter eine schier untragbare Bürde auf die Schultern, und man wird einräumen, daß Ḫairbeg seinen Verpflichtungen nicht ohne Geschick und Erfolg nachkam. Bereits Muṣṭafā Pascha, der Nachfolger Ḫairbegs, brachte aus Konstantinopel einen großherrlichen Ferman mit, in dem etwas ganz anderes stand. Alle Funktionsträger in Ägypten hätten dem Pascha unbedingten Gehorsam zu leisten, und über den Pascha sollte der Zorn Allahs kommen, wenn er die Anweisungen des Sultans um ein Jota mißachte.13 In praktische Politik ließ sich diese Forderung nicht so rasch ummünzen, und das Abenteuer des „Sultans“ Aḥmad bezeugt, daß die Versuchung, in Ägypten auf eigene Faust zu schalten und zu walten, mächtig blieb. Das nach diesen Erfahrungen erlassene Gesetzbuch war der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Formung eines osmanischen Ägypten. Die Vorschriften, die es enthielt, waren recht allgemein und, wie man betont hat, an der Vergangenheit orientiert, aber es setzte eine systematische, durchschaubaren Regeln folgende Erfassung aller fiskalisch verwertbaren Anwesen und Ländereien Ägyptens in Gang, die sich übrigens bis in das beginnende 17. Jahrhundert hinzog. Bereits wenige Wochen nach dem Einmarsch in Kairo hatte Selim angeordnet, daß

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ein Kataster der unter osmanische Herrschaft gefallenen Landstriche erarbeitet werde, damit eine Steuerveranlagung möglich sei. Wegen des begrenzten Gebietes osmanischer Macht mußte diese Übersicht unvollständig bleiben. Zudem konnte der Sultan nur wenige osmanische Schreiber einsetzen, so daß er auf mamlukische zurückgreifen mußte. Diese behaupteten, die alten Dokumente seien verlorengegangen, und übten nach den schon erwähnten Zeugnissen des Chronisten Ibn Ijās bei ihrer Tätigkeit schamlose Willkür, um sich zu bereichern. Gegen Ende der Regentschaft Ḫairbegs wurde bekannt, daß die mamlukischen Register keineswegs vernichtet, sondern von den Schreibern versteckt worden waren. Muṣṭafā Pascha erteilte den Befehl, alle Unterlagen seien herauszugeben. Der „Sultan“ Aḥmad, der von vielen Amtsträgern aus der Zeit Qānṣauh al-Ġaurīs unterstützt wurde, nutzte diese Akten zur Steuereinhebung. Ibrāhīm Pascha hatte sie dann ebenfalls zur Verfügung, als er die Bestimmungen des Gesetzbuches Ägyptens verwirklichte. Die geltenden Urkunden wurden in einem mehrstöckigen Gebäude auf der Festung hinterlegt, die außer Kraft gesetzten in einem ebenfalls auf der Festung befindlichen Archiv gesammelt, zu dem man nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Statthalters Zugang erlangen konnte. Seit Ibrāhīm Pascha arbeitete man an der Vervollständigung und Berichtigung des Katasters, der für Unterägypten 1576 fertiggestellt wurde. Doch konnte erst 1608 ein neues, für das ganze osmanische Ägypten geltendes Steuersystem eingeführt werden.14 Der hanafitische Rechtsgelehrte Ibn Nuǧaim, der uns schon begegnete, verfaßte zu einem leider nicht bekannten Zeitpunkt ein Gutachten, in dem er sich grundsätzlich zur Frage der Dienstlehen und damit zum Eigentumsrecht des Sultans am Land äußerte. Aufgelassenes, aber zum Ackerbau geeignetes Land darf der Sultan in jeder dem Wohl der Muslime förderlichen Weise zur Bearbeitung vergeben, desgleichen alles bebaute Land, auf das niemand einen Anspruch erhebt. Es bleibt selbstverständlich Eigentum des Sultans, doch in der Rechtsform eines Dienstlehens, der Steuerpacht oder der Treuhänderschaft wird es bearbeitet und wirft sowohl für den Pächter oder Treuhänder als auch für den Staatsschatz einen Gewinn ab. Wäre es ein Dienstlehen, dann bestünde der Vorteil des Sultans in den Dienstleistungen, die der Inhaber zu erbringen hat. Handelt es sich bei der Immobilie, die der Sultan jemandem unter bestimmten Bedingungen zur Nutzung überträgt, um ein Stück Land, bebaut oder aufgelassen, dann darf der Empfänger dieses Land in eine Stiftung umwandeln. Es kann jedoch auch vorkommen, daß der Herrscher Land vergibt, auf dem seit alters her Grundsteuern lasten, etwa in Höhe der Hälfte des Ertrages. Wird solches Land jemandem überschrieben, womöglich unter der Bedingung, daß er vier Fünftel dieser Hälfte für sich behalte, das restliche Fünftel, also den Zehnten des Ertrages, an den Fiskus abführe, dann ist es nicht erlaubt, jene vier Fünftel der Grundsteuern in eine Stiftung einzubringen, denn, wie Ibn Nuǧaim betont, dem Empfänger fehlt die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Boden –

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die beim Sultan bzw. der Staatskasse verbleibt; es liegt nichts weiter als ein Nießbrauch vor. Nach Ansicht mancher Rechtsgelehrter darf der Herrscher selber allerdings solches dem Zugriff des Fiskus unterliegende Land einer Stiftung überschreiben. Umstritten ist jedoch, ob in Verfolg des gemeinnützigen Zweckes hierbei eine bestimmte Person, deren Nachkommen und schließlich die Derwische als Begünstigte genannt werden dürfen. Streng genommen dürfte nur die Allgemeinheit der Muslime erwähnt werden. Ibn Nuǧaim kommt aber zu dem Ergebnis, es sei zulässig, als die Empfänger der Einkünfte die Derwische, die „Armen“, aus der Gesamtheit der Muslime auszuwählen.15 – Für aš-Šaʿrānīs Schwierigkeiten hat dieses Rechtsgutachten wahrscheinlich keine unmittelbare Bedeutung erlangt. Es ist jedoch ein wichtiger Beleg dafür, daß das Derwischwesen und die Klausen ein religiöses wie auch gesellschaftliches Gewicht besaßen und daß ihre Belange bei der Sichtung und Klärung der verwickelten bodenrechtlichen Verhältnisse nicht leicht hintangestellt werden konnten. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer zuverlässigen fiskalischen Erfassung des Landes markiert die Statthalterschaft ʿAlī Paschas, den aš-Šaʿrānī mehrfach in seiner Lebensbilanz erwähnt. ʿAlī Pascha wurde im Juli 1549 in sein Amt berufen und nahm sich in besonderer Weise der fiskalischen Schwierigkeiten an. Im Mai 1550 befahl er, daß neben den Akten in arabischer Sprache auch solche auf türkisch zu führen seien. Am 12. Juli 1553 gab er einen Erlaß heraus, in dem folgendes verfügt wurde: Alle diejenigen, die durch einschlägige Dokumente belegen können, daß sie in den Jahren 958 (begann am 9. Januar 1551) und 959 (begann am 29. Dezember 1551) ordnungsgemäß ihre Abgaben entrichtet haben, erhalten eine Urkunde, die ihnen den Besitz der betreffenden Immobilien bestätigt; hierbei ist es unerheblich, ob die Besitztitel, die sie vorweisen, mit den alten Registern übereinstimmen oder nicht. Sollte nachträglich bekannt werden, daß sich jemandes Urkunden nicht im Einklang mit den alten Registern befinden, dann allerdings müsse die Angelegenheit der Hohen Pforte zur Entscheidung vorgelegt werden.16 Der Zweck dieses Erlasses ist ohne weiteres ersichtlich: Eine gänzliche Rückkehr zu den alten, mamlukischen Besitzverhältnissen, bis zu ʿAlī Pascha offensichtlich das Ziel osmanischer Politik, erwies sich als unmöglich, und so sollte die Loyalität belohnt werden, die durch eine den Gesetzen entsprechende Steuerzahlung unter Beweis gestellt worden war. Die dem Erlaß vorangehende umfangreiche Begründung wirft ein klärendes Licht auf die bis dahin erfolgte Arbeit der Katasterbehörde. Da in der Zeit unmittelbar nach der Eroberung die alten Kataster nicht zur Verfügung standen, wurden die notwendigen Daten an Ort und Stelle erhoben. Alle Ländereien, die dem mamlukischen Sultan gehört und zur Alimentierung der Militärkaste gedient hatten – und dies war der weitaus größte Teil –, wurden als Eigentum des osmanischen Herrschers betrachtet, der sie im wesentlichen auf dreierlei Art für den Staatsschatz nutzbar machte, nämlich als Dienstlehen, wie es sie auch unter den Mamluken in

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großer Zahl gegeben hatte, und darüber hinaus in treuhänderischer Verwaltung und in der Form der Steuerpacht. Der Treuhänder erhielt für die Bewirtschaftung und die Abführung der Überschüsse ein festes Gehalt; die Einkünfte der Steuerpächter errechneten sich anteilig nach den Erträgen, die er dem Staatsschatz zuführte.17 Da die Dokumente aus mamlukischer Zeit noch als vernichtet galten, mußten sich die Steuerpächter auf andere Weise Kenntnisse über die Leistungsfähigkeit ihrer Ländereien verschaffen, von der schließlich ihre Einkünfte abhingen, deren ungefähre Höhe man wissen mußte, bevor man sich auf ein derartiges Geschäft einließ. Sie beauftragten einige subalterne Beamte, die nötigen Angaben zu beschaffen. Diese ersten Listen konnten daher nicht als zuverlässig angesehen werden. Als die alten Kataster wieder aufgetaucht waren, ergab sich endlich die Gelegenheit zur Überprüfung. Diese wurde aber dadurch erschwert, daß sich die Ansprüche des osmanischen Fiskus mit anderen privater Natur überkreuzten, die teils noch aus der Zeit der Mamluken stammten, teils in den ersten Jahren nach der Eroberung entstanden sein konnten, und zwar sehr wohl auf gesetzlichem Wege, jedoch nicht in den Kataster eingetragen worden waren. Es mußten demnach nicht nur die Ansprüche von Treuhändern und Steuerpächtern verifiziert werden, sondern auch diejenigen der Privateigentümer, der Stiftungen und der Empfänger von Zuwendungen. Aš-Šaʿrānīs Klause Die einzelnen Paragraphen des Erlasses versuchten, die unterschiedlichen Arten von Mißhelligkeiten und Unstimmigkeiten zu beschreiben und einen Weg der Lösung festzulegen. So mag es sein, daß jemand eine Urkunde einreicht, kraft deren er Anspruch auf ein Stück gestifteten oder in seinem Eigentum befindlichen Landes erhebt. Aus dem Dokument geht jedoch hervor, daß „Haṣan es an Ḥusain“ veräußerte; schlägt man in den mamlukischen Registern nach, dann stellt sich heraus, daß eine solche Transaktion tatsächlich stattgefunden hat, doch daß das betreffende Grundstück in Wahrheit den Status eines Dienstlehens hatte. In einem solchem Fall ist es dem Staatsland zuzuschlagen, und es muß ein Bericht nach Konstantinopel geschickt werden. Indem wir uns erinnern, daß ein gewisser ʿAbd al-Qādir al-Arzmakī, der sich mit Urkundenfälschungen eine Reihe von Immobilien verschafft haben soll, das Gelände für aš-Šaʿrānīs Klause stiftete, kommt uns jetzt der damals an seiner Lebensbilanz schreibende Gottesfreund in den Sinn. Wenn es sich mit seiner Klause tatsächlich so verhalten hat, dann mußte er in der Tat im Jahre 1551 von Alpträumen heimgesucht werden. Die eben genannte Bestimmung aus dem Erlaß ʿAlī Paschas hätte auf das Anwesen am Ḥākimī-Kanal zutreffen können. Es gab aber auch Hoffnung, denn schon das Gesetzbuch räumte den religiösen Stiftungen einen hohen Rang ein, und der Erlaß entscheidet in Zweifelsfällen zu deren

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Gunsten. Stiftungen, die sich in den mamlukischen Unterlagen nicht nachweisen lassen und sich womöglich auf Zuwendungen beziehen, die einst durch den Herrscher einem Inhaber eines Dienstlehens abgefordert und einem frommen Zweck zugeführt worden waren, sollten gültig bleiben. Dies sah schon das Gesetzbuch Ibrāhīm Paschas vor, und im Erlaß findet man einen ähnlich lautenden Paragraphen.18 Nirgendwo in der Lebensbilanz und auch nicht an anderer Stelle klärt ašŠaʿrānī den Leser über den Rechtsstatus seiner Klause und der Ländereien und regelmäßigen Zuwendungen auf, die dem Unterhalt der dort weilenden Menschen dienten. Stets im Zusammenhang mit dem Leiden kommt er auf die Überprüfung der Rechtstitel zu sprechen, die durch ʿAlī Pascha angeordnet worden war. Vorübergehend hatte es für aš-Šaʿrānī nicht gut ausgesehen: „Und als man die Urkunden über die regelmäßigen Zuwendungen kontrollierte, beschlagnahmte man einige Einkünfte, die der Klause bis dahin zukamen, und rechnete sie unter die Dienstlehen, die dem Sultan zur Verfügung stehen sollten.“ Der vierzehnte Paragraph des Erlasses scheint auf diese Bemerkung zuzutreffen: „Es gibt regelmäßige Zuwendungen, die in Kairo einer Moschee zufließen. Für manche dieser Zuwendungen finden sich Urkunden, für andere nicht, sondern allein Vermerke der mit der Abrechnung befaßten Kadis des Inhalts, daß die genannten Zuwendungen dem und dem zugute kamen. Durchforscht man die Register der tscherkessischen Mamluken, ergibt sich, daß es sich teils um Dienstlehen, teils um beurkundete regelmäßige Zuwendungen gehandelt hat. Falls man diese (Immobilien, aus deren Ertrag die Zuwendungen stammen) dem Sultansland zuschlägt, werden notwendigerweise die islamischen Riten nicht mehr durchgeführt. Den meisten Inhabern solcher Zuwendungen wurde daher der Genuß der betreffenden Einkünfte für ein Jahr gestattet. In der diesbezüglichen Erlaubnis wurde darauf hingewiesen, daß der Fall der Hohen Pforte zur Entscheidung unterbreitet wird.“19 Aš-Šaʿrānī erwähnt diesen Text nicht, sondern fährt nach der Schilderung der Gefahr für seinen Besitz wie folgt fort: „Daher wies ich die Derwische an, den Koran vorzutragen, und sie rezitierten ihn an die dreihundert Mal und schenkten diese Lesungen zu allererst dem Gottesgesandten, dann den ‚Wachhabenden‘ und dem Sultan – möge Allah durch ihn dem Islam und den Muslimen den Triumph verleihen! Daraufhin befreite sie der Pascha ʿAlī aus ihrer Not. In ganz Kairo gelang das niemandem außer uns. Aus diesem Grunde fügte ich in die Riten den Segensruf für die ‚Wachhabenden‘ ein. Niemand aus der Gemeinschaft, die in unserer Klause wohnt, beendet ein Gebet oder eine Koranrezitation, ohne auf die ‚Herren der Wache‘ den Segen herabzurufen.“20

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Ergebenheit gegenüber den Osmanen Mehrfach unterstreicht aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz die unbedingte Ergebenheit gegenüber den Osmanen, und in den zurückliegenden Kapiteln wurde deutlich, daß er bei solchen Anlässen nicht nur beflissen eine opportune Gesinnung äußert, sondern auf eine Erneuerung des muslimischen Ägypten unter Wahrung der osmanischen Interessen setzte. Vielfach rühmt sich aš-Šaʿrānī des Zugangs zu ʿAlī Pascha, bei dem er stets ein offenes Ohr für seine Bitten gefunden und für viele ein gutes Wort eingelegt haben will.21 Im Jahre 1552 sollten alle kleineren Moscheen, in denen kein Freitagsgottesdienst abgehalten wurde, die in ihnen tätigen Aufseher entlassen. Der Inhalt dieses Amtes ist unbekannt, jedenfalls war der Inhaber nicht mit dem Kultus befaßt. Die Meinungen über diese Maßnahme waren geteilt, der oberste dieser Aufseher suchte bei aš-Šaʿrānī Rat und wollte ihn dazu bewegen, den Pascha umzustimmen. Aš-Šaʿrānī will aber darauf bestanden haben, daß die Anordnung ausgeführt werden müsse, und selbst als man dem Pascha hinterbrachte, jener aš-Šaʿrānī habe sich mit dem Oberaufseher getroffen, ließ sich der Vertreter des Sultans in seinem Vertrauen auf den Gottesfreund nicht irremachen. Aš-Šaʿrānī wehrte diese Intrige ab. Er schickte dem Pascha einen Brief, in dem er versicherte, er habe sich nur deshalb mit dem Oberaufseher getroffen, um diesen zum Gehorsam zu ermahnen. Bald danach erkrankte der Pascha, und aš-Šaʿrānī stattete ihm einen Besuch ab. „Ich konnte nichts von einer Mißstimmung gegen mich bemerken“, stellte er danach befriedigt fest.22 Es war gerade dieses enge Verhältnis zu den Machthabern, das aš-Šaʿrānī die Gelegenheit bot, durch stellvertretendes Leiden etwas für die Belange Ägyptens, wie er sie sah, zu bewirken. In seinen Lebenserinnerungen findet sich ein längerer Abschnitt, der hierüber und über die damit verbundenen Vorstellungen Aufschluß gibt. Stellvertretendes Leiden „Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß er mich trefflich bei all den schweren Lasten der Menschen lenkte, die ich auf mich nahm und bei denen ich dem Tode ins Gesicht blickte. Nur zu oft befällt die Ägypter, seien es die Derwische, die Gelehrten, die Kaufleute, Beamten, Handwerker oder Fellachen, ein Übel, und ich stelle mich mit allen Gottesfreunden unter jenes Übel und verharre so, bis es emporgehoben wird. Solange dies nicht geschieht, habe ich das Gefühl, als würden mir die Gelenke getrennt, als würden mir die Knochen in einem Mörser zermalmt, als würde mir der Kopf zwischen den beiden Steinen einer Ölpresse zerquetscht. Kaum vermag ich etwas anderes wahrzunehmen. Manchmal spüre ich unter jedem Haar meines Körpers etwas wie einen Nagel aus Feuer, der immer wieder ins Fleisch stößt. Kein Weiser kennt dies, weder Nachbar noch Freund! Bisweilen hörte jemand von all dem, fragte sich: ‚Was ist das für ein Leiden, mit dem der da gegen das

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Verhängnis streitet?‘ und dachte, das Übel, dem ich mich gestellt hatte, sei in Wahrheit auf mich herabgesandt. Wüßte er doch Bescheid, dann würde er mir meine Verdienste danken! – Es kommt auch vor, daß das Leiden von meinem Körper auf meinen Nachbarn und auf Freunde überströmt, wodurch mir noch mehr Gewalt widerfährt; es entgleitet mir also und kommt über sie! Ich flehe dann zu Allah, er möge das Leid zu mir zurückbringen und mir Geduld geben, es an ihrer Stelle zu tragen, hat er mir doch, wie ich schon mehrmals darlegte, die Fähigkeit des Mitleidens und der Barmherzigkeit gegen alle Menschen verliehen. Oft trifft das Leiden, das von meinem Körper ausstrahlt, die Lache, die sich im Winter unterhalb meines Hauses bildet. Deren Wasser verfärbt sich danach wie rotes Blut. Gemeine und Vornehme betrachten es und glauben, es seien die Abwässer der Färberei – und für diesen Irrtum danke ich Allah. Denn wenn tatsächlich ein derart schweres Leiden auf meinen Körper herabkäme, dann verginge er, denn ich bin zu schwach, für gewöhnlich derartiges zu ertragen. Ich kenne außer mir keinen Derwisch in Kairo, dem dies zustößt. Solange das Wasser rot ist, wird mein Körper von Schmerzen gepeinigt, die so stark sind, daß man den Verstand verliert. Beginnt das Wasser klar zu werden, fühle ich, wie der Schmerz allmählich nachläßt, bis das Leiden ganz verschwindet. Ich fragte die Leute des Viertels nach der Rötung der Lache und ob es sie schon gab, bevor ich in ihrem Viertel wohnte. ‚Dies geschieht erst, seitdem du hier bist‘, gaben sie zur Antwort. So erfuhr ich, daß dies wegen der Fülle der Leiden erfolgt, die immer häufiger werden, je näher der Jüngste Tag rückt. So trage ich denn zeit meines Lebens nach dem Maß meiner Kräfte anstelle der Muslime und erbitte von Allah die Gnade, daß er nach meinem Tode jemand anders für dieses Leiden bestimmt, der es auf sich nimmt, oder daß er die Gnade hat, es emporzuheben oder wenigstens für sie zu mildern. Amen! – Und dies sind die Krankheiten, die mich in den Tagen der schweren Lasten befallen: Manchmal habe ich das Gefühl, als schlüge mir ein starker Mann mit einer eisernen Axt auf den Kopf ein; ein anderes Mal habe ich sieben Tage lang keinen Stuhlgang, und keine Arznei und nichts verschafft mir Erleichterung; wieder ein anderes Mal überkommen mich Kummer, Sorge und Schwermut, so daß ich wie ein Stier keuche, der unter Strapazen leidet, aus meiner Kehle der Geruch des Rauches verströmt und ich vergebens um den Tod flehe. Oft erfahren andere Meister in Kairo von meinem Zustand, und einer meint dann, besser als alles dieses sei es, die Angelegenheit Allah anheimzugeben. Diesem Kritiker ist zu entgegnen: ‚Die Sorgen der Muslime auf sich zu nehmen, steht in keinem Widerspruch dazu, sie Allah anheimzustellen. Denn der Mensch überantwortet doch alles Allah, insofern als dieser es bestimmt, aber der Mensch nimmt das, was bestimmt wurde, die Leiden der Menschen, auf sich, insofern als eigentlich sie diese Leiden wegen ihrer erworbenen Taten verdienen… ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb, ʿUmar b. ʿAbd al-ʿAzīz, Sufjān aṯ-Ṯaurī und viele andere aßen, lachten und schliefen nicht, wenn sich auf die Muslime ein Übel herabsenkte,23 und

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so verhielten sie sich nur, weil sie in ihrem Inneren erkannten, daß sie für die Muslime Sorgen und Übel auf sich laden mußten. Allerdings sprachen sie dies nicht offen vor den Muslimen aus. Die Qualen schwanden nicht eher, als bis das Übel aufgehoben wurde.‘ Waren jene Altvorderen nun mit Mängeln behaftet, und ist demgegenüber der heutige Kritiker vollkommen? Ach, wie steht er doch unter ihnen, wenn er nicht das Übel der Menschen auf sich lädt! Das ist das Eingeständnis der eigenen Mangelhaftigkeit! Wenigstens hätte er für mich, diesen Elenden, der das Leiden auf sich lädt, beten sollen, daß Allah mit mir gütig verfahre! Das hätte Grundsätzen der Scharia eher entsprochen, als es mir zu untersagen! Vielleicht verkehrte der Kritiker in eben jener Nacht mit seiner Ehefrau, besuchte das Bad, legte parfümierte Kleidung an, verzehrte köstliche Speisen – die Paradiesbewohner erhalten keine Nachrichten über die Insassen der Hölle! Mir kam zu Ohren, daß ein großer Meister sagte: ‚Hätte ʿAbd al-Wahhāb doch, als das Unheil sich auf ihn niedersenkte, seine Brüder um Hilfe angerufen, sie hätten sie ihm nicht verweigert; denn ein Muslim ist stark dank seinem Bruder!‘ Als uns das Übel des Oberaufsehers über die Stiftungen überkam, die ganze Stadt von Besorgnis erfaßt wurde und die Gelehrten und das gemeine Volk zur Festung hinaufzogen, um vor dem Statthalter ʿAlī Pascha Klage zu führen, da unterwarf ich mich dem Ertragen, das ihn schließlich aus der Stadt vertrieb und bewirkte, daß die entsprechenden Anordnungen, die er mit sich führte, nicht in Kraft treten konnten. Sieben Tage lang aß ich nichts, trank ich nichts, schlief ich nicht, bis Allah ihn endlich aus Kairo verjagte. Niemand bemerkte dies an mir, einer sagte sogar: ‚Der da verdient Tadel, denn er ist nicht mit den anderen Leuten zur Festung hinaufgestiegen, um sich beim Pascha zu beschweren.‘ Womöglich hat aber das, was sie alle zusammen taten, nicht einmal den zehnten Teil der Wirkung von dem, was ein Derwisch erreicht, indem er sich ganz auf Allah ausrichtet. Als diesmal das Leiden mir zu schwer zu werden drohte, schickte ich jenem Meister, der mir angeboten hatte, mir beizustehen, einen Zettel und erinnerte ihn daran, sein Versprechen wahrzumachen. Doch er wies dies weit von sich und behauptete, nie geäußert zu haben, daß er mir helfen wolle.Von jenem Tage an war mir klar, daß ich bei künftigen Übeln nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte. Dann, am Vorabend des siebten Tages, kamen zu mir zahllose Derwische aus dem Irak, aus Syrien und Jerusalem; die ganze Medresse, das Haus, die Gasse füllten sich. Mit ungläubigem Erstaunen riefen sie: ‚Ihr Derwische dieser Stadt! Möge Allah euch keine Segenskraft erteilen! Denn ein Derwisch unter euch huldigt dem Einen Wahren und verspricht dabei, sein Leben zu vernichten, wenn er nur das Leiden Ägyptens auf sich nehmen kann – und unter euch findet sich niemand, der ihm beisteht?‘ Das waren ihre Worte. Dann teilten sie jenes Tragen unter sich auf, und ich erholte mich von der Last.“24

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Erscheinungsweisen des Leidens Wegen seiner Ergebenheit gegenüber dem Pascha erregt aš-Šaʿrānī das Mißfallen einiger Landsleute. Er stellt sich nicht mit den anderen auf der Festung ein, um gegen die Abschaffung der Moscheeaufseher Einspruch einzulegen, und dies nimmt man ihm übel, und genau das wiederum fürchtet aš-Šaʿrānī: Auf keinen Fall möchte er den Neidern Anlaß zu ihren bösen Bemerkungen geben, denn er wäre dann schuld daran, daß sie sich mit Sünden beladen! Derartiges hatte er in seiner Lebensbilanz des öfteren angemerkt, und wenn man sich die Auffassung vom Kosmos vergegenwärtigt, die aš-Šaʿrānīs Denken prägt, dann fällt es schwer, solche Sätze als das leere Geschwätz eines in seiner Eitelkeit gekränkten Greises beiseite zu schieben. Allahs Bestimmung, deren Inhalt der Mensch nach eigenem, belanglosem Urteil in gut und böse scheidet, strömt unablässig in das Diesseits ein, und ein innerweltlicher Kausalzusammenhang zwischen den an den Menschen in Erscheinung tretenden „erworbenen“ Handlungen und dem Glück und Leid, das ihnen widerfährt, ist dank dem weisen Vorgehen des Schöpfers gegeben. Aber dieser Zusammenhang ist nicht derart fest, daß das, was zu seiner Erfüllung von Allah bestimmt ist, nicht umgelenkt werden könnte.25 Dazu wird gleich noch einiges zu sagen sein. Jedenfalls ist es für aš-Šaʿrānī nicht unerheblich, wenn bei anderen Muslimen sein Erfolg eine Sündenlast böser Worte und Empfindungen verursacht. Denn welche Folgen diese wiederum für ihn haben könnten, ist nicht abzusehen, und deshalb wäre es am besten, wenn er zwar einerseits die Aufgaben des Gottesfreundes gut erfüllte und über das hierfür unerläßliche Ansehen bei den Mächtigen verfügte, andererseits aber von all dem nur so wenig bekannt würde, daß ihm der Ruhm eines außergewöhnlichen Mannes erspart bliebe.26 Im Jahre 1554 – als Statthalter amtierte inzwischen Muḥammad Pascha – litt Ägypten unter Seuchen und einer Dürre, und wie es üblich war, forderte der Machthaber einen der heiligmäßigen Männer auf, die Regenbitten zu leiten. Muḥammad Paschas Wahl fiel auf aš-Šaʿrānī. Doch dieser willigte nur ein, mit anderen Meistern den Zeremonien beizuwohnen, eben weil er die Neider fürchtete: Sie werden ihn beim Pascha anschwärzen, das ist gewiß. „Und wenn sie damit auch recht haben und richtig handeln, indem sie die Mächtigen davon abhalten, an mich zu glauben, so nimmt doch nicht ein jeder“ so viel mißgünstiges Geschwätz hin. „Ich habe in diesen Huldreichen Gnadengeschenken schon davon gesprochen, daß ich alle diejenigen, die die Machthaber gegen mich einnehmen, mehr liebe als diejenigen, die eine Zuneigung zu mir wecken. Das ist ein Charakterzug, den kaum einer meiner Zeitgenossen aufweist. Ich aber bin dankbar für die gute Tat dessen, der den Glauben Muḥammad Paschas an mich zum Schlechten wendete.“27 Aš-Šaʿrānī schreibt sich in den Lebenserinnerungen die Fähigkeit zu, nicht nur dem Lande Ägypten zugedachtes Leiden auf sich ziehen zu können. Allen Muslimen, angefangen vom Sultan in Konstantinopel, bis zu den einfachen Leuten in Kairo

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vermag er auf diese Weise Erleichterung zu verschaffen. Diese Fähigkeit sprach sich herum, und man munkelte sogar, der Sultan Süleyman wäre auf dem Feldzug gegen die Schiiten – es ist wahrscheinlich der Krieg gegen die Safawiden im Jahre 1534 gemeint, der mit der Eroberung des Irak endete – nicht von seinem Beinleiden erlöst worden, hätte es aš-Šaʿrānī nicht auf sich geladen; „und dies ist ein Zeichen dafür, daß eine gute Bindung an meinen Imam besteht“, nämlich an den Sultan.28 Das Mitleiden äußerte sich einmal sogar, indem er die Wehen einer Gebärenden an sich selber verspürte. „Desgleichen, sobald ich höre, daß jemand im Palast des Statthalters gefoltert wird: Ich fühle die Hiebe der Peitschen, die Wirkungen der Knochenbrecher, des Zusammenpressens des Kopfes und wie man einen im Feuer erhitzten Eisenhelm auf den Kopf stülpt, so daß mir ist, als flösse mir das Fett zum Ohr hinunter, weswegen ich mit der Hand dorthin fasse, um es wegzuwischen, weil ich meine, es trete da aus. Dies ist eine Sache, die unter den Derwischen selten vorkommt. Einen solchen Zustand kennt nur der, der ihn selber erfahren hat.“ Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, und Ibrāhīm al-Matbūlī sind die großen Gottesfreunde, die vor ihm mit dieser Leidensfähigkeit begnadet oder geschlagen waren, auch unter den Frommen der frühen islamischen Geschichte finden sich einige. „Über den, der diesen ‚Standplatz‘ erreicht hat, geht die Sonne nicht ein einziges Mal auf und unter, ohne daß ihm sich der Leib auflöste, als hätte er ein Raṭl Gift getrunken. Bei Allah, bisweilen habe ich das Empfinden, als wäre mein Leib vom Scheitel bis zum Fuß ein einziges Geschwür, das nahe daran ist aufzuplatzen. Einmal erzählte ich meinem Bruder, Meister ʿAfḍal ad-Dīn, davon, und er erwiderte mir: ‚Bei Allah, seit zehn Tagen lebe ich mit dem Gefühl, als läge mein Leib in einer kupfernen Pfanne über dem Feuer, ohne alles Wasser, und mein Fleisch und mein Fett über dem Feuer zischen. Ich aber harre aus!‘ ‚Woher kommen diese Qualen?‘ fragte ich, und er antwortete: ‚Weil sich die Menschen mit ihrem vielen Unglück an mich wenden.‘“29 Leiden und Bittgänge Die schweren Lasten, die die Mächtigen den Untertanen aufbürden, darf man allerdings erst dann schultern, wenn man selber zu den „Wachhabenden“ des betreffenden Landes gehört.Was es mit diesen Beschützern auf sich hat, werden wir in Kürze hören. Jedenfalls wird es dem Derwisch eher gelingen, einen Berg zu versetzen, als das Herz eines Herrschers zu bewegen; denn dieses ist ganz und gar von Planungen und Erwägungen erfüllt – und daher sehr weit entfernt von der Hingabe an Allahs Fügung. „Wenn du, Bruder, in die Tiefe dieser Fragen vorgedrungen bist und dafür bekannt wurdest, die Lasten der Menschen auf dich zu nehmen, sie dann aber gar nicht tragen kannst, dann sprich: ‚Allah, lösch meinen Namen aus dem Seienden, damit mich niemand für einen Frommen erkenne! Denn wenn du ihn

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nicht löschst, dann mach, daß ich nicht ganz auf mich selber angewiesen bin! Verschaff mir Zugang zum Land und zu den Leuten und verleih meinem Wort Wirkung zum Guten!‘“30 Sobald man sich zum Tragen berufen weiß, dann beachte man folgende Regeln: Man begebe sich stets zu Fuß, nur im äußersten Notfall beritten, zu dem Mächtigen, bei dem man Fürbitte einlegen will. Denn man hat in jenem Augenblick den niederen Rang dessen inne, dem der Mächtige zürnt. Ganz unzureichend wäre der Versuch, allein mit der Kraft des Herzens etwas erreichen zu wollen – wer einem Glaubensbruder Erleichterung verschaffen möchte, der muß sich körperlich in dessen Situation hineinbegeben. Man mache sich im Zustand äußerer wie innerer Reinheit auf den Weg und trachte dem hohen Herrn anzusehen, ob er geneigt ist, einer Fürbitte für den, dem er grollt, das Ohr zu leihen. Am Jüngsten Tag wird Mohammed ebenfalls erst einen günstigen Augenblick abpassen, ehe er ein Wort für die Apostaten einlegen wird – mit denen laut Ibn ʿArabī dann gar nicht diejenigen gemeint sind, die sich vom Islam lossagten, sondern jene Muslime, die es an Skrupelhaftigkeit im Umgang mit den Vorschriften der Scharia fehlen ließen. Aš-Šaʿrānī kannte sich in all diesen Angelegenheiten bestens aus. Als junger Mann hatte er im Namen des Palmblattflechters Bittbriefe aufsetzen müssen, die nur dann übergeben wurden, wenn es für das jeweilige Anliegen günstig stand; sonst nämlich „wird die Sache noch verwickelter – der Missetäter hat mit seinem unrechten Handeln eine Widersetzlichkeit gegen Allah auf sich geladen, und aus dieser werden zwei, indem er sich weigert, die wahren Worte zu sprechen“ und Milde walten zu lassen. „Als das Jahr 931 (begann am 29. Oktober 1524) gekommen war, sagte mir Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter: ‚Schreib für niemanden mehr in meinem Namen einen Bittbrief!‘ ‚Weswegen?‘ ‚Bis jetzt hatten die Mächtigen noch einen Rest von Furcht vor dem Herrn und von dem Verlangen in sich, Lohn für ihr Jenseits anzusammeln!‘“ Damit sei es nun aus und vorbei; man komme nicht mehr darum herum, die Höflinge mit einem Sümmchen zu bestechen. Dabei sei es höchst ungewiß, ob sie für die Erledigung des Anliegens sorgten.31 – Als aš-Šaʿrānī selber zum Tragen fremder Lasten fähig war, hatten sich die Verhältnisse anscheinend wieder geändert. Die Unzugänglichkeit des osmanischen Paschas, die der Palmblattflechter beklagt und die man nach Aḥmads „Sultanat“ gut verstehen kann, war einer biegsameren Haltung gewichen. Gleichwohl warnte aš-Šaʿrānī, nur dann dürfe man Missetaten der Mächtigen abzuwenden und den unschariatischen Lebenswandel des Hofes zu beseitigen versuchen, wenn man über die Kraft des Einwirkens32 auf sie gebietet – über das Vermögen mithin, in völliger Hingabe an den Einen Wahren an dessen Stelle den Lauf der Dinge zu lenken.

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Das Leid und die muslimische Glaubensgemeinschaft Fast nie ist jemand, der zur Übernahme fremden Leidens berufen ist, von Krankheiten frei. Starke Kopfschmerzen, heftiges Pochen im Schädel und andere Qualen, die aš-Šaʿrānī schon beschrieben hat, beherrschen den Alltag. Doch gibt es Augenblicke, in denen die Schmerzen unvermittelt, scheinbar ohne Grund nachlassen oder ganz verschwinden: Die Ursache, die fremde Bedrängnis, ist aufgehoben! Schon ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb, ʿUmar b. ʿAbd alʿAzīz und andere herausragende Muslime der Frühzeit hätten solche Erfahrungen gemacht. „Ich habe dergleichen oft erlebt. Man holt den Arzt, der mir eine Medizin verschreibt. Er sitzt eine Weile bei mir, und plötzlich bin ich gesund, als wäre ich nie krank gewesen. Und darüber wundert sich der Arzt.“ Die Genesung kann im übrigen allenfalls dadurch beschleunigt werden, daß derjenige, dem das Übel eigentlich von Allah zugedacht ist, mit Inbrunst und ohne Unterlaß Allah um Verzeihung bittet.33 Die Gemeinschaft aller Muslime gleicht einem einzigen Leib, und da dies so ist, kann das Leiden, das Allah einem Glied dieses Leibes bestimmt, auf ein anderes übertragen werden: Erduldet werden muß das Leid in jedem Falle. Der Gottesfreund, der zum stellvertretenden Leiden fähig ist, muß freilich schon einen langen Weg gewandert sein. Er muß sich so weit von der Ichhaftigkeit befreit haben, daß er über längere Zeiträume, wenn nicht gar für immer, nichts anderes mehr ist als der Erscheinungsort der göttlichen Fügung. Das Übel, das Allah in seinem weisen Vorauswissen verhängt hat, ist der Ausgleich für die unzähligen Worte und Taten des Aufbegehrens der schlechten Muslime gegen den Willen des Einen Wahren. Am Beispiel des Lebensunterhalts hat aš-Šaʿrānī dargelegt, wie leicht man von dem abweichen kann, was einem zugemessen ist. Allein die „Ersatzmänner“ und der „Pol“ werden nicht mehr in Widersetzlichkeiten hineingezogen, und sie sind deswegen die eigentlichen Stellvertreter Allahs in der Schöpfung, sie finden bisweilen die Gelegenheit, für Allah entsprechend dessen Willen die Schöpfung zu lenken, und so mögen sie auch zu dem Teil des einen Leibes der Muslime werden, der verhängtes Leid auf sich lädt und abgilt. Alles Geschehen im Diesseits, die Handlungen und Unterlassungen der Menschen, nimmt ja, wie schon unter verschiedenem Blickpunkt erörtert wurde, nicht in diesem selber seinen Ursprung. Es strömt, über mehrere Stufen vermittelt, in das Schöpfungswerk ein, betrifft als ein ganzes die Gemeinschaft der Muslime – wie es sich mit den Andersgläubigen verhält, macht aš-Šaʿrānī nicht zum Thema.34 Alles Geschehen, das in der Gemeinschaft der Muslime zur Erscheinung kommt, ist die von Allahs Weisheit zeugende Mischung von Gut und Böse. Der einzelne, der nur sich selber und seine engste Umgebung im Auge behält und auf das Schauen in das Verborgene verzichten muß – sofern er nicht den „Pfad“ betreten hat –, wird von Ungerechtigkeit sprechen und mit Allah hadern. Aber auf den einzelnen kommt es gar nicht an. Er erwirbt die von Allah gewirkten Handlungen doch nur insofern, als sie mittels seiner Leiblichkeit im Diesseits erkennbar werden.

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Leiden als Beitrag zur Selbsterkenntnis Allahs Auch hier beruft sich aš-Šaʿrānī auf Belehrungen, die ihm der Palmblattflechter erteilte. Denn weshalb wurden der Menschheit überhaupt schariatische Vorschriften auferlegt, wenn es sich mit Gut und Böse so verhält, wie beschrieben? Die schariatischen Belastungen sind, antwortet Sidi ʿAlī, die Sühne für den Verzehr der verbotenen Frucht durch Adam. Als Adam die Frucht im Zustande der Gottvergessenheit verspeist hatte, erschuf der Eine Wahre ihm ein körperliches Merkmal an, das ihn und seine Kindeskinder für alle Zeiten an diese Verfehlung erinnern würde: Die Speise verwandelte sich in rituell unreinen Kot. Eva, die Adam zu der Sünde verführt hatte, wurde darüber hinaus mit der Monatsblutung geschlagen, einer Unreinheit, deren Behebung gemäß der Scharia zusätzliche rituelle Anstrengungen verlangt.35 Das Böse, mit dem der Muslim zu tun hat, entspringt mithin gar nicht einem Handeln in der Welt und unter den Bedingungen, die man in ihr antrifft. Allah bestimmte vielmehr im voraus Adams Verstoß gegen das Verbot und verknüpfte diesen Verstoß mit der Gottvergessenheit, stiftete also eine den Diesseitigen einleuchtende Scheinursache. Um deretwillen übt sich der Gottesfreund mit selbstquälerischem Eifer im Gottesgedenken. Vor allem aber ist er in ebenso selbstquälerischer Übersteigerung auf die Wiederherstellung und Bewahrung der rituellen Reinheit bedacht – wodurch er von der Buße, und das meint, vom Ausgleich des durch Adams Fehltritt zu dem höheren Zweck der Selbsterkenntnis Allahs in die Welt gebrachten Bösen, einen möglichst großen Anteil auf sich selber lädt: Gottesfreundschaft als die nützlichste Form des Gottesdienstes. Denn die Verfehlung Adams hatte ja dessen Rang vor Allah nicht im geringsten gemindert, sondern ganz im Gegenteil weit erhöht. Dies erfuhr aš-Šaʿrānī von seinem Gefährten Afḍal ad-Dīn. Der göttliche Heilsplan des Selbsterkennens des Einen Wahren machte die Sünde erforderlich, und so ging von dem Verzehr der verbotenen Frucht ein lang anhaltender Segen aus: Jede gute, schariagerechte Tat seiner Nachkommen wird Adam doppelt gutgeschrieben. Aus eben diesem Grunde hatte einst Meister Abū Madjan gesagt, wäre er an Adams Stelle gewesen, er hätte nicht nur eine Frucht gegessen, sondern den ganzen Baum – indem er sich die Last alles in den Kosmos einströmenden Bösen aufgebürdet hätte,36 wäre sein Dienst am Einen unübertrefflich groß geworden, ebenso wie sein Anteil an den guten Taten aller Nachkommen. Auf den einzelnen kann demnach eine islamische Ethik gar nicht zugeschnitten sein. Ja, es fragt sich, ob man einer Ethik überhaupt bedarf. Letzten Endes ist das Tun selbst des Gottesfreundes von zweifelhafter Art: Er streift alle Ichheit ab, unterliegt willenlos der göttlichen Bestimmung. Man könnte ihn verdächtigen, daß er auf diese Weise seinem Anteil am Unheil, das über die Muslime verhängt ist, zu entkommen sucht. Das Gegenteil ist der Fall! Doch solchen Argwohn zu entkräften, muß der Gottesfreund geradezu auf das stellvertretende Leiden aus sein: Diese Fähigkeit ist der Nachweis dafür, daß er einen fortgeschrittenen Standplatz auf dem

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Weg zu Allah und zum Dienst an ihm erreicht hat. Nun könnte man einwenden, es sei befremdlich, daß aš-Šaʿrānī auf der einen Seite sich mit seinen Bemühungen um eine Erneuerung der Schariawissenschaft die Feindschaft vieler Zeitgenossen zuzieht und auf der anderen Seite die Tat und ihre – bösen – Folgen für den Täter gänzlich voneinander trennt.Wenn man die Verantwortung für eine Handlung dem einzelnen aufbürdet, dann hat der Einwand seine Berechtigung. Gerade dies tun aber aš-Šaʿrānī und mit ihm alle anderen sunnitischen Gelehrten nicht. Aš-Šaʿrānī erörterte die unterschiedliche Strenge schariatischer Bestimmungen einzig deswegen, weil er zeigen wollte, daß der gemeine Mann, der sich in den Spitzfindigkeiten der Jurisprudenz nicht auskennt, weit besser dem Einen dient, als ihm die Gelehrten der miteinander zankenden Schulen einreden. Die muslimische Rechtswissenschaft hat seit der Vollendung der Methodik der Ableitung von Bestimmungen aus dem Koran und dem Prophetenḥadīṯ Wege gesucht, diese als zu eng empfundene Methodik zu ergänzen. Seit dem 11. Jahrhundert beginnt die bis heute fortdauernde Diskussion über die „Absichten der Scharia“. Kennt man diese Absichten, so der Gedanke, dann lassen sich aus ihnen Normen ableiten, die keine Textgrundlage im Koran und im ḥadīṯ haben müssen. Nicht in der Würde des Einzelnen, nicht in seiner individuellen Verantwortlichkeit findet man den Sinn der Scharia, sondern im Wohl der Gemeinschaft der Muslime37 – und was dies ist, das mag man an der den Kosmos konstituierenden Weisheit des Schöpfers ablesen. Der stellvertretend leidende Gottesfreund und der Rechtsgelehrte, der nicht nur die Ahndung von Übertretungen des Gesetzes, sondern auch die Beschreibung der dem Kosmos angemessenen Bewältigung des Alltags im Auge hat, kann sehr wohl ein und dieselbe Person sein. Leiden und Taktgefühl Eine der Pilgerreisen, die aš-Šaʿrānī nach Mekka führten, fällt in das Jahr 1541. Damals will er an der Kaaba Allah angefleht haben, er möge ihm die mohammedsche Charaktereigenschaft des stellvertretenden Leidens schenken. Dazu erbat sich aš-Šaʿrānī die Kraft, alles, was über ihn verhängt sei, ohne Murren zu ertragen, wenn nur die Krätze von ihm genommen würde, mit der er über und über bedeckt war. Kaum hatte er dieses Stoßgebet ausgesprochen, da erstrahlten seine Hände, die vorher rissig gewesen waren, in reinem Weiß: Allah hatte ihn erhört. Unheil auf sich zu lenken, die Schmähungen und Kränkungen der rohen Mitmenschen geduldig hinzunehmen, alles dies wurde aš-Šaʿrānī jetzt zum täglichen Los. Andere, berühmtere Gottesfreunde wählte er sich zum Vorbild: Sidi ʿAlī, den Palmblattflechter, Sidi Ibrāhīm al-Matbūlī oder Sidi Ibrāhīm ad-Dasūqī (gest. 1513),38 der einst am liebsten in die Wüste hinaus geflohen wäre, um den Beleidigungen zu entrinnen, die man ihm in der Stadt antat, der aber lernte zu lächeln, wann immer jemand sein

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Mütchen an ihm kühlte. Schon Ibn ʿArabī wußte, daß der Pol der Zeit unter der Last der Sünden der Glaubensbrüder ächzt, und doch hat er die Gewißheit, daß alles Unheil, das er erleidet, ihn nicht mehr schädigen wird als der Hauch einer Mücke, die einen Berg zu zerstören sucht. Wenn der Derwisch zum „Standplatz“ der Vollkommenheit vordringt, dann überwältigt ihn die Gegenwart Allahs, „und schauend erkennt er in ihm einen gerechten Schiedsmann“, dem weder eine kleine noch eine große Sünde entgeht. Nachdem aš-Šaʿrānī das Leiden vertraut geworden war, beeilte er sich, Allah dafür zu danken. Wer einen Gottesfreund kränkt, ist sich doch gar nicht der Tatsache bewußt, daß dieser ein Diener des Einen Wahren ist, ständig an dessen Hof weilt und nicht so schmählich behandelt werden darf! Der Gottesfreund wiederum muß erkennen, daß Allah dem Bösewicht auch den Charakter eines frommen Mannes hätte verleihen können. So muß der Derwisch es sich zur Regel machen, sobald ihm eine Kränkung widerfährt, die göttliche Weisheit, ohne die im Diesseits nichts geschieht, hinter diesem Unheil zu erspüren. Bevor aš-Šaʿrānī bei ʿAlī Pascha für Ägypten ein gutes Wort einlegte, sah er den Statthalter im Traum; dieser trug ein langes grünes Gewand, und jemand kam und riß es am Zwickel ein. Aš-Šaʿrānī las daraus, daß einer seiner Feinde ihn beim Statthalter anschwärzen werde, und so geschah es tatsächlich. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit überkam ašŠaʿrānī deswegen. Denn wenn ihn ʿAlī Pascha allzu hoch verehrt hätte, dann wäre die Zahl der Bösewichter, deren Schuld aš-Šaʿrānī durch Fürsprache hätte auf sich nehmen müssen, viel zu schnell angewachsen, und der Pascha wiederum wäre verleitet worden, um dieser Fürsprache willen die Gesetze des Sultans zu mißachten. Das aber hätte zu Mißbehagen und schließlich zur Feindschaft zwischen ašŠaʿrānī und dem Pascha führen müssen.39 Das Dulden, das stellvertretende Leiden, die Fürsprache für die Missetäter dürfen nicht so weit führen, daß die Ordnung, die Allah dem Diesseits gibt, selber in Frage gestellt wird – das ist der schwierige Balanceakt, den der Gottesfreund vollführen muß. Einen befremdlich anmutenden Gesichtspunkt, der aš-Šaʿrānī beunruhigt, wollen wir kurz streifen. Nur wenn er genau wußte, daß ein Emir gelassenen und selbstsicheren Sinnes war, wagte aš-Šaʿrānī, dessen Vorgänger mit lobenden Worten zu bedenken. Nicht jeder Amtsträger hat die Größe, die Leistung anderer anzuerkennen und eigene Unzulänglichkeiten einzuräumen. Es galt also stets vorsichtig abzuschätzen, von welcher Geistesart der Mächtige war, damit man sich die Möglichkeit der Fürsprache nicht ein für allemal verdürbe. Aš-Šaʿrānī glaubt, daß solche Empfindlichkeit ein Merkmal der hohen Herren seiner Zeit sei, und er gibt dafür eine Begründung, die wie in einem Brennpunkt seine Ansicht vom Gang der islamischen Geschichte zusammenfaßt. Er schreibt: „Die meisten der heutigen Amtsträger übernehmen ihre Aufgaben auf Grund eines Gebotes des Sultans; und so haben sie keine anderen Feinde als die Freunde des Emirs, der vor ihnen das Amt bekleidete, und womöglich haben sie diesen aller Wohltaten beraubt“, deren er sich

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einst erfreut haben mochte. Schaue man in die Chroniken der frühen islamischen Geschichte, dann werde man finden, daß Muʿāwija es ohne weiteres ertrug, daß man in seiner Gegenwart den ärgsten Feind, ʿAlī b. abī Ṭālib, lobte, schreibt aš-Šaʿrānī. Die Altvorderen lebten ganz in der Rechtleitung durch Allah, und so blieben ihnen Regungen des Ehrgeizes und der Mißgunst fremd.40 Heute aber fehlt eine derartige Übereinstimmung von Amtsführung und göttlicher Fügung. Denn die Statthalter und ihre wichtigen Helfer gelangen in ihre Stellungen dank einem Erlaß, der vom Sultan ausgeht, also nicht gemäß der Scharia, dem Gesetz, das selber ein Teilaspekt der göttlichen Fügung ist. Wenn auch die Scharia nicht verschwunden ist, so leben aš-Šaʿrānī und seine Zeitgenossen doch in einer Art „Zwischenepoche“, wie er sie in anderem Zusammenhang des näheren beschrieb.41 Das macht aš-Šaʿrānī hier deutlich, und das rechtfertigt, wie wir bereits wissen, ein verstärktes Bemühen um Einsicht in die Weisheit des Einen Wahren. Aus deren Erkenntnis lassen sich die Regelungen gewinnen, deren die muslimische Gesellschaft und das Reich zur Aufrechterhaltung ihres islamischen Charakters bedürfen, der sich in der „Zwischenepoche“ nicht mehr spontan beim Begreifen der Glaubenswahrheit einstellt. Die Wachhabenden Die Sorge um das Jenseitskonto des Mächtigen und die taktvolle Ergründung des Verhältnisses, das er zu seinem Vorgänger einnimmt, leiten den Gottesfreund beim schwierigen Geschäft des Tragens. Ein dritter Gesichtspunkt, der schon anklang, kommt hinzu: Die Wachhabenden, spirituell kraftvolle, im Alltag aber unscheinbare Gestalten, kontrollieren alle Örtlichkeiten der Welt, jeder von ihnen ist für ein bestimmtes Gebiet zuständig. Dort haben sie die Macht, in Allahs Fügung einzugreifen und diejenigen, die ihnen – meist unbeabsichtigt – ins Gehege kommen, mit Unglück und Krankheit zu schlagen. Aš-Šaʿrānī, der bei seinen nächtlichen spirituellen Reisen ihnen stets seine Aufwartung macht und ihnen, soweit es ihm möglich ist, beisteht,42 verschafft sich für die vielen Aktionen der Vermittlung, die er auf sich nimmt, deren Unterstützung. „Sie durchschauen die Dinge besser als ich“, gibt er zu. „Sie gestatteten mir immer weiter, bei einem Regierenden für andere zu bitten, obwohl ich sie nicht beachtete oder ihnen nicht die volle Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdienen, wenn man sie um eine Erlaubnis angeht.“ In solchen Fällen kann es vorkommen, daß sie einen Derwisch oder Gelehrten scheitern lassen, und sein Leben lang kann er diese Fahrlässigkeit nicht wiedergutmachen. Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, legte einst bei dem Emir Ǧānim al-Ḥamzāwī für irgend jemanden ein gutes Wort ein, vergaß aber vorher die Zustimmung der Wachhabenden in jenem Drittel Ägyptens einzuholen, in dem er nicht die Befugnis des Eingreifens in die göttlichen Anordnungen besaß. Da attackierte ihn ein Fremder mit einem Dolch und fügte ihm eine Wunde zu, an der er nach zwanzig Tagen verstarb, nachdem er

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die ganze Zeit furchtbare Schmerzen erlitten hatte. Aš-Šaʿrānī selber berichtet von mancherlei Begegnungen mit den Wachhabenden, aber er seufzt erleichtert, weil er es sich nie mit ihnen verdarb: Er war so klug, in seiner Klause regelmäßige Segensrufe und Koranlesungen für sie einzuführen. „Was ich mit ihnen erlebte, ist unter anderem dies: Drei von ihnen befehdeten mich neun Tage und Nächte lang, so daß ich weder essen, noch trinken, noch schlafen, noch mich zur Ruhe niederlegen konnte; schließlich wurde mein Leib wie eine riesige Eiterbeule kurz vor dem Platzen. Erlösung verschaffte mir Muḥammad al-Bahūtī am Zuwaila-Tor.43 Dieser gestand meinem Neffen ʿAbd as-Salām: ‚Dreißig Leuten trug man den Fall ʿAbd alWahhābs vor. Sie alle weigerten sich, das Leiden auf sich zu nehmen, ich aber tue es Allah zu Gefallen.‘ Al-Bahūtī sagte mir, daß diejenigen, die mich befehdeten, drei Männer nichtarabischer Herkunft seien, die sich unten an der Barqūq-Medresse aufhielten, die an der Gasse ‚zwischen den beiden Palästen‘ liegt.44 Er riet mir außerdem, ich sollte an dem betreffenden Abend mit Weihrauchbröckchen räuchern; so Allah will, würde ich dann schlafen, und der Widerstand nehme ab. Und so geschah es auch.“ Der Palmblattflechter allerdings hatte schon die Nachricht ausgestreut, daß aš-Šaʿrānī dazu bestimmt sei, viel Leid zu tragen, weshalb es besser sei, wenn Dritte nichts von dem Unheil, das ihn treffe, auf sich lüden. Der Gottesfreund müsse sich an das gewöhnen, was ihm bevorstehe. Ohnehin seien die Wachhabenden, wie aš-Šaʿrānī von anderer Seite erfuhr, nunmehr vorwiegend fremder Herkunft, keine Araber. Um so notwendiger war es, ihnen mit Höflichkeit zu begegnen. „Mit den Wachhabenden hatte ich auch folgendes Erlebnis: Jemand hatte sich in einen Umhang gehüllt und schlief drei Nächte im Torweg meiner Klause ohne zu essen und zu trinken. Ich aber bemerkte es nicht. Da suchte mich Meister Ḥasan arRaiḥānī auf und erzählte mir davon. ‚Wie darf in deiner Klause jemand sitzen, der dich befehden will, sobald du nur einen Augenblick unachtsam bist, und du weißt von all dem nichts?‘ Dann ging ar-Raiḥānī hinaus, prügelte den Unbekannten mit dem Stock und vertrieb ihn aus der Klause. Nach einiger Zeit traf der Fremde auf Meister Ḥasan und stach ihm mit dem Messer in den Oberschenkel. ‚Dies, weil du mich, was ʿAbd al-Wahhāb betrifft, befehdet hast!‘ rief er. Dies war das letzte Mal, daß die Derwische gegen mich angingen“, schreibt aš-Šaʿrānī. Abū l-ʿAbbās al-Ḥarīṯī – aš-Šaʿrānī nennt ihn „Bruder“ – erzählt, wie er einst an einem Ort im westlichen Delta die Moschee aufsuchte und sich mitten unter die Leute setzte. „Plötzlich spürte ich, wie mir so übel wurde, daß ich beinahe starb. ‚Bringt mir schnell ein Gefäß, ich muß mich übergeben!‘ schrie ich, und man reichte mir eine große Schüssel, und ich füllte sie mit Eiter und Blut. Plötzlich rührte sich an einer Seite der Moschee eine Gestalt, die dort unter einer mit Safran gefärbten Decke geschlafen hatte, und sagte: ‚Bei Allah, wäre deine spirituelle Kraft nicht so gering und wärest du nicht so schwach, dann hätte ich nicht erlaubt, daß du die Moschee verläßt, es sei

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denn zu deiner Beerdigung! Wie kannst du es wagen, wie ein blödes Stück Vieh hier in das Land der Leute zu kommen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen?‘ ‚Ich bereue!‘ rief ich und tat Buße, und von dem Tag an betrat ich keinen Ort mehr, ohne zuvor die dortigen Wachhabenden um Erlaubnis gefragt zu haben.“ An einen entsetzlichen Schrecken erinnert sich aš-Šaʿrānī, als ihm einst, während er mit anderen Wallfahrern die Grabstätte Aḥmad al-Badawīs umkreiste, jemand unvermittelt auf die Herzgegend faßte. Nachdem der verewigte Gottesfreund aus dem Grab heraus eingegriffen hat, macht der Aufseher den Übeltäter dingfest. Und noch eine Geschichte zeigt uns, wie die Welt, in der sich der einfache Muslim, vor allem aber der Gottesfreund zurechtfinden muß, angefüllt ist mit unheimlichen, gefährlichen Wächtern, die im Namen Allahs eine schwer zu durchschauende Ordnung aufrechterhalten, ganz so wie sie es im Verborgenen auf dem Weg an den Hof des Einen Wahren tun.45 In Sanhur an der Küste des Deltas ging einst Sidi Muḥammad b. Hārūn46 nach dem Gebet in der Moschee nach Hause, begleitet von einer Schar Männer, die dem Gottesfreund folgten. Den Rücken an eine Wand gelehnt, saß da der halbwüchsige Sohn eines Affenbändigers, die Beine von sich gestreckt und dem ehrwürdigen Mann den Weg versperrend. „Wenn jemand wie ich vorübergeht, sollte er aus Höflichkeit die Beine zu sich heranziehen“, dachte Muḥammad b. Hārūn, und im selben Augenblick wurde er all seines Wissens beraubt, nicht einmal die Eröffnungssure blieb ihm im Gedächtnis. Er fragte sich nach dem Affenbändiger durch. „Schau, da kommt dein Beleidiger!“ meinte der Alte zu seinem Sohn, und als das Gaukelspiel mit Affen, Bären und Eseln beendet war, fuhr der Vater fort: „Einer wie du, der für sein Wissen und seine Frömmigkeit so berühmt ist, bildet sich ein, besser als irgendein anderer Muslim zu sein!“ Muḥammad b. Hārūn bezeugte sogleich seine reuige Abkehr von allem Hochmut, und der Affenbändiger fragte den Sohn, wohin er das Wissen und die spirituelle Kraft gebannt habe. „In das Herz der Eidechse, bei deren Unterschlupf ich mein Gewand entlauste, und zwar in seiner Heimatstadt“, lautete die Antwort. Dorthin solle sich Muḥammad b. Hārūn verfügen und im Namen des Sohnes des Affenbändigers um die Rückerstattung des Depositums bitten. Dies tat der Gottesfreund, die Eidechse kroch heraus und zischte ihm ins Gesicht. Da verlieh Allah selber ihm das Verlorene, und Muḥammad b. Hārūn sagte bei sich: „Wie kannst du dich vor den Menschen mit etwas brüsten, das in das Herz einer Eidechse paßt!“ Und nie mehr dünkte er sich über irgendjemanden erhaben.47 Ein Dasein in Angst Noch einmal fällt Licht auf aš-Šaʿrānīs vielfältige Beteuerung, es mache ihm nichts aus, ja er ersehne es sogar, wenn man ihn vor den Menschen demütige, herabsetze, verspotte, Licht auch auf seine immer wieder bekundete Furcht vor irgendeiner

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Regung des Stolzes, der Selbstgewißheit. Der Gottesfreund hat stets nur Allah im Sinn zu tragen, selbst beim Geschlechtsverkehr. Sich in die Fügung des Einen Wahren einzuordnen, das Ich abzustreifen, so ahnen wir nun, ist der Weg, auf dem der Muslim die Welt meistern kann. Sie ist keineswegs so, daß Allah sie lieben müßte, sie ist wie ein Acker voller Schädlinge. Wenn man sich als erfahrener Gottesfreund vor allen diesen Übeln zu hüten weiß, dann mag man hier und jetzt einigermaßen zurechtkommen. Aber die Furcht vor dem kleinsten, unbeabsichtigten Fehltritt bleibt – auf der Ebene der Theologie lehrte uns dies das Dogma von der Abschlußhandlung, auf der Ebene der Kosmologie bleibt die quälende Ungewißheit über das, was nach dem Ende des Diesseits kommt, und im Diesseits selber mochte die geringste Unachtsamkeit die äußerlich nicht zu erkennenden Wachhabenden verärgern und deren Rachsucht anstacheln. Ein Leben voller Rücksichtnahme auf Unausrechenbares ist dem Muslim auferlegt – und die große Politik ist das getreue Abbild dieser aus dem Verborgenen heraus in Erscheinung tretenden Wirklichkeit: Die Emire, die Beduinenscheiche, sie alle tun nichts, was nicht durch Allah bestimmt wäre, aber niemand kann wissen, worauf ihr Handeln im nächsten Augenblick hinauslaufen wird. Nur eines ist klar, nämlich daß sie eifersüchtig ihren Machtbereich, ihr Territorium bewachen. Daran vermag auch die vorbehaltlose Unterwerfung unter die göttliche Fügung nichts zu ändern. Die Mißhelligkeiten, die die große Politik verursacht, die Not, die die Maßnahmen der Mächtigen schaffen, dies alles läßt sich weder lindern noch gar verhindern, indem man eben diesen Unzuträglichkeiten zu begegnen sucht. Es gibt allein die durch Allah gestiftete den Kosmos umgreifende Bilanz von Nützlichem und Schädlichem, innerhalb deren die Gottesfreunde eine geringfügige Nuancierung der Verteilung zu erreichen vermögen. Afḍal ad-Dīn erteilte aš-Šaʿrānī einst diese Belehrung: „Wer zu denen zählen möchte, die höflich mit den vier Schulgründern verkehren wollen, der betrete den Pfad der Derwische in Demut, Zerknirschtheit, Hingabe und Gehorsam, gleichsam als wäre er blind und ließe sich führen. Er gebe die Disputationen auf, trenne sich mit seinem Innern von den übrigen Menschen und wende sich ganz zu dem Einen Wahren. Unbeirrt flehe er um unmittelbares Geleit zur geraden Straße (vgl. Sure 1) hin in der Finsternis der Nächte… Denn im letzten Drittel jeder Nacht senkt sich vom Himmel eine göttliche Eingebung, eine Hilfe in… den Nöten des Diesseits herab. Die Menschen, die Allah alles anheimstellen, erhaschen sie als erste, dann jene, die ihm alle Entscheidung überlassen; von ihnen her… strömt sie dem Pol einer jeden Sphäre zu, von diesem her den schützenden Engeln, den Stellvertretern (?), den Mächtigen, von denen her danach den Männern, die andere auf den Pfad zu Allah weisen, den Gelehrten, die entsprechend ihrem Wissen handeln, sofern sie die Öffnung der Pforte und die Herabkunft der Hilfe nicht verschlafen. Denn nur wer an den Hof des Herrschers kommt, erhält ein Geschenk.“ Wer den Augenblick verpaßt, der kann spätestens beim Frühgebet seinen Anteil erhaschen; wer aber

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selbst dann noch saumselig ist, der darf nur noch einen winzigen Rest erwarten, den er sich mit dem Vieh und der großen Masse der sorglosen, leichtsinnigen Muslime teilen muß.48 Der allnächtliche göttliche Festzug Was Wunder, daß aš-Šaʿrānī dem Leser der Lebensbilanz anvertraut, daß ihm der Schlaf im letzten Drittel der Nacht verhaßter sei als jede Widersetzlichkeit gegen Allah. Angesichts des durch noch so viel Umsicht nicht abwendbaren Unheils, das den Menschen bedroht, wäre es frevelhafter Übermut, ließe man jene köstlichen Augenblicke ungenutzt verstreichen, in denen sich der Himmel auftut und der „göttliche Festzug“49 vorbeiparadiert. Bisweilen, vor Feiertagen, dauert er die ganze Nacht, und aš-Šaʿrānī hütet sich dann, auch nur einen winzigen Moment zu schlummern. „Diese Charaktereigenschaft zählt zu den größten Gaben, die mir Allah gewährte. Denn weswegen sonst sollte es einem wie mir widerfahren, daß Allah ihn in der Finsternis zusammen mit den Gottesfreunden und Erwählten vor sich hinstellt, wenn ich diese an Rang auch nicht erreiche! Denn die Ränge der göttlichen Festzüge entsprechen genau denen der weltlichen…50 An der Spitze stehen diejenigen, die am erhabenen Hof des Schauens die Großen sind, die niemand an Rang übertrifft; dann folgen Stufe um Stufe die anderen, die zugegen sind. Manchmal eilte ich zu spät zu meinem gewohnten Ort, so daß mir mein Nachbar, als ich eintraf, zurief: ‚Heute nacht kommst du aber spät!‘ Dort ist auch jemand, der immer mit mir scherzt, sobald er mich sieht: ‚Da ist wieder der, der sich bei Allah einschmeichelt!‘ Denn er hört oft, wie ich Allah für mich und meine Brüder anflehe.“ Diese Schilderung ergänzt aš-Šaʿrānī mit einigen Belehrungen: Entweder am Ende des zweiten oder erst am Beginn des dritten Drittels formiert sich der Festzug; nur in der Nacht zum Freitag stellt er sich schon unmittelbar nach Sonnenuntergang auf und bleibt zusammen, bis der Imam das Frühgebet vollendet. So ist es in einem Ḥadīṯ bezeugt. Jeder Muslim möge sich dies vor Augen halten. Nicht zu jeder Zeit bietet sich die Gelegenheit, zum Herrscher vorzudringen! Allah fragt während des Festzuges, ob jemand einen Wunsch hat, ob jemand Vergebung erlangen möchte.51 „Bedenke, Bruder, wie die Vertrauten des Sultans jemanden, der nicht den Festzug des Herrschers anschaut, aus den Listen der Soldempfänger und des Heeres streichen, so daß ihn die Menschen dann verachten! So verhält es sich auch mit dem Derwisch, der den Zeitpunkt der göttlichen Festzüge verschläft. Womöglich wird sein Name in der Liste der Gottesfreundschaft gelöscht!“52 In den Zeiten nun, in denen aš-Šaʿrānī das anderen zugedachte Leid erträgt, muß er sich besonders streng an Regeln halten, die ihm seine Aufgabe erleichtern. Er muß von tiefster Demut durchdrungen sein. So oft wie möglich muß er bereitstehen, um den Festzug pas-

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sieren zu lassen; „die Wesire werden niemandes Bittgesuch entsprechen, es sei denn, er wäre lange Zeit in ihrer Nähe gewesen“. Daß der Leidende es mit der Bitte um Erleichterung aufrichtig meint; daß er unablässig Allah um Verzeihung anfleht; daß er an die Gottesfreundschaft des Derwischs glaubt, der das Leiden auf sich laden soll; daß er dem Derwisch kein Geschenk aufdrängt; daß er sich jeglicher von der Scharia verbotenen Handlung enthält und auch auf erlaubten Genuß verzichtet; daß schließlich der Derwisch, von dem die Hilfe kommen soll, tatsächlich in das Verborgene zu schauen vermag und danach strebt, den „Standplatz“ der Barmherzigkeit zu erreichen, das sind weitere Voraussetzungen für den Erfolg stellvertretenden Leidens.53 In den Tagesablauf der Bewohner der Klause hatte aš-Šaʿrānī den „göttlichen Festzug“ eingefügt. „Womit Allah mich in meiner Klause begnadete, war, daß er zu mir jemanden schickte, der Meister Manṣūr hieß, einen Gottesfreund. Zu dem Zeitpunkt, an dem der göttliche Umzug im Himmel und auf der Erde aufgestellt wird, stieg er auf das Minarett der Moschee und begann Allahs mit einer lauten, angenehmen Stimme zu gedenken und dadurch die glücklichen Insassen der Klause und andere zu wecken. Seine Stimme wurde nach jeder Richtung hin in ungefähr sechzig Häusern vernommen, so daß man dort wach wurde, Allahs gedachte und ihn um Vergebung bat; kaum jemand versäumte dies nur eine Nacht und schlief weiter. Daran anschließend trugen Meister Muḥammad at-Tarsāwī und andere in der Klause mit schöner Stimme aus dem Koran vor, so daß sich Allahs Erbarmen auf das Anwesen und die benachbarten herabsenkte, bis das Frühlicht hervorbrach.“ Weitere Rezitationen folgten bis zum Morgengebet. Dann sprach man das Gebet für den Propheten und gedachte Allahs bis in den Vormittag hinein. Den Tag über wechselten die Pflichtgebete und die Studien zum Koran, zur Scharia und zu den Regeln und Idealen des Pfades einander ab. Am Abend waren die Bewohner der Klause gehalten, entweder für sich allein oder unter Anleitung aš-Šaʿrānīs den Koran vorzutragen; nach dem Nachtgebet sammelten sie sich um aš-Šaʿrānī zum Gottesgedenken. Dann trennten sie sich; einige schliefen, andere setzten ihre Studien alleine fort, bis wieder die Stunde des „göttlichen Festzuges“ herangerückt war.54 – Gab es einen besseren, einen sichereren Weg durch die Fährnisse des irdischen Lebens?

4.2 Das Leuchten ins Nichtseiende hinaus Und zu dem, womit Allah mich begnadete, gehört, daß häufig die Engel und die Dschinnen meinen Lehrvorträgen beiwohnten. Aus diesem Grunde ließ ich meinen Worten stets freien Lauf, beschränkte ihren Inhalt nicht und richtete sie auch nicht nach dem Fassungsvermögen der Anwesenden aus. Kaum einer der Derwische versteht dies. Zu meiner Zeit erlebte ich außer

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Sidi Muḥammad al-Bakrī (gest. 1586)55 – möge Allah uns aus dessen Lebenskraft Nutzen verschaffen! – niemanden, der in gleicher Weise vorging; kaum jemand unter denen, die seinen Unterricht besuchten, verstand von den meisten seiner Worte etwas, denn sie wendeten sich an eben jene Zuhörer, nämlich an die Dschinnen, Menschen, Engel und die anderen, die den hohen Kreisen zuzurechnen sind. Es waren eben häufig die Engel und die großen Gelehrten der Menschen und Dschinnen zugegen. So kommt es nun, daß jemand, der unsere Worte nicht zu verstehen vermag, sagt, in ihnen liege kein Sinn, denn die gewöhnlichen Zuhörer können nichts begreifen. Wenn ein solcher Kritiker zu schauen vermöchte, wovon wir sprechen, dann wahrte er den Anstand beispielsweise gegenüber Sidi Muḥammad. Dieser nämlich zählt in der Fähigkeit, in Kreise der Pole, der Pflöcke, der Ersatzmänner und in die Geheimnisse der Scharia hineinzuspähen, zu den hervorragenden Leuchten unserer Zeit. In dem Vermächtnis Afḍal ad-Dīns heißt es: Wenn ihr Unterweisungen über den Weg erteilt, dann sprecht nicht nur gemäß dem Verständnis der Menschen unter den Zuhörern und im Hinblick auf deren Rang, sondern ganz im Einklang mit der spirituellen Intention des Augenblicks, denn es gibt keine Lehrveranstaltung, an der nicht irgend jemand teilnähme, der es billigte, sich nach den Charaktereigenschaften der Vollkommenen zu formen, sei es ein Mensch, ein Dschinn oder ein Engel, und gleichviel, ob ihr von ihm etwas wißt oder nicht.56

*** Unterweisung ohne Rücksichtnahme auf die Fassungsgabe der Zuhörer – Keine Wesenseinheit mit Allah – Furcht und Gehorsam des Knechtes – Die Unbegreiflichkeit des Seins – Das Schaudern vor dem Nichtsein – Die Nichtigkeit des geschaffen werdenden Seins

Unterweisung ohne Rücksicht auf die Fassungsgabe der Zuhörer In der Nacht zum Dienstag, dem 26. Raǧab 955 (31. August 1548) brachte ein Dschinn ein Blatt europäischen Papiers zu aš-Šaʿrānī, auf dem in verwischten Schriftzügen achtzig Fragen standen; der Überbringer hatte die Gestalt eines Hundes mit gelblichem Fell angenommen. Auf dem Papier war zu lesen, daß die Fragen schon den Gelehrten unter den Dämonen vorgelegen hätten; diese hätten aber keine Antwort gewußt, sondern gemeint, nur unter den Menschen werde man jemanden finden, der sie löse. Der Überbringer hatte die Klause zunächst über den Hof betreten wollen, war aber – da es sich um einen Hund handelte – von denen, die dort des rituellen Aufenthalts pflegten, verscheucht worden, und sie hatten sich sogleich daran gemacht, jene Stellen der Klause, auf die er seine Läufe gesetzt hatte, zu reinigen. Der Dämon in Hundegestalt hatte darum durch den Ausgang des Saales, der über dem Ufer des Ḥākimī-Kanals lag, den Weg zu aš-Šaʿrānī gefunden, und als dieser seine eifrigen Zöglinge über die Bewandtnis des ungewöhnlichen Besuchers aufgeklärt hatte, verwunderten sie sich sehr und bereuten ihre Voreiligkeit. AšŠaʿrānī aber unterzog sich der Mühe, alle achtzig Fragen schriftlich zu beantworten, und gab der kleinen Abhandlung den Titel Das Fortziehen des Schleiers und der Gamaschen von der Begründung der Fragen der Dämonen. 57 Schon Mohammed, so ist in Sure 72 nachzulesen, wurde beim Rezitieren des Korans von einer Schar

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Dämonen belauscht; sie entnahmen seinen Worten die wichtigsten Glaubenssätze des Islams. Indem aš-Šaʿrānī sich jetzt mit den Fragen der Dschinnen auseinandersetzt, macht er deren Herz bereit, ebenfalls die Heilsbotschaft aufzunehmen. Er weist sie zur wahren Gotteserkenntnis, die die heidnischen Mekkaner einst nicht einmal vom Propheten hören wollten, sondern frivol ausschlugen. Und da es Dämonen sind, denen aš-Šaʿrānī solche Belehrung zukommen läßt, braucht er sich um die Einwände der ungebildeten Menschen nicht zu kümmern. Er kann sich äußern, ohne sich von deren törichter Zweifelsucht, von deren anmaßendem Halbwissen belästigt zu fühlen. Er kann es so halten wie sein berühmter Zeitgenosse Muḥammad al-Bakrī, ein ferner Nachfahre Abū Bakrs,58 der sich um die Begriffsstutzigkeit der Mehrheit der Zuhörer nicht kümmerte, sondern nur denjenigen predigte, deren spirituelle Einsichtsfähigkeit den oberen Rängen der Gottesfreunde gerecht wurde, vor allem also den Dämonen und den Engeln. Aufs knappste verdichtet faßt aš-Šaʿrānī in dieser kleinen Schrift seine Vorstellungen vom Menschen und dessen Stellung vor Allah und im Kosmos zusammen, und ehe wir zum letzten Mal auf seine Bilanz zurückkommen, mag er uns in reiner Form und ohne Rücksicht auf die Mißgunst ihm übel gesinnter Zeitgenossen den Glauben erläutern, der ihn in seinem Leben trug. Wie kommt es denn, wollten die Dämonen wissen, daß die meisten der mit der Scharia belasteten Geschöpfe unfähig sind, Allah ganz ohne kreatürliche Eigenschaften zu schauen, und stets an der Verähnlichung kleben? Sie sind, wenn sie überhaupt zum Schauen vordringen, noch den eigentlichen Höfen des Einen Wahren allzu fern. Könnten sie nur jeden Hof des guten Handelns betreten, dann erkennten sie, daß Allah jegliche Ähnlichkeit mit den Geschöpfen, jegliche Spezifizierung des Seins, wie man sie im Diesseits antrifft, ganz und gar abgeht; wie die Engel, die Allah preisen, würden sie auf jeden Hauch der Verähnlichung verzichten.59 Auf einen seit dem 7. Jahrhundert bekannten und immer wieder kommentierten Text spielt aš-Šaʿrānī hier an: Gabriel läßt sich von Mohammed den Islam erklären. Der Islam im Sinne des Ritenvollzugs und der Läuterungsgabe ist die Grundlage der Glaubenspraxis; dann folgt der Glaube an Allah, den Jüngsten Tag, die Engel als die Überbringer der Offenbarung, an den Koran und daran, daß alles, Gutes wie Böses, der Bestimmungsmacht des Einen Wahren unterliegt. Das „gute Tun“ ist das dritte, die Glaubenspraxis vervollkommnende Element. Mohammed erklärt es Gabriel so: „Daß du Allah fürchtest, als könntest du ihn sehen; denn wenn du ihn auch nicht sehen kannst, so sieht er in jedem Fall doch dich.“60 Aš-Šaʿrānī nennt nur diesen dritten Abschnitt: Was in ihm gefordert wird, erreichen die meisten Menschen nicht. Er deutete also den ganzen Text als die Beschreibung des Pfades zur spirituellen Erkenntnis des Einen Wahren. Der getreue und unermüdliche Vollzug der Riten steht am Anfang, es schließt sich die Gelehrsamkeit an, das intellektuelle Durchdringen der Theologie, der Metaphysik und der Schariawissenschaft. Die Riten und das Wissen bilden die uner-

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läßliche Vorbedingung für das „gute Tun“, das Handeln in dem Bewußtsein, daß jegliche Regung von Allah wahrgenommen wird, das Handeln, dessen einziges Ziel das Einschmelzen des Ich in die von Allah ausströmende Bestimmung ist.Wenn dies – für Augenblicke nur – gelingt, dann fließt aus der Erkenntnis, daß einzig Allah über Bestimmungsmacht verfügt, die Einsicht in die Tatsache der absoluten Andersheit seines Seins. Keine Wesenseinheit mit Allah Dies sei vorausgeschickt, damit aš-Šaʿrānī nun die heikle Frage nach der Vereintheit des Seins in Angriff nehmen kann, bei der er sich des schroffen Widerspruchs vieler Gelehrter sicher sein muß. Was meint „Vereintheit des Seins“, die die „Ketzer“61 dahingehend auslegen, daß die Gestalt des Menschen die Essenz des Einen Wahren sei? Die „Leute“, stellt aš-Šaʿrānī richtig, denken, wenn sie jenen Begriff verwenden, ganz und gar nicht an eine Selbstvergottung des Menschen. Sie haben vielmehr das Entwerden des vom Knecht Gewollten in dem vom Herrn Gewollten im Auge. Und der Knecht kann doch nur dasselbe wie der Herr wollen, wenn er will, was dieser will. Anders die „Ketzer“, die lehren, das Wesen des Menschen sei das Wesen Allahs – ein abscheulicher Irrglaube, ruft aš-Šaʿrānī aus, schlimmer als der Götzendienst! Denn beten selbst die Heiden nicht allein deswegen zu ihren Idolen, um sich dem wahren Gott zu nähern (Sure 39, 3)? Jene aber behaupten, mit ihm wesensgleich zu sein! „Wenn der Herr der Gottesgesandten selbst auf den höchsten Stufen seiner Annäherung in der Nacht der Himmelfahrt sich nicht mit Allah vereinte, sondern vom Hof des Einen Wahren um die Spannweite von zwei Bögen getrennt blieb, dergestalt daß der Bereich seiner Geschaffenheit sich nicht mit dem Bereich des Einen Wahren verband“, wie kann dann jemand, der an den Hof des Satans verbannt ist, für sich eine derartige Vereinigung beanspruchen? „Die vollkommenen Gottesfreunde als die Inhaber des Erbes des Gottesgesandten gelangen sogar nur zu dem ‚Standplatz‘ des Wissens von der Nähe (Allahs im Abstand einer) Spannweite von zwei Bögen (Sure 53, 9), denn der Gottesgesandte nahm den Einen doch ganz anders als sie wahr, sah er dies alles doch mit seinen beiden Augen, während die Gottesfreunde es nur mit den Augen des Herzens schauen!“ – Allen Diesseitigen bleibt die Grenze des Kosmos unübersteigbar. Aš-Šaʿrānī flicht in den Text eine Skizze ein, mit der er den Dämonen veranschaulicht, was er unter dem koranischen Wort „die Spannweite von zwei Bögen“ versteht. Er denkt sich nicht eine gerade Strecke dieser Länge, sondern setzt zwei gespannte Bögen an ihren äußeren Enden, dort, wo die Sehne befestigt ist, aneinander. Es entsteht eine von den Bögen umgrenzte ovale Fläche. „Die Erkennenden schauen das Geheimnis im inneren dieses Ovals – den Einen Wahren. Andere schauen dieses Geheimnis nicht, sondern sagen, es sei reine Geschaffenheit. Zwi-

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schen beiden Richtungen“ – den Erkennenden und den „Ketzern“ – „dauert der Streit fort. Die Wahrheit aber liegt bei den Erkennenden, denn anderenfalls wäre die Welt für sich selber bestehend, und das ist unmöglich – und Allah weiß alles am besten.“ Reine Geschaffenheit, die nicht zusammen mit ihrem Seinsgrund, dem Schöpfer, geschaut wird, widerspricht der koranischen Theologie. Die Dämonen fragten weiter: „Wenn es kein Innewohnen des Göttlichen im Geschaffenen und keine Vereintheit gibt, welches sind dann die Kräfte, die den Knecht tragen? Sind sie mit Allah wesensgleich oder etwas von ihm Verschiedenes? Wenn wir behaupten, sie seien etwas von Allah Verschiedenes“ – also Geschaffenes – „dann besteht der Knecht in sich selber, was unmöglich ist, und wenn wir sagen, wesensgleich, dann vertreten wir genau die Lehre vom Innewohnen. Was also ist der Sinn des Ḥadīṯes: ‚Ich wurde sein Ohr, mit dem er hörte, sein Auge, mit dem er sah, seine Hand, mit der er zupackte, sein Fuß, mit dem er ging!‘ Erklärt uns das, denn wir sind aufs äußerste verwirrt!“ Alle Ungewißheit, die sich hinter dieser Frage verbirgt, läßt sich nicht mit dem Verstand beheben; denn er muß zuletzt in quälender Unentschiedenheit verharren. Nur durch das Schauen wird man den an die Wurzeln des Daseins gehenden Zweifel ausräumen können, nur indem man den Spiegel des Herzens mit den Taten der Selbsteinfügung in die göttliche Bestimmung glättet. Aš-Šaʿrānī erreicht hier die äußerste Grenze dessen, wonach ein Muslim fragen darf, wonach er aber auch fragen muß angesichts der islamischen Heilsbotschaft. Alles ist in jedem Augenblick seines Daseins unmittelbar zu Allah – eine sehr einfache Aussage, wie es scheint. Doch eine Aussage, die, wenn man sie zu Ende denkt, in eine unbeantwortbare Frage mündet. Denn obwohl alle Kreatur ohne Unterbrechung unmittelbar zu Allah ist, ist sie doch nicht mit ihm wesensgleich, denn er allein ist der Schöpfer und Erhalter. Was aber ist sie dann? Kann die Aussage, sie sei unmittelbar zu Allah, überhaupt gelten, wenn die Kreatur ontologisch radikal von ihm verschieden ist? Ist da nicht der Schluß naheliegend, daß sie insofern, als sie existiert, in Wirklichkeit ganz auf sich selber gestellt ist? Das ontologische Problem, das die islamische Heilsbotschaft aufwirft, entzieht sich letzten Endes jeder rationalen Aufklärung, erkennt aš-Šaʿrānī, und er spricht diese Erkenntnis – vor den Dämonen, wohlgemerkt – offen aus. Eingestürzt ist das nützliche Denkgerüst der asch’aritischen Metaphysik, die den Schöpfer so eindeutig seinem Werk gegenüberstellte, diesem Werk allerdings auch jegliche das Heil verbürgende Beziehung zu dem Einen Wahren absprach. Al-Ġazālī, um nur diesen zu nennen, hatte gegen die hieraus folgende völlige Seinsohnmacht der Schöpfung argumentiert und ihr einen in Allahs Gewohnheit gründenden Kosmoscharakter zugesprochen. Wenn aber alles Diesseitige, da es das konditionierte Sein ist, das Sein und infolgedessen das Wesentliche mit Allah gemeinsam hat, worin besteht dann die Identität der je einzelnen Geschöpfe? Schon Ibn ʿArabī drängte sich diese Frage in all ihren ängstigenden Facetten auf: „Zaid sagt mit Bezug auf dich ‚Er‘, ʿAmr sagt zu dir ‚Du‘, du sagst von dir

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‚Ich‘. Also ist ‚Ich‘ das Wesen von ‚Du‘ und ‚Er‘. Und doch ist ‚Ich‘ nicht das Individuum ‚Du‘ und auch nicht das Individuum ‚Er‘.62 Es sind allein die Relationen unterschieden. Hier öffnen sich unauslotbar tiefe schwellende Ozeane von uferloser Weite… Wenn ihr erkennen könntet, was ich in diesen wenigen Gedankensplittern zum Ausdruck brachte, auf ewig gerietet ihr in Ekstase, in eine Furcht, vor der niemand einen sicheren Ort fände! Das Zerbröckeln des Berges ist dasselbe wie sein Fortbestand! Daß Mose die Sinne schwanden und er niederstürzte, ist dasselbe wie daß er zu sich kam!63 Schau in Allahs Gesicht bei allem Schöpfungsgeschehen, und du wirst darin von niemandem wissen!“64 Furcht und Gehorsam des Knechtes Nur wenn man den nicht der Metaphysik zuzurechnenden Begriff des Gehorsams gegen Allah einführt, kann man die Heilsbotschaft zusammen mit der ontologischen Prämisse der radikalen Unterschiedenheit des geschaffen werdenden und des ungeschaffenen Seins denken. Das ist es, was aš-Šaʿrānī den Dämonen am Beginn der Abhandlung verdeutlichte – deshalb sein Hinweis auf das „gute Tun“, das unermüdliche Ringen um die Unterwerfung des Lebensvollzugs unter die Gottesfurcht – darum der tiefe Ernst, mit dem sich der Gottesfreund dem Diesseits stellt. Dieser Lebensvollzug gelingt, sobald man sich selber als den Knecht, Allah als den Herrn wahrnimmt: Die zwischen dem Knecht und dem Herrn bestehende Bindung bedarf keiner ontologischen Auslegung mehr. Die Menschen, alle Kreatur, schwinden aus dem inneren Blick, nur für den Einen Wahren ist er noch offen – und sofern die Erscheinungen des Diesseits überhaupt noch durch die Sinne aufgenommen und dem Herzen zugeleitet werden, sind sie transparent geworden, scheinhaft diesseitig, tatsächlich jedoch einzig und allein auf den Einen Wahren verweisend. Keineswegs ist es so, daß man unter dem Eindruck des „guten Tuns“ der Vorstellung verfällt, es gebe nichts als Allah. Nein, eine Vergottung der Welt liegt einem fern. Vielmehr geht man durch das Leben wie jemand, der von einem schweren Unglück heimgesucht wurde und deshalb alles, was ihn umgibt, nur noch schemenhaft bemerkt, während alles Empfinden auf die ihn überwältigende Tatsache des Unglücks gerichtet ist.65 Die Erziehung der Adepten sah darum vor, daß man die Augen nicht hebe und ungehemmt auf die Welt richte, vielmehr sollten die Blicke sich nur auf den winzigen Ausschnitt des Bodens heften, den man beobachten mußte, um sich fortzubewegen:66 Der Gehorsam entspringt einer unbezähmbaren Furcht, die Gewalt über den Menschen gewinnt, sobald er begriffen hat, daß er nur für einen winzigen Augenblick und nur dank einem unausforschlichen Bestimmen Allahs dem Nichtsein entrissen wurde. Was aber das Sein sei, entzog sich jeglicher Deutung. Überwältigend waren die Ängste, wieder in das Nichtsein zurückgestoßen zu werden. Die Gottesfreunde vermochten zu sagen, daß die Schöpfung das von Allah

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ins Werk gesetzte Handeln zum Zwecke seiner Selbsterkenntnis sei. Dem Handeln des Menschen in dieser Schöpfung und mit rationaler Nutzung ihrer Gegebenheiten, etwa zur zweckgerichteten Abwehr von Übeln, fehlte damit jedoch alle Rechtfertigung, und damit auch dem Ich, das der Handelnde als handelnd erfährt: Einer entsetzlichen Täuschung fällt er anheim! Denn wenn man sich ein solches Ich vorstellt, dann ist es notwendigerweise außer- oder gar widergöttlich! Im 11. Jahrhundert waren Gelehrte wie al-Ġazālī an der Aporie zwischen der Seinsohnmacht des Geschöpfes und der göttlichen Forderung nach Gesetzeserfüllung irre geworden und hatten sich in das Vertrauen auf Allahs Gewohnheit geflüchtet und die durch sie konstituierte Scheinregelhaftigkeit der Welt als den Ausweg aus der Aporie empfohlen. Die Welt, gemäß den Lehren des Korans als das ununterbrochen erfolgende Schöpfungshandeln Allahs interpretiert, hatte aber in ihrer Unbegreiflichkeit verharrt. Gewiß war einzig der Knechtsstatus jeglicher Kreatur. Den Dämonen vermittelt aš-Šaʿrānī das Verständnis der islamischen Heilsbotschaft in einigen Versen; deren Fazit lautet: „Gäbe es nicht den Herrn, wären wir nicht die Knechte; gäbe es nicht den Knecht, wärest du nicht du! Bejahe mich, damit wir dich als Allah bejahen. Bleibe nur im Ich, das Du verschwindet!“ Diese Worte legt er so aus: „‚Damit wir dich bejahen‘ – nämlich von uns aus, weil du uns ins Dasein bringst; denn sonst würdest du für dich allein bejaht sein, während wir nichts sind. ‚Das Du verschwindet‘ – den Menschen wurde das Schauen auf dich verwehrt, niemand könnte dich schauen. Allah freilich ist über das Schwinden, welches das Nichtsein ist, erhaben. Versteh dies!“ Erst aus der nicht ontologisch, sondern schariatisch zu beschreibenden Opposition von Herr und Knecht gewinnt aš-Šaʿrānī dann doch wieder eine Aussage über den Seinsstatus des Schöpfers und der Kreatur, eine Aussage, die freilich streng genommen keine metaphysische Definition bietet. Schöpfer und Geschöpf verweisen komplementär auf einander, und nur indem man sich dies vor Augen führt, vermag man durch die Kreatur hindurch den Schöpfer zu affirmieren. Die unerläßliche Vorbedingung ist aber, wie schon erwähnt, die Verinnerlichung des Herr-Knecht-Verhältnisses im beharrlichen Ringen um das „gute Tun“. Nur wenn diese Vorbedingung erfüllt ist, dann wird einen die Verwirrung des Verstandes nicht mehr anfechten. Man wird nicht vermeinen, die Welt bestehe in sich selber, und genauso wenig wird man sich selber für eine Manifestation des göttlichen Seins halten. Unter der Voraussetzung des Herr-KnechtVerhältnisses löst sich auch die Schwierigkeit des Ḥadīṯes auf, das dem Menschen eine Annäherung an Allah verheißt, die so weit geht, daß er „das Ohr wird, mit dem Allah hört…“ Der Weg, der so weit führt, geht über die supererogativen Gehorsamsleistungen; diesen Passus des Ḥadīṯes hat aš-Šaʿrānī nicht zitiert, er nimmt stillschweigend an, daß die Leser ihn im Kopf haben. Der Sinn des Ḥadīṯes, schreibt er, ist folgender: „Ich tue für ihn, was er will, mit all seinen Kräften.“ Die Wendung „für ihn“ kann so verstanden werden, daß der Mensch an der Stelle Allahs alles

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ausführt, was dieser dem Diesseits bestimmt hat. Aš-Šaʿrānī legt die Verheißung mithin als eine Bekräftigung der islamischen Lehre vom Erwerb der Taten durch den Menschen aus – im geschaffenen Seinsbereich wird der Ewige, Ungeschaffene nicht unmittelbar tätig, sondern mittels des Geschaffenen, des Menschen:67 „So legte Allah die Handlungsspuren der diesen Gliedern inhärierenden Handlungsmöglichkeiten als seine eigenen aus, denn er wirkt sie, er bringt sie im Knecht ins Dasein, und so hat es den Anschein, als wären diese Spuren er selber. Doch ist dies nicht der Fall. Denn der Eine Wahre hat zum einen die Möglichkeit, ohne Werkzeug zu wirken, zum anderen mit einem Werkzeug. Zum einen sagt er: ‚Bekämpft sie! Dann wird Allah sie durch eure Hände strafen!‘ (Sure 9, 14). Zum anderen heißt es: ‚Nicht du schossest, als du schossest, sondern Allah‘ (Sure 8, 17). Versteht dies!“ Die Unbegreiflichkeit des Seins Noch ist den Dämonen nicht alles so deutlich geworden, wie sie es wünschen. „Wenn der Knecht sein wahres Wesen nicht kennt und er deswegen in Verwirrung gerät und nicht klar entscheidet, ob er mit Allah wesensgleich oder von ihm wesensverschieden ist, darf man ihm dann gestatten zu sagen: ‚Ich bin der Eine Wahre, insofern ich existiere‘?“ beharren sie. Die Kreatur ist nicht vom selben Wesen wie der Schöpfer, aber da sie existiert, ist sie mit ihm insofern gleich, als er existiert. Aus der Gegenüberstellung von absolutem und konditioniertem Sein, die einander bedingen und laut Ibn ʿArabī koinzident sind, ließe sich dieser Schluß doch ableiten. Die Komplementarität von absolutem und konditioniertem Sein ist aber wiederum unter dem Herr-Knecht-Verhältnis zu betrachten. Dies eben ist das Prinzip, das ašŠaʿrānīs Auseinandersetzung mit Ibn ʿArabīs Theologie leitete. Und so muß ašŠaʿrānī den Dämonen auf ihre Frage antworten: „Niemand darf diesen Satz sagen, und wäre er Allah noch so nahegekommen! Der Eine Wahre allein hat das Recht zu der Behauptung: ‚Es gibt nichts, das von mir verschieden wäre! Ihr aber seid Nichtsein in eurem Zustand des Existierens; denn ich bin zu allem mächtig, ich rede zum Nichtseienden wie zum Existierenden, ich beschenke es und ich strafe es im Zustand seines Nichtseins.‘“68 Das Existieren, das Allah dem Nichtseienden verleiht, ist kein eigentliches Sein! Allah entäußert sich nicht in das Nichts hinein – und doch soll der Muslim sich dessen gewiß sein, daß er in jedem Augenblick seines Daseins „von Allah am Schopfe gehalten“ (Sure 11, 56) wird. Mehrfach berührt aš-Šaʿrānī in den Antworten diese Aporie, deren Zumutung nur im Schauen des Einen Wahren gemildert werden kann – oder eben im Ritenvollzug. Denn hierbei darf man sich dessen sicher sein, daß man nicht „Ich“ sagt. In der siebenundsiebzigsten Frage hatten die Dämonen wissen wollen, welchen Sinn die Absichtserklärung habe, wenn doch ohnehin alles Tun des Menschen von Allah geschaffen wird. Wenn etwa das rituelle Gebet ohne die Formulierung der

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Absicht, es zu vollziehen, nicht auf das Jenseitsverdienst angerechnet werden kann, dann müssen die entsprechenden Worte doch ein Handeln meinen, das vom Menschen ausgeht. Aš-Šaʿrānī zieht sich mit dem Hinweis auf den Erwerb der Taten aus der Affäre: Die Absichtserklärung, das Aussprechen von Worten, ist ein Handeln und nimmt seinen Ursprung in Allah.Wenn diese Erklärung unterbliebe, dann wäre alles Handeln des Menschen das Ergebnis eines tyrannischen Zwanges, so aber eröffnet sich die Gelegenheit, sich auf das von Allah gewirkte Handeln einzustimmen und vollkommen bewußt zum diesseitigen Medium göttlichen Handelns zu werden. Die Absichtserklärung gewährleiste, daß das, was an uns in Erscheinung tritt, eine nicht näher ergründbare Beziehung zu uns hat. Wie der Leib dank dem Geist lebt, die Erde dank dem Regen Frucht bringt, so das Tun dank der Absicht: „Gäbe es nicht die Scharia, dann wäre der Moschus durch den Wohlgeruch beschämt, den die rechten Taten verströmen.“69 Das göttliche Gesetz, dessen Erfüllung man sich mit der Bekundung der Absicht zum Vorsatz nimmt, garantiert die Zuordnung des am Menschen in Erscheinung Tretenden zu einem Sinn. Anderenfalls müßte der Moschus sich fragen, weshalb ihn eine rechte Tat an „Wohlgeruch“ übertreffen sollte. Wenn jemand Allah im Traum sieht, ist dann diese Konditionierung des absoluten Seins das Werk des Träumenden oder Allahs, der tut, was er will? Es muß vom Knecht herrühren, antwortet aš-Šaʿrānī, denn für das Wesen Allahs ist eine Konditionierung undenkbar, unter welchem Gesichtspunkt auch immer! „Wir halten dieses Sehen Allahs für wahr, weil es zu den Vorgängen gehört, die im Diesseits wie im Jenseits für den Knecht möglich sind. Die Welt der Einbildung verweist auf das Jenseits, dem der Geist beim Schlafen des Leibes nahe ist. Der Geist dringt fast bis zum Hof der Annäherung an Allah und des Fortziehens der Schleier vor. Die Einbildungskraft vermag körperlich darzustellen, was sich in der Dingwelt nicht als Körper zeigt; sie ist sogar so stark, daß sie auch das Nichtseiende vor Augen führt… Darum obliegt euch die absolute Freistellung Allahs von Attributen des Diesseitigen…, denn er ist der eine Ursprung, der vor der Schaffung der Kreatur existierte. Doch erst nach der Schaffung der Kreatur bot sich uns die Herabkunft. In seiner Barmherzigkeit zeigt er euch etwas, dem ihr die Regeln des Umgangs, die (schariatischen) Bewertungen des Handelns, die Prinzipien des Erwägens abgewinnen konntet. Dann entschwand er eurem Wahrnehmen wie der Schaum über der kochenden Speise, und bei euch blieb das Wissen, sonst nichts.“70 Allah ist der Ursprung der Kreatur, doch was diese ihrem Wesen nach ist, bleibt im dunkeln – außer eben, daß sie Allahs Werk ist und Allah sich ihr, nachdem sie geschaffen worden war, offenbarte in einer Eindringlichkeit, von der wir Heutigen nur noch das Wissen zur Verfügung haben; das damalige Erleben ist nicht wiederholbar, auch nicht im Traum. – Weiter fragten die Dämonen nach der reuigen Umkehr. Weshalb sei sie dem Muslim aufgetragen, wo doch alles Handeln einzig von Allah gewirkt ist? „Es sei

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euch nicht verborgen, ihr Dschinnen, daß die reuige Umkehr die Rückkunft an den Hof Allahs und das Innewerden der Tatsache bedeutet, daß die Dinge allesamt von ihm ausgehen. Nur im Zustande der Verhülltheit widersetzt sich ihm ein Mensch.“ Es ist nämlich ausgeschlossen, daß ein Mensch in Übereinstimmung mit seinem Wesen gegen das angeht, was er auf dem Wege des Schauens in sich aufgenommen hatte. Nur der äußeren, dem Diesseitigen verhafteten Erscheinung nach mag er bisweilen wider Allahs Bestimmung löcken. Wer behauptet, sich seinen Visionen zu widersetzen, befindet sich in einem Irrtum! „Denn wenn dies richtig wäre, dann würde er doch dessen innewerden, daß Allah jene Handlung mißbilligt. Er wüßte dann, daß er im Zustand der Widersetzlichkeit nicht wahrzunehmen vermag, daß alle Handlungen Allahs sind… In einem solchen Zustand ist die reuige Umkehr desjenigen, der den ‚Standplatz‘ des Innewerdens errungen hat, sehr wohl angebracht. Denn sie müssen deswegen dem Hof des Innewerdens den Rücken kehren, und wer dies tat, für den ist es richtig, dorthin zurückzukommen.“ Aus diesem Grunde auch postuliert man die Sündlosigkeit der Propheten, denn ihnen unterläuft nie etwas, das sie vom Hof des Innewerdens verbannen könnte. Alle anderen Menschen aber lehnen sich bisweilen gegen Allah auf, und daher müssen sie umkehren und Buße leisten, um wieder dorthin zu gelangen, wo sie schauen, wie der Verlauf ihres diesseitigen Daseins mit der Fügung des Einen Wahren im Einklang steht.71 – Warum erlaubt die Scharia dann aber das Alleinsein, wo Allah doch mit uns ist an jedem Ort, ohne selber ortsgebunden zu sein, wie dies durch das Licht des Glaubens erkannt wird? Aš-Šaʿrānī klärt die Dämonen darüber auf, daß die ganz Großen unter den Gottesfreunden sich keineswegs von ihren Mitmenschen zurückziehen dürfen. Nur diejenigen, denen das unverhüllte Schauen noch nicht geschenkt wurde, haben das Recht, sich selber gegen die Umwelt zu verhüllen, denn sie werden durch die Mitgeschöpfe von der Erkenntnis abgelenkt, daß Allah mit allem ist, was er schafft. „Wenn sie das Geheimnis geschaut hätten, das aller Kreatur innewohnt, dann wären sie nicht vor der Kreatur geflohen. Denn auch in ihrem Alleinsein ist der Kosmos mit ihnen: die Wände, die Lagerstätte, Speise, Getränke und anderes.“72 Man muß Allah mit der Schöpfung zusammen erschauen; das ist es, was ašŠaʿrānī den Dämonen auf unterschiedliche Weise nahezubringen sucht. Was die Schöpfung, wenn man sie für sich betrachtet, eigentlich ist, vermag er nicht zu sagen, und alles, was er den Fragern antwortet, läuft darauf hinaus, daß diese eine Frage nicht gestellt werden darf. Denn wenn man als Geschöpf sich daranmacht, sie zu lösen, dann gerät man unweigerlich in die Nähe des Nichts, des absoluten Nichtseins, das nicht einmal als eine Vorstellung vom Nichtseienden definiert werden kann, denn eine solche Vorstellung wäre schon „etwas“. Wieder wird sichtbar, weshalb das „gute Tun“, der rechte Lebensvollzug des Knechts vor seinem Herrn, der einzige Weg zur Rettung der koranischen Heilsbotschaft ist: Nur indem

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der Knecht sich bedingungslos dem Wollen des Herrn unterwirft, ist er „etwas“ – und daher ist das Beschreiten des Weges zur Gottesfreundschaft die einzige Möglichkeit, darüber Gewißheit zu erlangen, daß diese Botschaft wahr ist. Dies ist der Glaube, der aš-Šaʿrānīs Leben trägt, und diesen Glauben bezeugt er auf jeder Seite seiner Lebensbilanz und allenthalben in seinen übrigen Werken, und er hat ihn mit seinem wirklichen Leben, soweit wir dieses durch die Hülle der vielen Worte aus seiner und anderer Feder zu erkennen vermögen, ebenfalls nach Kräften bezeugt. Mag man beim Lesen all dieser Texte bisweilen sehr unterschiedlich urteilen, wohl auch geneigt sein, ihn zu verurteilen, weil man ihn ab und an für einen durchtriebenen Schelm hält, der mit frommer Rede ein eitles Streben nach Reichtum und Ansehen maskiert, so bleibt am Ende doch die Einsicht, daß er nichts anderes tat, als die Weltdeutung, die er in seiner Zeit und seiner Kultur vorfand, auf den eigenen Lebensweg zu beziehen und beides zu einem Ganzen zu vereinen. Dieses Ganze aber ist, wie der Traum vom Seiltanz zeigte, nicht in sich harmonisch und spannungsfrei. Es ist, wie wir immer wieder bemerken mußten, von einer existentiellen Angst durchzogen, die ein noch so fester Glaube an die koranische Heilsbotschaft, ein noch so zähes Ringen um die Erfüllung ihrer lebenspraktischen und geistigen Forderungen nicht zu lindern vermögen. Unbegreifbar erhaben, wie Allahs Wesen ist, macht er sich niemals mit seinem Schöpfungswerk gemein. Er opfert für es nichts von sich selber. So obliegt es allein dem Geschöpf, sein Ich abzustreifen und damit sich selber zum Opfer des göttlichen Verfügens über das Diesseits darzubringen. Das ist die einzige Art, in der es Beruhigung über das eigene Existieren und über das Existieren Allahs zu erlangen vermag. Das Schaudern vor dem Nichtsein Immer nämlich wird die bewußte Kreatur vom Entsetzen vor dem Nichts, dem Nichtsein, gepeinigt. „Denn“, ließ sich aš-Šaʿrānī durch den Palmblattflechter belehren, „der Genuß der Existenz nach dem (davorliegenden) Nichtsein ist ohnegleichen, und die Vorstellung der (erneuten) individuellen Nichtexistenz bereitet den Seelen einen heftigen Schmerz, dessen Maß allein denen bekannt ist, die (viel) von Allah wissen. Jede Seele entsetzt sich daher vor dem Nichtsein aus Furcht, sie könnte ihm oder etwas, das ihm nahekommt, überantwortet werden…“ Die Furcht vor dem Nichtsein ist dem Menschen ursprünglich; sie überkommt ihn nicht wegen irgendwelcher Erfahrungen, meinte Sidi ʿAlī.73 Ein absolutes Nichtsein oder Nichtseiendes sei allerdings eine bloße Gedankenkonstruktion; es wäre das, was unmöglich existieren kann. Indessen ist das Nichtsein einer der beiden Zustände des Möglichen; denn es ist jederzeit denkbar, daß sich die Absicht Allahs, es ins Sein zu bringen, darauf richtet. Er ist der Herr, der notwendig Seiende, ob wir als Mögliche nun im Zustand des Seins oder des Nichtseins sind.74 Diesen Trost, immerhin, hielt

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der Palmblattflechter für seinen Zögling bereit: Unsere Existenz ist unter keinen Umständen von vornherein ausgeschlossen. Das aber ist alles, was der Mensch wissen und erkennen kann. Er erkennt zugleich die beängstigend prekäre Beschaffenheit des Daseins, die er immer wieder in mühevoller Gedankenarbeit und in äußerster Anstrengung seiner spirituellen Kräfte zu überspielen trachtet. Der in Damaskus wirkende Sufimeister Ibn al-Baiṭār (gest. 1558) setzte sich jeden Morgen nach dem Pflichtgebet mitten unter seine Adepten und sprach das Wort „Mauǧūd!“, d.i. existent, und zog dabei dessen zweite Silbe in die Länge, dann antworteten die Anwesenden auf gleiche Weise: „Mauǧūd!“ Eine Weile herrschte tiefes Schweigen, ehe der Meister die Frage stellte: „Und was ist der Beweis für Allahs Existenz?“ „Diese Welt ist seine Existenz!“ erwiderten die Zöglinge, worauf der Meister mit der Erläuterung dieses Mysteriums begann. Der Andrang zu seinen Lehrveranstaltungen war so groß, daß man sich entschloß, mit dem Erheben eines Obolus die nicht ernsthaft Interessierten vom Kommen abzuschrecken.75 Die Nichtigkeit des geschaffen werdenden Seins Schon in jungen Jahren, so erzählt aš-Šaʿrānī an einer Stelle in der Lebensbilanz, sei ihm die Einsicht aufgegangen, daß Allah nicht richtungsgebunden ist, sondern ortlos allgegenwärtig. Sein Wesen ist ungleich demjenigen alles Geschaffenen, und in allen Kategorien, mit denen wir das Diesseitige zu erfassen suchen, treffen wir ihn nicht. „Welch köstliche Erkenntnis!“ ruft aš-Šaʿrānī aus, „es war, als wäre ich aus einem Gefängnis ins weite Freie entkommen. Ich berichtete davon Sidi ʿAlī alMarṣafī, der mir sagte: ‚Unschätzbar große Aufmerksamkeit hat dir Allah zuteil werden lassen. Wenn er will, wird er dir weitere Bekräftigung schenken!‘ Als ich schlief, träumte ich in jener Nacht von jemandem, der mir befahl: ‚Verlaß mit deinem Verstand den vom Thron Allahs umgrenzten Raum und schau! Du wirst finden, daß das körperliche Sein mit den höheren und den unteren Ausformungen wie eine Moscheeampel in der Luft schwebt, ohne an Ketten gehängt zu sein. Und stiege diese Ampel ewige Zeit empor, so fände sie keinen anderen Körper, sich daran festzuhängen, und sänke sie auf ewige Zeit hinab, so fände sie keinen Boden, um darauf zur Ruhe zu kommen.‘ Ich verließ den Raum des Thrones mit dem Verstand, wie jene Stimme mich geheißen hatte. Da erkannte ich, wie unendlich weit die Majestät Allahs reicht, und jede Phantasievorstellung einer Richtung schwankte von dem Tage an. Ich selber nahm mich bei jener Vision an zwei Orten zugleich wahr, nämlich ganz gewiß im Innern des vom Thron umgrenzten Raumes, und ebenso gewiß außerhalb. Und indem ich so verweilte, kam ein weißer Vogel mit einem langen Hals heran, öffnete den Schnabel und verschlang das ganze körperliche Sein und flog davon, so daß ich mich in dessen Kropf sah und doch außerhalb davon war.76 Dann kam eine winzige Mücke, öffnete ihr Maul und verschlang den Vogel mit

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allem, was in dessen Innern war, und entschwand meinen Blicken. Das alles erzählte ich Sidi ʿAlī al-Marṣafī, worauf er einwarf: ‚Jetzt hast du die Schwierigkeit ganz überwunden… Je umfassender deine Gotteserkenntnis wird, desto geringer wird das Sein in deinen Augen. Du hast zuerst den Thron als gewaltig angesehen, dann weitete sich deine Erkenntnis auf das Sein aus, weswegen dir der Thron, den du zuerst geschaut hattest, klein erschien. Und weiter dehnte sich deine Erkenntnis aus, als du den Vogel wahrnahmst, der kleiner als der Thron war, und noch weiter dehnte sie sich aus, als dir die Mücke vor Augen kam. Denn das umgrenzte Sein ist im Verhältnis zum Unumgrenzten wie eines der Stäubchen in einer Luke, die sich zur Sonne hin öffnet; du siehst, wie sie auf und niedersteigen, und wenn du mit der Hand danach greifst, dann hast du nichts darin.‘“77 Ein winziges Stäubchen in einem unendlichen, weil nicht dem Diesseits zugehörenden Raum, das ist unsere Existenz. Allah läßt dieses Stäubchen leuchten. Mit unseren Begriffen sagen wir dies so und meinen die Schaffung und Erhaltung jenes unverankerten Bezirks unseres diesseitigen Daseins, die in dem Augenblick verworfen wird, in dem wir uns unterstehen, „Ich“ zu sagen. Und mit unseren Begriffen müssen wir erkennen, daß außerhalb unserer uns nicht zugehörenden Existenz alles andere ein unendlich weites Nichtseiendes ist. Dem sind wir ausgesetzt, und dürften wir uns nicht in die Knechtschaft flüchten, wie vermöchten wir solche Einsicht zu ertragen?

Epilog 1 Aš-Šaʿrānīs Nachruhm Aš-Šaʿrānīs Rivale – Aš-Šaʿrānīs Tod und die Geschicke seiner Klause – Berühmte Verwandte – Zusammenfassende Würdigung der Gedankenwelt aš-Šaʿrānīs – Aš-Šaʿrānīs Ort in der islamischen Geschichte

Aš-Šaʿrānīs Rivale ʿAlī Pascha, der Statthalter, dessen Wohlwollens sich aš-Šaʿrānī erfreuen durfte, verließ Kairo etwa in der Zeit, als die Arbeit an der Lebensbilanz zum Abschluß kam. Nur wenig wissen wir über aš-Šaʿrānīs letztes Lebensjahrzehnt. Bemerkungen in einigen prosopographischen Handbüchern belegen, daß sein Ansehen ungeschmälert fortbestand. Er und sein schärfster Nebenbuhler, Meister Muḥammad, das Oberhaupt der Ḫalwatīja-Gemeinschaft, hatten gleich viel Zulauf, so heißt es. Sie waren die beiden Persönlichkeiten in Kairo, die man aufsuchte, um sich in den Weg einweisen zu lassen.1 In seiner Lebensbilanz würdigt aš-Šaʿrānī diesen Mann keines Wortes, aber wo immer er gegen das Alleinsein wettert, vor allem gegen das Alleinsein der vollendeten Gottesfreunde, die doch, so meinte er, einer Absonderung von der Schöpfung nicht mehr bedürfen, da sie stets durch sie hindurch auf den Einen Wahren schauen, immer ist dort die Gemeinschaft des Rivalen und vor allem dieser selber gemeint. Denn vom Alleinsein leitet sich der Name der Ḫalwatī-Derwische her; auf ihrem Pfad sind immer wieder Zeitabschnitte der Zurückgezogenheit von der Welt zu durchmessen.2 Da jener Meister Muḥammad auch ein geschickter Magier gewesen sein soll, erklärt sich aš-Šaʿrānīs zurückhaltende, ja ablehnende Beurteilung derartiger Praktiken womöglich ebenfalls aus dieser Feindschaft. Meister Muḥammad überlebte ihn um mehr als ein Jahrzehnt. Das, was aš-Šaʿrānī aufgebaut hatte, konnte daher nicht so fortgedeihen, wie er es sich erhofft hatte. In der Lebensbilanz hatte aš-Šaʿrānī voller Zuversicht Allah dafür gedankt, daß er ihm einen so tüchtigen und gelehrigen Sohn wie seinen ʿAbd ar-Raḥmān geschenkt habe – den einzigen übrigens, der nicht schon zu den Lebzeiten des Vaters starb. „Er gehorcht meinen Befehlen wie ein Adept, er verehrt mich, wie es die Fremden tun.“3 Doch nicht nur die Umstände, auf die der Mensch keinen Einfluß hat, brachten aš-Šaʿrānīs Lebenswerk in Gefahr: Ein heftiger Streit zwischen ʿAbd ar-Raḥmān und dessen Vetter überschattete die Geschicke der Klause am ḤākimīKanal nach dem Tod ihres Gründers.

https://doi.org/10.1515/9783110789119-016

Epilog

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Aš-Šaʿrānīs Tod und die Geschicke seiner Klause Am 4. November 1565 nachmittags erlitt aš-Šaʿrānī einen Schlaganfall, und am 5. Dezember gegen Abend verstarb er. Wie es einem Gelehrten und Gottesfreund gebührte, trug man die aufgebahrte Leiche in die al-Azhar-Moschee, dort sprach man die Totengebete. Danach wurde aš-Šaʿrānīs sterbliche Hülle neben der Klause beigesetzt, in einem Grabmal, das ihm ein Gönner errichtet hatte, der Emir Ḥasan aṣ-Ṣanǧaq, der Intendant der großherrlichen Speicher. Dort ruht aš-Šaʿrānī in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stätte seines Wirkens und im Segensbereich eines anderen heiligen Mannes, des Ḫoǧā Ḫair ad-Dīn al-Ḫuḍarī, dessen Mausoleum man zur rechten Hand passierte, wenn man den Weg „Zwischen den beiden Mauern“ nach Süden, auf die Mūski-Brücke zu, wanderte.4 Der genannte Sohn ʿAbd ar-Raḥmān war für die Nachfolge ausersehen; er war doch, wie aš-Šaʿrānī in seiner Lebensbilanz beteuert, aufs beste darauf vorbereitet. In einer anderen Schrift äußert sich der Vater allerdings skeptisch; tief enttäuscht war er davon, daß dieser ʿAbd ar-Raḥmān so gar keine Neigung bekundete, sich dem Studium hinzugeben. Doch eines Nachts habe Allah ihm mitgeteilt, er möge keinen Druck mehr auf den Sohn ausüben, Allah selber werde diesem das nötige Wissen einflößen, und tatsächlich habe ʿAbd ar-Raḥmān nun in einem Jahr gelernt, wozu andere zehn benötigen.5 Ganz so überzeugt waren Vater und Sohn von der Nachfolgeregelung jedoch nicht. ʿAbd ar-Raḥmān soll den Vater kurz vor dessen Tod bange gefragt haben, an wen er sich denn halten könne, falls Schwierigkeiten entstehen sollten. Und Schwierigkeiten gab es dann mehr als genug. ʿAbd al-Laṭīf, ein Vetter ʿAbd ar-Raḥmāns, machte in der Klause einen eigenen Lehr- und Andachtszirkel auf und gewann das Zutrauen und die Unterstützung vieler Insassen. Unter den wenigen, die ʿAbd ar-Raḥmān die Treue hielten, war ʿAbd ar-Raḥmān al-Malīǧī, ein Vorfahr jenes Muḥammad Abū Ṣāliḥ al-Malīǧī, der auf Anraten des Statthalters Ḥasan Pascha im Jahre 1698 aus den hinterlassenen Schriften aš-Šaʿrānīs dessen hagiographische Vita zusammenstellte. ʿAbd al-Laṭīf verstand es, aš-Šaʿrānī in allem, selbst in der Kleidung, genau nachzuahmen und durch Freigebigkeit die Herzen der Derwische zu gewinnen. Aš-Šaʿrānīs Sohn dagegen geriet in den Ruf der Knauserigkeit. Der Zwist verschärfte sich, und schließlich wurden mit der Angelegenheit sogar mehrfach die Statthalter befaßt. Beinahe hätte ʿAbd al-Laṭīf den Sieg davongetragen; doch er starb vor der endgültigen Entscheidung, und nun hatte ʿAbd arRaḥmān doch das Sagen. Die Klause geriet wieder in Ordnung, ihr neuer Meister aber „wandte sich dem Erwerb von Vermögen zu“, vernachlässigte bald den Unterricht und siedelte schließlich mit seiner Familie in das Viertel am Elefantenteich6 über. Nur noch am Freitag suchte er die Klause auf. So geriet sie endlich in Verfall; dort, wo einst zahlreiche Gebetsrufer schon des Nachts die Schlafenden zum Gottesgedenken aufgefordert hatte, stellten sich nur noch ein paar Derwische ein, die selber allzu rasch vom Schlaf übermannt wurden.7

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Berühmte Verwandte ʿAbd ar-Raḥmān verschied im Jahre 1602. Sein Sohn Ibrāhīm hatte danach für etwa drei Jahre den „Gebetsteppich der Klause inne“, ihm folgte dessen Bruder Jaḥjā, ein Mann, der, ehe er Ende 1654 starb, nicht weniger als fünfundfünfzigmal nach Mekka gepilgert sein soll.8 Unter ihm scheinen die Klause und ihre Gemeinschaft zu neuem Ansehen gekommen zu sein. Nach dem Zeugnis al-Malīǧīs erhielten die Derwische wieder großzügige Gaben, die Vorsteher der anderen Sufigemeinschaften Kairos erwiesen Meister Jaḥjā alle Ehre. So lebte die Gründung aš-Šaʿrānīs bis ins 20. Jahrhundert fort.9 Warum aber war der Statthalter Ḥasan Pascha so sehr an einem ausführlichen Bericht über aš-Šaʿrānīs Leben interessiert? Ein anderer Zweig derselben Familie war im 17. Jahrhundert in Konstantinopel zu Ruhm gekommen, und daher ist es nicht verwunderlich, daß man nach den Lebensumständen jenes bislang bedeutendsten Mitgliedes der Sippe fragte und daß man dessen Erben in Kairo hofierte und die Klause nebst ihrer Derwischgemeinschaft einen Aufschwung nahm. Daß al-Malīǧī in der Vita aš-Šaʿrānīs dessen Ergebenheit gegen die Osmanen bis ins Legendenhafte ausschmückt,10 erscheint nun ebenfalls naheliegend. Dies sind in der gebotenen Kürze die Einzelheiten: Abū s-Suʿūd b. ʿAbd ar-Raḥīm (gest. 1677), in Ägypten geboren, gelangte bereits als Kind nach Konstantinopel. Dort durchlief er eine Ausbildung im islamischen Recht, aber er begehrte auch, mit dem Weg vertraut gemacht zu werden, und so gab ihm ein Meister den Hinweis: „Du mußt alle Kleidung ablegen und aus dem Edirne-Tor zu Abū Aijūb al-Anṣārī hinauswandern.“ „Jetzt?“ „Nein, in einigen Tagen…“ Als der Zeitpunkt gekommen war, entledigte er sich aller Kleidung bis auf die Hosen, und sobald er das Stadttor von Konstantinopel durchschritten hatte und über die Friedhöfe ging, schaute er die Lebensumstände aller Menschen, die dort begraben waren – so wurde er in die Gottesfreundschaft eingeführt. Abū s-Suʿūd wurde schließlich Professor an einer der acht großen Medressen von Konstantinopel, errang, wenn auch nur für fünfundvierzig Tage, das Amt des Oberkadis von Damaskus. Bevor er diese Stadt wieder verließ, suchte er das von Selim errichtete Grabmal Ibn ʿArabīs auf, und der größte aller Gottesfreunde sprach zu ihm aus dem Sarkophag und verhieß ihm, daß er an dem und dem Tag in ein anderes Amt berufen werde. So verweilte Abū s-Suʿūd noch einige Zeit in Damaskus, und wie geweissagt, wurde ihm an dem genannten Tag die Berufung zum Richter von Jerusalem überbracht. Und das war erst der Beginn einer glänzenden Laufbahn, die ihn dann über Bursa, Edirne und Konstantinopel in eines der höchsten Ämter des Osmanischen Reiches führte, dasjenige des Heeresrichters von Anatolien.11 Diesen Abū s-Suʿūd, den einzigen aus der näheren Verwandtschaft aš-Šaʿrānīs, der bis in die Spitzen des osmanischen Staatsapparats aufstieg, erwähnt al-Malīǧī mit keinem Wort. Sollte er ausgerechnet von ihm nichts gehört haben? Das ist wenig glaubwürdig. Viel Aufmerksamkeit schenkt al-Malīǧī dem gemeinsamen Vorfahren

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aš-Šaʿrānīs und Abū s-Suʿūds. Der war jener Nūr ad-Dīn ʿAlī al-Anṣārī, der Großvater aš-Šaʿrānīs, dessen Umgang die größten Gelehrten gesucht haben sollen, der für seine Schariatreue gerühmt wurde und seinen ganzen Tageslauf der Gottesverehrung widmete.12 Nūr ad-Dīn ʿAlī, so verrät uns al-Malīǧī, ähnelte in Gestalt und Habitus völlig dem berühmten Gottesfreund Nūr ad-Dīn aš-Šūnī, jenem Meister, von dem aš-Šaʿrānī den Gebetsritus für den Propheten übernahm. Zwischen Nūr ad-Dīn ʿAlī, dem Großvater, und Nūr ad-Dīn aš-Šūnī, dem Meister, habe immer herzliches Einvernehmen geherrscht, „und deshalb nannte ich“, sagt aš-Šaʿrānī bei al-Malīǧī, „beider Namen, in einem Segenswunsch vereint, bei den liturgischen Koranlesungen… in der Klause, in der aš-Šūnī ruht…“ Nach jedem Siebtel des Korantextes rief aš-Šaʿrānī auf beide den Segen Allahs herab, auf „den Geist deines Knechtes und Freundes Nūr ad-Dīn aš-Šūnī…, dann auf den Geist deines Knechtes Nūr ad-Dīn alAnṣārī – o Allah, vergib dessen Nachkommen und Anhängern alle Verfehlungen und Sünden!“ Nur aus Höflichkeit gegen Allah habe aš-Šaʿrānī seinen geistigen Ziehvater an erster Stelle genannt, den leiblichen Großvater an zweiter. „Und dieser Segenswunsch aš-Šaʿrānīs schließt uns und jeden bis zum Tag der Auferstehung mit ein, der mit einem der Nachkommen ʿAlī al-Anṣārīs befreundet ist“, schreibt al-Malīǧī, dessen Vorfahr zu den wenigen gehört hatte, die der Gemeinschaft in der Zeit des Niederganges unter aš-Šaʿrānīs Sohn die Treue gehalten hatten. „Dabei ist es gleichgültig, ob es bekannte oder unbekannte Kinder und Kindeskinder sind! Dieser Segenswunsch zählt zu aš-Šaʿrānīs überlieferten Worten – Allah habe Wohlgefallen an ihm! – und diesen Segenswunsch spricht man bis auf den heutigen Tag am Ende des Siebtels. Möge Allah es aš-Šaʿrānī in unserem Namen und im Namen aller Muslime entgelten!“13 So ist denn Abū s-Suʿūd, der Enkel eines Vetters aš-Šaʿrānīs, in jedem Fall in den überlieferten und lange Zeit rezitierten Segenswunsch des großen Kairoer Gottesfreundes einbezogen. Doch nicht nur die Nachkommen der Sippe und der Adepten bewahrten aš-Šaʿrānī ein frommes Andenken oder suchten in seinem Ritus und in seinen Schriften Erbauung und spirituellen Rat. „Den berühmtesten Imam der Erkennenden seit seiner Zeit bis heute“ nennt ihn Jūsuf b. Ismāʿīl an-Nabhānī (gest. 1931), der letzte große Chronist der muslimischen Gottesfreundschaft und Verteidiger Ibn ʿArabīs.14 In seinem die ganze islamische Geschichte umgreifenden Buch über die Huldwunder leitet er mit diesen Worten den Artikel über aš-Šaʿrānī ein, einen der umfangreichsten des Werkes, und preist den Nutzen, den man aus dessen zahlreichen Traktaten ziehe.15 Dies gibt uns den Anlaß, auf aš-Šaʿrānī, wie wir ihn vor dem Hintergrund seiner Zeit kennengelernt haben, zurückzublicken, dabei die über ihn hinausweisenden Gedanken hervorzuheben und zu erklären, was anNabhānī zu seinem Urteil bewog.

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Zusammenfassende Würdigung der Gedankenwelt aš-Šaʿrānīs Der Weg vom Dorf in die Stadt ist der Weg von der Unwissenheit zum Wissen. Ihn ist aš-Šaʿrānī als Halbwüchsiger gegangen. Die Stadt, Kairo zumal, ist ein Raum verdichteter Gegenwärtigkeit des einst vom Propheten Mohammed auf Allahs Geheiß in die Welt gebrachten Wissens von der Geschöpflichkeit des Menschen und von den aus ihr folgenden Bestimmungen der Scharia. Vielfältig und bunt ist die den Sinnen des Menschen zugängliche Oberfläche des Diesseits, das sich einzig und allein Allahs unablässig tätiger Schöpferkraft verdankt. Spirituelle Wahrnehmung dringt durch diese Oberfläche hindurch und gelangt zur lauteren Anschauung des Wirkens dieser Kraft. Gottesfreunde, die mit solchem Schauen begnadet wurden, eröffnen da, wo sie leben oder gelebt haben, dem ernsthaft Suchenden einen Pfad, der zu dergleichen Erfahrungen führen kann: Unter der gemäß der Scharia zu bewertenden, oft verwirrenden banalen Realität liegt die eigentliche, die nur spirituell erkennbare Wirklichkeit. Diese freilich ist ohne die erstere nicht verfügbar. Darum verachtet der Gottesfreund das Alltägliche nicht, über das allein der Pfad zum wahren Schauen des Kosmos und des Schöpfertums Allahs verläuft. Den Koran, seine Rezitation und seine Auslegung, die arabische Grammatik, die Überlieferungen vom Reden und Handeln Mohammeds, die Vorschriften der Scharia, das alles lernt der junge aš-Šaʿrānī wie viele andere seiner Zeitgenossen. Es handelt sich um das Wissen, mit dem jeder Muslim die verwirrende Oberfläche des Diesseits so weit ordnet, daß er die Anwartschaft auf ein glückhaftes Jenseits erwerben kann. Aš-Šaʿrānī widmet sich diesem Stoff mit großem Eifer, bis ihm eines Tages ein Verzückter, dem die spirituelle Wirklichkeit offensteht, Einhalt gebietet. Mit dem Lernen, dem Aufnehmen von Wissen, ist es nun vorbei; aš-Šaʿrānī betritt den „Pfad der Leute“ und macht sich in qualvollen Jahren bereit für das Erkennen, das Durchstoßen der Oberfläche des Diesseits. Im Jahre 1517 widerfährt ihm etwas Erschreckendes, ja Entsetzliches: Der natürliche Gesichtskreis entschränkt sich, der Kosmos zeigt sich ihm in der ganzen Fülle – Schöpfung, ununterbrochen den Einen Wahren preisend, allein zu diesem Zweck geschaffen. Wer einmal mit solchem Schauen begnadet wurde, dem werden die irdischen Verhältnisse auf immer durchsichtig. So erkennt er im Mächtigen den erbärmlichen Wicht, der dieser einst gewesen ist und bald wieder sein wird. Er erkennt ferner, was dem Wandel der Natur zugrundeliegt; das bedrückend Unübersichtliche und Vielfältige zeigt sich ihm als Manifestation der tiefen Weisheit, mit der der Schöpfer zu Werke geht. Die Mächtigen fürchten dieses Schauen der Gottesfreunde und hoffen zugleich, es zu nutzen. Sie überhäufen sie mit Ehrungen, demütigen sich gar vor ihnen, wenden ihnen reiche Gaben zu und stiften Ländereien, mit deren Erträgen die Gottesfreunde Klausen errichten. Sie leben dort mit ihrem Anhang, lehren den Islam und üben Wohltätigkeit: Sie sind die eigentlichen muslimischen Herrscher, denn nicht nur der Mächtige, sondern gerade auch der gemeine Mann „glaubt“ an

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sie. In den unruhigen Jahren nach der Inbesitznahme Ägyptens durch die Osmanen wird aš-Šaʿrānī zu solch einem von den Mächtigen geehrten Gottesfreund. So eng ist er mit dem neuen Ägypten verbunden, daß ihm dies fast zum Verhängnis geworden wäre, als ein Statthalter Hochverrat beging, um die alten, mamlukischen Verhältnisse wiederherzustellen. Wunder bezeugen vor aller Augen die Huld des Schöpfers gegen einen Gottesfreund. Aš-Šaʿrānī räumt ein, daß er 1524 von dem heftigen Verlangen erfaßt wurde, auch ihm möge ein Huldwunder zuteil werden. Eines Nachts vernahm er eine Stimme: Das größte Wunder, die Erweckung eines Toten etwa oder des Herbeirufen von Regen, könne nicht den unbeirrbaren Gehorsam gegenüber dem Einen Wahren aufwiegen. Auf eine Erstaunen erregende Art die Gottesfreundschaft zu beglaubigen, blieb aš-Šaʿrānī versagt. Nur von bescheidenen Huldwundern kann er berichten. Seine Abstammung vom Propheten, die er vorgibt, nunmehr entdeckt zu haben, verhalf ihm zu einer zusätzlichen Bekräftigung seines Anspruchs. Zwar ließ sich seine Ahnenreihe bis auf ʿAlī, den Schwiegersohn Mohammeds, zurückführen, aber nicht über einen der beiden Söhne, die ʿAlī mit Fāṭima, der Tochter des Propheten, gezeugt hatte. Die Zugehörigkeit zu einer anderen Linie der Nachkommen ʿAlīs genügt freilich, um glaubhaft den Anspruch zu erheben, mit dem Schauen in das Verborgene begnadet zu sein. Aš-Šaʿrānī hat somit gut Gründe, durch die Anspannung aller intellektuellen und spirituellen Kräfte auf den Beweis der Wahrhaftigkeit seiner Gottesfreundschaft hinzuarbeiten. Vielfältig waren die Einkünfte der Klause, die aš-Šaʿrānī in jenen Jahren in der Nähe des Šaʿrīja-Tores am Ḥākimī-Kanal – heute die verkehrsreiche Port-Said-Straße – aufbaute. Vor allem rein müssen die Einkünfte sein, und sie müssen, was genau dasselbe bedeutet, ganz und gar dem vom Schöpfer jedem einzelnen Menschen vorherbestimmten Lebensunterhalt entsprechen. Diese Kernforderung islamischer Wirtschaftsethik ist dem gewissenhaften Gottesfreund ein Gegenstand stetiger Sorge und skrupelhaften Nachsinnens über den Zusammenhang von Arbeit und Lohn und über die richtige Verteilung dessen, was die Mächtigen und zahlreiche einfache Muslime spenden. Die Klause ist, so erfahren wir, ein Ort vielfältigen wirtschaftlichen Geschehens, dem der Gottesfreund seinen Stempel aufdrückt – er, der in seinem Inneren ständig wahrnimmt, was der Schöpfer anordnet, und deshalb leichter als gewöhnliche Muslime das Dasein der Fügung des Einen Wahren anheimzugeben vermag. Es sind Allahs Fügungen, die seit der Schaffung der Welt aus dem Nichts das Geschick ebendieser Welt und aller Geschöpfe in ihr bestimmen. Der unauslotbare Ratschluß Allahs, nicht etwa ein der menschlichen Vernunft zugängliches Prinzip, konstituiert das Geschaffene zu einem Kosmos. Das bedeutet, daß niemand, auch nicht ein Prophet oder ein Gottesfreund, über die räumlichen und zeitlichen Grenzen dieses Kosmos hinaus etwas in Erfahrung bringen könnte. Die islamische

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Eschatologie, die Aussagen über das Jenseits macht und an der sich alles irdische Streben des Gläubigen ausrichten soll, dient deswegen allein dazu, in der muslimischen Gemeinschaft eine unablässige und überwältigende Gottesfurcht zu nähren. Ob und wie die vom Koran und von der Prophetenüberlieferung ausgemalten Wonnen und Schrecknisse des Jenseits für den einzelnen wahr werden, muß vollkommen offenbleiben, und diese Ungewißheit erregt eine tiefe, kaum zu beruhigende Existenzangst. Sie läßt sich nur mildern, indem man danach strebt, sich in die Charaktereigenschaften des Propheten einzuleben. Denn diesen hat Allah in seiner Weisheit zum Überbringer der Botschaft und zum Vorbild für alle Menschen erwählt, und die Weisheit des Schöpfers, die vom Gottesfreund unter der verwirrenden Oberfläche des Diesseits geschaut wird, ist immerhin etwas, womit der Mensch rechnen darf. Diese Rechnung wird nicht in jedem Fall aufgehen, aber sie erlaubt es wenigstens, bis auf göttlichen Widerruf Sachverhalte als Ursache oder Wirkung zu identifizieren, Schlüsse zu ziehen, Ziele anzusteuern. Das alles muß freilich in dem Bewußtsein geschehen, daß man vor Allah von Angesicht zu Angesicht steht und sich vorbehaltlos seiner Fügung unterwirft. Dies sind die Voraussetzungen, unter denen sich der Gottesfreund den Herausforderungen des Alltags zu stellen und auf die Islamisierung der Gesellschaft hinzuwirken hat. Es ist nämlich keineswegs wahr, daß man dem durch Allah hervorgebrachten Übel tatenlos zusehen muß. Selbst gegen ein so verderbliches Laster wie die weit verbreitete Rauschgiftsucht muß man, wie aš-Šaʿrānī darlegt, ankämpfen. Die Gottesfreundschaft darf mithin nicht als asketisches Einsiedlertum mißverstanden werden. Im Gegenteil, sie bewahrt und vertieft die islamische Prägung der Gesellschaft. Nur eine der Etappen auf dem Pfad zur Gottesfreundschaft hat der Adept im Alleinsein vor Allah zu durchmessen. Danach aber muß er seine errungenen Einsichten in das Walten der Fügung Allahs auf die Mitmenschen ausstrahlen lassen, wie der Prophet es tat. Allerdings kann der Gottesfreund den vom Propheten über das Jenseits gemachten Aussagen, deren Sinn unentschlüsselt bleibt, keine eigenen Erkenntnisse hinzufügen. Wohl aber vermag er – anders als die an ihre autoritativen Quellen gebundenen Rechtsgelehrten – das Wissen zu übersteigen und kraft seines Erkennens der sich im Kosmos manifestierenden Weisheit Regelungen (arab.: Sg. al-qānūn) zu finden, die eine Hinwendung auch der Nichtmuslime zu ihrem Schöpfer, also eine allgemeine Anerkennung der Heilsbotschaft des Islams, sicherstellen. Der Weg vom Dorf in die Stadt und dann zum spirituellen Bereich des Daseins, d. h. von der Unwissenheit zum Wissen und endlich zum Erkennen, befähigt den Gottesfreund zum Stiften von Regelungen unterhalb der Ebene der durch den Propheten überbrachten und vorgelebten und in irgendeiner Art mit dem Jenseitsschicksal verknüpften Scharia. Zum großen Ärger vieler der Schariagelehrten seiner Zeit hat sich aš-Šaʿrānī zudem auf das Feld der in sich unstimmigen Scharianormen vorgewagt. Dank seiner Einsicht in die göttliche Weisheit fühlte er

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sich berufen, die oft bedrückende Widersprüchlichkeit der Auswirkungen der Schariagelehrsamkeit auf den praktischen Alltag neu zu bewerten und zu entschärfen und dadurch der muslimischen Glaubensgemeinschaft den größten Dienst zu leisten, der nach dieser Weltsicht einem Menschen nächst dem Propheten möglich ist. Wenn der Gottesfreund sich auch immer wieder in die Glaubensgemeinschaft hineinbegibt, um deren muslimische Wesensart zu gewährleisten, so kann man doch nicht davon reden, daß er wirklich ein Glied dieser Gemeinschaft wäre. Eher gilt, daß er sich ihr als Opfer darbringt. Denn schon seinen Rang zu erreichen, kostet ihn schreckliche Qualen. Ist erst die Gottesfreundschaft erkämpft, dann ist ihm, einem Punkt im Kosmos, an dem die Fügungen des Einen Wahren besonders lauter offenkundig werden, aufgetragen, das in diesen Fügungen enthaltene Leid auf sich zu ziehen und dadurch andere davor zu schützen. Dies geschieht im einfachsten Fall, indem er für Menschen, denen die Mächtigen zürnen, Fürbitte einlegt und den Zorn auf sich lenkt. Es geschieht aber auch, daß aš-Šaʿrānī dem ganzen Ägypten durch stellvertretendes Leiden in schlimmen Zeitläuften Erleichterung verschafft. Alles dies, so versichert er, sei ihm im reichen Maße geglückt. Er ist wirklich weit über die Masse seiner Glaubensbrüder hinausgehoben. Und doch – wenn aš-Šaʿrānī über sich selber, ja über das Existieren im Diesseits nachsinnt, dann muß er erkennen, daß ihm wie überhaupt dem Kosmos wirkliches Sein abgeht. Nur Allah kommt wirkliches Sein zu. Deshalb muß man die Schöpfung stets mit dem Schöpfer zusammen erschauen. Denn wenn man sie für sich alleine betrachtet, dann gibt man sich in Wahrheit mit dem Nichtseienden ab. Alles, was existiert, existiert nur unmittelbar von Allah abhängig. Der Gedanke an ein „Ich“ resultierte daher, könnte er Wirklichkeit werden, im Daseinsverlust – und deshalb gilt es, ihn zu unterdrücken. Voller Angst sucht aš-Šaʿrānī daher ein ums andere Mal, jede ichbezogene Regung wegzudeuten, z. B. auf Umwegen unter die Unhöflichkeit gegen Allah einzuordnen. Mit der Pflicht zur Höflichkeit gegen Allah überdeckt er die quälenden Widersprüche zwischen dem, was in dieser Welt und an ihm geschieht, und dem, was laut Scharia getan werden oder geschehen sollte. Denn so verhält es sich mit dem scheinhaften Sein des Geschaffenen: Durch eine Luke fällt ein Lichtstrahl in einen unermeßlich weiten finsteren Raum; einige Stäubchen werden von diesem Strahl erfaßt, tanzen in ihm, verlieren sich wieder in der Finsternis. Der von Allahs Sein in das Nichts hinausgesendete Strahl trifft die Stäubchen, in ihm leuchten sie auf, und indem dies geschieht, sprechen wir von Schöpfung und Diesseits. Dürften sich die Geschöpfe nicht ihres „Nicht-Ich-Seins“ gewiß sein, ihnen bliebe nichts als Verzweiflung.

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Aš-Šaʿrānīs Ort in der islamischen Geschichte Vieles von dem, was uns aš-Šaʿrānī in seinen Schriften mitteilt, läßt sich verstreut auch anderswo in der islamischen Literatur wiederfinden. Er aber hat die einzelnen Gedanken und Vorstellungen zu einem in sich stimmigen Ganzen zusammengefügt. Wenn man die islamische Gottesfreundschaft in ihrer ganzen Bedeutung verstehen, vor allem ihre Weltzugewandtheit16 begreifen will, dann lese man seine Traktate! Eben wegen dieser unter ständiger innerer Anspannung den allseitig gebildeten Geisteskräften abgerungenen Lebensleistung ist aš-Šaʿrānī der „Imam der Erkennenden“, wie an-Nabhānī schrieb. An-Nabhānī stand noch ganz in der Tradition des osmanischen Sultanats, das Ibn ʿArabī und seinen sunnitischen Interpreten viel verdankte – eine bislang in der Forschung kaum bemerkte Tatsache. Männer wie aš-Šaʿrānī hatten unter Nutzung der Anregungen, die von dem großen Andalusier ausgegangen waren, erkannt, daß es nicht allein die Rechtsgelehrten der vier Schulen und der von ihnen gehütete Stoff der Scharia sein konnten, die sämtliche bei der Lenkung eines muslimischen Gemeinwesens auftauchenden Fragen beantworten sollten – ja sie im Grunde bereits für immer beantwortet hatten. Die „von einem Toten auf Autorität eines Toten“ weitergegebenen vermeintlich ewig gültigen Lösungen setzten voraus, daß das Reich ein versteinertes Gebilde sei, nicht jedoch ein Organismus, dessen Regungen man nachspüren muß, um ihn zu beherrschen. Theologie und Kosmologie des Islams schließen aber aus, daß man die Welt als eine in sich bestehende Gegebenheit begreift, die durch eine autonom wirkende Vernunft analysiert werden kann. Wenn eine solche Analyse unmöglich ist, dann soll wenigstens durch das Schauen in das Verborgene ein Fenster aufgestoßen werden, durch das einige Strahlen der vielfältigen, lebendigen Wirklichkeit auf die Scharia fallen. Die sunnitisch ausgelegte Gottesfreundschaft war somit die einzige im Islam wurzelnde Möglichkeit, die Machtausübung um ein winziges Stück von der Schariagelehrsamkeit zu befreien. Darum waren den Sultanen in Konstantinopel die Lehren Ibn ʿArabīs und seiner Interpreten hochwillkommen. Firdevsi-i Rumi (gest. nach 1512) pries den Sultan Bayezid II. (reg. 1481– 1512) in einem Epos als den Pol in der Hierarchie aller Geschöpfe. Indem der Sultan diesen Rang einnimmt, bringt er das Reich zum Erblühen, gebietet er über die Elemente, vernichtet er die Feinde, wie dies im Herbst 1501 mit einer unter französischem Kommando stehenden Flotte vor Lesbos geschehen sei. Wenn der Sultan nicht nach der Art der Gottesfreunde seine Triebseele im Zaum hielte, wäre der Bestand des Diesseits gefährdet.17 Da er aber in seinem Wesen dem Propheten, in seiner Redlichkeit Abū Bakr, in der Gerechtigkeit ʿUmar, in der Bescheidenheit ʿUṯmān und in der Tapferkeit ʿAlī ähnele, sei kein Unheil zu befürchten.18 Daß Bayezids Sohn Selim Ibn ʿArabī verehrte, haben wir gehört, desgleichen von der Zuneigung, die Süleyman ihm entgegenbrachte. Kemalpaşazade (Ibn al-Kamāl), von 1526 bis zu seinem Tode im Jahre 1534 Šaiḫ al-islām

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und somit höchster muslimischer Würdenträger des Osmanischen Reiches, verfaßte ein Fetwa zum schwelenden Streit über Ibn ʿArabī. Darin heißt es: „Wisset, daß der größte Meister, das edelste Vorbild Muḥammad b. ʿAlī al-ʿArabī aṭ-Ṭāʾī al-Ḥātimī alAndalusī ein vollkommener Sucher eigener Entscheidungen und ein vortrefflicher Lehrer (arab.: muǧtahid kāmil wa-muršid fāḍil) ist. Er hat staunenerregende Ruhmestaten,Wunder und zahlreiche Schüler aufzuweisen, allesamt von den Gelehrten und Gebildeten akzeptiert. Wer (ihn) tadelt, der begeht einen Fehler; wer auf dem Fehler beharrt, der ist (vom Islam) abgeirrt, und es obliegt dem Sultan, ihn zu züchtigen und von seinen Ansichten abzubringen. Denn der Sultan hat den Auftrag, das Billigenswerte zu befehlen und das Tadelnswerte zu verbieten (Sure 3, 110).“ Ibn ʿArabīs Werke enthielten „Fragen, deren Wortlaut und Bedeutung“ man verstehe und „die der göttlichen Fügung“ entsprächen, wessen man sich versichern könne, ohne Visionäre zu Rate zu ziehen. Wer nicht erkenne, worauf Ibn ʿArabī hinauswolle, der möge schweigen (vgl. Sure 17, 36).19 Als an-Nabhānī das Werk aš-Šaʿrānīs so lobend erwähnte, versank die Synthese zwischen Sunnitentum und Gottesfreundschaft bereits hinter dem Horizont. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein freilich beging die Sufigemeinschaft der Šaʿrāwīja alljährlich das Maulid-Fest des großen Mannes – so wie es auch andere Gemeinschaften in Erinnerung an ihren Gründer feierten und noch feiern: Riten des Gottesgedenkens; ein Umzug, in dem der„Statthalter“ des Gründers die wichtigste Figur ist; Illuminierung des Stadtviertels, ein Festmahl, Musikanten und Gaukler zur Unterhaltung, alles dies gehört zu einem Maulid. Noch für das Jahr 1934 ist im Quartier um das Šaʿrīja-Tor eine solche Feier für aš-Šaʿrānī bezeugt. Die 1978 vom „Generalmeisteramt der Sufigemeinschaften der Arabischen Republik Ägypten“ herausgegebene Liste mit den Namen der siebenundsechzig ihm unterstehenden Gruppierungen enthält keinen Hinweis mehr auf eine Šaʿrāwīja. Unter staatlicher Aufsicht leben in Ägypten jedoch viele Sufigemeinschaften fort; manche verschwinden, neue entstehen.20 Ihre Beliebtheit in breiten Schichten der Bevölkerung ist nach wie vor beträchtlich, aber sie wird von den Verfechtern eines „modernen“, „rationalistischen“ Islams mit Skepsis beobachtet. „Die Orientalisten wollen immer nur Sufischriften lesen, nicht aber den richtigen Islam studieren!“ erwiderte der Chef des Handschriftenlesesaals der Ägyptischen Nationalbibliothek ungehalten auf meinen Wunsch, einige Abhandlungen aš-Šaʿrānīs einzusehen. Erst als ich versicherte, mein Forschungsgegenstand sei die spätmamlukische Gesellschaft, ließ er sich herbei, den entscheidenden Haken auf den Laufzettel zu setzen. Weit verbreitet, zumal unter Muslimen, die ihre berufliche Stellung einer an westlichen Standrads orientierten Ausbildung verdanken, ist die Überzeugung, die Gottesfreundschaft trage die Hauptschuld an der materiellen wie intellektuellen Zurückgebliebenheit der islamischen Welt.21 Schon die Reformbestrebungen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wollten das „Wissen“ sichern, so wie der Prophet

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und seine Genossen es auf Allahs Geheiß in die Welt getragen hätten, ein „Wissen“, das, da die koranische Botschaft allumfassend sei, auch jene Bereiche in sich berge, denen der „Westen“ seine augenblickliche Vormacht verdanke. In einem von „kulturfeindlichen“ Ablagerungen gesäuberten offenbarten „Wissen“ sollte die Zukunft des Islams liegen.22 Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts blieb diese Überzeugung weitgehend auf die Zirkel muslimischer Schriftgelehrter beschränkt. Die Gesellschaft der islamischen Länder schien, von außen betrachtet, in einem unumkehrbaren Vorgang der „Verwestlichung“ begriffen. Mittelbar spielte diese „Verwestlichung“ den Schriftgelehrten zusätzliche „wissenschaftliche“ Argumente gegen den „Aberglauben“ bzw. die „Irrationalität“ spiritueller Annäherung an Allah in die Hände und bestärkte sie in der Überzeugung, der von ihnen seit dem 8. Jahrhundert um und umgewendete Stoff des ḥadīṯ und des Korans sei im Gegensatz zu dem Geschauten ein sicheres der Ratio anheimgegebenes „Wissen“,23 das man ebenso wenig falsifizieren könne wie den Satz des Pythagoras. Der in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Ansehensverlust des Westens und eine die Gesellschaft in den islamischen Ländern in ganzer Breite erfassende Rückbesinnung auf das „Eigene“ trugen, wie nach Lage der Dinge zu erwarten, den Schriftgelehrten und ihrem „von den Toten auf Autorität der Toten“ überlieferten „Wissen“ die unanfechtbare Vorherrschaft über das muslimische Geistesleben ein. Die Verbreitung dieses aus dem Arabien des 7. und 8. Jahrhunderts stammenden Stoffes auf elektronischen Datenträgern – sowie die dadurch gegebene simple Handhabbarkeit und ständige Verfügbarkeit – machen diese Vorherrschaft mittlerweile drückender denn je zuvor. Die Taliban24 und die vielfältigen Spielarten des islamischen Terrorismus, der sich des Korans und der Überlieferung zur Rechtfertigung seiner Verbrechen bedient, zählen zu den Folgen dieser Entwicklung.

2 Die Angst vor dem Ich, dem Nichtseienden Selbstverwirklichung? – Ein vergleichender Blick nach Europa – Ichbewußtsein und Forschergeist – Die zwei Äonen der islamischen Heilsgeschichte – Kosmosprozeß und „Erwerben“ – Die Unmöglichkeit des Beobachtens – Das Gewicht der Eschatologie – Die Unmöglichkeit eines eigenen Daseins

Selbstverwirklichung? Doch wir kehren noch einmal in aš-Šaʿrānīs Zeit zurück. Müssen wir seinen Gang auf dem Seil nicht eigentlich als einen, wenngleich höchst gefährlichen, Weg zur Selbstverwirklichung in einem schöpferischen Denken deuten, das die Aussagen der Toten auf sich beruhen läßt? Rang aš-Šaʿrānī nicht darum, selber über das Diesseits zu verfügen, wenigstens ein winziges Stückchen weit? Ist nicht das Licht

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des Erkennens, von dem so oft die Rede geht, ein Medium, das dem, der es zu nutzen versteht, Einsichten vermittelt, die jenseits des dank Überlieferung Gewußten liegen? Und kann in einer religiös bestimmten Gesellschaft, die sich jederzeit an gottgegebene Normen gebunden weiß, das Individuum eindrücklicher „Ich“ sagen als durch eine nicht von den üblichen Autoritäten abgesicherte, eigene Auslegung jener Normen? Ein vergleichender Blick nach Europa Werfen wir, bevor wir Antworten auf diese Fragen suchen, einen Blick hinüber über das Meer in das lateinische Europa des 15. und 16. Jahrhunderts! Im Jahre 1454 verfaßte Nicolaus Cusanus (gest. 1464) die Abhandlung De pace seu concordantia fidei: Die Abgesandten aller Völker treten vor Gott und bitten ihn, die religiöse Zwietracht, die unter ihnen herrscht und viel Unheil verursacht, aufzuheben, denn sie bezieht sich doch nur auf die Riten, die Formen des Kultes; der Inhalt der mannigfachen Formen sei doch stets derselbe, nämlich die Verehrung des Einen. Diesen Einen stelle man sich auf unterschiedliche Weise vor, und zwar nach Maßgabe dessen, was ein jeder entsprechend dem eigenen Wesen für selbstverständlich erachte: „Schriebe dir ein Löwe ein Gesicht zu, so wäre es nach seinem Urteil ein Löwengesicht; nach Meinung des Rindes dasjenige eines Rindes; nach der Ansicht des Adlers dasjenige eines Adlers“, hatte Cusanus bereits in De visione Dei angemerkt. Jetzt gewinnt er aus diesem Gedanken die Begründung für das Gebot einer allgemeinen Duldsamkeit unter den Anhängern aller Religionen: „Was verlangt denn der Lebende als zu leben; was verlangt der, der ist, anderes als zu sein? Du also, der du der Spender des Lebens und des Seins bist, bist auch derjenige, der in verschiedenen Riten auf verschiedene Weise gesucht zu werden scheint, der mit verschiedenen Namen genannt wird, und der doch, wie er ist, allen unbekannt und unaussprechlich bleibt. Denn du, der du die unendliche Kraft bist, bist nichts von dem, was du geschaffen hast, noch kann das Geschöpf den Begriff deiner Unendlichkeit fassen. Denn zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen findet kein Verhältnis statt. Du aber, allmächtiger Gott, der du jedem Geiste unsichtbar bist, kannst dich jedem auch sichtbar machen in der Art, auf welche du begriffen werden kannst. Verbirg dich also nicht länger, o Herr, sei gnädig und enthülle dein Antlitz, und alle Völker werden zum Heil gelangen. Denn niemand entzieht sich dir, außer weil er dich nicht kennt.Wenn du diese unsere Bitte erhörst, dann wird das Schwert, dann werden Haß und Neid und alle Übel schwinden und alle werden erkennen, daß es nur eine Religion in der Mannigfaltigkeit der Riten gibt.“ Nicht die Riten, so argumentiert Cusanus, sind das Entscheidende; sie sind zweitrangig und unterliegen Veränderungen. Entscheidend ist vielmehr der Glaube an den Einen. Das habe schon Paulus erkannt und dabei auf Abraham verwiesen.25 Abraham habe, da ihm

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das mosaische Gesetz noch unbekannt war, keinerlei Gehorsamsleistungen gemäß den Bestimmungen der Tora erbringen können. Aber er habe dem vertraut, der den Schuldigen freispricht, und dank diesem Vertrauen habe er bei Gott Gnade gefunden (Röm 4, 5). Für Paulus ist Abraham, der Vater der Beschnittenen und der Unbeschnittenen (Röm 4, 12), der Patriarch, der dem Erlösungswerk Jesu vorarbeitete. In Jesus ist der Stammvater der neuen Menschheit erschienen (Röm 5, 12). Der Segen Gottes der schon auf Abraham ruhte, wird nun endgültig zum Segen für alle Völker, vorausgesetzt, daß sie wie Abraham an Gott glauben. Die Befolgung des mosaischen Gesetzes ist nicht die Vorbedingung zum Erwerb des Heils (Gal 3, 10 – 12), sie ist nur eine neben anderen Ritualordnungen. Die dem paulinischen Gedankengut innewohnende Idee der Relativierung der Gesetzesfrömmigkeit wird durch Cusanus zur Legitimierung der Mannigfaltigkeit der Kultformen der Religionen und damit auch zur Rechtfertigung der Eigentümlichkeit einer jeden von ihnen eingesetzt. Was die Kultformen anbelangt, so sind sie alle untereinander gleichermaßen wahr oder nicht wahr. Es wäre müßig, wenn sich Löwe, Rind und Adler darüber stritten, wer von ihnen sich beim Vollzug seiner Riten die richtige Vorstellung vom Gesicht Gottes bilde. In dieser Frage hat ein jeder recht. Schon hier muß man auf einen grundsätzlichen Unterschied zum Islam aufmerksam machen: Er ist nach seinem bereits in Sure 2 deutlich zum Ausdruck gebrachten Selbstverständnis die auf Abraham zurückgehende und daher einzig wahre Kultform,26 denn Mose und Jesus lebten erst nach Abraham (vgl. Sure 3, 67 f.). Gewiß erzählen auch die Muslime Gleichnisse, die die Unterschiedlichkeit des Gottesbegriffes aus der Unvollkommenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens erklären – erklären, aber nicht billigen! Wenn Blinde einen Elefanten an je unterschiedlichen Körperpartien betasten, dann entsteht in ihrem Geist eine je unterschiedliche Vorstellung von dem Tier.27 Dergleichen rechtfertigt nach muslimischer Ansicht aber keineswegs die Abänderung oder gar den völligen Austausch der Ritualpflichten, die, ganz anders als es für das Christentum gilt, den Kern der Religion ausmachen. Denn die einzige das Heil gewährleistende Beziehung zu Allah ist der islām im eigentlichen Sinne, der mit dem Vollzug der durch Allah selber gestifteten, Abraham übergebenen und später von Juden und Christen vermeintlich deformierten Riten28 unablässig erneuert und auf Dauer gestellt werden muß, wie im Prolog geschildert wurde. „Diejenigen, die das rituelle Gebet vollziehen“, lautet dementsprechend der Begriff, unter dem die Muslime selber die Gesamtheit der zu ihrer Religion gehörenden Glaubensrichtungen zusammenfassen.29 Großzügigkeit, ja Duldsamkeit in Sachen des Ritus kann es daher im Islam gerade nicht geben. Denn die durch den Ritus, den einen durch Allah selber gestifteten Ritus, immer wieder erneuerte Hinwendung des Menschen zu Allah ist die einzige das Heil sichernde, ja überhaupt seine Existenz begreiflich machende Art der Gottesverehrung. Sie muß unentwegt vollzogen werden, wie denn Allah unentwegt als Schöpfer

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handelt, solange die Welt besteht, oder besser: solange Allah geneigt ist, den Weltprozeß in Gang zu halten. Die Hinwendung zu Allah, der Islam im eigentlichen Sinn, ist somit allen Menschen seinsmäßig zugewiesen, jenseits von ihr gibt es kein geschaffenes Sein. Es verbietet sich, von einem Ich, einem Selbst des Geschöpfes zu sprechen, denn das bedeutet, aus der Hingewandtheit, aus dem Islam, auszuscheren. Unter den Seinsbedingungen des Offenkundigen ist dem Menschen eine solche Haltung immerhin möglich; sie wird durch Allah selber gewirkt, da er sich im Zuge seines Fügens und Bestimmens auch als einen Gesetzgeber erfahren will. Doch erwägt man alles genau, dann ist ein solches Ausscheren, das nach Kräften vermieden werden muß, gar keine Selbstbehauptung des Ich, sondern entspricht der dem Betreffenden durch Allah zugewiesenen „geraden Straße“ (Sure 11, 56). So ist jeder Mensch zeit seines Lebens ein ohnmächtiges Objekt des Schöpfungshandelns Allahs, selbst wenn er vermeint, im Geflecht der durch Allah fortwährend gewirkten Ursachen und Wirkungen zu agieren. Die in diesem Irrtum lauernde Gefahr, sich als Ich zu denken, muß er fürchten – sollte er einmal tatsächlich Ich sein, dann heißt das nichts anderes, als daß er nicht mehr ist. Ichbewußtsein und Forschergeist „Alterius non sit qui suus esse potest“, von diesem Grundsatz ließ sich Paracelsus (ca. 1494– 1541) erklärtermaßen zeit seines Lebens leiten.30 Wer sich selber gehören kann, der gehöre nie einem anderen! Alleinsein bedeutet daher für ihn nicht, wie Ibn ʿArabī es lehrte, die vollendete Art und Weise der das Ich auslöschenden Eingefügtheit in Allahs fortwährendes Bestimmen, es meint vielmehr, sein eigen zu sein und sich somit von den anderen zu unterscheiden. Der Mensch, der nach dieser Losung lebt, wird freilich sich selber zum Rätsel. So bekannte Paracelsus, den die Wanderlust durch weite Teile Europas trieb, daß er nicht wisse, was ihn dazu dränge: „Mir ist not, das ich mich verantworte von wegen meines lantfarens und von wegen des, das ich so gar niendert bleiblich bin. Nun wie kan ich wider das sein oder das gewaltigen, das mir zu gewaltigen unmüglich ist? Oder was kan ich der praedestination nemen oder geben?“31 Die Vorherbestimmung erscheint hier im christlichen Umfeld nicht als die in jedem Augenblick des Lebens wirkende Lenkung durch Gott, sondern als eine irgendwann erfolgte schicksalhafte Festlegung, die das Individuum prägt. Allerdings vermag Paracelsus das Wesen dieser Prägung nicht präzise zu fassen. Was aber von ihm nicht bezweifelt wird, ist das Vorhandensein seines Ich, dem der Wandertrieb eignet und das nicht, oder nicht vollständig, durch den Willen gezähmt werden kann. Im Wunsche, dieses Ich zu begreifen, wurzelt die Psychologie, eine ganz und gar unislamische Wissenschaft.32 Paracelsus spürt in sich nicht etwa den Wunsch, seine Eigenart abzuschleifen, die Triebseele zu bezwingen; er beharrt im Gegenteil darauf, daß es ihm recht sei, wie es sich mit ihm verhalte.

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Wichtig ist ihm nur, den anderen seine ihren Anstoß erregenden Eigenheiten begreiflich zu machen: „Damit ich aber mich verantwort, wie mein wunderliche weis zuverstehen sei, merkent also.Von der natur bin ich nicht subtil gespunnen, ist auch nicht meins lants art, daß man was mit seidenspinnen erlange… Dan dieselbigen in weichen kleidern und die in frauenzimmern erzogen werden und wir die in tanzapfen erwachsen, verstehent einander nit wol. Darumb so muß der grob grob zu sein geurteilt werden, ob derselbig sich selbst schon gar subtil und holtselig zu sein vermeint. Also geschicht mir auch; was ich für seiden acht, heißen die andern zwilich und trilich.“33 Auf das Ich bezogen ist laut Paracelsus auch jegliche Art des Erkennens. Das „Spekulieren“ freilich, das Weiterspinnen der in den Schriften der Alten überlieferten Aussagen über den Menschen und den Kosmos, macht einen nicht klüger. Erkenntnis entspringt dem, was Paracelsus Erfahrenheit nennt. „Ich hab so viel erfaren / das Speculieren kein Artzt macht / sonder die Kunst / vnd Kunst ist kein Speculation / sonder ein Experiment / durch die Händ erfunden: Vnnd nachfolgend gehört Contemplatio darzu / das ist / acht auff die Natur haben / wie man sie brauchen soll: Alsdann kompt die Erfarenheit derselben Kunst / die ist Meister.“34 Wie aš-Šaʿrānī macht sich auch Paracelsus von der Autorität der„Toten“ frei. Aber er glaubt nicht, daß man die Welt des Offenkundigen hinter sich lassen müsse, um im Schauen des Verborgenen unmittelbar des Waltens des Schöpfers innezuwerden. Keineswegs! Der Anfang jeglichen Erkennens ist für ihn die bis zur Erfahrenheit verfeinerte Beobachtung der Phänomene des Kosmos. Solche Verfeinerung meint nicht etwa ein Übersteigen der sinnlichen Wahrnehmung; es geht um die nicht auf den ersten Blick erfaßbaren virtutes, die in den Erscheinungen wirken. Paracelsus ist überzeugt, daß wir nur eine Hälfte der Welt „sehen“, der andere Teil, die „Kräfte“, entzieht sich unserem Auge. Man kann das Wahrnehmungsvermögen jedoch so weit schulen, daß die Erscheinungen durchschaubar und die „Kräfte“ offenkundig werden, die sich in ihnen bekunden. Paracelsus spricht in diesem Zusammenhang vom „Licht der Natur“, das vom Heiligen Geist ausgegangen sei und die Erkennbarkeit des Kosmos verbürge.35 Im islamischen Denken unterschied man ebenfalls zwischen dem durch den Gesichtssinn wahrgenommenen Licht und dem, wie al-Ġazālī sagt, „Licht des Verstandes“, das ein vollkommeneres Sehen ermögliche. – Hierbei darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Verstand in muslimischer Sicht gerade nicht die Aufgabe hat, das durch Allah fortwährend geschaffene Diesseits zu begreifen, sondern den Menschen im Gehorsam gegen den Schöpfer und dessen unergründbares Handeln und Befehlen festzuhalten.36 – Die durch Allah ununterbrochen geschaffen werdende Welt wird von beiderlei Licht durchflutet. Die materielle Erscheinungsform dieser Welt, der offenkundige Seinsbereich, wird im durch den Gesichtssinn erfaßten Licht wahrnehmbar; jenseits der materiellen Erscheinung

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beginnt der Seinsbereich des Verborgenen, in dem der zum Schauen Begabte dank dem dort erstrahlenden Verstandeslicht die Bestimmungsmacht Allahs unmittelbar, d. h. nicht durch die materielle Erscheinungsform des Geschaffenen verstellt, zu erkennen vermag. Das Offenkundige ermöglicht jedermann die Einsicht, daß es den Schöpfer gibt und daß dieser ein Einziger ist. Der Einblick in das Verborgene führt zu der Einsicht, daß Allah in seinem fortwährenden Schaffen und Befehlen mit Weisheit vorgeht. Verwirrend, ja verstörend mag Allahs Schöpfungshandeln und Befehlen denjenigen anmuten, der nur das Offenkundige wahrzunehmen befähigt ist. Beim Schauen in das Verborgene schwindet dieser unheilvolle Eindruck. Der Glaube an das Verborgene (Sure 2, 3) ist, wie al-Ġazālī herausgearbeitet hat, die Voraussetzung dafür, daß der sich so heillos zeigende Seinsbereich des Offenkundigen trotzdem als das in jedem Augenblick und in jeder Einzelheit durch einen vollkommenen Schöpfer so und nicht anders bestimmte Werk begriffen werden kann.37 Welche Not diese Zumutung muslimischen Denkern bereitet hat, trat bei der Beschäftigung mit aš-Šaʿrānī ein ums andere Mal auf erschütternde Weise zutage.38 Das Schauen, das „Schmecken“ jenes Verborgenen, meint nichts Geringeres als die angstvolle Suche nach der Gewißheit, daß der Islam „wahr“ und Allah tatsächlich jener barmherzige unermüdliche Schöpfer sei, den der millionenfach hergesagte „Thronvers“ (Sure 2, 255) verkündet. Dem im Christentum verwurzelten Paracelsus ist jene muslimische Not fremd. Das „Licht der Natur“, von dem er spricht, muß ihm nicht dazu verhelfen, Gott als gnädig und den Kosmos als das eines vollkommenen Meisters würdige und in ständiger Neuschöpfung befangene Werk zu deuten. Die unterschiedlichen in der Welt praktizierten Kulte gelten dem Einen, und insofern sind sie wahr, urteilte Cusanus. Das heißt aber, daß keiner dieser Kulte insofern wahr ist, als er, wie die Muslime mit Bezug auf den ihrigen behaupten, von Gott selber gestiftet wurde. Nur weil dies von keinem Kult ausgesagt werden kann, trägt jeder, da er dem Einen gewidmet ist, seine Wahrheit und Legitimität in sich selber. Und wie die Kulte ihre Wahrheit in sich selber tragen, so auch der Kosmos, dessen Erkundung sich Paracelsus zur Aufgabe gemacht hat, und zwar vorwiegend unter dem Blickwinkel des Arztes, der das Spiel der virtutes, ihr Zusammenwirken bei Erkrankung und Genesung, durchschauen möchte. Das die Materie erhellende Licht und das „Licht der Natur“ sind daher bei ihm auch nicht zwei voneinander geschiedenen Seinsbereichen zugeordnet. Das „Licht der Natur“ bildet vielmehr die erkenntnistheoretische Grundlage einer den bloßen Augenschein hinter sich lassenden Forschertätigkeit, die freilich noch nicht ohne einen Rückhalt im christlichen Glauben auskommt: Erfahrenheit vermag der Beobachtende allein deshalb zu erwerben, weil durch den Heiligen Geist das „Licht der Natur“ in den Kosmos gegossen wurde. Paracelsus findet das „Licht der Natur“ daher auch im Menschen selber. Es ist die dem Menschen angeborene Vernunft. Wie dieses Licht in den Kosmos und damit in den

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Menschen hineingelangte, darüber äußerte sich Paracelsus unterschiedlich. Er war zudem versucht, das nun denkbar werdende Zerbrechen des Kosmos in einen Bereich des Naturlichts und einen anders gearteten des – ursprünglichen – Geistlichts zu verhindern, indem er panentheistische Vorstellungen erwog. Doch stets blieb ihm das „Licht der Natur“ das den Kosmos „Erhellende, Durchleuchtende, das sinnerfüllende Prinzip hinter der ‚Natur‘“, das ihm die Gewähr bot, daß eine den Augenschein übersteigende objektive Erkenntnis hier und jetzt möglich sei.39 Er spielte in diesem Zusammenhang mit den Begriffen clarificatio und glorificatio: „Verklärung“, Vergeistigung meint den Erkenntnisgewinn in diesem Äon; beide Wörter bezeichnen aber auch die Herrlichkeit des zukünftigen Reiches Gottes.40 Die vollständige Klärung des Wirkens der virtutes wird erst nach dem Ende der Geschichte gelingen. Ein Schauen oder „Schmecken“, das eine solche Klärung schon hier und jetzt herbeiführen könnte, gibt es nicht. In unserem Äon haben wir das Diesseitige in der ihm eigenen Dignität ernstzunehmen.41 Die zwei Äonen der islamischen Heilsgeschichte Auch in der islamischen Welt hat man zu aš-Šaʿrānīs Zeit längst gelernt, die Heilsgeschichte in zwei Äonen einzuteilen, jedoch auf eine fundamental andere Art als im Christentum. Der Beginn jeglicher Wirksamkeit des göttlichen Schöpfertums manifestiert sich im Hervorbringen des Urmohammed, des Makrokosmos, und alle in Raum und Zeit unablässig vorgehende Schöpfung wird gleichsam durch diesen Urmohammed hindurch von Allah zur Erscheinung gebracht. Der Urmohammed liegt dem andauernden göttlichen Schaffen zugrunde; er zeichnet sich durch die unverbrüchliche verehrende Hingewandtheit zu Allah aus und verkörpert somit das seinerseits durch Allah geehrte Zeugnis des göttlichen Schöpfertums, einer Eigenschaft des allmächtigen Allah, die anders als durch den Urmohammed hindurch gar nicht zweifelsfrei erkennbar werden könnte.42 Denn dieser, im verborgenen Seinsbereich wesend, ist nicht im Offenkundigen mit seinen verwirrenden Phänomenen befangen, kann also bezüglich der allumfassenden Schöpfermacht Allahs gar nicht zu Fehlurteilen verleitet werden. Im zweiten Äon, der mit der Geburt des Propheten Mohammed einsetzt, wird die Unmöglichkeit der Mißdeutung der Beschaffenheit des Kosmos in das Offenkundige hineingetragen. Was bis dahin durch die Philosophen allenfalls erahnt, durch die Vorläuferpropheten immerhin angedeutet worden ist, wird durch den Mohammed in Menschengestalt in endgültiger Klarheit vorgelebt und durch den Koran in unwiderlegbare Worte gefaßt: War die Heilsbestimmtheit des fortwährend durch Allah geschaffenen Diesseits im alten Äon nur aus – allerdings aussagekräftigen – Indizien zu erschließen, so ist sie im Anbruch des neuen Äon für jedermann, der bei Verstand ist, klipp und klar ausgesprochen. Ein womöglich durch unzulängliche Wahrnehmung und fehlerhafte

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Schlüsse getrübtes vom Menschen ausgehendes Fragen nach der Heilsbestimmtheit erübrigt sich fortan, ja sollte, weil es Zweifel an der nunmehr erlangten endgültigen Wahrheit keimen lassen könnte, ganz unterbleiben. Kosmosprozeß und „Erwerben“ In der Großen Waage machte aš-Šaʿrānī mit Skizzen anschaulich, wie sämtliche normativen Aussagen je über ein Geflecht von Ableitungen mit der einen Quelle der Scharia in Verbindung stehen: durch Mohammed hindurch mit Allah. Ganz ähnlich hätten aš-Šaʿrānīs Skizzen ausfallen müssen, wenn er die „offenkundigen“ Erscheinungen von Allahs Schöpfungshandeln hätte veranschaulichen wollen. Von den ungeschulten Diesseitigen wird es ebenfalls als ein unentwirrbares Geflecht von Gegenständen, Lebewesen und Sachverhalten wahrgenommen; lediglich dem Schauenden enthüllen sich in dem vermeintlichen Wirrwarr die Umrisse einiger der durch Allah gewirkten Taten, und zwar als Gestalten, wie aš-Šaʿrānī mehrfach versichert.43 Sie repräsentieren den faktischen Aspekt des göttlichen Schöpfungshandelns, des von Allah bestimmten kosmischen Prozesses. Der faktische Aspekt fällt in Wirklichkeit mit dem normativen in eins; letzterer aber kann erst von den Angehörigen des zweiten Äons in aller Klarheit und Eindeutigkeit erkannt werden. Mental verweilen aber noch viele Muslime im vorislamischen Äon. Es ist vollkommen folgerichtig, wenn es in dem geschilderten Kosmosprozeß einen von einem Subjekt ausgehenden und eigenständig ausgeführten Erwerb nicht gibt, weder einen Erwerb materieller Güter noch denjenigen von Handlungen, um eine Redeweise der islamischen Theologie aufzugreifen. Güter gelangen in eine Beziehung zu einem Menschen – nicht: in sein Eigentum –, sofern Allah sie ihm in dem betreffenden Zeitpunkt zugedacht hat. Daher rührt die Sorge des Gottesfreundes, sie möglichst am selben Tag zu verteilen. Er will sich nicht einmal den Anschein geben, daß er beabsichtige, sie zur eigenen Verfügung zu halten, um sie in Zukunft nach eigenem Ratschluß zu verwenden. Sollte Allah in einem bestimmten Fall tatsächlich dergleichen beabsichtigen, wird er es schon dementsprechend einzurichten wissen. Ängstlich hüte sich der Muslim, Allah eine solche Absicht einfach zu unterstellen, selbst wenn man aus obwaltenden Umständen einen Fingerzeig hierauf ableiten könnte. Allahs Heimtücke ist gefürchtet (z. B. Sure 3, 54)! Eigenmächtig einen Vorrat anzulegen, hieße bereits, gegenüber dem göttlichen Schöpfungsprozeß eine Position einzunehmen, die eine Spur von Ichhaftigkeit offenbarte. Noch im 11. Jahrhundert hatte man sich von solchen Skrupeln nicht beherrschen lassen, wie uns al-Māwardī darlegte. In der theologischen Denkfigur vom Erwerb der Taten, die aus dem 9. Jahrhundert stammt und die souveräne Allmacht Allahs gegen antike Lehren von der Ewigkeit und Selbstsubsistenz der Welt verteidigen sollte,44 waren sie freilich schon vorbereitet: Alle Handlungen des Men-

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schen sind insofern „erworbene Taten“, als nicht der Mensch, sondern Allah sie wirkt. Allah läßt sie an dem betreffenden Menschen manifest werden, und selbst die Voraussetzungen dafür, daß sie an dem betreffenden Menschen manifest werden – er sie „erwirbt“ –, liegen nicht in etwaigen Eigenschaften, Fähigkeiten oder Lebensumständen begründet, sondern werden im Augenblick des Offenkundigwerdens der jeweiligen „Taten“ in ihrem Medium, dem betreffenden Menschen, durch Allah geschaffen. Irgendeine Dauer über den von der Handlung beanspruchten Zeitraum hinaus kommt diesen Voraussetzungen nicht zu. Die Unmöglichkeit des Beobachtens Folglich ist dem Muslim grundsätzlich verwehrt, nach Art des Paracelsus gegenüber dem von Allah am Laufen gehaltenen Schöpfungsgeschehen die Haltung eines wertenden und forschenden Beobachters zu beziehen. Zum einen vermag man diesem Geschehen nicht zu entrinnen, zum andern führte eine noch so genaue Beobachtung niemals zu überprüfbaren Ergebnissen.45 Ohne den Schatten einer Individualität gibt es keine Möglichkeit der Auslegung dessen, was dank Allah geschieht; es bleibt nur die Aussage, daß es geschieht. Eigenständigkeit, nämlich Eigenständigkeit angesichts der verstörenden Wirrsal des Diesseits, gewinnt man gerade nicht in dem hartnäckigen, aber gemäß islamischer Auffassung vergeblichen und frevelhaften Bestreben, dem in Erscheinung Tretenden als Beobachter zu begegnen, sondern durch das selbstquälerische Ringen um eine nicht mehr vermittelte, d. h. aller diesseitigen Mittel bewußt entratende Abhängigkeit von Allah.46 Man erkennt, daß man vollkommen von Allah abhängt, und in dieser Erkenntnis zeigt man sich gegenüber dem ständig durch Allah geschaffenen Kosmos als gänzlich unabhängig und insofern als eigenständig – nämlich bruchlos in den Schöpfungsprozeß eingefügt. In den Augenblicken der höchsten Gewißheit solcher Erkenntnis, in der Ekstase, wird der verborgene Sinn alles göttlichen Schaffens, das Selbstlob des Schöpfers, unmittelbar erfahren, was als äußerst peinigend empfunden werden kann.47 Sieht man von derartigen Ausnahmesituationen ab, so empfiehlt sich zur Wahrung der Eigenständigkeit gegenüber dem Diesseits eine zur Gewohnheit eingeschliffene Höflichkeit gegen Allah: Mancherlei im Schöpfungsprozeß mutet einen befremdlich an, doch die Höflichkeit gegen den Schöpfer gebietet, das scheinbar Widersinnige einer von ihm gewirkten Gegebenheit den diesseitigen Handelnden zuzuschreiben, obzwar nicht bestritten werden kann, daß es einzig und allein von Allah ausgeht. Die beobachtende Bewertung dessen, was der Fall ist, führt zu scheinhaften und daher wertlosen Ergebnissen. Es steht allein zur Debatte, auf welche Weise man Allah von dem Verdacht kritikwürdigen Handelns reinwasche, und dies gelingt am einfachsten, indem das Geschöpf, das Allahs Weisheit nicht zu durchschauen vermag, sich zum Schein schuldig bekennt.

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Kommen wir jetzt zum zweiten Äon, in dem grundsätzlich zum Erlangen der Wahrheit nicht mehr der Umweg über die Betrachtung des Schöpfungsprozesses beschritten werden muß. Jetzt, im mohammedschen, islamischen Äon sollte der Verzicht auf das Schauen ins Verborgene möglich, ja notwendig sein, denn der normative Aspekt des Vorgehens Allahs liegt offen. Alles, was aš-Šaʿrānī über den ersten Äon sagt, setzt stillschweigend den Anbruch des zweiten voraus: Derjenige, der die Eigenständigkeit im obigen Sinne gefunden hat, macht sich Gedanken darüber, wie sich die Dinge im verflossenen Äon verhalten haben müssen. Ibn ʿArabī ließ den selbständig suchenden Philosophen gegen den von Allah geleiteten antreten und am Ende verlieren.48 Indessen mißverstünde man Ibn ʿArabī vollkommen, wenn man ihm unterstellte, er habe mit diesem Gleichnis die Schriftgelehrsamkeit zur wesentlichen, ja sogar einzigen Quelle der Erkenntnis erheben wollen. Das ist sie, obschon dem islamischen Äon eigentümlich, nicht im mindesten. Denn das Schöpfungshandeln Allahs verläuft nach wie vor, und es läßt sich in seiner Großartigkeit und Vielfalt weder in die durch den Propheten Mohammed in die Welt gebrachte Botschaft des Korans, noch in die des ḥadīṯ bannen. Daß Allah sich mittels seines fortwährend ausgeübten Schöpfertums vor sich selber als den Allmächtigen erweist, sich selber unablässig rühmt, wird in jenen Texten unzweideutig ausgesprochen. Eben deswegen ist der Mensch nun strenger noch als im ersten Äon gehalten, diese Wahrheit nicht bloß als ein Wissen im Gedächtnis zu speichern, sondern in ihrer ganzen Tragweite zu ergründen. Sich mit den Texten zu begnügen, hieße, die diesseitigen Phänomene erneut, und jetzt schuldhaft, mit dem Eigentlichen zu verwechseln. Gerade solch einen Irrtum darf es im mohammedschen Äon nicht mehr geben. Sich auf die autoritativen Texte zu beschränken, wäre dem törichten Wunsch vergleichbar, mit dem Einsatz diesseitiger Mittel irgendetwas „erwerben“ zu wollen. Das Gewicht der Eschatologie Ibn ʿArabī, der Einzelgänger, der keine Gemeinschaft gründete, mochte diese Anschauungen mit Entschiedenheit verfochten haben. Aš-Šaʿrānī, drei Jahrhunderte später, durfte nicht unerwogen lassen, was man seither gegen jenen ins Feld geführt hatte: Nämlich daß Ibn ʿArabī die Zeitgebundenheit der Existenz der Geschöpfe aus dem Blick zu verlieren drohe, so daß sich die Scheidelinie zwischen Diesseits und Jenseits verwische, ja daß schließlich, wenn man ihm folge, alles Sein mit demjenigen Allahs eins werde. Männer wie aš-Šaʿrānī dagegen fragten sich, was die von Ibn ʿArabī geschaute Wahrheit für jeden einzelnen Muslim in den Nöten und Bedrängnissen des Alltags bedeute. Es war leicht, die Meinungsverschiedenheiten der Schariagelehrten zu einer durch Allah gewährten Barmherzigkeit zu erklären, schwierig dagegen war es, die doch für heilswichtig geltenden konkreten scharia-

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tischen Einzelfragen in den Hintergrund zu drängen und sich unbesorgt der das Verborgene erschließenden Ichabstreifung zu überantworten. Hierüber hatte schon Abū Jazīd al-Bisṭāmī geklagt.49 Sidi ʿAlī, der Palmblattflechter, hatte aš-Šaʿrānī, seinen Zögling, deshalb daran erinnert, daß dem von Allah her sich in das Diesseits ergießenden Strom der kontingenten Phänomene derjenige der schariatischen Bestimmungen entspreche, und so wie die Phänomene durch Allah den Gegebenheiten der unterschiedlichen Weltgegenden angepaßt würden, so müßte sich das auch mit den schariatischen Bestimmungen verhalten.50 Der Palmblattflechter zeigte sich überzeugt, daß Schariabestimmungen über die Länge der Zeit hin verlorengehen könnten.51 Das Ergründen des Schöpfungsprozesses würde in dem Maße, wie das geschieht, zur unentbehrlichen Methode, die göttlichen Normen in Erfahrung zu bringen. Inwieweit dies bereits auf das Ägypten des 16. Jahrhunderts zutrifft, bleibt offen. Aber die Herrschaft der Osmanen erstreckt sich über Länder, die nie zuvor islamisch gewesen sind. In ihnen dürfen aus dem Schöpfungsprozeß hergeleitete Gesetze, qānūn genannt, in Kraft treten, eben weil dieser Prozeß, so wie er sich dort manifestiert, auf die dortigen Verhältnisse zugeschnitten ist. Da die Herleitung unter islamischer Herrschaft erfolgt, ist, so der Palmblattflechter, ein solches Gesetz nicht etwa als ein nomos abzuwerten, ein im ersten Äon von weisen Männern erschlossenes Regelwerk.Vielmehr handelt es sich um einen – islamisch legitimierten – qānūn. Gleichsam durch die Hintertür findet dank solchen Erwägungen eine Ahnung von der Geschichtlichkeit des Gesetzes Zutritt zum muslimischen Denken. Dem Wandel unterworfen ist aber nur die Art von Gesetzen, die ihrem Wesen gemäß noch dem ersten Äon zuzurechnen ist. Dieser hat, rein chronologisch betrachtet, mit der Geburt Mohammeds ein Ende genommen, aber unterhalb oder jenseits der endgültigen Klärungen, die dem neuen Äon zu verdanken sind, bestehen die Verhältnisse des alten fort: Wie ehedem läßt sich das gottgewollte Normengefüge am Schöpfungsprozeß ablesen. Die Verkündigungen des Propheten, so legte Ibn ʿArabī dar, weisen keinerlei epochengebundene Merkmale oder Einsprengsel auf; das unvermittelt empfangene Wort Allahs ist zeit- und ortlos. Der „Ersatzmann“ hingegen, der auftritt, sobald die überzeitliche Botschaft sich zu verflüchtigen begonnen hat, entfaltet seine Einsichtskraft, indem er den Blick auf das Ablaufen des göttlichen Schöpfungshandelns richtet. Anderenfalls wäre er ja ein Prophet. Die Vollkommenheit der Einsicht in Allahs schaffendes und gesetzgebendes Walten, die im zweiten Äon möglich und auch obligatorisch geworden ist, entzieht der Ahnung der Geschichtlichkeit jedoch ihre Rechtfertigung, noch ehe sie eindringend hätte durchdacht und abgeklärt werden können. Paracelsus strebte danach, sein Erkennen aus dem göttlichen Bestimmen zu lösen; der Heilige Geist galt ihm nur als der Bürge der Sinnhaftigkeit des Kosmos. Die Erforschung des Kosmos verläuft über Umwege, verirrt sich in Sackgassen, hat

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ihre Geschichte. Es gibt eine endgültige Wahrheit, aber wann sie errungen sein wird, bleibt ungewiß. Der Neugierige ersehnt nicht den Zeitpunkt des Endes seines Forschens. Ibn ʿArabī und aš-Šaʿrānī jedoch sind darauf aus, ihre nach den göttlichen Normen fragende Zergliederung des Schöpfungshandelns in der unübersteigbaren Wahrheit zu verankern, die der Prophet Mohammed den Geschöpfen mitgeteilt hat. Wie eine solche Verankerung aufzufassen ist, darin unterscheiden sich Ibn ʿArabī und aš-Šaʿrānī allerdings auf charakteristische Weise. Ersterem wurde, indem er in den tiefsten Sinn des Gebotes des Ramadanfastens eindrang, die Komplementarität von Schöpfer und Schöpfung durchsichtig: Allah ist der freigebig Austeilende, die Kreatur ist auf Allahs Freigebigkeit angewiesen. Das Befolgen des Gesetzes, in diesem Beispiel des Fastengebots, bewirkt, daß der Mensch den Kern der Heilsbotschaft existentiell erfährt. Aš-Šaʿrānī hebt dagegen hervor, daß in dem – durch Allah selber erzeugten, durch den Menschen lediglich „erworbenen“ – Fasten nichts anderes erlebt werde als eben das Schöpfungshandeln Allahs, das im betreffenden Fall auf den Vollzug eines Gebots hinauslief. Der Einblick in das Verborgene enthüllt das Gesetz, nicht aber das Wesen der Kreatürlichkeit.52 Die Unmöglichkeit eines eigenen Daseins Ibn ʿArabī hatte seine Lehre von der Komplementarität des göttlichen und des geschaffenen Seins als eine überwältigende Freudenbotschaft und als die Vollendung des Islams begriffen. Allah hält alle Kreatur am Schopfe (Sure 11, 56), sie kann sich seinsmäßig gar nicht von ihm trennen, kann nicht ins Unheil fallen. Indem Ibn ʿArabī dies aufging, verlor die Sorge um das Endgericht und um das, was danach kommen mochte, ihre Dringlichkeit. Bei aš-Šaʿrānī dagegen ist sie nebst all den Schreckensbildern, die sich an sie knüpfen, zurückgekehrt. Immer wieder muß sie den Muslimen nahegebracht, eingehämmert werden. Auch in seinen Gedanken war sie allgegenwärtig. Sie enthüllt uns seine prekäre Befindlichkeit in dieser Welt. Die Gottesfreundschaft, oft in einem unangenehm hochfahrenden Ton herausgestrichen, verleiht ihm letzten Endes keine durch das Spähen in das Verborgene gefestigte Daseinszuversicht, die man ihm doch wegen seiner Kenntnis der Gedanken Ibn ʿArabīs zutrauen möchte. Der Angsttraum vom Seiltänzer, auf dessen Sturz die Menge lauert, leitete uns an, die vielen Schriften aus seiner Feder auch unter diesem Gesichtspunkt zu lesen.Vordergründig hat vieles, was er uns mitteilt, einen Bezug zu persönlichen Lebenserfahrungen, vor allem zu seiner inneren Not, die ihm die Tatsache bereitete, daß er dem Ideal der Gottesfreundschaft streng genommen nicht genügte. Diesem Stachel verdankt die Nachwelt vermutlich die meisten seiner zahlreichen Zeugnisse, die er von sich, seinen Gedanken und seinen Befürchtungen, seinen Erfahrungen und seinen Erwartungen gibt. Denn wie sah es mit den Besitzrechten am Grundstück seiner Klause aus, vielleicht auch an anderen Lände-

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reien, aus denen er Einkünfte bezog? Wie konnte er seine Gottesfreundschaft gegenüber den Glaubensbrüdern hieb- und stichfest beweisen, wo ihm keine bestürzenden oder verblüffenden Huldwunder geschenkt worden waren? Wie stand es mit seiner Abstammung aus der Sippe des Propheten? Alle diese Unzulänglichkeiten stellten den Rang, den er in der muslimischen Gesellschaft Ägyptens gewonnen hatte, dergestalt in Frage, daß er in seinem Innern ständig von einem bohrenden Zweifel geplagt wurde: War nicht alles, was er tat, sagte und dachte, frevelhafte Selbsterhöhung? Deshalb auch lesen wir immer wieder von quälendem Sinnieren über die Forderungen der Etikette, darüber auch, wie der Gottesfreund die ihm vom Schöpfer übertragenen Aufgaben wahrnehmen könne, ohne jemanden zu verprellen, ja ohne jemanden zu häßlichen Gedanken zu verleiten; denn das müßte bedeuten, daß der Gottesfreund ein Anlaß dafür würde, daß jener irritierte Muslim die Schuld der Unhöflichkeit gegen Allah auf sich lüde, und dieser Umstand wiederum wäre ein schreckliches Versagen bei der Erfüllung der von Allah gestellten Aufgabe der vollkommenen Islamisierung jeglicher Art von Menschengemeinschaft. Vor allem aber lastet auf aš-Šaʿrānī eine schwere Daseinsangst, die durch noch so viele kluge Erwägungen nicht zu erleichtern ist. Denn was ist das Dasein? Darf er überhaupt von einem eigenen Dasein sprechen? Wurde er nicht immer wieder auf die Erkenntnis gestoßen, daß er selber, sein ganzes Lebensschicksal, nichts weiter ist als eines der unzählbaren Beispiele für Allahs Bestimmungsmacht? Immer wieder wurde in ihm der Gedanke übermächtig, daß im Diesseitigen und mittels des Diesseitigen kein Selbst, kein Ich existiert, ja gar nicht existieren kann und darf. Soll man die Hartnäckigkeit, mit der er sein Denken um dieses Thema kreisen läßt, als eine uneingestandene Sehnsucht nach einem Selbst deuten? Wir wissen es nicht. Doch wir beobachten die Tragödie, die ein hochbegabter, zu eigenem Erkennen befähigter und mit dem Willen zu entsprechendem Handeln ausgezeichneter Mensch in einer Religionsgemeinschaft durchzustehen hat, in der per definitionem ein autonomes Entscheiden des Menschen über seine Lebensverhältnisse ausgeschlossen ist. Aš-Šaʿrānī bricht das Schariastudium ab; die Handhabung der Texte, der zum „Mittel“ geronnenen diesseitigen Erscheinungsform des normativen göttlichen Schöpfungsprozesses, wird ergänzt und überboten durch die unmittelbare Einsichtnahme in diesen Prozeß. Solche Eigenständigkeit wird belohnt mit der freilich immer nur flüchtigen Erfahrung, Stellvertreter Allahs im Offenkundigen zu sein. Ungleich höher ist jedoch der Preis solcher Eigenständigkeit: die gänzliche Selbstentmächtigung. Ibn ʿArabī vermochte den Ichverlust als Heilsgefühl zu empfinden, weil er die Eschatologie weitgehend ausblendete. Vor aš-Šaʿrānīs innerem Auge ziehen die letzten Dinge hingegen ein ums andere Mal vorüber, und nichts ist ihm gefährlicher als eine ichhafte Regung, und wäre sie auch noch so geringfügig. Denn sie reißt ihn,

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wenn er die Tatsache seines Daseins folgerichtig erwägt, hinweg in das Nichtsein. Vergleicht man nicht den Schöpfungsprozeß mit dem Aussenden von Licht, das die dunklen Partikel des Nichtseienden trifft und dadurch ins Sein ruft? Solange das Licht das Nichtseiende anstrahlt, existiert es in Komplementarität zu Allahs Sein, dem das Licht wesensmäßig zugehört (Sure 24, 35).Wo könnte nun ein Ich seinen Ort finden? Ichbewußtsein bedeutet, auf das Nichtseiende setzen, sich zu etwas anderem als Allah wenden, den Islam aufgeben. Paracelsus wurde das Ich zum Rätsel, ašŠaʿrānī gereicht es zum Schrecken, es gefährdet sein Dasein. Dessen ist er sich sicher. Was aber wird sein, wenn Allah dereinst den Schöpfungsprozeß abbrechen und sich auf sich selber zurückziehen wird? Die Angst davor läßt sich auch durch noch so beharrlich geübte Ichabstreifung nicht besänftigen.

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Der nach Nordosten ausgerichtete Stadtplan von Kairo entstammt der „Reisebeschreibung nach Arabien“ aus der Feder Carsten Niebuhrs (Kopenhagen 1774–1778, Hamburg 1837; mit einem Vorwort versehener Nachdruck Graz 1968). Als Teilnehmer einer durch den dänischen König finanzierten Expedition, die ihn bis in den Jemen führte, hielt sich Niebuhr 1761 bis 1762 in Kairo auf und erarbeitete den abgebildeten Stadtplan, wobei ihm seine ausgezeichneten praktischen Erfahrungen im Vermessungswesen zugutekamen. Niebuhrs Plan stimmt im großen und ganzen mit den Verhältnissen überein, wie sie bereits zu Lebzeiten aš-Šaʿrānīs herrschten. Die Zahlen in den weißen Feldern zeigen die Lage der wichtigsten im Text erwähnten Örtlichkeiten.

Legende Stadtviertel, Straßen, Tore: 1 al-Ḥusainīja-Viertel; 2 Festung; 3 Viertel der Ǧamālīja-Medresse; 4 Viertel der Ibn Ṭūlūn-Moschee; 5 al-Ḥākimī-Kanal; 6 nach Fusṭāṭ; 7 Nilinsel ar-Rōḍa; 8 nach Bulāq; 9 al-Maqs; 10 Straße „Zwischen den beiden Palästen“; 11 Straße „Zwischen den beiden Mauern“; 12 Bāb al-Futūḥ (Tor der Eroberungen); 13 Bāb an-Naṣr (Triumphtor); 14 Bāb Zuwaila; 15 Bāb al-Ḫarq; 16 Bāb aš-Šaʿrīja https://doi.org/10.1515/9783110789119-017

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Moscheen und Medressen 17 al-Ḥākim-Moschee; 18 al-Azhar; 19 Medresse des Sultans Ḫasan; 20 Medresse des Ṣarġatmiš; 21 al-Ġamrī-Moschee; 22 aš-Šaʿrānīs Medresse und Klause; 23 Medresse der Umm Ḫūnd

Erläuterung wichtiger Begriffe Almohaden – Die Almohaden (arab.: Pl. al-muwaḥḥidūn = Bezeugende der Einsheit Allahs) waren eine religiös-politische Bewegung, die durch Ibn Tūmart (gest. ca. 1130) ins Leben gerufen wurde. Sie brachte Nordwestafrika unter ihre Gewalt und griff seit 1145 nach Spanien über, wo sie zur dominierenden islamischen Macht aufstieg. Im Jahre 1212 unterlagen die Almohaden bei Las Navas de Tolosa einer Koalition der christlichen Herrscher Spaniens und mußten schrittweise die Iberische Halbinsel aufgeben. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts zerfiel auch ihre Herrschaft über den Maghreb. Von großem Gewicht für die islamische Religionsgeschichte sind die Lehrschriften Ibn Tūmarts. Neben al-Ġazālī, auf den er sich beruft, kann man ihn als den bedeutendsten Überwinder des sunnitischen Aschʿaritentums betrachten. Er baute seine Theologie nicht mehr, wie es die Aschʿariten lehrten, auf der radikalen ontologischen Gegensätzlichkeit von „geschaffenem“ und „schaffendem“, d. h. göttlichem Sein auf. Er war vielmehr zu der Einsicht gelangt, daß der Kreatur und dem Schöpfer das Sein gemeinsam sei; es bildete gleichsam eine Klammer zwischen beiden. Allah komme freilich das „absolute“ Sein zu, der gesamten Schöpfung das durch ihn „konditionierte“. Anders als al-Ġazālī, der eine „naturwissenschaftliche“ bzw. „naturphilosophische“ Erkundung des „konditionierten“ Seins für unnötig und unmöglich hielt, war Ibn Tūmart davon überzeugt, daß eine solche Erkundung mittels einer Analyse der sich im Geschaffenen manifestierenden Zahlen- und Kräfteverhältnisse sehr wohl zu leisten sei. Im Rahmen dieser Aufwertung des geschaffenen Seins gelangte Ibn Tūmart zu einer Einschränkung des totalen Geltungsanspruchs der islamischen autoritativen Texte (Koran, ḥadīṯ) und damit zum, wie er es sah, wahren, nämlich am Schöpfungsprozeß selber orientierten Eingottbekenntnis (OV, erstes Buch). Auch al-Ġazālī hatte den totalen Geltungsanspruch der autoritativen Texte zurückgewiesen, dabei aber hervorgehoben, daß nicht das Geschaffene an und für sich analysierbar sei. Der Mensch dürfe jedoch darauf vertrauen, daß Allah in seinem fortwährenden Schöpfungshandeln gemäß seiner Gewohnheit bestimmte Vorgänge, etwa Aussaat und Ernte, in einem zeitlichen Verhältnis zueinander in Erscheinung treten lasse. Allah sei freilich nicht gezwungen, so zu verfahren (vgl. Nagel: Der Textbezüglichkeit entrinnen?). Äonen – Spätestens seit dem 13. Jahrhundert unterscheidet die sunnitische Heilsgeschichte zwischen zwei Äonen. Der erste setzt mit dem Beginn des göttlichen Schöpfungsprozesses ein, dessen erste Hervorbringung der Makrokosmos, der Urmohammed, ist. Dieser nimmt sogleich die ihm zugedachte Aufgabe wahr, und zwar, unentwegt dem einen Schöpfer zugewandt, diesen zu preisen und zu rühmen. Allah erhält sein Schöpfungshandeln, das sich aus dem verborgenen Seinsbereich, dem https://doi.org/10.1515/9783110789119-018

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der Urmohammed angehört, bis in den offenkundigen hinein entfaltet, von dem ihn rühmenden Urmohammed her aufrecht, so daß alle Kreatur in der das Heil verbürgenden Befindlichkeit des islām verharrt. Im ersten Äon vermögen die Verstandesbegabten unter den Geschöpfen diesen Sachverhalt allerdings noch nicht mit letzter Gewißheit zu erkennen, weshalb die Existenz verschiedener Religionen und Riten noch gerechtfertigt ist. Im zweiten Äon, der mit der Geburt des Propheten Mohammed begonnen hat, ist die dank dem Urmohammed gegebene Heilsbestimmtheit aller Kreatur zur unanfechtbaren Gewißheit geworden: Allahs authentisches Wort wurde verkündet, und fortan darf es nur noch den Islam geben (AL, 326 – 355). Aschʿariten – Mit dem Namen Abū l-Ḥasan al-Ašʿarīs (gest. 935) verbindet sich die sunnitische Antwort auf den muʿtazilitischen Rationalismus. Al-Ašʿarī und die sich auf ihn berufende Richtung verwerfen, selber auf dem Boden der muʿtazilitischen Metaphysik stehend, die wesentlichen Lehren der Muʿtaziliten, nämlich daß Allah im Endgericht den Menschen nach dessen selbstverantwortetem und selbstgewirktem Handeln beurteilen werde und daß Allah, weil seinsmäßig ganz anders verfaßt als seine Geschöpfe, keineswegs mit „irdischen“ Eigenschaften belegt werden dürfe. Soweit dies im Koran geschehe, er beispielsweise als „hörend“ charakterisiert werde, dürfe dies nur metaphorisch verstanden werden, da er, ewig, wie er ist, anderenfalls aus ewig existierenden Eigenschaften zusammengesetzt und folglich nicht mehr der homogene Eine (vgl. Sure 112) wäre. Die Aschʿariten ließen die radikale ontologische Andersheit Allahs gelten, hoben aber hervor, daß auf Allah, da er sich im Koran selber als „hörend“ usw. bezeichnet habe, dies auch tatsächlich zutreffen müsse, freilich in einer durch den Menschen nicht ergründbaren Art und Weise. Die Aschʿariten hielten somit daran fest, daß Allah während des Vollzugs der Riten als ein Gegenüber erfahren werden kann und sich nicht zu einem impersonalen Wirkungsprinzip verflüchtigt, was den Kern der koranischen Heilsbotschaft zerstören würde. Sie unterstrichen ferner, daß von einer eigenständigen Handlungsfähigkeit der Geschöpfe angesichts des allumgreifenden Bestimmens Allahs nicht die Rede sein könne. Die Substanzpartikeln mit ihren jeweiligen Akzidentien, aus denen alles Geschaffene, so auch der Mensch bestehe, würden durch Allah in jedem Augenblick aufs neue bestimmt und geordnet; eine extrapolierende Analyse des Geschaffenen bleibe infolgedessen dem Menschen versagt, und daher auch ein eigenverantwortliches Handeln. Das Urteil, das Allah im Endgericht über jeden Menschen fälle, habe demgemäß keinen wie immer gearteten durch den Verstand zu entschlüsselnden Bezug zu den im irdischen Dasein im Vollzug der göttlichen Vorherbestimmung an dem betreffenden Menschen in Erscheinung tretenden Handlungen. Belastung mit dem Gesetz – Gemäß den Vorstellungen der Schariagelehrsamkeit ist jeder Mensch durch Allah „angesprochen“ worden, d. h. Allah hat ihm mitgeteilt,

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daß er mit der Forderung „belastet“ ist, die göttlichen Normen einzuhalten. Vorübergehende oder auf unbestimmte Zeit wirksame Gründe können diese „Belastung“ im Einzelfall ganz oder zum Teil aufheben. Die „Belastung“ ist die Daseinsbedingung des mit dem Verstand begabten Geschöpfes. Mittels der Schariawissenschaft verschafft es sich die Kenntnis davon, welche Handlungen infolge dieser „Belastung“ als „Pflicht“, „empfehlenswert“, „zulässig“, „verabscheuenswert“ oder „verboten“ zu bewerten sind. Diese Kenntnis ist allein aus Allahs Offenbarung, nicht aber aus einer durch den Menschen vorzunehmenden ethischen oder moralischen Erwägung zu gewinnen. Die als „Belastung“ beschriebene Daseinsbedingung setzt eigentlich die Fähigkeit zu selbstverantwortetem Handeln voraus, steht also in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zur sunnitischen Lehre vom Erwerb der Taten. Die durch Ibn ʿArabī propagierte Trostbotschaft von der Heilsbestimmtheit des Geschaffenen überdeckt diese Spannungen (siehe das Verborgene). Derwisch, siehe Pfad der Leute Dienstlehen – Bis ins 10. Jahrhundert war es in der islamischen Welt üblich geworden, den Herrschern geleistete Dienste nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich in Geld zu entlohnen. Stattdessen räumte man hochrangigen Bediensteten den Nießbrauch von Ländereien ein. Deren jährliche Erträge, die man im voraus veranschlagte, ergaben das Leistungsentgelt. Die ältere Form der Belehnung, die in einem Akt der Übereignung bestand, kam im 10. Jahrhundert außer Gebrauch. Von nun an wurde es gängige Praxis, daß der Lehensträger, sobald er, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Dienst ausschied, das Lehen verlor, über das der Herrscher dann anderweitig verfügte. In der Regel bestand das einer Person zugeteilte Lehen aus mehreren nicht miteinander zusammenhängenden Ländereien, so daß nicht nur wegen der ungewissen Dauer des Besitzes, sondern auch wegen dessen Zersplitterung das Streben der Inhaber nach wirtschaftlicher und somit militärischer und politischer Macht erheblich erschwert wurde. Allerdings veranlaßte die Unsicherheit des Besitzes die Lehensträger auch nicht dazu, mit langfristig wirkenden Maßnahmen für die Verbesserung oder wenigstens für den Erhalt der Produktionsverhältnisse zu sorgen. Diesseits/Jenseits – In Mohammeds ältesten Verkündigungen ist von einem Gericht am Ende der diesseitigen Welt die Rede. Die Welt wird zerstört werden, die Toten werden neu geschaffen, Allah wird sie aburteilen und entweder in das Paradies oder die Hölle verweisen. Daß diese Voraussagen bei den Mekkanern auf Unglauben stoßen, macht Mohammed großen Kummer. Der Gedanke, das Diesseits sei ein Ort der Bewährung für das Jenseits, tritt dabei in den Hintergrund. Wie der Gesandte Allahs seinen widerspenstigen Landsleuten am Beispiel untergegangener Völker zu zeigen versucht, werden die Ungläubigen, die an der Botschaft der unter ihnen berufenen Sprecher Allahs zweifeln, schon im Diesseits hart bestraft, noch

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härter dann im Jenseits (vgl. z. B. Sure 41, 16). In Medina, von wo aus Mohammed gegen Mekka Krieg führt, wird seinen Anhängern, die für seine Ziele kämpfen, dementsprechend reicher Lohn bereits für das Diesseits zugesagt (vgl. z. B. Sure 33, 26), der sich im Jenseits dank dem Eintritt in das Paradies um ein Vielfaches erhöhen wird. Die enge Verquickung von Religion und politischer Macht kommt in diesem Umstand zum Ausdruck und prägt den Islam bis heute. Der islamische Rationalismus der Zeit zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert betrachtete das Diesseits als das „Haus des Handelns“, dem er das Jenseits als das „Haus des Entgelts“ gegenübergestellte: Der Mensch sollte sich hier und aus eigener Kraft und in eigener Verantwortung bewähren und würde am Jüngsten Tag in Allah einen gerechten Richter finden. Für die Sunniten, mithin die große Mehrheit der Muslime, und auch für weite Teile der Schiiten bestimmt Allah nach unausrechenbarem Ratschluß nicht nur die Taten im Diesseits, sondern auch, unabhängig von diesen, das Jenseitsschicksal eines jeden Menschen. Nicht das diesseitige Handeln, sondern die Bezeugung des Islams, ermöglicht in dieser Sicht der Dinge den Gewinn von Macht und Reichtum auf Erden wie auch den Einzug ins Paradies. Dschinn – Die Dschinnen (Dämonen) sind laut Koran (Sure 55, 15) aus Feuer geschaffene, vernunftbegabte und im Regelfall unsichtbare Wesen. Sie können jedoch sichtbare Gestalten annehmen und z. B. als Hunde oder Schlangen auftreten. Auch in menschlicher Gestalt können sie sich zeigen. Mitunter stellen sie den Frauen nach, ja gehen sogar mit ihnen die Ehe ein, was für die Schariagelehrten die vieldiskutierte Frage nach der Rechtsgültigkeit solcher Verhältnisse aufwirft. Auch die Dschinnen sind verpflichtet, das göttliche Gesetz einzuhalten. Für die Menschen gelten im Umgang mit ihnen zum Teil besondere Regeln, die sich aus der feurigen Natur der Dschinnen ergeben. So kann eine Frau, die mit einem Dschinnen Beischlaf hatte, von der sonst hiernach notwendigen rituellen Waschung absehen, da es nicht zu einer Penetration und zu einem Samenerguß gekommen sein kann (Ibn Qaijim aš-Šiblīja, 119). Die Gegenwärtigkeit der Dschinnen im Alltag wird mithin für eine unbestreitbare Tatsache erachtet. So erregt es keine Verwunderung, daß Mohammed einst einer Schar Dschinnen gepredigt haben will (Sure 72). Übrigens ist es nach dem Beispiel Salomos (Sure 27, 17) dem Menschen möglich, sich mittels Magie die Dschinnen dienstbar zu machen. Über das Verhältnis, in dem die Dschinnen zum Satan bzw. zu den Teufeln stehen, finden sich in der islamischen Literatur widersprüchliche Angaben. Erwerb der Taten – Laut Sure 2, Vers 286, wird am Jüngsten Tag jedem vorgerechnet, was er an Taten zu seinen Gunsten und zu seinen Lasten „erworben“ hat. Da nach sunnitischem Dogma Allah alles Handeln bestimmt, kann kein eigenverantwortlicher „Erwerb“ von Jenseitsverdienst oder Jenseitsschuld gemeint sein. Von „Erwerb“ ist lediglich in dem Sinn zu sprechen, daß die durch Allah gewirkten Taten

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durch den betreffenden Menschen im Offenkundigen manifest werden und sich insofern auf seinem Jenseitskonto niederschlagen (siehe auch Vorherbestimmung). Gottesnarr, siehe Pfad der Leute ḥadīṯ, Ḥadīṯ, siehe Überlieferung Hierarchie der Gottesfreunde – Die mit dem Verborgenen Verbindung haltenden Gottesfreunde bilden eine Hierarchie, an deren Spitze der „Pol“ bzw. die „Achse“ (arab.: al-quṭb) steht. Den nächsten Rang nehmen dessen zwei „Imame“ ein. Ihnen folgen die fünf – oder vier, entsprechend den Himmelsrichtungen – „Zeltpflöcke“ (arab.: al-watad, Pl. al-autād) bzw. „Säulen“, dann die sieben „Unvergleichlichen“. Den fünften Rang haben die vierzig „Ersatzmänner“ (arab.: al-badal, Pl. al-abdāl) inne, den sechsten die siebzig „Erlesenen“, den siebten die dreihundert „Obmänner“, den achten die fünfhundert „Krieger“. Für die „Weisen“ im neunten und die „Raǧab-Männer“ im zehnten werden keine Zahlen überliefert. – Der Raǧab, der siebte Monat des arabischen Kalenders, galt schon in vorislamischer Zeit als heilig. – Je auf unterschiedliche Art fördern die Angehörigen dieser Hierarchie die diesseitige Wirksamkeit der göttlichen Fügung. Die Vertreter einiger Ränge werden vorzugsweise in bestimmten Regionen vermutet, so etwa die „Ersatzmänner“ in Syrien, die „Erlesenen“ in Ägypten, die „Krieger“ im Irak. Der Vertreter eines Ranges kann in den nächsthöheren aufrücken, sofern dort ein Platz frei wird. Man darf sich freilich nicht vorstellen, daß es möglich gewesen wäre, in irgendeinem formalisierten Verfahren den Rang eines Gottesfreundes in dieser Hierarchie zu ermitteln. Es handelt sich um vage, vielfach vermutlich spontan ausgesprochene Zuschreibungen. Überdies ist die Hierarchie mit den obigen zehn Stufen nicht vollständig erfaßt, wie das Beispiel der von aš-Šaʿrānī so sehr respektierten „Wachhabenden“ zeigt. Die Reihenfolge der wichtigsten Ränge, des „Pols“, der „Zeltpflöcke“, der „Ersatzmänner“ wird zu seiner Zeit aber zum Allgemeingut des gelebten islamischen Glaubens gehört haben. Islam – „Sich dem Willen Allahs unterwerfen“, so oder ähnlich wird der Begriff Islam meist ins Deutsche übertragen. Diese Wiedergabe impliziert bereits die im Laufe der frühen Geschichte eingetretene Verengung des Inhalts der koranischen Botschaft auf ein rein deterministisches Gottesverständnis, das seine Erfüllung im unkritischen Gehorsam gegenüber einer unübersehbaren Anzahl – wie man meint, gottgegebener – Verhaltens- und Denknormen findet. Grammatisch betrachtet, ist die obige Wiedergabe des Wortes Islam im übrigen falsch; denn islām ist das Verbalnomen des transitiven Verbums aslama, das im Koran zusammen mit dem direkten Objekt „das Gesicht“ und mit dem indirekten Objekt „Allah“/„ihm“ verbunden wird. „Allah das Gesicht zuwenden“, und zwar ausschließlich ihm, das drückt das Verbum aslama im Koran aus. Mohammed meint damit die das Heil erschließende Bezeugung, daß Allah die einzige eigenständige Wirkkraft ist, die das ganze Diesseits in jedem Augenblick des Vorhandenseins bestimmt. Diese Bezeugung hat

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in eine uneingeschränkte Dankbarkeit gegenüber Allah zu münden, die der Mensch als Muslim – das Partizip aktiv von aslama – im Vollzug der Pflichtriten unablässig zu bekunden hat. Die im Koran bereits greifbaren Ansätze einer Einbeziehung sämtlicher Lebensregungen des Menschen in einen reglementierten Daseinsvollzug nach Maßgabe jener Bezeugung entwickelten sich seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert mit außerordentlicher Intensität und führten dazu, daß man islām im Sinne einer vollkommenen Unterwerfung des Individuums unter den Willen Allahs verstehen lernte, einen Willen, der sich einerseits in der allumfassenden Vorherbestimmung jeglichen diesseitigen Geschehens kundgibt, andererseits im ewigwahren göttlichen Gesetz, der Scharia. Kalām – Kalām, wörtlich Diskurs, nennt man die im 8. Jahrhundert aufkommende rationale Durchdringung der islamischen Glaubenslehren. Seine Blütezeit erlebte der kalām im 9. und 10. Jahrhundert. Die Erfassung des Wesens des geschaffenen, diesseitigen Seins und des ungeschaffenen jenseitigen ewigen, göttlichen Seins in ihrem Verhältnis zueinander sowie die physische bzw. metaphysische Verfaßtheit des Diesseits und die daraus folgenden Handlungsmöglichkeiten des Menschen bildeten die Hauptgegenstände des kalām. Koran – Der Koran, wörtlich: die (liturgische) Lesung, enthält in 114 Kapiteln, den sogenannten Suren, die Verlautbarungen Mohammeds, die dieser als die unmittelbare Rede Allahs über einen Zeitraum von etwa 23 Jahren (ca. 609 – 632) verkündete. Die Niederschrift einzelner dieser Texte begann schon vor der Hedschra. In Medina griff Mohammed in die niedergeschriebenen Texte immer wieder ein und ergänzte sie nach den aktuellen religiös-politischen Bedürfnissen. Außerdem erweiterte er sie um ein Mehrfaches, da er sich nunmehr als der zu den arabischen Heiden gesandte Prophet berufen fühlte, diesen die von Allah selber stammende Ritual- und Lebensordnung zu übermitteln. Kurz nach seinem Tod begann man mit der Zusammenstellung dieser Texte, deren heute gültige Anordnung mit dem Namen ʿUṯmān b. ʿAffāns, des dritten Kalifen, verbunden ist. Bereits im 8. Jahrhundert entbrannten die theologischen Auseinandersetzungen über den Seinscharakter des Korans: Gehört er als Allahs Wort dem geschaffenen, diesseitigen Sein an, ist folglich geschichtlich und daher einer innerweltlich argumentierenden Auslegung zugänglich? Dies jedenfalls lehrten die Muʿtaziliten. – Oder ist er gar durch die ʿAlī, dem Vetter und Schwiegersohn Mohammeds, feindlich gesonnenen Prophetengenossen verfälscht worden, wie nicht wenige Schiiten meinen, finden sie im Koran doch keinen Hinweis auf die angeblich von Allah gewünschte Herrschaft der „Prophetenfamilie“! – Oder ist der Koran als Allahs unmittelbare Rede ewig und ungeschaffen wie Allah selber? Dies behaupten die Sunniten; nach ihrer Auffassung ist in Form der koranischen Rede das Transzendente in einer schwer auf den Begriff zu bringenden Weise in dieser Welt gegenwärtig. Da es sich um Allahs ewig-wahre Rede handelt, kann sie auch nicht unter Zugrundelegung

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diesseitiger Gegebenheiten ausgelegt werden, sondern allenfalls nach Maßgabe des ḥadīṯ, dessen Inhalt sich ja auch der göttlichen Inspiration verdankt, deren Mohammed teilhaftig war. In diesem Verständnis vom Koran hat die sunnitische Ablehnung jeglicher Historisierung der islamischen Heilsbotschaft ihren Grund. Licht – In Sure 24, Vers 35, wird Allah als das „Licht der Himmel und der Erde“ bezeichnet. Die Menschen nähmen nur den Widerschein dieses Lichtes wahr, das erstrahlt, ohne daß es durch ein Feuer hätte entzündet werden müssen (vgl. BaşolGürdal: „Allah ist das Licht von Himmel und Erde“). Im Rahmen der Abklärung des Wesens und der Funktion des Verborgenen verwendet al-Ġazālī in seiner Abhandlung Die Nische der Lichter den im erwähnten Koranvers enthaltenen Gedanken der Existenz eines nicht den Seinsbedingungen des Offenkundigen unterworfenen – das Licht erstrahlt, ohne durch Feuer entzündet zu sein – Lichts, um die „schauende“, die Sinneswahrnehmungen hinter sich lassende Erkenntnisweise begreiflich zu machen. Die Weisheit, die das Schöpfungshandeln Allahs und im gleichen Maße dessen gesetzgeberisches Vorgehen bestimmt, enthüllt sich nicht dem Sinnesorgan Auge, sondern dem von allen physikalischen Voraussetzungen freien „Schauen“; dieses vermag das übersinnliche Licht zu erfassen (Elschazli: Die Nische der Lichter; OV, 213 – 221). Dieses übersinnliche Licht meint auch Ibn ʿArabī, wenn er den Vorgang der fortwährenden Schöpfung mit dem Aufleuchten des Nichtseienden im von Allah ausgehenden Leuchten verdeutlicht. Er hat hierbei keineswegs die „Physik“ des Diesseitigen, Offenkundigen im Sinn. Mamluken – Das arabische Wort mamlūk bedeutet „sich in jemandes Eigentum befindend“ und bezeichnete seit dem frühen 9. Jahrhundert als Gardisten eingesetzte Kriegssklaven. Diese waren damals vorwiegend innerasiatischer Herkunft und türkischen Volkstums. Die Geschichte der Mamlukenherrschaft in Ägypten sowie in Palästina und Syrien beginnt in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Der letzte Aijubide in Kairo, al-Malik aṣ-Ṣāliḥ (reg. 1240 – 1249), rekrutierte eine größere Anzahl von Mamluken in den Steppengebieten des heutigen Südrußland und kasernierte sie auf der Nilinsel ar-Rōḍa. In den Wirren des Unterganges der Aijubiden entwickelten sich die Anführer dieser Truppen zu den eigentlichen Herren des Landes. Nachdem eine mamlukische Streitmacht 1260 in Palästina den vordringenden Mongolen Einhalt geboten hatte, vermochte sich, das aus diesem Erfolg resultierende Prestige nutzend, der Mamluke Baibars (reg. 1260 – 1277) gegen Rivalen durchzusetzen. Er schwang sich zum Herrn über Ägypten und die Levante auf. Mit ihm beginnt die zweieinhalb Jahrhunderte währende Herrschaft der mamlukischen Militärkaste, die sich von der einheimischen Bevölkerung absonderte und sich durch den stetigen Aufkauf von weiteren Militärsklaven aus den genannten Gebieten sowie aus dem Kaukasus fortpflanzte (vgl. Haarmann: Das Herrschaftssystem der Mamluken).

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Muʿtazila – Muʿtaziliten nennt man ab dem ausgehenden 8. Jahrhundert eine den kalām betreibende Strömung, die das Gedankengut der Qadariten weiterentwickelt und in die Lehre faßt, Allah beurteile alle Taten des Menschen in strenger Gerechtigkeit. Denn das Diesseits sei so konditioniert, daß der Mensch in eigener Verantwortung seine Handlungen zu bestimmen habe. Dementsprechend betonten die Muʿtaziliten die Transzendenz Allahs und seine seinsmäßige Verschiedenheit von der durch ihn geschaffenen Welt. Diese Verschiedenheit sei vor allem darin zu erkennen, daß er durch und durch Einer, gleichsam homogen und nicht aus unterschiedlichen Gegebenheiten zusammengesetzt sei (vgl. Sure 112), wie dies für alles Geschaffene gelte. Dem geschaffenen Sein gehöre selbstverständlich auch der Koran an, die Rede Allahs, und ein Merkmal dieser Geschaffenheit der Rede Allahs liege darin, daß ihr Inhalt auf die geschichtliche und zivilisatorische Situation des Arabien des frühen 7. Jahrhunderts zugeschnitten sei. Die Muslime seien daher nicht nur befugt, sondern geradezu gehalten, die Lehren des Korans, die sie im grundsätzlichen auch durch eigene Überlegung finden könnten, unter Berücksichtigung der sich wandelnden Lebensumstände zu modifizieren. Dazu bedürften sie weder der autoritativen Überlieferung vom vermeintlich normsetzenden Vorbild Mohammeds noch des Charismas der Prophetenfamilie. Die Muʿtazila ist bis auf wenige Reste schon im 11. Jahrhundert untergegangen. Versuche, ihr Gedankengut in der neuesten Zeit wiederzubeleben, schlugen fehl. Offenkundige, das siehe das Verborgene Pfad der Leute – Der Begriff „Pfad“ (arab.: aṭ-ṭarīqa) meint im frömmigkeitsgeschichtlichen Sinn zunächst die innere Entwicklung des ritentreuen Muslims zu einer den Vollzug der religiösen Pflichten übersteigenden Hingewandtheit zu Allah, zur Vollendung des islām in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. Auf diesem Pfad sind unterschiedliche Stationen, „Standplätze“, zu passieren, deren spezifische Frömmigkeitshaltung sich der „Wandernde“ wie ein unveräußerliches Eigentum anerziehen soll – es werden unter anderem genannt: Gehorsam gegen Allah, Liebe zu ihm, Verinnerlichung der vollständigen Abhängigkeit von ihm. Mit Bezug auf den letzteren „Standplatz“ wird der „Wandernde“ als „Bedürftiger“ apostrophiert, auf arabisch faqīr, persisch darwīš (=Derwisch). Auf jedem dieser „Standplätze“ können ihm „Zustände“, spirituelle Erlebnisse der Berührung mit dem Transzendenten, widerfahren, die, der Ambivalenz numinosen Erlebens entsprechend, beispielsweise als Beklemmung oder Erheiterung, Trunkenheit oder Ernüchterung, schließlich als Entwerden in Allah und als Bleiben in ihm beschrieben werden. Ab dem 10. Jahrhundert bildeten sich Gemeinschaften, ebenfalls „Pfad“ genannt, deren Mitglieder sich um einen erfahrenen Meister scharten und unter seiner Anleitung die Frömmigkeitserziehung zu durchlaufen hofften. In diesen Gemeinschaften entwickelte sich eine Art der Formalisierung der geschilderten religiösen Vertiefung; Gemeinschaftsriten, Grade der Eingeweihtheit, Gehorsam

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gegenüber dem Meister, bestimmte Pflichten gegenüber den Brüdern wurden festgelegt. Außerhalb des „Pfades“ blieben nun die „Gottesnarren“, Personen, von denen es hieß, sie seien unvermittelt zu Allah „hingezogen“ (arab.: maǧḏūb) worden. Vielfach handelte es sich bei ihnen um Außenseiter, wohl auch um Geistesgestörte, die man eben wegen dieser Anomalität fürchtete. Prophetengefährten – Alle Personen, die nach der Berufung Mohammeds zum Propheten mit ihm in Kontakt kamen, sind nach sunnitischer Auffassung dank ebendiesem Kontakt, und wäre er noch so flüchtig und belanglos gewesen, aus der Masse der übrigen Menschen herausgehoben: Sie erlebten die von ihm ausstrahlende durch Allah gewirkte Rechtleitung. Im Zuge der Herausbildung des Sunnitentums verfestigte sich die Auffassung, daß alle „Genossen“ des Propheten, insbesondere jene, deren Lebensschicksal eng mit dem seinigen verknüpft gewesen war, ununterbrochen und spontan nach dem durch Mohammed verkörperten Willen Allahs geredet und gehandelt hätten. Deswegen seien sie Bürgen für jene vom Heil geprägten Lebensverhältnisse, die unmittelbar der göttlichen Rechtleitung unterworfen gewesen seien. Ohne das Zeugnis der Prophetengenossen wäre mithin die große Aufgabe alles irdischen muslimischen Strebens, die Wiedererrichtung der Urgemeinde, nicht zu lösen. Mit dem Tode Mohammeds sei nämlich die Periode unmittelbarer göttlicher Rechtleitung zu Ende gegangen. Es sei ein Heilsverlust eingetreten, der durch die strenge Beachtung des Korans sowie des Vorbildes Mohammeds und der spontanen lebenspraktischen Ausdeutung dieses Vorbildes durch die Prophetengefährten aufgehalten, womöglich sogar wettgemacht werden könne. Qadariten – Qadariten nannte man eine um 700 aufgekommene theologische Richtung, die dafür plädierte, dem Menschen eine eigene Bestimmungsmacht (arab.: al-qadar) zuzuerkennen und nicht allein Allah eine solche vorzubehalten. Die Qadariten widersetzten sich damit der muslimischen Mehrheitsmeinung, die eindeutig prädestinatianisch war. Politisches Gewicht erlangten die qadaritischen Lehren insofern, als aus ihnen folgte, daß die islamischen Herrscher sich bei ihren Anordnungen nicht einfach auf Allahs unauslotbaren Ratschluß berufen und damit einen bedingungslosen Gehorsam einfordern durften, sondern ihre Anordnungen vor den Untertanen rechtfertigen sollten. Das Qadaritentum ging nach 800 in der Muʿtazila auf. Riten – Islam meint im wörtlichen Sinn die unbedingte Hinwendung des Gesichts zu Allah, dem Schöpfer: Der gesamte Daseinsvollzug des Muslims soll in dem Bewußtsein erfolgen, daß er alles Allah verdankt und nichts aus sich selber heraus zu bewirken vermag. Die Riten dienen dazu, diese Erkenntnis der vollständigen Angewiesenheit auf Allah und der hieraus resultierenden Dankesschuld ihm gegenüber auf Dauer zu stellen und fortwährend zu vergegenwärtigen. Das fünfmal am Tag zu verrichtende rituelle Pflichtgebet (arab.: aṣ-ṣalāh) – ob es schon zu Mohammeds Zeit fünfmal täglich ausgeübt werden mußte, ist umstritten – ist der

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Hauptritus und der Inbegriff der aus der koranischen Botschaft vom unablässig wirkenden Schöpfergott (Sure 2, 255 und 55, 29) folgenden lebenspraktischen Konsequenzen. Auch die übrigen drei Pflichtriten verweisen auf die vollständige Abhängigkeit des Muslims von Allah: Die Läuterungsgabe (arab.: az-zakāh) erinnert ihn daran, daß der ganze Lebensunterhalt (arab.: ar-rizq) ihm durch Allah zugemessen wird, und sühnt den Frevel, der darin liegt, sich um eine von Allah nicht vorgesehene Vermehrung zu bemühen; das Fasten (arab.: aṣ-ṣaum) soll die Einsicht in die völlige Abhängigkeit von Allah vertiefen; die Wallfahrt (arab.: al-ḥaǧǧ) nach Mekka wiederholt am heiligen Ort die den Islam ausmachende Einsicht in das alles bestimmende schöpferische Handeln Allahs und in die unabtragbare Dankesschuld des Menschen. Scharia – Mit Scharia bezeichnet man die Gesamtheit der von Allah erlassenen den Daseinsvollzug des Menschen beurteilenden Bestimmungen. Nach einem Korankommentar des 10. Jahrhunderts hatte man hierunter das Ritualrecht, das Recht der Beziehungen der Menschen untereinander und das Strafrecht zu verstehen, also alles, was ein Gegenstand der islamischen Rechtspflege ist. Bald danach wurde der Begriff auf sämtliche Verhaltens- und Denkweisen des Menschen ausgeweitet, so daß es keinen Bereich des Daseins mehr gibt, der nicht der Bewertung durch die Scharia unterläge. Diese Bewertung erfolgt in aller Regel nach dem Gesichtspunkt des diesseitigen Nutzens für die islamische Gemeinschaft, der, sofern er nicht unmittelbar durch die islamische Rechtspflege erzwungen werden kann, zumindest durch die Androhung von Jenseitsstrafen sichergestellt werden soll. Im Koran kommt das Wort einmal vor (Sure 45, 18) und bezeichnet den Mohammed zugewiesenen Weg, der den jüdischen ablöst. Erst im späten 8. Jahrhundert bricht sich im Sunnitentum – dann in abgewandelter Form auch bei den Schiiten – die Überzeugung Bahn, daß der Koran und die Überlieferung teils offen, teils noch verhüllt, ein allumfassendes Gefüge gottgegebener, ewig gültiger Normen enthielten, entsprechend denen die Gesellschaft und die islamische Machtausübung zu modellieren seien. Die wesentliche Aufgabe der Rechtsgelehrten bestehe nicht darin, den juristischen Sachverstand zu schulen, sondern im Gegenteil diesen mehr und mehr zugunsten der immer weiter aus Koran und Überlieferung zu erschließenden göttlichen Gesetzgebung, der Scharia, zurückzudrängen. Die Scharia läßt sich demgemäß nicht in Codices oder Paragraphenwerken zusammenfassen. Sie ist vielmehr die Dokumentierung der in einschlägigen, seit Jahrhunderten immer wieder überarbeiteten Handbüchern geführten Debatte über die Entbergung des göttlichen Gesetzeswillens. Diese Debatte wird unter der Prämisse betrieben, daß der bei weitem größte Teil des göttlichen Gesetzeswillens klar zutage liege. Freilich wandte man in den sogenannten Rechtsschulen je unterschiedliche Methoden der Ermittlung schariatischer Normen an, was im Einzelfall zu höchst widersprüchlichen Ergebnissen führen konnte. Gegenwärtig ist man bestrebt, unter Hintanset-

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zung der methodischen Differenzen zu einheitlicheren schariatischen Normen zu gelangen. Schöpfung – Nur in einigen wenigen Reminiszenzen kennt der Koran die beiden biblischen Schöpfungsberichte (z. B. Sure 7, 54– 59 und Sure 10, 3). Die islamische Schöpfung ist kein Sechstagewerk, sondern dauert an, solange das Diesseits besteht: Allah hat die Welt aus dem Nichts geschaffen und sich danach sogleich auf seinen Thron gesetzt, um sie mittels seiner Fügung (arab.: al-amr) zu regieren, d. h. ihr fortlaufendes Geschick bis in alle Einzelheiten zu schaffen, so wie er dieses vor aller Zeit auf einer Schreibtafel (Sure 85, 22) festgehalten hat. Nie erfaßt ihn Müdigkeit (Sure 2, 255), immer ist er tätig (Sure 55, 29). Daß er gemäß seinem souveränen Ratschluß Regen herabsendet, Pflanzen aus der Erde hervorsprießen, aber auch wieder verdorren läßt, daß er die Tiere schafft und jeden einzelnen Menschen, den er im Mutterleib heranwachsen macht, das und vieles mehr sind laut Mohammed die Zeichen seines ununterbrochen ins Werk gesetzten Schöpfertums. Dessen Früchte sind für den Menschen gedacht, der, sie genießend, mit dem islām im eigentlichen Sinn und mit dem eifrigen Vollzug der Pflichtriten seinen Dank zu bekunden hat. Dies zu unterlassen, ist daher als Unglaube zu werten, den Allah häufig im Diesseits, gewiß aber im Jenseits schwer bestrafen wird. Seele – Der deutsche Begriff Seele hat im Arabischen keine vollkommene Entsprechung. Am nächsten kommt ihm das arabische Wort nafs, das im Koran zwei Bedeutungsfelder abdeckt: 1. Es bezeichnet das reflexive „sich selber“, im Plural auch in dem Sinn von „die Angehörigen der eigenen Gemeinschaft“ (vgl. Sure 2, 54); 2. Es steht für die immaterielle Gegebenheit, die den Menschen ausmacht und die ihm im Augenblick des Sterbens entrissen wird (vgl. Sure 6, 93). Der „Seele“ in dieser Bedeutung werden im Koran unterschiedliche Neigungen nachgesagt. So stachelt sie die fleischliche Begierde an und wird deshalb als böse bewertet (Sure 12, 53) und hat an allem, was der Mensch unternimmt, etwas auszusetzen (Sure 75, 2), ist aber, sobald sie ihre Schwächen abgelegt hat und „islamisiert“ worden ist, wegen ihrer nunmehrigen Glaubenszuversicht im Paradies willkommen (Sure 87, 27– 30). In der vom islamischen Rationalismus verfochtenen atomistischen Metaphysik wird auch die Seele dem Substanz-Akzidens-Schema unterworfen, gilt z. B. als ein einer Substanzpartikel inhärierendes Akzidens. Sie ist demgemäß durch Allah je eigens für jeden Menschen geschaffen gleichwie der Leib und erleidet deswegen auch dessen Schicksal: Tod, Grabespein usw. Quer hierzu stand die in den Islam eindringende antike Überlieferung, die in der Seele eine unkörperliche, nicht dem Leib verhaftete Gegebenheit erkannte. Während der Lebenszeit des Menschen ist sie in dessen Körper gebannt und lenkt diesen, im Augenblick des Todes aber scheidet sie von diesem Körper ab und vereint sich wieder mit der Allseele, der sie entstammte. Angeregt von Avicenna (gest. 1037), sprach al-Ġazālī (gest. 1111) daher von der Seele als von einer „geistigen Substanz“ (arab.: ǧauhar rūḥānī), die mit dem Körper weder

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verbunden, noch von ihm getrennt sei. Sie wird demnach von der atomistischen Metaphysik überhaupt nicht erfaßt. In diesem Zusammenhang kommt ein zweiter koranischer Begriff ins Spiel, derjenige des Geistes (arab.: ar-rūḥ). Geist – nicht: Lebensodem – ist es, was Allah Adam einhaucht (Sure 15, 29), und dieser Geist ist der Träger des göttlichen „Wissens“, das als Allahs Fügung (Sure 40, 15) unablässig in die Schöpfung hineinströmt und sie zu dem gestaltet, was sie ist, und das zugleich die Kenntnis des göttlichen Gesetzes vermittelt (Sure 26, 193). Dieser Geist, der laut Koran (Sure 17, 85) ein Teil der göttlichen Fügung ist, darf freilich nicht mit der avicenna’schen Seele gleichgesetzt werden. Er übernimmt vielmehr die Aufgabe, die triebhafte, tadelsüchtige Seele durch Unterweisung im göttlichen Gesetz zur zuversichtlichen zu veredeln, wie dies beispielsweise in dem vielgelesenen Werk Die Gnadengeschenke der Erkenntnisse des Sunniten ʿUmar as-Suḫrawardī (gest. 1234) geschildert wird (OV, 396 – 422). Diese Vorstellungen, in die hier nicht zu erörterndes antikes Gedankengut eingeflossen ist, bilden eine wesentliche Voraussetzung der Debatten über den verborgenen Seinsbereich göttlicher Souveränität (arab.: ʿālam al-malakūt) und dessen Identifizierung mit dem das schöpferische und das gesetzgeberische Handeln Allahs uranfänglich repräsentierenden Mohammed, dem „vollkommenen Menschen“. Standplatz, siehe Pfad der Leute Sultan – Im Koran bedeutet as-sulṭān eine durch Allah dem Menschen übertragene Vollmacht: So lehnt Abraham den Götzenglauben nicht deswegen ab, weil er dessen Nichtigkeit erkannt hätte. Der Götzenglaube ist vielmehr verboten, weil Allah den Menschen zu seiner Ausübung keine Vollmacht erteilte (Sure 6, 81). Im 11. Jahrhundert entwickelt sich das bis dahin bereits im Sinne von Herrschermacht gebrauchte as-sulṭān zu einem Herrschertitel. Er bezeichnet einen Machthaber, der bekundet, sein Amt streng nach Maßgabe der Scharia und somit zum Zwecke der Förderung der Belange des Islams auszuüben. Der abbasidische Kalif in Bagdad, dank seiner Herkunft aus der männlichen Verwandtschaft Mohammeds von den Sunniten als oberster Herr des muslimischen Gemeinwesens anerkannt, legitimiert im Idealfall einen jeden Sultan, indem er diesen zu einem mit unbegrenzten Befugnissen versehenen Statthalter ernennt. Diesen Brauch hielten auch die aus dem Stand der Militärsklaven aufsteigenden Mamlukenführer fest. Sie setzten einen – angeblichen? – Nachfahren der 1258 von den Mongolen vernichteten Bagdader Abbasiden zum Kalifen in Kairo ein und gründeten hierdurch die abbasidische Kalifendynastie aufs neue. Die wichtigste Aufgabe der Kaironer Abbasiden bestand in der Legitimierung der Herrschaft des jeweils aus dem mamlukischen Militär hervorgehenden Sultans. In den übrigen Regionen der islamischen Welt wurde „Sultan“ nach dem Ende der Bagdader Abbasiden zu einem weit verbreiteten Wort für Machthaber, die sich keinem anderen islamischen Herrscher zu beugen hatten. Die Legitimierung durch einen Kalifen wurde nicht mehr vorausgesetzt. In diesem

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Sinne gebrauchten die Osmanen den Begriff seit dem 14. Jahrhundert. Anders als die Mamlukensultane in Kairo, bei denen sich eine dynastische Thronfolge lediglich in schwachen Ansätzen herausbildete, weshalb sie der Legitimierung durch einen Kalifen dringend bedurften, schrieben sich die Osmanen eine lange Ahnenreihe zu und behaupteten, ihr Ahnherr Osman sei durch Allah zur Herrschaft ausersehen worden. Sie verzichteten daher auf eine religiöse Legitimierungsinstanz. Sunniten – Als Sunniten bezeichnet sich die islamische religiös-politische Richtung, die nach ihrer Überzeugung nicht nur den Koran, sondern auch die sunna, die Gesamtheit der mohammedschen Lebens- und Denkformen der medinensischen Urgemeinde, bewahrt und zum verpflichtenden Maßstab jeglichen Handelns und Meinens erhoben hat. Diese sunna sei in der Überlieferung, im ḥadīṯ, zugänglich. Das Sunnitentum bildete sich seit der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert heraus und stand zunächst in einem religiös begründeten politischen Widerstreit zum omaijadischen wie auch zum abbasidischen Kalifat. Nur einzelne Kalifen – z. B. der Omaijade ʿUmar b. ʿAbd al-ʿAzīz (reg. 717– 720) und der Abbaside al-Mutawakkil (reg. 847– 861) – versuchten, die Anführer des Sunnitentums mit der institutionalisierten Machtausübung zu versöhnen. Erst seit dem Abbasiden al-Qādir (reg. 991– 1031), der 1018 in einer Verlautbarung das Sunnitentum, hinter dem damals vermutlich schon die Mehrheit der Muslime stand, zu einer Art staatstragender Ausprägung des Islams erklärte, ist es fast durchweg mit den mannigfaltigen Erscheinungsformen islamischer Machtausübung verbunden. Die Sunniten selber betrachten sich in unhistorischer Weise als die eigentlichen Erben der medinensischen Urgemeinde; Schiiten und Charidschiten seien Abspaltungen vom wahren, sunnitischen Islam. Überlieferung – Der Islam hat eine ihm eigentümliche Literaturgattung entwickelt, die nach dem Glauben der Sunniten in authentischer Weise das Reden und Handeln Mohammeds wiedergibt und auch darlegt, welche Worte und Taten anderer der Prophet stillschweigend gebilligt habe. Diese in ihrer Gesamtheit als ḥadīṯ bezeichnete Literatur, deren Anfänge bis ins späte 7. Jahrhundert zurückreichen, zerfällt in unübersehbar viele meist kurze Einzeltexte, die ebenfalls Ḥadīṯ genannt werden (zur Unterscheidung von der Gattung schreibe ich sie mit großem Ḥ). Ein solcher Einzeltext besteht aus dem sogenannten isnād, der Kette der Gewährsmänner, die möglichst bis zum Propheten selber hinaufführen sollte, und aus dem matn, dem eigentlichen Text. Die ältesten Sammlungen stellen dieses Material nach dem ersten Glied des isnād nächst dem Propheten zusammen; Werke dieser Anordnung nennt man musnad. So enthält der musnad Aḥmad b. Ḥanbals (gest. 855) zuerst alle Ḥadīṯe, als deren frühester Bürge Abū Bakr genannt wird, dann diejenigen, die auf ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb zurückgehen sollen, usw. für Hunderte von Prophetengefährten. Seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert setzte sich dann eine Gliederung der Überlieferung nach Sachgebieten durch, worin sich das Eindringen des

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durch das ḥadīṯ vermittelten Gedankenguts in das Alltagsleben der Sunniten bekundet. Die Prophetenüberlieferung, deren Authentizität bei historisch-kritischer Betrachtung höchst anfechtbar ist, erfüllt in sunnitischer Sicht nicht nur den Zweck, neben dem als Allahs eigene Rede geltenden Koran über die gottgewollten und daher zu befolgenden Normen, Verhaltensweisen und Denkmuster zu unterrichten. Vielmehr soll darüber hinaus mittels regelgerechter Wiedergabe des ḥadīṯ die von Heil erfüllte Zeit der Urgemeinde den Spätgeborenen erfahrbar gemacht werden. So sind bis ins 20. Jahrhundert öffentliche ḥadīṯ-Lesungen zur Abwehr von Notlagen bezeugt. – Das Schiitentum hat eine dem sunnitischen ḥadīṯ sowohl dem Inhalt wie der Form nach eng verwandte Literaturgattung hervorgebracht. Als Bürgen des Stoffs fungieren hier ʿAlī b. abī Ṭālib und einige Prophetengefährten, die sich im Ersten Bürgerkrieg (656 – 660) auf dessen Seite gestellt hatten, sowie Nachkommen ʿAlīs. Da diesen wegen der Abstammung von Mohammed eine übermenschliche Einsicht in das göttliche Gesetz zugeschrieben wird, braucht – anders als bei den Sunniten – nicht jede diesbezügliche Aussage auf den Propheten selber zurückgeführt zu werden. Verborgene, das – Der durch Allahs fortwährendes Schöpfungshandeln in Gang gehaltene und in jeglicher Hinsicht determinierte Kosmos zerfällt in zwei Seinsbereiche, den offenkundigen und den verborgenen. Der offenkundige ist die Welt, die wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen, der verborgene ist allein durch ein Schauen erfaßbar, das die Sinneswahrnehmung übersteigt. Es wird in den Quellen sehr oft auch als „Schmecken“ (arab.: aḏ-ḏauq) charakterisiert. Der Gedanke, es gebe jenseits des Offenkundigen (arab.: aš-šāhid) einen verborgenen (arab.: al-ġāʾib) Seinsbereich, wird schon im Koran erwähnt: An die Existenz des Verborgenen zu glauben, ist Pflicht (Sure 2, 3). Bis ins 11. Jahrhundert wird die islamische Theologie vom Problem des Gegensatzes zwischen dem „schaffenden“ (arab.: ḫāliq) göttlichen und dem „geschaffenen“ (arab.: maḫlūq) kreatürlichen Sein beherrscht. Das Konzept eines verborgenen, zwar auch geschaffenen, aber der Sinneswahrnehmung unzugänglichen Seinsbereichs rückte angesichts des schroffen Gegensatzes zwischen „schaffend“ und „geschaffen“ in den Hintergrund. Erst als durch den sunnitischen Determinismus, der dem „schaffenden“ Allah logischerweise auch das Böse zuschreiben mußte, der Sinn der Belastung mit der Scharia ad absurdum geführt worden war, erwies sich die Unterteilung des Geschaffenen in einen offenkundigen und einen verborgenen Bereich als hilfreich und nützlich. Hinter dem verwirrenden, vielfach unheilvoll erscheinenden Offenkundigen liege das nur dem Schauenden erschließbare Verborgene. Er erkenne dort, nicht durch den Schleier des sinnlich Wahrnehmbaren behindert oder gar irregeführt, die durch übermenschliche Weisheit ausgezeichnete göttliche Lenkung des Schöpfungsprozesses. Was den im Offenkundigen Befangenen als widersinnig, womöglich sogar als böse anmutet, enthüllt dem Schauenden eine tiefgründige Weisheit. Daher vermochte al-

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Ġazālī (gest. 1111) festzustellen, daß diese Welt die beste aller möglichen sei. Ibn ʿArabī (gest. 1240) gelangte zum Glauben an die unaufhebbare Heilsbestimmtheit des Geschaffenen und betrachtete sich wegen dieser Einsicht als den Vollender des Islams. Die Unterscheidung zwischen dem offenkundigen und dem verborgenen Seinsbereich rettete somit den Islam als eine Gesetzesreligion, die zugleich die Vorherbestimmtheit des Handelns des Menschen behauptet. Vorherbestimmung – Für Mohammed war es eine ausgemachte Sache, daß es allein an Allah liegt, ob jemand zum Islam findet oder nicht (Sure 6, 125; 7, 177 f.). Nur von wem Allah es will, daß er den rechten Weg wandele, der wolle das auch selber (Sure 76, 29); und beim Sieg von Badr waren es nicht Mohammed und die Muslime, die schossen, sondern in Wirklichkeit schoß Allah (Sure 8, 17). Eigene Leistungen des Muslims kennt der Koran nur im Zusammenhang mit dem ertragreichen „Darlehen“, das die Gläubigen Allah geben, indem sie sich in seinem Interesse dem Dschihad widmen (Sure 9, 111; 73, 20). Allein in diesem Fall erscheint der Gedanke an eine Werkgerechtigkeit und ein selbstverantwortetes Handeln. Auch in frühen nachkoranischen Texten dominiert die Vorherbestimmung unangefochten: „Was dich trifft, hätte dich nicht verfehlen können.“ Der Glaube an Allahs allzuständige Bestimmungsmacht wird schon damals zu den Grundelementen des Islams gezählt. Das „gute Handeln“ wird dabei mit der Gottesfurcht gleichgesetzt und meint in der Regel kein an einer innerweltlich argumentierenden Ethik orientiertes Wirken, sondern den gewissenhaften Vollzug der Riten. Die Qadariten und als deren Erben die Muʿtaziliten schrieben hingegen dem Menschen ein selbstverantwortetes Handeln zu, hatten aber Schwierigkeiten, diese These durch Koranverse zu untermauern. Letzten Endes folgte die Handlungsfreiheit des Menschen aus der muʿtazilitischen Seinslehre und aus deren Einbettung in das Dogma von der Geschaffenheit des Korans, mithin von der Geschichtlichkeit und Diesseitsbezogenheit der göttlichen Botschaft: Keinesfalls verkündete dieser übergeschichtliche Wahrheiten, vielmehr war in ihm lediglich ein auf das Arabien des frühen 7. Jahrhunderts zugeschnittener Mahnruf Allahs zu sehen. Allah habe die Araber aufgefordert, unter Erwägung seines rational erfaßbaren Schöpfungshandelns die jeweils zuträglichen Normen zu ermitteln und aus eigener Anstrengung zu befolgen, um dementsprechend von Allah im Endgericht beurteilt zu werden. Im Sunnitentum – desgleichen in weiten Teilen der Schia – hielt man dagegen an der Vorherbestimmung fest. Sich die muʿtazilitische Metaphysik aneignend, argumentierten die Aschʿariten, der Mensch beobachte zwar, wie von ihm selber Handlungen ausgingen; gleichwohl sei er nicht deren Urheber, denn die Fähigkeit, eine Handlung zu vollziehen, schaffe Allah genau in dem Augenblick, in dem diese vollzogen werde. Wäre diese Fähigkeit bereits vorher in dem betreffenden Menschen vorhanden, dann spräche dies für ein wenn auch noch so geringes Maß eigenständiger Seinsmacht. Über eigenständige Seinsmacht verfüge aber ausschließlich Allah. So dürfe man nur sagen, daß der

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Mensch als Geschöpf die durch Allah an ihm gewirkte Handlung im Augenblick ihres Geschehens „erwerbe“, dergestalt nämlich, daß sie an dem Konglomerat von Substanzpartikeln in Erscheinung trete, das der Handelnde gemäß Allahs unerforschlichem Ratschluß gerade sei.

Anmerkungen Prolog  Bewegungsabfolge, die eine Beugung des Rumpfes und zwei Niederwerfungen umfaßt. Jedes rituelle Gebet besteht aus mehreren solcher „Körperbeugen“.  Nach Abū Ṭālib Makkī: Qūt al-qulūb, I, 289, vgl T. Andrae: Islamische Mystiker, 49 f.  Alle Daten der muslimischen Hedschra-Ära sind in die christliche Zeitrechnung übertragen, soweit nicht ausdrücklich anderes vermerkt ist.  Vgl. OV, zweites und viertes Buch. Ich vermeide in jener ausführlichen Untersuchung wie auch in dem vorliegenden Buch nach Möglichkeit den in der islamischen Literatur in diesem Zusammenhang gängigen Begriff des Sufismus. Im deutschsprachigen Schrifttum wird sein Inhalt leider allzu oft auf eine gesetzesfreie Individualspiritualität verkürzt – oder eher: verfälscht. Der Sufismus sei, so fabuliert man unter Mißachtung der zahllosen einschlägigen Quellen, das „tolerante“ Gegenstück zu einem starren, unduldsamen Gesetzesislam.  Zur Fragwürdigkeit der Übertragung des europäischen Begriffs der Mystik auf den Sufismus vgl. D. Bellmann: Mystik oder Sufismus? Bemerkungen zu einem Problem der Hafis-Rezeption in Europa, in: asien, afrika, lateinamerika 18/1990, 834– 845.  al-Lālakāʾī: Šarḥ uṣūl iʿtiqādāt ahl as-sunna wal-ǧamāʿa, I, 201, Nr. 330. Zu der ganzen hier behandelten Problematik vgl. auch OV, zweites und drittes Buch sowie viertes Buch, letztes Kapitel.  Vgl. T. Nagel: „Der erste Muslim“. Abraham in Mekka, und „Abraham der Gottesfreund“.. Deutungen muslimischer Korankommentatoren, 133 – 164, bes. 150 – 160.  Die „Läuterungsgabe“ (arab.: az-zakāh) gehört zu den schon vor Mohammed bezeugten hochreligiösen Ideen, die in das arabische Heidentum eindrangen. Sie dient dem Zweck, das Erstreben von mehr Eigentum, als der immerwährend schaffende Allah einem zugedacht hat, zu sühnen. Näheres s. IAK, 23-28 und 379 f.  Hierzu OV, 637– 640.  AAI, 41– 44.  Das arabische māl bedeutet Besitz allgemein, im konkreten Sinn jedoch das Vieh.  AAI, 50 f.  Ebd., 53.  Ebd., 55; vgl. at-Tirmiḏī: Ṣaḥīḥ, X, 110 (al-īmān 18). AHM, II, 176 und 197 stellt diese Überlieferung in einen größeren, die Prädestination bekräftigenden Zusammenhang. Zum metaphysischen Hintergrund dieser Vorstellungen vgl. unten, 363 – 375  AAI, 58.  Ebd., 62– 64.  Zwei Deutungen bieten die Korankommentatoren an: Die Schrecknisse des Jüngsten Tages sind so groß, daß das Organ der mentalen und dasjenige der sinnlichen Wahrnehmung, das Herz und das Auge, den Dienst verweigern; die Schrecknisse sind so groß, daß beide Organe dank dem Schock zur Wahrnehmung der einen Wahrheit, nämlich der Geschöpflichkeit des Menschen, durchdringen, so daß alles außer Allah als nichtig erscheint (vgl. z. B. ar-Rāzī: Mafātīḥ al-ġaib, XXIV, 6 f. zu Sure 24, 36 – 38).  AL, 314, 355. Ferner IAK, 183 f. und 351 f.  W. Graham: Divine Word and Prophetic Word in Early Islam, 173 und IAK, Kapitel II/5. https://doi.org/10.1515/9783110789119-019

Anmerkungen

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 Nirgends wird der Abstand, der zwischen dem Islam einerseits und der jüdisch-christlichen Überlieferung andererseits liegt, in einer stärker verdichteten Form auf den Begriff gebracht. Im 1. Buch Mose, Kap. 2, Vers 19 f. ist es Adam, der nach eigenem Ermessen die Tiere, die Gott ihm zeigt, benennt, und zwar von Gott ausdrücklich hierzu ermächtigt: Die Herrschaft über die Schöpfung wird im AT nicht als das aller Ichheit bare Handeln im Einklang mit einer unablässig ergehenden Fügung Gottes aufgefaßt, sondern als ein durch den Menschen selber verantwortetes Tun, für das er im Endgericht Rechenschaft ablegen muß; Gott ruht am siebten Tag, nachdem er sein Schöpfungswerk vollbracht hat. Im Islam aber ruht Allah niemals (vgl. Sure 2, 255 und Sure 55, 29)  Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001; Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen, Westhofen 2001; Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.Hist. Klasse, Dritte Folge, Band 244), zitiert als OV.  Vgl. hierzu mein Buch über die Geschichte des sunnitischen Islams Die erdrückende Last des ewig Gültigen, Berlin 2018, erster Teil, Kapitel VIII.

Huldreiche Gnadengeschenke  LM, I, 2– 3. Vgl. unten, 31.  Das Jahr 961 der Hedschra (begann am 7. Dezember 1553), und zwar der Monat Rabīʿ al-auwal (begann am 4. Februar 1554), wird von aš-Šaʿrānī als Datum der Fertigstellung der LM angegeben (II, 233); in der Tat finden sich, sofern mir nichts entgangen ist, in dem Buch keine Anspielungen auf spätere Ereignisse.  AQS, 90.  Der Tag als Recheneinheit beginnt unmittelbar nach dem Untergang der Sonne.  LM, I, 94 f.  M. Winter, der sich in seinem 1982 veröffentlichten Buch Society and Religion in Early Ottoman Egypt des näheren mit aš-Šaʿrānī befaßt hat, beklagt dessen Mangel an geschichtlichem Verständnis und die Subjektivität seiner Schriften (73 – 75). Diese Klagen sind berechtigt. Aber aš-Šaʿrānī schrieb nicht für den Historiker des 20./21. Jahrhunderts, der nach „objektiven“ Tatsachen zur Rekonstruktion der Vergangenheit fahndet. Wer Fakten der Vergangenheit allein auf der Grundlage der Schriften aš-Šaʿrānīs rekonstruieren wollte, der müßte verzweifeln. Wofür aš-Šaʿrānī aber gerade wegen der Subjektivität seiner Aussagen ein ungewöhnlich guter Zeuge ist, das sind die Deutungsmuster, die die Tiefenschichten muslimischer Gläubigkeit für die sogenannten objektiven Phänomene bereithalten. Um das Wechselspiel zwischen wahrgenommener bzw. wahrnehmbarer Wirklichkeit einerseits und deren muslimischer Auslegung andererseits ist es uns in diesem Buch zu tun.

Erster Teil: Der Weg Kapitel 1: Die Wahrnehmung der Welt  LM, I, 33.  MK, 144; in der Textausgabe steht irrtümlich: Ḥasan Pascha; da der Autor al-Malīǧī am Beginn des Monats Šaʿbān zusammen mit den Nachkommen aš-Šaʿrānīs dem Statthalter seine Aufwartung

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Anmerkungen

machte (MK, 3), kann es sich nur um den wenige Tage zuvor (am 25. Raǧab) in sein Amt berufenen Murādī Ḥusain Pascha handeln (vgl. ad-Demerdāšī: ad-Durra al-muṣāna, 40, Anm. 1).  LM, II, 55 f.  Ebd., II, 2.  TK, II, 151.  Ebd., II, 83.  LM, II, 42; vgl. AM, I, 381 und II, 314. Al-Matbūlī stand den wortreichen Spekulationen über Allah und den Kosmos, in denen sich aš-Šaʿrānī und dessen Lehrmeister Sidi ʿAlī zu ergehen vermochten, skeptisch gegenüber (vgl. Th.E. Homerin: Sufis and their Detractors, in: de Jong/Radtke (Hgg.): Islamic Mysticism Contested, 225 – 247, hier 245).  O. Rescher (Übers.): Tāǧeddīn es-Subkīs Muʿīd en-niʿam (ders.: Gesammelte Werke II/2); vgl. T. Nagel: Das islamische Recht, erstes Buch, Kapitel III 2d.  Aḥmad Bābā: Nail al-ibtihāǧ, 140.  Vgl. dazu OV, viertes Buch.  MT, IV, 2.  Ebd., IV, 3.  Ebd., IV, 8.  MI, I, 82 oben; vgl. H. Halm: Ägypten nach den mamlukischen Lehensregistern, I, 12.  MI, I, 85 unten; die ausführlichste Darstellung der Institution der Dienstlehen in Ägypten und Syrien findet man bei Sato Tsugitaka: State and Rural Society in Medieval Islam.  Ein Golddinar bestand aus 4,23 g Feingold; die Silberwährung, der Dirham, in dem die Geschäfte abgewickelt wurden, unterlag in ihrem Wert zum Dinar erheblichen Schwankungen, hervorgerufen durch inflationäre Münzverschlechterung (Beimischung von Kupfer). W. Hinz: Islamische Währungen, 2 f.  Halm, aaO., 47– 54.  Ebd., 19 f.  MI, I, 82.  Ebd., I, 100.  Über die Bodenkategorien vgl. G. Frantz-Murphy: The Agrarian Administration of Egypt from the Arabs to the Ottomans, 80 – 85.  MI, I, 102 f. und Sato Tsugitaka, 211– 219.  D. Ashtor: Levantine Sugar Industry in the Later Middle Ages. An Example of Technological Decline.  KS, I, 138.  LM, I, 139 f.  Ebd., I, 135 f.; vgl. ebd., I, 150, Zeile 8.  Beispiele: BM/B, 66, 256, 263.  Trockenhohlmaß, in Ägypten 198 l.  BM/B, 62 f.  Ebd., 304; zu ʿAlīs Todesjahr vgl. J.-C. Garcin: Histoire et Hagiographie de l’Egypte musulmane à la fin de l’époque mamelouke et au début de l’époque ottomane, Teil II, 287– 316, hier 304.  LM, I, 215.  Ebd., II, 18.  AM, I, 248. Aš-Šaʿrānī hatte in seinem Heimatdorf zahlreiche Anhänger; vielfach, so behauptet er, gilt der Gottesfreund in seiner Heimat jedoch wenig (LM, II, 16).  Die Brüder Josefs sind zum dritten Mal gekommen, um in Ägypten Getreide zu kaufen; bei dieser Gelegenheit gibt sich Josef ihnen zu erkennen. (Sure 12, 90).

Anmerkungen

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 AHM, II, 371; AHM/n, Nr. 8823: „Und je näher ein Mensch der Herrschermacht (arab.: as-sulṭān) kommt, desto weiter entfernt er sich von Allah.“ Diesen Teil zitiert aš-Šaʿrānī wohlweislich nicht. Schließlich verkehrte er selber mit den Mächtigen.  LM, I, 33.  MI, I, 339 f.; vgl. ebd., I, 365 unten, die Beschreibung der Sümpfe und Kloaken von Fustat. Zu Ibn Riḍwāns Abhandlung über die Seuchen vgl. M. Meyerhof in: Sitzungsberichte der PhysikalischMedizinischen Sozietät LIV, Erlangen 1923, 197– 214.  MI, II, 139 f.  Ibn al-Aṯīr: al-Kāmil, X, 87.  MI, I, 366. Auch europäische Reisende des 15. und 16. Jahrhunderts klagen über die drangvolle Enge in Kairo und den angriffslustigen Pöbel (vgl. z. B. Herrn Johann Graffen zu Solms Beschreibung der Reyse unnd Wallfahrt 1483, in: Reyßbuch, 108b). Als der Leipziger Johann Helfferich Kairo im Todesjahr aš-Šaʿrānīs (1565) besuchte, waren 8000 Transportkamele im Einsatz, um die Stadt mit Nilwasser zu versorgen (Reyßbuch, 392b).  Hier sammelten sich die Heere, die seit der Mitte des 7. Jahrhunderts den Westen Nordafrikas eroberten.  MI, I, 340 – 342 und 367.  Ebd., 367.  Ebd., 348.  Ebd., 365.  Ebd., II, 364.  Ibn az-Zaijāt: al-Kawākib as-saijāra, 212. Die im Text genannte Jahreszahl 658 h ist ein Irrtum; es muß 608 h heißen (H. Gottschalk: Al-Malik al-Kāmil von Egypten und seine Zeit, 26).  I. Lapidus: Ayyubid Religious Policy and the Development of the Schools of Law in Cairo, in: Colloque international sur l’histoire du Caire, 279 – 286, hier S. 283.  An-Nawawī (gest. 1277) schuf in Damaskus die bis heute gültigen wesentlichen Schriften der den neuen Bedürfnissen nutzbar gemachten ḥadīṯ-Literatur, vgl. OV, 594– 613.  AL, 316 – 326. Zur Lehre von der muḥammadschen Gegenwärtigkeit s. IAK, Kapitel IV/3.  MI, II, 375.  Ebd., 403 – 405.  Qiwām ad-Dīn stammte aus Itqān bei Farab am mittleren Jaxartes, hatte in Bagdad an der Schule unterrichtet, die dem Grabbau Abū Ḥanīfas angeschlossen war, hatte in Damaskus den berühmten Schafiiten Taqī ad-Dīn as-Subkī kennengelernt und war im Frühjahr 1350 nach Kairo gelangt. Dort trat er sogleich in Beziehungen zu Sarġatmiš (Ibn Quṭlūbuġā: Tāǧ at-tarāǧim, 18 f., Nr. 47).  AHM, V, 425. Daß der Fürst von Elath im Zusammenhang mit dem Feldzug nach Tabūk der Geber gewesen sein soll, ist ein Anachronismus; vgl. die folgende Anmerkung.  Vgl. z. B. BS, waṣājā 2; MS, ǧihād 76 – 81. Zum geschichtlichen Hintergrund dieser Überlieferungen vgl. MLL, 423 und 437 f.  Vgl. oben, 29 f.  MI, II, 404 f.  HT, V, 92.  D. Behrens-Abouseif: Egypt’s Adjustment to Ottoman Rule, 93.  HT, V, 92 und IV, 323. Über ʿAlī Pascha Mubārak und sein Werk vgl. St. Fliedner: ʿAlī Mubārak und seine Ḫiṭaṭ.  T. Nagel: Timur der Eroberer, 289 f.  Ders.: Die erdrückende Last des ewig Gültigen. Der sunnitische Islam in dreißig Portaitskizzen, Berlin 2018, dritter Teil, Kapitel XX, über as-Sujūṭī.

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Anmerkungen

 HT/n, V, 142  HT, XVI, 79 über Minjat Ġamr; as-Saḫāwī: aḍ-Ḍauʾ al-lāmiʿ, VIII, 238 f., Nr. 641.  TK, II, 81 f.  MI, II, 392.  Ebd., 328.  Vgl. TK, II, 101.  TK, II, 88.  TK, II, 121; HT/n, V, 143 f.  MK, 84 f.  TK, II, 21.  Den Hintergrund dieser Ausführungen bildet al-Ġazālīs Traktat Die Nische der Lichter, vgl. OV, zweites Buch.  TK, II, 89, 91.  Ebd., 101, 103.  Ebd., 122; vgl. die Kurzbiographie des Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī bei as-Saḫāwī, aḍ-Ḍauʾ al-lāmiʿ, II, 161 f.  LM, II, 99.  as-Saḫāwī: Tuḥfat al-aḥbāb, 3.  W.M. Watt: Muhammad at Medina, 375.  Ibn az-Zaijāt: al-Kawākib, 88.  T. Nagel: Das islamische Recht, zweites Buch, Kapitel II; IAK, Kapitel II/1 und II/2.  Er war ein unnachgiebiger Vorkämpfer des Schafiitentums, vgl. Ibn Taġribirdī: an-Nuǧūm azzāhira, VI, 115 f.  Ibn az-Zaijāt, op. cit., 209 – 215.  as-Saḫāwī: Tuḥfa, 201– 207.  Vgl. AL, 349 f. sowie unten, zweiter Teil, Kapitel IV.  Als Gewichtseinheit etwa 3, 12 g.  Dieses Sterbedatum bei Ibn az-Zaijāt; laut A. Schimmel: Mystical Dimensions of Islam, 437, starb er im Jahre 934.  Ibn az-Zaijāt, op. cit., 234– 237.  as-Saḫāwī, Tuḥfa, 397.  al-Kindī: Kitāb al-wulāt wal-quḍāt, 172.  Šihāb ad-Dīn al-Ḥusain b. Muḥammad, Heeresrichter, Adelsmarschall sowie Geheimschreiber in Aleppo, gest. 1361, so in BZ, I, 585; diese Angaben lassen sich mit denen bei al-Maqrīzī nicht auf einen Nenner bringen.  MI, II, 297.  HT/n, V, 252.  TK, II, 101 f.  MI, II, 299 f.  MI, II, 55 und 312; HT/n, V, 300.  as-Saḫāwī: Tuḥfa, 129.  Ebd., 181 f.  as-Sulamī: Ṭabaqāt aṣ-Ṣūfīja, 147.  as-Saḫāwī, op. cit., 76.  MI, II, 435 f.; as-Saḫāwī, op. cit., 190 – 193.  as-Saḫāwī: al-Ǧawāhir wad-durar fī tarǧamat Šaiḫ al-islām Ibn Ḥaǧar.

Anmerkungen

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 as-Saḫāwī: al-Qaul al-badīʿ fī ṣ-ṣalāh ʿalā l-ḥabīb aš-šafīʿ, 11– 13. As-Saḫāwī gibt hier im wesentlichen die Auffassung der sunnitischen ḥadīṯ- und Rechtsgelehrten wieder, die der Qāḍī ʿIjāḍ (gest. 1149) in seinem über die Jahrhunderte bis heute vielgelesenen dogmatischen Werk zur Prophetenvita zusammengefaßt hat (al-Qāḍī ʿIjāḍ: aš-Šifāʾ, II, 60 – 80); vgl. im einzelnen AL, 147. Ferner IAK, Teil III/2. 208.  Dies sagt as-Saḫāwī allein schon durch den Titel seiner Abhandlung aus. Den Hintergrund dieser Vorstellungen bildet die seit dem 13. Jahrhundert weit verbreitete Lehre, mit der Schaffung des Ur-Mohammed nehme jegliche Schöpfungstätigkeit Allahs ihren Anfang; im Schaffen des UrMohammed erfahre sich Allah als den Einen, Allmächtigen, und daher rühre die seine übergroße Liebe zu ihm (AL, zweiter Teil, Kapitel IV).  as-Saḫāwī: al-Qaul, 170.  Ebd., 168 f.  TK, II, 133; vgl. KS, I, 98.  AQS, 161; auf S. 159 ist ʿAlī, der Palmblattflechter, als das Subjekt der ständig wiederholten Formel „und er pflegte zu sagen“ genannt; die von den Herausgebern eingefügten Überschriften sind vielfach irreführend oder beziehen sich nicht auf den folgenden Absatz des Textes.

Kapitel 2: Wissen und Erkennen  LM, I, 33 f. Ein Gottestrunkener wird zu Gott hingezogen (daher seine arabische Bezeichnung almaǧḏūb), erlangt dadurch aber keine Kenntnisse von der Scharia. Die Gottestrunkenen waren bis ins 19. Jahrhundert eine von den gewöhnlichen Menschen gefürchtete Erscheinung der ägyptischen Gesellschaft. Sie fielen schon zu aš-Šaʿrānīs Zeit den europäischen Reisenden auf. Albrecht Graf zu Löwenstein traf 1561/2 unter ihnen sogar einen Deutschen aus Erfurt an, den es nach Kairo verschlagen hatte. Er lief wie seine ägyptischen Genossen nackt umher; es habe sich um einen gelehrten Mann gehandelt, der des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen mächtig gewesen sei (Reyßbuch, 203b).  E. Sachau: Muhammedanisches Recht nach schafiitischer Lehre, arabischer Text, 5.  Hierzu T. Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, zweites Buch, Kapitel II und III.  M.G. Carter: Arab Linguistics, 8 – 33.  MK, 39 f.  Ebd., 31.  Ebd., 34.  Ebd., 27.  Ebd., 29.  TK, II, 146; TS, 58: „Paradies“ (al-ǧanna) statt des sinnvollen „al-ǧuṯṯa“.  Wörtlich: „…nahm auf die Herzen Einfluß“. Das Herz ist der Sitz des Verstandes, dessen Aufgabe es ist, den Menschen zum Gehorsam gegen Allah anzuhalten (vgl. Nagel: Islam, § 63). Blaue Kleidung tragen Menschen, die mit dem Schmutz der Mitmenschen zu tun haben; weiße Kleidung, von Mohammed angeblich den Muslimen empfohlen (MLL, 112), steht für die Zurschaustellung religiöser Erwähltheit.  TS, 59.  İ.H. Danışmend: İzahlı osmanlı tarihi kronolojisi, I, 414– 417; TK, II, 145; TS, 58. Das Datum nach C. Petry: Twilight of Majesty, 180 – 183; die Beziehungen zwischen Bayezid und Qānṣauh al-Ġaurī wurden durch Korkuds Bitte um Vermittlung zwischen ihm, seinem Vater und seinem Bruder Selim angeblich nicht getrübt.

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Anmerkungen

 Sachau, op. cit., XXII.  C. Brockelmann: GAL/G II, 147, Nr. 56 und 155, Nr. 250.  Sachau, op. cit., arabischer Text, 10.  an-Nawawī: Rauḍat aṭ-ṭālibīn, VI, 29 f.  Vgl. OV, viertes Buch; vgl. auch oben, 30 f.  Ḥāǧǧī Ḫalīfa: Kašf aẓ-ẓunūn, I, 919 und 929 f.  Sachau, op. cit., XXIV.  T. Nagel: Aš-Šāfiʿīs Konzept des Wissens.  Arabisch: min ar-rāsiḫīn fī l-ʿilm. Vgl. Sure 3, Vers 7, und Sure 4, Vers 162.  Zusammenfassung des Inhalts der Abhandlung: R. Hartmann: Al-Ḳuschairīs Darstellung des Sufitums.  T. Nagel: Die Festung des Glaubens, 319. Da das Prophetenwort, das dieser Auffassung zugrunde liegt, erst ab dem ausgehenden 10. Jahrhundert nachweisbar ist, wird diese Problematik erst nach alBisṭāmīs Tod mit ihm in Verbindung gebracht worden sein. Vgl. im übrigen T. Nagel: Das islamische Recht, 284– 305 sowie unten, 405 – 414, 427.  al-Qušairī: ar-Risāla, 14, Zeile 3 – 5.  Zakarjā al-Anṣārī, ebd., am Rande von S. 14.  T. Nagel: Die Festung des Glaubens, 83 f. und 97 f.  OV, drittes Buch.  al-Qušairī, op. cit., 52 nebst dem Kommentar von Zakarjā al-Anṣārī.  Ebd., 39.  Etwa zweieinhalb Kilometer südlich der ʿAmr-Moschee (S. Staffa: Conquest and Fusion, 114).  E. Kümmerer: Die Aḥmadīya. Beiträge zur Kenntnis eines ägyptischen Derwischordens, 4.  Die Angaben über das Studium bei Meister Zakarjā stehen LM, I, 35 f.; die Vita Zakarjās findet sich in TS, 36 – 45.  as-Saḫāwī: aḍ-Ḍauʾ al-lāmiʿ, I, 107. Ferner IAK, Kapitel V/2 und V/3.  BZ, III, 47– 52, 89, 169; II, 206, Zeile 20 und 259, Zeile 16 – 18.  TS, 36.  Ebd., 44.  AQS, 49.  Ebd., 50.  Ebd., 40 – 42.  Hauptquelle für dieses Teilkapitel: LM, I, 33 – 36.  TK, II, 152.  KS, II, 221: 1533; vgl. aber oben „Die Wahrnehmung der Welt“, Anm. 29.  Noch 1535 hat aš-Šaʿrānī eine Sentenz von ihm gehört (TK, II, 153, Zeile 6), was ebenfalls gegen die Angabe in KS, II, 221 spricht.  TK, II, 152.  at-Tīfāšī: Surūr an-nafs, 178. Johann Helfferich beobachtete bei seinem Aufenthalt in Kairo 1565, daß man verschiedene Halbedelsteine in die Krüge mit Nilwasser legte, damit sich die Verschmutzungen besser absetzten (Reyßbuch, 392b). Möglicherweise denkt aš-Šaʿrānī auch an eine solche läuternde Wirkung der Saphire und Juwelen; vgl. unten, 377 f.  A. Schimmel: The Mystical Dimensions of Islam, 250 f.  Ibn al-Mulaqqin: Ṭabaqāt al-aulijāʾ, 406 f.  GD, 3.  al-Qazwīnī: ʿAǧāʾib al-maḫlūqāt, II, 52.

Anmerkungen

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 Eine der Form nach dem Prophetenḥadīṯ entsprechende Aussage, in der jedoch Allah selber redet; zur Sache vgl. OV, zweites Buch; IAK, 162, 408.  GD, 49.  Über ihn vgl. R. Gramlich (Übers.): Die Nahrung der Herzen, I, 11– 20.  Ritualrechtlich gilt Erde als rein.  Der Palast war von außerhalb des Bāb al-Futūḥ zu erreichen und stammte aus dem frühen 14. Jahrhundert (MI, II, 51 f.).  In Ägypten: etwa 37 Gramm.  Sie stehen in dem Verdacht zu betrügen; daher könnte ihre Gabe mit dem Makel unredlichen Erwerbs behaftet und folglich rituell bedenklich sein.  Vgl. „Prolog“, Anmerkung 1.  BS, riqāq 1 (statt „zwei Dinge“ heißt es dort „zwei Wohltaten“).  Vgl. im Prolog, 17, 19, 22. Zu den „Standplätzen“ s. IAK, 266.  LM, I, 48 – 50.  OV, drittes Buch; IAK, 260, 588.  LM, II, 147 f. Vgl. zu dieser Thematik IAK, Kapitel IV/3 und IV/4.  OV, zweites Buch.  LM, I, 162.  Ebd., II, 21. Vgl. zum folgenden auch In Allahs Kosmos, Kapitel V/1.  Man könnte auf den Gedanken kommen, was aš-Šaʿrānī diesbezüglich vorgetragen habe, seien bloße Topoi, zumal er selber auf seine Lektüre des einschlägigen Schrifttums hinweist. Doch ist in Rechnung zu stellen, daß europäische Reisende, die diesem Gedankengut fernstanden, Ähnliches berichten (s. Abbildung 1).  LM, II, 64 f. Daß die Gottesfreunde die chiliastischen Triebe des Islams schwächen, habe ich an anderer Stelle darzulegen versucht (Le mahdisme d’Ibn Tumart et d’Ibn Qasi, in: RMMM 91/94, 125 – 136) sowie IAK, Kapitel VI/2.  In meinem Aufsatz Der Textbezüglichkeit entrinnen? habe ich dargelegt, wie al-Ġazālī zu einem neuartigen Verständnis der Einsheit Allahs vordringt, das das wohlverstandene Gottvertrauen (arab.: at-tawakkul) zur Voraussetzung hat.  LM, I, 52 f. Vgl. die Ausführungen in OV, zweites Buch.  Fr. Rosenthal: Knowledge Triumphant, Leiden 1970, 31 f.  Vgl. die Ausführungen in OV, zweites Buch.  Vgl. oben, 84 f. sowie IAK, Kapitel I und IV.  LM, I, 38 f.  LM, II, 57 f.  In dem Traktat Kitāb ḫalʿ an-naʿlain fī l-wuṣūl ilā ḥaḍrat al-ǧamʿain des ʿAbdallāh Efendi alBūsnawī al-Bairamī (C. Brockelmann: GAL/G, I, 447 sowie GAL/S, I 800 und III 511) wird angedeutet, daß jeder Atemzug, der das ritualisierte Aussprechen des Wortes „Allah“ begleitet, den Akt der Entfaltung des absoluten Seins in das konditionierte versinnbildlicht. Die Atemzüge des auf diese Weise Gottes Gedenkenden lassen ihn die den ganzen Kosmos umschließenden Atemzüge des Schöpfers mitempfinden (vgl. OV, 389, 458 und 631). Vgl hierzu jetzt J.M. Dreher: Al-Būsnawī… et son Kitāb khalʿ an-naʿlayn.  LM, II, 223 – 225. Zum „Aufwachsen“ vgl. unten den zweiten Teil, Kapitel 2, Anmerkung 45. Vgl. ferner Ibn ʿArabīs Vorstellungen von der Rede Allahs (IAK, Teil IV/1 und IV/2).  Zur Bedeutung von Sure 33, Vers 56 vgl. AL, 146 – 148.  MI, II, 365 f.; Vita: TK, II, 171.

540

Anmerkungen

 KS, II, 216 – 218; ṭarīqat al-maḥjā: ebd., 216, Zeile 7. Lailat al-maḥjā: „la nuit de la vie“ est chez les Chiites le 27 du mois de Redjeb (Dozy, I, 344). Vgl. hierzu I. Goldziher: Über den Brauch der MaḥjâVersammlungen im Islam, in: WZKM XV/1901, 33 – 50 (= Ges. Werke, IV, 277– 294).  LM, II, 164; MK, 105.  TK, II, 105 f.  MK, 106.  LM, I, 176; MK, 95.  So lautete beispielsweise die Quintessenz eines dem verzweifeltem Ringen um die Vereinbarkeit von Metaphysik und Scharia gewidmeten Gelehrtenlebens, desjenigen al-Ǧuwainīs (gest. 1085) (Nagel: Die Festung des Glaubens, 344– 347). Al-Ġazālīs Gleichsetzung des Erkennens mit dem Wahrnehmen eines Lichts (vgl. OV, 195 – 220), mithin die Rangminderung der Ratio, hatte die erwähnte Aporie, daß die höchste Aufgabe des Verstandes die Erkenntnis der eigenen Ohnmacht sei, allenfalls camouflieren können. Im andalusischen und magrebinischen Islam war dagegen, wie u. a. Ibn Tūmart bezeugt, die Analyse der Welt, des durch Allah „konditionierten“ Seins, mittels Zahl und Kraft möglich gewesen (OV, 109 – 111); Averroes hatte gegen al-Ġazālīs Ablehnung einer solchen Analyse polemisiert. Doch schon zu Averroes’ Lebzeiten wandelte sich auch dort das intellektuelle Klima zugunsten der Unerforschbarkeit des Diesseits.  Schon ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī (gest. 1166) betrachtete sich als den Stellvertreter (arab.: al-ḫalīfa) Allahs in der Schöpfung (vgl. OV, 301).

Kapitel 3: Der Gottesfreund und die Mächtigen  Vgl. hierzu H. Schützinger: Ursprung und Entwicklung der arabischen Abraham-Nimrod-Legende.  Volkstümliche Ableitung des Namens Nimrod von an-namira „die Leopardin“.  Wortspiel mit der Wurzel q-l-b „verwandeln“ und dem Nomen al-qalb „das Herz“.  BS, qadar 1; MS, qadar 1.  AHM, II, 539.  Nach dem in Ägypten verfaßten Handbuch der Alchimie des as-Sīmāwī (13. Jahrhundert) haben die sechs Metalle Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Blei und Zinn einen unwandelbaren Wesenskern, der im Gold rein zutage liegt, in den übrigen aber durch – vom Wesenskern trennbare – Akzidentien kontaminiert ist. Die Kunst des Goldmachens besteht darin, diese Akzidentien aus den unedleren Metallen herauszulösen. Lebewesen, etwa der Mensch oder das Pferd, verfügen über einen je individuellen Wesenskern, weshalb man ein Pferd nicht in einen Menschen verwandeln kann (asSīmāwī: Kitāb al-ʿilm al-muktasab fī zirāʿat aḏ-ḏahab, arab. Text, 7– 13). Afḍal ad-Dīn verwirft die alchimistische Lehre von der Möglichkeit der Läuterung der unedlen Metalle. Aš-Šaʿrānī leitet hieraus die Unmöglichkeit ab, ein menschliches Individuum in eine andere Gestalt zu verwandeln: Der Gottesfreund bleibt ein Gottesfreund, gleichviel ob er Verfehlungen begeht.  LM, II, 100 f.  MS, qadar, 17; zahlreiche Varianten dieses Prophetenwortes sind bekannt.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, neue Ausgabe, II, 365 – 367, §§ 571– 573. Vgl. unten, zweiter Teil, Kapitel 3.  LM, II, 226.  MK, 150 f.  LM, II, 67.  So die richtige Lautung des Namens nach EI², s.v. Ḳānṣawh al-Ghawrī (IV, 552, P.M. Holt).  İ.H. Danışmend, op. cit., I, 392 f. Shai Har-El: Struggle for Domination in the Middle East, 210 – 214.

Anmerkungen

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 BZ, IV, 3, Zeile 16 – 18.  Ebd., 3 – 5.  Es handelte sich um die sogenannten Ašrafī-Dinare im Gewicht von 3,499 g Feingold (W. Hinz: Islamische Währungen, 7). Wieviel Kaufkraft knapp 105 kg Gold repräsentierten, ist schwer zu sagen. Der Wert der in den Alltagsgeschäften verwendeten Silberdirheme beruhte auf der Annahme, Gold sei etwa zehn bis zwölfmal wertvoller als Silber. Allerdings wurde den Silbermünzen ein schwankender Anteil von Kupfer beigemischt, so daß für die einfache Bevölkerung mehrfach eine beträchtliche Geldentwertung eintrat.  BZ, IV, 16, Zeile 7. Eine beeindruckende Zusammenstellung der vielfältigen Verfahren, mit denen man damals der Bevölkerung Geld abzupressen genötigt war, findet sich in TBT, 58 – 62 (arabische Paginierung).  BZ, IV, 17.  Ebd., 23. Nach MH, I, 250 wurden die Kairoer Vorgänge im Oktober 1501 in Damaskus bekannt; die dortige Rebellion, die sich nach Ibn Ṭūlūns Worten gegen das Unrecht wandte, das dem gemeinen Volk widerfuhr, ereignete sich einen Monat später (ebd., 251).  MH, I, 252, Zeile 20 f.  T. Nagel: Timur der Eroberer, 308 – 344.  BZ, IV, 39.  Ebd., IV, 120.  MH, I, 316 f.  BZ, IV, 121 f. Über die Verwendung von ǧumal im Sinne von „Gesamtsumme“ im Singular vgl. R. Dozy: Supplément, I, 218 f.  BZ, IV, 123.  Ebd., 143 f. T. Nagel: Timur der Eroberer, 311 f.  BZ, IV, 146.  MH, I, 342; vgl. BZ, IV, 184.  Eine Schilderung der europäischen diplomatischen Aktivitäten dieser Jahre, vorwiegend auf venezianische Quellen gestützt, findet man bei B. von Palombini: Bündniswerben abendländischer Mächte um Persien 1453 – 1600, 45 – 48.  BZ, IV, 191.  Ebd., 205 und 207.  Ebd., 219 f. Gemäß diplomatischer Gepflogenheit schickte Qānṣāuh dennoch einen Botschafter an den Hof Ismāʿīls, um diesen zur Eroberung Chorasans zu beglückwünschen (Ḫwāndamīr: Ḥabīb assijar, IV, 521).  Ebd., 222. Die Bäume hatte Qānṣauh eigens aus Syrien herbeischaffen lassen; das Bewässerungssystem erwies sich jedoch bald als unzureichend (TBT, 63 f., arabische Paginierung).Vgl. ferner S. Staffa: Conquest and Fusion, 211 f.  BZ, IV, 221.  MH, I, 357.  BZ, IV, 221– 228. Al-Laiṯ b. Saʿd (gest. 792) war ein berühmter ägyptischer ḥadīṯ-Kenner.  MH, I, 362.  BZ, IV, 252.  Ebd., 257.  Das heutige Kozan.  BZ, IV, 262.  Vgl. H. Sohrweide: Der Sieg der Ṣafaviden in Persien und seine Rückwirkungen auf die Schiiten Anatoliens im 16. Jahrhundert, 159 f.

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Anmerkungen

 BZ, IV, 265.  Ebd., 266.  Ebd., 271.  Ebd., 268 f.  Ebd., 289.  Ebd., 269.  Ebd., 303. Vgl. C. Petry: Twilight of Majesty, 201 f.  BZ, IV, 152– 157 und 164– 167.  Ebd., IV, 373.  Ebd., 393. Nach IZR, 89 waren die Iraner zunächst überlegen, da man vor der Schlacht ausgemacht habe, ohne den Einsatz von Feuerwaffen zu kämpfen. Selim habe sich dann aber nicht mehr an diese Übereinkunft gehalten. Nur dank ihren Feuerwaffen seien die Osmanen siegreich gewesen, meint der 1553 gestorbene ägyptische Verfasser dieser Quelle. Vgl. unten, Anm. 86: Auch die für die Mamluken schicksalhafte Schlacht von Marǧ Dābiq entschieden die Osmanen wegen ihrer überlegenen Feuerkraft für sich.  BZ, IV, 395 f.; vgl. ebd., 402 f.  Ebd., 399 – 404 und 435 f.  Die osmanische Sicht: NS, fol. 76b. Vgl. ferner IZR, 88.  Ḥasan-i Rūmlū: Aḥsan at-tawārīḫ, 202; Iskandar Beg Turkmān: Tārīḫ-i ʿālam-ārā-ji ʿAbbāsī, I, 33.  BZ, IV, 458 f.; vgl. C. Petry: Twilight of Majesty, 213; FMS, II, 413 und 419.  KS, I, 296 f.; NS, fol. 79a f.: Selim wirft Qānṣauh vor, dieser habe ihm die Freundschaft angetragen (vgl. unten, 145); man sei übereingekommen, daß Qānṣauh, sobald Selim etwas gegen die Safawiden unternehme, in Nordsyrien stillhalten und keinerlei Maßnahmen im Hinblick auf Anatolien ergreifen werde. Drohungen und Warnungen schließen den Brief Selims an Qānṣauh ab; Sidi ʿAlī b. Dāʾūd wird diese Botschaft, die er ausführlich zitiert, freilich nur vom Hörensagen kennen.  TBT, 59 nach der arabischen Paginierung.  NS, fol. 74a–75a. Sidi ʿAlī b. Dāʾūd kennt ein Fetwa, demzufolge Selim durch seinen Sieg über die Safawiden im Jahre 1514 Schaden von den Muslimen abgewendet habe, was verdienstvoller sei als der Kampf gegen die Andersgläubigen (NS, fol. 125b).  BZ, IV, 109; an-Nahrawālī: al-Barq al-jamānī, 19.  Die Beutezüge der Beduinen, unter denen Mekka und Dschidda, aber auch Janbuʿ und Zabīd zu leiden hatten, waren der eigentliche Grund dafür, daß Qānṣauh al-Ġaurī seit 1505 große Anstrengungen zum Ausbau der Befestigungsanlagen von Dschidda unternahm (vgl. ʿAbd al-Qādir b. Aḥmad Ḫaṭīb Ǧudda: as-Silāḥ wal-ʿudda fī taʾrīḫ bandar Ǧudda, 37– 40). Die Portugiesen drangen erst 1507 in das Rote Meer ein, wodurch die Notwendigkeit der Sicherung Dschiddas zweifellos erhöht wurde (vgl. oben, 138).  an-Nahrawālī, op. cit., 20 – 24.  Vgl. den Inhalt der Botschaften, die Selim und Qānṣauh al-Ġaurī austauschten, als letzterer bereits auf dem Weg von Damaskus nach Aleppo war. Qānṣauh hält Selim vor, das Fehlverhalten ʿAlāʾ ad-Daulas sei nur ein vorgeschützter Kriegsgrund (NS, fol. 81a–82a).  BZ, IV, 465 – 467.  Ebd., 471. Diese Unterstellung scheint die ägyptischen Rechtsgelehrten später noch beschäftigt zu haben. Ibn Nuǧaim, ein hanafitischer Jurist, mit dem aš-Šaʿrānī zu tun haben wird, widmete diesem Thema eine kleine Abhandlung (Fr. Rosenthal: Gifts and Bribes. The Muslim view).  BZ, IV, 473 f.  Ebd., 264 f.; vgl. D. Ayalon: Gunpowder and Firearms in the Mamluk Kingdom, 135 – 138.  BZ, V, 7 f.

Anmerkungen

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 Ebd., 28.  Ebd., 22 und 31. Laut TBT, 58 (arabische Paginierung) hatten die Beduinenscheiche und die Intendanten in der Regierungszeit Qānṣauh al-Ġaurīs de facto die Macht über die Ländereien der Inhaber von Dienstlehen erlangt.  Johann Graf zu Solms, der 1483 zur Zeit des Sultans Qaitbai Kairo besuchte, brachte in Erfahrung, daß manche Mamluken ihre Söhne taufen ließen, „nit auff daß sie Christen sollen bleiben / sondern darumb / daß sie in vätterlichen Gütern und Amten jnen mögen nachfolgen. Denn von alter gewonheit seyn alle Güter der Mammalucken / so sie sterben / de˜ m Soldan verfallen / und kein Sarracen oder ungetauffet Mensch mag ein Mammaluck werden. Darumb bringen die Mammalucken jre getaufften Kindt / so bald sie die Jar der Vernunfft erreichen / für den Soldan / und da verleugnen sie den Christen Glauben / und werden denn zu den Gütern und Ampten ihrer Eltern / ob sie sie uber leben / zugelassen“ (Reyßbuch, 106v–107r). Möglicherweise standen auch wegen solcher Praktiken Qānṣauh al-Ġaurī nicht genügend Dienstlehen zur Verfügung, um ein schlagkräftiges Heer zu unterhalten.  Ein Ašrafī-Dinar enthielt etwa 3,5 g Feingold und war damit wesentlich schwerer als das im Deutschen Reich 1871 geprägte Goldstück mit dem Nennwert von 10 Mark (W. Hinz: Islamische Währungen, VIII und 11).  BZ, V, 30 – 34.  KS, I, 258 f.  TK, II, 145, Nr. 42.  BZ, V, 43.  Ebd., 29, 33, 37. Da der Aufbruch von Kairo ein vielschichtiger Vorgang war, der sich über einen längeren Zeitraum hinzog, findet man unterschiedliche Daten, z. B. IZR, 77: „Sonnabend, 16. Rabīʿ aṯṮānī“, der im übrigen nicht auf einen Sonnabend fiel.  BZ, V, 38.  MH, II, 14– 19.  BZ, V, 49 und 54; MH, II, 21. Dieser hieß Qāsim. Sidi ʿAlī b. Dāʾūd kennt eine Geschichte über die Herkunft dieses Qāsim. Danach handelt es sich in Wahrheit um einen Enkel Aḥmads, des nach Iran entwichenen älteren Bruders Selims. Qāsim sei aus der Schlacht von Marǧ Dābiq geflohen und habe in Ägypten eine Bande gebildet. Anfang 1518 tauchte Qāsim – wenn es denn derselbe ist – plötzlich in Kairo auf und versuchte, einen Aufstand gegen den von Selim eingesetzten Statthalter Ḫairbeg anzuzetteln (NS, fol. 98 – 102).  1 Qinṭār entspricht ungefähr 45 kg.  BZ, V, 60 – 64.  Ebd., 67– 71. Vgl. Sidi ʿAlī b Dāʾūd, der die Schlacht von osmanischer Warte aus schildert (NS, fol. 82 f.); Ḥasan-i Rūmlū: Aḥsan at-tawārīḫ, 208 – 211, schreibt, die Mamluken seien bis gegen Selim vorgedrungen, dann aber vom osmanischen Gewehrfeuer niedergemäht worden. Selim habe, nachdem die Flügel seines Heeres ins Wanken geraten waren, mit seinem Zentrum die Mamlukenarmee angegriffen. In diesem Augenblick habe Ḫairbeg den Sultan Qānṣauh im Stich gelassen. Qānṣauh sei später tot aufgefunden worden, sein Körper habe keinerlei Verletzungen aufgewiesen. Dies hat sich Ḥasan-i Rūmlū durch Augenzeugen bestätigen lassen. Der Ägypter Ibn Zunbul arRammāl behauptet, zwei Mamluken hätten den Kopf vom Rumpf des tot zu Boden gesunkenen Sultans getrennt, damit die Feinde den Leichnam nicht erkennen – und schänden? – konnten (IZR, 103).  Denn sie alle wandeln die von Allah einem jeden einzelnen zugedachte „gerade Straße“, die in den Augen der Mitmenschen durchaus als „krumm“, frevelhaft erscheinen mag. Vgl. OV, 446 – 451 sowie IAK, Kapitel IV/3.

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Anmerkungen

 Wortspiel: faqīr bedeutet soviel wie „arm“, „bedürftig“, gibt aber im Arabischen auch den Begriff „Derwisch“ wieder.  Er war mithin in eine Sufi-Gemeinschaft aufgenommen worden.  Im Text: Ḥ-b-ra.  Hohlmaß; 1 Waiba entspricht ungefähr 33 l.  ʿAlī Pascha war Statthalter in Ägypten von 1549 bis 1554 (TBT, 155 nach arabischer Paginierung).  LM, I, 95– 97.  OV, drittes Buch.  BZ, IV, 186, 250, 256.  C. Mayeur-Jaouen: Al-Sayyid al-Badawī. Un grand saint de l’islam égyptien, 313.  Zitiert bei T. Andrae: Islamische Mystiker, 51.  OV, 300 – 321  MH, II, 30 – 37.  Ebd., 40, 68 f., 70, 79.  Ebd., 124.  BZ, V, 76.  Ebd., 79 f.  Ebd., 84 f.  Nach Ḥasan-i Rūmlū: Aḥsan at-tawārīḫ, 214, war er der Sohn einer Schwester Qānṣauhs.  BZ, V, 102 f.  TK, II, 129 f.; KS, I, 47– 49.  BZ, V, 85 f. und 103 f.  Ebd., 112.  IZR, 118 f.; Ḥasan-i Rūmlū, 214.  MH, II, 29.  BZ, V, 119.  Ebd., 112– 115.  Ebd., 119 f.  Ebd., 123.  Ebd., 122. Ähnliche Vorwürfe erhoben die Syrer und Ägypter gegen den Dschalajiriden Aḥmad b. Uwais, der gegen Ende des 14. Jahrhunderts bei den Mamluken Schutz und Hilfe gegen Timur suchte (T. Nagel: Timur der Eroberer, 308, 312).  BZ, V, 124. Schon unter Qānṣauh al-Ġaurī soll es in Kairo zahlreiche Spitzel im Dienste der Osmanen gegeben haben; unter anderem sollen viele Verschnittene aus der Umgebung Qānṣauhs für die Osmanen spioniert haben (TBT, 72 f. der arabischen Paginierung).  T. Nagel: Timur der Eroberer, 71.  BZ, V, 125.  Hohlmaß, ungefähr 198 l.  BZ, V, 128.  Ebd., 130. Kostbare Gewänder waren bedeutende Wertgegenstände und daher wichtige Geschenke im Verkehr der Herrscher untereinander. Die Venezianer paßten sich diesem Brauch an und überbrachten dem mamlukischen Sultan 1508 im Rahmen einer diplomatischen Mission zahlreiche wertvolle Gewänder (Liste in: Le voyage d’Outremer de Jean Thenaud, 186 – 191).  BZ, V, 132– 140.  Ibn Duqmāq: Kitāb al-intiṣār, V, 52 f.  Vgl. MI, II, 163.

Anmerkungen

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 Das gute Gedächtnis, das man in Kairo Ṭūmānbeg bewahrte, wird auch von Ibn Zunbul arRammāl bezeugt (IZR, 256 f.).  Nämlich Herrscher über Europa und Asien, das Mittelmeer und den Indischen Ozean, Zerschmetterer des safawidischen und des mamlukischen Heeres, Herrscher über den arabischen und den „persischen“ Irak (d. h. Medien), Diener Mekkas und Medinas.  BZ, V, 142– 151; FMS, II, 433 f. Der Gang der Ereignisse von der Einnahme Qaṭjas bis zum Einzug Selims in Bulaq wird von Sidi ʿAlī b. Dāʾūd im wesentlichen bestätigt. Allerdings soll Selim zunächst sein Lager auf der „mitteleren Insel“ im Nil zwischen (Alt-?) Kairo und Bulaq aufgeschlagen haben (NS, fol. 84 f.). Vielleicht ist die Verlegung des Lagers auf die Insel ar-Rōḍa gemeint, die im Frühjahr 1517 erfolgte.  Einige Mamluken flohen angeblich bis nach Äthiopien und nach Sansibar (Ḥasan-i Rūmlū, 215).  BZ, V, 158.  Ebd., 162 f.  Ebd., 165 f.  Ebd., 172.  Ebd., 167. Ǧānbirdī und Ḫairbeg standen inzwischen offiziell in osmanischen Diensten und hatten je einen Verwaltungsbezirk des Reiches unterstellt bekommen, wodurch sie in die osmanische Militärhierarchie eingeordnet worden waren: Ḫairbeg war bereits am 25. August 1516, wenige Tage nach Marǧ Dābiq, mit Köstendil, Ǧānbirdī am 8. Februar 1517 mit Sofia bedacht worden (FMS, II, 428 und 435).  BZ, V, 171, vgl. auch 173. Ferner NS, fol. 85.  BZ, V, 177.  Im Text: Baršūb; so auch bei Ibn al-Ǧīʿān: at-Tuḥfa as-sanīja bi-asmāʾ al-bilād al-miṣrīja, 9, wo allerdings die Unterscheidung zwischen Baršūm al-Kubrā und Baršūm aṣ-Ṣuġrā fehlt. Beide gehören zum Distrikt al-Qaljūbīja; sie liegen am Ostufer des bei Damiette mündenden Nilarmes in der Nähe von aṣ-Ṣāliḥīja (HT, IX, 16).  MS, īmān 71 f.  LM, I, 149 f.  An wesensmäßig unreinen Dingen kann ein Muslim nach der Scharia kein Eigentum erwerben; über Schweine oder etwa zum Düngen gesammelten Mist hat er jedoch ein auf seine Person bezogenes Verfügungsrecht, sofern ihm aus diesen Dingen ein Nutzen entsteht.  Vgl. T. Nagel: Das islamische Recht, erstes Buch, Kapitel I/1.  Es handelt sich um Aḥmad Pascha, der 1525, nachdem er sich den Titel eines Sultans zugelegt hatte, von Emiren, die dem osmanischen Sultan ergeben waren, darunter aš-Šaʿrānīs Wohltäter Ǧānim al-Ḥamzāwī, getötet wurde (RM, 138).  LM, I, 156 – 158.  BZ, V, 207.  Ebd., 192.  Der Distrikt al-Buḥaira umfaßt das Gebiet westlich des bei Rosette mündenden Nilarmes unter Ausschluß von Alexandrien; sein Hauptort ist Damanhur.  BZ, V, 196 f. und 222.  Ebd., 184.  Ebd., 187.  Ebd., 178 f.; TBT, 128 – 131 (arabische Paginierung).  BZ, V, 178 – 188, 217, 219.  Ebd., 183.

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Anmerkungen

 Allein die Stiftungen, aus denen die Heiligtümer in Mekka und Medina finanziert wurden, tastete Selim nicht an (RM, fol. 28v); laut TBT, 147 (arabische Paginierung), sank der Ertragswert dieser Stiftungen bis zum Jahre 1031 h (begann am 16. November 1621) auf ein Viertel oder Fünftel, ein Indiz für die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens unter den Osmanen.  Die Überprüfung der Dienstlehen und Stiftungen begann schon wenige Tage nach Selims Einmarsch in Kairo und erfolgte auf der Grundlage der Akten, die die Banū Ǧaiʿān, die seit Qaitbai mit entsprechenden Aufgaben betraut gewesen waren, angelegt hatten (TBT, 110 – 112 nach arabischer Paginierung; hier werden auch die Namen und die Zuständigkeiten der einzelnen Kontrolleure genannt).  BZ, V, 188, 194, 223.  Ebd., 207.  Ebd., 232.  Ebd., 237.  Ebd., 283.  Ebd., 208, 212 f., 220.  Ebd., 233 f.  Ebd., 244 f., 247.  Ebd., 271. Zum Schimpfwort „Sklavenschuh“ vgl. R. Dozy: Supplément, s.v. zarbūl.  BZ, V, 245 f.  Ebd., 215; NS, fol. 88 f.  BZ, V, 273 f. Selim hatte sich unmittelbar nach seinem Abmarsch aus Kairo vom Meister Demirdaş bewirten lassen und damit doch noch eine respektvolle Geste gegen die ägyptischen Gottesfreunde gezeigt. Im übrigen fühlten sich die Ägypter nicht zuletzt durch manche unislamischen Bräuche, etwa durch die Opfer am Beginn des Tierkreiszeichens Löwe, befremdet (TBT, 137 f. nach arabischer Paginierung).  BZ, V, 221.  Ebd., 274.  Das heute noch erhaltene Bauwerk liegt in unmittelbarer Nähe der danach von aš-Šaʿrānī gegründeten Klause; es wurde von der Gattin Fāṭima des Sultans Qaitbai errichtet (ʿĀṣim Muḥammad Rizq: Aṭlas, Teil 3, 1536 – 1541).  „ʿAbd al-Ǧaʿʿāṣ“ statt ʿAbd al-Wahhāb. Ǧaʿāṣī nennt man nach R. Dozy: Supplément, I, 198 einen Magot oder, im übertragenen Sinn, einen häßlichen Menschen.  MK, 139 – 141.  BZ, V, 251 f.  In den arabischen Texten meist: al-ʾrzmkī; die Vokalisierung ist nicht gesichert. E. Bannerth: Islamische Wallfahrtstätten Kairos, 78: al-Arzīkī nach HT/n, V, 82; Suʿād Māhir Muḥammad: Masāǧid Miṣr wa-aulijāʾu-hā, IV, 126: al-ʾrzmlī. M. Winter: Society and Religion in Early Ottoman Egypt, 47 f. deutet den Namen als al-Uzbekī. Nähere Informationen über diesen ʿAbd al-Qādir finden sich nicht; laut HT/n, V, 82 soll er als Qāḍī amtiert haben. Seine nisba bezieht sich auf den bedeutenden Emir Arzmak (?) an-Nāšif, der am 21. April 1516 von Qānṣauh al-Ġaurī zum Chef der Pilgerkarawane bestellt wurde (BZ, V, 26) und nach dem Tode Ḫairbegs die Intendanz der tscherkessischen Mamluken innehatte (BZ, V, 486, 489, 492). Der bei Sidi ʿAlī b. Dāʾūd, NS, fol. 128r, Zeile 8 erwähnte ʾwzrmk dürfte mit diesem Emir identisch sein; er fiel unter Sultan Aḥmad als Befehlshaber der Tscherkessen bei der Erstürmung der von den Janitscharen verteidigten Festung um die Jahreswende von 1523 auf 1524 (NS, fol. 143r). Zu diesem Geschehen vgl. das nächste Kapitel.  MK, 153 f.  Ebd., 155 f.

Anmerkungen

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 Vgl. Anmerkung 173.  Der bei Fustat in den Nil mündende große Kanal war auch unter diesem Namen bekannt (EI², VII, 149).  HT, XIV, 109 f. (s.v. Sāqijat Abū Šaʿra). Ebd., 110, Zeile 15: „…gegenüber dem Kāfūr-Weg“. Die Bemerkung des Verfassers der HT, dieser ʿAbd al-Qādir sei der Chef der Kanzlei des Sultans gewesen, könnte eine Verwechslung mit ʿAbd al-Qādir b. ʿAbd ar-Raḥmān b. Ǧīʿān/Ǧaiʿān sein (vgl. St. Shaw: The Land law of Ottoman Egypt, 127, Anm. 4).  TBT, 150 nach arabischer Paginierung.  Vgl. zu dieser Vorstellung, die in die früheste islamische Geschichte zurückreicht, MLL, 590 f.  LM, I, 63 f.  Zur religiösen Bedeutung der Läuterungsgabe vgl. T. Nagel: Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen, § 57, sowie IAK, Teil I/3.  BZ, V, 282; ebd., 395 wird Ǧānim als der bedeutendste Emir unter Ḫairbeg bezeichnet. Eine solche Übertragung von Einkünften nannte man rizqa. Sie wurde Angehörigen der Militärkaste für besondere Verdienste verliehen und galt, im Gegensatz zu den Dienstlehen, nach Beendigung der Dienstzeit fort. Auch religiöse Institutionen konnten mit einer rizqa unterstützt werden (St. Shaw: The Financial and Administrative Organization, 46 – 48).  Zum Begriff masmūḥ vgl. BM/B, 35.  Aš-Šaʿrānī bezeichnet die Rückerstattung der Immobilien der Klause mit ebendem Verbum, von dem der Begriff „Sonderzuweisung“ abgeleitet ist. Die vermögensrechtlichen Vorgänge, von denen aš-Šaʿrānī spricht, sind nicht hinreichend klar dargestellt. In dem 1524 in Istanbul erlassenen Gesetzeswerk für Ägypten (vgl. unten, Kapitel Beglaubigungen, Anm. 11) wird verfügt, daß ein durch die Hohe Pforte Beauftragter die Stiftungen überprüfe. Es sollten die Urkunden und die in ihnen festgelegten Angaben über die laufenden Einnahmen kontrolliert und die zweckentsprechende Verwendung dieser Mittel bestätigt werden. Bei Unstimmigkeiten sollte die Stiftung eingezogen werden. Bei Strafe wurde verboten, zu einer Stiftung gehörende Liegenschaften unter dem Vorwand, sie seien in Verfall geraten, zu veräußern und dies zu verheimlichen (Barkan: Kanunlar, 383 f.). Man hat nicht den Eindruck, daß aš-Šaʿrānīs Klause, sollte sie bei Durchführung dieser Überprüfungen schon bestanden haben, von diesem Erlaß betroffen gewesen wäre. Anders verhält es sich mit dem Erlaß von 1553, der nicht nur auf die Wiederherstellung der Legalität zielte, sondern vor allem möglichst viel von dem bis dahin seit den letzten Jahren des mamlukischen Sultanats stark angewachsenen Stiftungsland – dessen Erträge ja dem Fiskus verloren waren – für die Staatseinnahmen zurückzugewinnen. Der Einzug von Stiftungen war u. a. vorgesehen, sofern sie nach 1517 aus abgabenpflichtigen Grundstücken hervorgegangen waren, und zwar ungeachtet der Echtheit der vorgelegten Urkunden. Doch keine Regel ohne Ausnahme: Sofern das Stiftungsland nachweislich frommen oder wohltätigen Zwecken diente, blieb es unangetastet – und dies war sicher das Schlupfloch, durch das aš-Šaʿrānī entkam. Ungefähr dreihundert Lehensgüter, die in unzulässiger Weise „privatisiert“ worden waren, wurden erneut dem Fiskus nutzbar gemacht, dessen Einnahmen um mehr als achtzig Prozent in die Höhe schnellten (St. Shaw: The Land Law of Ottoman Egypt, 115 f.).  T. Nagel: Raja, 50 – 80.  Der 1414 durch den Sultan al-Muʾaijad eingeführte „Halb-Dirham“ enthielt 1,45 g Feinsilber. Er blieb bis in die osmanische Zeit gültig (W. Hinz: Islamische Währungen, 8 f.).  LM, I, 130 f.  BZ, V, 235 f., 241.  Ebd., 292.  Ebd., 293 f., 303, 306, 332, 335, 341. Sultan Suleyman I. versuchte 1524, hierin Klarheit zu schaffen (Barkan: Kanunlar, 386).

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Anmerkungen

 BZ, V, 297.  Ebd., 301, 337.  Ebd., 309.  Ebd., 338.  Ebd., 345.  MH, II, 116, 119.  BZ, V, 351.  Ebd., 352.  Ebd., 215, 316.  KS, I, 207.  LM, II, 160 f.  Vgl. oben, 116.  Es galt als ausgemacht, daß die Nachkommen Mohammeds nie die schmutzigen Geschäfte der Machtausübung betreiben würden, weswegen sie von dem Auf und Ab der Machthaber ausgenommen seien, so al-Maqrīzī (zitiert in T. Nagel: Die erdrückende Last des ewig Gültigen, Kapitel XIX/ 4).

Kapitel 4: Beglaubigungen  Dies ist eine Anspielung auf die Lehre vom Erwerb (arab.: al-kasb) der von Allah gewirkten Taten durch den Menschen; vgl. OV, 334 sowie T. Nagel: Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen, §§ 42, 44, 49 sowie IAK, Kapitel II/3 und II/4 und Kapitel III/1.  LM, I, 196 f. Zu „Standplätzen“ und „Zuständen“ s. ferner IAK, 266 f.  BZ, V, 422 f.  Ebd., 429.  Ebd., 442.  RM, 81.  İ. H. Danışmend, II, 83.  Ibn Ijās erwähnt ihn einmal im September/Oktober 1522 (BZ, V, 482).  Vgl. oben, 147– 152.  NS, fol. 139 f. Ob dieser Ibrāhīm mit dem bei KS, II, 84 genannten Ibrāhīm al-ʿAǧamī (gest. 1533/4) identisch ist, muß offenbleiben; dieser wird nicht als ein in der Muʾaijadīja selbst, sondern in ihrer Nähe tätiger Meister beschrieben.  KS, I, 156 – 159; NS, fol. 135 – 145, die weitaus detailreichste Darstellung der Vorgänge. Das durch Süleyman I. erlassene kanunname enthält einige auf die innere Sicherheit bezügliche Bestimmungen. So darf in Oberägypten kein Schießpulver hergestellt oder aufbewahrt werden (Barkan: Kanunlar, 356); Fellachen dürfen keine Lanzen besitzen (ebd., 363). Vor allem aber zeichnet sich dieses Gesetzeswerk dadurch aus, daß die Verfahren der Steuereinhebung bis ins einzelne geregelt werden, wobei die Verhältnisse unter dem mamlukischen Sultan Qaitbai als Richtschnur dienen. Die führenden hiermit befaßten osmanischen Funktionsträger werden jetzt der Hohen Pforte berichtspflichtig. Die für die Einziehung Verantwortlichen haften im Falle von Unterschleif mit ihrem eigenen Vermögen (ebd., 360). Die unangenehmen Erfahrungen der letzten Jahre zeigen sich auch in der Bestimmung, daß unbotmäßige Beduinen durch den Intendanten (arab.: al-kāšif, über dessen Befugnisse und Aufgaben, die annähernd denen eines Bezirksstatthalters gleichkamen, vgl. St. Shaw: The Financial and Adminstrative Organization, 40) ohne Gerichtsurteil getötet werden dürfen. In der Beitreibung der Abgaben sind die Führer der Beduinen auf ihrem Territorium diesem übrigens

Anmerkungen

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gleichgestellt; ferner haben sie wie er für die Urbarmachung aufgelassenen Landes zu sorgen, mithin die Interessen des osmanischen Staates zu vertreten (Barkan, op. cit., 363). Einer Sonderstellung erfreut sich allerdings der Stamm der Banū Baġdād; lassen sich deren Anführer erneut zu Unbotmäßigkeiten hinreißen, dann darf dies nicht durch den Statthalter in Kairo geahndet werden, sondern muß nach Istanbul gemeldet werden. Die Anführer anderer Stämme dürfen dagegen durch den Statthalter ein- und abgesetzt werden (ebd., 364 f.).  Vgl. oben, 176.  LM, I, 180.  Datierung: Taṣauwuf 777, fol. 2b; vgl. unten, Anmerkung 20.  Hierzu OV, 222, 228.  Taṣauwuf 777, fol. 5b.  OV, 180 f.  Taṣauwuf 777, fol. 6b.  LM, I, 171.  Taṣauwuf 777, fol. 7a. Aš-Šaʿrānī wird hier, wie auch an anderen Stellen der Handschrift, wie ein Verstorbener mit der Formel „Allah habe Wohlgefallen an ihm!“ bedacht; auch die zahlreichen Verweise auf Bücher, die er erst später vollendete, belegen, daß dieses Werk nicht vollständig aus seiner Feder stammt. Es enthält mithin von späterer Hand hinzugefügte undatierbare Äußerungen aš-Šaʿrānīs zu dem Thema. Wie der Kolophon ausweist, wurde die kleine Abhandlung in der vorliegenden Fassung im Jahre 1140 h (begann am 19. August 1727) zusammengestellt.  Ebd., loc. cit.  Ebd., fol. 7b.  BZ, V, 324.  1 Raṭl: in Ägypten ungefähr 450 g.  HT/n, V, 286 – 290.  Dies ergibt sich aus den Belegen, die E. Ashtor: Histoire des prix et des salaires dans l’Orient médiéval, 367 f. anführt. Vgl. ferner ders.: Le coût de vie dans l’Egypte médiévale.  Taṣauwuf 777, fol. 9b–10b.  Ebd., fol. 11b–12b. Bis in die Gegenwart sind die mit der Gottesfreundschaft1 verbundenen ländlichen Gastereien bezeugt, ein Beispiel Nagel: Die erdrückende Last des ewig Gültigen, 1112.  Taṣauwuf, fol. 13a. Die Hierarchie der Gottesfreunde: IAK, 303 und 634.  AQS, I, 19.  TK, II, 127– 129.  Ebd., 128, Zeile 27.  Vgl. oben, 109 – 113.  Taṣauwuf 777, fol. 13b (wa-li-ḏālika jaʿmalūna la-hū tābūtan wa-sitran wa-šaiḫan šaiḫan wa-ġaira ḏālika).  Ebd., fol. 13b f. Zum Sachverhalt: IAK, 556.  AQS, I, 19.  Vgl. OV, drittes Buch, vor allem 403 – 445.  AQU, I, 1– 10. Zum metaphysischen Knechtszustand (arab.: al-ʿubudīja) vgl. IAK, 391–393.  Ebd., I, 15. Die in der Abhandlung Taṣauwuf 777 von späterer Hand hinzugefügten Aussagen ašŠaʿrānīs stammen in der Tat, wie ebd., fol. 6b vermerkt wird, vorwiegend aus AQU.  AQU, II, 85 f.  Ebd., II, 123 f.  Ebd., II, 130 – 132.  Ebd., I, 161; vgl. OV, 235 – 237.

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Anmerkungen

 Laut Sure 6,Vers 75 zeigt Allah Abraham die Herrschaft über die Himmel und die Erde, erst nach diesem Schauen ist Abraham in der Lage, aus dem Wandel in der Welt auf die Existenz des einen, ewig unwandelbaren Schöpfers zu schließen: T. Nagel: „Abraham der Gottesfreund“. Zum Gottesfreund auf dem Podest s. OV, 301– 303; vgl. ferner oben, 148.  AQU, II, 95 – 97. Ibn ʿArabīs Lehre von der „Geradheit“ (arab.: al-istiqāma) klingt hier an, s. IAK, Kapitel IV/3.  KS, III, 111– 113.  Vgl. seine Ausführungen über Ibn ʿArabī und ʿUmar b. al-Fāriḍ in FH, 50 – 52.  FH, 308.  Im einzelnen vgl. OV, 508.  Ebd., drittes Buch.  FH, 311– 313.  Man vergleiche hierzu OV, insbesondere zweites Buch, sowie AL, Teil II, Kapitel IV.  Vgl. AL, 337 f. sowie unten, zweiter Teil, Kapitel IV.  D.h. mit einem Mann, der zu den Bediensteten am Grab Mohammeds in Medina gehörte.  OV, 26 f.  Das mittelalterliche Mali, das sich vom Bogen des Niger, ab Gao, nach Westen und Südwesten erstreckte, wurde von den Ägyptern Takrūr genannt. Ursprünglich bezeichnet dieser Name nur das Mündungsgebiet des Flusses Senegal (Mohamed M. Amin: Mali and Songhay Relations with Egypt in Mamlouk’s Period, 275 – 279). Vgl. ferner: Umar al-Nagar: Takrur. The History of the Name.  Im Text: Skwt. Diese Form lehnt sich an die Lautung des Namens in der Haussa-Sprache an; vgl. EI², IX, 711, s.v. Sokoto (D.M. Last).  Sind, das Gebiet des Industals.  Talschaft zwischen Badr und Medina.  Eigentlich dürfte aš-Šaʿrānī diesen Begriff gar nicht mehr verwenden. Er benötigt aber die konventionelle Redeweise, um seinen außergewöhnlichen Rang zu verdeutlichen.  LM, I, 111; vgl. MK, 125 f.  Aš-Šaʿrānī spielt auf die Geschichte mit Mose und al-Ḫaḍir an; dieser setzte eine vom Einsturz bedrohte Mauer instand, und von Mose nach dem Sinn dieses Tuns gefragt, erklärte er, daß darunter ein Schatz vergraben sei, der nicht in falsche Hände geraten solle. Al-Ḫaḍir weist darauf hin, daß er als ein Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit gehandelt habe, und diese findet ihren Grund in der Frömmigkeit des Vaters der beiden Waisenkinder, denen der Schatz gehöre.  LM, I, 32 f.  OV, 320.  Die im Koran für bestimmte Delikte festgelegte Strafe; es handelt sich um Delikte, mit denen man die von Allah gesetzten Grenzen, seine Souveränität, antastet.  Ibn Saʿd: Kitāb aṭ-ṭabaqāt al-kabīr, III/II, 56; aṭ-Ṭabarī: Annales, III, 2375; Ibn al-Aṯīr: al-Kāmil, IV, 44.  Ibn Saʿd, op. cit., IV/II, 51 f.  Ibn Ḥaǧar: al-Iṣāba, III, 337, Nr. 7587.  LM, II, 33. Vgl. auch aš-Šaʿrānīs wohl dem al-Baḥr al-maurūd zugehörige Abhandlung über die Stellung der Nachkommen Mohammeds (arab.: Pl. aš-šurafāʾ) in der islamischen Gesellschaft (BM/ Ahlwardt 3185, 4, fol. 4a f.).  Seine Wesensart gewährleistet die Errettung aller, die an ihn glauben, vor dem Höllenfeuer. Über diese seit dem 14. Jahrhundert weit verbreitete Ansicht vgl. AL, 318 – 326.

Anmerkungen

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 Vgl. hierzu unten in diesem Teilkapitel. Das Schriftchen mit dem Titel Abhandlung über die Abstammung des Meisters (al-ustāḏ) aš-Šaʿrānī (Ägyptische Nationalbibliothek, Tārīḫ 2131) erweitert unsere Kenntnis gegenüber dem, was er in seiner Lebensbilanz mitteilt, leider nicht.  H. Halm: Ägypten nach den mamlukischen Lehensregistern, I, 121 und Karte 11.  OV, 284 f.,303; ein Beispiel für Bekehrungen mit Gewalt, s. Nagel: Die Festung des Glaubens, 59. Bekehrungspredigten ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānīs: IAK, 280 f.  Bereits in seinem Bericht über die spirituellen Reisen taucht dieser Name auf; dort sei das Dienstlehen seines Vorfahren der fünften Generation gewesen, behauptet er. Ar-Raǧrāǧ ist, wie aus dem Ablauf der spirituellen Reisen ersichtlich, ganz im Westen Nordafrikas zu suchen; denn nach ar-Raǧrāǧ werden Takrur, das Mündungsgebiet des Senegal-Flusses, und Sokoto erwähnt. Der nächste Hafen bei Aġmāt, von wo aus die Karawanen zur langen Reise durch die Sahara aufbrachen, gehöre zu der Landschaft Raǧrāǧa, schreibt ein aus der Gegend stammender Autor des 12. Jahrhunderts (Anonymus: Kitāb al-istibṣār, 207). Ar-Raǧrāǧa heißt in almohadischer Zeit das Gebiet zwischen dem Oued Tensift und dem Oued Oumm Rbia, der bei Azemmour in den Atlantik mündet (H. Terrasse: Histoire du Maroc, Karten S. 9 und S. 264). Freilich ist die Atlantikküste von Tlemcen, woher die Vorfahren aš-Šaʿrānīs kommen, weit entfernt, doch brauchen Dienstlehen nicht in der Nähe des Ortes der Tätigkeit des Inhabers zu liegen. Möglicherweise ist ar-Raǧrāǧ auch als eine geographisch nicht fest definierbare Bezeichnung des fernsten Westens „am Ende der bewohnbaren Welt“ verwendet worden (vgl. R. Oßwald: Die Handelsstädte der Westsahara, 347).  MK, 7.  Ebd., 129 f.  Ebd., 7, letzte Zeile; TK, II, 20 f.  Ibn Ḫaldūn: Taʾrīḫ, VI, 85 – 87.  Ibn Ṣāḥib aṣ-Ṣalāh: al-Mann bil-imāma, 54, 169, 435.  Ibn Ḫaldūn, op. cit., VI, 101.  MK, 26.  TK, II, 113. Unter den ʿAbd al-Wādiden/Zaijaniden, die in Tlemcen herrschten, ist ein Aḥmad bezeugt, der von 1430 bis 1462 regierte (C.E. Bosworth: The New Islamic Dynasties, 43). Dieser kann schwerlich aš-Šaʿrānīs Ahnherr in der achten Generation sein. An anderer Stelle spricht aš-Šaʿrānī von einem gewissen ʿAbdallāh, Sultan von Tlemcen, der sein Ahnherr in der sechsten Generation sein soll (Ahlwardt/Verzeichnis, Nr. 3183, Bd. III, 152). Dieser ʿAbdallāh könnte mit dem ʿAbd al-Wādiden gleichen Namens, einem Sohn Mūsās II. (reg. 1359 – 1389), identisch sein, der von 1400 bis 1402 über Tlemcen herrschte.  TK, II, 113 f.; Ibn Ḫaldūn wußte, daß sich Berberstämme oft fälschlich eine Herkunft aus der Prophetenfamilie zuschrieben, vgl. Fr. Rosenthal (Übers.): Ibn Khaldûn – The Muqaddimah, I, 270 – 273. Im Falle der Vorfahren aš-Šaʿrānīs hilft uns auch nicht die Abhandlung Kitāb fī nasab baʿḍ aṣṣaḥāba wal-ašrāf al-Idrīsījīn min mulūk Lamtūna wal-Muwaḥḥidīn weiter, die (C. Brockelmann: GAL/ S II, 197, Nr. 290b) irrtümlich dem bekannten as-Sujūṭī zugeschrieben wird; ihr tatsächlicher Verfasser ist ein gewisser Abū Bakr b. Muḥammad as-Sujūṭī, der wohl nicht mit der bei Kaḥḥāla: Muʿǧam al-muʾallifīn, III, 72 erwähnten gleichnamigen Person identisch ist.  MK, 7; TK, II, 114.  BZ, III, 379 f.  Ebd., III, 125. Nach al-Mutawakkil I. hatten im 15. Jahrhundert dessen Söhne ʿAbbās/Jaʿqūb (reg. 1406 – 1414), Dāʾūd (reg. 1414– 1441), Sulaimān (reg. 1441– 1451), Ḥamza (reg. 1451– 1455) und Jūsuf (reg. 1455 – 1479) als Kalifen amtiert, ehe ein Sohn des ʿAbbās/Jaʿqūb unter dem Herrschernamen alMutawakkil II. (reg. 1479 – 1497) das Kalifat innehatte. Dessen Sohn war der hier genannte Jaʿqūb alMustamsik (reg. 1497– 1508 und 1516). Sein Sohn al-Mutawakkil III. (reg. 1508 – 1516 und 1517 während

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Anmerkungen

der Anwesenheit Selims in Kairo) wurde nach Istanbul verbracht. Zur Kalifenliste vgl. C.E. Bosworth: The new Islamic Dynasties, 7.  BZ, IV, 139 – 141, 324.  Ebd., IV, 360, 363 f.  Ebd., V, 104 f.  Ebd., V, 317, 352 f.  NS, fol. 138a und 144b.  T. Nagel: Ein früher Bericht über den Aufstand des Muḥammad b. ʿAbdallāh, in: Der Islam 46/1972, 227– 262.  C.E. Bosworth (Übers.): Al-Maqrīzī’s Book of Contention and Strife Concerning the Relations Between the Banū Umayya and the Banū Hāshim. Vgl. auch Die erdrückende Last des ewig Gültigen, Kapitel XIX.  Nagel: Untersuchungen zur Entstehung des abbasidischen Kalifats, Bonn 1972, 166 – 169.  LM, II, 33. Allerdings waren darunter nur die Nachkommen ʿAlīs und der Fāṭima, also nur die Hasaniten und die Husainiten, zu verstehen, wie aš-Šaʿrānī (BM/Ahlwardt 3184, fol. 77v–84r) ausdrücklich hervorhebt; als Nachfahre Muḥammad b. al-Ḥanafījas verfügt er damit nicht über die Fülle des Prestiges, das die eben genannten genießen dürfen. Deshalb will er die echten „Scharifen“ auch stets aufs höchste verehrt haben. Vgl. BM/B, 73 f., 88 f., 182 sowie BM/Ahlwardt 3185, 4, fol. 10a.  T. Nagel: Frühe Ismailiya und Fatimiden Im Lichte der Risālat iftitāḥ ad-daʿwa, Bonn 1972, 53 – 59; OV, 161, 166.  H. Halm: Das Reich des Mahdi, 19 f.  LM, II, 34; BM/Ahlwardt 3185, 4, fol. 4a; Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, neue Ausgabe, III, 228 – 232, §§ 199 – 204.Wie sich unten (zweiter Teil, Kapitel 3) zeigen wird, geht es bei der Berufung auf die Zugehörigkeit zur Prophetenfamilie nicht bloß darum, die Initiation durch eine den Meister übertreffende Autorität abzusichern (so E. Geoffroy mit Bezug auf die Wafāʾīja in: L’élection de Muḥammad et ʿAlī Wafā, in: Chih/Gril (Hgg.): Le saint et son milieu, 51– 61, hier 55). Es wird auf diese Weise vielmehr ein ganz anderer, weiter reichender Anspruch begründet: die bruchlose Eingefügtheit in Allahs Bestimmen. – Im Sinne aš-Šaʿrānīs äußert sich auch Ibn Ḥaǧar al-Haitamī zum Thema der prinzipiellen Sündenfreiheit der Nachkommen der Prophetenfamilie (FH, 166 f.).  LM, II, 34. Kennzeichnung der Nachkommen Ḥasans und Ḥusains mit einem grünen Stück Stoff unter al-Ašraf Šaʿbān (reg. 1363 – 1376): Die erdrückende Last des ewig Gültigen, 749.  T. Nagel: Die Tabuisierung der Person des Propheten Muḥammad, in: Preißler/Seiwert (Hgg.): Gnosisforschung und Religionsgeschichte. Festschrift für Kurt Rudolph, Marburg 1994, 479 – 488.  LM, I, 104.  Ebd., I, 185; vgl. ebd., I, 105. Daß Mohammed und seine Familie nichts aus dem Steueraufkommen für sich verwenden, da es sich bei diesen Mitteln um „den Schmutz der Leute“ handelt, ist eine bereits in frühester islamischer Zeit bezeugte Vorstellung. Die ṣadaqāt, die Abgabe, die beim Fernbleiben vom Dschihad fällig war, durfte nicht von ihnen in Anspruch genommen werden, eben weil sie der Verdeckung einer mangelhaften Gläubigkeit diente (vgl. MLL, 399).  I. Hrbek: Muḥammads Nachlaß und die Aliden, in: Archív Orientální 18/1950,  TK, II, 110.  Ebd., II, 111.  Ǧazīrat al-fīl: Nach im 13. Jahrhundert erfolgten Verlagerungen des Flußbettes des Nils entstandene Insel (S. Staffa: Conquest and Fusion, 108).  TK, II, 113.  Ebd., I, 154, 157 f.  al-Ġubrīnī: ʿUnwān ad-dirāja, 55 – 65; TK, I, 154, Zeile 22– 24.

Anmerkungen

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 Abdelkader: al-Junayd, 38.  T. Nagel: Die Festung des Glaubens, 112. Über die Lehren al-Ǧunaids s. vor allem IAK, 179-188.  TK, II, 81.  Ebd., II, 101.  Ebd., II, 89 f.  Vgl. oben, 54.  TK, II, 108.  Ebd., II, 102.  LM, II, 207. Die als Buße (arab.: at-tauba) bezeichnete Bekehrung durch einen Gottesfreund wurde als Islamannahme schlechthin verstanden, gleichgültig, ob sie ein Andersgläubiger oder ein Muslim vollzog (IAK, 193, 297).  Ebd., I, 219.  Ebd., I, 65.  TK, II, 132 f.  Zur „offiziösen“ Verehrung der Prophetenfamilie im Mamlukenreich vgl. mein Buch Die erdrückende Last des ewig Gültigen, Berlin 2018, Kapitel XIX. Vgl. oben, Anmerkung 99.  Das Erreichen der wahren Gottesfreundschaft jenseits der „Standplätze“ führt denjenigen, der diese Erfahrung macht, in eine Vereinsamung und Trennung von seinen Brüdern. Die islamische Literatur spätestens seit dem 13. Jahrhundert behandelt dieses Thema ausführlich (IAK, Kapitel 7).

Zweiter Teil Kapitel 1: Die Klause  LM, I, 160 f.  Vgl. oben, 174 f. Zum Eigentumsbegriff des islamischen Rechts: Eine „Beziehung“ (arab.: al-iḫtiṣāṣ) besteht zu Dingen, die zu eignen wegen ihrer rituellen Unreinheit verboten ist; dieser Begriff wird hier auf alle Güter ausgedehnt: Somit gibt es kein wirkliches Eigentum, selbst dann nicht, wenn das betreffende Gut durch eigene Arbeit nutzbar gemacht wurde.  AHM, IV, 130, 202.  Vgl. oben, 28.  ar-Rāzī: Mafātīḥ al-ġaib, XXI, 79 – 83 zu Sure 18, Vers 9 – 12.  Über die Lebenshaltung des tawakkul unterrichtet ausführlich Reinert: Die Lehre vom tawakkul in der klassischen Sufik. Noch in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts hielt ein berühmter schafiitischer Gelehrter Stiftungen zugunsten von Sufis für unzulässig, da die Mitglieder ihrer Gemeinschaften nicht durch klare Merkmale zu erkennen seien. Ibn aṣ-Ṣalāḥ (gest 1245) stellte folgende Kriterien auf: Aufenthalt an einem befestigten Grenzort zum KIampf gegen die Andersgläubigen; ein Lebenswandel ohne Verstöße gegen die Scharia, Tragen der Sufi-Kleidung; Verzicht auf Ausübung eines Handwerks oder Handels sowie jeder Tätigkeit, die in einem Laden vollzogen wird; ausgenommen hiervon sollten die Weberei und die Schneiderei sein sowie die Tätigkeit eines Schariagelehrten. „Die Unwissenheit genügt nicht, um ein Sufi zu sein“ (az-Zarkašī, Masāǧid, 405). Weitere Dreihundert Jahre später waren Stiftungen für Sufis und Gottesfreunde offenbar gar kein schariarechtliches Problem mehr. Aš-Šaʿrānī jedenfalls schweigt zu solchen Fragen.  LM, I, 74. Vgl. auch die Ausführungen ar-Rāzīs zum Lebensunterhalt, op. cit., XX, 63 – 69, zu Sure 16, Vers 71– 75.

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Anmerkungen

 Dieser Überzeugung ist auch as-Sikandarīs (gest. 1309) Buch mit dem Titel Laṭāʾif al-minan verpflichtet.  TK, II, 13, Zeile 31, sowie 14, Zeile 19 f.  Ebd., II, 12, Zeile 31– 33.  LM, I, 139 f.  Vgl. oben, 14. Zum islamischen Inhalt des Begriffs „Barmherzigkeit“ vgl. IAK, 11 f., 317 f., 325 f., 333 und 354 f.  MT, IV, 299 – 301. Dementsprechend schreibt aš-Šaʿrānī in dem Mitte der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts entstandenen al-Baḥr al-maurūd, es sei nützlich, wenn z. B. ein Koch ab dem letzten Drittel der Nacht – ab der Zeit, in der Allah für Bitten besonders zugänglich ist – Essen für die Glaubensbrüder zubereite; die Arbeit ist hier eindeutig als ein Gottesdienst aufgefaßt (BM/B, 134, Kapitel 119).  Mulūḫīja, woraus ein in Ägypten beliebtes Gericht bereitet wird (A. Dietrich: Dioskurides triumphans, 2. Teil, II, § 101).  MT, IV, 97– 99. Die von Jürgen Paul (Die politische und soziale Bedeutung der Naqšbandiyya in Mittelasien im 15. Jahrhundert) untersuchte Sufigemeinschaft strebte ein Leben in schariatischer Rechtmäßigkeit an und wirkte dementsprechend auf ihre Mitglieder ein.  MT, IV, 79 – 83.  al-Māwardī: Adab ad-dunjā wad-dīn, 114 f.  Ebd., 132– 134.  T. Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, I, 379 – 394.  al-Māwardī, op. cit., 146.  ar-Rāzī: Muḥaṣṣil afkār al-mutaqaddimīn, 106 f.  Ebd., 39 – 41.  Ebd., 108.  Vgl. T. Nagel: Die Festung des Glaubens, 127, 131.  ar-Rāzī: Mafātīḥ al-ġaib, II, 101 f. zu Sure 2, Vers 22. Vgl. ferner T. Nagel: Der Textbezüglichkeit entrinnen?  FH, 105.  TK, II, 129 f.  LM, I, 55.  Aš-Šaʿrānī nennt diesen Afḍal ad-Dīn al-Aḥmadī (gest. 1535/6) stets seinen Bruder. Er war sein enger Freund, wohl auch einer der Lehrer aš-Šaʿrānīs (M. Winter: Society and Religion in Early Ottoman Egypt, 58). Vgl. ferner an-Nabhānī: Ǧāmiʿ karāmāt al-aulijāʾ, I, 361 f.  LM, I, 56.  Ebd., I, 57.  Ebd., I, 61.  Ebd., I, 62.  Ebd., I, 63.  Ebd., I, 151; vgl. ebd., I, 135.  Ebd., I, 135 f.  Ebd., I, 87. Aus dem 1524 erlassenen Kanunname für Ägypten geht hervor, daß zahlreiche – entsprechend zu entlohnende – Hilfskräfte mit dem Einziehen der Abgaben auf den Dörfern befaßt waren (Barkan: Kanunlar, 366 – 368). Offenbar mit derartigen Tätigkeiten hatte aš-Šaʿrānī nach eigenem Bekunden nie zu tun. Zu seinen Überlegungen über die Vorsicht, die man bei der Annahme von Geschenken aus den Händen der Machthaber walten lassen müsse, vgl. auch ad-Dālī: Zāwijat ašŠaʿrānī, 10 – 13.

Anmerkungen

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 LM, I, 133.  Ebd., I, 178.  Ebd., II, 30.  Ebd., II, 154.  Ebd., I, 167 f.  Ebd., II, 141 f.  Ebd., I, 216.  Ein Irdabb entspricht in Ägypten 198 l.  Am siebten Tag nach der Geburt werden die Haare des Kindes geschoren. Dieser Brauch trat an die Stelle der vorislamischen Sitte, den Kopf des Kindes mit dem Blut eines Opfertieres zu beschmieren. Das Scheren der Haare soll, wie ein Autor des 14. Jahrhunderts schreibt, das Neugeborene aus den Fesseln des Satans befreien (G. Adamek: Das Kleinkind in Glaube und Sitte der Araber im Mittelalter, 122– 127).  LM, II, 160.  In dieser apodiktischen Form scheint die Überlieferung in den großen Sammlungen zu fehlen; vgl. jedoch AHM, I, 248 (= AHM/n Nr. 2234).  LM, II, 161.  TK, II, 134.  MT, IV, 167– 169 und 192– 194.  Wegen des Mangels an Brennstoff war es in Kairo üblich, daß sich die Bevölkerung warme Mahlzeiten bei den zahlreichen Garköchen kaufte, die in jeweils auf ein Gericht spezialisierten Gassen ihre Erzeugnisse feilboten (Johann Graf zu Solms in: Reyßbuch, 108b und Johann Helfferich, ebd., 392a–b).  Die Klause, die Muḥammad al-Ġamrī in al-Maḥalla al-Kubrā aufgebaut hatte, wird gemeint sein (TK, II, 87).  LM, II, 160.  Ein Qinṭār entspricht in Ägypten ungefähr 45 kg.  Vgl. Anmerkung 134 im Kapitel Der Gottesfreund und die Mächtigen.  LM, II, 161; vgl. MK, 72 f.  LM, II, 165. Vgl. dazu unten, Kapitel Der Einzelne und die Mitmenschen, Teilkapitel 4.  LM, II, 163.  Ebd., aaO.  H. Ritter: Ḥasan al-Baṣrī. Studien zur islamischen Frömmigkeit, 26.  Vgl. oben den Beginn des Prologs.  Vgl. R. Gramlich (Übers.): Die Nahrung der Herzen, III, 293 f.  LM, II, 165.  Ebd., II, 186 f.  BZ, I/1, 544– 547.  LM, II, 68 f.  Ebd., II, 154.  Ebd., II, 152 f.  Wörtliche Übersetzung: „Der Nilstrom, zu dem man um zu trinken hinabsteigt“.  BM/B, 342.  LAQ, 14.  Möglicherweise hat aš-Šaʿrānī nicht das Amt des Muḥtasibs im Auge, das er nicht erwähnt, sondern einen Gottesfreund, der unabhängig von der Staatsmacht seinen Einfluß auf einem Markt zur Geltung bringt. Er spricht von der mašjaḫat as-sūq.

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Anmerkungen

 BM/B, 312.  TK, II, 170 f.  LM, II, 166 ult.  Zum Verhältnis der prosopographischen Werke aš-Šaʿrānī zueinander vgl. J.-C. Garcin: Index des Ṭabaqāt de Shaʿrānī.  Über ihn vgl. KS, II, 149.  TS, 96 f.  LM, II, 167, Zeile 16.  Ebd., II, 167 f.  Ebd., I, 171.  LM, I, 172.  Vgl. dazu unten das Kapitel Leiden für Ägypten und den Sultan.  LM, I, 200.  TS, 113 f.  LM, I, 201 f.  Ebd., I, 192.  Ebd., II, 17.  Ebd., II, 16.  Ebd., I, 192.  Ebd., II, 207 f. Zur Sitte der Geburtstagsfeiern für verstorbene Gottesfreunde vgl. M. Winter: Society and Religion in Early Ottoman Egypt, 177– 184 und ders.: Egyptian Society under Ottoman Rule 1517 – 1798, 175 – 184.  T. Andrae: Islamische Mystiker, 55.  LM, II, 158 f.  BM/B, 346, 349.  Vgl. Prolog, 9 – 17.

Kapitel 2: Kosmos und Charakter  Wer sich im Spiegel betrachtet, nimmt das rechte Auge im ihm zugewandten Spiegelbild zwar auf dessen – virtuell – linker Seite wahr; aber was er dort wahrnimmt, ist sein eigenes rechtes Auge.  LM, II, 82. Man nahm im übrigen an, daß Mohammed einen lichten geistigen Kern habe, der durch seine materielle Erscheinungsform eingehüllt wurde, damit die Menschen überhaupt mit ihm in Beziehung treten konnten (AL, 158 – 166).  OV, 207.  Ebd., 26 und 301– 315.  TS, 112. Es ist nicht klar, ob in dieser Kurzvita vom Vater oder vom Sohn die Rede ist. Der letztere hat aš-Šaʿrānī diese Episode erzählt.  al-Laqānī: Ǧauharat at-tauḥīd, Vers 104.  LM, II, 96.  Ebd., II, 98 f.  Ebd., II, 105 f.  Ebd., II, 99.  Ebd., II, 119.  Abū Nuʿaim: Ḥiljat al-aulijāʾ, V, 122– 129.  LM, II, 144.

Anmerkungen

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 Vgl. oben, 114 f. Die durch Allah gewohnheitsmäßig eingehaltene zeitliche Aufeinanderfolge von bestimmten Schöpfungsakten wird von den im Diesseitigen befangenen Menschen als innerweltliche Kausalität mißverstanden (vgl. IAK, 229 f.).  LM, II, 106 f. Vgl. OV, 632– 634. Im iranisch geprägten Islam jener Zeit wird dem Wein jene die Sinne entschränkende Wirkung zugesprochen.Vgl. die Beispiele in T. Nagel: Timur der Eroberer, 264– 268. Die theologischen und metaphysischen Vorstellungen, die sich mit Ekstase und den Verstand übersteigender Liebe (arab.: al-ʿišq) verbinden, werden ausführlich analysiert in IAK, Teil IV, VI und VII.  as-Samarqandī: Tanbīh al-ġāfilīn, 13 f. As-Samarqandī interessiert sich nur beiläufig und nur ganz allgemein für den Erwerb, und zwar im Zusammenhang mit einem der folgenden vier Lebensmuster: Herrscher, Gelehrte, Glaubenskrieger, Gewerbetreibende (ebd., 358).  Vgl. hierzu OV, 230.  as-Samarqandī, op. cit., 23.  Brockelmann: GAL/G, I, 415 f.  MIQ, 2. Eine kleine vermutlich hieraus geschöpfte Abhandlung mit dem Titel ʿAḏāb al-qabr ist 1995 in Kairo gedruckt worden (ed. ʿAbd al-Muḥsin Sulaimān Šaʿlān).  MIQ, 27 f.  Ebd., 49 – 55.  Ebd., 57.  Ebd., 87.  T. Nagel: Die Festung des Glaubens, 110. Ferner IAK, 72.  MIQ, 18 – 20.  Was ich hier kurz zusammenfasse, habe ich ausführlich im IX. Kapitel meines Buches Die erdrückende Last des ewig Gültigen, Berlin 2018, dargelegt; vgl. ferner meinen Aufsatz Jusuf, Zulaicha und die „Seele, die zum Bösen treibt“ , in: Eothen 1993/6, 81– 95.  OV, 396 – 421. Einzelheiten über die vielschichtigen islamischen Gedanken zum Verhältnis zwischen Seele und materiellem Sein entnehme man meiner umfangreichen Studie IAK, Teil III bis V.  Er war ein schafiitischer Rechtsgelehrter, der sich in zwei Traktaten für das Verbot des Haschischgenusses einsetzte. Vgl. I. Lozano Camara: Tres tratados, 51.  Von einer vielwegig verbürgten Überlieferung spricht man, sobald die Zahl der Bürgen so groß ist, daß man nicht mehr annehmen kann, sie hätten sich zum Verbreiten einer Lüge verschworen.  Ibn al-Baiṭār ist der Verfasser eines berühmten Werkes über Heilmittel und Nährstoffe.  Bedeutender schafiitischer Rechtsgelehrter der frühen Mamlukenzeit.  Das Verbot gründet sich wie beim Alkohol auf die berauschende, den Verstand, der einen zum Gehorsam gegen Allah anhält, schwächende Wirkung. Vgl. im übrigen Fr. Rosenthal: The Herb. Hashish versus Medieval Muslim Society.  Er war einer der wichtigsten Schüler aš-Šāfiʿīs.  Es zählt also nicht zu den wertlosen oder unreinen Dingen, die nach islamischem Recht nur unter ganz besonderen Umständen Gegenstand eines gültigen Rechtsgeschäftes sein können.  Text: b-r-š. Nach E. Fagnan: Additions aux dictionnaires arabes, 11 handelt es sich um eine „substance enivrante; c’est, d’après Sontheimer, le semecarpus anarcadium“. Unter diesem lateinischen Namen findet man in den einschlägigen Kompendien den ostindischen Tintenbaum verzeichnet (z. B. H. Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen, Basel 1976), dem dort freilich keine berauschende Wirkung zugeschrieben wird. Laut J.W. Redhouse: A Turkish and English Lexikon, 355 ist bersh eine Latwerge aus Hanfblättern, Opiumtinktur und Zuckersud. Diese Latwerge fand vor allem im 16. Jahrhundert in der islamischen Welt weite Verbreitung; ihr

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Anmerkungen

wesentlicher Bestandteil war das Opium. Zu Einzelheiten vgl. I. Lozano Camara: Tres tratados, 151– 161 sowie Fr. Rosenthal: The Herb, 31– 33, wo barš als maʿǧūn ḫabīṯ, d. h. „üble Paste“ bezeichnet wird.  LM, II, 133 f.  Ebd., II, 89.  Ebd., I, 81.  Ebd., I, 80.  Der überraschende Angriff nach vorgetäuschter Flucht war eine beliebte beduinische Kriegstaktik (G. Jacob: Altarabisches Beduinenleben, 130).  LM, II, 173.  OV, 491.  Aš-Šaʿrānī gerät hier in einen scheinbaren Widerspruch zu der an anderer Stelle (vgl. oben, 120 – 122) getroffenen Behauptung, die Gottesfreundschaft sei von unzerstörbarer Wesensart. Als einem Gottesfreund unterlaufen ihm zwar noch Verstöße gegen die Scharia, aber, wie er beteuert, bereue er sie unverzüglich und bleibe daher im Zustand der Hingewandtheit zu Allah. Da Schöpfung als der Prozeß der Entfaltung des unumgrenzten göttlichen Seins hinab in das umgrenzte, diesseitige Sein verstanden wird (IAK, Teil III und IV), liegen die Ansichten , die der Autor hier vertritt, durchaus nahe.  LM, II, 200 f. Das Gottesverständnis kann rein intellektuell „aufwachsen“ oder über Intuition; vgl. hierzu Ibn ʿArabī: Fuṣūṣ al-ḥikam, 181 f. Das diesseitige „Auwachsen“ (arab.: an-našʾatu l-ūlā) enthält die Anlagen zum Guten und zum Bösen, das jenseitige (arab.: an-našʾatu l-uḫrā, Sure 53, 47) unterliegt nicht mehr dieser Doppeldeutigkeit.  BS, tafsīr sūrat 92.  LM, II, 178 f.  Vgl. das Beispiel oben, 117 f. Drehung der Sphären, bereits von al-Ġazālī als Vermittlung des Schöpfungshandelns beschrieben: IAK, Teil III/2, 246–248.  LM, II, 14. Vgl. oben, 90.  OV, 518 – 530.  MK, 108.  al-Wāḥidī: Asbāb an-nuzūl, 133.  LM, II, 181, Zeile 26 f.  Ebd., 180 – 182. Nur der äußerlich erkennbare Sachverhalt ist der Bewertung durch die Scharia zugänglich (IAK, Teil II, 98 f.).  Zum taḫalluq bi-aḫlāq Allāh vgl. OV, 412– 420, 467.  AM, I, 95. Die sogenannten ādāb bilden ein Sondergebiet des ḥadīṯ, für dessen Überlieferung weniger strenge Regeln gelten (Die erdrückende Last des ewig Gültigen, 213; IAK, 120).  AM, I, 187– 215.  Ebd., I, 110 – 112.  Ebd., I, 120 f. Vgl. Die erdrückende Last des ewig Gültigen, Kapitel XX.  AM, I, 518.  Ebd., I, 523.  Ebd., I, 381; und II, 314.  Ebd., I, 574; vgl. LM, II, 117.  AM, I, 619.  Ebd., I, 492.  Ebd., 463. Zu den „matbūlīschen Charaktereigenschaften“ vgl. jetzt auch die Studie von C. Mayeur-Jaouen:Le cheikh scrupuleux et l’émir généreux à travers les Aḫlāq matbūliyya de Šaʿrānī, in: Chih/Gril (Hgg.): Le saint et son milieu, Kairo 2000 (Cahier des Annales Islamologiques 19), 83 – 115.

Anmerkungen

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Zum angeblichen Pantheismus Ibn ʿArabīs und dessen Zurückweisung durch aš-Šaʿrānī s. IAK,, Teil V/ 2, besonders 459 f.

Kapitel 3: Der Einzelne, die Mitmenschen und das Gesetz  LM, II, 39. Über das Verhältnis zwischen menschengemachten Gesetzen und der Scharia unterrichtet ausführlich IAK, Teil V/1.  aṭ-Ṭabarī: Annales, I, 1147.  Das Zerwürfnis, das hier zur Debatte steht, reicht bis in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zurück. Damals verbrannten malikitische Gelehrte, unter ihnen der berühmte al-Qāḍī ʿIjāḍ, alĠazālīs Iḥjāʾ ʿulūm ad-dīn. In seinem Kommentar zu diesem Werk, dem Itḥāf as-sāda al-muttaqīn, geht al-Murtaḍā az-Zabīdī (gest. 1790/1) diesen Fragen im einzelnen nach.Vgl. ferner ausführlich IAK, Teil V.  as-Sujūṭī: at-Taḥadduṯ, II, 187 f.; vgl. ebd., I, 54– 59. Ferner as-Saḫāwī: aḍ-Ḍauʾ al-lāmiʿ, I, 107.  Ein Gelehrter, der die Lektüre der Werke von Ibn ʿArabī untersagte, wurde deswegen von Sultan Qaitbai zurechtgewiesen (KS, I, 116). Im übrigen stritt man darüber, ob Ibn ʿArabī oder ʿUmar b. alFāriḍ der bedeutendere Interpret islamischer Spiritualität sei (KS, I, 204).  Zu den Einzelheiten vgl. OV, drittes Buch, sowie In Allahs Kosmos, Kapitel IV.  So entfernte Süleyman einen Gelehrten aus dem Amt, weil dieser Ibn ʿArabī geschmäht hatte (KS, II, 28). Vgl. im übrigen E. Geoffroy: Le soufisme en Egypte et en Syrie, 133 – 135.  TS, 88 f., 91, 93, 108 – 112.  LM, II, 87– 89.  Vgl. oben, 264.  Also jemand, der in allem dem Propheten das letzte Wort läßt; um dies vor seinen Feinden zu demonstrieren, verfaßte er, wie bereits angedeutet, seine umfangreiche Sammlung der Mohammedanischen Verpflichtungen (LAQ, 14).  AMI, 76.  Ebd., 313.  Ausführlich über diese Affären: LM, I, 44– 47.  Auch in AMI, 391– 520 beschäftigt sich aš-Šaʿrānī mit der Verteidigung einzelner Lehren Ibn ʿArabīs, doch ist die Behandlung des Stoffes in den Saphiren und Juwelen etwas ergiebiger.  Abū Ṭāhir al-Qazwīnī. Sein Kitāb sirāǧ al-ʿuqūl zitiert aš-Šaʿrānī in AMI, 297: Abū Ṭāhir al-Qazwīnī versteht die Huldwunder der Gottesfreunde gleichsam als deren Beglaubigungswunder, angesichts deren die Buchgelehrten verstummen sollten. Laut C. Brockelmann: GAL/S, I, 742 handelt es sich bei dem Kitāb sirāǧ al-ʿuqūl um einen Kommentar zu al-Baiḍāwīs (gest. 1316) Werk Minhāǧ al-wuṣūl ilā ʿilm al-uṣūl, eine Abhandlung über die Grundlagen der Schariawissenschaft.  JG, I, 114 f. (= JG/B, 155 – 159).  D.h. Allah schafft aus dem Nichts und ohne Werkzeuge.  Über den rechtstheoretischen Hintergrung dieser Debatte vgl. OV, 81 und 202 f.  JG, I, 153 (= JG/B, 209 f.)  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, III, 355 f.  Ebd., III, 358.  JG, I, 153 ult. (= JG/B, 209, Zeile 23); AHM, V, 68.  OV, 464 und 473 – 494.  JG, II, 135.  Ebd., II, 93.

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Anmerkungen

 KA, I, 2 f.  LM, II, 63 f. Vgl. Ibn Ḫaldūn in IAK, Teil V/1.  Das heutige Stadtviertel Demirdaš.  KS, I, 192 f.; TK, II, 147 f.  W. Graham: Divine Word amd Prophetic Word, Nr. 61.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, neue Ausgabe, IX, 99, §§ 69 – 70.  T. Nagel: Ibn al-ʿArabī und das Asch’aritentum, 229.  Vgl. im Prolog das „heilige Ḥadīṯ“: „…bis Gott sein Gesichtssinn ist…“ (S. 25).  Nämlich in den Vorschriften über das Fastenbrechen.  Ibn ʿArabī, op. cit., neue Ausgabe, IX, 100 – 104, §§ 71– 74. Vgl. IAK, 27-29 und 381 f.  Ebd., IX, 105 – 108, §§ 78 – 85.  KA, I, 92.  TS, 77– 79; KS, II, 112 f. und 221; M. Winter: Society and Religion in Early Ottoman Egypt, 227.  LM, I, 47. Vgl. oben, 90 – 92. und IAK, Teil V/2.  GD, 3.  LM, I, 47.  Ebd., I, 44.  Vgl. oben, 266.  Ibn Nuǧaim: Rasāʾil, 338 – 340.  LM, II, 77 f.  MAS, 80 f.  TK, II, 88.  AQS, I, 92– 94.  Fr. Meier: Ḫurāsān und das Ende der klassischen Sufik, Nachdruck in E. Glassen/G. Schubert (Hgg.): Bausteine, Band I, 131– 156, hier 133 – 142.  AQS, I, 193.  Vgl. oben, 285 f.  AQS, I, 193. Zum Wesen der unerwidert bleibenden Liebe (arab.: al-ʿišq) zu Allah vgl. IAK, Teil VII/1 und VII/2.  W. Graham: Divine Word and Prophetic Word, 173; vgl. OV, drittes Buch.  AQS, I, 198 f.  Ebd., I, 184.  Ebd., I, 189 f.  Vgl. oben, 117 f.  Ingolf Vereno kommt in seiner Dissertation Studien zum ältesten alchemistischen Schrifttum. Auf der Grundlage zweier erstmals edierter arabischer Hermetica zu der Erkenntnis, die älteste Alchimie sei eine gnostische Erlösungslehre gewesen, „die auf materieller Ebene in der Darstellung des göttlichen Wassers ihre Entsprechung hat“ (S. 339). Die „Goldmacherei“ wäre demnach ein aus den ursprünglich obwaltenden spirituellen Zusammenhängen gelöstes materielles Verfahren.  Ohne auf die antike Herkunft dieser Theorie der Entstehung von Erzen und Mineralien einzugehen, verweise ich auf das im islamischen Mittelalter weitverbreitete Steinbuch des at-Tīfāšī (gest. 1253), der nicht nur beschreibt, wie sich die Mineralien und Erze im Berg herausbilden – der Türkis beispielsweise aus Kupferdämpfen, die sich niederschlagen –, sondern sich auch über deren Verwendungsmöglichkeiten und okkulte Eigenschaften äußert. Avicenna übrigens, der sich eingehend mit den „naturwissenschaftlichen“ Aspekten der Mineralien und Erze beschäftigte, gelangte zu der Überzeugung, es sei unmöglich, ein Metall in ein anderes umzuwandeln, da ein jedes seine spezifischen Eigenschaften besitze (Holmyard/Mandeville: Avicennae de congelatione…lapidum, 6).

Anmerkungen

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 Zahlreiche Belege, vgl. Wensinck: Concordance et indices, V, 177 f.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 271, Zeile 26 f.  AL, 353; zum vom Lichtstrahl Allahs getroffenen Staub (arab.: al-habāʾ) vgl. auch unten, 488 f.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 282, Zeile 22: „Der Ursprung der Welt ist in den nomos-Regelungen (arab.: Pl. al-aḥkām an-nāmūsīja) gegeben.“  Hiervon handle ich ausführlich in dem Aufsatz Der Textbezüglichkeit entrinnen? Al-Ġazālīs Erneuerung der Lehre vom tauḥīd.  AL, 325 – 352.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 282, Zeile 25 – 32.  Ebd., II, 278, Zeile 19 – 25.  Ebd., II, 277, Zeile 17 f.  Vgl. z. B. oben, 117.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 277, Zeile 21– 28.  Vgl. oben, 118 – 120.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 278, Zeile 15 – 18.  Vgl. oben, 114 f.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, 278, Zeile 10.  Vgl. unter anderem aš-Šaʿrānīs spirituelle „Weltreisen“ oben, 228 und unten, 476.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 279, Zeile 6 – 10.  Ebd., II, Zeile 29 – 280, Zeile 1.  OV, 446 – 452; AL, 341– 343.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 282, Zeile 1– 3.  Ebd., II, 282, Zeile 14 f.  Nach einem Ausspruch Mohammeds war Johannes der Täufer der einzige Mensch, der niemals auch nur die Absicht faßte, eine Sünde zu begehen (vgl. aṯ-Ṯaʿlabī: ʿArāʾis al-maǧālis, 336).  Vgl. oben, 363; ferner OV, 462– 494. Es liegt diesen Gedanken das Konzept des metaphysischen Knechtszustandes des Menschen (arab.: al-ʿubūdīja) zugrunde, der von dem schariatischen (arab.: attaʿabbud) zu unterscheiden ist, IAK, 393.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, neue Ausgabe, II, 365 – 367, §§ 571– 573.  AQS, I, 160.  Ebd., I, 122.  LM, I, 73.  In Sure 33,Vers 53, untersagt Mohammed seinen Gefolgsleuten, nach seinem Ableben eine seiner Ehefrauen zu heiraten. Da die Gottesfreunde ähnlich wie Mohammed in den Seinsbereich des Verborgenen Einblick haben, sind deren Witwen ebenfalls tabu.  TK, II, 185.  Ebd., II, 182.  LM, II, 220 f.  AHM, V, 173.  LM, II, 104.  Mit dem Ausspruch „Der Beste dieser Glaubensgemeinschaft ist derjenige, der die meisten Frauen hat“ (Ibn Saʿd: Ṭabaqāt, I/II, 95, Zeile 20) soll Mohammed auf sich selber als denjenigen hingewiesen haben, dessen fabelhafte Potenz (ebd., 96 f.) als ein Zeichen göttlicher Erwähltheit zu werten sei. Gleichwohl ist der Geschlechtsakt mit zahlreichen Tabuvorstellungen belastet (vgl. G. Adamek: Das Kleinkind in Glaube und Sitte der Araber im Mittelalter, 58 – 68), die unter anderem in dem folgenden Ḥadīṯ zum Ausdruck kommen: „Was hindert jemanden von euch daran, beim Verkehr mit seiner Frau zu sagen: ‚Im Namen Allahs! O Allah, halte den Satan von uns fern, halte den

562

Anmerkungen

Satan von dem (Kind) fern, das du schenkst!‘? Sollte Allah ein Kind bescheren, kann ihm der Satan dann keinen Schaden zufügen“ (ad-Dārimī: Sunan, nikāḥ 29). Eine umfassende Auswertung der reichen zur Thematik des Geschlechstverkehrs überlieferten islamischen Literatur unter Gesichtspunkten der Volks- und Völkerkunde steht noch aus.  LM, II, 171 f.  Hier steht im Text irrtümlich das Suffix der 3. Person plur. masc.  LM, II, 113.  Ebd., II, 44.  FH, 85. Luqmān ist eine altarabische, schon vor Mohammed bekannte Sagengestalt, die im Koran als weiser Spruchdichter gezeichnet wird.  AQS, I, 76.  MK, 143.  In den sechs kanonischen Sammlungen nicht belegtes Ḥadīṯ. Die Beschneidung ist nach einem bei Aḥmad b. Ḥanbal (AHM, V, 75) überlieferten Ausspruch Mohammeds bei den Knaben ein empfehlenswerter Brauch (arab.: as-sunna), bei den Mädchen dagegen eine edle Tat (arab.: al-makruma) – vermutlich weil das beschnittene Mädchen – den wertvolleren Knaben vergleichbar – nun auch durch ein unabänderliches und von Allah befürwortetes Zeichen als zur „besten Gemeinschaft“ (Sure 3, 110) zugehörig markiert ist. So findet denn auch dieser archaische Brauch im Islam seine religiöse Rechtfertigung. Umm ʿAṭīja war eine in Medina tätige Mädchenbeschneiderein (Ibn Ḥaǧar: al-Iṣāba, VIII, 262, Nr. 12168 = alte Ausgabe, IV, 477, Nr. 1416). Das von aš-Šaʿrānī zitierte Ḥadīṯ liegt in mehreren bedeutungsgleichen Varianten vor (vgl. az-Zabīdī: Tāǧ al-ʿarūs, s.v. š-m-m).  LM, II, 110 f. Nach einem weit verbreiteten Ḥadīṯ (z. B. MS, az-zakāt 53) ist der Geschlechtsverkehr eine ṣadaqa. Ursprünglich bedeutete dies eine die muǧāhidūn unterstützende Pflichtabgabe der Nichtkombattanten (MLL, 396 – 402). In dem betreffenden Ḥadīṯ ist allerdings schon das gottgefällige Almosen gemeint. An-Nawawī nahm dieses Ḥadīṯ in seine Sammlung der vierzig wichtigsten Überlieferungen auf (Pouzet, 166 f., Nr. 25).  LM, I, 52.  Ebd., I, 205 f.  Ibn ʿArabī: Fuṣūṣ al-ḥikam, 224; OV, drittes Buch, Kapitel IV.  Laut Sure 4, Vers 1 sind Mann und Frau „aus einem (einzigen) Wesen“ geschaffen worden, also aus einem androgynen Urmenschen hervorgegangen (MLL, 335). Daß Eva aus der Rippe (arab.: aḍḍilʿ) Adams gebildet worden sei, findet sich im Koran nicht. Diese Vorstellung ist jedoch, wie so viel biblischer Stoff, in frühislamischer Zeit zu muslimischem Gemeingut geworden (vgl. aṯ-Ṯaʿlabī: ʿArāʾis al-maǧālis, 25, wo die Bildung Evas aus der Rippe Adams auf „die Korankommentatoren“, nicht aber auf den Koran zurückgeführt wird). Ibn ʿArabī macht sich im übrigen den Umstand zunutze, daß in aḍ-ḍilʿ „die Rippe“ und aḍ-ḍalʿ „die Zuneigung“ zwei homonyme Wurzeln vorliegen.  Ibn ʿArabī, op. cit., 217. Das Ḥadīṯ steht bei an-Nasāʾī (ʿišrat an-nisāʾ 1) und bei AHM, III, 128, 199 und 285. In den islamischen Prophetenviten ist mit Mohammeds Liebe zu den Frauen ganz vordergründig die Befriedigung der Wollust gemeint; denn der Prophet hatte, so wird erzählt, von Allah eine Zeugungskraft erhalten, die derjenigen von vierzig gewöhnlichen Männern gleichkam (Ibn Saʿd: Kitāb aṭ-ṭabaqāt al-kabīr, I/II, 96 f.). In der dogmatisierten Darstellung der Vita des Gründers des Islams, die aus der Feder des Qāḍīs ʿIjāḍ (gest. 1149) stammt und deren Inhalt bis heute als das gleichsam kanonisierte Mohammedbild der Sunniten gilt, wird die stupende Potenz des Propheten ebenfalls gerühmt. Laut dem Qāḍī ʿIjāḍ empfahl der Prophet seinen Glaubensbrüdern die möglichst häufige Ausübung des Beischlafs, weil dies jedem Manne zur Ehre gereiche, zudem das Wachstum der Gemeinschaft der Muslime fördere und überdies die Frauen vor dem Begehen von Unzucht bewahre (Kitāb aš-šifāʾ, I, 87– 90).

Anmerkungen

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 Näheres in OV, drittes Buch.  Ibn ʿArabī: Fuṣūṣ al-ḥikam, 218. Weiteres zu Ibn ʿArabīs Auslegung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau als einer Erscheinungsweise der Selbstliebe Allahs in IAK,, Teil V/2, 444-451.  OV, 454– 492.  LM, I, 118.  Ebd., I, 119 f.  al-ʿUṯmānī: Raḥmat al-umma, 5 f.  Ebd., 3.  T. Nagel: Timur der Eroberer, 289.  Ders.: Das islamische Recht, 284– 294.  Ders.: Die Festung des Glaubens, 179 – 271.  LM, II, 233: Rabīʿ al-auwal 961 (begann am 4. Februar 1554).  Ebd., II, 210; vgl. ebd., II, 198.  Ebd., II, 118.  AHM, IV, 114; weitere Belege finden sich bei Wensinck: Concordance, s.v. ḫ-r-r.  Ibn Nuǧaim: al-Ḫair al-bāqī, in: Rasāʾil, 9 – 21.  LM, I, 120.  Ebd., I, 125.  Ebd., II, 61 f.  Ebd., II, 120.  BM/B, 351.  Ebd., 371.  Ebd., 372.  LM, II, 190 f.  KS, II, 201– 203. Über al-Kāzawānī vgl. E. Geoffroy: Le soufisme en Egypte et en Syrie, 178 – 183 und 220 f.  BM/B, 2.  Erzählende Literatur konnte sich deshalb in der islamischen Kultur nur in bescheidenem Zuschnitt herausbilden; Gattungen wie der Roman oder die Kurzgeschichte entstanden erst unter westlichem Einfluß.  BM/B, 3 – 6. In der Tat fällte ʿUmar Entscheidungen nach Maßgabe der eigenen Einsicht, so wie es Mohammed vor ihm auch schon getan hatte, d. h. unabhängig von den autoritativen Aussagen, die der Koran enthielt. Letztere betrafen bei weitem nicht alle Fragen, die sich aus dem überraschenden Wachstum des Gemeinwesens in jenen ersten Jahrzehnten nach Mohammeds Tod ergaben, und das ḥadīṯ als ergänzende autoritative Quelle stand ja noch nicht zur Verfügung. Die durch ʿUmar in Auftrag gegebene – und unter ʿUṯmān fertiggestellte – endgültige Fassung der mohammedschen Offenbarungen sollte den Muslimen ermöglichen, klar zwischen dem autoritativen Text einerseits und den der freien Entscheidung anheimgegebenen Sachgebieten andererseits zu trennen (MLL, 529 – 544, 690 – 701).  BM/Ahlwardt 3184, fol. 2a–4a.  LM, I, 47.  OV, 409.  BM/B, 353 – 356.  Vgl. hierüber T. Nagel: Aš-Šāfiʿīs Konzept des Wissens.  BM/B, 350.  Bekanntes, in verschiedenen Fassungen umlaufendes Ḥadīṯ (AHM, V, 243), das wegen seines anthropomorphistischen Inhalts nicht in die kanonischen sechs Sammlungen aufgenommen wurde

564

Anmerkungen

(vgl. G. Lecomte: Le traité des divergences du Ḥadīṯ d’Ibn Qutayba, 7 und 240). Kühle bei der Berührung mit dem Transzendenten: IAK, Teil V/2, 535.  GD, 8 f.  Ebd., 49.  Ebd., 31.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, neue Ausgabe, III, 232 f., §§ 204 f.  Ebd., III, 238 f., §§ 209 f.  OV, 489. Ibn ʿArabī steht mit dieser Lehre in der langen Tradition des islamischen Prädestinationsglaubens, dessen Verknüpfung mit der koranischen Kosmologie er jedoch schärfer herausgearbeitet hat.  Über dieses Problem unterrichtet ausführlich T. Nagel: Das islamische Recht, 15 – 17. Vgl. auch B. Krawietz: Die Hierarchie der Rechtsquellen im Islam, 142, 190, 214.  Mittelbares Zitat der im Koran häufigen Floskel baijina min rabbi-kum/rabbi-hī (vgl. Sure 7,Verse 73, 85 und 105):  Über die Bedeutung des Begriffes al-baṣīra vgl. ausführlich OV, 211, 223, 317, 358, 361, 407, 467, 549, 632, 638; ferner IAK, Teil II/5, 182; Teil III/1, 233 und Teil V/3, 471.  Ibn ʿArabī, op. cit., III, 239 – 242 nebst Fußnote auf 242, §§ 211– 213.  OV, 74– 84.  GD, 80, mit Verweis auf das 369. Kapitel der Mekkanischen Eröffnungen. Dort legt Ibn ʿArabī die kosmologischen Voraussetzungen dieser Zweiteilung der Gesetzgebung dar (Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, III, 405).  OV, 454– 472.  GD, 81– 83; vgl. die Überlegungen Ibn Ḫaldūns, IAK, Teil V/1.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, neue Ausgabe, VIII, 179, § 224.  AMI, 579.  Ebd., 348 f.; Erörterung des Sachverhalts auf begrifflicher Ebene ebd., 159 f.  Ebd., 357– 359.  M. Winter: Religion and Society in Early Ottoman Egypt, 64 f.  LM, II, 120.  Ebd., II, 206 f.  Es wurde wahrscheinlich im Jahre 967 (begann am 3. Oktober 1559) oder danach fertiggestellt, denn dieses Jahr wird in einer „Weissagung“ genannt (TS, 31).  TS, 16 f. und 20 – 26.  LM, I, 142.  Ebd., II, 147.  MHD, 8 und 95: Zweiunddreißig Mondjahre nach der in das Jahr 931 (begann am 29. Oktober 1524) verlegten Begegnung mit al-Ḫaḍir. Über die Gestalt al-Ḫaḍirs unterrichtet die ausführliche Studie von P. Franke: Begegnung mit Khiḍr.  Ebd., 8 f. Zur Initiierung Ibn ʿArabīs durch al-Ḫaḍir vgl. oben, 89.  Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī: al-Iṣāba, alte Ausgabe, II, 291.  Ebd., II, 294.  MHD, 9.  Ebd., 11– 13.  Ebd., 17.  Ebd., aaO. Statt wie zu Anfang ist hier nicht von der„Rangfolge des Seins“ die Rede, sondern von der „Rangfolge der Verpflichtung“, die sich allerdings aus dem ergibt, was ist, nämlich aus dem jeweiligen Handlungsvermögen.

Anmerkungen

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 MHD, 18.  B. Radtke: Drei Schriften des Theosophen von Tirmiḏ. Zweiter Teil, Übersetzung und Kommentar, 6 f. und 133 f.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, neue Ausgabe, XII, 67.  MHD, 35. Auch in den Legenden über aš-Šāfiʿīs Berufung (vgl. oben, 61) spielt das Motiv der Waage eine Rolle; dort freilich ist das ḥadīṯ gemeint, das zwischen wahren und irrigen Rechtsmeinungen unterscheiden soll, nicht aber, wie bei Ibn ʿArabī die al-ḫaḍirsche Einsicht in den von Allah gelenkten Kosmos.  MHD, 39 f.  Ebd., 91 f.  T. Nagel: Das islamische Recht, 284– 292. Vgl. ferner ders.: Die Festung des Glaubens, 249 – 260.  Daß Abū Ḥanīfa die von den Schafiiten geforderte durchgängige Fundierung der Scharia auf autoritativen Texten nicht kannte (vgl. dazu IAK, Teil II/2), wird hier von aš-Šaʿrānī in anachronistischer Manier als ein Beleg für die Wahrheit der eigenen auf Ibn ʿArabī zurückgehenden Ansichten gewertet. Die Mißdeutung der Rechtsgelehrsamkeit Abū Ḥanīfas als am Schauen orientiert scheint den Hintergrund der Konversion des Schafiiten Ibn ʿĀbidīn (gest. 1836) zur hanafitischen Schule zu bilden; es ging um die Übersteigung der bloßen Textwissenschaft (vgl. meinen Aufsatz Autochthone Wurzeln des islamischen Modernismus. Bemerkungen zum Werk des Damaszeners Ibn ʿĀbidīn in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 146/1996, 92– 111).  MHD, 64– 68.  Ebd., 74 f. und 82 f.  Ebd., 93.  LM, I, 44.  KG, I, 3 – 5 und 189; T. Nagel: Das islamische Recht, zweites Buch, Kapitel IV.  Sure 2, 233 und 286; Sure 6, 125; Sure 7, 42; Sure 23, 62.  MKB, I, 12. In der als einer reinen Textwissenschaft betriebenen Schariagelehrsamkeit spielt die Natur des Menschen bestenfalls eine ganz untergeordnete Rolle; die auf göttliche Autorität zurückgehenden Vorschriften sind „Belastung“, richten sich gegen die Triebe. In der Krise der Textwissenschaft im 11. Jahrhundert öffnet sich allmählich das Denken für den Gesichtspunkt des „Natürlichen“ (vgl. T. Nagel: Die Festung des Glaubens, 267). Freilich kann „Natur“, wie sich bei ašŠaʿrānī zeigt, nur„islamisch“, nämlich gänzlich durch Allah bestimmt, begriffen werden.Vgl. IAK, Teil III/2, 236-261.  Aš-Šaʿrānī kennt noch nicht die heutige Fehlinterpretation dieses Verses im Sinne einer vermeintlichen islamischen Toleranz gegenüber fremden Religionen; vgl. T. Nagel: Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen, 152.  Vgl. hierüber T. Nagel: Die erdrückende Last des ewig Gültigen. Der sunnitische Islam in dreißig Portraitskizzen, Kapitel XX (as-Sujūṭī): Die Gegenwärtigkeit Mohammeds unter den Muslimen.  as-Sujūṭī: at-Taḥadduṯ, I, 146 f.  MKB, I, 34– 36.  Ebd., I, 38.  Er orientiert sich vermutlich wiederum an Ibn ʿArabī als seinem Vorbild (vgl. beispielsweise alFutūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, IV, 421– 429). Dazu Tilman Nagel: Ibn al-ʿArabī und das Asch’aritentum, 211 f.  OV, 301– 303; s. oben, 148 f. und 223 – 227.  B. Radtke: Weltgeschichte und Weltbeschreibung, 165. Verbildlichung der Entfaltung des unumgrenzten, singulären Seins in das umgrenzte, diesseitige (IAK, Teil VI/2, 517-531).

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Anmerkungen

 Vgl. hierzu Tilman Nagel: Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München 2008, 351.  MKB, I, 38 – 44.  KS, II, 221.  LM, I, 44– 46.  MKB, I, 84 unten.  Ebd., I, 85.  FH, 78.  Hierzu T. Nagel: Das islamische Recht, erstes Buch, Kapitel IV und ders.: Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihr Konsequenzen, §§ 12– 15 und §§ 101– 103.  OV, 555 – 592.  Ausführlich IAK, Teil V/3.

Kapitel 4: Leiden und unbezwingbare Ängste  In Ägypten etwa 450 gr.  Gemeint sind vordergründig Personen, die einen bestimmten Ort, z. B. einen Markt, bewachen; wie später deutlich werden wird, denkt aš-Šaʿrānī jedoch an Personen, die einem Ort oder Land spirituellen Schutz gewähren.  Im musnad des an-Nuʿmān b. al-Bašīr ist dieses Ḥadīṯ in ähnlichem Wortlaut mehrfach bezeugt (AHM, IV, 268, 270 f., 274, 276).  LM, II, 198 f.  İ.H. Danışmend, op. cit., II, 105 f.  M. Winter: Egyptian Society under Ottoman Rule, 88 f.  Danışmend, op. cit. II, 107, 202 f.; an-Nahrawālī: al-Barq al-jamānī, 70 f., 77– 86; R.B. Serjeant: The Portuguese off the South Arabian Coast, 97.  Serjeant, op. cit., 98 – 100.  Danışmend, op. cit., II, 272.  M. Winter, op. cit., 16 f.  J. v. Hammer-Purgstall: Staatsverfassung und Staatsverwaltung, 134– 137.  Ebd., 143.  Ebd., 142.  St. Shaw: The Finacial and Adminstrative Organization, 17– 19; ders.: The Land Law of Ottoman Egypt, 127, Anm. 5.  Ibn Nuǧaim: Rasāʾil, 144– 148.  St. Shaw: The Land Law of Ottoman Egypt, 125.  Ders.: The Finacial and Administrative Organization, 26 f.  Ebd., 46, 48; ders.: The Land Law of Ottoman Egypt, 132.  Ders.: The Land Law of Ottoman Egypt, 123.  LM, I, 117.  Ebd., I, 94 f., 97, 178, 181; II, 210, 226.  Ebd., I, 156.  OV, 26.  LM, II, 22 f.

Anmerkungen

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 An anderer Stelle bemerkt aš-Šaʿrānī beiläufig, die Not, die ein Übeltäter im Gefängnis zu erdulden habe, solle man nicht lindern, denn je größer sie sei, desto kürzer die Gefangenschaft (BM/B, 99).  Zum wahrscheinlichen Hintergrund dieser Bescheidenheit vgl. unten, Epilog, 497 f.  LM, I, 109.  Hier verrät aš-Šaʿrānī, daß er geneigt ist, den osmanischen Sultan als die oberste religiöse Autorität zu betrachten. Vgl. wiederum Epilog, 498 – 500.  LM, I, 110 f.  BM/B, 77.  Ebd., 107– 109; vgl. ebd., 257.  Ebd., 256; über den Terminus at-taṣrīf vgl. OV, 313, 359 f.  LM, I, 110 f.  Deshalb ist es laut aš-Šaʿrānī abwegig, sich von einem jüdischen oder christlichen Arzt behandeln zu lassen. Denn ein Arzt ist nichts weiter als der Vermittler zwischen Allahs heilender Fügung und der Person, an der diese wirksam werden soll. Wie könnte dies jemand sein, der wegen seiner Ungläubigkeit gar nicht dieser Fügung offensteht (BM/B, 165)?  GD, 86 f.  Ebd., 98.  T. Nagel: Das islamische Recht, zweites Buch, Kapitel III/2.  KS, I, 101.  LM, II, 184 f.  Ebd., II, 122.  Vgl. oben 358 und 363 f.  BM/B, 81 f.  Text: bāb Zuwailat al-ʿurbān. Das Zuwaila-Tor galt als ein Ort außergewöhnlicher spiritueller Dichte (S. Staffa: Conquest and Fusion, 178, 378). Al-Bahūtī war ein mit aš-Šaʿrānī befreundeter Gottesmann (TS, 135).  HT/n, VI, 7.  Vgl. oben 225 f.  TK, II, 3.  LM, I, 112– 114.  Ebd., II, 62. Vgl. hierzu die ausführlichen Bemerkungen ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānīs: IAK, Teil III/3.  Arabisch: al-maukib al-ilāhī.  „Die Anordnung der Machtausübung (arab.: tartīb al-mamlaka) im Verborgenen ist wie diejenige im Offenkundigen“, stellt aš-Šaʿrānī ausdrücklich fest (BM/B, 80).  OV, 237; vgl. In Allahs Kosmos, 213.  LM, I, 107.  Ebd., 114– 116.  Ebd., II, 158.  KS, III, 67– 72; über die Bedeutung der Bakrī-Derwische vgl. de Jong: Turuq and turuq-linked institutions.  LM, II, 68.  KH, 6 f. Nach islamischen Glauben treten die Dämonen häufig in der Gestalt von Schlangen oder schwarzen Hunden auf (Ibn Qaijim aš-Šiblīja, 33 und 41). Es wird davon erzählt, daß Dämonen in Hundegsestalt Ereignisse „schauten“, die weit von ihrem Aufenthaltsort entfernt abliefen (ebd., 232). Die schariatischen Bestimmungen, die die Verhältnisse zwischen Menschen und Dschinnen regeln, bilden einen Gegenstand gelehrter Debatten.

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Anmerkungen

 TS, 118 f.  KH, 7 f.  Vgl. T. Nagel: Die Inschriften im Felsendom und das islamische Glaubensbekenntnis, in: Arabica 47/ 2000, 329 – 362, hier besonders Kapitel VII.  D.h. diejenigen, die von den Grundlagen der islamischen Kosmologie „abweichen“, indem sie, allein auf die Welt blickend, von dieser aus die Gesamtheit des Seienden zu analysieren versuchen. Vgl. IAK, Teil V/2 und V/3.  Text: …wa-mā huwa ana ʿain anta wa-lā ʿain huwa. Das erste huwa hat die Funktion der Kopula. Vgl. IAK, Teil VI/2, 596 sowie Teil IV/1, 330.  Ibn ʿArabī spielt hier auf Sure 7, Vers 143 an: Mose begehrt, den Herrn zu schauen; dieser erwidert, das sei nicht möglich, da Mose dem Anblick nicht standzuhalten vermöge, doch solle er die Augen auf den Berg vor ihm richten, dem werde sich Allah zeigen. Der Berg zerfiel augenblicklich zu Staub, und Mose stürzte ob dieses Geschehens bewußtlos zu Boden.  Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkīja, alte Ausgabe, II, 278, Zeile 16 – 19. „…und du wirst darin von niemandem wissen!“ In Allahs Gesicht, das das absolute Sein versinnbildlicht, sind die scheinhaften individuellen Züge der Kreaturen verschwunden. Darin kann sich aber auch auf das Schöpfungsgeschehen (arab.: al-kijān) beziehen: Es gibt hierin keine Individualisierung.  KH, 9 f. Vgl. aš-Šaʿrānīs Auslegung der Gesten des rituellen Gebets, oben 9 f. Ferner IAK, Teil VI/3, 541 und 548–552, desweiteren Ibn ʿArabīs Auslegung der Ritualpflicht des Fastens, IAK, Teil IV/4, 381 f.  Dem Adepten ist, wie wir hörten, vorübergehend das Alleinsein auferlegt – aber eben nur vorübergehend! Vgl. oben, Teilkapitel „Alleinsein“.  Zu den hinter dieser Auslegung vom „Erwerb der Taten“ Vorstellungen vgl. OV, 537– 541.  KH, 12; vgl. OV, 446 – 494.  KH, 126.  Ebd., 127.  Ebd., 120 f.  Ebd., 73.  GD, 115 f.  Ebd., 140.  KS, II, 120 f.  Laut einem im ḥadīṯ mehrfach bezeugten Motiv befinden sich die Seelen (arab.: Pl. al-arwāḥ) der Blutzeugen in den Kröpfen grüner Vögel, deren Nester unter dem Thron Allahs aufgehängte Lampen sind (MS, al-imāra 121; Varianten bei al-Muttaqī al-Hindī: Kanz al-ʿummāl, IV, 257 f., Nr. 2076 – 2078). Diese Vögel fliegen mit den Blutzeugen durch das Paradies: Das Bild vermittelt dem Leser die Geborgenheit, deren sich die Blutzeugen als Lohn für ihren Tod im Glaubenskrieg erfreuen dürfen. Diese schlichte Freude ist in aš-Šaʿrānīs abgewandeltem Bild dem Entsetzen gewichen.  LM, I, 177.Vgl. Ibn ʿArabīs Vorstellung vom Nichtsein und von der Schöpfung, OV, 462 und IAK, Teil IV. Im kosmischen Mohammed den Uranfang des Schöpfungshandelns Allahs zu sehen (AL, 348 – 352), hat vermutlich den Sinn, die angesichts der bestürzenden Ausgesetztheit des geschaffenen Seins die den Muslim beherrschenden Ängste zu mildern.

Epilog  HT, IV, 227 (alte Ausgabe: IV, 110).

Anmerkungen

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 E. Bannerth: Über den Stifter und Sonderbrauch der Demirdāšiyya-Sufis in Kairo, in: WZKM 62/1969, 116 – 132, hier 125 f.  LM, II, 93.  MK, 161. Eine Beschreibung dieses Bauwerks findet man in ʿĀṣim Muḥammad Rizq: Aṭlas, IV, 251– 263; laut einer Inschrift an der Maqṣūra wurden noch 1818/9 Restaurierungsarbeiten durch Nachkommen aš-Šaʿrānīs vorgenommen; das Anwesen befand sich demnach noch im Eigentum der Familie (ebd., 254).  MK, 164.  Birkat al-fīl, Gelände südsüdwestlich des Zuwaila-Tores gelegen, im Westen durch den ḤākimīKanal begrenzt.  al-Muḥibbī: Ḫulāṣat al-aṯar, II, 364.  MK, 178.  Fr. de Jong: Ṭuruq and Ṭuruq-linked Institutions in Nineteenth Century Egypt, 14.  Vgl. oben, 186 f.  al-Muḥibbī, I, 120 f.  Vgl. oben, 244– 247.  MK, 19 f.  M. Chodkiewicz: Le procès posthume d’Ibn ʿArabī, in: de Jong/Radtke (Hgg.): Islamic Mysticism Contested, 93 – 123, hier 115.  an-Nabhānī: Ǧāmiʿ karāmāt al-aulijāʾ, II, 134.  Die Gebildeten Europas mißverstehen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die islamische Gottesfreundschaft als eine ichverliebte Weltflucht in ein vom Duft des Rosenöls geschwängertes, vom Gesang der Nachtigall erfülltes Nirgendwo. Diese Botschaft hört man nach wie vor gern, vor allem wenn sie mit dem Hinweis vorgetragen wird, so sei der „wahre Islam“. Die Lebensbilanz des Seiltänzers soll nicht zuletzt offenlegen, welche Einsichten zu gewinnen sind, sobald man die in reichem Maße überlieferten Quellen ernst nimmt.  Ähnliches wird schon über Ibn Tūmart gesagt (OV, 134).  Firdevsi-i Rumi: Kutb-name, 5 ff. (Über den Grund der Niederschrift des Buches; über das wahre Wesen des Pols).  Der arabische Text des Fetwas findet sich bei E. Geoffroy: Le soufisme en Egypte et en Syrie, 511 (Anhang 1).  McPherson: The Moulids of Cairo, 296. Über den zeitgenössischen ägyptischen Sufismus gibt es etliche Studien. Einen lebendigen Eindruck vom Innenleben einer neuen Sufigemeinschaft vermittelt das Buch von Gilsenan: Saint and Sufi in Modern Egypt. Bis ins 19. Jahrhundert war aš-Šaʿrānīs Klause dafür bekannt, daß dort auch Frauen in die Verehrung Allahs eingewiesen wurden (HT/n, V, 82 f.).  Als Beispiele seien Muḥammad ʿAbduh und Rāšid Riḍā genannt. Vgl. hierzu in ganz knapper Darstellung K. Cragg: Counsels in Contemporary Islam, 42 f.  T. Nagel: Geschichte der islamischen Theologie, 255 – 258. Ders.: Die erdrückende Last des ewig Gültigen, 871-1226.  Ich möchte hier nur auf al-Ǧuwainī und al-Ġazālī verweisen (T. Nagel: Die Festung des Glaubens, 340 – 347 und 358).  A. Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, 153 – 171, hier besonders 169 f.  W.-E. Peuckert: Die große Wende, II, 369 f.  Hierüber ausführlich MLL, 290 – 298.  Hierzu vgl. Fr.Meier: Zur Geschichte der Legende von den Blinden und dem Elefanten.  OV, 242– 245; MLL, 161– 163 und 932. Vgl. IAK, Teil I.

570

Anmerkungen

 Dementsprechend gliedert die muslimische „Sektengeschichtsschreibung“ ihren Stoff nicht etwa nach rituellen Eigenheiten – die es durchaus gibt –, sondern nach den in den einzelnen Richtungen herrschenden Ansichten über die legitime Nachfolge Mohammeds. Maqālāt al-islāmījīn wa-’ḫtilāf almuṣallīn lautet daher der das Gemeinsame benennende Titel des aus dem 10. Jahrhunderts stammenden Standardwerkes von al-Ašʿarī.  Zitiert in Peuckert, II, 373.  Ebd., II, 376.  Ihr geht es nicht, wie es bei der islamischen Seelenlehre der Fall ist, um die Veredelung der Triebseele zur „zuversichtlichen Seele“ (Sure 89, 27 f.), der der Zutritt zum Paradies in Aussicht gestellt ist; vgl. OV, 405 – 444.  Peuckert, II, 377.  Ebd., II, 385.  G. Pörksen: Paracelsus und der Augenschein, 8 f.; vgl. ferner H. Schipperges: Paracelsus (1493 – 1541), 104 f.  Eigenmächtiger Gebrauch des Verstandes führt das Geschöpf in die Verdammnis. Dies widerfuhr dem Satan, der laut Sure 15, Vers 26 bis 47 aus der Tatsache, daß er selber aus Feuer, Adam aber aus Tonerde geschaffen worden war, den Schluß zog, er sei berechtigt, den Befehl Allahs, sich vor der noch unbeseelten tönernen Form des ersten Menschen niederzuwerfen, zu mißachten. Gewiß gilt das Gebot Allahs, niemand anderen als ihn zu verehren. Jedoch haben die Geschöpfe nicht darüber Erwägungen anzustellen, ob ein von Allah erteilter Befehl diesem allgemeinen Gebot widerspreche. Das wäre ein unzulässiger Gebrauch des Verstandes. Dessen richtiger Gebrauch liegt allein in der Selbstentmächtigung, erkannte beispielsweise der Theologe und Rechtsgelehrte al-Ǧuwainī (gest. 1085) in aller Schärfe (Nagel: Die Festung des Glaubens, 329 – 347 und 352– 359). Der einzig auf den Gehorsam gegen Allah ausgerichtete Mensch braucht nach al-Ġazālī nicht zu wissen, ob und wie Allahs Vorgehen im Zuge des Schöpfungsprozesses gewöhnlich irgendwelchen beschreibbaren oder in Zahlen faßbaren Regeln folgt; es genügt das Wissen davon, daß Allah mit Weisheit vorgeht. Im islamischen Westen konnte man hierüber eine andere Meinung haben, wie die Beispiele Ibn Tūmarts und Averroes’ lehren (OV, 109 – 116). Die Haltung al-Ġazālīs setzte sich jedoch durch.  OV, 195 – 228.  Aš-Šaʿrānī ist nur einer von vielen, die mit diesem Thema gerungen haben. Im Kern besteht die islamische Geistesgeschichte zwischen dem 11. und dem 19. Jahrhundert aus den vielfältigen Anstrengungen, jene Zumutung erträglich zu machen.  K. Goldammer: Lichtsymbolik, 676.  Ebd., 678.  Anders als im Islam, wo Adam, indem er des Paradieses verwiesen wird, bereits Worte der Verheißung entgegennimmt und zum Stellvertreter Allahs über die Schöpfung eingesetzt wird, vermag das frühneuzeitliche Christentum die Verstoßung aus dem Paradies als einen „glückhaften Sturz“ zu deuten, der den dergestalt auf das Diesseits Verwiesenen erst eigentlich zum Menschen macht. Humanitas und Dignität des Diesseits bedingen einander. Vgl. meinen Vortrag Paradise Lost? in Roads to Paradise, herausgegeben von H. Biesterfeld und S. Günther, Leiden 2017, I, 31– 39, ferner IAK, Rückblick und Ausblick.  AL, 316 – 356.  Vgl. z. B. oben, 120 f.  OV, 537– 539.  Noch heute blüht ein umfangreiches, u. a. von der türkischen Religionsbehörde gefördertes Schrifttum, das als „wissenschaftliche Koranauslegung“ (arab.: at-tafsīr al-ʿilmī) bezeichnet wird und in arbiträrer Manier von der westlichen Naturwissenschft entdeckte Gesetze in einzelnen Aussagen

Anmerkungen

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des Korans vorgeprägt findet. Die betreffenden Gesetze gelten dann als durch Allah ausdrücklich bestätigt und somit als Elemente einer „wahren“, „islamischen“ Naturwissenschaft. Die westliche (Natur‐) Wissenschaft, die stets ohne eine solche Bestätigung auskommt, gilt aus eben diesem Grunde als verwerflich und durch materialistische Ziele verdorben, und zwar schon seit ihren Anfängen in der griechischen Antike. So wird die Zurückgebliebenheit der islamischen Welt auf dem Gebiet der Wissenschaften in eine moralische Überlegenheit umgedeutet, ein Umstand, der neben vielen inzwischen öffentlich erörterten Faktoren wie der Unterdrückung der Frau der Akkulturation der nach Europa eingewanderten Muslime entgegenwirkt (über die „wissenschaftliche Koranauslegung“ unterrichtet ausführlich die 2009 bei der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen eingereichte Habilitationsschrift von Martin Riexinger zum zeitgenössischen Schrifttum der Nurculuk-Bewegung).  Vgl. z. B. oben, 270 – 278, 368 – 371.  IAK, Teil VII.  Vgl. oben, 389 – 391.  Vgl. oben, 82 f.  Vgl. oben,  – .  Auf die tiefverwurzelte muslimische Dekadenzangst, die eine größere Untersuchung wert wäre, sei in diesem Zusammenhang hingewiesen. Der Islam, so heißt es vielfach, begann als ein Fremdling, und er wird wieder zu einem Fremdling werden, eine Vorstellung, in der sich die muslimischen Endzeitbefürchtungen ausdrücken (vgl. OV,  und ). Auch soll Mohammed prophezeit haben, daß das Schariawissen wieder von den Menschen genommen werde. Al-Ǧuwainī, der bedeutende Theologe und Schariakenner der Seldschukenzeit, setzte in seinen Überlegungen stillschweigend voraus, daß die charismatische Herrschaft der Frühzeit erloschen sei, weswegen die Rechtsgelehrten die Aufgabe hätten, vorerst den islamischen Charakter der faktischen Machtausübung der Herrscher zu gewährleisten; freilich komme der Zeitpunkt, an dem die Menschen wieder leben werden, als hätte sie nie die göttliche Gesetzesbotschaft erreicht (Nagel: Die Festung des Glaubens, ).  Vgl. das Kap. „Alleinsein“.

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Verzeichnis der Abbildungen und Karten Abbildung 1, Seite 97: Abbildung 2, Seite 98: Abbildung 3, Seite 259: Abbildung 4, Seite 260: Abbildung 5, Seite 442: Abbildung 6, Seite 443: Abbildung 7, Seite 445: Karte, Seite 514:

Sich durch Schlafentzug kasteiender Derwisch Gemeinschaftliches Gottesgedenken Ein Haus am Ḥākimī-Kanal Das „Tor der Eroberungen“ Die Stufen der Vermittlung des göttlichen Gesetzes Der Baum an der Quelle der Scharia Die Waage der Scharia Kairo in osmanischer Zeit

Abbildung 1 und 2 stammen aus dem Werk von Ignatius Mouradgea d’Ohsson: Tableau général de l’Empire Ottoman, 2 Bände, Paris 1788, Tafel 134 und Tafel 128. Abbildung 3 und 4 sind der Description de l’Egypte ou recueil des observations et des recherches qui ont été faites en Egypte pendant l’expédition de l’armée française, Paris 1809 ff. entnommen. Der Stadtplan von Kairo ist die Tafel XII aus Carsten Niebuhrs Reisebeschreibung nach Arabien, Kopenhagen 1774. Die Abbildungen 1 bis 4 und die Karte werden hier mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staats-und Universitätsbibliothek Göttingen wiedergegeben. Die Abbildungen 5 bis 7 finden sich in aš-Šaʿrānī, Abū l-Mawāhib ʿAbd al-Wahhāb: al-Mīzān alkubrā, 2 Teile, Nachdruck der Ausgabe Kairo 1318 h.

https://doi.org/10.1515/9783110789119-021

Zur Transliteration der arabischen Wörter Haben sich in der deutschsprachigen Literatur bestimmte Schreibweisen arabischer Namen oder Begriffe eingebürgert, werden sie übernommen, auch wenn sie nicht der ohnehin nicht einheitlichen wissenschaftlichen Transliteration entsprechen. Im übrigen halte ich mich an die Umschriftregeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Hierbei bedeuten: ʾ = Stimmansatz ʿ = gepreßter Kehllaut ṯ.= stimmloses englisches th ḏ = stimmhaftes englisches th z = stimmhaftes s s = stimmloses s ṭ = emphatisches t ḍ = emphatisches d ẓ = emphatisches stimmhaftes s ṣ = emphatisches stimmloses s š = wie deutsches sch ǧ = dsch, etwa wie J in englisch Joe ḫ = wie ch in Bach ḥ = tief in der Kehle gebildetes h h = auch am Ende der Silbe als h zu sprechen, kein Dehnungs-h q = gutturales k ġ = Reibelaut des weichen Gaumens ā = langes a ī = langes i ū = langes u

https://doi.org/10.1515/9783110789119-022

Danksagungen Die Idee zu dem vorliegenden Buch entstand während der Vorbereitungen zu einem Hauptseminar über islamische autobiographische Texte und die Möglichkeiten ihrer Auslegung. In den neunziger Jahren hatte ich die Gelegenheit, nach dem Ende eines jeden Göttinger Wintersemesters vier bis sechs Wochen in Kairo am Institut Dominicain d’Ètudes Orientales zu arbeiten. Bei diesen Aufenthalten entstanden die wichtigsten Kapitel der Untersuchung. Aus der Rückschau wird mir erst eigentlich bewußt, wie förderlich der Geist dieses Hauses und der Menschen, die ihn prägen, meinen Studien war. Mit tiefempfundener Dankbarkeit denke ich an jene außerordentlich bereichernde Zeit zurück. Zu dieser Zeit zählen vor allem auch die erhellenden Gespräche, die ich allabendlich mit meinem Freund Pater Dr. Josef Dreher OP über die Lektüre des zurückliegenden Tages führen konnte. Erleichtert wurde mir das Auffinden mancher kleiner Traktate aš-Šaʿrānīs in der Ägyptischen Nationalbibliothek durch ein Verzeichnis, das mir Herr Kollege Denis Gril (Aix-en-Provence) zur Verfügung stellte, wofür ich ihm meinen Dank abstatten möchte. Zu danken habe ich nicht zuletzt meiner Frau und meinem Sohn, die ein ums andere Mal meine wochenlange Abwesenheit ertrugen und mich stets ermunterten, auf die Veröffentlichung des Buches hinzuarbeiten. Dransfeld, Sommer 2021 Tilman Nagel

https://doi.org/10.1515/9783110789119-023

Indices Begriffe und Sachen Abbild 313 Abgaben, Erpressung von Abgaben 126 Abhängigkeit von Allah, vollständig und unaufhebbar 508 Abschlußhandlung 117, 330 Absichtserklärung 485 Abstammung von einem Meister 252 Abwehr von Unheil durch den Gottesfreund 464 Adept 22, 71, 89, 119, 150, 185, 210, 216, 218, 284, 286 f., 294, 298, 338, 344, 356, 358 f., 373, 377, 380 – 382 f., 403, 413, 482 Alchimie 118, 280, 371, 386, 560 Allāhu akbar 9, Alleinsein 85, 102, 214, 216, 358, 363, 372 f., 377, 490, 496 Angst, existentielle, vor dem Nichtsein 487, 512 Annäherung an Allah 4, 16, 266, 308, 362, 437, 483, 485 Äon, islamischer 49, 389, 392, 423, 506 f. arabische Grammatik 74, 157, 494 Arbeit 247 Arbeitslohn 269 Askese 3, 5, 93, 192, 224, 257, 343 Atemzug 108, 539 Atomismus 274 Attentat auf Ṭūmānbeg 166 Audition 207, 222 Barmherzigkeit Allahs 83, 412, 419, 477, 509 Bedürftigkeit des Menschen 362 Befragung im Grab 329 Begegnung mit dem Propheten 426, 438 f. Beigesellung 263 Belastung mit der Scharia 277, 351, 369, 437, 565 Beschneidung der Mädchen 397, 562 Besetzung Kairos durch die Osmanen 161 f. Besitzlosigkeit der Nachkommen des Propheten 244

https://doi.org/10.1515/9783110789119-024

Besuche der Gottesfreunde untereinander 303 – 305 Bettelei der Gottesfreunde 150, 152, 209 Bindung des Adepten an den Meister 214 Bittgänge zu den Mächtigen 466, 471 Buchstaben 346 Bund mit Allah 368 Buße 231, 486, 553 Charakterbildung, islamische 339 – 343, 347, 353 – 355, 476 Charaktereigenschaften (durch Allah verliehen) 20 Charakterzüge, mohammedsche 93, 97, 311, 470 Demütigung Ägyptens 170 f., 182 Derwischbruderschaft 38, 142, 215, 294 Diebstahl 176 Dienstlehen 31 – 33, 172, 179 f., 193, 458, 543, 546, 551 Diesseits 6, 9, 106, 119, 227, 266, 270 f., 310, 360 f., 395, 423, 479, 482, 489, 494 Durchbrechung der Gewohnheit 117 edle Art der „Leute des Hauses“, unzerstörbar 240, 242, 252 Egoismus der falschen Gottesfreunde 206 Ehe 393 – 396 Ehrengewand 148 f., 159, 183, 216 Eigenständigkeit der Welt 481 Eigentum, Eigentumsrecht 152, 174 f., 258, 278, 545, 553 Einblick in Allahs Schöpfungshandeln 315 f. das einfache Volk 27 – 30 Eingebungen aus dem Verborgenen 219, 372, 422 Eingreifen in das Schöpfungsgeschehen 6, 217 Eingriffe in den Handel 141 Einkünfte des Gottesfreundes 174 Einkünfte des Personals einer Medresse 212

Indices

Einsichtskraft 105 f. Ekstase 184, 216, 323 – 327, 390, 482, 508 Elend der Fellachen 30, 38 Enthüllung des Verborgenen 313, 420 Entscheidungsfindung, freie 403 f., 424, 426, 430, 432 f., 435 Entwerden 224, 480 Erkennen 72, 114 f., 207, 212, 371 f., 375, 451, 480 f., 493, 501, 504 Erkenntnis (Allahs) 8, 13, 99, 103, 105, 278, 308, 361 – 363, 400, 423, 479, 508 Erkenntnis der Gottesfreunde, ihre Begrenztheit 373 Erkenntnis des Verborgenen 197, 226 – 228, 313, 416 – 418, 438 Erneuerer der Religion, der Daseinsordnung 61 Erpressung von Geschenken 283 Ersatzmänner 99 Erwerb, schariagerechter 226, 264, 270, 276, 278, 290, 507 Erwerb der durch Allah gewirkten Taten 344 – 353, 484 f. Erziehung 4, 75, 185, 210, 220, 337 – 340, 356, 379 – 382, 402, 482 Erziehungsmethode 343 Eschatologie 315, 335, 370, 496, 509, 511 Ethik, islamische 469 Etikette der Gottesfreunde 304 – 309 Falschmünzerei 280 Fasten 10, 362, 373 – 376, 501 Feiung gegen wilde Tiere 233 Festzug, göttlicher 476 f. Feuerwaffen 141, 163, 202, 542 f. Finanzen des Sultanats 33, 457 f. fiṭra 387 Flickengewand der Derwische 89 forum externum 244, 439 f., 451 forum internum 244, 440, 451 Frau 393 – 396 Freigebigkeit 173 Freitagsmoschee, Freitagsgebet 54 f., 152, 172, 202 Friedensgruß 16, 68 f. Fügung Allahs 5 f., 9, 83, 111, 113, 118, 153, 217, 227, 269, 278, 293, 331, 345 f., 362, 370 – 372, 381, 394, 401, 420, 429, 450, 474, 495

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Furcht vor Allah 479, 482 Furcht vor der Hölle 76 Furcht vor dem Ich, dem Selbst 474 Furcht vor dem Jenseits 317, 319, 327, 390 Furcht vor dem Nichtsein 482, 487 Fürsorge Allahs 258, 261, 310 Fürsprache bei den Mächtigen 187, 216 Fußschemel vor Allahs Thron 345 Gastmahl 209, 282, 286, 301 f., 308 Gebet (rituelles) 9, 13, 406, 568 Gebet für den Propheten 113, 184 f., 189, 196 Geburtstag des Propheten 49, 171, 182 Geburtstagsfeier eines Gottesfreundes 150, 186, 196, 308 Gefährtenschaft 38 Gehör 447 f. Gehorsam gegen Allah 14, 482, 504 Gehorsam gegen den Meister 385 f. Geist 335, 389 Geist-Leib-Verhältnis 313 – 315, 328 f. Geist-Materie-Verhältnis 344 Geld 257 Gelehrte 88, 284, 299, 303, 356, 360, 415, 420, 424 f., 449, 470, 500 Geliebter 224, 324, 326 Geltungsstufen der Scharia 427, 429, 436, 446 Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen 270 gerade Straße, Geradheit 365, 399, 429, 451, 475, 543 Geschaffenheit des Kosmos, unübersteigbar 480 Geschenke 258, 261, 282 – 284, 287 Geschenke an die Mächtigen 299 Geschlechtsverkehr 394, 397 – 401, 562 Geschöpflichkeit 260 Gesetz, göttliches 99, 162, 219, 277, 330, 335, 359, 365, 367, 369, 371, 374, 379, 402, 419, 510 Gesetzbuch Ägyptens 455 Gesetzgeber, Allah als G. 88, 221 Gesichtssinn 448 Gesinnung des der Scharia Unterliegenden 439 Gewerbe 29 f., 264, 267 Gewerbefleiß 265 Gewohnheit Allahs 116 f., 273, 277, 332, 481

586

Indices

Glaube an die Gottesfreunde 4, 6, 148 f., 153, 384, 465 Glaubensgemeinschaft 270 Glaubenspraxis, ihre drei Elemente 479 Gleichheit von Gehorsam und Ungehorsam 221 Gleichmut 199 Gold 281, 371, 386, 560 Gottesfreunde, Gottesfreundschaft 100, 120 f., 142, 182, 195, 284 f. 294 f., 298, 302, 320, 339, 341, 355 f., 360, 368, 372, 416 – 418, 427, 431 f., 440, 492, 494 Gottesfreunde, ihr Verhältnis untereinander 206 Gottesfreund und Gönner 285 f. Gottesgedenken 13, 15, 37, 94, 108 – 113, 215, 218, 265, 469 Gottesgesandter 364 Gottestrunkenheit 73, 86, 224, 537 Grab des Propheten 300 Grabespein 335 Grabstätten 163 Grausamkeiten der osmanischen Besatzer 168 f. grüne Vögel als Boten Allahs 62, 568

Hingewandtheit bzw. Hinwendung zu Allah 8 f., 12, 98, 310, 342, 404, 410 Hof Allahs 22, 208, 320, 486 Höflichkeit gegen Allah 97, 149, 174, 206, 210, 351, 356, 382, 393, 395, 417, 497, 508 Höflichkeitsbesuch 304 Huld Allahs 370 Huldwunder 64, 150, 187, 198 f., 222 – 224, 233, 249, 263, 427, 438, 493, 495, 512, 559 Hungern 206

ḥadīṯ

Jenseits, Jenseitsschicksal 119, 266, 277, 310, 317, 370, 372 f., 406, 423, 496 Jenseitskonto 30, 374 Jüngstes Gericht 12, 15, 100, 327, 375

49, 52, 60, 74, 79, 81, 105, 144, 213, 405, 425, 435, 439, 446 Handeln Allahs 198, 274, 382 Handeln des Menschen 264, 312, 480 Handeln nach der Scharia (spontanes H.) 84, 220 Haschisch 335 – 337 „heiliges“ Ḥadīṯ 92, 222, 374, 539 Heilsbestimmtheit der Muslime 49 Heilsgewißheit des Geschöpfes 377 Heilszusage 12 Heimtücke Allahs 262, 507 Herrschertitel Selims 168 Herrsein Allahs 363, 482 f., 487 Hervortreten der Taten aus dem Nichtsein 344 Herz (als Sitz des Verstandes) 6, 9 – 11, 22, 84, 120, 228, 312, 338, 467, 481 Heuchler 338 Hierarchie der Gottesfreunde 215, 227, 398, 451, 468 ḫilāfa 388 Himmelsreise Mohammeds 70, 89, 480

Ich

83, 86, 99, 101, 106, 265, 390, 432, 482 f., 487, 497, 507 – 510 Ichabstreifung, Ichlosigkeit 4 f., 13, 18, 22, 83, 97, 102, 111, 114 f., 153, 218, 280, 342, 440 f., 469, 503, 513 iǧtihād 403, 424 ilāhījāt 387 Immobilien 179, 193 innerweltliche Rationalität bzw. Kausalität 119, 273, 321, 348 – 351, 408, 465 Instabilität des Diesseits 117 f., 197 Islam 5, 8 f. Islam als Fremdling 571

Kalif, Kalifat 42, 47, 63, 126, 142, 154, 172, 236 – 238 Klause 150, 174, 184, 189 f., 215 f., 246, 282, 287 f., 299, 311 f., 453, 460, 477, 491 f. Klause, ihr zur Verfügung stehende Güter 291 – 293 Kleidung, vornehme 295 f., 301, 544 Knechtsein vor Allah 222, 483 f., 487 Konvent, s. Klause Koranrezitation 94 Körper, Körperhaftigkeit 275 Kreuzfahrer, Kreuzzug 32, 45 Kriegsbeute 178 kursī 222, 440 Läuterungsgabe Landpacht 31

9, 152, 244 f., 340, 532

Indices

587

Landwirtschaft 30 – 36 Laute der Sprache, ihre Erscheinungsweise 110 f., 116, 208, 346 Lebensunterhalt 5 f., 259 – 263, 269, 273, 276 – 278, 288 f. Leere, leerer Raum 363 Lehre ohne Rücksicht auf das Fassungsvermögen der Lernenden 477 f. Licht 8, 91, 105, 358, 363, 387, 448, 500, 504, 540 Licht als Inbegriff des schöpferischen Handelns Allahs 10, 388, 489, 497 Licht der Natur 505 Liebe 13 Liebe zum Propheten, zur Prophetenfamilie 232 Lob des Schöpfers 347

Offenbarung 74, 373, 440 Offenkundige (das), der offenkundige Seinsbereich 9, 96, 118, 322 f., 505 Organismus 276

Magie 278, 490 Magnet 326 Majestät Allahs 110, 198, 488 Marktaufsicht, Marktvogt 148, 297 Materie 275, 314, 335 Medresse 47 – 53, 64, 212 f. Meinungsstreit der Rechtsschulen 407 Meister 71, 89 f., 93, 102, 150, 206 – 210, 214, 216, 282 f., 286, 298, 339, 358, 382, 384, 386, 403 Metall 117, 120, 388, 560 Metaphysik 274 f., 349, 479, 481 Militär 32 Mißachtung des Goldes 281 Mittel zum Lebensunterhalt 271 muǧtahid 402, 416, 424 Münzverschlechterung 194 Musik 324 f. Müßiggang 247 Mystik 4 f.

qānūn 100, 358, 372, 422 f., 496, 510 Quelle der Scharia 430, 436, 441, 507 quṭb 253, 440

Nachahmung 90 – 92, 99, 403 f., 408, 430, 440 f. Namen Allahs 208, 223, 431 Natur 388, 391, 438, 504 Neuplatonismus 348 Nichtsein 88, 96, 344, 386, 451, 484, 486 f., 513 nomos 392, 422 f., 510, 561

Panentheismus 506 Pantheismus 356, 366, 368, 480 Papierherstellung 268 Parteigeist unter Gottesfreunden 306 „Pfad der Leute“ 17, 20 f., 36, 38, 73, 88 f., 108, 249, 340, 364, 396, 412, 434, 475, 494 Pflichtriten 9, 13, 362, 374, 376, 385, 399, 437, 479, 484, 502 Pilgerfahrt 10 Podest 148, 222 Pol 215, 217, 223, 253, 398, 419, 468, 471, 498 Prestige 284, 296, 298, 303

Rang des Propheten 206 314 Ratschluß Allahs 119 Rechtleitung (göttliche) 8 Rechtsschule 402 – 404, 406, 426, 433, 438, 444, 470, 509 Reichtum 284 Reinheit der Nahrung 94 Reinheit, rituelle 290, 388, 400, 406 f., 409 – 412, 447 Richtungsgebundenheit Allahs 488 Riten, ihre Mannigfaltigkeit 501 rizqa, s. Sonderzuwendung ṣadaqa 562 Schaffung der Taten des Menschen durch Allah 347 Scharia, Schariatreue 20, 60, 83, 102 f. 249, 356, 365, 405, 416, 441, 485, 510 Schariagelehrsamkeit 99, 479 Schattenspiel 177 Schauen, übersinnliches 351, 438, 446, 450, 480, 484, 494, 504 Schlaf, Schlafentzug 107 Schleier vor der wahren Erkenntnis 91, 103 f., 114, 263, 324, 365, 430, 478, 485

588

Indices

Schmecken 109 Schöpfer 104, 483 Schöpferwort „Sei!“ 352 Schöpfung, Schöpfungshandeln 81, 88, 363, 366, 370, 387, 486, 507 f., 511 Schöpfung als Selbsterkenntnis Allahs 450 Schöpfung, den Einen verschleiernd 263 Schriftgelehrte 356 Seele 331 – 333; 370, 375, 388 Seele (Triebseele) 86 f., 106 Seele (zuversichtliche Seele) 84 Segenskraft der Grabstätten 61 f., 71 Sehkraft, übernatürliche 103, 278, 345, 351, 420, 422 Seiltänzer 22, 186, 297, 487, 511 Sein 88, 274, 312, 353, 371, 385, 390, 392, 401 f., 405, 419 f., 429, 432, 479 f., 484, 488 f. Sein, konditioniertes 96 Seinsollen 405, 429, 432 Selbstanschauung Allahs 400 – 402, 451 Selbsterkenntnis Allahs 399 f., 450, 469 Selbstkasteiung 93, 102 Selbstkritik 214 Selbstliebe Allahs 401 Selbstverwirklichung des Menschen 500 Sklavenarbeit 259 f. Skrupelhaftigkeit 95, 151, 220 Sonderzuwendung 191, 193, 548 Speichel des Propheten 60 Speise (ritualrechtlich einwandfrei) 3, 5 Sphären 345, 387, 389 Spiegel, Spiegelbild 313 f., 481 Spiegel des Herzens 85 spirituelle Kraft des Gottesfreundes 59 – 65 spirituelle Reise 114, 229 spiritueller Schutz 29 Standplatz 93, 96, 175, 190, 220 f., 229, 252, 363, 403, 466 stellvertretendes Leiden 452, 462 – 472 Stellvertreter Allahs 6, 14 f., 153, 221, 351, 388, 512, 540 Stellvertreter des Propheten 427 Steuererhebung 548 Steuerpacht 458 Stiftungsland, Stiftungen 36 f., 179, 188 f., 193, 282, 456, 459, 461, 546 f., 553 Stiftungsurkunde 211

Stimme aus dem Verborgenen 219 Studium des Wissens 73 – 81, 173 Suche 389 Sufismus, Sufitum 212, 214, 220, 553 Sultanat, osmanisches 446 Sünden 410, 433, 469, 471 Sündlosigkeit der Prophetenfamilie 419 Sunna 106 Sunniten 101 Textgelehrsamkeit 420 f., 424 f., 451 Thron Allahs 61, 345, 384, 398, 440, 488 Tod 328 Topographie des Jüngsten Gerichts 330 Transithandel 295 Tribut 172 Übeltäter, Mächtige als Übeltäter 148 f. Überbietung der Pflichtriten 13 Überlieferung 100, 104, 144, 249, 358, 367, 408, 420, 434, 439, 494 Übertretung der Scharia 98 Überwindung der Standplätze 221 Umgang mit Geld bzw. Vermögen 257 Unbedenklichkeit, schariatische 288 f. Unendlichkeit 277 unschariatischer Erwerb 245 f. Unterweisung des Adepten 207 Unvergleichbarkeit Allahs 374 Urbund 207 Urmohammed 506, 537 Ursache 276, 322, 330, 370, 405 Ursprung der Existenz 363 Verähnlichung Allahs mit dem Geschaffenwerdenden 479 Verborgene (das), der verborgene Seinsbereich 6, 9, 82, 84, 90, 96, 100, 110, 219, 224 f., 227, 278, 314 – 320, 360, 423, 475, 504 Verbundenheit der Gläubigen untereinander 452, 468 Verdammnis 207 Vereintheit des absoluten und des konditionierten Seins 368, 480 Vererbbarkeit des „Pfades“ 251 Verhältnis der Geschlechter zueinander 399 – 402

Indices

Verhältnis des Meisters zum Zögling 384 f. Verhüllung 486 „Verhüllung und Enthüllung“ 85 Verklärung 506 Vernunft, dem Menschen angeboren 505 Verpflichtungen der Derwische 297 Verstand 14, 91, 115, 270, 278, 352, 364, 368, 540, 570 Verstöße der Mächtigen gegen die Scharia 151 Vertrautheit mit dem Schöpfer 208 Verwurzelung im Wissen 81 f. Verzeichnis der Werke des Menschen 16 vorbildlicher Tageslauf 245 f. Vorherbestimmung 271, 322, 350, 503 Vorsorge des Menschen 257, 261, 266 Vorzüge der Nachkommen des Propheten 241 – 243 Waage (der Scharia) 20, 60, 90, 366, 425, 427, 429, 436, 444 Wachhabende, Wachmänner 228, 452, 466, 472 – 475 walī, Pl. aulijā 3 f. Weg zur Gottesfreundschaft 209 Weisheit Allahs 96, 100, 102, 119, 151, 197, 200, 221, 272, 274, 317, 369, 373, 388, 448, 494

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Welt (Zudringlichkeit der Welt) 5 Welt der unbedingten Souveränität Allahs 96 Weltbezogenheit des Gottesfreundes 214 Wertlosigkeit der Schöpfung 451 Wirkungsvermögen der Materie 275 f. Wissen 8, 13 – 15, 22, 49, 72, 84, 86, 90, 103 f., 212, 219, 227, 270, 291, 311, 367, 392, 418, 420, 474, 485, 496, 499 f. Wissen und Handeln 73, 82 f., 92, 96, 221, 311, 339, 343 f., 451 Wissen, ungelehrtes 68 f. Wissensvermittlung 60 Wohlverwahrte Tafel 111, 113, 118 Wunderzeichen 363 Zauberkunststücke 248, 279 Zögling, s. Adept Zuckerrohr 36 Zweifel 105 Zweigeteiltheit des Kosmos 314 Zwischenreich 71, 100, 103, 106, 320 f., 335, 426 Zwischenzeit 358, 364 f., 422, 475

Personen ʿAbbās 238 f. Abbasiden 42, 47, 162, 236, 241, 551 ʿAbbūd 306 ʿAbdallāh, Vater des Propheten 238 ʿAbdallāh b. abī Ǧamra, Abū Muḥammad 29 f., 148, 221, 267 ʿAbdallāh al-Minūfī 190 ʿAbdallāh b. ʿUmar 379 ʿAbd ad-Dājim 183 f., 204 f. ʿAbd al-Ḥalīm al-Manzilāwī 289 ʿAbd al-Laṭīf, Neffe aš-Šaʿrānīs 491 ʿAbd al-Muṭṭalib 238 f. ʿAbd al-Qādir, Bruder aš-Šaʿrānīs 73, 75, 300 ʿAbd al-Qādir ad-Dašṭūṭī 182, 196, 215 – 217, 248, 322 f. ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī 67, 86, 95, 104, 143, 146, 208, 221, 226, 229, 231, 233, 365, 540

ʿAbd al-Qādir Muḥjī d-Dīn al-Arzmakī 186, 191, 460 ʿAbd al-Qādir aš-Šāḏilī 438 ʿAbd ar-Raḥmān, Sohn aš-Šaʿrānīs 490 – 492 ʿAbd ar-Raḥmān b. ʿAlī Nūr ad-Dīn 246 ʿAbd ar-Raḥmān al-Malīǧī 491 ʿAbd Šams 238 Abraham 8 – 10, 12, 274, 390, 405, 450, 501 f. Abū l-ʿAbbās al-Ġamrī 39, 56 – 58, 76, 114, 184 f. (Sidi) Abū l-ʿAbbās al-Mursī 385 Abū l-ʿAbbās al-Ḥarīṯī 299, 473 Abū l-ʿAbbās al-Mursī 265 Abū Aijūb al-Anṣārī 492 AbūʿAlī ar-Rūḏbārī 62 AbūʿAlī at-Takrūrī 66 Abū Bakr 131, 240, 300, 479, 498 (Sidi) Abū Bakr b. abī Bakr b. abī Iṣbaʿ 380

590

Indices

Abū Bakr al-Ġamrī 56 (Sidi) Abū l-Faḍl al-Ǧazīrī al-Qabbānī 380 Abū Ḥanīfa 404, 409 f., 425, 433, 435 Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī 61, 351, 371 Abū l-Ḥasan al-Ġamrī 183 – 187, 213, 296 Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī 378 Abū Huraira 296, 298, 330 Abū Idrīs al-Ḫaulānī 322 Abū ʿImrān b. Mūsā, Vorfahre aš-Šaʿrānīs 232 f., 236 Abū Jaʿzā 383 Abū Jazīd al-Bisṭāmī 83 f., 510 Abū Jaʿqūb Jūsuf 235 Abū Jūsuf Jaʿqūb al-Manṣūr 248 Abū l-Lail b. Mūsā b. abī l-Faḍl az-Zuġlī 235 Abū l-Luṭf, Sohn des Amīn ad-Dīn 414 Abū Madjan al-Maġribī 230, 232, 248, 365, 383, 469 Abū Nuʿaim al-Iṣfahānī 328, 331 Abū l-Qāsim aš-Šāṭibī 78 Abū Šuǧāʿ 74 Abū Sulaimān ad-Dārānī 257 Abū s-Suʿūd b. ʿAbd ar-Raḥīm 492 Abū s-Suʿūd b. abī l-ʿAšāʾir 91, 157, 159 f., 378 Abū s-Suʿūd al-Ǧarīḥī 279 Abū s-Suʿūd b. Sidi Madjan al-Ašmūnī 250 f. Abū Ṭālib 239 Abū Ṭālib al-Makkī 93 Abū Turāb an-Naḫšabī 66 Adam 12, 14, 273, 319, 368, 375, 391, 410, 465 ʿAdī b. Musāfir 67 al-ʿĀdil 123, 125 al-Aḏraʿī 80 Afḍal ad-Dīn 106, 119 f., 253, 280, 313 – 315, 324, 346, 372, 386 f., 390, 412, 439, 469, 475, 540 Aḥmad der Asket, s. Aḥmad az-Zāhid Aḥmad al-Badawī 38, 71, 86, 112 f., 142, 150, 252, 308, 474 Aḥmad b. Baqar 183 Aḥmad, Bruder des Sultans Selim 133 Aḥmad al-Buhlūl 73, 184 Aḥmad b. Ḥanbal 60 f., 408, 425 Aḥmad mit dem Gesichtsschleier 116 Aḥmad Pascha, Sultan in Ägypten 176, 201 – 205, 238, 409, 453, 457, 467 (Sidi) Aḥmad ar-Rifāʿī 38, 228, 365

Aḥmad as-Sabtī 318 Aḥmad b. Ṭūlūn 41, 47 Aḥmad b. Uwais 129 Aḥmad az-Zāhid (d. h. der Asket) 54 f., 58, 63, 89,114, 248, 280, 382 f., 396 Aḥmad az-Zuġlī, Sultan von Tlemcen, angeblicher Vorfahre aš-Šaʿrānīs 230, 232, 235 Aijubiden 47 f. ʿĀʾiša 62, 131 Akkoyunlu 129 ʿAlāʾ ad-Daula (Türkmenenfürst) 128, 131 – 133, 135 – 137 Alexander 162 ʿAlī b. abī Ṭālib 60, 89, 131, 236, 238 f., 265, 316, 472, 495, 498 (Sidi) ʿAlī b. Amīr Kabīr Arzmak 380 ʿAlī al-Basṭī 380 ʿAlī b. Dāʾūd ad-Dijārbakrī 138, 182, 202 f., 237 ʿAlī al-Kazawānī 414 f. (Sidi) ʿAlī al-Marṣafī 251, 299, 320, 365, 398, 488 f. ʿAlī al-Minūfī 380 ʿAlī Nūr ad-Dīn al-Anṣārī, Großvater aš-Šaʿrānīs 245 f., 248, 253, 493 (Sidi) ʿAlī, der Palmblattflechter 27 – 29, 36, 38, 58 – 60, 65, 90 f., 98, 102, 104, 107, 147 f., 151, 176, 205, 221, 242, 257 f., 261, 272, 280, 284, 302, 308, 316, 325 f., 345 f., 354 f., 360, 378, 392 f., 398, 412, 416 – 418, 422 f., 452, 466 f., 470, 472, 487, 510 ʿAlī Pascha 22, 150, 208, 409, 413, 425, 458 – 462, 464, 471, 490 ʿAlī Pascha Mubārak 51, 54, 189 (Sidi) ʿAlī b. Šihāb ad-Dīn aš-Šaʿrānī 235 (Sidi) ʿAlī b. Wafāʾ 295 f., 384 Aliden 240 Almohaden 234 al-Amīn 236 Amīn ad-Dīn 58, 76 – 78, 80 f., 114, 280, 414, 428 ʿĀmir b. ʿAbd al-Wahhāb 138 f. ʿAmr 390, 481 ʿAmr b. al-ʿĀṣ 40, 44, 47, 135 Anas b. Mālik 97 ʿAqīl b. abī Ṭālib 239 Arzmak an-Nāšif 188, 546 al-Ašʿarī, s. Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī

Indices

Aschʿariten 84, 110, 274 – 276, 321, 332, 349 f., 352, 408, 481 Avicenna 84, 333 – 335, 349, 353, 371 Badr ad-Dīn b. Ǧamāʿa 336 Badr al-Ǧamālī 42, 53, 62 Bahāʾ ad-Dīn 393 Baibars 59, 64 f. Baibars b. Aḥmad b. Baqar 183 al-Baiḍāwī 81 al-Baihaqī 257, 319, 425 Bajezid I. 129, 135, 137, Bajezid II. 77, 133 f., 138, 450, 498 Banū Bādīn 234 Banū Baġdād 152, 205 Banū Hilāl b. ʿĀmir 234 Banū Jazīd 235 Banū Ṭāhir 138 Banū Ṯaqīf 50 Banū l-Wafāʾ 57, 308 Banū Ziġba 234 Barakāt b. Mūsā az-Zainī 148, 151, 156, 159 f. Barqūq 48, 52, 112 Barsbai 48, 66, 143, 186 Beduinen 141, 172, 177, 200, 354, 454, 457, 543, 548 al-Buḫārī 81, 102, 112, 358, 375, 425 Burhān ad-Dīn al-Biqāʿī 88, 360, 450 Burhān ad-Dīn as-Saḫāwī 365 Christen 250 Cusanus, Nicolaus

501, 505

ad-Dānī 78 David 145 Demirdaš 373 Derwisch 38, 64, 86, 147, 149, 151, 215 f., 286 f., 291 – 293, 297 f., 361, 544 Ḏū n-Nūn al-Miṣrī 59, 62, 71, 84 f., 224 Engel 113 Eva 469, 562 Ezra 366 Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī 262, 273 f., 276 f., 284 Fāṭima 231, 236, 239, 495, 552 Fatimiden 31, 47, 239

591

Firdevsi-i Rumi 498 Franken 129, 138 Friedrich II. 48 al-Fuḍail b. ʿIjāḍ 192 Gabriel 89, 479 Ǧaʿfar b. abī Ṭālib 239 Ǧaʿfar b. Sulaimān 241 Ǧalāl ad-Dīn al-Maḥallī 80 Ǧamāl ad-Dīn Aqūš 65 Ǧamāl ad-Dīn b. Zakarjā 81 Ǧānbirdī al-Ġazālī 170, 172, 200 Ǧānim al-Ḥamzāwī 181, 191 – 195, 200, 202 – 205, 238, 289, 472 Ǧaqmaq 58, 66 Ǧauhar 41, 63 al-Ġazālī 79, 88, 93, 104, 225, 315, 321, 328, 353 f., 360, 387 f., 421, 481, 483, 504 f., 539, 559, 570 Ġazan 127, 129, 162 al-Ǧunaid 59, 224, 317, 356, 371 al-Ǧuwainī 540, 570 Ḫaḍīǧa bt. Ḫuwailid 359 Hadim Süleyman Pascha 454 al-Ḫaḍir 65, 89 f., 372, 416, 419, 427 – 436, 446, 550 Hafsiden 133 Hagar 42 Ḫair ad-Dīn al-Ḫuḍarī 491 Ḫairbeg 121, 146, 156, 158 – 160, 162, 179 f., 182, 189, 193 – 196, 200 f., 211, 457 al-Ḥākim 41, 53 al-Ḥakīm at-Tirmiḏī 431 Ḫalīl, abbasidischer Prätendent in Kairo 237 Ḥalīma 240 Hanafiten 155, 213, 300, 365, 406 – 408, 427, 435, 446 Hanbaliten 110, 407, 409 al-Ḥasan b. ʿAlī b. abī Ṭālib 66, 236, 238 al-Ḥasan al-Baṣrī 293 Ḥasan Pascha 491 f. Ḥasan ar-Raiḥānī 473 Ḥasan-i Rumlu 158 Ḥasan aṣ-Ṣanǧāq 491 Hasaniten 552 Haschimiten 236, 239

592

Indices

Hāšim 238 Hawāzin 50 Ḫoǧa aṣ-Ṣauwāf 50 al-Ḫubušānī, Naǧm ad-Dīn 61 Ḫumārawaihi 41 Ḥusain, Befehlshaber mamlukischer Truppen im Hedschas 138 f. al-Ḥusain b. ʿAlī b. abī Ṭālib 238 Husainiten 552 Ḥusām ad-Dīn b. Baġdād 152 Iblīs, s. Satan Ibn ʿAbd al-Ḥakam 61 Ibn abī Iṣbaʿ, s. Muḥjī d-Dīn b. abī Iṣbaʿ Ibn Āǧurrūm 74 Ibn ʿArabī 89, 96, 109, 111, 120, 147, 155, 240 f., 292, 320, 359 – 363, 366, 377, 381, 384, 391, 400 – 403, 409, 419 – 422, 424, 429, 431, 435, 449 – 451, 471, 481, 492 f., 498 f., 503, 509, 511 Ibn al-Baiṭār 336, 488 Ibn Ġānim al-Maqdisī 104 Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī 52, 55, 68, 71, 80, 428 Ibn Ḥaǧar al-Haitamī 223 – 228, 278, 396, 446 – 449 Ibn Ḫaldūn 235 Ibn al-Ḥāǧǧ 29 f., 53, 266 – 270. 272, 290, 293, 327 Ibn Hišām 73, 78 Ibn Ijās 123 f., 130 f., 133 f., 138, 140 f., 143 – 145, 156, 159 – 161, 165, 167 – 171, 179 – 181, 191, 194 f., 211, 236 – 238 Ibn Mālik 78, 80 Ibn al-Mulaqqin 80 Ibn Mūsā, Marktvogt, s. Barakāt b. Mūsā az-Zainī Ibn Nuǧaim 300, 379, 411, 458 f. Ibn Qāḍī Šuhba 80 Ibn Riḍwān 41 Ibn Ṣāḥib aṣ-ṣalāh 234 Ibn Saʿīd 43 – 45, 47, 59 Ibn aṣ-Ṣalāḥ 428 Ibn Taimīja 337 Ibn Ṭūlūn (Damaszener Chronist) 129, 144, 154, 158, 195 Ibn Tūmart 540 Ibn Zunbul ar-Rammāl 158 Ibn Zunbūr 295

Ibrāhīm, ein Gottesfreund 204 Ibrāhīm b. ʿAbd ar-Raḥmān, ein Enkel ašŠaʿrānīs 492 Ibrāhīm b. Adham 258 (Sidi) Ibrāhīm ad-Dasūqī 229, 248, 308, 385, 470 Ibrāhīm al-Matbūlī 28, 39, 102, 114, 149 f., 153, 242 f., 247, 290, 316, 354, 359, 361, 365, 373, 393, 434, 452, 466, 470 Ibrāhīm Pascha 202, 453 – 455, 458 ʿIjāḍ al-Jaḥṣubī 425, 559, 562 Innozenz IV. 45 Ismael 10, 42 Ismāʿīl b. Ḥaidar aṣ-Ṣūfī 127 – 132, 135 – 137, 145, 204 al-Isnawī 80 ʿIzz ad-Dīn aus Quilon 117 229 al-Jāfiʿī 95 Jaḥjā b.ʿAbd ar-Raḥmān, ein Enkel aš-Šaʿrānīs 492 Jaḥjā b. Jaḥjā al-Andalusī 82 Jaḥjā b. at-Tāǧ aš-Šarafī 211 Janitscharen 181, 205, 454 Jaʿqūb, Kalif, s. al-Mustamsik billāh Jesus 89, 259, 502, 319, 366 Johannes der Täufer 259 f., 391 Jonas 310 Josef 39, 334 Jūsuf b. Ismāʿīl an-Nabhānī 493, 499 Kamāl ad-Dīn b. abī š-Šarīf 80 Kamāl ad-Dīn Zūfā 236, 245 Kara Mūsā 203 f. Kemalpaşazade (Ibn al-Kamāl) 498 Korkud 77122, 133 f., 146, 154 al-Laiṯ b. Saʿd 131, 135, 144, 308 al-Laqānī, Nāṣir ad-Dīn 416, 446 Ludwig IX.

45

(Sidi) Madjan al-Ašmūnī 55 – 59, 63, 114, 249 f., 290, 393 Maǧd ad-Dīn al-Fīrūzābādī 367 Mahdī 443 f. Maʿiz b. Mālik 231 f.

Indices

al-Malīǧī, Muḥammad Abū Ṣāliḥ 184, 186, 188, 232, 235, 346, 492 al-Malik al-ʿĀdil 48 Mālik b. Anas 60, 82, 241, 404, 408, 425 al-Malik al-ʿAzīz 61 al-Malik al-Kāmil 43, 48 al-Malik aẓ-Ẓāhir, s. Baibars 59, 64 Malikiten 407, 409, 435 Mamluken 46, 49, 121, 130, 162, 180 f., 195, 202, 543 al-Manṣūr 42, 66, 238 al-Maqrīzī 30, 33 – 36, 41, 43, 46, 48 f., 55, 65, 67, 238 Maturiditen 110 al-Māwardī 270 – 272, 507 Mehmed Bey Kadizade 204 Mehmed Pascha, s. Muḥammad Pascha Miṣrbeg 124 f. Mongolen 43, 64 Mose 89 f., 389, 428, 431, 482, 502, 550 Muğultai 55 Muḥammad, Sohn des Abū l-Ḥasan al-Ġamrī 299 Muḥammad, Oberhaupt der Ḫalwatīja-Derwische 490 Muḥammad b. ʿAbd al-Ḥakam 61 (Sidi) Muḥammad b. ʿAbd ar-Raḥmān 247 Muḥammad b. abī Bakr b. abī Iṣbaʿ 380 Muḥammad b. ʿAlī Nūr ad-Dīn 246 (Sidi) Muḥammad b. Al-Amīr 380 Muḥammad b. Baġdād 205, 299 Muḥammad al-Bāhūtī 473 (Sidi) Muḥammad al-Bakrī 478 f. (Sidi) Muḥammad al-Ġamrī 54 – 56, 63, 89, 184, 290.382, 396 Muḥammad al-Ǧāwulī 394 Muḥammad b. al-Ḥanafīja 230, 236, 252, 316, 391 (Sidi)Muḥammad b. Hārūn 474 (Sidi) Muḥammad al-Maġribī 355 Muḥammad b. Mūsā 230 (Sidi) Muḥammad b. al-Muwaffaq 380 Muḥammad Pascha 201, 465 (Sidi) Muḥammad Šams ad-Dīn al-Ḥanafī 57 f., 63, 153, 249, 380 (Sidi) Muḥammad aš-Šanāwī 71, 113, 251, 287, 320, 365, 380

593

Muḥammad aš-Širbīnī, s. Šams ad-Dīn Muḥammad aš-Širbīnī Muḥammad at-Tarsāwī 477 (Sidi) Muḥammad al-Wafāʾ 57 f., 63 Muḥjī d-Dīn b. abī Iṣbaʿ 176, 199, 205, 209, 300 al-Muʿizz li-Dīn Allāh 41 Murādī Ḥusain Pascha 27, 186 Mūsā al-Andalusī 62 Mūsā b. abī l-Faḍl az-Zuġlī 235 Muslim b. al-Ḥaǧǧāǧ 102, 358 Muṣṭafā Pascha 201 f., 457 al-Mustamsik billāh Jaʿqūb 124, 158, 211, 236 f., 240, 551 al-Mustanṣir 42 al-Mutawakkil, Kalif in Kairo 142, 144, 158, 169, 237, 551 Muʿtaziliten 275, 350, 368 al-Muẓaffar 50 Muẓaffar Šāh 138 al-Muzanī 61 f., 337 Nachkommen des Propheten 121, 146, 231, 239, 241, 355, 418 f., 512, 552 Naǧm ad-Dīn al-Ġaiṯī 365 an-Nasāʾī 375 an-Nāṣir Faraǧ 35, 52, 58 Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī 276 f. an-Nāṣir Muḥammad 123, 125 an-Nāṣir b. Qalāʾūn 46, 50, 65, 295 Naṣr b. Muḥammad as-Samarqandī 323, 327 f., 331 an-Nawawī 73, 78 f., 82, 175, 428 Nebukadnezar 116 Nimrod 116, 119 an-Nuʿaimān 231 Nūr ad-Dīn (Aijubide) 32 Nūr ad-Dīn, Großvater aš-Šaʿrānīs, s. ʿAlī Nūr adDīn al-Anṣārī Nūr ad-Dīn aus Ašmūn 279 Nūr ad-Dīn al-Marṣafī 215 – 217 (Sidi) Nūr ad-Dīn aš-Šūnī 111, 300, 493 Nūr ad-Dīn aṭ-Ṭanṭāʾī 365 Omaijaden 238 Osmanen 129, 137 Paracelsus

503 – 505, 508, 510

594

Indices

Paulus 501 f. Pharao 116, 119 Piri Reis 455 Portugiesen 137 f., 454 f., 542 Propheten 4, 15, 23, 69, 100 f., 148, 261, 311, 317, 341, 371 f., 423, 444, 486, 510 Prophetengenossen 44, 59 f. al-Qāḍī al-Fāḍil 33 Qaitbai 34, 47, 56, 114, 122, 125, 127, 156, 171, 233, 373, 456 Qānṣauh al-Ġaurī 77, 95, 121 – 148, 151 f., 154, 156, 162 f., 178, 182, 300, 378, 454, 457, 543 Qāsim, Enkel Bajezids II. 193, 543 al-Qasṭallānī 112 al-Qazwīnī 78 Qiwām ad-Dīn Amīr al-Kātib al-Itqānī 50 Quraiš 50 al-Qušairī 83 f., 93, 216, 226, 249, 365 Quṭb ad-Dīn al-ʿAsqalānī 335 Quṭb ad-Dīn al-Qasṭallānī 336 ar-Rabīʿ b. Sulaimān 61 ar-Rāfiʿī 78 f. ar-Rifāʿī, s. (Sidi) Aḥmad ar-Rifāʿī Rifāʿī-Derwische 142, 146 Rufus von Ephesos 40 Saʿd ad-Dīn al-Arzmakī 188 aš-Šāḏilī, Abū l-Ḥasan 91, 265 Safawiden 128, 130, 132 f., 135, 137 f., 158, 204 aš-Šāfiʿī 48, 59 – 62, 64 f., 71, 73, 87, 131, 135, 144, 257, 284, 308, 341, 346, 408, 425 as-Saḫāwī 65 – 71, 80, 360 Sahl at-Tustarī 224 Saijida Nafīsa 66, 143, 146, as-Sakkākī 78 Saladin 32 f., 42, 47 Salmān al-Fārisī 241, 419 aṣ-Ṣāliḥ Ṣalāḥ ad-Dīn 50 Šams ad-Dīn al-Barhamtūšī 365 Šams ad-Dīn Muḥammad aš-Širbīnī 303 f., 316, 365 Šams ad-Dīn al-Qurṭubī 328 – 330 Šaraf ad-Dīn b. al-Muqriʾ al-Jamanī 79 Sarġatmiš 49 – 51 as-Sarī b. al-Ḥakam 63

aš-Šarkasī 215 Satan 15, 38, 392 aš-Šaṭṭanaufī 86, 233 Scharifen 241 Schafiiten 155, 407, 409, 435 Schiiten 204 Selim I. 47, 77, 122, 125, 134 – 138, 140 – 146, 154 f., 157 – 162, 164, 167 – 173, 177 – 181, 187, 194, 208, 237, 364, 408, 414, 457, 482, 498 Sībai 125, 136, 146 aš-Šiblī, Abū Bakr 59, 95 Šihāb ad-Dīn, Hanafit 416 Šihāb ad-Dīn al-Ḥusain b. Muḥammad 63 Šihāb ad-Dīn al-Futūḥī 378 Šihāb ad-Dīn al-Kaʿkī 393 Sirāǧ ad-Dīn al-Ḥānūtī 365 Šīrkūh 32 as-Subkī, Tāǧ ad-Dīn 70, 80 Sufjān aṯ-Ṯaurī 257, 261 Sufjān b. ʿUjaina 440 Šuǧāʿ, Emir 149 as-Sujūṭī 75, 80, 189 f., 355, 360, 403, 413, 426, 438, 441 Sulaimān al-Ḫuḍairī 59 Sulaimān at-Taimī 152 Süleyman 134, 188, 200, 203, 414 f., 498 Sunniten 130 aṭ-Ṭabarī 403 f., 440 Tāǧ ad-Dīn aḏ-Ḏākir 215 – 217 Tamerlan 127, 129, 135, 137 Tānībeg 123 at-Tīfāšī 91 Trajan 40 Ṭūmānbeg 112, 147, 156, 158 – 173, 177, 186 ʿUmar b. ʿAbd al-ʿAzīz 468 ʿUmar b. al-Fāriḍ 88, 324 f., 360, 373, 384, 449 f. ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb 42, 89, 267, 269, 281, 300, 468, 498 ʿUmar as-Suhrawardī 84, 89, 226, 334 f., 354, 416 Umm ʿAṭīja 397 Umm Ḫūnd 185, 187, 195, 199, 250 Usbeken 130 ʿUṯmān b. ʿAffān 146, 498

Indices

ʿUṯmān der Brennholzsammler (al-Ḥaṭṭāb) 290 al-ʿUṯmānī ad-Dimašqī 408, 433 Uzun Ḥasan 129, 131

114,

aẓ-Ẓāhir Qānṣauh 123 Zaid 390, 481 Zaid b. Arqam 239 Zain ad-Dīn al-ʿIrāqī 73, 78

595

Zain ad-Dīn Jūsuf al-Qurašī 67 Zakarjā al-Anṣārī 73, 80 – 90, 190, 196, 246, 249, 365 Zanāta-Berber 234 az-Zarkašī 80 Zengiden 32

Zitierte oder erwähnte Koranstellen Sure 1

475

Sure 2, Vers 3 505 Sure 2, Vers 22 273, 275 Sure 2, Vers 30 153, 352, 388 f., 441 Sure 2, Vers 30 – 33 14 Sure 2, Vers 34 15, 218 Sure 2, Vers 64 327 Sure 2, Vers 107 3 Sure 2, Vers 125 10 Sure 2, Vers 185 437 Sure 2, Vers 213 101 Sure 2, Vers 233 565 Sure 2, Vers 255 319, 322, 391, 398, 440, 505, 533 Sure 2, Vers 256 437 Sure 2, Vers 261 301 Sure 2, Vers 265 93 Sure 2, Vers 282 399 Sure 2, Vers 285 f. 322, 433, 565 Sure 3, Vers 7 538 Sure 3, Vers 18 322, 425 Sure 3, Vers 20 427 Sure 3, Vers 27 322 Sure 3, Vers 54 507 Sure 3, Vers 67 f. 502 Sure 3, Vers 84 433 Sure 3, Vers 110 267, 499 Sure 4, Vers 1 388 Sure 4, Vers 3 393 Sure 4, Vers 11 399 Sure 4, Vers 43 406

Sure 4, Vers 80 441 Sure 4, Vers 162 538 Sure 5, Vers 6 406 Sure 5, Vers 17 319 Sure 5, Vers 33 379 Sure 6, Vers 7 330 Sure 6, Vers 74 – 79 274 Sure 6, Vers 75 – 79 8, 550 Sure 6, Vers 79 362 Sure 6, Vers 80 f. 9 Sure 6, Vers 125 565 Sure 7, Vers 42 565 Sure 7, Vers 172 12, 207, 319, 368 Sure 8, Vers 17 347, 351, 432, 484 Sure 8, Vers 24 10 Sure 9, Vers 14 Sure 9, Vers 26 Sure 9, Vers 30 Sure 9, Vers 60 Sure 9, Vers 102 Sure 10, Vers 19 Sure 10, Vers 42

484 346 366 191, 245, 292 221 101 447

Sure 11, Vers 7 345 Sure 11, Vers 56 362, 365, 369, 376, 399, 402, 429, 484, 503, 511 Sure 11, Vers 107 320 Sure 11, Vers 114 109

596

Indices

Sure 12, Vers 53 334 Sure 12, Vers 90 534 Sure 12, Vers 100 39 Sure 12, Vers 108 420 Sure 13, Vers 37

3

Sure 15, Vers 26 – 33 15 Sure 15, Vers 33 218 Sure 15, Vers 47 313 Sure 15, Vers 85 369 Sure 16, Vers 10 f. 72 Sure 16, Vers 69 246 Sure 16, Vers 96 390 Sure 17, Vers 1 448 Sure 17, Vers 36 499 Sure 17, Vers 85 332

Sure 26, Vers 225

103

Sure 29, Vers 45

13

Sure 30, Vers 30 Sure 30, Vers 40

12, 405 278

Sure 31 319 Sure 31, Vers 33 f.

318

Sure 33, Vers 33 Sure 33, Vers 43 Sure 33, Vers 53 Sure 33, Vers 56

240 f. 69 f. 561 68, 112

Sure 34, Vers 39

301

Sure 35, Vers 15

361

Sure 37, Vers 35 – 37 und 55 Sure 18, Vers 50 f. 15 Sure 18, Vers 60 – 82 89, 428 Sure 18, Vers 68 431 Sure 18, Vers 71 – 82 91 Sure 18, Vers 82 230

Sure 39, Vers 3 480 Sure 39, Vers 42 333 Sure 39, Vers 52 259 Sure 40, Vers 85

Sure 20, Vers 55 273 Sure 20, Vers 108 108 Sure 21, Vers 30 Sure 22, Vers 5

447 275

Sure 23, Vers 8 395 Sure 23, Vers 14 275 Sure 23, Vers 62 565

76

Sure 41, Vers 53 f.

46 361 – 363, 423

Sure 42, Vers 9 4 Sure 42, Vers 11 374 Sure 42, Vers 12 259 Sure 42, Vers 44 4 Sure 43, Vers 32

266

Sure 45, Vers 5 259 Sure 45, Vers 17 101

Sure 24, Vers 31 – 33 396 Sure 24, Vers 35 8, 12, 57, 513 Sure 24, Vers 36 f. 12 Sure 24, Vers 37 265

Sure 48, Vers 23 Sure 48, Vers 26

46 346

Sure 27, Vers 65

225

Sure 49, Vers 2 f.

216

Sure 28 116 Sure 28, Vers 83

Sure 50, Vers 37

448

116 Sure 51, Vers 56

70, 369

Indices

Sure 53, Vers 9 480 Sure 53, Vers 14 345, 390 Sure 53, Vers 47 558 Sure 55, Vers 29 223, 533

Sure 77, Vers 32

380

Sure 82, Vers 8

388

Sure 83, Vers 21 – 23 Sure 56 15 Sure 56, Vers 11 f. 278 Sure 56, Vers 13 f. 14 Sure 56, Vers 13 – 26 16 Sure 56, Vers 62 343 Sure 67, Vers 1 116 Sure 67, Vers 19 448

Sure 85, Vers 22 Sure 86, Vers 4

Sure 72 478 Sure 72, Vers 26 Sure 73, Vers 1

359

329

344

Sure 95, Vers 4 – 6 Sure 112

225

111, 345, 441

Sure 89, Vers 27 84 Sure 89, Vers 27 – 30 333 f. Sure 92

Sure 68, Vers 1 345 Sure 68, Vers 44 263

16

330

391

597